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German Pages 210 [216] Year 1999
Lehr- und Handbücher der Soziologie Herausgegeben von Dr. Arno Mohr Bisher erschienene Werke: Helle, Verstehende Soziologie Maindok, Einführung in die Soziologie Mikl-Horke, Historische Soziologie der Wirtschaft
Verstehende Soziologie Lehrbuch
Von Universitätsprofessor
Dr. Horst Jürgen Helle
R. Oldenbourg Verlag München Wien
Die Deutsche Bibliothek - CIP-Einheitsaufnahme Helle, Horst Jürgen: Verstehende Soziologie : Lehrbuch / von Horst Jürgen Helle. München ; Wien : Oldenbourg, 1999 (Lehr- und Handbücher der Soziologie) ISBN 3-486-24767-0
© 1999 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Telefon: (089) 45051-0, Internet: http://www.oldenbourg.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen. Gedruckt auf säure- und chlorfreiem Papier Gesamtherstellung: Druckhaus „Thomas Müntzer" GmbH, Bad Langensalza ISBN 3-486-24767-0
Inhaltsverzeichnis
A. EINFÜHRUNG
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B. ERKENNTNISTHEORETISCHE VORARBEITEN
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L Baruch de Spinoza (1632-1677) 1. Person und Werk Spinozas
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2. Affektuelle Komponenten der Wahrnehmung
15
3. Bezug zum Verstehenden Ansatz
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D. Immanuel Kant (1724-1804)
27
1. Vernunft, Wissen und Wollen
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2. Blumenbach: Naturwissenschaftliche Spekulationen
34
3. Evolution und Konstruktion
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m . Wilhelm Dilthey (1833-1911)
39
1. Emanzipation der Einzelwissenschaften
39
2. Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften
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3. Von der Verstehbarkeit der Gesellschaft
44
4. Die Bedeutung Diltheys für Georg Simmel und Max Weber
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C. VERSTEHENDE SOZIOLOGIE I. Entwurf des verstehenden Ansatzes durch Georg Simmel (1858-1918)
49 49
1. Wirklichkeitskonstruktion und das Problem der Einheit
49
2. Grundlegung der Verstehenden Soziologie
58
a) Sich "in die Seele der Personen versetzen"
58
b) Arten des Verstehens
60
3. Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund
66
Inhaltsverzeichnis
4. Geld als sozial konstruierte Wirklichkeit
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5. Verstehende Religionssoziologie
87
6. Musiksoziologie bei Georg Simmel und Max Weber
108
a) Simmeis Studien über Musik
109
b) Rationalisierung abendländischer Musik bei Max Weber
110
c) Vergleich Simmel - Weber
112
II. Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber (1864-1920)
115
1. Über den Umgang mit Werturteilen
115
2. Zur Konstruktion von Idealtypen
122
3. Protestantische Ethik und kapitalistischer Geist
128
4. Das antike Judentum
133
5. Religionen in Asien
135
6. Kritik der Psychoanalyse
142
D. WEITERENTWICKLUNG DES VERSTEHENDEN ANSATZES 151 I. George Mead (1863-1931) und Hans Freyer (1887-1969)
151
II. Strauss, Shibutani und Goffmann
155
1. Strauss: Synthese zwischen Mikro- und Makrosoziologie
155
2. Shibutani: Mitgliedschaft als Perspektive
170
3. Goffman: Bedingungen der Realitätszuschreibung
177
ANHANG
183
1. Meads Verständnis von „I" und „me"
183
2. Ein Interview mit Herbert Blumer (1900-1987)
192
LITERATURVERZEICHNIS
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A. Einführung Mitten im Zweiten Weltkrieg veröffentlichte Karl R. Popper sein Werk "The Open Society and Its Enemies". Es erschien 1944 in Neuseeland. Popper konfrontiert darin die magischen Kräfte der Stammesgesellschaften mit den kritischen Fähigkeiten des Menschen in einer "offenen Gesellschaft". Er wirft den großen Denkern westlicher Kultur, Piaton, Kant und besonders Hegel und Marx vor, den Feinden der "offenen Gesellschaft" Argumente geliefert zu haben. Als Ergebnis solcher Tendenzen hatte Popper den Nationalsozialismus in Deutschland und den Stalinismus in der Sowjetunion vor Augen. Poppers Warnung vor einem Denken, das nicht immer wieder streng geprüft wird an dem, was man empirisch testen und logisch schließen kann, war 1944 unmittelbar plausibel. 1 Wenn die Vorherrschaft eines bestimmten sozialwissenschaftlichen Paradigmas als Antwort auf die jeweiligen politischen Verhältnisse gesehen werden kann, ist der "Kritische Rationalismus" in der Nachfolge des Karl R. Popper eine Reaktion auf Nationalsozialismus und Stalinismus. Kompatibel mit der von Popper propagierten Orientierung ist in der Soziologie der Positivismus, der schon an der Wiege dieser Disziplin stand, und in dessen Verlängerung sind es die großen theoretischen Leistungen von Emile Dürkheim und Talcott Parsons. Parsons hatte sich in den fünfziger Jahren mit seiner "grand theory" durchgesetzt. Er beanspruchte, eine Synthese aus den Werken Dürkheims und Max Webers vorgelegt zu haben. In Wahrheit war jedoch das, was er anbot, eine Ausarbeitung des Ansatzes von Dürkheim unter Hereinnahme nur von Teilen der Terminologie Webers. So konnte sich auch das Werk des Talcott Parsons als Beitrag zum Schutz vor den magischen Kräften der Stammesgesellschaften (nach Popper) präsentieren. Als die restaurative Stabilität in der Regierungszeit des Bundeskanzlers Adenauer in Deutschland und des Präsidenten Eisenhower in den U S A in politische Stagnation umzuschlagen drohte, (oder - je nach dem politischen Standpunkt des Betrachters - längst umgeschlagen war), trat an die Stelle der Furcht vor zuviel stammesgesellschaftlicher Phantasie (wie bei Popper), die Sorge um zuwenig kreatives Denken. Als Antwort auf diese historische Lage erschien 1966 in den U S A. das Buch von Peter L. Berger und Thomas Luckmann "The Social Construction of Reality". Dieser vielversprechende Ansatz konnte zu-
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Noch in den siebziger Jahren wurden in Deutschland Professorenstellen für Soziologie von einigen Fakultäten nur an solche Kandidaten vergeben, die auf dem Gebiet der empirischen Sozialforschung ausgewiesen waren, nicht etwa, weil - wie wir jetzt, an der Wende zum dritten Jahrtausend, sagen - jeder Soziologe davon gute Kenntnisse haben sollte, sondern, um dadurch "linke Ideologen" auszuschließen.
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Einführung
nächst wenig Wirkung entfalten, weil etwa gleichzeitig die Orientierung an Karl Marx zum "mainstream" in der Soziologie wurde. Berger und Luckmann stützen sich auf bedeutende Vertreter aus Philosophie und Sozialwissenschaft, die daran erinnert haben, daß der Mensch sich von der Wirklichkeit ein Bild machen muß, weil er sie so, wie sie von sich aus ist, nicht in sein Bewußtsein aufnehmen kann. Aus dieser Sicht, wissen wir gerade nicht, was die Wirklichkeit ist, sondern wir konstruieren uns unser Bild der Wirklichkeit, und zwar nicht in isolierter Einzelaktion, sondern gemeinsam mit unseren Mitmenschen, also sozial Die Soziologie muß sich für den Vorgang interessieren, in dessen Verlauf, "The Social Construction of Reality" stattfindet. Das bringt uns zu dem Thema Verstehen Neben dem offenkundigen Sinn des Wortes im Alltagsdeutsch, hat es die hier gemeinte besondere Bedeutung, daß eine Person sich bemüht, den Prozeß nachzuvollziehen, im Laufe dessen eine - oder mehrere - andere Person(en) sich ein Bild der Wirklichkeit geschaffen hat (bzw. haben). Unterstellt wird zunächst also, daß Wirklichkeit sozial konstruiert ist, und Verstehen bedeutet dann, daß jemand rekonstruiert, was vorher schon konstruiert war. Dies ist der Ausgangspunkt für ein eigenes, mit der positivistischen Tradition nicht kompatibles Paradigma, nämlich für die Verstehende Soziologie (VS). Die VS zeichnet sich durch ihre charakteristische theoretische Methode aus. Deren Besonderheiten werden in den folgenden sechs Punkten skizziert. Das geschieht als vereinfachte Gegenüberstellung des Verstehenden mit dem den Naturwissenschaften nahestehenden szientistischen Ansatz. 1. Erkenntnistheorie: Was können Menschen zuverlässig wissen? Seit ihren Anfangen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts hat sich die VS gegen eine szientistische Erkenntnistheorie durchsetzen müssen, die vom Optimismus der Aufklärung und den Erfolgen der Naturwissenschaften geprägt war. Im Überschwang der raschen Gewinnung immer neuer Einsichten glaubte man vor dem Entstehen der VS, dem um Wissen bemühten Menschen sei grundsätzlich alles Existierende zugänglich. Es sei deshalb nur eine Frage der Zeit, bis die letzten weißen Flecken auf der Landkarte wissenschaftlichen Forschens verschwinden werden. Jede einmal richtig erarbeitete Erkenntnis bleibe - so meinte man außerdem - unverlierbar erhalten Die zahlreichen Bände eines Konversationslexikons - bezeichnenderweise auch Enzyklopädie genannt - dokumentieren die fortlaufende Anhäufung von immer mehr Wissen, weil aus der Sicht dieser erkenntnistheoretischen Position alles was ist, auch wissenschaftlich gewußt werden könne, und weil alles einmal richtig Erkannte der Menschheit nie wieder verloren gehe. Dagegen vertraten Georg Simmel und andere Wegbereiter der VS die Ansicht, daß der Mensch die Wirklichkeit so, wie sie von sich aus ist, gar nicht erkennen könne. Das liege an
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ihrer unendlichen Vielfalt und daran, daß ihr eine einsehbare Struktur fehle. Daraus folgt: Der Mensch muß sich die unüberschaubare Fülle erfahrbarer Einzelheiten erst zugänglich machen, indem er - je nachdem, was er erkennen will - daraus auswählt und die ausgewählten Daten unter bestimmten Ordnungsgesichtspunkten zusammenstellt. Das Bild der Wirklichkeit, das so entsteht, ist dann von der um Wissen bemühten Person gestaltet worden. Häufig stehen Menschen bei kreativem wissenschaftlichen Arbeiten im Austausch miteinander, so daß sie nicht als isolierte Einzelne, sondern sozial dem ausgewählten Aspekt der Realität eine Form geben. Sowohl für wissenschaftliches Arbeiten als auch im lebenspraktischen Bereich spricht man daher von der "sozialen Konstruktion der Wirklichkeit" Im zwischenmenschlichen Nahbereich kommt es zuweilen zu dem Vorwurf: "Du kennst mich ja gar nicht wirklich, du machst dir nur ein Bild von mir!" Diese Anschuldigung hat die an den Naturwissenschaften - szientistisch genannte - Erkenntnistheorie zur Voraussetzung. Auf dem Boden der theoretischen Methode der VS wäre sie unbegründet. Man könnte seinem Gegenüber erwidern, daß die Erwartung ganz unrealistisch sei, einer könne den anderen vollständig und so, wie sie oder er von sich aus tatsächlich ist, unverfälscht erkennen. Ein solches Erkennen ist dem Menschen nicht möglich, und der Einzelne muß eingestehen, daß er nicht einmal sich selbst eindeutig erkennen kann. Sich "ein Bild zu machen" ist ein - aus der Sicht der VS unvermeidbares - Zugeständnis an die begrenzten menschlichen Möglichkeiten. Weil das Wissen, das Menschen sich aneignen, auf die bestimmte Lebenssituation bezogen bleibt, in der gerade gehandelt werden muß, ist es weder allgemeingültig noch unverlierbar ewig gültig. Darum fuhrt die Erkenntnistheorie der VS nicht zu einer Enzyklopädie. Max Weber wendet das positiv und schreibt von der Jugendlichkeit aller historischen Disziplinen, "denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zufuhrt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidbarkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe" (Weber, 1951: 206). 2. Sitz der Wirklichkeit: außen oder innen? Die Vertreter der szientistischen Erkenntnistheorie, nach der für den Menschen früher oder später alles Existierende zugänglich und daher wißbar wird, sehen den Sitz der Wirklichkeit in dem, was die Person umgibt, was also außerhalb ihrer liegt. Der einzelne Forscher wirkt aus dieser Sicht wie eine Kamera. Sie wird auf die Dinge gerichtet, die ihm begegnen, und läßt gleichsam auf dem Bildschirm seines Bewußtseins präzise Abbildungen dessen entstehen, was da draußen vorliegt. Der Sitz der Wirklichkeit ist insofern außen, was innen geschieht ist nur die Herstellung einer Kopie.
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Einführung
Anders sehen das die Vertreter der VS: Was ein Mensch ftir die Wirklichkeit hält, mag ganz falsch sein, aber dennoch wird er aufgrund dessen handeln, was er für sich als wirklich hinnimmt. Des Denken und Handeln des Einzelnen mag von der Realität "da draußen" weitgehend abgekoppelt sein, es ist gleichwohl wirklich in dem Sinn, daß es geschieht: man wird es schwerlich ignorieren können. Ein Therapeut kann nicht mit Aussicht auf Erfolg einem Ratsuchenden schlicht mitteilen, was er meint sei falsch. Er muß sich zunächst auf das einlassen, was seinem Gegenüber als wirklich erscheint, und das gilt nicht nur im Austausch zwischen Therapeut und Patient. Jeder wird jedem, den er ernstnehmen will, zugestehen, daß er oder sie einen Aspekt der Realität in sich trägt. So gesehen, ist Sitz der Wirklichkeit die Innenseite der Person. 3. Theorietypen: Reproduktion oder Konstruktion ? Von einer Reproduktion spricht man, wenn eine Vorlage möglichst getreu nachgebildet wird. Dazu paßt auch das Bild von dem Menschen als Kamera, der in seinem Bewußtsein die ihm außen vorliegenden Objekte reproduziert Aber in diesem dritten Punkt unserer Skizze der Vorgehensweise der VS geht es nicht um außen oder innen, sondern um Typen von Theorien. Der Ansatz, gegen den sich die VS durchsetzen mußte, betrachtete Theorien als Modelle der Wirklichkeit. Wenn uns während unserer Schulzeit die Theorie unseres Sonnensystems erläutert wurde, lernten wir darin ein Abbild dessen sehen, was - soviel wir wissen bei der Umkreisung der Sonne durch die Erde und die anderen Planeten tatsächlich geschieht. Eine solche Theorie hat die Aufgabe, die Realität, auf die sie sich bezieht, modellhaft zu reproduzieren. Im Zusammenhang mit der Methode der VS hat Theorie eine andere Aufgabe: Sie ist nicht Abbild oder Modell, sie verhält sich nicht zu ihrem Gegenstand wie die Landkarte zur Landschaft, sondern sie ist vergleichbar einer Brille oder einem Fernglas, mit dem man eine Landschaft sichtbar macht. Sie soll Hilfsmittel bei der Gewinnung von Einsichten sein. Wie man eine Brille nicht dann besonders schätzt, wenn sich die Gegenstände darin spiegeln, so auch eine verstehende Theorie nicht, wenn sie Reproduktion ist. Ihre Aufgabe ist es vielmehr, Zugang zu Erkenntnissen zu eröffnen, die sonst unzugänglich bleiben würden. Das gilt z.B. für die Idealtypen, mit denen Max Weber zu arbeiten vorschlägt, und mit denen er selbst gearbeitet hat. Einen Idealtyp als Konstruktion kann man daher nicht sinnvoll durch einen Vergleich mit der Wirklichkeit beurteilen. Ähnlich wie ja ein Fernglas nicht der Landschaft ähneln kann, die man damit anschauen will, kann auch nicht von einer verstehenden Theorie erwartet werden, daß sie ihren Gegenstand abbildet. Gleichwohl muß auch eine solche Theorie einem kritischen Test unterworfen werden können.
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Eine verstehende Theorie kann nicht danach beurteilt werden, ob die darin enthaltenen Aussagen mit der vorfindbaren Wirklichkeit übereinstimmen, sondern danach, ob man mit ihrer Hilfe die Wirklichkeit besser erforschen und erkennen kann. Das ist darum so, weil man in der VS die Theorie als heuristische Konstruktion versteht, also als ein gedanklich gestaltetes Hilfsmittel der Erkenntnisgewinnung. Sie ist also nicht Abbild oder Modell, das danach bewertet wird, ob es "naturgetreu" ist. Der Theorietyp der VS muß danach eingeschätzt werden, was er zum Erarbeiten neuer Einsichten beitragen, was er leisten kann 4. Stellung des Subjekts: ausgeblendet oder einbezogen ? Die szientistische Forschung setzt Datensammlungstechniken voraus, durch deren sachkundige Anwendung sichergestellt wird, daß die erzielten Resultate unabhängig davon sind, welche Person die Datensammlung durchfuhrt. Alles Subjektive wird als "bias" identifiziert und nach Möglichkeit ausgeblendet. Der Anspruch, "Objektivität" im szientistischen Kontext zu erzielen, legt es auch nahe, die Forschungsergebnisse im Namen der Soziologie - oder sogar der Wissenschaft allgemein - vorzulegen und nicht etwa als die persönliche Überzeugung eines einzelnen Verfassers. Das ist übrigens die Konsequenz aus der in Punkt 2 skizzierten Annahme, daß der Sitz der Wirklichkeit außen ist. Dort hat sie ihren Ort, dort muß man sie also auch aufsuchen und gleichsam flir sich selbst sprechen lassen. Weil flir die VS der Sitz der Wirklichkeit nicht außen, sondern innen ist, weil im Kontext der VS außerdem die Theorie durch Konstruktion entstanden ist, muß man als Leser oder Zuhörer wissen, welche Person die Fragestellung formuliert, die Erhebung durchgeführt, die theoretischen Konzepte konstruiert hat. Die Beteiligung des forschenden Wissenschaftlers ist so wichtig, daß man ihn oder sie als Person berücksichtigen muß, um die Ergebnisse beurteilen zu können. Das Subjekt kann also aus der Sicht der VS gerade nicht ausgeblendet, es muß in den Diskurs ausdrücklich eingezogen werden. Daraus ergibt sich die Pflicht des verstehenden Soziologen, sich als Person, seine Vorannahmen, seine idealtypischen oder anderen Theoriekonstruktionen ausdrücklich zur Diskussion zu stellen (anstatt sie stillschweigend seinem Leser unterzuschieben). 5. Wirklichkeitstest: Ist das Wissen wirklich, weil es einem Gesetz folgt oder weil es zum Handeln anleitet? Die Erwartung, man könne in der Gesellschaft Gesetze entdecken, die objektiv vorhanden sind und die der forschende Soziologe nur aufzufinden braucht, geht auf die frühesten Anfänge des Faches zurück. Auguste Comte wollte die neue akademische Disziplin ursprünglich "Soziale Physik" nennen, um diese Erwartung zum Ausdruck zu bringen. Auch Max Weber erwähnt (Weber, 1951: 188) die Neigung, Wirtschaftstheorie nach dem Vorbild einer
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Einfuhrung
Naturwissenschaft zu betreiben. Das lehnt er selbstverständlich ab als eine Analogie, die "hie und da phantastischerweise in Anspruch genommen" wurde, um "aus gegebenen realen Prämissen quantitativ bestimmte Resultate - also Gesetze im strengsten Sinne - mit Gültigkeit für die Wirklichkeit des Lebens deduzieren" (ebd.) zu können. Wer so methodisch vorgeht, müsse allerdings unterstellen, daß "die Wirtschaft des Menschen... eindeutig 'determiniert' sei" (ebd.) wie die Natur dem Physikers oder Astronomen noch im 19 Jahrhundert erschien Der Wirklichkeitstest, dem die gewonnen Erkenntnisse unterworfen werden, sieht im Kontext des szientistischen Ansatz so aus: Die vielen Einzeldaten müssen sich in einen Gesetzeszusammenhang einfügen. Das kann man dadurch sichtbar machen, daß man einen Kurvenverlauf auf Millimeterpapier einträgt und sich dann davon überzeugt, daß die ermittelten Meßdaten möglichst genau dem Verlauf der Kurve folgen. Ist dies der Fall, dann kann der innere Zusammenhang der Daten, den die Kurve optisch zum Ausdruck bringt, auch als mathematische Formel ausgedrückt werden. In der Volkswirtschaftslehre der Gegenwart ist die Neigung zur Mathematisierung weit verbreitet. Ob die gewonnen Erkenntnisse der Forschung sich in Gesetzesform bringen lassen oder nicht, ist für die theoretische Methode der VS nicht interessant. Worauf es vielmehr ankommt, ist die Bewährung der jeweiligen Einsicht in menschlichem Handeln. Das wird am deutlichsten als Prinzip des "philosophischen Pragmatismus" von William James formuliert: "Beliefs, in short, are really rules for action; and the whole function of thinking is but one step in the production of habits of action. If there were any pari of a thought that made no difference in the thought's practical consequences, then that part would be no proper dement ofthe thought's significance" (James, 1898, zitiert nach James 1978: 123). James hatte sich über die Gedankengebäude spekulativer Theologie geärgert. Gegen solch handlungsfernes Denken richtet sich sein Pragmatismus. Wissenschaftliche Ergebnisse sind demnach insoweit wahr (und stellen einen Erkenntnisfortschritt dar), als sie dem Menschen helfen, wirksamer zu handeln. 6. Inhalt und Form: "Framing" als Konstruktionsprozeß Die Unterscheidung von Inhalt und Form als erkenntnistheoretischer Kunstgriff der VS geht auf Georg Simmel zurück, ist allerdings bei der Rezeption seiner Schriften oft falsch verstanden worden. Simmel war von dem Werk Spinozas beeindruckt und hat bei ihm wichtige Anregungen dazu aufgenommen. Spinoza kannte den Dualismus des René Descartes, der die Welt des Wißbaren nach den Kategorien cogitatio und extensio unterschieden hatte. Damit bezeichnete Descartes die Wirklichkeit der Gedanken und Ideen einerseits (cogitatio) und die Welt der Dinge andererseits, deren Ausdehnung (extensio) man messen kann. Für ihn
Einführung
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verbergen sich hinter der Zweiteilung des Descartes zwei Sichtweisen, von denen man jede auf die ungeteilte Einheit der Wirklichkeit anwenden kann. Sie ist also für Spinoza nicht von sich aus zweigeteilt in Ideen und Sachen, sondern sie erscheint dem Menschen bald als Welt des Denkens, bald als Welt der Dinge, je nachdem mit welcher Brille er sie anschaut. Bei diesem Beispiel ist die ungeteilte Wirklichkeit des Spinoza der Inhalt, den der Betrachter dann entweder in die Form der cogitatio oder in die Form der extensio bringt. Ein anderes Beispiel ist der Traum: Im Buch Genesis der Bibel wird Joseph von seinen Brüdern gehaßt, weil ihr Vater ihn mehr liebt als seine übrigen Söhne. Trotz dieser ungünstigen Ausgangslage erzählt Joseph seinen Brüder von einem Traum, in dem sie und er zusammen auf dem Feld arbeiten. Sie binden das Getreide in Garben und stellen sie zum Trocknen, doch Josephs Garbe "richtete sich auf und blieb stehen" (Genesis 37, 7), während er von seinen Brüdern geträumt hatte: "eure Garben aber stellten sich ringsum und verneigten sich vor meiner Garbe" (ebd.). Erstaunlich ist der Ernst, mit dem die Brüder auf den Traum reagieren. Die Stimmung verschlechtert sich dramatisch; denn sie werden noch zorniger auf Joseph als sie ohnehin schon waren, weil sie in dem Traum die Ankündigung seines Herrschaftsanspruchs über sie sehen. Dabei wäre es doch denkbar gewesen, daß sie die ganze Angelegenheit unwichtig finden und zur Tagesordnung übergehen, weil es sich eben nur um einen Traum gehandelt hatte. Die bildhafte Vorstellung von der Getreide-Ernte und dem auffälligen Verhalten der gebundenen Garben sind der Inhalt. Ob die Brüder des Joseph den Traum als Vorschau auf eine zukünftige Wirklichkeit oder nur als Illusion deuten, ist eine Frage der Form, in die sie den geträumten Inhalt bringen. Solche Entscheidungen, in denen bestimmten Inhalten alternative Formen zugesellt werden, durchziehen das Alltagsleben der Menschen: Der eine macht eine Bemerkung im Scherz, die der andere in die Form der Kränkung bringt usw. Der verstehende Ansatz setzt sich das Ziel, die Formgebungsprozesse, die Erving Goffman als "framing" bezeichnet, zu untersuchen (Goffman, 1974). Im Anschluß an die Punkte 1 und 3 dieser Skizze kann der Vorgang des "framing" als soziale Konstruktion von Wirklichkeit gesehen werden. Dabei stehen dem Wissenschaftler die zum Zweck der Erkenntnisgewinnung konstruierten Idealtypen als Formen zur Verfugung. Z B. wird der historische Materialismus des Karl Marx von Georg Simmel als eine Form interpretiert, mit der man wirtschaftliche Zusammenhänge stark vereinfacht untersuchen kann. Daß Marx darin ein Abbild der Wirklichkeit gesehen hat, findet Simmel ganz abwegig. Wie Descartes die Realität tatsächlich zweigeteilt glaubte, und Spinoza dann in den beiden Alternativen nichts als unterschiedliche Sichtweisen sah, so glaubt Marx die Geschichte tat-
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sächlich von wirtschaftlichen Vorgängen determiniert, doch Simmel sah darin eben nur eine recht fruchtbare Art der Betrachtung (Simmel, 1923, Simmel 1992, Helle, 1997: 112f). Im Lebensalltag stehen zur Wirklichkeitskonstruktion vielfältige Formen bereit, die der handelnde Einzelne seiner Kultur entnehmen kann. Simmel weist auf die großen Formungszusammenhänge hin, die der ganzen ungeteilten Wirklichkeit Gestalt geben können: Das sind Kunst, Religion, Wissenschaft und - erstaunlicherweise - Realität. Ihm stehen nicht mehr wie bei Descartes und Spinoza - nur cogitatio und extensio als Sichtweisen zur Verfugung. Nach Simmeis Überzeugung ist es möglich, alles in der Perspektive der Kunst zu sehen, oder alles in der der Religion oder der Wissenschaft. Und ob wir den Inhalt eines Traums für eine Illusion halten oder für einen Aufruf zum Handeln, hängt davon ab, ob wir ihm den Bezugsrahmen der Realität zuerkennen oder nicht. In Verlängerung des Konzepts von der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit wird die VS der Zukunft die Bedingungen untersuchen müssen, unter denen die Herstellung von Gewißheit interaktiv gelingt.
B. Erkenntnistheoretische Vorarbeiten I. Bariich de Spinoza (1632-1677) 1. Person und Werk Spinozas Eines der besser bekannten Werke Spinozas ist sein Theologisch-politischer Traktat (Tractatus theologico-politicus,
1670) Darin gibt der Autor seinen Lesern Ratschläge über
den Umgang mit der Bibel. Er empfiehlt, wie ein Jude die Thora oder ein Christ das Alte Testament der Bibel lesen solle. Spinoza weist daraufhin, daß Gott z.B. in einer bestimmten Situation einen Propheten berufen habe, der vor dieser göttlichen Intervention sein Leben in einem weltlichen Beruf verbracht hatte. Wenn dieser neuerwählte Prophet nach erheblichem Zögern sich schließlich damit einverstanden erklärt, als Prophet tätig zu werden, dann wird der die Prophezeiungen, die er verkündet, in der Metaphorik formulieren, die sich aus seiner früheren Berufstätigkeit ergibt. So wird er die Offenbarung des göttlichen Willens in Bildern darstellen: Falls der Prophet ein Bauer war, werden Gottes Absichten ihm als Ochsen und Kühe erscheinen, falls er ein Soldat war, wird er einen Oberbefehlshaber vor sich sehen, der die himmlischen Heerscharen kommandiert und falls es sich um einen Höfling handelt, wird ihm der Thron eines Königs und die damit verbundene Prachtentfaltung höfischen Lebens als Metaphorik für die Verkündigung dienen. Der Prophet nimmt also eine Konstruktion vor, die sich rekonstruieren - also verstehen - läßt, wenn man seinen ehemaligen Beruf kennt. Spinoza schließt daraus, daß es beim Lesen der heiligen Schriften weder darauf ankommt, die Formulierungen wörtlich in sich aufzunehmen, noch die Metaphern mit positivistischer Genauigkeit zu registrieren. Statt dessen empfiehlt er, zu unterscheiden zwischen der Sprache als einem Werkzeug für den Transport von Inhalten einerseits und dem angezielten Sinn als Bezugsrahmen andererseits. Der Aufruf Spinozas gipfelt in der Mahnung, der Leser der Bibel möge sich auf das konzentrieren, was Gott seinen Gläubigen durch den Mund der Propheten mitteilen wollte, und nicht auf die Metaphorik, die der betreffende Prophet als Folge seiner früheren Alltagsroutine, die im beruflich vertraut war, in seinen Prophezeiungen zum Einsatz bringt. Wie zu erwarten war - und ganz gewiß unter den Bedingungen des 17. Jahrhunderts - geriet Spinoza mit dieser Leseempfehlung in Schwierigkeiten: Er erschien vielen seiner Zeitgenossen als Häretiker und Ungläubiger. Solche Anschuldigungen waren jedoch völlig unbegründet. George Santayana schreibt über Spinoza: "Wie ein alter Prophet seines Volkes, aber mit klarerer Berechtigung kann er seine
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Verurteilung aller Falschheit mit den gewaltigen Worten beenden 'So spricht der Herr'. Denn, indem er mit der Synagoge des Mittelalters bricht und sogar mit der Orthodoxie der Pharisäer, kehrt Spinoza zu den wesentlichen Einsichten der Propheten zurück und zu den primären Instinkten des hebräischen Volkes. Wie ein typischer Reformer oder Erneuerer konnte er das Gefühl haben, daß er nur auf neue Weise eine alte Weissagung verkündete. Sein Radikalismus war von brennender Frömmigkeit. Seine Andersgläubigkeit kam ihm als Gottes Wort vor" (Übersetzung vom Verfasser nach Santayana, 1916: XVI). Als Hauptwerk Spinozas gilt sein Buch Ethica, mit dem vollständigen Titel: Ethica ordine geometrico demonstrata. Er hat es zwischen 1665 und 1675 geschrieben. Im Jahr 1675 begann er damit, ausgewählte Teile des Manuskripts im Freundeskreis vorzulesen. Das Buch wurde erst nach seinem Tode im November 1677 publiziert. Nur zwei von Spinozas Werken wurden veröffentlicht, als er noch lebte: 1. Renati des Cartes principiorum philosophiae, mori geometrico demonstratae, in deutscher Übersetzung: Eine Abhandlung über die Prinzipien der Philosophie des Descartes, die auf geometrische Weise dargelegt werden. Dieses Buch erschien 1663. 2. Tractatus theologico-politicus, ist im Jahre 1670 erschienen und wurde hier schon erwähnt. Spinoza wagte nicht, den Traktat in seinem eigenen Namen zu veröffentlichen, sondern nur anonym. Eine erste Übersetzung ins Englische wurde schon 1689 zugänglich unter dem Titel A Treatise, partly Theological, partly Political. Die Bedeutung der Verfügbarkeit von Übersetzungen darf nicht überschätzt werden: Damals lasen alle Gelehrten des Abendlandes Latein, und Spinoza war häufig erleichtert darüber, daß nur diejenigen Personen seine Texte lesen konnten, die die lateinische Sprache beherrschten. Auch Descartes schrieb in seinem Vorwort zu den Meditationen, daß er sich absichtlich dafür entschieden hatte, nicht die französische Sprache zu wählen, sondern statt dessen seine Meditationen über die Grundlagen der Philosophie auf Lateinisch zu schreiben, weil das den von ihm beabsichtigten Effekt hatte, die "Schwachköpfe" auszuschließen, die sich aufgerufen fühlen könnten, sich seiner Richtung anzuschließen (Descartes, 1960:7). Die Hoffnung eines Verfassers dieser Zeit, daß sich bestimmte Leute keinen Zugang zu seinem Buch verschaffen können, weil sie die gewählte Sprache nicht beherrschen, wird im Falle des Spinoza besonders gut verständlich, wenn man sich die Probleme vor Augen fuhrt, mit denen er konfrontiert war: Er war am 24. November 1632 in Amsterdam geboren worden. Schon im Jahre 1656 wurde er von seiner Synagoge exkommuniziert, und der Magistrat von Amsterdam verbannte ihn aus der Stadt. Gleichwohl lebte er weiterhin in den Niederlanden. Im Jahre 1673 erhielt er einen Ruf an die Universität Heidelberg als Professor der Phi-
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losphie. Spinoza nahm diesen Ruf jedoch nicht an und wies auf die großen Schwierigkeiten hin, die er mit den verschiedenen Religionsgemeinschaften hatte. Er befürchtete, daß die Nachstellungen gegen ihn bei der Annahme einer Professur in Heidelberg nur noch schlimmer werden und die ganze Universität in Mitleidenschaft ziehen würden. Vier Jahre nach der Einladung, an der Universität Heidelberg zu lehren, starb er in Den Haag am 21. Februar 1677. Die Diskussion um das Werk Spinozas setzte sich durch die Jahrhunderte fort. Sie schließt eine Arbeit von Ferdinand Tönnies ein, mit dem Titel "Studie zur Entwicklungsgeschichte des Spinoza" (Tönnies, 1883). Im Jahre 1905 erschien eine neue Ausgabe von Spinozas Hauptwerk Ethica in der Übersetzung von Otto Baensch. Baensch beginnt seine Einleitung mit den Worten: "Die Philosophie Spinozas ist die eindrucksvollste Zusammenfassung der Gedanken des siebzehnten Jahrhunderts zu einer Welt- und Lebensanschauung" (Baensch, 1905: IX). Die erste deutsche Übersetzung der Ethica ist 1744 zugänglich geworden. Spinoza war im strengen Glauben der Synagoge aufgewachsen und den Texten der heiligen Schriften eng verbunden. Sein Vorname Baruch ist in der Gegenwart nur wenigen vertraut. Der hebräische Name heißt in deutscher Übersetzung der Gesegnete, auf Lateinisch Benedicts
In der hebräischen Bibel taucht der Name Baruch in dem Buch mehrfach auf, das
nach dem Propheten Jeremia benannt ist, und zwar dort in den Kapiteln 32, 36, 43 und 45. Ähnlich wie Jesus und Sokrates selbst nichts aufgeschrieben haben, sondern das im Falle Jesus den Evangelisten, im Falle des Sokrates dem Piaton überließen, hat offenbar auch der Prophet Jeremia selbst nichts niedergeschrieben: Baruch war sein Begleiter und Schreiber So wie die Philosophie Piaton das verdankt, was die Nachwelt von Sokrates weiß, so verdankt offenbar die biblische Überlieferung dem Baruch die Kenntnis der Prophezeiungen, Warnungen und Weisungen des großen Propheten Jeremia. Das Alte Testament der christlichen Bibel enthält außerdem ein eigenes Buch Baruch Durch die Existenz diese Textes wird - zwar nicht für den gläubigen Juden, wohl aber für den Christen - der erwähnte Baruch sogar in den Rang eines Propheten erhoben. Ob und inwieweit Spinoza sich mit dem Baruch aus dem Buch Jeremia identifiziert haben mag, ist reine Spekulation. Fest steht jedenfalls, daß Jeremia und mit ihm sein Weggefahrte und Schreiber Baruch schwere Nachteile bis hin zu Verfolgung und Gefangenschaft dafür erdulden mußten, daß sie unter Berufung auf Gott Aussagen verkündigten, die höchst unwillkommen waren. Für das Denken des Baruch Spinoza mag auch das im 44. Kapitel des Buches Jeremia dargestellte Ringen um zwei verschiedene Deutungen des Elends, in das das Volk der Judäer geraten war, wichtig gewesen sein: Unbestrittene und allgemein erlittene Tatsache war zur Zeit des Nebukadrezar (sie!), daß die Judäer besiegt, veijagt und ihre
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Städte in Schutt und Asche gelegt waren. Der Prophet Jeremia deutet diesen beklagenswerten Zustand als die Strafe Gottes für den Glaubensabfall und die Sündhaftigkeit des auserwählten Volkes. Andererseits haben die Israeliten, und nach dem Text besonders die Frauen, eine "Himmelskönigin" verehrt, ihr Rauchopfer dargebracht und zu ihren Ehren Trankopfer ausgegossen. Entgegen der Deutung des Propheten behauptet nun das Volk - und eben besonders die Frauen -, dieser Kult habe in der Vergangenheit über lange Zeit das Wohlergehen der Judäer garantiert, also müsse man ihn wiederbeleben und fortfuhren, um aus der gegenwärtigen Krise mit Hilfe der Himmelskönigin herauszufinden. Hier konkurrieren zwei entgegengesetzte Wirklichkeitskonstruktionen miteinander: Elend als verdiente Strafe für sündhaftes Handeln oder Elend als Folge ungenügender Verehrung einer Göttin. Der zornige Gott Israels kündigt dem verstockten Volk weiteres Unglück an, das dann auch eintrifft. Damit mag im Sinne des biblischen Textes die Hoffnung auf die Himmelskönigin widerlegt sein. Zugleich wird das allgemeine Elend so bedrückend, daß Baruch es wagt, sich um Verschonung bittend, in das 45. Kapitel des Jeremia-Textes einzubringen. Baruchs Worte lauten: "Weh mir! Denn Jahwe fugt Kummer zu meinem Schmerz hinzu Ich bin müde vom Seufzen und kann keine Ruhe finden" (Jeremia 45.3). Die Antwort des zürnenden Gottes lautet: "Siehe, was ich aufgebaut habe, das reiße ich nieder, und was ich gepflanzt habe, das reiße ich aus, und die ganze Erde werde ich schlagen, und da verlangst du Wundertaten für dich? ... Denn siehe: ich bringe Unheil über alles Fleisch, spricht Jahwe. Aber ich gebe dir dein Leben als Beute an allen Orten, wohin du gehst" (Jeremia 45.4f). Diese Passage kann als eindringliche Aufforderung an den Einzelnen gelesen werden, sein Leben als Chance zu begreifen und auch unter Schwierigkeiten, daraus etwas zu machen, indem er seine Wirklichkeit aus einer Perspektive äußerster Anspruchslosigkeit konstruiert. Der Text signalisiert jedenfalls eine Leidensbereitschaft, die auch Spinoza, der späte Namensvetter des biblischen Baruch, brauchte, um durchhalten zu können. Die Anfeindungen gegen ihn kann man sich kaum heftig genug vorstellen. Spinoza versuchte daher nicht, sein Hauptwerk, wie er selbst es bezeichnet, unter seinem Namen zu seinen Lebzeiten zu veröffentlichen. Erst nachdem er verstorben war, gaben seine Freunde aus dem Nachlaß die Ethica heraus. Das Buch erschien - wie erwähnt - im November 1677, ohne daß der Name des Verfassers auf dem Titelblatt genannt wurde. So hatte Spinoza selbst es gewollt. Ehe wir uns der Ethica zuwenden, noch einige Worte zu Spinozas für das siebzehnte Jahrhundert unglaublich kühner Methode. Er stellt sich einen Gott vor, der um die begrenzte Auffassungsgabe des Menschen sehr wohl weiß, und der es daher den Menschen erlaubt, sich das Heilige nach ihrem zeitbedingten Vermögen vorzustellen. Gott so zu begreifen, wie er tatsächlich ist, bleibt den Menschen völlig verwehrt; denn sie haben keinen Einblick in die
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transzendente Realität, die eben den Lebenden unzugänglich und damit auch unerkennbar bleibt. Aber das Tun des Menschen im Diesseits bezieht sich darauf und schafft so eine eigene, andere, empirische Realität im Diesseits. Von der diesseitigen Wirklichkeit geht Spinoza in seinem Denken aus. Er unterstellt, daß auch Gott selbst in seinen Dialogen mit den Menschen die diesseitige Wirklichkeit als Anknüpfungspunkt benutzt, um den Menschen nahe zu sein. Wie überraschend - und aus der Sicht traditioneller Theologie auch ärgerlich - die Denkergebnisse sind, die dabei herauskommen, zeigen folgende Beispiele: Das im Glauben der jüdisch-christlichen Tradition überaus heilige Ereignis der Verleihung der Tafeln mit den zehn Geboten von Gott selbst an Mose kommentiert Spinoza so: "Endlich offenbarte sich Gott als vom Himmel auf den Berg herabsteigend, weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne, und Moses stieg ebenfalls auf den Berg, um mit Gott zu reden, was durchaus nicht nötig gewesen wäre, wenn er sich Gott ebenso leicht an jeder anderen Stelle hätte vorstellen können" (Spinoza, 1976: 44). Die entwaffnende Schlichtheit des Zitats besagt, Gott sei dem Mose nur darum auf einem hohen Berg erschienen, weil Mose sich eine Erscheinung Gottes an keinem anderen Ort vorstellen konnte. Auf die Beschränktheit der Glaubensfähigkeit des Mose nahm Gott also Rücksicht! Diese Art zu argumentieren hat bei den Zeitgenossen Spinozas überwiegend Entsetzen ausgelöst. Seine Verurteilung als Ketzer beruhte auf einem Mißverständnis: Spinoza bestreitet ja gar nicht, daß Mose auf dem Berge Gott begegnet sei. Nur warum dieses Ereignis auf dem Berg stattgefunden hat, begründet er in durchaus anstößiger Weise so: "weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne". Gott kommt also nicht von sich aus auf den Gipfel des Berges und zitiert dann kraft seiner Allmacht den sterblichen Mose zu sich hinauf, nein: Gott berücksichtigt das Vorstellungsvermögen seines Volkes, und "weil man glaubte, daß Gott im Himmel wohne", ließ Gott sich eben darauf ein, gleichsam auf halbem Wege zwischen Himmel und Erde dem Mose auf dem Gipfel des Berges zu begegnen. Da es nun einmal Gottes Art ist, wie von Spinoza beschrieben zu den Menschen in Verbindung zu treten, gilt das ebenso für Gottes Umgang mit den Propheten, die er als Offenbarungsträger, also zur Übermittlung wichtiger Botschaften an die Menschen einsetzt. Wieder wird von Spinoza - und nach dessen Überzeugung eben auch von Gott - nicht nur das vorherrschende Vorstellungsvermögen des Volkes von Gott berücksichtigt, sondern sogar das des Einzelnen, der zum Propheten berufen werden soll: "Hinsichtlich des Vorstellungsvermögens war der Unterschied dieser: war der Prophet ein Mann von Geschmack, so faßte er den Sinn Gottes in geschmackvollem Stile auf, unklar aber, wenn er ein unklarer Kopf war. Das gleiche gilt ferner von den Offenbarungen, die durch Bilder geschahen: war der Prophet
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ein Bauer, so zeigten sich ihm Ochsen, Kühe usw., war er Soldat, dann Heerführer und Heerscharen, war er schließlich Hofmann, dann ein Königsthron und ähnliche Dinge. Endlich war auch die Prophetie verschieden je nach den unterschiedlichen Anschauungen der Propheten: die Magier (s. Matthäus, Kap.2), die an die astrologischen Possen glaubten, erhielten die Offenbarung von der Geburt Christi durch das Gesicht eines im Osten aufgegangenen Sternes" (ebd.: 34f ). Einige Seiten weiter faßt Spinoza seine Überlegungen zusammen: "Die Propheten waren also je nach der Verschiedenheit ihres Temperaments mehr fiir diese als für jene Offenbarungen geeignet... All das zeigt, richtig erwogen, daß Gott sich keines besonderen Stils der Rede bedient, sondern daß er lediglich entsprechend der Bildung und der Fähigkeit des Propheten geschmackvoll, bündig, streng, ungebildet, weitschweifig oder dunkel spricht" (ebd.: 36). Daraus mußte sich ein fiir Spinozas Zeit unerträglicher Deutungsspielraum für das Lesen der Heiligen Schrift ergeben: Gott redet gar nicht in seinem eigenen, göttlichen Sprachstil, sondern er bedient sich aus innerer Nähe zu denen, die an ihn glauben, der Sprache, mit der sie jeweils vertraut sind. Dabei bezieht sich 'Sprache' nicht nur auf die Art zu formulieren; die gesamte Metaphorik der Kommunikation wird dem Vorstellungsvermögen der von Gott angesprochenen Person angepaßt! Aus diesen und anderen Zitaten ist Spinozas Atheismus herausgelesen worden. Aus der Sicht seiner Kritiker fehlte ihm die Ehrfürcht vor der Heiligen Schrift, mit der - auch noch aus heutiger Sicht? - nicht so umgegangen werden dürfe, wie er es wagte. Ob aber seine Methode auf Unglaube hinausläuft oder nicht, ist - und das scheint mir wichtig - eine Frage des Gottesbildes. Denkt man von Gott als einem absoluten Herrscher nach dem Muster eines autokratischen Monarchen, dann war dessen Wille autonom und unbeeinflußt durch andere Subjekte von ihm allein konzipiert und in Realität umgesetzt. Der Mensch hat dann nur in seiner Ohnmacht die größtmögliche Annäherung an diese objektive Realität, die Gott allein setzt, zu suchen. Dabei wird der um Glauben ringende Einzelne eine Wirklichkeit, die ganz unabhängig von seinem Denken und Tun aus Gott heraus schon existiert, ergreifen oder verfehlen. Denkt man das graduell, dann müssen aus dieser Sicht verschiedene Religionen und Konfessionen bei dem Versuch, göttliche Realität aufzufinden, als mehr oder weniger gelungene oder gescheiterte Unternehmungen erscheinen. Wenn Spinoza vor dem Hintergrund dieses Gottesbildes schreibt, Mose gehe auf den Berg, weil er nur dort Gott erwartet, und die Propheten reden von Gott in Bildern, die ihnen aus anderen, völlig weltlichen Gründen schon ohnedies vertraut waren, so hört der Anhänger des autokratischen Gottes dies heraus: Spinoza erklärt die Inhalte der Vorstellungen des Menschen fiir das Heilige und leugnet zu-
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gleich Gott. Simmel war ein großer Bewunderer Spinozas. Simmel konnte das Heilige zugleich im Jenseits und in der Person sehen. Spinozas Zeitgenossen konnten das in ihrer überwiegenden Mehrzahl nicht.
2. Affektuelle Komponenten der Wahrnehmung Spinozas Ethica enthält fünf Teile. I.
Von Gott.
II. Von der Natur und dem Ursprung der Seele. III. Von dem Ursprung und der Natur der Affekte. IV. Von der menschlichen Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte. V. Von der Macht des Verstandes oder von der menschlichen Freiheit. Wir wenden uns Teil II zu und prüfen, wie Spinoza menschliche Emotionen, die er Affekte nennt, in seine Erkenntnistheorie einfugt und wie er dadurch die VS vorbereiten hilft, daß er den Prozeß untersucht, in dessen Verlauf eine Person zu ihrem Bild der Wirklichkeit gelangt. In dem Abschnitt über die Seele, dem zweiten Teil von Spinozas Ethik, wird die Seele als Sitz der Wahrnehmung bestimmt. Spinoza stellt klar, "daß die menschliche Seele die Natur sehr vieler Körper zusammen mit der Natur ihres eigenen Körpers wahrnimmt" (Spinoza, 1905: 62). Hier wird die Möglichkeit angedeutet, daß der Mensch einen Standpunkt innehaben kann, der von der eigenen Körperlichkeit verschieden ist, und daß er aus dieser Perspektive nicht nur die leibliche Existenz seiner selbst sondern auch die anderer Menschen wahrnehmen kann. Spinoza schließt daran an mit der Aussage: "Es folgt zweitens, daß die Ideen, die wir von äußeren Körpern haben, mehr den Zustand unseres Körpers, als die Natur der äußeren Körper anzeigen..." (ebd.: 62). Die Ideen, die wir haben, sind mitbestimmt von unserem eigenen Zustand, und das heißt: die Person, die sich über einen Gegenstand Gedanken macht, bringt bei der Formulierung ihrer Denkergebnisse eine affektuelle Komponente ein. Das Subjekt darf demnach nicht ausgeblendet werden, weil es - unabhängig davon, ob es das will oder nicht - Schöpfer seines spezifischen Wirklichkeitsbildes ist. Im gleichen Zusammenhang steht, ebenfalls im zweiten Teil von Spinozas Ethica, sein Lehrsatz 17: "Wenn der menschliche Körper auf eine Art afiiziert ist, die die Natur eines äußeren Körpers in sich schließt, so wird die menschliche Seele eben diesen äußeren Körper als wirklich existierend oder als gegenwärtig betrachten, bis ihr Körper in einen Affekt versetzt wird, der die Existenz dieses äußeren Körpers oder seine Gegenwart ausschließt" (ebd.: 62). Hier wird ausdrücklich das erkenntnistheoretische Postulat formuliert, daß der Wahrneh-
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mungsvorgang durch innerpsychische Vorgänge des Subjekts beeinflußt wird: Je nachdem, in welchen Affekt der Körper versetzt wird, definiert die Seele als Agentin der Wahrnehmung, einen äußeren Gegenstand entweder als wirklich oder als nicht existierend! Durch die unvermeidliche Einbeziehung des Subjekts ist der Wahrnehmungsprozeß vielerlei Unwägbarkeiten unterworfen. Spinoza schreibt - immer noch in Teil II - in seinem Lehrsatz 44: "Es liegt in der Natur der Vernunft, die Dinge nicht als zufällig, sondern als notwendig zu betrachten" (ebd.: 84). und kommentiert das mit dem Hinweis darauf, daß das menschliche Vorstellungsvermögen die Unbestimmtheit der Erkenntnis produziert, und daß es sich dabei nicht um Qualitäten der Objekte handelt. Der Vorgang des Erkennens liegt in der Beziehung, die zwischen dem Subjekt und dem zu erkennenden Gegenstand hergestellt wird, und in der das Subjekt sich das Objekt erst gestaltet. Spinoza fügt dem Lehrsatz 44 den Hinweis hinzu, daß die Vernunft die Neigung hat, die zu erkennenden Dinge "unter einer gewissen Art der Ewigkeit wahrzunehmen" (ebd.: 85). Das lateinische Original dieses Zitats "sub specie aeternitatis" kann besser so übersetzt werden: "unter der Perspektive der Ewigkeit" Von der Perspektive, unter der etwas gesehen wird, hängt die Form ab, in die der Erkennende es bringt. Nach diesen Erläuterungen im zweiten Teil der Ethica, in denen Spinoza auf die Bedeutung der Affekte für den Prozeß der Erkenntnisgewinnung aufmerksam macht, wendet er sich im dritten Teil ausdrücklicher den Affekten zu: "Die meisten, die über die Affekte und die Lebensweise der Menschen geschrieben haben, verfahren dabei, als ob sie nicht natürliche Dinge, die den gemeinsamen Gesetzen der Natur folgen, zu behandeln hätten, sondern Dinge, die außerhalb der Natur stehen; ja ersichtlich denken sie sich den Menschen in der Natur wie einen Staat im Staate. Denn sie glauben, daß der Mensch die Ordnung der Natur mehr störe als befolge, und daß er über seine Handlungen eine unbedingte Macht habe und von nirgends sonst her, als durch sich selbst, bestimmt werde. Sodann messen sie die Ursache der menschlichen Ohnmacht und Unbeständigkeit nicht der gemeinsamen Macht der Natur bei, sondern ich weiß nicht welchem Fehler der menschlichen Natur, die sie deswegen bejammern, verlachen, geringschätzen oder, wie es meistens geschieht, verwünschen; ..." (ebd.: 98). Hier stellt Spinoza - mindestens implizit - seine Anthropologie vor: Er ordnet den Menschen in die Natur ein als deren Bestandteil. Die Neigung, ihn der Natur als etwas völlig Autonomes gegenüberzustellen, führt nur dazu, daß dann über menschliche "Ohnmacht und Unbeständigkeit" Verwunderung herrscht. Wenn man dagegen den Menschen als Teil der Natur betrachtet, erscheint er in einem günstigeren Bild, weil man sich nun vorstellt, daß er durch Kräfte und Gesetzmäßigkeiten beeinflußt wird, die der Natur insgesamt innewohnen. Spino-
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za kommt es darauf an, diese Naturgegebenheiten, die menschliches Tun beeinflussen, wissenschaftlich zugänglich zu machen: "Für jetzt nämlich will ich mich wieder zu jenen zurückwenden, die die Affekte und Handlungen der Menschen lieber verwünschen oder verlachen, als verstehen wollen Diesen wird es zweifellos wunderlich vorkommen, daß ich mich anschicke, die Fehler und Torheiten der Menschen nach geometrischer Lehrart abzuhandeln, und daß ich Dinge vernunftgemäß beweisen will, die sie als der Vernunft widerstreitend, und als eitel, ungereimt und abscheulich ausschreien" (ebd.: 99) Dies ist das Programm, das Spinoza zu Beginn des dritten Teiles seiner Ethik formuliert: Er will die Natur untersuchen, weil er davon ausgeht, daß der Mensch Teil der Natur ist. Dabei ist sein Naturbegriff von dem der Naturwissenschaften verschieden und wäre besser übersetzt mit "Schöpfung" oder "das von Gott Geschaffene". Er glaubt an Zwänge in der Natur, denen auch der Mensch trotz all seiner Freiheiten unterworfen ist, und zwar sind das: "... die Gesetze und Regeln der Natur, denen gemäß alles geschieht und sich aus einer Form in die andere verwandelt ..." (ebd : 99, Hervorhebung nicht bei Spinoza!). Hier taucht der Gedanke der Dynamik der Formen auf, den wir bei Simmel ebenfalls antreffen, und den Simmel entweder direkt oder vermittelt über andere Vertreter des Vitalismus von Spinoza übernommen haben dürfte. Spinoza setzt die Affekte und Leidenschaften des Menschen nicht in Gegensatz zu den Vernunfterkenntnissen. Vielmehr behauptet er in seinem Lehrsatz 1 von Teil III, daß die Seele als Sitz der autonomen Individualität geradezu darauf angewiesen sei, "adäquate Ideen" verfugbar zu halten: "Unsere Seele tut einiges, anderes aber leidet sie; nämlich sofern sie adäquate Ideen hat, insofern tut sie notwendig einiges, und sofern sie inadäquate Ideen hat, insofern leidet sie notwendig einiges" (ebd.: 101). Spinoza kommentiert diesen Lehrsatz ausfuhrlich, und faßt dann seine Kommentare in dem Folgesatz zusammen: "Hieraus folgt, daß die Seele um so mehreren Leidenschaften unterworfen ist, je mehr inadäquate Ideen sie hat, und daß sie umgekehrt um so mehr tut, je mehr adäquate Ideen sie hat" (ebd.: 101). Die Seele ist also auf Ideen angewiesen, um trotz der Affekte, die in ihrem Haushalt eine Rolle spielen, produktiv und kreativ tätig werden zu können. Mit der Verbindung zwischen Tat einerseits und Ideen andererseits antizipiert Spinoza Gedanken, die man bei Simmel und bei den amerikanischen Pragmatisten wiederfindet Spinozas Philosophie enthält weitere Hinweise auf den Zusammenhang zwischen Erkenntnisleistung (der Seele) und Handlungseffizienz (des Körpers). So lautet in Teil III der Lehrsatz 11: "Was die Wirkungskraft unseres Körpers vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt, dessen Idee vermehrt oder vermindert, fördert oder hemmt die Denkkraft unserer Seele" (ebd.: 110). Man kann demnach die Wirksamkeit von Ideen daran überprüfen, ob sie sich im
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Bereich der körperlichen Aktion des Menschen förderlich auswirkt Dies ist eine wichtige erkenntnistheoretische These, weil es ja darauf ankommt, Kriterien für die Wirksamkeit und Zuverlässigkeit von Einsichten zu finden. Dieser Gedanke wird in Lehrsatz 12 fortgeführt: "Die Seele strebt, soviel sie kann, sich das vorzustellen, was die Wirkungskraft des Körpers vermehrt oder fördert" (ebd.: 111). Bei alledem bleibt Spinozas Interesse auf die Ungenauigkeiten der Erkenntnisgewinnung gerichtet. Er erwähnt die Bedeutung der Affekte im Zusammenhang mit einem Lehrsatz, den man als die frühe Formulierung einer Theorie vom Vorurteil lesen kann: "Lehrsatz 16. Wir werden ein Ding allein deswegen lieben oder hassen, weil wir uns vorstellen, daß es mit einem Objekt, das die Seele in Freude oder Trauer zu versetzen pflegt, irgendwelche Ähnlichkeit hat, auch wenn das, worin das Ding dem Objekte ähnlich ist, nicht die bewirkende Ursache dieser Affekte ist" (ebd.: 114). Demnach wird dem Ding, das bei Spinoza auch eine Person sein kann, nicht objektive Gerechtigkeit zuteil, wenn man es beurteilt, sondern aufgrund rein äußerlicher Ähnlichkeit oder Analogie werden Affekte übertragen. Die Theorie der Projektion faßt später genauer, was hier von Spinoza schon erkannt worden ist. Bezeichnend ist für die Vorgehensweise Spinozas, daß er die affektbestimmten Merkmale menschlichen Erkennens nicht als Irrationalismen abwertet. Er hatte sich im Gegenteil deutlich abgegrenzt von solchen Personen, die menschliche Affekte als Schwächen und Unzuverlässigkeiten einordnen. In seiner Ethica bemüht er sich gerade, die Affektbestimmtheit menschlichen Erkennens unter dem Gesichtspunkt von Regelmäßigkeiten oder sogar Gesetzmäßigkeiten (aber nicht als Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinne) zu behandeln und daher vernünftiger Argumentation und der Chance einer Voraussage zugänglich zu machen, so widersprüchlich das auf Anhieb auch scheinen mag. Er schreibt im Lehrsatz 22: "Wenn wir uns vorstellen, daß jemand ein Ding, das wir lieben, in Freude versetzt, so werden wir in Liebe gegen ihn versetzt werden. Wenn wir uns dagegen vorstellen, daß er es in Trauer versetzt, so werden wir umgekehrt in Haß gegen ihn versetzt werden" (ebd.: 119). Hier ist die Entstehung von Liebe und Haß in eine Beziehung eingebunden, die, wie Simmel schreiben würde, die Gestalt einer Triade hat. Gedacht wird an drei Personen, von denen zwei gegenwärtig und eine abwesend ist. Es geschieht konkret nichts empirisch Greifbares, sondern es werden nur durch Inhalte der Vorstellungen Affekte ausgelöst. Ein Mensch, der einen Abwesenden dauerhaft liebt, stellt sich von einem Anwesenden vor, daß der den geliebten Abwesenden in Freude oder in Trauer versetzt und entwickelt dementsprechend Affekte gegen den weniger gut bekannten Anwesenden, deren Inhalte sich präzise voraussagen lassen.
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Spinoza behandelt in den verschiedenen Passsagen, die hier ausgewählt wurden, den Prozeß der Wirklichkeitskonstruktion, obwohl er es freilich so nicht nennt. Er macht in Lehrsatz 25 des dritten Teils seiner Ethica deutlich, aufgrund welcher Affekte wir uns ein Bild von einer bestimmten Person machen, die allerdings in der vorliegenden Übersetzung als "Ding" bezeichnet wird: "Wir streben, von uns und von einem Dinge, das wir lieben, all das zu bejahen, wovon wir uns vorstellen, daß es uns oder das geliebte Ding in Freude versetzt; und umgekehrt all das zu verneinen, wovon wir uns vorstellen, daß es uns oder das geliebte Ding in Trauer versetzt" (ebd.: 121). Hier wird vorbereitet, was Simmel vor Augen hat, wenn er von der Verliebtheit schreibt und davon, daß der Verliebte sich die geliebte Person gedanklich so konstruiert, daß sie seiner inneren Gefiihlsverfassung möglichst genau entspricht. Spinoza formuliert darüber hinaus so etwas wie den gesetzmäßigen Ablauf von Empathievorgängen. Er schreibt in Lehrsatz 27: "Wenn wir uns vorstellen, daß ein uns ähnliches Ding, für das wir noch keinen Affekt gehabt haben, in irgend einen Affekt versetzt wird, so werden wir schon allein dadurch in einen ähnlichen Affekt versetzt" (ebd.: 122). Auch hier wird ein Vorgang, den man aus der Sicht einer rationalistischen Weltanschauung als unvernünftig betrachten würde, in einer Weise behandelt, die ihn als nahezu gesetzmäßigen, jedenfalls regelmäßig und daher vorhersagbar erscheinen läßt. Dies ist der eigenartige Beitrag Spinozas zur Entwicklung einer Erkenntnistheorie emotionaler und sozialer Vorgänge, die Besonderheiten des Subjekts nicht ausblendet sondern einbezieht. Man kann aus Spinozas Texten den Gedanken herauslesen, den wir im 20. Jahrhundert mit der Kategorie des signifikanten Anderen oder des generalisierten Anderen bei George Herbert Mead verbunden finden. Gemeint ist die Neigung des Menschen, sich aus der Perspektive eines vorgestellten Subjekts zu betrachten und zu beurteilen. Bei Mead wird eine wichtige einzelne Bezugsperson als "significant other" bezeichnet, und die Bezugsgruppe, etwa die Mannschaft im Sport, an der sich der einzelne Mitspieler orientiert, als "generalized other". Spinoza schreibt im Teil III in Lehrsatz 29: "Wir werden auch streben, all das zu tun, wovon wir uns vorstellen, daß die Menschen es mit Freude anblicken; und umgekehrt werden wir verabscheuen, etwas zu tun, wovon wir uns vorstellen, daß die Menschen es verabscheuen" (ebd.: 124). Der Gedanke, man könne bei der Neigung des Menschen, sich an anderen zu orientieren, voraussagbare Regelmäßigkeiten aufzeigen, wird in Lehrsatz 30 fortgeführt: "Wenn jemand etwas getan hat, wovon er sich vorstellt, daß es andere in Freude versetzt, so wird er in eine Freude versetzt werden, die von der Idee seiner selbst als der Ursache begleitet wird, oder er wird sich selbst mit Freude betrachten. Wenn er dagegen etwas getan hat, wovon er sich vorstellt, daß es andere in Trauer versetzt, so wird er sich selbst umgekehrt mit Trauer be-
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trachten" (ebd.: 125). In diesem Lehrsatz Spinozas ist außer der erwähnten Parallele zu Mead auch das vorweggenommen, was bei Simmel beschrieben wird als die Fähigkeit, sich "in die Seele der Personen versetzen" (Simmel, 1923, 37) zu können. Der Lehrsatz 30 enthält neben der Idee der Perspektivenübernahme den Grundgedanken des Verstehens: Jemand versetzt sich in die Lage eines anderen und empfindet bei der Vorstellung, daß er dem anderen eine Freude bereitet, selbst Freude. Spinoza formuliert einen Beweis, dem er den Lehrsatz 30 unmittelbar folgen läßt: "Wer sich vorstellt, daß er andere in Freude oder Trauer versetzt, wird eben dadurch . . . in Freude oder Trauer versetzt werden. Da nun aber der Mensch sich ... seiner selbst bewußt ist vermöge der Affektionen, die ihn zum Handeln bestimmen, so wird demzufolge jemand, der etwas getan hat, wovon er sich vorstellt, daß es andere in Freude versetzt, in eine Freude mit dem Bewußtsein seiner selbst als der Ursache versetzt werden, oder er wird sich selbst mit Freude betrachten, und umgekehrt" (Spinoza, 1905: 125). Der Prozeß der Erkenntnisgewinnung, der bei meinem Mitmenschen zu dessen Wirklichkeitsbild geführt, ihn freudig oder traurig gemacht hat, wird von mir nachvollzogen, und dadurch komme ich in die Lage, den anderen zu verstehen und allerdings auch, seine Affekte mitzufühlen. Bei der Weiterentwicklung dieses Gedankens formuliert Spinoza die emotionalen Grundlagen des Neides (vgl. H. Schoeck, 1966). Das Erstaunliche dabei ist, daß er den Neid nicht, wie in der christlichen Tradition vorher selbstverständlich, als sündhafte Fehlhaltung des Menschen darstellt, sondern als Gesetzmäßigkeit oder Regelmäßigkeit, die sich mit großer Wahrscheinlichkeit immer dann einstellt, wenn bestimmte Bedingungen erfüllt sind. Sein methodisches Vorgehen ist der Nachvollzug des Prozesses der Wirklichkeitskonstruktion im anderen: "Lehrsatz 32. Wenn wir uns vorstellen, daß jemand sich eines Dinges erfreut, das nur einer allein besitzen kann, werden wir zu bewirken streben, daß er jenes Ding nicht besitze" (Spinoza, 1905: 127). Als Beweis für die Richtigkeit dieses Lehrsatzes fuhrt Spinoza an, daß die Vorstellung von einem erfreulichen Ding die Wirkung hat, das Ding als wertvoll anzusehen und es sogar zu lieben. Zugleich wird aber die Freude, die der andere an dem Ding erlebt, als Hindernis bei der Erfüllung der eigenen Wünsche gesehen. So entsteht die im Lehrsatz genannte Neigung, sich zu wünschen und sogar aktiv danach zu streben, daß der Besitz bei dem anderen enden möge. Hieraus leitet Spinoza die Folgerung ab: "Wir sehen also, daß es um die Natur des Menschen meistenteils derartig bestellt ist, daß sie die, denen es schlecht geht, bemitleiden, und die, denen es gut geht, beneiden ..." (ebd.: 127). Die Argumentation ist hier nicht deterministisch sondern probabilistisch. das wird deutlich durch die Verwendung des Wortes "meisten Teils". Spinoza schließt also nicht aus, daß es außergewöhnlich tugendhafte Men-
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sehen gibt, für die sein Lehrsatz individuell nicht zutrifft. Ähnlich verfahrt Spinoza in weiteren Lehrsätzen. Es muß seinen Zeitgenossen ein Ärgernis gewesen sein, als Regelmäßigkeit dargestellt zu finden, was nach den damals üblichen ethischen Vorstellungen als menschliche Schuld erschienen ist. So schreibt Spinoza über die persönlichen Verhältnisse zwischen zwei Personen, allerdings wieder (in der Übersetzung) unter Verwendung des etwas überraschenden Begriffs Ding im Lehrsatz 35: "Wenn jemand sich vorstellt, daß das Ding, das er liebt, sich einem anderen mit dem selben oder mit einem engeren Freundschaftsband verbindet, als mit dem es ihm bisher allein zugehörte, so wird er das geliebte Ding selbst hassen und jenen anderen beneiden" (ebd.: 129). Danach ist es geradezu Ausdruck der Normalität, wenn Menschen eifersüchtig sind.2 Interessant ist eine Anmerkung, in der Spinoza den Begriff Wunsch definiert. Die Argumentation, die er freilich aus dem Zusammenhang heraus entwickelt, erinnert an Georg Simmeis Buch Philosophie des Geldes. Die Ableitung des Begriffes Wert bei Simmel entspringt der gleichen Argumentation, wie Wunsch bei Spinoza: "Diese Trauer im Hinblick auf die Abwesehheit dessen, was wir lieben, heißt Wunsch" (ebd.: 131). Spinoza schreibt in Lehrsatz 41 des Teiles III: "Wenn jemand sich vorstellt, von einem anderen geliebt zu werden, und nicht glaubt, dazu eine Ursache gegeben zu haben ... wird er den anderen wiederlieben" (ebd.: 135). Ebenso Lehrsatz 44: "Haß, der durch Liebe vollständig besiegt wird, geht in Liebe über, und die Liebe ist dann größer, als wenn kein Haß vorangegangen wäre" (ebd.: 137). Eine solche Systematik im Umgang mit Emotionen war der Zeit, in der Spinoza lebte, weit voraus. Sie liest sich selbst heute noch eigenartig genug. Originell ist die Anmerkung, die er diesem Lehrsatz folgen läßt: "Obgleich die Sache sich so verhält, so wird doch deshalb niemand streben, ein Ding zu hassen oder in Trauer versetzt zu werden, um hernach dieser größeren Freude zu genießen ..." (ebd.: 137). Spinozas Lehrsätze befassen sich nicht nur mit der Begegnung zwischen Individuen oder, wie man auch sagen könnte, mit dem Bereich der Sozialpsychologie. Er formuliert Erkenntnisse, die auf die viel später entwickelte Völkerpsychologie vorausweisen: "Lehrsatz 46. Wenn jemand von einem Angehörigen irgend einer anderen Klasse oder eines fremden Volkes in Freude oder Trauer versetzt worden ist, unter Begleitung der Idee von ihm unter dem allgemeinen Namen dieser Klasse oder dieses Volkes als der Ursache, dann wird er nicht
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Diese Feststellung löste während der Vorlesung im Hörsaal bei einigen Studierenden Erleichterung aus: Sie meinten nun, sich ihrer Eifersucht nicht mehr schämen zu müssen, sondern sich dazu bekennen zu dürfen.
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bloß diesen einen, sondern auch alle anderen Angehörigen der selben Klasse oder des selben Volkes lieben oder hassen" (ebd.: 138). Liebe und Haß definiert Spinoza am Ende von Teil III so: "Liebe ist Freude begleitet von der Idee einer äußeren Ursache ... Haß ist Trauer begleitet von der Idee einer äußeren Ursache " (ebd.: 157). Der vierte Teil der Ethica trägt die Überschrift "Von der menschlichen Knechtschaft oder von den Kräften der Affekte" (ebd.: 171). In der Vorrede entwickelt Spinoza weitere erkenntnistheoretische Einsichten. Er legt dort die Grundlage für den Konstruktivismus und weist den Gedanken, daß unvoreingenommene objektive Erkenntnis möglich sei, als abwegig zurück: "Und es scheint kein anderer Grund zu sein, weswegen auch die natürlichen Dinge, Dinge also, die nicht von Menschenhand gemacht sind, gewöhnlich vollkommen oder unvollkommen genannt werden; denn von den natürlichen Dingen pflegen die Menschen ebenso wie von den künstlichen allgemeine Ideen zu bilden, die sie dann gleichsam für die Musterbilder der Dinge halten, und von denen sie glauben, daß die Natur (die nach ihrer Ansicht alles eines Zweckes halber tut) auf sie hinschaue und sie sich als Musterbilder vorsetze. Wenn sie daher etwas in der Natur entstehen sehen, was mit dem vorgefaßten Musterbild, das sie von derartigen Dingen haben, nicht übereinstimmt, so glauben sie, daß dann die Natur selbst gefehlt oder ein Versehen begangen und dieses Ding unvollkommen gelassen habe. Wir sehen daher, daß die Menschen gewöhnt sind, die natürlichen Dinge mehr einem Vorurteile zufolge vollkommen oder unvollkommen zu nennen, als auf Grund der wahren Erkenntnis von ihnen" (ebd.: 172). Spinoza entwirft hier eine Erkenntniskritik, die erst Kant später ausfuhren sollte. Auch Simmeis Umdeutung von Piatons Entdeckung ewiger Ideen zu einer Konstruktion heuristischer Denkwerkzeuge (siehe dazu im Kapitel über Simmel!) ist hier bei Spinoza vorformuliert. Das wird noch deutlicher in der folgenden Passage: "Vollkommenheit also und Unvollkommenheit sind in Wahrheit nur Modi des Denkens, nämlich Begriffe, die wir uns auf Grund davon einzubilden pflegen, daß wir die Individuen der selben Art oder der selben Gattung miteinander vergleichen: und aus dieser Ursache habe ich oben ... gesagt, daß ich unter Realität und Vollkommenheit das selbe verstehe" (ebd.: 173). Ebenfalls in der Vorrede zum Teil IV schreibt Spinoza: "Unter gut werde ich daher im folgenden das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es ein Mittel ist, dem Musterbild der menschlichen Natur, das wir uns vorsetzen, näher und näher zu kommen. Unter schlecht dagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es uns hindert, diesem Musterbild zu entsprechen" (ebd.: 174). Diese Argumentation wird noch einmal zusammengefaßt in den Definitionen, die unmittelbar auf die Vorrede folgen:
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" 1. Unter gut werde ich das verstehen, wovon wir gewiß wissen, daß es uns nützlich ist. 2. Unter schlecht dagegen das, wovon wir gewiß wissen, daß es uns hindert, in den Besitz des Gutes zu gelangen" (ebd.: 175). Diese ersten beiden von acht Definitionen lesen sich wie eine Vorwegnahme des philosophischen Pragmatismus, der gegen Ende des 19. Jahrhunderts formuliert wird. Die Entdeckung des Konstruktivismus als erkenntnistheoretische Position zeichnet Spinoza aus. Er ist sich des wertenden Eigenbeitrags des um Erkenntnis bemühten Subjekts wohl bewußt. Das überträgt er auch auf die Zuschreibung der Begriffe gut und schlecht. "Was das Gute und das Schlechte anlangt, so bezeichnen diese Ausdrücke auch nichts Positives in den Dingen, wenn man die Dinge nämlich an sich selbst betrachtet; es sind auch nur Modi des Denkens oder Begriffe, die wir dadurch bilden, daß wir die Dinge miteinander vergleichen. Denn ein und das selbe Ding kann zu der selben Zeit gut und schlecht, und auch indifferent sein. Z.B. ist Musik für den Trübsinnigen gut, schlecht für den Trauernden, für den Tauben aber weder gut noch schlecht" (ebd.: 174). Gerade dieses Beispiel, mit dem er die Wirkung der Musik auf verschiedene Personen illustriert, zeigt seine erkenntnistheoretische Position: Er will den Wert eines Gegenstandes nicht in die Materialität dieses Dinges hineinprojizieren, sondern in der lebendigen Beziehung zwischen dem Gegenstand und der Person aufsuchen, die den Gegenstand erlebt und dabei bewertet.
3. Bezug zum Verstehenden Ansatz Georg Simmel bezieht sich in seinem Schriften zur Religion wiederholt auf Spinoza (Simmel, 1989; Simmel 1997: 5, 60, 115, 124, 138, 143), und selbstverständlich findet Spinozas Einfluß außer durch die Vermittlung Simmeis auch auf anderen Wegen Zugang zum Denken der VS. Zu Beginn diese Buches wurden in der Einführung die Besonderheiten der theoretischen Methode der VS in sechs Punkten vorgestellt. Daran wird bei dieser Rückschau auf die erkenntnistheoretischen Vorarbeiten Spinozas Bezug genommen 1. Erkenntnistheorie: Was können Menschen zuverlässig wissen? Die von seinen Gegnern behauptete Gottlosigkeit Spinozas wird schon durch die erkenntnistheoretische Position unglaubwürdig, die seinen Schriften zugrunde liegt. Sein Philosophieren ist Heuristik: Menschen können nur das zuverlässig wissen, von dem sie sich ein adäquates Bild machen. Der Prophet kann die OfFenbarungsmitteilung Gottes nicht unbearbeitet - sozusagen in Form irgendeines Urtextes - an das erlösungsbedürftige und verirrte Volk weitergeben, sondern stets nur in den Metaphern, über die das menschliche Sprachrohr der ewigen Wahrheit sicher verfugt: eben als Bauer, als Soldat oder als Höfling. Und der
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größte aller Propheten Israels, Mose selbst, kann mit Gott nicht so umgehen, wie Gott von sich aus ist, sondern nur so, wie Mose ihn sich vorstellt. Darum mußte er auf den Berg steigen, um dort oben die Zehn Gebote entgegenzunehmen 2. Sitz der Wirklichkeit: außen oder innen? Die menschlichen Affekte sind für Spinoza nicht eine Wahrnehmungsstörung, sondern eine naturgegebene Wirklichkeit im Innern der Person. Er kritisiert die "meisten, die über Affekte und die Lebensweise des Menschen geschrieben haben" (Spinoza, 1905: 98), weil sie sich die Natur da draußen als von geordneten Gesetzen bestimmt vorstellen und den von Emotionen beeinflußten Menschen als bedauerliche Fehlkonstruktion. Sitz der Wirklichkeit wäre dann die Ordnung der Natur, aus welcher der unzuverlässige Mensch ausgespart bliebe. So sieht Spinoza es eben nicht. Die Wirklichkeit da draußen ist - wie unter Punkt 1 erklärt zwar gegeben, aber nicht gedanklich erfaßbar Der Mensch muß sich ein Bild davon machen, um damit umgehen zu können, und da er es ist, der das Bild schafft, geht seine innere Wirklichkeit darin ein 3. Theorietypen: Reproduktion oder Konstruktion? Wenn Spinoza Prinzipien der Philosophie vorlegt, tut er das gern more geometrico
demon-
tratae, will sie also auf geometrische Weise erläutern. Dabei erhebt seine Methode keinerlei Anspruch, den untersuchten Gegenstand abzubilden. Seine Theorie ist - in der Terminologie unserer Typenbildung - nicht Reproduktion oder auch nur der Versuch, eine im Gegenstand angelegte Struktur in der daraus abgeleiteten Theorie wiederzugeben. Die "geometrische Weise" seiner Argumentation zeigt im Gegenteil ganz deutlich, daß die Denkmethode unabhängig von dem ist, was untersucht werden soll: sie ist Heuristik. Spinozas Philosophieren ist das Schaffen von Denkinstrumenten, also von Konstruktionen, deren Nützlichkeit sich erst in ihrer Anwendung erweist. So mußte es seinen Kritikern "zweifellos wunderlich vorkommen" (ebd.: 99), daß er bei der Untersuchung menschlicher Affekte "Dinge vernunftgemäß beweisen will, die sie als der Vernunft widerstreitend... ausschreien" (ebd.). 4. Stellung des Subjekts: ausgeblendet oder einbezogen? Indem Spinoza die affektuellen Komponenten der Wahrnehmung und der Wirklichkeitskonstruktion betont, weist er dem Subjekt den Mittelpunkt zu. Zwar bemüht er sich in seiner Ethica um Verallgemeinerungen und stellt Regelmäßigkeiten emotionaler Reaktionen heraus, die überindividuell gültig sind. Aber die Übernahme einer Perspektive, nach der z.B. alle Angehörige eines bestimmten Volkes in einem günstigen oder ungünstigen Lichte erscheinen, kann nur als Aktivität eines Subjekts gedacht werden. So wäre es für Spinoza abwegig,
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das Subjekt in seiner personalen Besonderheit aus dem wissenschaftlichen Diskurs auszublenden. 5. Wirklichkeitstest: Ist das Wissen wirklich, weil es einem Gesetzt folgt oder weil es zum Handeln anleitet? Musik ist "für den Trübsinnigen gut, schlecht für den Trauernden, für den Tauben aber weder gut noch schlecht" (ebd.: 174). Abgesehen davon, daß nicht einzusehen ist, wieso der Trauernde nicht durch Musik getröstet werden könnte, macht Spinoza jedenfalls mit dieser Aussage deutlich, daß Wirklichkeit für ihn das ist, was sich im Tun der Menschen und in der Wirkung äußert, die es dabei hat. Insoweit kann er als Vorläufer des philosophischen Pragmatismus gesehen werden. Das bestätigt sich durch seine Definitionen von gut und von schlecht. Entscheidend ist in beiden Fällen, ob das Handeln auf dem Wege zu einem bestimmten Ziel behindert oder gefördert wird. Wissen wird demnach so gewertet, wie es seinem Beitrag zum Handeln entspricht. 6. Inhalt und Form: "Framing" als Konstruktionsprozeß "Vollkommenheit also und Unvollkommenheit sind in Wahrheit nur Modi des Denkens..." (ebd.: 173). Das ist ein Satz mit großer Sprengkraft! Das Übersetzen von harter Substanzhaftigkeit in Arten der Sichtweise ist die große und bleibende Leistung des Spinoza als Beitrag zur Befriedung der Welt! "Leicht beieinander wohnen die Gedanken, doch hart im Räume stoßen sich die Sachen" ist deutlich spinozistisch Und wo René Descartes dualistisch zwei Wirklichkeiten gesehen hatte, die der Gedanken als Welt der cogitatio und die der Sachen als Welt der extensio, sieht Spinoza nur eine ungeteilte ganze Welt, die man auf zwei verschiedene Weisen anschauen kann. Man kann sie als Inhalt in diesen oder in jenen Rahmen einstellen. Das ist der Ausgangspunkt des Denkens, das zum Begriff der Form bei Simmel und zu dem des frame bei Goffman geführt hat.
II. Immanuel Kant (1724-1804) 1. Vernunft, Wissen und Wollen In seinen "Prolegomena zu einer jeden künftigen Metaphysik, die als Wissenschaft wird auftreten können" (Kant I, 1), behandelt Kant die Frage, wie verstehende, über die Sinneswahrnehmung hinausgehende Erkenntnis möglich sei. Kant unterscheidet Verstand von Vernunft. Dabei ist der Verstand für die Auseinandersetzung mit den erfahrbaren Objekten zuständig und die Vernunft für ein Vordringen in die Welt der 'Ideen'. Die Beschränkung wissenschaftlicher Bemühungen auf den Bereich der Empirie lehnt Kant ab, weil das Erfahrbare zu vielfältig und darum unüberschaubar sei. Kant geht davon aus, daß auf spekulatives, die Erfahrung transzendierendes Denken nicht verzichtet werden kann. Für dieses unverzichtbare Denken ist, wie er meint, die Vernunft zuständig: "So wie also der Verstand der Kategorien zur Erfahrung bedurfte, so enthält die Vernunft in sich den Grund zu Ideen, worunter ich notwendige Begriffe verstehe, deren Gegenstand gleichwohl in keiner Erfahrung gegeben werden kann" (Kant 70). Kant unterscheidet somit als ein "wichtiges Stück zur Grundlegung einer Wissenschaft" diese beiden verschiedenen Arten von Erkenntnissen, von denen die eine keineswegs die andere ersetzen kann. "Die Unterscheidung der Ideen, d.i. der reinen Vernunftbegriffe, von den Kategorien oder reinen Verstandesbegriffen, als Erkenntnissen von ganz verschiedener Art, Ursprung und Gebrauch" (ebd.: 71), deckt sich mit der Zweiteilung in einerseits Erkenntnisse, die in der Erfahrung überprüft werden können, und andererseits solche, die der Erfahrung unzugänglich sind: "Alle reinen Verstandeserkenntnisse haben das an sich, daß sich ihre Begriffe in der Erfahrung geben und ihre Grundsätze durch Erfahrung bestätigen lassen; dagegen die transzendenten Vernunfterkenntnisse sich, weder was ihre Ideen betrifft, in der Erfahrung geben, noch ihre Sätze jemals durch Erfahrung bestätigen, noch widerlegen lassen..." (ebd.: 71) Wenn die Vernunfterkenntnisse, der empirischen Überprüfung unzugänglich, ihre Quellen im Inneren des denkenden Subjekts hätten, während die Verstandeserkenntnisse sich auf die Auseinandersetzung mit der Welt der Objekte beschränken müßten, wäre die Kluft zwischen Subjekt und Objekt im Ansatz Kants unüberbrückbar. Das ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr setzt für ihn die Leistung der Vernunft erst ein als Fortsetzung von Sinneserfahrung mit anderen gedanklichen Mitteln. Die Welt der Vernunft und die Ideen beziehen sich ja nicht auf unterschiedliche Inhalte, sondern die Inhalte, die sich der Sinneserfahrung stets bruchstück-
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haft und unsystematisch darstellen, werden im Bereich des Verstandes vervollständigt und systematisiert. So legt Kant das Fundament für jene soziologische Methode, die später bei Max Weber zur Konstruktion von Idealtypen fuhren soll: "Die reine Vernunft hat unter ihren Ideen nicht besondere Gegenstände, die über das Feld der Erfahrung hinauslägen, zur Absicht, sondern fordert nur Vollständigkeit des Verstandesgebrauchs, im Zusammenhange der Erfahrung. Diese Vollständigkeit aber kann nur eine Vollständigkeit der Prinzipien, aber nicht der Anschauungen und Gegenstände sein. Gleichwohl, um sich jene bestimmt vorzustellen, denkt sie sich solche, als die Erkenntnis eines Objekts, dessen Erkenntnis in Ansehung jener Regeln vollständig bestimmt ist, welches Objekt aber nur eine Idee ist, um die Verstandeserkenntnis der Vollständigkeit, die jene Idee bezeichnet, so nahe wie möglich zu bringen" (ebd.: 74). Vernunft als Fortsetzung von Sinneserfahrung mit anderen gedanklichen Mitteln fordert Kant als Prinzip aller Wissenschaft, also auch der Naturwissenschaften. In seiner "Kritik der reinen Vernunft" behandelt Kant drei Formen unterschiedlicher Gewißheit in "Des Canons der reinen Vernunft Dritter Abschnitt: Vom Meynen, Wissen und Glauben" (von Molnär 1988: 42ff. mit Anstreichungen von Goethe nach dessen Handexemplar). Er entfaltet dies als Stufen des Fürwahrhaltens danach, ob jeweils auf der subjektiven oder der objektiven Seite dieser "Begebenheit in unserem Verstände" (ebd.: 42) Mängel vorhanden sind, so daß dann insoweit von unzureichendem Fürwahrhalten gesprochen werden muß. Stufen des Fürwahrhaltens Meinen
subjektiv: unzureichend
objektiv:
unzureichend
Glauben
subjektiv:
zureichend
objektiv:
unzureichend
zureichend
objektiv:
zureichend
Wissen
subjektiv:
Hier handelt es sich um ganz einfache Begriffe der Alltagssprache, und Kant kommentiert nur: "Die subjektive Zulänglichkeit, Überzeugung (für mich selbst), die objektive, Gewißheit (für jedermann)" ( ebd.: 43). Vor dem Hintergrund dieser Begriffsbestimmung weist Kant darauf hin, daß ein bloßes Meinen in bestimmten Wissensgebieten "ungereimt" (ebd.: 44) sei. In der reinen Mathematik ebenso wie im Umgang "mit den Grundsätzen der Sittlichkeit" (ebd.) dürfe man nicht meinen, sondern man müsse schon wissen, "oder sich alles Urteilens enthalten." (ebd.) Dies gelte in der Sittlichkeit, da man doch "nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf' (ebd.).
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gelte in der Sittlichkeit, da man doch "nicht auf bloße Meinung, daß etwas erlaubt sei, eine Handlung wagen darf' (ebd.). Obschon all dies theoretisch in sich schlüssig sein mag, sieht Kant doch auch sehr klar die praktischen Notwendigkeiten des handelnden Menschen vor Augen. Der kommt im Alltag oft nicht umhin, auf der Grundlage unzureichenden Fürwahrhaltens Handlungsentscheidungen zu treffen. Kant nennt das Beispiel des Arztes, der aufgrund einer hypothetischen Diagnose therapiert. Diesem Beispiel des "pragmatischen Glauben(s)" (ebd.: 45) stellt er den "doktrinalen Glauben" (ebd.: 46) (z.B. Lehre vom Dasein Gottes) gegenüber. Und wegen der außerordentlichen, praktischen Bedeutung dieser Formen des Fürwahrhaltens, die sich als Glaube ergeben, fuhrt Kant als Maß der Zuverlässigkeit die Wette ausdrücklich ein. "Der gewöhnliche Probierstein: ob etwas bloße Überredung, oder wenigstens subjektive Überzeugung, d.i. festes Glauben sei, was jemand behauptet, ist das Wetten. Öfters spricht jemand seine Sätze mit so zuversichtlichem und unlenkbarem Trotz aus, daß er alle Besorgnis des Irrtums gänzlich abgelegt zu haben scheint. Eine Wette macht ihn stutzig. Bisweilen zeigt sich, daß er zwar Überredung genug, die auf einen Dukaten an Wert geschätzt werden kann, aber nicht auf zehn, besitze. Denn den ersten wagt er noch wohl, aber bei zehnen wird er allererst inne, was er vorher nicht bemerkte, da es nämlich doch wohl möglich sei, er habe sich geirrt" (ebd.:45f). Kant empfiehlt geradezu die Wette als Instrument der Disziplinierung im Umgang mit "pragmatischem Glauben" im Alltag, und es liest sich wie eine Einbeziehung "doktrinalen Glaubens" wenn er weiterschreibt: "Wenn man sich in Gedanken vorstellt, man solle worauf das Glück des ganzen Lebens verwetten, so schwindet unser triumphierendes Urteil gar sehr, wir werden überaus schüchtern und entdecken so allererst, daß unser Glaube so weit nicht zulange" (ebd.:46). Trotz der fraglos großen Wirkung Kants auf Teile soziologischer Theoriebildung sind doch seine Überlegungen zum pragmatischen Glauben und zur Wette kaum bekannt. Die interessante Aussage Geza von Molnärs, der über deutsche Literatur forscht, ist diese: Goethe wurde durch die Lektüre dieser Passagen bei Kant dazu angeregt, in seinem 'Faust' zwischen dem um Erkenntnis ringenden Helden und Mephisto nicht einen Pakt, sondern eine Wette abschließen zu lassen! (ebd.: 29). Der Faust-Stoff ist traditionsreich, er geht zurück bis auf das Faustbuch eines unbekannten Autors von 1587, in dem von dem Arzt, Astrologen und Schwarzkünstler gehandelt wird, der etwa von 1480 bis 1540 in Kreuznach, Heidelberg, Erfurt, Bamberg, Ingolstadt und Nürnberg tatsächlich gelebt hat und dessen plötzlicher Tod den Anlaß zu der Vermutung gab, der Teufel habe ihn geholt. Zu der sich immer weiterbildenden Sage gehörte die Vorstellung vom dem Pakt mit dem Teufel als Vertragsschluß,
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nach dem Mephisto dem Faust zu dessen Lebzeiten zu Diensten sein müsse, dafür dann aber bei Fausts Tode dessen Seele als Lohn erhalte. Bei Goethe sind, wie Geza von Molnär darlegt, die Voraussetzungen für den Abschluß eines Vertrags mit Leistung und Gegenleistung gar nicht gegeben. Die traditionellen FaustGestalten waren zwar von Gier auf die Beherrschung des Diesseits - auch mit teuflischen Mitteln - bestimmt, der Faust Goethes dagegen wurde gerade von einem Ungenügen an der empirischen Welt umgetrieben, das ihn zu einer Weltablehnung geneigt machte: Alles Erfahrbare war ihm oberflächlich und wertlos, und so konnte auch Mephisto ihm nichts bieten, das als attraktive Leistung in einen Pakt hätte Eingang finden können. Faust ist daher bei Goethe nicht ein Magier, der die Natur beherrschen will, sondern ein Erkenntnistheoretiker, der wissen will, "was die Welt im Innersten zusammenhält", und der auf seiner Suche nach dem Wesentlichen und Ewigen immer wieder an das stößt, was Georg Simmel so formuliert: "Die tiefe Unbefriedigung an der erfahrbaren Welt, an die wir dennoch gefesselt sind..." (Simmel, 1907: 135). So ist Mephisto für Faust bei Goethe nicht ein Vertragspartner, bei dem ein Ungläubiger Dienste der Weltbeherrschung einkauft, sondern ein Zeuge aus dem Jenseits, mit dem eine Wette abgeschlossen wird, und zwar eine Wette darüber, daß Faust sich mit der sinnlich faßbaren Empirie niemals und unter keinen Umständen zufrieden geben werde: Faust:
Werd' ich beruhigt je mich auf ein Faulbett legen, So sei es gleich um mich getan! Kannst Du mich schmeichelnd je belügen, Daß ich mir selbst gefallen mag, Kannst du mich mit Genuß betrügen, Das sei für mich der letzte Tag Die Wette biet' ich!
Mephistopheles: Topp! Faust:
Und Schlag auf Schlag! Werd' ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn!
Der Teufel, als einziger für den Dialog verfügbarer Vertreter der transempirischen Welt, wird zum Zeugen dafür, daß Faust die Wahrheit in der Ewigkeit sucht. Darum bietet Faust dem Mephisto seine Wette, die für Faust verloren sein soll in dem Moment, wenn er, der
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Sterbliche, in dem, was die Erfahrung der Sinne zu bieten vermag, sein Genügen findet. In eben jenem Augenblick, über den er zu seinen Lebzeiten nicht mehr hinausstrebt, will er nach der Wette der Verlierer sein. Und er ist sich seiner Sache so überaus sicher, daß er ganz im Sinne der Formulierung Kants getrost "das Glück des ganzen Lebens verwetten" (von Molnär, 1988: 46) kann, ohne befurchten zu müssen "daß es nämlich doch wohl möglich sei, er habe sich geirrt" (ebd.). Wir können die erkenntnistheoretische Dimension in Goethes Faust hier nicht weiter verfolgen. Dazu würde nämlich die Diskussion von Georg Simmeis kleiner Schrift über Kant und Goethe (Simmel, 1906a) notwendig und dann vor allem die Würdigung seines umfangreichen Goethe-Buches (Simmel, 1913). Aber die epistemologischen Sonderprobleme, die bei Kant in die Wette einmünden, beschäftigen Georg Simmel auch in seinen anderen Werken. Für Simmel ist nämlich "auch das abstrakteste Forschen, das überhaupt möglich ist," (Simmel, 1983: 319) auf ein praktisches Interesse zurückfuhrbar. Daher ist wie für Goethes Faust so auch für Simmel nicht die den Sinnen unmittelbar zugängliche objektive Wirklichkeit die Quelle der Wahrheit, und was mit den Ergebnissen der Forschung geschieht, ist ebenfalls von außerwissenschaftlichem Wollen bestimmt. "Welche Verwendung man dann mit dem so gewonnenen Wissen vornehmen will, ob man die Fortschritte der Psychologie zu pädagogischen, die der Physiologie zu medizinischen, die der Chemie zu Zwecken der Kochkunst ausnutzen will, das ist keine Angelegenheit der Wissenschaft mehr, der nur die Feststellung, aber nicht die Lenkung der Tatsachen obliegt. Darum ruhen alle sogenannten praktischen Wissenschaften als solche auf einer in ihnen selbst nicht begründeten Bedingung. Die Pädagogik sagt nicht: Erzieht eure Kinder zu so und so beschaffenen Menschen, sondern sie beantwortet die rein theoretische Frage: Wenn man Kinder zu solchen Menschen erziehen will, welche Kausalprozesse fuhren zu diesem Erfolg?" (ebd.). Wir wissen also zumeist schon vor der wissenschaftlichen Erforschung unserer Wirklichkeit, was angestrebt werden soll, oder genauer, wir wissen es unabhängig davon, müssen es unabhängig davon wissen, weil das, was wir innerhalb der "praktischen Wissenschaften" (s.o.) erfahren können, uns dazu nichts sagt. Max Weber, dessen Argumentation 1904 der hier nach Simmel skizzierten weitgehend parallel läuft, faßt das Problem in die bekannt gewordene Formulierung: "Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen - was er will" (Weber, 1951: 151). Simmel radikalisiert diese Position, und zwar durchaus im Sinne der Wette des Faust, wenn er ebenso wie der Empirie so auch der Logik die Möglichkeit bestreitet, Erkenntnisse über das Sollen zu liefern: Was man denken soll, ist auch nicht wissenschaftlich entscheidbar; es
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kommt vielmehr darauf an, was man denken will: ".. .und so ist es auch eine mangelhafte Einsicht, wenn man meint, die Logik enthielte die Normen, nach denen wir denken sollen; sie zeigt uns vielmehr nur, wie wir denken müssen, wenn unser Denken mit der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit der Dinge übereinstimmen will" (Simmel, 1983: 319). Dabei bleibt es in der Sicht Simmeis wohl ganz offen, ob man die Übereinstimmung seines Denkens mit "der sinnlich erfahrbaren Wirklichkeit der Dinge" (s.o.) in der Tat wollen sollte. Denn ein Blick auf die Arbeitsweise der Mathematik, die sich im Kreise der akademischen Disziplinen fraglos höchsten Ansehens erfreut, zeigt, wie weitgehend unabhängig die Gewinnung von Wahrheit von einer Bestätigung durch die empirische Wirklichkeit ist: "Jede Wissenschaft, deren Ziel die Erkenntnis von Gesetzen ist, spricht schließlich nur Beziehungen aus, deren Realisierung von dem realen Gegebensein der Prämissen abhängt. Ihre Wahrheit ist vollkommen gleichgültig dagegen, ob dies Gegebensein einmal oder tausendmal stattgefunden hat, ja die Mathematik zeigt uns Wahrheiten, für die es eine absolut exakte Darstellung in der Welt der Wirklichkeit nie gegeben hat" (ebd.: 320). Da also Ausgangspunkte wissenschaftlichen Bemühens Setzungen sind, die man so oder auch anders vornehmen könnte, wird die Erwartung, aus der Wissenschaft ewige Wahrheit gewinnen zu können, zur Illusion; denn aus Erfahrungen mit dem, was ist kann unter keinen Umständen geschlossen werden, was sein soll. Darum ist auch die unterscheidende Rede von "normativen und erklärenden Wissenschaften" (ebd.: 321) sinnlos, da weder die eine noch die andere zu Normen - im Sinne von Wahrheitsansprüchen - fuhren kann, die nicht zuvor schon in sie hineingegeben wurden: Simmel operiert nicht mit den Stufen des Fürwahrhaltens, die Kant eingeführt hat (Meinen, Glauben, Wissen), sondern er konfrontiert Wollen mit Wissen. Im Sinne der Wette des Faust ist Simmeis Position konsequent, weil er klarmacht, daß das Wollen durch kein Wissen ersetzt werden kann. Dabei vertritt Simmel ein Wissenschaftsverständnis, daß "stets nur kausal"(ebd.) fragt, und in dessen Bereich der durch eine Wette abgestützte Glaube nicht hineingehört. Zur Wissenschaft zählt eben nur, was in der Terminologie Kants auf Wissen beruht, und wer wie Faust und Simmel nach Wahrheit sucht, der tritt den schaften mit notwendig bescheidenen
Erfahrungswissen-
Erwartungen gegenüber. Dabei liest sich Simmeis
Text wie ein ahnungsvoll antizipierender Kommentar zu unserem modernen Ethik-Boom, der den Menschen am Ende des zweiten Jahrtausends veranlaßt, in seiner Ratlosigkeit von der Umweltverschmutzung bis zur Gen-Manipulation alles dem ob solcher Aufmerksamkeit beglückten Ethiker vertrauensvoll in den Schoß zu legen. Das geschieht, weil es an Wollen fehlt, und daher in der Verblendung, die Simmel kritisiert, die Argumentation etwa lautet: Hätten wir das richtige Wissen, dann könnten wir auch das Richtige Wollen.
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"Was man normative Wissenschaft nennt, ist tatsächlich nur Wissenschaft vom Normativen. Sie selbst normiert nichts, sondern sie erklärt nur Normen und ihre Zusammenhänge, denn Wissenschaft fragt stets nur kausal, nicht teleologisch, und Normen und Zwecke können wohl so gut wie alles andere den Gegenstand ihrer Untersuchung, aber nicht ihr eigenes Wesen bilden. Es ist demnach ein vollkommenes Mißverständnis, wenn man aus der Ethik als Wissenschaft ein neues Sollen meint gewinnen zu können. Sie kann wohl ein gegebenes Sollen mit anderen gleichfalls empfundenen Antrieben zusammenhalten und uns nachweisen, daß wir logischer Weise nur dem einen oder dem anderen nachleben können, aber die Wahl zwischen beiden, die Bestimmung des Wertes, den das eine und das andere für uns hat, kann sie nicht treffen; sie kann so wenig wie die Pädagogik Zwecke setzen, was immer Sache des Willens ist, sondern nur die Mittel zum Erreichen gesetzter Zwecke, oder, von ihrem Standpunkt aus richtiger, die Ursachen, deren Wirkungen die gewünschten Zustände sind, erforschen, was eben Sache der Theorie ist. Deshalb kann auch alle Prüfung ethischer Normen nur entweder eine immanente sein, die ihre Bestandteile auf ihr logisches Verhältnis untersucht, oder sie muß irgend ein sonstiges Prinzip a priori als wertvoll, als Endzweck setzten und nun bloß feststellen, inwiefern jede Norm ein zureichendes Mittel der Realisierung dieses ist" (ebd.). Wenn die Wissenschaft in aller Nüchternheit und Bescheidenheit so gesehen wird, daß sie als Quelle einer über das Anschauen der Oberfläche hinausgehenden Wahrheit ausscheidet, was aber bleibt dann, um dem Skeptizismus zu entgehen? Die empirischen Wissenschaften sind für Simmel wie für Max Weber unzuständig, wenn es darum geht, Werte mit dem Anspruch letzter Geltung zu verkünden: Georg Simmel:
Max Weber:
"Nur der moralische Gesetzgeber, der praktische Revolutionär in sittlichen Dingen kann, letzte Ziele dogmatisch aufstellend, schlechthin sagen: Dies soll so sein! - indem er auf Beweise verzichtet, und weil die schließliche Wertsetzung eine Tatsache ist, die jede Kritik abschneidet." (Simmel, 1983: 322)
"Nur positive Religionen - präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten - vermögen dem Inhalt von Kulturwerten die Dignität unbedingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen." (Weber, 1951: 154)
Wie konnte angesichts dieser übereinstimmenden Ausgangsposition zweier ihrer bedeutenden Gründer die Soziologie in den späten sechziger und siebziger Jahren für manche zu einer Heilslehre werden? Nicht aufgrund einer Wette mit Mephisto des Inhalts, daß aus noch so intensivem Studium der erfahrbaren Wirklichkeit des Diesseits keine ewige Wahrheit gewonnen werden könne, sondern vielleicht aufgrund eines Pakts mit dem Teufel, daß Sozio-
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logie zur lückenlosen Beherrschung der Welt eingesetzt werden solle. Die Werte, an denen der Mensch sein Leben orientiert, stammen aus dem Wollen.
2. Blumenbach: Naturwissenschaftliche Spekulationen Johann Friedrich Blumenbach (1752-1840) lehrte an der Universität Göttingen als Professor für Naturwissenschaft und Medizin. Er wurde zwei Jahre nach dem Tod von Johann Sebastian Bach geboren und war etwa ein Zeitgenosse Mozarts (1756-1791), den er freilich um fast fünf Jahrzehnte überlebte. Von Blumenbach erschien 1780 im Göttingischen Magazin der Wissenschaften die erste Fassung eines Beitrags, der im Jahre darauf unter dem Titel Über den Bildungstrieb
und das Zeugungsgeschäfte
als selbständige Schrift im Verlagsdruck
veröffentlicht wurde (Blumenbach, 1781). Diese Schrift ist mehrfach wieder aufgelegt worden, sie erschien 1803 in 7. Auflage. Im Jahre 1790 wurde eine Übersetzung in niederländischer Sprache gedruckt und 1793 eine englische Übersetzung unter dem Titel An Essay On Generation.
Vorher hatte Blumenbach 1787 seine wichtigsten Einsichten in lateinischer
Sprache seinen Fachkollegen in aller Welt zugänglich gemacht. Der Titel Über den Bildungstrieb
und das Zeugungsgeschäfte
zeigt, welchem Wandel Be-
griffe unterliegen. Blumenbach stellt sich unter Bildungstrieb
ein biologisches Phänomen
vor, aufgrund dessen die lebendige Substanz, die den Menschen, ein Tier, oder eine Pflanze darstellen, eine bestimmte Gestalt annimmt und diese gegen allerlei Widerstände und Störungen immer wieder durchzusetzen bestrebt ist. Das Wort wird also in dem ursprünglich anschaulichen Sinne verwendet: es wird etwas zu einem Bild gestaltet, und Bildung ist der Prozeß, in dem etwas prinzipiell ungeformtes eine anschauliche und daher bildhaft wiedergebbare Gestalt annimmt Das mit dem Wort Bildungstrieb
Gemeinte könnte also auch mit
dem prozessualen Äquivalent des Begriffs der Form bezeichnet werden, eben als der Impuls zur Formung. Blumenbach beobachtet an Pflanzen und primitiven Tieren die Fähigkeit, verlorengegangene Teile nachwachsen zu lassen und glaubt auch bei menschlichen Verletzungen den Prozeß der Heilung mit seiner Theorie in Verbindung bringen zu können. Er faßt seine empirischen Beobachtungen zu einigen Resultaten zusammen, "die sich doch am Ende alle dahin vereinen: (Originalorthographie) Daß in allen belebten Geschöpfen vom Menschen bis zur Made und von der Ceder zum Schimmel herab, ein besondrer, eingebohrener, Lebenslang thätiger würksamer Trieb liegt, ihre bestimmte Gestalt anfangs anzunehmen, dann zu erhalten, und wenn sie ja zerstört worden, wo möglich wieder herzustellen" (Blumenbach, 1781: 12).
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Diese Idee des Bildungstriebs konfrontiert Blumenbach mit den aus dem Mittelalter überkommenen Vorstellungen von der Entstehung des Individuums, insbesondere des erst zu gebärenden Menschen. Er zitiert dazu den Aristoteliker Franz Bonamico: '"Der Geist, der in der luftigen Substanz des Saamens begriffen, von himmlischer Wärme aber beduftet (oder besprengt) ist, und durch die Kraft, die er vom Vater empfängt, sowie auch durch die, so ihm vom Himmel mitgetheilet ist, in die weibliche Gebärmutter gebracht wird, kocht die Materien, die von der Mutter dahin gegossen worden, und indem er sie nach ihrer Art verschiedentlich behandelt, macht er Werkzeuge. So lange er diese verfertigt, heißt er die ausbildende oder auswürkende Kraft. Aber wenn nun die Werkzeuge fertig sind, daß er sich ihrer bedienen kann, so artet das, was vorher bildende Kraft war, indem es sich ihrer bedient, in die Seele aus'" (ebd.: 15f.). Mit diesen christlichen Vorstellungen des Franz Bonamico vom Zeugungsakt und den Vorgängen im Umkreis der Empfängnis ist Blumenbach unzufrieden. Aber auch weniger aristotelisch und eher naturwissenschaftlich orientierte Theorien von der Entstehung des Lebens, wie die These der präformierten Keime, weist Blumenbach zurück. Nach dieser These ist alle lebendige Gestalt von der Schöpfung her vorgeformt und liegt in winzig kleiner Variante als Keim schon vor. Es bedarf nur noch eines Anstoßes, um den Keim dazu zu veranlassen, daß er sich schrittweise in die für das Leben erforderliche Größe hinein auswächst. Diese These findet Blumenbach in der ihm gegen Ende des 18. Jahrhunderts vorliegenden naturwissenschaftlichen Literatur in der Weise ausformuliert, daß entweder beim weiblichen Ei oder beim männlichen Samen der Ort gesehen wird, an dem die präformierten Keime von der Schöpfungsordnung vorrätig gehalten werden. Bemerkenswert ist bei alledem, daß diese Spekulationen als "Evolutionstheorien" bezeichnet werden. "Die zweite Evolutionstheorie, da man nämlich die Keime der organisierten Körper nicht in die mütterlichen Eier sondern in die männlichen Samen setzt, ist nicht nur so sehr weit von allem nur leidlichen Schein der Wahrscheinlichkeit entfernt, sondern auch mit so gar wenigen Scharfsinn ausgedacht, daß es sich kaum der Mühe verlohnt, sich bei ihr zu verweilen" (ebd.: 31f). Blumenbach erwähnt jene Naturforscher, die in der Eizelle oder im Samen schon ein winziges Menschlein in hockender Stellung erkennen zu können glauben. Dies weist er als abwegig zurück. Er beobachtet dagegen, daß nach der Befruchtung des Eis eine Zeitlang die Gestalt des späteren Lebewesens überhaupt noch nicht präsent ist, und daß erst mit einer gewissen Verzögerung der Bildungstrieb, wie er es nennt, seine Wirkung sichtbar einsetzen läßt. Kant kommentiert den naturwissenschaftlichen Diskussionsstand seiner Zeit so: "Die Verfechter der Evolutionstheorie,
welche jedes Individuum von der bildenden Kraft der Natur
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ausnehmen, um es unmittelbar aus der Hand des Schöpfers kommen zu lassen, wollen es also doch nicht wagen, dieses nach der Hypothese des Occasionalismus geschehen zu lassen, so daß die Begattung eine bloße Formalität wäre, unter der eine oberste verständige Weltursache beschlossen hätte, jedesmal eine Frucht mit unmittelbarer Hand zu bilden und der Mutter nur die Auswickelung und Ernährung derselben zu überlassen. Sie erklären sich für die Präformation; gleich, als wenn es nicht einerlei wäre, übernatürlicherweise, im Anfange oder im Fortlaufe der Welt, dergleichen Formen entstehen zu lassen, und nicht vielmehr eine große Menge übernatürlicher Anstalten durch gelegentliche Schöpfung erspart wurde, welche erforderlich sein würden, damit der im Anfange der Welt gebildete Embryo die lange Zeit hindurch, bis zu seiner Entwickelung, nicht von den zerstörenden Kräften der Natur litte und sich unverletzt erhielte, imgleichen eine unermeßlich größere Zahl solcher vorgebildeten Wesen, als jemals entwickelt werden sollten, und mit ihnen ebensoviele Schöpfungen dadurch unnötig und zwecklos gemacht wurden. Allein sie wollten doch wenigstens etwas hierin der Natur überlassen, um nicht gar in völlige Hyperphysik zu geraten, die aller Naturerklärung entbehren kann." (Kant II, 235f.) Kant läßt sich auf die Debatte ein, die damals unter den Naturforschern stattfand. Wie Blumenbach lehnt auch er den Gedanken ab, jedes individuelle Lebewesen sei von der Schöpfung an schon präformiert, und brauche nur noch zur vollen Größe heranzuwachsen. Eine weitere Argumentation, die ebenfalls den Gedanken der fertig vorgestalteten Form zu Fall bringen soll, schließt Kant daran an: "Aber die Erzeugung der Bastarde konnten sie schlechterdings nicht in das System der Präformation hineinpassen, sondern mußten dem Samen der männlichen Geschöpfe, dem sie übrigens nichts als die mechanische Eigenschaft, zum ersten Nahrungsmittel des Embryo zu dienen, zugestanden hatten, doch noch obenein eine zweckmäßig bildende Kraft zugestehen, welche sie doch in Ansehung des ganzen Produkts einer Erzeugung von zwei Geschöpfen der selben Gattung keinem von beiden einräumen wollten" (ebd.: 236). Auch diese Argumentation mit Hilfe der Beobachtung an Bastarden, also an Kreuzungen zwischen Tieren verschiedener Gattungen, findet sich bei Blumenbach. Kant lobt die Leistung Blumenbachs als beachtenswert und vorbildlich: "Denn, daß rohe Materie sich nach mechanischen Gesetzen ursprünglich selbst gebildet habe, daß aus der Natur des Leblosen Leben habe entspringen und Materie in die Form einer sich selbst erhaltenden Zweckmäßigkeit sich von selbst habe fugen können, erklärt er [Blumenbach] mit Recht für vernunftwidrig; läßt aber zugleich dem Naturmechanismus unter diesem uns unerforschlichen Prinzip einer ursprünglichen Organisation einen unbestimmbaren, zugleich doch auch unverkennbaren Anteil, wozu das Vermögen der Materie (zum Unterschiede von der, ihr allgemein bei-
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wohnenden, bloß mechanischen Bildungskraft), von ihm in einem organisierten Körper ein (gleichsam unter der höheren Leitung und Anweisung der ersteren stehender)
Bildungstrieb
genannt wird" (ebd.: 237). So findet der Blumenbachsche Begriff des Bildungstriebs Eingang in die Kantische Philosophie.
3. Evolution und Konstruktion Die naturwissenschaftlichen Debatten, die in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhundert hin und her wogten und die wir hier in Anschluß an Johann Friedrich Blumenbach angedeutet haben, vermittelten Kant den Eindruck, daß naturwissenschaftliche
Erkenntnis das Ergebnis
ge-
danklicher Konstruktion war. Die heftigen Meinungsverschiedenheiten, die um das Problem der Zeugung ausgetragen wurden, ließen sich damals durch ein Studium der erfahrbaren Wirklichkeit nicht entscheiden. Die erkenntnistheoretische Position Kants ist daher geprägt von der Einsicht, daß die Empirie allein nicht zureicht, um gesicherte Erkenntnisse zu erarbeiten. Damit taucht die Frage in voller Schärfe auf, welche Kriterien dafür herangezogen werden sollen, die Verläßlichkeit wissenschaftlicher Erkenntnis zu gewährleisten. Die Auseinandersetzung Kants mit den naturwissenschaftlichen Debatten seiner Zeit fuhrt nicht nur in den Konstruktivismus hinein, indem sie deutlich macht, wie sehr naturwissenschaftliche Erkenntnis von spekulativen Deutungen abhängig war, sondern sie geht einher mit einer weltanschaulichen Überzeugung, die schon damals, lange vor Darwin, mit dem Begriff Evolutionismus bezeichnet wurde. Evolutionismus heißt also nicht nur das, was wir in der neueren Diskussion mit der Entstehung der Arten nach Darwin verbinden. Wie die Schrift Über den Bildungstrieb Zeugungsgeschäfte
und das
von Blumenbach zeigt, wurden im 18. Jahrhundert verschiedene Theori-
en über die Entstehung des Lebens im Anschluß an die Zeugung als Evolutionstheorien bezeichnet. Das Stichwort Evolution bezieht sich also nicht nur auf die Entwicklung der verschiedenen Formen des Lebens, sondern auch auf die Entstehung des Individuums im Anschluß an die Zeugung. Dabei geht es im Grundsatz um folgende weltanschauliche Auseinandersetzung Die objektivistische Sichtweise der mittelalterlichen Philosophie war davon ausgegangen, daß Wahrheit nur etwas Ewiges sein könne und das Ewigsein mit Unveränderlichsein
identisch sein
müsse. Dahinter stehen vor allem theologische Vorstellungen, nach denen der monotheistische Gott der Juden, der Christen und des Islam nicht nur als allwissend, allmächtig und ewig, sondern in seiner Qualität auch als unveränderlich
gedacht werden muß. Diese Quali-
tät, die Ewigkeit und Unveränderlichkeit in eins setzt, wurde von den Vorstellungen über die
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Gottheit auf die Schöpfung übertragen. Das Ergebnis ist ein theoretisches Konzept, in dem in der Philosophie statische Begriffe vorausgesetzt werden und in dem unterstellt wird, daß alles Wandelbare nur eine unvollkommene Annäherung an die ewige Form und eben deshalb vergänglich sei. Mit dieser Überzeugung stimmten naturwissenschaftliche Theorien überein, wie die der Präformation, nach der jedes Lebewesen vom göttlichen Akt der Zeugung seine ewige Form erhalten hat und nur auf den auslösenden Funken wartet, der ihm erlaubt, aus seiner Winzigkeit in die volle Lebensgröße hineinzuwachsen, ohne dabei freilich die Form zu ändern. Dem stand gegenüber die Vorstellung, der auch Georg Simmel zuneigt, daß das Göttliche als die Realität höchsten Ranges sich gerade in der Bewegung zeigt, und daß es sich daher auch in der Entwicklung und in dem, was Blumenbach den "Bildungstrieb" genannt hatte, manifestiert. Dieser Konfrontation entsprach der Konflikt zwischen statischer und evolutionistischer Erkenntnistheorie. Gesucht wird im Kontext der statischen Erkenntnistheorie des Szientismus denn auch nicht nach kreativen Einflüssen von Subjekten, sondern - wie noch bei Dürkheim - nach Gesetzen, die in der objektiven Wirklichkeit verborgen angelegt sind, ebenso allmächtig wie ehemals der Wille Gottes, und die wie dieser nur aufgefunden, nachgewiesen und experimentell als absolut zuverlässig und ewig wirksam dargestellt werden sollen. Doch damit werden Blumenbach und Kant ignoriert Die Dogmatisierung der szientistischen Erkenntnistheorie durch August Comte, John Stuart Mill und Thomas Buckle provoziert Wilhelm Dilthey zu seiner Kritik der Einheitswissenschaft.
III. Wilhelm Dilthey (1833-1911) 1. Emanzipation der Einzelwissenschaften Ehe Erkenntnistheorie überhaupt Thema wissenschaftlichen Fragens werden konnte, mußte sich das vollziehen, was Wilhelm Dilthey die Emanzipation der Einzelwissenschaften von der Theologie nennt. Vor dieser Herauslösung des wissenschaftlichen Denkens aus dem religiös orientierten Gesamtbewußtsein erfolgte die Konstruktion eines Bildes der Wirklichkeit nach dem Glauben, daß eine allmächtige und gütige Gottheit die Welt unter Einschluß des Lebens der Einzelnen in ihren Händen halte. Jedoch "indem die Wissenschaft die Unterordnung unter das mittelalterliche Schema des religiösen Vorstellens aufgibt, zerreißt das Band zwischen den religiösen Ideen als Mittel der Konstruktion und der Wirklichkeit; man wird in unbefangener Auffassung dieser gewahr, und so entsteht objektive Betrachtung und positive Wissenschaft, wo ehedem metaphysische Ableitung das Phänomen mit dem Tiefsten des geistigen Gesamtlebens verbunden gehalten hatte" (Dilthey, 1883: 451). Den Übergang vom gläubigen oder metaphysischen zum szientistischen (oder positivistischen) Denken markiert die Epoche der Italienischen Renaissance (ebd.). Sie bewirkt jene geistige Revolution, in deren Verlauf das Band zwischen Religion und Erfahrungswirklichkeit - zwar nicht notwendig für den Lebensalltag des Wissenschaftlers, wohl aber für die Methoden, mit denen er seine Forschungen betreibt - zerreißt. In dem Bilde des Zerreißens wird der Umschwung von der mittelalterlichen zur neuzeitlichen Wissenschaft festgehalten, wird der Übergang von einer ersten zu einer zweiten Phase methodischen Denkens verdeutlicht. An die Stelle einer durch kollektiven Konsens getragenen Metaphysik tritt eine "freie Mannigfaltigkeit von metaphysischen Systemen" (ebd.: 455) als des jeweiligen Einzelnen eigenes "Privatsystem" des Wissens. Die erste - mittelalterliche - Phase lebt von dem religiösen Denken des Wissenschaftlers, der die kreative Leistung, die zur Konstruktion eines Bildes der Wirklichkeit führt, Gott zuschreibt. Der Gelehrte ist in fragloser Zustimmung zu seiner Religion überzeugt davon, daß er selbst in seinem Auffassen nur nachvollzieht, was Gottes Wille ist, und daß daher die Konstruktion der Wirklichkeit nicht seine, sondern Gottes Angelegenheit sei. Mit dem Zerreißen des Bandes ändert sich insofern etwas Fundamentales, als Gott - mindestens im Kontext der Wissenschaft - die Bedeutung eines kreativen Subjekts aberkannt wird; und dennoch bleibt in der Denkweise der nun einsetzenden zweiten - szientistischen - Phase die Überzeugung des Wissenschaftlers erhalten, selbst keinen subjektiven Konstruktionsbeitrag zu leisten - oder leisten zu dürfen. So entsteht ein Generalanspruch naturwissenschaftlichen Denkens
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Wilhelm Dilthey
für alle Wissenschaften, den Wilhelm Dilthey als Philosoph zurückweist. Damit leitet er die dritte Phase methodischen Denkens ein: den verstehend-konstruktivistischen Ansatz. Dilthey lebte von 1833 bis 1911 und war ab 1882 Ordinarius der Philosophie an der Universität Berlin, nachdem er vorher an anderen Universitäten ebenfalls als ordentlicher Professor gelehrt hatte. In seinem Buch "Einleitung in die Geisteswissenschaften" von 1883 nimmt er sich vor, eine gesicherte methodische Grundlage für die Universitätsfächer zu schaffen, die nicht Naturwissenschaften sind. Dilthey ist der Meinung, daß dieses erkenntnistheoretische Projekt dadurch vorbereitet werden muß, daß er die Geschichte der Philosophie unter einem bestimmten Gesichtspunkt betrachtet und durchdenkt: "Am Ausgang des Mittelalters begann die Emanzipation der Einzelwissenschaften. Doch blieben unter ihnen die der Gesellschaft und Geschichte noch lange, bis tief in das vorige Jahrhundert hinein, in der alten Dienstbarkeit der Metaphysik" (Dilthey, 1883: XIII). Es war das Verdienst erst der historischen Schule, einen empirischen Zugang zum Studium der Geschichte und der Gesellschaft zu begründen (ebd.: XIV). Aber leider erwies sich die historische Schule als philosophisch schwach und waren ihre methodologischen Grundlagen nach Diltheys Überzeugung nicht gründlich genug durchdacht. So fehlte der historischen Schule, wie Dilthey sagt, eine gesunde Beziehung zur Epistemologie und zur Psychologie (ebd.: XV). Als daher Männer wie Auguste Comte (1789-1857), John Stuart Mill (18061873) und Henry Thomas Buckle (1821-1862) damit begannen, die epistemologischen Probleme der Geschichte mit den Methoden der Naturwissenschaften zu lösen, setzte ein viel zu schwacher und wirkungsloser Protest aus dem geisteswissenschaftlichen
Lager ein, der die
Meister naturwissenschaftlicher Analyse kaum zu beeindrucken vermochte. Als Folge davon ist die Forschung im Bereich der Geschichte und Gesellschaft bald mit der Alternative konfrontiert, entweder naturwissenschaftlich positivistisch zu werden oder sich auf die Aufgaben schlichter Beschreibung zu beschränken. Diejenigen, die diese Alternative mit Abscheu betrachteten und keine der beiden darin enthaltenen Lösungen akzeptieren wollten, ergaben sich häufig der Versuchung, zu viel auf ihre subjektive Intuition zu vertrauen und so allmählich unbemerkt zurückzusinken in die sanfte Umarmung der Metaphysik (ebd.: XV). Diese Beschreibung der methodischen Verfassung der Geisteswissenschaften gibt Dilthey 1883, und sie ist aktuell geblieben. Man kann sich heute noch mit Gewinn dem Text von Wilhelm Dilthey wieder zuwenden, der Anregung gewesen ist für Männer wie Georg Simmel, George Herbert Mead, Max Weber und andere, die die frühe Soziologie geprägt haben. Trotz ihrer Mängel war die historische Schule für Dilthey notwendig. In ihrer grundsätzlichen Intention war sie richtig, sie war eben nur, wie schon gesagt, methodisch unzureichend
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fundiert. Dilthey unternimmt es deshalb, der historischen Schule eine gesunde philosophische Grundlage zu geben, ein methodisches Fundament, das nicht so leicht ins Wanken kommen kann. Gleichzeitig möchte er sich zum Vermittler machen zwischen dem historischdeskriptiven Bereich geisteswissenschaftlicher Forschung einerseits und dem abstrakttheoretischen Bereich andererseits. Dilthey legt also von vornherein größten Wert auf die Bedingungen, unter denen Bewußtseinsinhalte zustande kommen. Er widmet sich und verpflichtet uns als seine späten Leser dem Studium der Bedingungen, unter denen menschliche Einsichten Gestalt gewinnen. Dilthey spricht von unserer "inneren Erfahrung" (ebd.: XVII). In den Geisteswissenschaften ist "unser Bild der ganzen Natur als bloßer Schatten" (ebd.: XVII) gegeben, den wir nicht entschleiern können, weil er uns als Realität nicht unmittelbar zugänglich ist. So bleibt die innere Erfahrung der einzige Realitätstyp, an den wir uns halten können, und die Fakten, die uns als Daten gegeben sind, haben keinen Zusammenhang, der sich in der analytischen Betrachtung der Einzelheiten erschließen würde. Daher ist der Schritt vom einzelnen Datum zum integrierten Ganzen das eigentliche und ernsteste methodische Problem. Bevor wir die Lösungsvorschläge Diltheys zur Kenntnis nehmen, sind wir mit der Alternative konfrontiert: Entweder machen wir uns eine Vorstellung von einer Totalität der Geschichte und der Gesellschaft als Ganzem, die notwendig schattenhaft und unklar sein muß, oder wir unternehmen eine Analyse der Fakten, die uns in der Erfahrung gegeben sind, und gelangen dann zu zusammenhanglosen Einzeldaten.
2. Unterscheidung zwischen Geistes- und Naturwissenschaften Dilthey richtet seine Arbeit an alle jene, die befaßt sind mit den "Wissenschaften, welche die geschichtlich-gesellschaftliche Wirklichkeit zum Gegenstand haben," (ebd.: 4) also mit den Disziplinen, deren Objekt die Wirklichkeit von Geschichte und Gesellschaft ist. Er schreibt, daß diese Fächer zu der Zeit, als er sein Buch zu Papier bringt, in ein entscheidendes Entwicklungsstadium eingetreten sind. Sie sind - so meinte Dilthey damals - damit befaßt, sich aufeinander zuzubewegen und einander dabei behilflich zu sein, den Zusammenhang zu erkennen, der zwischen ihnen besteht, und auch einen gemeinsamen Standpunkt für eine einheitliche Methodologie der Geisteswissenschaften zu erarbeiten (ebd.: 4). Die Erschütterungen der französischen Revolution haben dazu den Anstoß gegeben; denn die Menschen machen sich nun Gedanken darüber, was die Gesellschaft erhält oder verändert: "Daher wächst die Bedeutung der Wissenschaften der Gesellschaft gegenüber jenen der Natur;..." (ebd.: 4). Folglich wächst auch die Bedeutung, die den Sozialwissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften zugestanden werden muß. Dilthey hat sogar die Vorstellung von einer
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paradigmatischen Revolution, die sich zu seiner Zeit in ähnlicher Weise vollzieht wie im antiken Griechenland während des 5. und 4. vorchristlichen Jahrhunderts (ebd.: 4). Die Aufgabe der Geisteswissenschaften sieht er zunächst darin, sich mit der Realität der Geschichte und der Gesellschaft auseinanderzusetzen, um zu erkennen, was in diesem Wirklichkeitsbereich geschieht; es ist nicht, oder zumindest zunächst noch nicht, die Aufgabe der Geisteswissenschaften, die Realität auch zu verändern (ebd.: 5). Es geht dabei um das Studium der "Wirklichkeit, welche wir nicht meistern, sondern zunächst begreifen wollen" (ebd.: 5). Dieser Typus von Realität stellt die eine Hälfte des globus intellectualis dar, und Dilthey nennt sie Geisteswissenschaften,
weil dieser Begriff seiner Ansicht nach schon weit-
hin akzeptiert worden ist, seit er von John Stuart Mill in dessen Logik Verwendung gefunden hat (ebd.: 6). Aus unserer heutigen Sicht als Diltheys Leser, die mehr als ein Jahrhundert später leben, war es jedoch nicht Mill, sondern Dilthey, der im Bereich des deutschen Sprachgebietes den Ausdruck Geisteswissenschaften
eingeführt hat, und zwar gerade durch seine Diskussion
über die methodischen Besonderheiten dieser Wissenschaften im Vergleich zu den Naturwissenschaften. Es ist die Freiheit, die den Menschen von dem Rest der Natur trennt, und so konstituiert sich aus der Sicht Diltheys auch die Trennung in zwei separate Halbkugeln des globus intellectualis. Diejenige Hälfte, welche die Geisteswissenschaften untersuchen sollen, ist das Reich der Freiheit, innerhalb dessen der Mensch erkennt, was "nur vor seinem eigenen Bewußtsein als Realität existiert" (ebd.: 7). Damit hat Dilthey einen für die Geisteswissenschaften typischen Wirklichkeitsbegriff geprägt. Dilthey bezieht sich auf Spinoza, der wie er vom Menschen sagt: "Und da für ihn nur das besteht, was Tatsache seines Bewußtseins ist, so liegt in dieser selbständig in ihm wirkenden geistigen Welt jeder Wert, jeder Zweck des Lebens, in der Herstellung geistiger Tatbestände jedes Ziel seiner Handlungen" (ebd.. 7). Der Prozeß, in dem sich der den Geisteswissenschaften vorbehaltene Typ der Wirklichkeit konstituiert, ist identisch mit dem Prozeß, in dem sich menschliches Bewußtsein herstellt. Während die Naturwissenschaftler eine Realität studieren, die von dem Menschen unabhängig ist, die eine objektive Existenz haben kann, unabhängig davon, ob jemand von ihr weiß und davon, ob jemand sich über sie Gedanken macht oder nicht, trifft dies gerade ftir die Geisteswissenschaften nicht zu. Der Geisteswissenschaftler erforscht jene Realität, die der Mensch gedanklich und - wie Spinoza gezeigt hat - emotional geschaffen hat, und die eben dadurch nur insoweit wirklich ist, als sie Inhalt menschlichen Bewußtseins ist. Dennoch hat freilich das, was der Mensch als Objektivation des Geistes sozio-kulturell schafft, das Potential, sich zu verselbständigen, sich auf die Hinterbeine zu setzen und gegen
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seinen Schöpfer zu erheben, wie das in der Entfremdungsdiskussion des Marxismus so anschaulich dargestellt wird. Mit diesem Aspekt der sich verselbständigenden und entfremdenden kulturellen Realität beschäftigt Dilthey sich zunächst jedoch nicht. Ihm ist aber bewußt, daß das Potential einer unabhängigen geistigen Welt bedacht werden muß, daß der Mensch es als das Zentrum allen Wertes und allen Zweckes im Leben erfahrt, und es ist nach Dilthey stets das Ziel menschlichen Handelns, daran teilzuhaben, daß solche geistigen Tatsachen, wie die Geisteswissenschaften sie studieren, zustande kommen, indem sie geschaffen werden (ebd.: 7). Dilthey schreibt von dem freien Menschen: "So sondert er von dem Reich der Natur ein Reich der Geschichte, in welchem, mitten in dem Zusammenhang einer objektiven Notwendigkeit, welcher Natur ist, Freiheit an unzähligen Punkten dieses Ganzen aufblitzt,..." (ebd.: 7). Dem Reich der Natur wird das Reich der Geschichte abgetrotzt, welches von objektiver Notwendigkeit umgeben ist, in dem aber immer wieder die Blitze unzähliger Punkte der Freiheit aufleuchten. Und dieses Reich der Freiheit ist es, welches in die Zuständigkeit der Geisteswissenschaften gehört, im Gegensatz zu den mechanischen Prozessen und Abläufen, die die Naturwissenschaften studieren auf der Suche nach Gesetzen, vor deren Hintergrund Freiheiten als Unregelmäßigkeiten und Abweichungen erscheinen. Charakteristisch ist für den "mechanischen Ablauf der Naturveränderungen," daß er "im Ansatz alles, was in ihm erfolgt, schon enthält"...(ebd.: 7). So konfrontiert Dilthey das Studium der Schöpfungen menschlichen Geistes mit den leeren und unfruchtbaren Wiederholungen von
Naturprozes-
sen im menschlichen Bewußtsein (ebd.: 8) Das positivistische Ideal des historischen Fortschritts als berechenbarer Prozeß denunziert er; denn seine Methode fuhrt nicht ". . .über die leere und öde Wiederholung von Naturlauf im Bewußtsein hinaus, in deren Vorstellung als einem Ideal geschichtlichen Fortschritts die Götzenanbeter der intellektuellen Entwicklung schwelgen" (ebd.: 8). Angesichts der großen Erfolge der Naturwissenschaften im 19. Jahrhundert war es keine unwichtige Aufgabe, das Selbstbewußtsein der Geisteswissenschaftler zu stärken. Aber all dies reichte Dilthey noch nicht aus, um die Verschiedenheiten zwischen Geisteswissenschaften und Naturwissenschaften darzulegen. Wir brauchen nicht nur verschiedene Methoden, um die Realitäten der beiden Wirklichkeitstypen zu studieren, sondern außerdem sind die Prinzipien, aufgrund derer die isolierten Einzelfakten Zusammenhänge bilden können, in den beiden Bereichen grundsätzlich verschiedener
Qualität. Einzeltatsachen der Geisteswissen-
schaften können als zu einem Sinnzusammenhang
vereint gedacht werden, naturwissen-
schaftliche Fakten dagegen stehen in der Beziehung von Ursache und Wirkung
zueinander.
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Darum können und dürfen die geistigen Tatsachen nicht unter ein System natürlicher oder materieller Realitäten subsumiert werden, weil die Beziehungen zwischen den Tatsachen der geistigen Welt nichts gemein haben mit der Monotonie des Naturprozesses. "Erst wenn die Beziehungen zwischen den Tatsachen der geistigen Welt sich als in der Art unvergleichbar mit den Gleichförmigkeiten des Naturlaufs zeigen, daß eine Unterordnung der geistigen Tatsachen unter die, welche die mechanische Naturerkenntnis festgestellt hat, ausgeschlossen wird: dann erst sind nicht immanente Schranken des erfahrenden Erkennens aufgezeigt, sondern Grenzen, an denen Naturerkenntnis endigt und eine selbständige, aus ihrem eigenen Mittelpunkte sich gestaltende Geisteswissenschaft beginnt" (ebd.: 14).
3. Von der Verstehbarkeit der Gesellschaft In einer Fußnote konfrontiert Dilthey die szientistisch orientierte positivistische Soziologie von Comte und Spencer mit dem Konzept der Gesellschaftswissenschaft bei den deutschen Staatsrechtslehrern (ebd.: 44f ). Er weist auf die hohe Komplexität der Gesellschaft hin, sieht aber die Chance, Einsichten zu gewinnen durch das Nachschaffen der Wirklichkeit in unserem Inneren. Dieses methodische Konzept steht freilich zu dem der Naturwissenschaften im krassen Gegensatz, da die Natur, wie Dilthey schreibt, stumm bleibt und uns fremd ist (ebd.: 45f). Jedoch: "Die Gesellschaft ist unsere Welt. Das Spiel der Wechselwirkungen in ihr erleben wir mit..." (ebd.: 46). Werte sind notwendig, um mit ihnen unser Bild der Gesellschaft kritisch reflektieren zu können: "Das Bild ihres Zustandes sind wir genötigt in immer regsamen Werturteilen zu meistern, mit nie ruhendem Antrieb des Willens wenigstens in der Vorstellung umzugestalten" (ebd.: 46). Der Einzelne ist selbst Bestandteil der Gesellschaft, darum findet er Zugang zu ihrer Innenseite. Das Individuum kann daher verstehen: "Ich verstehe das Leben der Gesellschaft. Das Individuum ist einerseits ein Element in den Wechselwirkungen der Gesellschaft, ein Kreuzungspunkt der verschiedenen Systeme dieser Wechselwirkungen..." (ebd.: 47). Dieses Zitat aus dem Dilthey-Text nimmt den Titel einer Kapitelüberschrift von Georg Simmel vorweg: "Über die Kreuzung socialer Kreise" (Simmel, 1890: 100-116). Ziel bleibt bei Dilthey die Erkenntnis des Totalzusammenhangs. Als Methode auf dem Wege dorthin zeichnet sich das Verfahren des Verstehens ab. Während Dilthey einerseits das zurückweist, was er Soziologie nennt, und womit er den positivistischen Ansatz von Comte und Spencer meint, entwirft er ein Konzept für eine Familie der "Wissenschaften der Gesellschaft" und rechnet dazu z.B.: "Grammatik, Rhetorik, Logik, Ästhetik, Ethik, Jurisprudenz" (ebd.: 48). Auch die Politische Wissenschaft gehört zum Kreise der "Wissenschaften der Gesellschaft". Diese Wissenschaften sind nach Diltheys Überzeugung schon am Ende des
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19. Jahrhunderts sowohl hoch aktuell als auch besorgniserregend ungesichert wegen der fehlenden erkenntnistheoretischen Grundlage. Darum will er mit dem Hinweis auf die grundsätzliche Verstehbarkeit der Gesellschaft den Weg bereiten für das, was wir heute den verstehenden Ansatz in der Soziologie nennen. Er arbeitet die Ursachen für die Notwendigkeit eines solchen neuen Ansatzes aus der geistesgeschichtlichen Entwicklung heraus. Dazu hebt er - wie schon erwähnt - die Bedeutung der Italienischen Renaissance hervor, die seiner Ansicht nach das Band zerrissen habe zwischen der Religion als Quelle für Wirklichkeitskonstruktionen und der empirischen Wirklichkeit selbst. Das Ergebnis dieses Zerreißens des Bandes zwischen Religion und Erfahrungswirklichkeit ist einerseits die Entstehung der positiven Naturwissenschaften und andererseits ein zunehmender Verlust der Beziehung zwischen Religion, Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften. Außerdem wird "eine neue Stellung des erkennenden Subjekts zur Wirklichkeit" (ebd.: 451 f.) die unausweichliche Folge dieser Entwicklung. Das nächste Stadium in diesem von Dilthey als Evolution vorgestellten Prozeß ist die Transformation der Metaphysik: Sie wandelt sich in ein "Privatsystem" des Wissens (ebd.: 455) oder, wie man in der Sprache der Gegenwart sagt, zum Pluralismus. Dies erinnert an die Bemerkungen Max Webers zur Religion in der Moderne, die in seiner Rede Wissenschaft als Beruf enthalten ist und Bezug nimmt auf die Tendenz, die er unter der Metapher des Rückfalls vom Monotheismus in den Polytheismus beschreibt. Für Dilthey ist es eine der wichtigsten Herausforderungen der Geisteswissenschaften (ebd.: 483), die folgenden Aufgaben zu lösen: a) Es müssen die "Erklärungsgründe für Urteile über Wirklichkeit" aufgezeigt werden, und b) es müssen "Erklärungsgründe für Wertaussagen und Imperative" (ebd.) herausgearbeitet werden. Schließlich ist es notwendig, daß c) beide aufeinander bezogen und miteinander verbunden werden. Dieses ist die Konsequenz aus der Umwälzung der Philosophie, nach der aus der Sicht Diltheys der alte Gegensatz zwischen theoretischer und praktischer Philosophie abgelöst wird durch die von ihm vorgeschlagene Gegenüberstellung von Naturwissenschaften und Geisteswissenschaften: "Der Ausdruck dieser wissenschaftlichen Umwälzung in der systematischen Gliederung ist, daß an die Stelle des Gegensatzes der theoretischen und praktischen Philosophie der einer Grundlegung
für die Wissenschaften
der Natur und einer sol-
chen für die Wissenschaften des Geistes tritt. In der letzteren ist das Studium der Erklärungsgründe für Urteile über Wirklichkeit verbunden mit dem der Erklärungsgründe für Wertaussagen und Imperative, wie sie das Leben des Einzelnen und der Gesellschaft zu re-
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geln bestimmt sind" (ebd.: 483). Ähnliche Forderungen formuliert Max Weber im Jahre 1904 aus Anlaß der Übernahme des Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik in seinem Objektivitätsaufsatz.
4. Die Bedeutung Diltheys für Georg Simmel und Max Weber Der Text, den wir hier in Ausschnitten kommentiert haben, gibt die Position eines jungen und dynamischen Dilthey wieder, der Simmel und Weber beeinflußt hat und darüber hinaus für Vertreter des amerikanischen Pragmatismus und der Schule von Chicago bedeutsam geworden ist. Dilthey selbst hat den Standpunkt dieses Textes nicht beibehalten. Heinrich Rikkert und der späte Max Weber folgten offenbar dem Wandel, den Dilthey in der Entwicklung seines wissenschaftlichen Denkens durchgemacht hat. Dagegen scheint es so, als ob Simmel bei der in diesem Text skizzierten Position geblieben ist und die spätere Veränderung in der Argumentation Diltheys nicht nachvollzogen und auch nicht gutgeheißen hat (Vgl. Bevers 1985: 31 ff ). Hier war schon die Rede davon, daß mit dem Beginn der Italienischen Renaissance das Band zerrissen wird zwischen den religiösen Quellen der Wirklichkeitskonstruktion einerseits und der Erfahrungswirklichkeit andererseits. Dilthey hat in diesem Text noch die Hoffnung, diesen Bruch durch das Mittel der Lebensphilosophie reparieren zu können: In Zukunft müssen die konstruktiven Ideen aus der Wirklichkeit des Lebens selbst gewonnen werden, so meint und hofft er. Max Weber hat sich in seinem Artikel "Knies und das Irrationalitätsproblem" aus dem Jahre 1905, der der zweite von den drei Aufsätzen über Roscher und Knies war, mit Dilthey beschäftigt. Wie er meint, ist "Diltheys 'Einleitung in die Geisteswissenschaften' der erste groß angelegte Entwurf einer Logik des nicht naturwissenschaftlichen Erkennens..." (Weber, 1951: 43). Dies ist eine eindeutige Anerkennung der Priorität des Textes von Dilthey über spätere ähnliche wissenschaftstheoretische Versuche durch Weber selbst. Für Weber ist dies die Grundlegung einer Logik jener Wissenschaften, die nicht Naturwissenschaften sind. In demselben Aufsatz weist Weber allerdings auch daraufhin, daß in den Forschungsbereichen, für die die Geisteswissenschaften zuständig sind, Erkenntnisgegenstände und Daten vorkommen, die mit derselben Objektivität und ganz ebenso frei von jeder Form des Werturteils untersucht werden können, wie in den Naturwissenschaften (Weber, 1951: 53). Dieses, so schreibt Weber, habe Rickert hervorgehoben in seinem Buch "Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffsbildung", einem Buch, in dem Rickert sich nach Aussagen Webers gegen Dilthey gewandt habe.
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Wir sehen also, daß Weber 1905 sich der unterschiedlichen Positionen bewußt war, die der von uns hier behandelte Text von Dilthey einerseits und das erwähnte Buch von Rickert andererseits enthielten. Aber Weber referiert in seinem Aufsatz nur verschiedene methodologische Positionen innerhalb der Fachdisziplin der Nationalökonomie, die an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert in der Diskussion angetroffen werden konnten. Was Weber in diesem Artikel als Überblick über Lehrmeinungen vorträgt, darf also nicht verwechselt werden mit dem, was er in seinem Aufsatz "Die protestantische Ethik und der Geist des Kapitalismus" selbst methodisch praktiziert. Weber erwähnt auch einen anderen Kritiker Diltheys, den Psychologen Ebbinghaus, der Diltheys Beitrag zum Jahrbuch der Berliner Akademie von 1895 zurückgewiesen habe (Weber, 1951: 91). Wenn wir nach der Bedeutung Diltheys für Simmel suchen, entstehen noch mehr offene Fragen. Simmel war seit vielen Jahren Student an der Universität Berlin. Dann kommt Dilthey von Breslau aus auf einen frei gewordenen Lehrstuhl nach Berlin und kehrt damit an die Universität zurück, an der er promoviert wurde und sich habilitiert hat. Er findet dort den jungen und außergewöhnlich intelligenten Simmel, mit dem er sich bei seiner Ankunft aus Breslau in grundlegenden methodischen Fragen einig weiß, und er hilft Simmel im Jahre 1885, als der bei dem Versuch sich zu habilitieren in ernste Schwierigkeiten gerät. Simmeis Buch "Über sociale Differenzierung" erscheint 1890 und enthält zahlreiche Passagen, die von dem Dilthey der Zeit vor 1890 inspiriert und beeinflußt waren. Aber dann wird die Beziehung zwischen den beiden Männern schwer durchschaubar. Dilthey hatte einen zweiten Band zu seiner Einleitung in die Geisteswissenschaften
ange-
kündigt, den er niemals schrieb. Simmel dagegen veröffentlicht ein Buch Die Probleme der Geschichtsphilosophie
mit dem Untertitel Eine erkenntnistheoretische
Studie
(Simmel,
1892, 2. Auflage 1905, hier zitiert nach 5. Auflage, 1923). Dilthey hatte den Plan, dem Studium der Geschichte und der Gesellschaft eine wohlfundierte methodische Grundlage zu geben. Aber die Studenten, die sich für das Studium der Gesellschaft interessieren, gehen in Scharen in die Vorlesung Simmeis, der diese Grundlage zu bieten scheint.
C. Verstehende Soziologie I. Entwurf des verstehenden Ansatzes durch Georg Simmel (1858-1918) 1. Wirklichkeitskonstruktion und das Problem der Einheit Simmel greift den Kritizismus von Kant auf, der (auch unter dem Eindruck von Blumenbachs Arbeiten) alle Wissenschaften im Blick hatte: "Es braucht kaum erwähnt zu werden, daß es sich dabei nur um graduelle Unterschiede handelt, daß im letzten Grunde der Inhalt keiner Wissenschaft aus bloßen objektiven Tatsachen besteht, sondern immer eine Deutung und Formung derselben nach Kategorien und Normen enthält, die für die betreffende Wissenschaft a priori sind, d h. von dem auffassenden Geiste an die an und für sich isolierten Thatsachen herangebracht werden". (Simmel, 1890: 3) Für Simmel beruhen alle Wissenschaften auf der konstruktiven Kreativität geistigen Tuns, also auch jene Disziplinen, die mit "objektiven" Daten arbeiten. Konstruktionsleistungen haben allerdings in der Soziologie (und in den Sozialwissenschaften allgemein) eine hervorgehobene Bedeutung, gerade weil dort mit den Daten auch anderer Fachrichtungen gearbeitet wird. "Bei der Socialwissenschaft findet nur ein quantitatives Ueberwiegen des kombinatorischen Elementes gegenüber anderen Wissenschaften statt, woher es denn bei ihr besonders gerechtfertigt erscheint, sich die Gesichtspunkte, nach denen ihre Kombinationen erfolgen, zu theoretischem Bewußtsein zu bringen", (ebd.: 3) Trotz dieser fein abgestuften Unterscheidung bleibt der Grundgedanke im Zentrum, daß sich der Mensch sein Bild der Wirklichkeit gemeinschaftlich schafft. Das gilt auch für die philosophische Gesamtschau der Welt: "Daß die Welt im letzten Grunde absolut einheitlich und alle Individualisierung und aller Unterschied nur ein täuschender Schein sei, kann man ebenso plausibel machen, wie den Glauben an die absolute Individualität jedes Teiles der Welt, in der nicht einmal ein Baumblatt dem anderen völlig gleich ist, und daß alle Vereinheitlichung nur eine subjektive Zuthat unsres Geistes, nur die Folge eines psychologischen Einheitstriebes sei, für den keine objektive Berechtigung nachweisbar wäre;..." (ebd.: 4) Setzt man also die Welt als einheitlich, denkt man sie sich gleichsam als System und ist demnach für die Soziologie, die man betreibt, dieses System als real gegeben, dann muß man den Einzelnen, wie Dürkheim das tut, als Funktion dieses Systems sehen. Setzt man andererseits
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Entwurf des Verstehenden Ansatzes durch Georg Simmel
den isolierten Einzelnen und seine Interaktionen mit anderen Einzelnen als lebendige Wechselwirkungen voraus, und betrachtet die Ursache sozialer Realität als darin verankert liegend, so kommt man zu anderen Ergebnissen in der Soziologie. Simmel schreibt angesichts dieser Alternative, es handele sich dabei um eine methodische Entscheidung, für die man das Kriterium nicht dem Gegenstand seiner Wissenschaft entnehmen kann. Betrachtet man nur die Erkenntnisobjekte, so ist die eine Position so gut vertretbar wie die andere. Es bleibt dem Soziologen nichts anderes übrig, als sich für eine methodische Position zu entscheiden, und als Folge davon sein Bild der Wirklichkeit auf die eine oder die andere Weise zu gestalten. "Von der Fülle des gleichzeitigen psychischen Inhaltes treten immer nur wenige fuhrende Vorstellungen in das klare Bewußtsein, und die Kausalverbindung, die man einmal zwischen ihnen beobachtet hat, ist das nächste Mal schon nicht mehr gültig, weil inzwischen der Gesamtzustand der Seele sich geändert hat und anderweitige Vorgänge etwa das erste Mal in der Richtung jener Verbindung, das zweite Mal aber ihr entgegenwirkten. Dies ist der Grund, weshalb die Psychologie keine Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinne erreichen kann:..." (ebd.: 7). Und es ist einleuchtend, daß das, was Simmel hier von der Psychologie schreibt, für die Soziologie ebenso gilt. Der Sozialwissenschaftler finde keine Gesetze, "weil wegen der Kompliziertheit ihrer Erscheinungen keine isolierte einfache Kraftwirkung in der Seele zu beobachten ist, sondern jede von so vielen Nebenerscheinungen begleitet wird, daß nie mit vollkommener Sicherheit festzustellen ist, was denn nun wirklich die Ursache einer gegebenen Folge oder die Folge einer gegebenen Ursache ist", (ebd.: 7) Wenn auch in anderer Terminologie, vertritt doch Max Weber in seinen frühen Aufsätzen zur Wissenschaftslehre eine ganz ähnliche Position: "...das Eingreifen jener Wertungen, an denen unser geschichtliches Interesse verankert ist, läßt aus der Unendlichkeit der an sich historisch sinnlosen und gleichgültigen ursächlichen Komponenten das eine Mal gleichgültige Ergebnisse, das andere Mal aber eine bedeutungsvolle, d.h. in bestimmten Bestandteilen von jenem historischen Interesse erfaßte und gefärbte Konstellation entstehen. Im letzteren Falle sind für unsere 'Auffassung' neue Wertbeziehungen gestiftet worden, die vorher fehlten, und wenn wir nun weiterhin diesen Erfolg anthropozentrisch dem 'Handeln' der Menschen kausal zurechnen, dann gilt uns dasselbe in solchen Fällen als 'schöpferisch'." (Weber, 1951: 50f.) Max Weber und Georg Simmel betonen übereinstimmend, daß die wertenden Maßstäbe für die Beurteilung der Wirklichkeit nicht dingliche Eigenschaften der Objekte sind, sondern daß sie in den lebendigen Beziehungen zwischen Subjekten (oder zwischen Subjekten und ihren Gegenständen) gefünden werden müssen. Solche Werturteile sind daher auch Ergebnisse von Stimmungen und persönlichen Erlebnissen. "Trotzdem wäre es falsch, den metaphysischen und psychologischen Aufstellungen deshalb nun den wissenschaftlichen Wert abspre-
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chen zu wollen. Wenn sie auch nicht exakte Erkenntnis sind, so sind sie doch Vorläufer derselben. Sie orientieren doch einigermaßen über die Erscheinungen und schaffen die Begriffe, durch deren allmähliche Verfeinerung, Wiederauflösung und Zusammenfügung nach anderen Gesichtspunkten eine immer größere Annäherung an die Wahrheit erreicht wird;..." (Simmel, 1890: 7 f ) . Die Passage über die Verfeinerung und Wiederauflösung von Begriffen erinnert an Herbert Blumers Gegenüberstellung von sensitizing und definitive concepts in der Theorie der Symbolischen Interaktion. Simmel nimmt den Grundgedanken wieder auf, daß die bunte Vielfalt der Daten zu einer geordneten Wirklichkeit gestaltet werden muß, um als sinnhaltig erlebt werden zu können. Er fordert daher, mit den Daten, die für sich allein genommen noch nicht verstanden sind, sondern zusammenhanglose Einzelfakten darstellen, auf höherer Ebene weiterzuarbeiten. Gleichsam durch eine verstehende Kombinatorik kann der Sozialwissenschaftler dort anknüpfen, wo Vorarbeiten, vielleicht auch nur positivistischer Ausrichtung, ihm Material an die Hand geben. Simmel wischt also nicht dogmatisch alles vom Tisch, was etwa auf der Grundlage erkenntnistheoretischer Positionen erarbeitet worden ist, die er nicht teilt, sondern er erkennt an, daß solche nicht auf ihren Sinngehalt befragten Fakten wertvolle Ausgangspunkte für verstehendes Arbeiten sein können. Simmel hat, wie wir sahen, von der Psychologie dargelegt, daß sie wegen der Besonderheit ihres Gegenstandes "keine Gesetze im naturwissenschaftlichen Sinne erreichen" könne (ebd.: 7). Für die Soziologie gilt das erst recht, weil nach seiner Überzeugung "ihr Gegenstand eine solche Fülle von Bewegungen in sich schließt" (ebd.: 8), und weil eben die Komplexität der Erkenntnisobjekte im Bereich der Soziologie noch größer ist als bei der Psychologie. Darum wirken sich nun die "Tendenzen des Forschers" notwendig bei der Herstellung der Synthese aus. Im Anschluß daran schreibt Simmel von einer Parallele zwischen den Unbestimmtheiten im Erkennen einerseits und der Mannigfaltigkeit der Unbestimmtheit "...auch in den praktisch socialen Angelegenheiten" andererseits (ebd.: 9) Das Thema der Parallelisierung von Qualitäten der Wirklichkeit einerseits und Qualitäten der Denkvorgänge andererseits findet man bei ihm an verschiedenen Stellen. "Eben diese Unbestimmtheit in den schließlichen Erfolgen eines Vorgangs am socialen Körper, die zu so vielen Entgegengesetztheiten im sociologischen Erkennen fuhrt, veranlaßt die gleichen auch in den praktisch socialen Angelegenheiten; die Mannichfaltigkeit (sie!) und Feindseligkeit der Parteien in diesen, von denen doch jede mit ihren Mitteln das gleiche Ziel eines Glückseligkeitsmaximums für die Gesamtheit zu erreichen glaubt, beweist jenen eigentümlichen, durch seine Kompliziertheit jeder exaeten Be-
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rechnung widerstrebenden Charakter des socialen Materials. Von Gesetzen der socialen Entwicklung kann man deshalb nicht sprechen" (ebd.: 9). Simmeis Folgerung ist für die komplizierte und, wie er meint, anspruchsvolle Soziologie eine ähnliche wie vorher für die Psychologie: von Gesetzen im Sinne naturwissenschaftlicher Kausalverknüpfungen kann man im Bereich dieser Einzelwissenschaft nicht sprechen: "Zweifellos bewegt sich jedes Element einer Gesellschaft nach Naturgesetzen; allein für das Ganze gibt es kein Gesetz; so wenig hier wie sonst in der Natur erhebt sich über die Gesetze, die die Bewegungen der kleinsten Teile regeln, ein höheres Gesetz, das diese Bewegungen nun in immer gleicher Weise und zu dem gleichen Gesamteffect zusammenschlösse. Deshalb können wir nicht wissen, ob nicht in jedem von zwei gleich erscheinenden gesellschaftlichen Zuständen Kräfte latent sind, die im nächsten Augenblick völlig verschiedene Erscheinungen aus jenen hervortreiben" (ebd.). Simmel gesteht zu, daß die Elemente, d.h. die kleinsten Teile soziologischer Analyse, also z.B. das Individuum, das mit Fieber seinen Arzt aufsucht, sehr wohl naturwissenschaftlichen Gesetzen unterliegt. Er erkennt an, daß sich dort die Wirksamkeit von Kausalitätsverknüpfüngen nachweisen läßt. Aber was ihn interessiert, ist ja die Gesellschaft, ist das Ganze. Und dort eben bewegt sich die Soziologie auf einem Gebiet, für das Simmel die Möglichkeit bestreitet, von Gesetzen im Sinne der Naturwissenschaften sprechen zu können, und zwar deshalb, weil Kräfte vorhanden sein mögen, die zunächst völlig gleichgerichtet erscheinen, die aber im nächsten Augenblick als einander entgegengesetzte Tendenzen wirksam werden. Die Vieldimensionalität des Nebeneinanders von erscheinendem manifesten Bereich und noch nicht sichtbar gewordenem latenten Bereich nennt er als Argument dafür, nicht induktiv im Sinne der analytischen Vorgehensweise zu Ergebnissen kommen zu können: "Dieser Gesichtspunkt führt auf einen Einwand, den man vom erkenntnistheoretischen Standpunkt gegen die Gesellschaftswissenschaft überhaupt erheben kann. Der Begriff der Gesellschaft hat offenbar nur dann einen Sinn, wenn er in irgend einem Gegensatz gegen die bloße Summe der Einzelnen steht. Denn fiele er mit letzterer zusammen, so scheint er nicht anders das Objekt einer Wissenschaft sein zu können, als etwa 'der Sternhimmel' als Gegenstand der Astronomie zu bezeichnen ist; thatsächlich ist dies doch nur ein Kollektivausdruck, und was die Astronomie feststellt, sind nur die Bewegungen der einzelnen Sterne und die Gesetze, die diese regeln" (ebd.: 10). Simmel vergleicht so die Sozialwissenschaften mit den Naturwissenschaften, speziell der Astronomie, und sagt dem Sinne nach: Es müßte dem Soziologen möglich sein, zu zeigen, daß Gesellschaft mehr ist als die Summe der Einzelheiten. Damit knüpft er an seine Worte über die Gesetze an, die im Einzelnen Gültigkeit haben, die sich aber nicht auf das Ganze beziehen; denn sonst wäre die Gesellschaft nur das, was der Ster-
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nenhimmel für den Astronomen ist: das Feld, auf dem sich die Kausalbeziehungen zwischen Einzelgrößen abwickeln. In der quantitativen Sozialforschung dominieren Richtungen der Soziologie, die analytisch arbeiten und dem methodologischen Individualismus zuneigen, um dann Ergebnisse vorzulegen, für die das von Simmel mit dem Hinweis auf den Sternenhimmel Gesagte völlig zutrifft: Der Begriff der Gesellschaft verflüchtigt sich, weil ihm keine Realität sui generis zugerechnet wird. Das erzeugt Zweifel an der Legitimation der Soziologie, die kaum überzeugend wirkt, wenn sie sich von ihrer Zuständigkeit für das Studium der Gesellschaft entschuldigt. "Der Grundgedanke dieses Zweifels an dem Sinn der Sociologie ist durchaus richtig: wir müssen in der That so scharf wie möglich zwischen den realen Wesen, die wir als objektive Einheiten ansehen dürfen und den Zusammenfassungen derselben zu Komplexen, die als solche nur in unserem synthetischen Geiste existieren, unterscheiden", (ebd.: 10) Was die Objektivisten und Analytiker postulieren, was also den Vertretern eines soziologischen Nominalismus geboten erscheint, ist als Grundgedanke zunächst durchaus richtig: "Allein wenn der Individualismus diese Kritik gegen den Gesellschaftsbegriff richtet, so braucht man die Reflexion nur noch eine Stufe zu vertiefen, um zu sehen, daß er damit zugleich sein eigenes Urteil spricht. Denn auch der einzelne Mensch ist nicht die absolute Einheit, die ein nur mit den letzten Realitäten rechnendes Erkennen fordert. Die Vielheit, die schon der individuelle Mensch in und an sich aufweist, als solche zu durchschauen, ist wie ich glaube eine der wichtigsten Vorbedingungen für eine rationelle Grundlegung der Gesellschaftswissenschaft, der ich deshalb hier näher treten möchte", (ebd.: lOf.) Simmel nimmt die Argumente des Individualismus so ernst, daß er sie am Ende gegen diese Position selbst wenden kann. Zunächst jedoch zeigt er, daß die Vorstellung von der Einzigartigkeit und Einheitlichkeit des Einzelnen religiös begründet war. "Solange der Mensch, ebenso wie alle organischen Arten, als ein Schöpfüngsgedanke Gottes galt, als ein Wesen, das mit all seinen Eigenschaften fertig ausgestattet in die Welt trat, da lag es nahe und war fast erfordert, den einzelnen Menschen als eine geschlossene Einheit anzusehen, als unteilbare Persönlichkeit, deren 'einfache' Seele in der einheitlichen Zusammengehörigkeit ihrer körperlichen Organe Ausdruck und Analogie fand. Die entwicklungsgeschichtliche Weltanschauung macht dies unmöglich", (ebd.: 11) Simmeis Argumente erinnern an die Diskussion der Theorien zur Entstehung des Embryos bei Blumenbach. Mit der "entwicklungsgeschichtlichen Weltanschauung" meint Simmel den Darwinismus, bzw. die Evolutionstheorie im weiteren Sinne. Er zeigt in seiner Argumentation, wie das, was in der Religion als das Unteilbare und in sich einheitliche Individuum andächtig vorgestellt wird, unter dem Einfluß des naturwissenschaftlich positivistischen Weltbildes zur Mo-
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mentaufnahme in einem Prozeß der Evolution wird, und zwar sowohl der biologischen Evolution der Menschheit nach Charles Darwin als auch der Entwicklung des Individuums im Verlauf lebenslanger Sozialisation. Wir sind als Personen dann eine unüberschaubare Vielfalt von Sozialisationseffekten und von biologisch in uns veranlagten und über das Erbgut weitergegebenen zusammenhanglosen Informationen. Daraus folgt für Simmel: Die Vielfalt der Einzeldaten ist auf der Ebene des Individuums genauso unüberschaubar und komplex oder doch ähnlich kompliziert wie auf der Ebene der Gesellschaft. Darum ist es eine Illusion, einen methodologischen
Individualismus
zu betreiben in der Meinung, wenn
man als Soziologe mit dem Individuum als objektiver Realität arbeite, vermeide man die gedankliche Konstruktion von Einheit. So muß eine analytische Position, die Simmel hier als die des Individualismus
in seine Ar-
gumentation einbezieht, in große Schwierigkeiten geraten, wenn sie fordert, als real nur das anzusehen, was unzweideutig eine in sich geschlossene vorgegebene Einheit darstellt. Denn dann würde einem auch das Individuum unter den Händen zerfließen in eine unüberschaubare Mannigfaltigkeit isolierter Einzelheiten. Diese Argumentation verdient Beachtung als ein selten vorgetragenes Plädoyer für den Gedanken der Wirklichkeitskonstruktion und damit zugleich auch für die Verstehende Soziologie. Es bedeutet, daß Simmel den Status objektiver Realität auch den Wechselwirkungen der Teile zuschreibt. Ausgegangen war er von der Einsicht, daß es in den Sozial- und Kulturwissenschaften nicht akzeptabel sei, nur die isolierten Einzelteile als real zu betrachten, nur die auseinandergeschnittenen Elemente als wirklich gegeben anzuerkennen, wie das der Individualismus tut. Vielmehr sind es die Wechselwirkungen zwischen ihnen, die ja gerade das Leben ausmachen, so daß eine Wissenschaft von der Gesellschaft diese Wechselwirkungen sicherlich als der sozialen Realität zugehörig betrachten muß: "Wir bezeichnen jeden Gegenstand in demselben Maße als einheitlich, in dem seine Teile in gegenseitigen dynamischen Beziehungen stehen. Darum gewährt ein Lebewesen so besonders die Erscheinung von Einheit, weil wir in ihm die energischste Wirkung jedes Teils auf jeden beobachten, während der Zusammenhang eines unorganischen Naturgebildes schwach genug ist, um nach Abtrennung eines Teiles die andern in ihren Eigenschaften und Funktionen im wesentlichen unverletzt zu lassen" (ebd.: 13). Das erinnert an Kants Auseinandersetzung mit Blumenbach und an die Organismusanalogie Herbert Spencers (Helle, 19972 : 70). Aber Simmeis Argumentation ist trotz der Verwendung ähnlicher Metaphern, wie Blumenbach und Spencer sie wählen, eine andere. Bei Spencer wird die Entwicklungstheorie aus der Biologie abgelesen und zunächst ein Zustand zusammenhangloser Homogenität angenommen, in dem eine Anhäufung von Zellen zu ganz
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primitiven Lebewesen fuhrt, bei denen es keine Funktionsteilung zwischen den verschiedenen Gewebebereichen gibt. Ein solches Lebewesen kann man durchschneiden, ohne daß man dadurch seine Existenz ernsthaft bedroht. Je weiter die Arbeitsteilung zwischen den Gewebetypen voranschreitet, desto abhängiger werden alle Teile voneinander und desto eher tötet man den ganzen lebendigen Zusammenhang eines Organismus, wenn man Teile davon abschneidet, weil dann die Funktionsfähigkeit des Ganzen erlischt. An diese Denkweise Spencers scheint Simmel hier anzuknüpfen. Er weist darauf hin, daß wir von einer Einheit - sei es auf der Ebene des Individuums, sei es auf derjenigen der Gesellschaft - gerade darum sprechen können, weil es Wechselbeziehungen zwischen den Elementen gibt. Vorbild für Simmeis Denken ist dabei jedoch nicht die Biologie, sondern das "Seelenleben",
also die Vorstellung von Einheit und Bewußtsein der Person. Für Simmel
liegt Einheit dann vor, wenn lebendige Wechselwirkungen
sichtbar sind. "Innerhalb des per-
sönlichen Seelenlebens ist trotz der vorhin erwähnten Diskrepanz seiner Inhalte doch die funktionelle Beziehung höchst eng, jede entlegenste oder noch so lange vergangene Vorstellung kann so sehr auf jede andere wirken, daß hierfür freilich die Vorstellung einer Einheit von dieser Seite her die größte Berechtigung besitzt". (Simmel, 1890: 13) Simmel fragt, unter welchen Bedingungen man von Einheit sprechen könne, wenn es sich um die komplexe Psyche des Individuums handelt. Wenn z.B. ein Erlebnis, das ein Individuum vor zehn Jahren gehabt hat, in seinem Gedächtnis zugänglich ist, so daß es ihm bildhaft wieder präsent werden kann und daher auch seine Gegenwart beeinflußt, dann ist diese Wechselwirkung durch die Einheit der Person gegeben, in der Vergangenheit und Gegenwart aufeinander bezogen werden. Der sozialwissenschaftlichen Wirklichkeit zuzurechnen sind demnach nicht nur Elemente, die gleichsam als Ergebnis anatomischen Voneinander-Trennens isoliert daliegen, sondern als Einheit ist das Lebendige zu betrachten, das durch Wechselwirkungen
zu einem Ganzen ver-
bunden ist. Diese Denkweise gilt für die psychische Einheit des Individuums ebenso wie für die Einheit komplexer sozialer Gebilde, mit denen die Soziologie sich befaßt. Simmel scheint es aber notwendig, weitere Kriterien für das methodische Vorgehen in dieser Richtung zu nennen, wie ja aus der unüberschaubaren Vielfalt denkmöglicher Wechselwirkungen eine Auswahl getroffen werden muß zwischen denen, die in Betracht gezogen werden sollen, und jenen anderen, die unberücksichtigt bleiben müssen. Was Simmel zur Lösung dieses methodischen Problems vorschlägt, ist zwar nicht eine Suche nach Gesetzmäßigkeiten
- denn
die hatte er ja genau wie Dilthey für die Geisteswissenschaften ausdrücklich verworfen wohl aber empfiehlt Simmel die Hervorhebung von Wechselbeziehungen, die mit einer gewissen Regelmäßigkeit
auftreten.
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"Die Auflösung der Gesellschaftsseele in die Summe der Wechselwirkungen ihrer Teilhaber liegt in der Richtung des modernen Geisteslebens überhaupt: das Feste, sich selbst Gleiche, Substantielle in Funktion, Kraft, Bewegung aufzulösen und in allem Sein den historischen Prozeß seines Werdens zu erkennen. Daß nun eine Wechselwirkung der Teile unter dem statt hat, was wir eine Gesellschaft nennen, wird niemand leugnen. Ein in sich völlig geschlossenes Wesen, eine absolute Einheit ist die Gesellschaft nicht, so wenig wie das menschliche Individuum es ist. Sie ist gegenüber den normalen Wechselwirkungen der Teile nur sekundär, nur Resultat, und zwar sowohl sachlich wie für die Betrachtung", (ebd.: 13) Hier kommt Simmeis Gedankenflihrung zu einem vorläufigen Ergebnis: Er hatte damit begonnen, sich ganz ernsthaft auf die analytische Position einzulassen, die er den Individualismus nennt. Er akzeptiert auch zunächst die dort vertretene Notwendigkeit, zwischen jenen Elementen zu unterscheiden, die allein Realitätsstatus beanspruchen dürfen und jenen sekundären Phänomenen, denen dort der Realitätsstatus abgesprochen wird. Bei dieser, nach Simmeis Ansicht verengten, Sicht von Realität kann die Sozialwissenschaft aber nicht stehenbleiben, denn sonst würde sich nicht nur das Phänomen Gesellschaft verflüchtigen, sondern sogar das Individuum in lauter Elemente auflösen. Gleichwohl akzeptiert Simmel die Unterscheidung der beiden Bereiche. Primär bleibt auch für ihn das, was an physisch-materieller Realität gegeben ist. Sekundär kommt hinzu - von anderer Qualität zwar, aber gleichwohl der Wirklichkeit fraglos zugehörig - der Bereich der Wechselwirkungen der Teile, die als dynamischer Prozeß aus sich heraus Phänomene hervortreiben, mit denen die Soziologie sich nun einmal beschäftigen muß, wenn sie nicht ihre Aufgabe im Kern verfehlen will. Es ist bemerkenswert, daß Simmel diese Position in solcher Klarheit schon 1890 vertreten hat: Einheit ist gedanklich konstruiert. Sie ist insoweit eine Leistung der Seele, die schon bei Spinoza als Organ der Wahrnehmung gesehen wurde. "In diesem Sinne, der von beiden Seiten her ein relativer ist, kann man sagen, daß die Gesellschaft eine Einheit aus Einheiten ist. Es ist aber nicht etwa eine innerliche, geschlossene Volkseinheit da, welche das Recht, die Sitte, die Religion, die Sprache aus sich hervorgehen ließe, sondern äußerlich in Berührung stehende sociale Einheiten bilden durch Zweckmäßigkeit, Not und Gewalt bewogen diese Inhalte und Formen unter sich aus, und dieses bewirkt oder vielmehr bedeutet erst ihre Vereinheitlichung. Und so darf man auch für die Erkenntnis nicht etwa mit dem Gesellschaftsbegriff beginnen, aus dessen Bestimmtheit sich nun die Beziehungen und gegenseitigen Wirkungen der Bestandteile ergäben, sondern diese müssen festgestellt werden, und Gesellschaft ist nur der Name für die Summe dieser Wechselwirkungen, die nur in dem Maße der Festgestelltheit dieser anwendbar ist", (ebd.: 14).
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Nachdem Simmel zunächst davor gewarnt hatte, man möchte nicht etwa
individualistisch
nur die Elemente als real betrachten, wendet er sich nun auch dagegen, die Gesellschaft zu reifizieren und im Jahre 1890 z.B. zu sagen, dem Volk käme eine eigene mythische Qualität zu, ebenso wie der Nation als Träger und Quelle von Sprache, Religion, Recht und Sitte. Solches in die Volksmythologie tendierende Denken, das dem Kollektiv eine eigene Identität zuweist, ist ihm ebenfalls suspekt. Er will zwar von vorgegebenen Tatsachen ausgehen, nur will er sie dynamisch denken. So erklärt er ausdrücklich, die sozialen Einheiten "bilden durch Zweckmäßigkeit, Not und Gewalt bewogen diese Inhalte und Formen unter sich aus" (ebd.: 14). Was also an Phänomenen für ihn mit Wirklichkeitsstatus ausgestattet auftaucht, ergibt sich dynamisch aus den Wechselwirkungen, provoziert erst von Not und Gewalt, und ist nicht etwa eine naturgegebene Lebensäußerung der Gesellschaft, wie das Atmen eines Körpers. Solche organologischen Vorstellungen weist er ebenso zurück wie die analytisch individualistischen. Darum kann Simmel Evolutionist sein ohne Darwinist zu sein, weil er keine naturwissenschaftliche Entwicklungstheorie entwirft, sondern eine Theorie der Entfaltung der Kultur. "Es ist deshalb kein einheitlich feststehender, sondern ein gradueller Begriff, von dem auch ein Mehr oder Weniger anwendbar ist, je nach der größeren Zahl und Innigkeit der zwischen den gegebenen Personen bestehenden Wechselwirkungen. Auf diese Weise verliert der Begriff der Gesellschaft ganz das Mystische, das der individualistische Realismus in ihm sehen wollte. Man scheint freilich nach dieser Definition der Gesellschaft auch zwei kämpfende Staaten etwa für eine Gesellschaft erklären zu müssen, da unter ihnen doch zweifellose Wechselwirkung stattfindet" (ebd.: 14). Hier wird ein neuer Gedanke eingeführt, den Simmel in dem Kapitel "Der Streit" in seinem Buch "Soziologie" von 1908 wieder aufgreifen und genauer ausarbeiten sollte. Er sagt zunächst: Wenn Wechselwirkung Einheit konstituiert, dann müßte auch in der Situation des Kampfes oder der konfliktreichen Auseinandersetzung, die zweifellos eine Form der Wechselwirkung ist, Einheit entstehen. Wenn demnach zwei Gesellschaften zueinander feindschaftlich in Kontakt treten, werden sie damit - so scheint es - Teile einer größeren, sie beide umgreifenden Einheit. Die Literatur zur Konflikttheorie enthält diese Position, und zwar auch unter Bezugnahme auf Georg Simmel. Liest man aber Simmel an dieser Stelle genau weiter, dann findet man, daß er das bisher Vorgetragene nur als Denkexperiment vorläufig ausspricht, um später zu belegen, daß diese Vorstellung unrichtig sei, und deshalb verworfen werden müsse. Der Konflikt ist für Simmel ein Fall von Interaktion, auf den seine Definition von Ganzheit, von durch Wechselwirkung begründeter Einheit, gerade nicht paßt: "Man hat eben nur die
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specifische Differenz zu suchen, die zu dem Begriff der wechselwirkenden Personen oder Gruppen noch hinzugesetzt werden muß, um den üblichen Begriff der Gesellschaft im Gegensatz zu dem der kämpfenden Parteien zu ergeben. Man könnte etwa sagen, er sei eine Wechselwirkung, bei der das Handeln für die eigenen Zwecke zugleich die der anderen fördert" (ebd.: 15). Simmel gesteht allerdings zu, daß man von Gesellschaft immer auch dann spricht, wenn eine Seite die andere durch Zwang beherrscht und zu ihrem Vorteil ausnutzt. Ohne also die Problematik im Umkreis einer Definition von Gesellschaft als Einheit abschließend geklärt zu haben, schreibt er: "Ich glaube überhaupt: welche einfache und einheitliche Definition der Gesellschaft man auch aufstellen mag, es wird immer ein Grenzgebiet aufzufinden sein, auf dem sie sich nicht mit dem von unserer Vorstellung der Gesellschaft umschriebenen Gebiete deckt. Auch ist dies das Loos (sie!) aller Definitionen, die noch etwas mehr wollen, als einen selbstgemachten Begriff beschreiben, und die infolgedessen ihren Gegenstand völlig decken, weil ihr Gegenstand eben nichts anderes ist, als was sie beschreiben; will man aber eine Definition so geben, daß sie zugleich in der Einheit ihres Inhalts einen gewissen sachlichen, in der Natur der darunter fallenden Dinge selbst liegenden Zusammenhang kenntlich macht, so macht sich in demselben Maße auch gleich die Inkongruenz zwischen der Abrundung unserer Begriffe und der Fluktuation der Dinge geltend" (ebd.: 15). Das Leben fließt weiter, und unsere abgerundeten Begriffe greifen es nicht, so daß eine Inkongruenz unvermeidlich ist. Die Wirklichkeit kann, so wie sie von sich aus ist, nicht gedanklich erfaßt werden.
2. Grundlegung der Verstehenden Soziologie a) Sich "in die Seele der Personen versetzen" Das Problem des theoretischen Zugangs zu einer objektiven Wahrheit, deren Existenz Simmel unabhängig davon postuliert, ob sie dem Erkennen zugänglich ist oder nicht, bleibt Thema seiner Erkenntnistheorie. Seine Geschichtsphilosophie ist konzipiert unter der Voraussetzung der unzugänglichen Wahrheit eines Reiches des Absoluten, von dem die Werte ihre Legitimation erhalten. Der Frage, die all sein Philosophieren durchzieht, wie das Subjekt die Kluft zum Objektiven überbrücken kann, gibt Simmel die Gestalt des Versiehens. Obschon er die methodischen Voraussetzungen des Verstehens im Kontext der Geschichtsphilosophie entfaltet, legt er damit auch für die Versiehende Soziologie (VS) die Fundamente. Sein Buch Die Probleme der Geschichtsphilosophie, das zuerst 1892 veröffentlicht wurde, also im selben Jahr, in dem auch der erste Band seiner zweibändigen Einleitung in die Moralwissenschaft erschien, enthält die methodische Grundlegung der VS. Für diese Behaup-
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tung spricht es, daß Max Weber sich ausdrücklich auf diese Arbeit Simmels bezieht: "Die logisch weitaus entwickeltsten Ansätze einer Theorie des 'Verstehens' finden sich in der zweiten Auflage von Simmels 'Probleme der Geschichtsphilosophie' (S. 27-62)". (Weber, 1951: 92). Max Weber nennt Simmels zweite, veränderte Auflage von 1905, und zwar in einem Aufsatz, den er selbst schon im Oktober desselben Jahres (1905) veröffentlichte. Das methodische Anliegen, mit dem Simmel jenseits der Philosophie einzelwissenschaftlich engagiert war, war das Studium der Geschichte. Er wendet sich daher mit einer erkenntnistheoretischen Untersuchung zu Fragen der Geschichtsphilosophie an die Historiker. Die methodischen Folgerungen, die sich aus seiner Arbeit ergeben, gelten jedoch für alle Sozialwissenschaftler. Erkenntnisobjekt sind die "seelischen Akte der handelnden Personen" (Simmel, 1923: 35), die gedanklichen und emotionalen Vorgänge im Innern des Menschen also. Sie versucht der Forscher nachzugestalten. Ob er das mit Erfolg leisten kann, läßt sich für Simmel nur entscheiden, wenn Verstehen möglich ist. Dazu postuliert er neben (oder über) den beiden beteiligten Personen (historischer Akteur und Historiker) ein drittes Reich (Simmel, 1911: 103) der objektiven Wahrheit. Ihm muß der kreative Konstruktionsbeitrag entsprechen, den der Historiker in seine Forschung einbringt: "Ob die psychologischen Verbindungsglieder, die der Historiker an die Ereignisse heranbringt, objektiv wahr sind, d.h. wirklich die seelischen Akte der handelnden Personen nachzeichnen, würde kein Interesse für uns haben, wenn wir diese Vorgänge ihren Inhalten und ihrem Verlaufe nach nicht verstünden. Fände dies nicht statt, so könnte jene Richtigkeit durch irgendwelche Mittel erreicht sein - wie sie etwa in einigen Fällen nicht der psychologischen Nachkonstruktion durch den Historiker zu bedürfen, sondern durch Äußerungen und Konfessionen der Persönlichkeiten unmittelbar gegeben zu sein scheint - und wir würden ihr dennoch nicht zusprechen, was wir Wahrheit nennen. Was aber bedeutet dieses Verstehen, und was sind seine Bedingungen?" (Simmel, 1923: 35). Die Frage nach den Kriterien der Wahrheit, die Simmel zu seiner eigenen pragmatischen Wahrheitslehre gefuhrt hat, beschäftigt ihn auch als Geschichtsphilosophen. Er wendet sich an den Historiker, von dem er sagt, daß der etwas nachzeichne, ähnlich wie der Maler ein Kunstwerk anfertigt, indem er die Wirklichkeit anschaut und kreativ umgestaltet, aber nicht photographiert. Ob das Nachgezeichnete den Anspruch erheben darf, Wahrheit zu sein, wäre nicht sinnvoll zu fragen, wenn es nicht die Möglichkeit gäbe, zu verstehen. Für Simmel ist also die Methode des Verstehens darum wichtig, weil sie überhaupt erst die Voraussetzung dafür bietet, daß man das gedanklich Nachkonstruierte auf seinen Wahrheitsgehalt überprüfen kann.
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Wenn Verstehen als wissenschaftliches Verfahren so wichtig ist, muß man sich damit befassen und klären, worum es sich dabei handelt. "Was aber bedeutet dieses Verstehen und was sind seine Bedingungen?" (ebd.). "Die erste derselben ist offenbar, daß jene Bewußtseinsakte in uns nachgebildet werden, daß wir uns, wie man sagt, 'in die Seele der Personen versetzen' können" (ebd.: 35- 37). Diese Formulierung Simmeis erinnert an das häufig zitierte Konzept von George Herbert Mead "taking the role of the other". Entscheidend ist für Simmel, daß jener kreative und kombinatorische Prozeß, den er Formung nennt, im Innern der handelnden Person stattgefunden hat, und daß nun (vom verstehenden Beobachter) versucht wird, ihn im eigenen Innern nachzuschaffen. Simmel erklärt, welche Wechselwirkungsprozesse er mit dem Begriff des Verstehens verbindet und welche Prozesse im Innern der Seele als Folge davon in beiden beteiligten Personen ausgelöst werden: "Das Verstehen eines ausgesprochenen Satzes besagt, daß die Seelenvorgänge des Sprechenden, die in die Worte ausliefen, durch eben diese auch im Hörer erregt werden;..." (ebd.: 37). Diese Formulierung Simmeis läßt ihre Verwandtschaft sowohl mit Spinoza als auch mit einer Äußerung von Mead aus dem Jahre 1922 erkennen In seinem Aufsatz über das Significant Symbol hebt Mead hervor, daß sich die Qualität des Symbols durch die Übereinstimmung der Eindrücke auszeichne, die es sowohl bei dem Sender als auch bei dem Empfänger der Botschaft hervorruft (Mead, 1922). Der VS liegt die Überzeugung zugrunde, daß es eine eindeutige, für alle um Einsicht bemühte Personen gültige Wirklichkeit nicht gibt; bzw. wenn es sie denn doch geben sollte, daß niemand sie so, wie sie von sich aus ist, erkennen kann. Dennoch meinen die Menschen, die Wirklichkeit zu erkennen. Das geschieht allerdings so, daß die Person sich auf charakteristische und nachvollziehbare Weise Einzelheiten aus der unüberschaubaren Vielfalt von Gegebenheiten auswählt und unter einer bestimmten Perspektive zusammenstellt. So entsteht eine Vielzahl von Konstruktionen, die man mit den Betrachtungsweisen der Personen in Verbindung bringen und dadurch verstehen kann. Man muß, wie Simmel schreibt "die seelischen Akte der handelnden Personen" (Simmel, 1923: 35) untersuchen, und dazu muß man sich '"in die Seele der Personen versetzen' können" (ebd.: 37). Dabei wird dann deutlich, daß die Individuen ihre Wirklichkeit meistens nicht für sich allein konstruieren, sondern mit Bezugnahme auf einen oder mehrere Adressaten. In der so zu denken Wechselwirkung entstehen Vorstellungen, die man verstehen kann. b) Arten des Verstehens Nachdem geklärt ist, daß der zu verstehende Gegenstand jedenfalls nicht im Bewußtsein nur eines isolierten Individuums angetroffen wird, sondern als Inhalt einer Wechselwirkungsbe-
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ziehung, z.B. zwischen Sprechendem und Hörer zu denken ist, wendet Simmel sich der Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten des Versiehens zu. Er fuhrt den Grundgedanken fort, nach dem die Vorstellungen des einen im Bewußtsein des anderen nachgebildet werden. Aber er differenziert diesen Grundgedanken, indem er zwischen verschiedenen Qualitäten der Denkinhalte unterscheidet. Zunächst untersucht er Denkinhalte, die er "theoretische" nennt: "Ein derartig direktes Nachbilden findet indes nur statt und genügt nur, wo es sich um theoretische Denkinhalte handelt, bei denen es nicht wesentlich ist, daß sie als Vorstellungen gerade dieses Individuums ihren Ausgangspunkt nehmen, sondern die vielmehr sachliche Inhalte in logischer Form jedem gleichmäßig darbieten. Bei objektiven Erkenntnissen verhalte ich mich zum Gegenstande des Erkennens genauso wie derjenige, dessen Vorstellungen darüber ich 'verstehe', er vermittelt mir nur deren Inhalt und wird nachher sozusagen wieder ausgeschaltet..." (ebd.: 37). Damit stellt Simmel den ersten von zwei Typen des Verstehens vor. Man kann ihn mit folgendem Beispiel illustrieren: Ich höre z.B. im Radio die Nachrichten, der Sprecher hat etwas mitgeteilt, das ich verstanden habe. Dabei ist der Sachverhalt, der im Bewußtsein des Nachrichtensprechers vorhanden war, in mein Bewußtsein übergegangen. Wenn der Nachrichtensprecher seinen Namen nennt, so ist das aus anderen Gründen verständlich, weil er gern möchte, daß man weiß, wer er ist; aber ftir das Verstehen des in der Nachrichtensendung Mitgeteilten ist es völlig irrelevant, wer die Person ist, die da spricht. Es handelt sich nämlich hier um einen Typ des Verstehens, bei dem es um die Übertragung von theoretischen, also gegenüber Emotionen neutralen Inhalten geht. Sollte ein Nachrichtensprecher ausnahmsweise selbst innere Bewegtheit zeigen, so würde das als ein Ereignis gewertet werden müssen, das nicht dem ersten der beiden von Simmel unterschiedenen Verstehenstypen zugehört. Von dem ersten Typ gilt in Simmeis Worten: "Ich verstehe eigentlich nicht den Sprechenden, sondern das Gesprochene. Dies ändert sich sogleich, wenn jener zu seiner Äußerung durch eine persönliche Absicht, durch Voreingenommenheit oder Ärger, durch Ängstlichkeit oder Spottlust getrieben ist. Indem wir dieses Motiv der Äußerung erkennen, haben wir sie noch in einem ganz anderen Sinne als durch das Begreifen ihres Sachgehaltes 'verstanden1: jetzt erst bezieht dieses sich nicht nur auf das Gesprochene, sondern auf den Sprechenden" (ebd. : 38). Dies ist der deutlich von dem ersten zu unterscheidende zweite Verstehenstyp: Hier geht es um das deutende Vorgehen: Ein Typ der Kommunikation gerät ins Blickfeld, bei dem keineswegs nur sprachliche Gesten ausgetauscht werden, bei dem der Handelnde dem Inhalt des Mitgeteilten jeweils einen Eigenbeitrag mit auf den Weg gibt: Spottlust, Ärger, Hohn, Ängstlichkeit, die verschiedensten emotionalen und wertenden Gehalte, die der Verstehende zusammen mit dem sachlichen Gehalt der Mitteilung in sich aufnehmen muß, wenn
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er nicht seine Deutungschancen unangemessen einengen will. Freilich erinnert der Hinweis auf die Bedeutung von emotionalen Befindlichkeiten an die Vorarbeiten Spinozas. Diese zweite Art des Verstehens zeichnet sich dadurch aus, daß der Verstehende beim Anhören der für ihn relevanten Mitteilung nicht mehr von der Person absehen kann, die an dem Interaktionsprozeß beteiligt ist. Sie hat zunächst - was unvermeidlich ist - die objektive Wirklichkeit in einer neuartigen Weise für sich geformt. Das traf auch auf die erste Art des Verstehens zu. Doch die zweite hat außerdem dieser Neubildung eine emotional getönte persönliche Absicht angefügt und so das Darstellen mit einem Wollen verbunden. Im Akt des Verstehens kann freilich diese emotionale Befindlichkeit dessen, der verstanden werden soll, nicht immer vollgültig nachgeschaffen werden; sonst könnte ja z.B. ein jähzorniger Politiker nur von einem Historiker verstanden werden, der selbst zum Jähzorn neigt. Man muß also, wie Simmel schreibt (und Max Weber übernimmt das), nicht Cäsar sein, um Cäsar zu verstehen, und man muß nicht kriminell sein, um Kriminologie betreiben zu können. Daher ist es bei dieser komplizierteren zweiten Art des Verstehens für Simmel "ohne weiteres klar, daß das "Nachbilden' im historisch-psychologischen Sinn keineswegs ein unverändertes Wiederholen des Bewußtseinsinhaltes der historischen Personen ist. Wir behaupten doch, jede Art und jeden Grad von Liebe und Haß, Mut und Verzweiflung, Wollen und Fühlen zu verstehen, ohne daß die Äußerungen auf die hin das Bild solcher Affekte in uns entsteht, uns in die gleiche Befangenheit in ihnen versetzten. Dennoch setzt ersichtlich derjenige Seelenprozeß, den wir das Begreifen ihrer nennen, eine psychologische Umformung, eine Verdichtung oder auch abgeblaßte Spiegelung ihrer voraus; irgendwie muß in ihm ihr Inhalt enthalten sein" (ebd.: 39). Wenn wir also Jähzorn als Komponente eines Kontextes verstehen wollen, müssen wir doch bei der Umformung, die wir als Historiker oder Soziologen vornehmen, in unsere Rekonstruktion eine - wie Simmel schreibt - "abgeblaßte Spiegelung" des Jähzorns einbauen, um die Wirkung dieses Affekts auf die Vorstellungen, die wir verstehen wollen, abschätzen zu können. Objektiv vorgegeben ist uns dann gleichsam das platonische Urbild eines Affekts, z.B. des Jähzorns, das wir als Beobachter an den Äußerungen einer anderen Person erkennen, und indem wir die "psychologische Umformung" (s.o.) nachvollziehen, von der wir annehmen, daß unser Gegenüber sie vorgenommen hat, verstehen wir. Es geht Simmel also nicht um physische Effekte körperlichen Verhaltens, sondern es geht ihm, wie Spinoza, um das Gewollte, um das Gefühlte. Ein Historiker ist ein unzureichend arbeitender Wissenschaftler, wenn er nicht versucht, so gut es eben geht, zu rekonstruieren, nachzuzeichnen also, was Alexander der Große, was Napoleon oder wer auch immer, gefühlt und gewollt haben muß. Die großen methodischen Schwierigkeiten, die dabei auftreten,
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sieht Simmel durchaus (ebd.: 39-52). Nur postuliert er weiterhin das 'dritte Reich' (s.o.) als objektive Wahrheit, das in seiner Dynamik vom Individuum aufgenommen und in die Form gebracht wird, in der es dann "im Subjekt" (ebd.: 52) verläuft. So ist es möglich, daß "seelische Vorgänge die Form der Geschichte annehmen, d.h. daß das Subjekt, das sie trägt, sie als von einem anderen getragen vorstellt" (ebd.). Was hier vorgeht, wenn 'Verstehen' sich ereignet, ist gleichsam der Durchgriff auf das Objektive hin: "Es geschieht nicht nachträglich etwas mit der fertig gewordenen und als subjektiv bewußten Vorstellung, sondern die Form, in der sie sich bildet, ist eben die historische, ihre Art im Subjekt zu verlaufen, bedeutet ihrer psychologischen Qualifikation nach, daß ihr Inhalt seine Wirklichkeit in einem anderen Subjekt hat" (ebd.: 52f). Simmel gelangt hier an die Grenze zwischen Subjektivem und Objektivem mit der Wirkung, daß seine Argumentation metaphysisch wird. Er beruft sich im Kontext seiner methodischen Abhandlung auf ein Gefühl der Richtigkeit als unbeweisbarer Evidenz: "Und die erkenntnistheoretische Interpretation dieser unmittelbaren Übertragung scheint mir durch jenes Gefühl der übersubjektiven - aber nicht etwa gegenständlich äußerlichen - Richtigkeit gewisser psychischer Konstellationen und Verbindungen gegeben, durch das Bewußtsein, in dem Vollzuge dieser die eigenen Beziehungen der psychischen Inhalte, unabhängig von ihrem jetzigen Gedachtwerden, zu Worte kommen zu lassen" (ebd.: 53). Die objektive Richtigkeit hat ihren Ort demnach in den Konstellationen und Verbindungen, die durch das Bewußtsein "zu Worte kommen" (s.o.), zu deren Medium das Individuum sich macht. Charakteristisch sind "die eigenen Beziehungen der psychischen Inhalte" (s.o.), in deren Relation die spezifische Realität liegt, und in Relationen den Sitz der Realität zu sehen, ist typisch für Simmel. Um seine erkenntnistheoretische Position auch noch auf einem anderen Wege zu erläutern, weist Simmel auf die Aufgaben hin, die sich der Geschichte der Philosophie stellen. Zwar scheint es so, als ob in diesem Bereich das unmittelbare Rekonstruieren des Gegenstandes besonders leicht sei, aber "selbst da handelt es sich nicht um eine mechanische, wenn auch seelische Abspiegelung der Daten; sondern es bedarf einer Formung der vom Philosophen innerlich erlebten und geschaffenen und von seinem Historiker nachgedachten Denkinhalte,..." (ebd.: 54f). Illustriert zwar immer an Problemen des Historikers, aber methodisch übertragbar auf die Aufgaben der Soziologie, faßt Simmel seine methodische Position zusammen: "Die historische Wahrheit ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus ihrem Stoff - der als innerliche Nachbildung gegeben ist - etwas macht, was er an sich noch nicht ist, und zwar nicht nur durch kompendiöses Zusammenfassen seiner Einzelheiten, sondern indem sie von sich aus Fragen an ihn stellt, das Singulare zu einem Sinne zusammenfaßt, der oft gar nicht im Bewußtsein ihres 'Helden' lag, indem sie Bedeutungen
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und Werte ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde gestaltet", (ebd.: 55). Das Aufgraben der "Bedeutungen und Werte ihres Stoffes" (s.o.) ist nur denkbar, wenn ein objektiver Sinn hinter dem jeweiligen Individualbewußtsein der beteiligten Personen postuliert wird. Nur dann kann der Historiker etwas entdecken, daß dem Helden der historischen Aktion gar nicht bewußt war. Was ist das Grundanliegen, das Simmel mit dieser Abhandlung verfolgt? Er will sein prozessuales Wirklichkeitsbild und seine Formungstheorie auf die Arbeit des Historikers anwenden. Er kritisiert vor allem die naive Vorstellung, Geschichtsschreibung könne die Dinge so erfassen, wie sie in der Vergangenheit wirklich gewesen sind. "Das Entscheidende ist das Durchbrechen des erkenntnistheoretischen Naturalismus, der die Erkenntnis zu einem Spiegelbild der Wirklichkeit machen will..." (ebd.: 58). Aus Simmeis Methode ergibt sich so die Kritik nicht nur am historischen
Naturalismus,
sondern auf analoge Weise auch am historischen
Materialismus. Doch das Bedeutsame an der Zugangsweise Simmeis ist nicht nur die Kritik an jenen Methoden, die den Prozeß der Erkenntnisgewinnung nicht oder nur
unangemessen
berücksichtigen. Wichtig ist als weitere Konsequenz aus Simmeis Vorgehen das implizite Menschenbild. Danach findet nämlich die Person im Prozeß des Verstehens auch zu sich, und zwar durch das Du hindurch, das als Vermittler zum Ich unentbehrlich wird. "Jeder uns gegenüberstehende Mensch ist für die unmittelbare Erfahrung nur ein lauterzeugender und gestikulierender Automat, daß hinter dieser Wahrnehmbarkeit eine Seele steckt und welches die Vorgänge in ihr sind, können wir ganz allein nach der Analogie mit unserem eigenen Innern erschließen, das das einzige uns unmittelbar bekannte seelische Wesen ist. Andrerseits wird die Kenntnis des Ich nur an der Kenntnis der Anderen groß, ja die fündamentale Zerfällung in einen beobachtenden und einen beobachteten Teil kommt nur nach Analogie des Verhältnisses zwischen dem Ich und anderen Persönlichkeiten zustande" (Simmel, 1907a: 76). Das vertraute Problem der Kluft zwischen Subjekt und Objekt wird in neuer Form wieder aufgegriffen. Der andere Mensch ist zunächst Teil der Objektwelt für mich, doch da ich meine an mir selbst beobachteten Seelenregungen auch meinem Du zuschreibe, gewinne ich die Chance, "an der Kenntnis der Anderen groß" (s.o.) zu werden. Verstehensprozeß und Sozialisationsprozeß sind so gesehen zwei Aspekte einer interpersonalen Wechselwirkung. "Die Struktur alles Verstehens ist innerlich Synthese zweier, von vornherein getrennter Elemente. Gegeben ist eine tatsächliche Erscheinung, die als solche noch nicht verstanden ist. Und dazu tritt aus dem Subjekt, dem diese Erscheinung gegeben ist, ein Zweites, entweder diesem Subjekt unmittelbar entsteigend, oder von ihm aufgenommen und verarbeitet, eben der verstehende Gedanke, der jenen zuerst gegebenen gleichsam durchdringt, ihn zu einem
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verstandenen macht..." (Simmel, 1918: 4). Das gilt für den verstehenden Umgang mit Dingen ebenso wie für den mit Personen. Doch die Wechselwirkung zwischen Personen ist für Simmel Ausgangspunkt
seines Nachdenkens über den Verstehensprozeß: Die Ich-Du-
Beziehung ermöglicht oder verhindert Verstehen je nach ihrer Qualität. Verstehen ist "die Beziehung eines Geistes zu einem andern" (ebd.: 3), es ist zugleich "ein Grundereignis des menschlichen Lebens" (ebd.), das je nach dem Einzelschicksal als frühkindliche Erfahrung zur Normalität oder zur Ausnahme wird. Wann immer es vollzogen werden kann, geschieht es als Synthese eines empirischen Faktums, das noch nicht verstanden ist, mit dem verstehenden Gedanken, der geeignet ist, das Wesen der zu verstehenden Erscheinung zu erschließen. Dem Du wird eine autonome Eigenexistenz zuerkannt - dies ist eine ethische Konsequenz aus Simmeis erkenntnistheoretischer Position. Das Ich, das verstehen können und selbst daran wachsen will, darf sein Du nicht zu einem Echo oder zu einer Projektionsfläche seiner selbst herabwürdigen. Es muß berücksichtigen, "daß das Du vielmehr ein Urphänomen ist ebenso wie das Ich" (ebd.: 10). Simmel verwirft den Gedanken, man könne im anderen nur das verstehen, was man zuvor selbst an sich erfahren hat. Diesen Irrtum führt Simmel auf die im Zusammenhang mit Piaton von ihm erwähnte griechische Denkweise zurück, "mit ihrem festen Substanzialismus, ihrem Haften an der plastischen Formsicherheit" (ebd.: 9), dem es entsprach, "daß nur 'Gleiches durch Gleiches' erkannt werde. Uns aber erscheint dies als ein naiv mechanistisches Dogma" (ebd.). Simmel appelliert an seine Leser, von denen er erwartet, daß ein jeder von ihnen die Erfahrung gemacht hat, Vorgänge zweifelsfrei verstehen zu können, obschon er sie selbst nie durchlebt hat. So wird der Zugang zum Du identisch mit dem Zugang zur objektiven Welt, die uns ohne die Fähigkeit des Verstehens verschlossen bliebe. Zwar hatte Simmel von der "Beziehung eines Geistes zu einem andern" (ebd.: 3) geschrieben, doch mehr noch scheint er die Wechselwirkung einer Seele mit einer anderen vor Augen zu sehen: "Das beseelte Du ist einerseits unser einziger Pair im Kosmos, das einzige Wesen, mit dem wir uns gegenseitig verstehen und als 'Eines' fühlen können wie mit nichts anderem, so daß wir die sonstige Natur, wo wir Einheit mit ihr zu fühlen meinen, in die Kategorie des Du einstellen, und Franziskus deshalb die tierischen und die unbeseelten Wesen als Bruder anredet" (ebd.: 12). Die Kategorie der Seele enthält bei Simmel die Qualität der Einheit, der harmonischen Verbundenheit aller Elemente weit ausdrücklicher als das beim Geist der Fall ist. Der Vorgang des Verstehens läßt nach dem Muster der eigenen Seele in der Objektwelt Einheit entstehen und macht die Einzelheiten in ihrer Verbundenheit verstehbar.
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Daher kann man das Vorgehen des Verstehens als Methode beschreiben, indem man jenes Du beschreibt, als das man die Objektwelt anspricht "Das Du und das Verstehen ist eben dasselbe, gleichsam einmal als Substanz und einmal als Funktion ausgedrückt - ein Urphänomen des menschlichen Geistes, wie das Sehen und das Hören, das Denken und das Fühlen, oder wie die Objektivität überhaupt, wie Raum und Zeit, wie das Ich; es ist die transzendentale Grundlage dafür, daß der Mensch ein 'zoon politikon' ist" (ebd.: 13). George Herbert Mead setzt an die Stelle von dem Du Simmeis den Begriff der Perspektive. (Mead, 1927). Damit verdeutlicht er dessen Grundgedanken, nach dem das Du als hypothetisches Konstrukt in die Methode des Verstehens eingeführt werden sollte. Ein Sozialwissenschaftler, der sich vor eine Verstehensaufgabe gestellt sieht, simuliert oder konstruiert ein hypothetisches Du, betrachtet dann sein Forschungsfeld aus der Sicht (oder Perspektive) dieses Du, und macht durch Mitteilung des gewählten Du seine Vorgehensweise nachprüfbar. Die Kritik an seiner Arbeit kann sich auf die Fragen beziehen: a) War die Wahl der Perspektive dem Gegenstand angemessen? b) Wurde die gedankliche Konstruktion des verstandenen Objekts so vorgenommen, wie es sich aus der gewählten Perspektive ergibt? Dieser Ansatz hat in der Tradition der VS weitergewirkt. Der Weg seiner Ausarbeitung und Konkretisierung läßt sich verfolgen durch die Werke von Mead, Charles Horton Cooley, Max Weber, Anselm Strauss, Tamotsu Shibutani und Erving Goffman (Helle, 1985: 16-19).
3. Unterscheidung von Erkenntnisgrund und Realgrund Das methodische Postulat des Verstehens ist nicht eine Laune Simmeis, der er in einer einzelnen Veröffentlichung nachgibt, um sie dann wieder zu vergessen. Die Zusammenhänge wechseln, die Vielfalt der Themen ist verblüffend, doch die erkenntnistheoretischen Grundgedanken werden durchgehalten. "Zu allem historischen Verständnis gehört eine Biegsamkeit der Seele, eine Fähigkeit, sich in die von dem eigenen Zustand abweichendsten seelischen Verfassungen hineinzufühlen und sie in sich nachzuformen - denn alle Geschichte, mag sie noch so sehr von Sichtbarkeiten handeln, hat Sinn und Verstandenwerden nur als Geschichte zum Grunde liegender Interessen, Gefühle, Strebungen: selbst der historische Materialismus ist nichts als eine psychologische Hypothese" (Simmel, 1907: 522). Diese erstaunliche Bemerkung, die in einem kurzen angehängten Satz den historischen Materialismus kennzeichnet, konnte Simmel so nicht stehenlassen. Deshalb fügt er in die zweite Auflage der Probleme der Geschichtsphilosophie ein eigenes Kapitel ein, in dem er den historischen Materialismus ausführlich untersucht. Er will aber keine politische oder auch nur allgemein sozialwissenschaftliche Würdigung dieses Ansatzes leisten, sondern weist darauf hin, bei seinem kritischen Kommentar handele es sich "ausschließlich um die erkenntnistheo-
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retische Struktur der Lehre, um die Voraussetzungen, die aus den verschiedenen Schichten der Erkenntnismittel in ihr zusammenwirken" (Simmel, 1923: 208). Für Simmel steht fest, daß der Hinweis auf die materiellen Bedürfnisse des Menschen ungeeignet ist, gerade die feinen Differenzierungen und die vielen Unterschiede menschlicher Kultur zu erklären, auf deren wissenschaftliche Erfassung es doch ankommt. Die Variationen menschlicher Kultur können gerade nicht auf der Grundlage ihrer übereinstimmenden Abhängigkeit von dem ökonomischen Interesse verstanden werden, das Simmel mit dem "Dampf in der Maschine" vergleicht, sondern von den subtil abgestuften Verschiedenheiten der seelischen Impulse, die, würde man sie ernsthaft und ausdrücklich berücksichtigen, aus dem historischen Materialismus eine psychologische Typologie werden ließen. "Das ist der erste von den mancherlei Punkten, derentwegen der historische Materialismus für das Grundproblem dieser Blätter, die Überwindung des historischen Realismus, von besonderer Bedeutung ist. Gerade er behauptet, die unmittelbarste Reproduktion der Wirklichkeit zu sein, und gerade an ihm läßt sich schrittweise die Formung des bloß Gegebenen nach den theoretischen und übertheoretischen Ansprüchen und Voraussetzungen der autonomen Geistigkeit erweisen" (Simmel, 1923: 209). Hier greift Simmel das Thema 'Formung als erkenntnistheoretischer Vorgang' wieder auf. Der historische Materialismus, den Simmel als ein System von geistvollen, fruchtbaren heuristischen Instrumenten anerkennen will, erhebt den abwegigen Anspruch, Abbildung der Wirklichkeit zu sein. Wie weit die Übereinstimmung zwischen Simmel und Max Weber in diesem Punkt geht, ergibt sich aus Webers Formulierung: "Daher sei hier nur konstatiert, daß natürlich alle spezifisch-marxistischen 'Gesetze' und Entwicklungskonstruktionen - soweit sie theoretisch fehlerfrei sind - idealtypischen Charakter haben. Die eminente, ja einzigartige heuristische Bedeutung dieser Idealtypen, wenn man sie zur Vergleichung der Wirklichkeit mit ihnen benutzt und ebenso ihre Gefährlichkeit, sobald sie als empirisch geltende oder gar als reale (d.h. in Wahrheit metaphysische) 'wirkende Kräfte' 'Tendenzen' usw. vorgestellt werden, kennt jeder, der je mit marxistischen Begriffen gearbeitet hat" (Weber, 1951: 205). Als kritische Reaktion auf den abwegigen Anspruch, die Wirklichkeit abbilden zu können, weist Simmel dem historischen Materialismus nach, eine Theorie zu sein, die sich selbst offensichtlich falsch einschätzt: Kaum ein anderer Ansatz zeigt mit solcher Deutlichkeit den Vorgang, in dem die schrittweise gedankliche Formung des bloß Gegebenen vollzogen wird, in dem ein Bild der Wirklichkeit im Verlaufe theoretischer Bemühung erst entsteht, in dem ein Porträt, das einseitig - polemisch könnte man sagen: als Karikatur der Wirklichkeit - geschaffen wird, durch die Art der theoretischen Vorgehensweise erst Gestalt gewinnt. Me-
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thodisch ist deshalb die Leistung des historischen Materialismus nicht akzeptabel, seine Vertreter wissen im Grunde nicht, was sie tun; dennoch gesteht Simmel ihnen zu, Beachtenswertes zu leisten durch das Aufdecken neuer Zusammenhänge, die früher zu wenig gesehen wurden. Simmel benutzt zum Vergleich mit der Komplexität der sozialen Wirklichkeit das Bild von einem Perserteppich und sagt, die Wirklichkeit, wenn man sie in dieser Metapher beschreiben wollte, ist dem orientalischen Muster aus vielerlei Fäden vergleichbar, von denen man manche an der Oberfläche nicht sieht, weil sie verborgen im Innern des Geflechts verlaufen und erst an anderer Stelle wieder zum Vorschein kommen. Der Historiker oder Sozialwissenschaftler geht gleichsam mit einem Messer an den Teppich heran, nimmt einen Schnitt vor und deckt so die Fäden auf, die verborgen am Grunde des Ganzen liegen und das Geflecht zusammenhalten. Man könnte, so meint Simmel, die Geschichte der Menschheit als Geschichte der Entwicklung der Wirtschaft schreiben und zu den Phasen der Entwicklung der Wirtschaft andere bunte Fäden aus dem Teppichgeflecht in Parallele setzen, um so aufzuzeigen, wo die Verknotungen der verschiedenen getrennten Stränge vorgenommen worden sind. Damit skizziert er ein Forschungsprogramm, das Max Weber in seiner "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" für die Frage der wechselseitigen Verknüpfung zwischen ökonomischem und religiösem Strang der Geschichte in Angriff genommen hat. Wenn die Entscheidung für eine Priorität des Wirtschaftlichen in der Absicht getroffen wird, dadurch bessere Erkenntnischancen für die Forschung zu eröffnen, dann ist das eine Vorgehensweise, gegen die Simmel nichts einzuwenden hat. Eine solche geschichtswissenschaftliche oder sozialwissenschaftliche Methode würde sich rechtfertigen müssen und können mit der Eignung des Ansatzes zur Lösung der gestellten Aufgaben. Wenn dagegen behauptet wird, die Hervorhebung des wirtschaftlichen Bereichs geschehe nicht zur Schaffung eines heuristischen Erkenntnisinstruments, sondern weil in der Realität die Wirtschaft das Fundament aller übrigen Vorgänge tatsächlich sei, dann ist der Punkt erreicht, an dem Simmel dem historischen Materialismus nicht mehr folgen kann, sondern dessen methodischen Ansatz für falsch erklärt. Simmel bezeichnet es als einen historischen Irrtum ersten Grades, daß die Vertreter des historischen Materialismus 'irrigerweise' der Meinung sind, sie zeichneten die Wirklichkeit naturgetreu nach, so wie sie aus sich selbst heraus sich ereignet, und sie benutzten nicht ein heuristisches Instrument, sondern legten den Realgrund des Geschichtsverlaufs selbst frei, wenn sie den Hunger des Menschen zum Motor sozialen Handelns erklären. Die Verwechslung von heuristischem Prinzip und Realgrund hat in der Geschichte menschlicher Deutung des Seins eine alte Tradition. Schon der Schöpfungsbericht der Bibel ist noch
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bis in unsere Tage hinein als Abspiegelung eines wirklichen Geschehens gedeutet worden. Erst seit dem Siegeszug des Darwinismus hat sich allmählich in christlichen Kreisen die Haltung immer mehr durchgesetzt, in dem biblischen Schöpfungsbericht ein Gleichnis, ein heuristisches Instrument zur Deutung des Geschehens im Umkreis der Uranfänge der Menschheit zu sehen. Wo eine Setzung nicht als Erkenntnisinstrument, sondern mit dem Anspruch erfolgt, so sei die Wirklichkeit nun einmal, unabhängig davon, welches Bild von ihr wir uns formen, liegt ein dogmatisches Verfahren vor. Eine Rechtfertigung ist dann nur durch Rückgriff auf irgendeine Metaphysik denkbar. "Mit jenem Bilde des geschichtlichen Lebens als eines aus vielen, an sich koordinierten Fäden sich fortwährend zusammenspinnenden Gewebes ist der Materialismus freilich nicht einverstanden. Für ihn ist vielmehr die Wirtschaft die dauernde, in der Fundamentalebene der Geschichte selbstgenügsam sich entwickelnde Bedingung aller anderen Entwicklungen, die Unterströmung, die nicht mit anderen alterniert, sondern diese an jedem Punkte ihres Verlaufs trägt, gleichsam das Ding-ansich zu den übrigen Erscheinungen der Geschichte. Nur unter den Bedingungen dieser Struktur ist der historische Materialismus als konstitutives Prinzip möglich. Allein gerade sie fuhrt zu einer Schwierigkeit des historischen Bildes, die sich innerhalb der materialistischen Theorie als Metaphysik zeigt" (Simmel, 1923: 214). Der Hinweis auf Metaphysik deutet eben dies an: Es werden empirisch nicht greifbare Vorstellungsinhalte zur Deutung der Wirklichkeit herangezogen. Gegenstände metaphysischen Bemühens sind die Fragen nach dem Sein des Menschen überhaupt, nach dem Wesen der Materie, dem Wesen des Lebens und der menschlichen Geistigkeit. Bei dem religiös eingestellten Menschen fuhrt das früher oder später zu der Frage nach Gott, bei dem areligiösen Menschen nach analogen, nicht-personalen Prinzipien. Simmel hat nicht das Geringste dagegen einzuwenden, daß jemand sich bei dem Bemühen um Verstehen metaphysischer Hilfsmittel bedient. Es ist ihm nur unerträglich, wenn, wie er meint, im Zusammenhang des historischen Materialismus Metaphysik auftritt, die nicht als solche zugestanden wird, sondern sich als empirisch fundierte Theorie gebärdet. "Wenn es nämlich richtig ist, daß die Entwicklung von Sitte und Recht, Religion und Literatur u s f. der Kurve der wirtschaftlichen Entwicklung folgen, ohne diese selbst im wesentlichen zu beeinflussen - so sehe ich nicht recht, wodurch denn die Wandlungen des Wirtschaftslebens selbst Zustandekommen" (ebd.: 214). Simmel illustriert noch einmal seine Kritik: Im historischen Materialismus wird einerseits der Anspruch formuliert, beweisen zu können, daß aller historischer Wandel vom Bereich der Wirtschaft ausgehe, daß die Wirtschaft das Movens der Geschichte, die Energie der Kultur sei, die den Wandel allein bewirkt. Dies fuhrt selbstverständlich zu der Frage, warum sich dann die Wirtschaft selbst wandle. Dazu sagt Marx, es komme zu einem Widerspruch zwi-
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sehen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen. Es muß also nicht nur zu einem Widerspruch zwischen Wirtschaft und den übrigen Bereichen von Kultur und Gesellschaft kommen, sondern zu einem Widerspruch innerhalb der Wirtschaft selbst. Simmel fragt nun, wie sich die Entstehung dieses wirtschaftsimmanenten Widerspruchs verständlich machen ließe. Er meint, daß der Bereich der Wirtschaft außerwirtschaftlichen Einflüssen unterliege, z.B. geistigen, kulturellen Einflüssen, die in die Wirtschaft hineinwirken, wie Max Weber später ausfuhrlich zeigen wird. Damit entfallt aber der marxistische Anspruch, der wirtschaftliche Bereich allein sei Quelle sozialen Wandels. Worauf es hier ankommt, ist für Simmel nicht polemische Kritik, sondern der Ertrag, den diese realistische Geschichtstheorie des historischen Materialismus für Simmel dazu leisten kann, die Geschichtstheorie des Realismus generell zu überwinden. Am historischen Materialismus zeigen sich die methodischen Schwächen in aller Deutlichkeit, die jeder Form des methodischen Realismus innewohnen. Man kann am Beispiel des historischen Materialismus demonstrieren, wie sich hinterrücks verkappte Metaphysik in das methodische Verfahren einschleicht. Eine Theorie, die im Bereich von Kultur und Gesellschaft mit dem Anspruch auftritt, die Wirklichkeit so nachzuzeichnen, wie sie tatsächlich funktioniert, verdient äußerstes Mißtrauen, weil ein nicht eingestandener metaphysischer Gehalt eines solchen Ansatzes unterstellt werden muß. Die Wirklichkeit ist so kompliziert und so vieldimensional, daß wir nach Simmeis Überzeugung gänzlich unfähig sind, sie in unserer Sprache unverändert abzubilden. Was uns aber möglich ist, ist die Herstellung eines heuristischen Instrumentes durch konstruierende Einseitigkeit. Das tun die Vertreter des historischen Materialismus auch, und Simmel hält dies durchaus für verdienstvoll. Daß sie es aber nicht ausdrücklich als solches erkennen und beschreiben, sondern diesen Kunstgriff mit dem irrigen Anspruch vornehmen, eine Beschreibung der Wirklichkeit zu leisten, das eben ist das Unannehmbare und Verhängnisvolle des historischen Materialismus. Simmel erinnert daran, daß auch das Nachschaffen der Wirklichkeit im Kunstwerk isolierende Abstraktion ist, und dem vergleichbar, was der Kultur- und Sozialwissenschaftler beim Umgang mit seinen Gegenständen leisten muß. In der Kunst wird ja auch eine Sinnesdimension isoliert: In der Malerei geht es nur noch um das, was das Auge aufnehmen kann. Die Wirklichkeit ist vieldimensional, angefüllt mit Geräuschen und Gerüchen. Die Malerei konzentriert sich auf die Gegenstände der optischen Wahrnehmung, und in diesem Bereich allein versucht sie, Wirklichkeit kreativ umzugestalten. Ein anderes Beispiel ist die Musik, die sich ganz auf die akustische Form der Sinneswahrnehmung beschränkt und in diesem Bereich allein Wirklichkeit kreativ nachzuschaffen versucht. So ähnlich geht es nach Simmel auch
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dem Kulturwissenschaftler, und analog ist eine Reduktion der historischen Realität auf die Dimension der Wirtschaft völlig legitim. Zur Bekämpfung jener "Illusion, die die Idee mit der Kausalität verwechselt", nennt der historische Materialismus mechanisch-naturalistische Vorgänge als "unmittelbar
wirksame
Ursachen". Er kann dabei auf die grundsätzliche Zustimmung vieler Wissenschaftler rechnen, die sich in einer geistigen Atmosphäre der Metaphysikmüdigkeit realistischen Ansätzen gegenüber aufgeschlossen zeigen. Das erleichtert es der Marx'sehen Erkenntnistheorie, unter falscher Flagge zu segeln: "Dem Gegensatz: metaphysische Idee als Triebfeder der Geschichte - singulär-natürliche Ursachen ihres singulär-natürlichen Verlaufes, schiebt der historische Materialismus den anderen unter: ideale Interessen als treibende Kräfte - materielle Interessen als treibende Kräfte der Geschichte. Die Beschränkung des entscheidenden und allein wirksamen historischen Geschehens auf die Wirtschaft entspringt also einer quaternio terminorum, dem Fehlschluß, aus der prinzipiellen Beschränkung des historischen Verständnisses auf empirisch konkrete Verursachungen sogleich die Beschränkung dieser letzteren auf eine bestimmte einzelne Interessenprovinz zu machen..." (ebd.: 225). Simmel bringt hier einen weiteren methodischen Fehler des historischen Materialismus zur Sprache. Die bisherige Gedankenfuhrung hat klargemacht, welche Bedeutung die Gegenüberstellung von metaphysischer objektiven
Wirklichkeit
Idee als Triebfeder der Geschichte einerseits und in der
konkret anwesenden Triebkräften andererseits hat. Simmel findet
diesen Gegensatz sinnvoll, hält jedoch dem historischen Materialismus vor, diesem Gegensatz einen anderen zu unterschieben, ihn sozusagen falsch etikettiert anzubieten: Nämlich die Gegenüberstellung zwischen ideellen Interessen und materiellen Interessen, d.h. ökonomischen Bedürfnissen als jeweils treibende Kräfte der Geschichte. Der historische Materialismus macht es sich nach Simmeis Auffassung dabei zunutze, daß in der Wissenschaft spätestens seit der Aufklärung die Neigung besteht, metaphysiche Zusammenhänge auszumerzen und sich für die Erkenntnis der Wirklichkeit auf deren erfahrbare Elemente zu konzentrieren. Der historische Materialismus behauptet nun, dieser Tendenz, die Metaphysik aus dem Erklärungszusammenhang wissenschaftlichen Vorgehens auszusondern, entspreche es, wenn man als Triebfeder der Geschichte nicht mehr ideelle Interessen, sondern nur noch ökonomisch materielle Interessen sehe. Leider, so bedauert Simmel, gibt es viele Leute, die das kritiklos annehmen, weil sie diese Gegenüberstellung, diesen Block von vier Begriffen (quaternio terminorum), in seiner Kompliziertheit nicht durchschauen. Darum glauben sie an die Richtigkeit des folgenden Zusammenhangs: Wenn wir Metaphysik nicht mehr wollen, sondern metaphysikfreie Wissenschaft betreiben möchten, die die Wirklichkeit aus sich heraus erklärt, dann müssen wir uns, um empirisch konsequent zu sein, auf das Studium öko-
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nomischer Interessen als Triebkräfte der Wirtschaft für die Erklärung des historischen Ablaufs beschränken. Simmel zeigt uns jedoch dies: Wenn wir unfähig sind, zu unterscheiden zwischen Metaphysik als undiskutierter Voreingenommenheit innerhalb des Prozesses wissenschaftlicher Erkenntnisgewinnung einerseits und ideellen Antrieben im Alltagshandeln, die durch religiöse oder kulturelle Ideale wirksam sind, andererseits, gehen wir in die Falle des historischen Materialismus. Daß der konkret in der Geschichte handelnde Mensch durch ein religiöses oder sonstiges kulturelles Ideal motiviert sein kann, davon allerdings ist Simmel - und wie wir sehen werden Max Weber - überzeugt.
4. Geld als sozial konstruierte Wirklichkeit Das Thema Geld beschäftigte Simmel nicht nur wegen seiner vordergründigen Bedeutung für das Funktionieren der modernen Wirtschaft. Beides, Geld und Wirtschaft werden in seiner Untersuchung zu Sonderfällen der Kultur. Die produzierenden und konsumierenden Personen vollziehen zwar Aktivitäten, die man ganz richtig als wirtschaftlich bezeichnet, doch wie sie das tun, mit welcher inneren Beteiligung, ob begeistert oder gleichgültig, ob mit Hingabe oder innerer Distanz, das entscheidet sich nicht innerhalb der Wirtschaft allein. Jeder Mensch gehört einer bestimmten Kultur oder Teilkultur an, von der er geprägt ist, die er auch anderen weitergibt Die Einbindung des einzelnen in seine Kultur führt mit großer Wahrscheinlichkeit dazu, daß er von wirtschaftlichem Handeln Vorstellungen hat, die für Menschen anderer Kulturen nicht so selbstverständlich sind wie für ihn. Auch weil der Umgang mit Geld nicht anders sinnvoll zu denken ist denn als ein Handeln zur Versorgung mit solchen Gütern, Rechten und Diensten, die positiv bewertet und darum begehrt werden, ist einleuchtend, wie eng Wirtschaft mit Kultur zusammenhängt: Mit der Einführung in einen bestimmten Typ von Kultur lernt der Mensch zu werten, und je nach seinen Wertungen handelt er im Bereich der Wirtschaft. Dabei kann niemand sein Leben auf wirtschaftliches Handeln beschränken. Die Neigung, das zu tun, müßte wohl als pathologisch bezeichnet werden. Denn die Sinnerfüllung innerhalb des Wirtschaftens gelingt erst von vitalen Interessen aus, die außerhalb der Wirtschaft verankert sind. Wenn daher im Erleben jedes wirtschaftenden Menschen außerwirtschaftliche Motive beteiligt sind, weil der betreffende z.B. den ökonomischen Erfolg erringen will für einen Familienangehörigen, den er liebt, für einen guten Bekannten, dem er imponieren will, oder gar für seinen Gott, zu dem er betet, dann liegt es nahe, das Phänomen Geld im Kontext der Kultur zu untersuchen, wie Simmel das tut.
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Im Zusammenhang mit der Rechtfertigung seines umfangreichen Projekts empfiehlt Simmel wegen der Vielfalt der Wirklichkeit eine enge Zusammenarbeit der einzelnen wissenschaftlichen Fachrichtungen; denn keine von ihnen kann allein alles ausschöpfen, was sich als Fragestellung zur Bearbeitung anbietet. Darum ist Wissenschaft für ihn nur arbeitsteilig denkbar, jede Fachrichtung kann bestenfalls einen bestimmten Aspekt herausarbeiten, für den sie speziell zuständig ist. Das gelingt aber nur um den Preis der Vernachlässigung anderer Aspekte. So entsteht in der wissenschaftlichen Arbeit erst der Gegenstand, der so, wie er uns dargestellt wird, in der Wirklichkeit ursprünglich gar nicht vorkommt. Simmel illustriert das am Beispiel des Naturaltausches: "... so ist, daß zwei Menschen ihre Produkte gegeneinander vertauschen, keineswegs nur eine nationalökonomische Tatsache; denn eine solche, d.h. eine, deren Inhalt mit ihrem nationalökonomischen Bilde erschöpft wäre, gibt es überhaupt nicht. Jener Tausch vielmehr kann ganz ebenso legitim als eine psychologische, als eine sittengeschichtliche, ja als eine ästhetische Tatsache behandelt werden" (Simmel, 1907: VII). Die Behandlung des Themas Geld, wie sie in der Nationalökonomie, in unser heutigen Sprache also der Volkswirtschaftslehre, naheliegen mag, betrachtet Simmel als eine Reduktion der Wirklichkeit auf einen engen Ausschnitt daraus. Die Wirklichkeit wird dabei nur an ihrer Oberfläche erfaßt. Simmel hat nichts dagegen, das wirtschaftliche Handeln ins Zentrum der Aufmerksamkeit zu stellen, es also auch in Bereichen, in denen es zunächst verborgen bleibt, gleichsam an die Oberfläche zu holen. "Der Sinn und Zweck des Ganzen ist nur der: von der Oberfläche des wirtschaftlichen Geschehens eine Richtlinie in die letzten Werte und Bedeutsamkeiten alles Menschlichen zu ziehen" (ebd.). Der methodische Ehrgeiz, hinter die Fassade zu blicken, die Oberfläche des Phänomens Geld als Ausdruck wirtschaftlicher Wechselwirkungen zu durchschauen und die tatsächliche Vielfalt der Thematik aufzudecken, führt zu einer Konfrontation mit der Buntheit der einzelnen Aspekte. Wenn Probleme der Kultur, wenn Einflüsse aus Politik und Religion einbezogen werden, wird das Arbeitsfeld bald unüberschaubar. Daraus ergibt sich die Frage, wie denn verhindert werden soll, daß die Einheit des Phänomens Geld in der Beschäftigung mit ihm verloren geht. Als Quelle der Einheit nennt Simmel die Sinndimension, konkreter die Ganzheit des Lebenssinns (ebd.: VIII) Die sachliche Qualität, die zum Beispiel einem Wirtschaftsgut zuerkannt wird, kann als Ergebnis naturwissenschaftlicher Analyse beschrieben werden, sie wohnt diesem Gut selbst inne wie sein Gewicht oder seine Farbe und hängt nicht davon ab, in welchem kulturellen Kontext es wirksam wird. Der Sinn dagegen wird dem Gut, wenn es einen hat, erst von außen zugeschrieben, wird ihm gleichsam wie ein Etikett aufgeklebt. Und diesen für Kultur
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allgemein so wichtigen Vorgang der Verleihung von Sinn untersucht Simmel als Bewertungsvorgang im Kontext wirtschaftlichen Handelns am Thema Geld. Dabei wird ein Prozeß besonders deutlich, dessen Relevanz weit über die Wirtschaft hinausgeht. So wird die Untersuchung des Geldes bei Simmel in der Absicht betrieben, dadurch Erkenntnisse zum Verständnis der Kultur insgesamt zu gewinnen, von der die Wirtschaft nur ein Teil ist. Im Geld und seiner Dynamik verdichtet sich das Drama der Wertung, an dem wir auf der Bühne der Kultur als Akteure mitwirken. Darum ist Simmeis "Philosophie des Geldes" zugleich eine "KulturSoziologie des Geldes". Das Geld wird zu einem Kulturgut dadurch, daß ihm zwei voneinander getrennt denkbare Ebenen zugeschrieben werden: die Ebene des natürlichen Geschehens als Dynamik der körperlichen Realität und die Ebene der Wertungen als Kulturprozeß. Beide sind allerdings unlöslich ineinander verwoben, und die Frage, wie es zu dieser Verbindung von Sache und Sinn kommt, soll zunächst untersucht werden "Man könnte die Reihen des natürlichen Geschehens mit lückenloser Vollständigkeit beschreiben, ohne daß der Wert der Dinge darin vorkäme - gerade wie die Skala unserer Wertungen ihren Sinn unabhängig davon bewahrt, wie oft und ob überhaupt ihr Inhalt auch in der Wirklichkeit vorkommt" (ebd.: 4). Charakteristisch für Simmeis Methode ist die gedankliche Trennung des Bereichs der materiellen Wirklichkeit von dem der kulturellen Werte. Objektives kann weitgehend ohne wertende Stellungnahme beschrieben werden, und das wird von einem guten Journalisten erwartet, solange er nicht audrücklich kommentiert. Andererseits sind Werte von der dinglichen Realität unabhängig, sie können daher nicht aus den Dingen selbst stammen. Sie sind vielmehr Ergebnisse von Kulturprozessen, sie sind Urteile, die Menschen über Dinge fällen und die sie den von ihnen beurteilten Gütern dann aufdefinieren. "So wächst einem Dinge auch dadurch, daß ich es wertvoll nenne, durchaus keine neue Eigenschaft zu; denn wegen der Eigenschaften, die es besitzt, wird es ja gerade erst gewertet: genau sein schon allseitig bestimmtes Sein wird in die Sphäre des Wertes erhoben" (ebd.: 5). Der Vorgang der Wertung bewirkt keine Veränderung der in den dinglichen Qualitäten des beurteilten Gegenstandes vorhandenen Eigenschaften, sondern er wird nur - so als legte man ein vorher auf dem Tisch liegendes Objekt in einen Schrank - in einen anderen Kontext eingefügt. Solange das nicht geschieht, weil ein potentiell bewertbarer Gegenstand nicht auf ein Subjekt bezogen ist, läßt sich die Beschreibung seiner wertneutralen, rein sachlich dinglichen Bedeutung denken Wenn aber im Vorfeld des Wertungsvorgangs Objekt und Subjekt zueinander in Beziehung treten, wird die wertende Stellungnahme erforderlich, und durch unvermeidlichen Wertbezug im praktischen Leben geht die neutrale Objektivität verloren. Auf der Skala zwischen höchstem und negativstem Wert sieht Simmel gleichsam in der Mitte als
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neutrale Übergangsstufe die Möglichkeit der Gleichgültigkeit, die aber keineswegs jenseits des unvermeidlichen Wertungsprozesses steht; "denn die Gleichgültigkeit ist ein Ablehnen der Wertung, das sehr positiven Wesens sein kann, in ihrem Hintergrund steht immer die Möglichkeit des Interesses, von der nur gerade kein Gebrauch gemacht wird" (ebd.: 5). Das Subjekt kann die Dinge, auf die es im Moment nicht angewiesen ist, ignorieren. Sie sind dann so etwas wie ein Vorrat an Objekten, auf die es sich zwar nicht aktuell beziehen muß, aber es weiß, sie sind da, und eines Tages, zu einer bestimmten Stunde kann sich sein Interesse ihnen zuwenden. Schon das Potential der Zuwendung des Interesses hat die Konsequenz, daß der Einzelne die Dinge doch indirekt in seinen Handlungskontext einbezieht und sich damit der Antwort auf die Frage nach ihrer Wertung nicht mehr entziehen kann. Die Scheidung zweier Ebenen von Wirklichkeit voneinander, einer Ebene der Objekte von einer Ebene der Subjekte, ist zwar als Gedankenexperiment möglich, als tatsächliche Gegebenheit jedoch undenkbar; denn ohne Subjekte wäre niemand da, der irgend etwas als real erleben könnte, und ohne Objekte hätten die Subjekte nichts, das ihnen als Wirklichkeit begegnen könnte. Wie tatsächlich erst im lebendigen Miteinander von Subjekten und Objekten Realität entstehen kann, so kann auch erst in diesem Miteinander gewertet werden. Simmel unterscheidet zwar Wirklichkeit und Wert als die Ergebnisse verschiedener Prozesse, doch er sieht auch übereinstimmende Voraussetzungen, die beiden zugrundeliegen. Unser Erlebnis von Wirklichkeit beruht auf einer Verkettung von Dingen. Wir behaupten, das eine sei wirklich, weil wir schon wissen, daß das andere wirklich ist und damit in Beziehung steht. Dies ist wieder nur wirklich, weil etwas anderes wirklich ist, was wieder damit in Beziehung steht. Simmel sieht so eine sehr lange Kette von Verknüpfungen durch Beziehungen, die hergestellt werden. Damit aber das Ganze als real erlebt werden kann, muß ein letztes Glied irgendwo existieren, das ursprünglich als real erlebt worden ist: Ein Mensch, der niemals das Erlebnis der Realität als vitale Gewißheit gehabt hat, muß die ganze Realität seiner Erlebniswelt in Frage stellen. Diese erkenntnistheoretische Überlegung beschreibt die Probleme, die viele Personen in der Gegenwart damit haben, religiöse Vorstellungsinhalte mit Wirklichkeit in Verbindung zu bringen. Genauso wie das Erlebnis von Realität als wirklicher Gegebenheit eine subjektive
Leistung
ist, die jeder Einzelne erbringen kann, oder die zu erbringen ihm nicht gelingen mag, genauso verhält es sich beim Wert. Er kann etwas nur dadurch als wertvoll erleben, daß er es in Beziehung setzt zu anderen werthaltigen Erlebnissen. Irgendwo kommt er dabei an ein letztes Glied, und daran muß der Mensch im Ursprung gefühlt, also erlebt haben, daß es Werte gibt. Nur weil er dort Wert erlebt hat, kann er anderen Bereichen Wert zuschreiben. "Gibt es erst einmal einen Wert, so sind die Wege seiner Verwirklichung, ist seine Weiterentwicklung
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verstandesmäßig zu begreifen, denn nun folgt sie - mindestens abschnittsweise - der Struktur der Wirklichkeitsinhalte. Daß es ihn aber gibt, ist ein Urphänomen" (ebd.: 6). In diesem Zitat erinnert das Wort "Urphänomen" daran, daß Simmel ein Anhänger der Evolutionstheorie ist. Darwins Einsichten, nach denen die von der Biologie beschriebenen Formen des Lebens im Laufe einer unvorstellbar langen Evolution auseinander hervorgegangen sind, überträgt Simmel auf die Inhalte menschlichen Denkens und auf die Kultur. So gelangt er im Wege des schrittweise sich in die Vergangenheit zurücktastenden Denkens zu der Vorstellung von einer archaischen Urform des Bewußtseins, die dadurch gekennzeichnet war, daß Wirklichkeit als objektive Gegebenheit und Wert als subjektiv-kreative Leistung noch eine Einheit bildeten. Eine solche Bewußtseinsverfassung lag - evolutionistisch gedacht - vor der Trennung von Subjekt und Objekt. Das vollzieht sich auch im Leben des Individuums im Ablauf der Sozialisationsphasen: Von dem Kleinkind unterstellen wir, daß es noch nicht die Bewußtheit von einer Aussonderung seiner Individualität als Trennung von Subjekt und Objekt aus der Fülle sinnlicher Erfahrungen erworben hat. Simmel verknüpft die Spannungsrelation zwischen Subjekt und Objekt mit der zwischen Wirklichkeit und Wert, oder: dem Gegensatz Sein - Wert wird hinzugefugt der Gegensatz Ding - Subjekt. "In welchem empirischen oder transzendentalen Sinne man auch von 'Dingen' im Unterschied vom Subjekte sprechen möge - eine 'Eigenschaft' ihrer ist der Wert in keinem Fall, sondern ein im Subjekt verbleibendes Urteil über sie" (ebd.: 8). Die Dichotomie zwischen Sein und Wert, zwischen Ding und Subjekt, behagt Simmel nicht: Sitz der Realität sind für ihn - wie wir sahen - die Relationen. In der lebendigen Wechselwirkung zwischen Dingen und Subjekt erst entsteht Wert. "Die Scheidung zwischen Subjekt und Objekt ist keine so radikale, wie die durchaus legitimierte Aufteilung ebenso der praktischen wie der wissenschaftlichen Welt über diese Kategorien glauben macht" (ebd.: 8f). Die Gegenüberstellung von Subjekt und Objekt ist ein gedanklicher Kunstgriff, und das Aufregende daran ist für Simmel eben dies: Die Subjekte sind sich dessen nicht bewußt, sie halten das, was sie als Bewußtseinsakt vorgenommen haben für eine Qualität der Objektwelt. Mit dem Wert geht es den Subjekten ebenso: sein Ursprung ist ein Urteil, das sie selbst fällen, doch sie reden sich ein, es handele sich bei dem Wert um eine Eigenschaft dieses oder jenes Dinges. Ebenso hier: Die Trennung von Subjekt und Objekt ist flir Simmel eine Gedankenleistung, die wir wiedererkennen müssen als das, was sie ihrem Ursprung nach ist: eine Kreation des menschlichen Bewußtseins. Ohne die Gestaltung von Objekten im Bewußtsein, ist es nicht möglich, überhaupt Erfahrungen zu machen: "Wie Kant einmal sagt: die Möglichkeit der Erfahrung ist die Möglichkeit der Gegenstände der Erfahrung - weil Erfahrungen machen, heißt: daß unser Bewußtsein die Sinnesempfindungen zu Gegenständen bildet - so
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ist die Möglichkeit des Begehrens die Möglichkeit der Gegenstände des Begehrens. Das so zustande gekommene Objekt, charakterisiert durch den Abstand vom Subjekt, den dessen Begehrung ebenso feststellt wie zu überwinden sucht - heißt uns ein Wert" (ebd.: 12). Mit dieser Definition von Wert schließt Simmel an die These an, die Trennung von Subjekt und Objekt sei eine Gedankenleistung Gleichsam ein Nebeneffekt dieser Trennung ist der Wert. Erfahrungen machen heißt, die Fähigkeit zur Gestaltung von Sinnesempfindungen zu Gegenständen zu haben. Das Erlebnis eines Wertes ergibt sich aus dem Bemühen des Subjekts, einen Abstand zwischen sich und dem Objekt festzustellen und zu überwinden. Damit ist dieses Objekt bewertet. Welchen Wert, welchen Sinn etwas für den Menschen hat, hängt für ihn davon ab, was er damit zu tun gedenkt, welchen Abstand zwischen dem Objekt und sich selbst er wie zu überwinden plant. Erst wenn er an der Trennung zwischen Subjekt und Objekt die Distanz als schmerzlich und die Neigung zu deren Überwindung als stark erlebt hat, nennt er den Inhalt dieses Erlebnisses "Wert". "So ist es nicht deshalb schwierig, die Dinge zu erlangen, weil sie wertvoll sind, sondern wir nennen diejenigen wertvoll, die unserer Begehrung, sie zu erlangen, Hemmnisse entgegensetzen. Indem dies Begehren sich gleichsam an ihnen bricht oder zur Stauung kommt, erwächst ihnen eine Bedeutsamkeit, zu deren Anerkennung der ungehemmte Wille sich niemals veranlaßt gesehen hätte" (ebd.: 13). Wie die Objekte nur erfahren werden können, weil das Subjekt die Fähigkeit hat, sie zu gestalten, so können auch Werte nur erfahren, und das heißt bei Simmel immer: erlebt werden, weil das Subjekt seinen Abstand zu dem Objekt wahrnimmt und sich um die Überwindung dieses Abstandes bemüht. Aufgrund der Tatsachen des konkreten Erlebens kommt es für Simmel dazu, daß nach dem Vorbild einer objektiven Wirklichkeit auch ein objektiver Wert vorgestellt, also durch die Leistung des Bewußtseins geschaffen wird. Das Bewußtsein nützt seine Fähigkeit, von sich selbst abzusehen, dazu, um die - nach Simmel zunächst gegebene Tatsache zu vertuschen, daß auch Objektivität von Werten nur das Ergebnis subjektiven Erlebens sein kann. Eine solche Wertlehre hat allerdings Folgen für die soziologische Deutung des Wirtschaftens. "Und dies geht hinunter bis zu dem ökonomischen Wertquantum, das wir einem Objekt des Tauschverkehrs zusprechen, auch wenn niemand etwa den entsprechenden Preis zu bewilligen bereit ist, ja, wenn es überhaupt unbegehrt und unverkäuflich bleibt. Auch nach dieser Richtung hin macht sich die fundamentale Fähigkeit des Geistes geltend, sich den Inhalten, die er in sich vorstellt, zugleich gegenüberzustellen, sie vorzustellen, als wären sie von diesem Vorgestelltwerden unabhängig" (ebd.: 14). Beim Geld und damit beim Werten in der Wirtschaft wird eine Auseinandersetzung mit dem quantitativen Aspekt des Wertes notwendig: Es schien zunächst so, als ob die erlebte Distanz zwischen Subjekt und Objekt das Maß des Wertes sein müsse, und als ob die Wert-
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quanten dieser als Hindernis gedachten Entfernung proportional seien. Sobald Simmel seine Werttheorie auf die Wirtschaft anwendet, modifiziert er sie und ersetzt das Konzept der Proportionalität durch die Vorstellung von einer Kurve mit U-förmigem Verlauf. "Die Distanz zwischen dem Ich und dem Gegenstand seiner Begehrung kann eine so weite werden - sei es durch die sachlichen Schwierigkeiten der Beschaffung, sei es durch exorbitante Höhe des Preises, sei es durch Bedenken sittlicher oder anderer Art, die sich dem Streben nach ihm entgegenstellen -, daß es zu gar keinem realen Willensakt kommt, sondern das Begehren entweder erlischt oder zu einem schattenhaften Wünschen wird. Der Abstand zwischen Subjekt und Objekt, mit dessen Aufwachsen der Wert, mindestens in dem wirtschaftlichen Sinne, entsteht, hat also eine untere und eine obere Grenze, so daß die Formulierung, das Maß des Wertes sei gleich dem Maße des Widerstandes, der sich der Erlangung begehrter Dinge nach Natur-, Produktions- und sozialen Chancen entgegensetze - den Sachverhalt nicht trifft" (ebd.: 20). Das ist psychologisch unmittelbar plausibel. Es ist zugleich eine Zurückweisung jener Wertlehren, die mechanistisch etwa das Quantum aufgewandter Arbeit zum Maß des Wertes machen. Zur Illustration seiner These vom U-förmigen Verlauf der Kurve, welche die Relation zwischen a) Wert und b) Widerstand gegen seine Erfüllung abbildet, weist Simmel daraufhin, das Personen, denen der Zugang zu legalem Erwerb etwa von Gold praktisch unmöglich gemacht wird, schließlich aufhören, das Edelmetall überhaupt zu begehren (ebd.). So sehr es Simmel darauf ankommt, seine Werttheorie im subjektiven Erleben zu verankern, er bleibt dabei nicht stehen. Er leitet seinen Leser weiter zu der Frage, ob es nicht objektive Werte gibt, unabhängig davon, wie es mit der subjektiven Anerkennung ihrer jeweils bestellt ist. Simmel meint, ähnlich, wie es für bestimmte Sätze gelte, daß wir sie uns als wahr vorstellen und gleichzeitig parallel dazu die Vorstellung produzieren, "daß ihre Wahrheit von diesem Vorgestelltwerden unabhängig ist - so empfinden wir Dingen, Menschen, Ereignissen gegenüber, daß sie nicht nur von uns als wertvoll empfunden werden, sondern wertvoll wären, auch wenn niemand sie schätzte" (ebd.: 13). Die Bearbeitung der Frage nach den Ursprüngen möglicher übergeordneter Werte, die von subjektiver Schätzung unabhängig sein könnten, unternimmt Simmel vor dem Hintergrund seiner Evolutionstheorie. Die Kulturgeschichte der ganzen Menschheit ist im Fühlen und Erleben des Subjekts aufgehoben. Was in grauer Vorzeit der Menschen funktionale Bedeutung gehabt hat, etwa für die Weitergabe des Lebens und die Erhaltung der Art, mag zwar in der Gegenwart seine Nützlichkeit entweder tatsächlich verloren haben, oder das Bewußtsein davon mag abhanden gekommen sein. Aber gleichwohl erkennt der Mensch nach Simmeis Meinung durchweg solche von der Evolution getragenen Interessen als bedeutsam und ob-
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jektiv wertvoll an, selbst wenn sie in der individuelle Lebenssituation nicht unmittelbar günstig wirken. Auf der Grundlage des evolutionistischen Ansatzes wird so trotz der starken Hervorhebung subjektiven Erlebens eine vom Subjekt unabhängige objektive Wirklichkeit als Komponente seiner Methode herausgestellt. "Je weiter die Nützlichkeit für die Gattung, die zuerst an den Gegenstand ein Interesse und einen Wert knüpfen ließ, zeitlich zurückliegt und als solche vergessen ist, desto reiner ist die ästhetische Freude an der bloßen Form und Anschauung des Objekts, d. h. desto mehr steht es uns mit eigener Würde gegenüber, desto mehr geben wir ihm eine Bedeutung, die nicht in seinem zufälligen subjektiven Genossenwerden aufgeht, desto mehr macht die Beziehung, in der wir die Dinge nur als Mittel für uns werten, dem Gefühle ihres selbständigen Wertes Platz" (ebd.: 28f). So berühren sich das objektiv Wertvolle und das ästhetisch Erfreuliche. Das deistische Weltbild von dem Schöpfergott als Uhrmacher, der die Welt zwar konstruiert wie eine Uhr, sie in Bewegung setzt, sie dann aber ihrem Ticken überläßt und nicht mehr in sie eingreift, gibt Simmel die Möglichkeit, zusammenfassend zu zeigen, wie bei ihm aus Theorie von den Prozessen der Bewußtseinsbildung
unmittelbar Theorie der Wirklichkeit
wird "Wie man von dem göttlichen Prinzip gesagt hat, daß es, nachdem es die Elemente der Welt mit ihren Kräften versehen habe, zurückgetreten sei und sie dem gegenseitigen Spiele dieser Kräfte überlassen habe, so daß wir nun von einer objektiven, ihren eigenen Relationen und Gesetzen folgenden Welt sprechen können; wie aber die göttliche Macht dieses Aussich-heraussetzen des Weltprozesses als das geeignetste Mittel erwählt hat, ihre Zwecke mit der Welt am vollständigsten zu erreichen: so bekleiden wir innerhalb der Wirtschaft die Dinge mit einem Wertquantum wie mit einer eigenen Qualität ihrer und überlassen sie dann den Austauschbewegungen, einem durch jene Quanten objektiv bestimmten Mechanismus, einer Gegenseitigkeit unpersönlicher Wertwirkungen - aus der sie vermehrt und intensiver genießbar in ihren Endzweck, der ihr Ausgangspunkt war: das Fühlen der Subjekte, zurückkehren" (ebd.: 2 8 f ) . Das Fühlen, das Erleben der Subjekte ist für Simmel die Quelle kultureller Wirklichkeit, wie der Schöpfergott als Ursprung der Welt gedacht wird. Das fühlende Subjekt definiert wie bei Spinoza die Wirklichkeit. Es hat die Macht, auch den Dingen der Wirtschaft einen Wert zu verleihen, sie, wie Simmel schreibt, damit zu bekleiden. Dadurch werden sie "intensiver genießbar", wenn sie ihren letzten Sinn als Endzweck darin finden, in das "Fühlen der Subjekte" zurückzukehren. Sobald die Wertzuschreibungsprozesse im Zusammenhang der Wechselwirkung zwischen den Subjekten betrachtet werden sollen, wenn also der Übergang von der psychologischen zur soziologischen Dimension des Geldes beabsichtigt ist, wendet Simmel sich dem Thema Tausch zu. Er fragt zu Beginn, wie es überhaupt zur Herausbildung eines eigenständigen
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Handlungsbereichs der gegenseitigen Hingabe und Hernähme von Gütern kommt. Wirtschaft wird dadurch möglich, daß "ein Reich von Werten" (ebd.: 30) - auf den von Simmel skizzierten Wegen der Objektivierung - soviel Selbständigkeit aus den Händen der Subjekte erhält, daß es "mehr oder weniger vollständig von seinem subjektiv-personalen Unterbau gelöst ist" (ebd). Aus der Sicht der Methode Simmeis stellt sich daher die Frage, wie das "Reich der Werte" im Kontext der Wirtschaft ein solches Maß der Objektivität erhält, und warum seine Verselbständigung soweit geht, daß dem einzelnen nur die Wahl bleibt, sich zu unterwerfen oder - mindestens theoretisch - sich von der Teilnahme am wirtschaftlichen Verkehr zu enthalten. Zur Beantwortung verweist Simmel - nach den genannten Argumenten aus der Evolutionstheorie - auf die objektivierende Wirkung des Tausches: "Den praktisch wirksamen Wert verleiht dem Gegenstand nicht sein Begehrtwerden allein, sondern das Begehrtwerden eines anderen Ihn charakterisiert nicht die Beziehung auf das empfindliche Subjekt, sondern daß es zu dieser Beziehung erst um den Preis eines Opfers gelangt, während von der anderen Seite gesehen, dieses Opfer als zu genießender Wert, jener selbst aber als Opfer erscheint. Dadurch bekommen die Objekte eine Gegenseitigkeit des Sichaufwiegens, die den Wert in ganz besonderer Weise als eine ihnen selbst objektiv innewohnende Eigenschaft erscheinen läßt" (ebd.: 31). Die Qualität, aufgrund derer der wirtschaftlich bewertete Gegenstand dem Wollen des einzelnen widersteht, und die zu einer dem Objekt "selbst objektiv innewohnende Eigenschaft" (ebd.) wird, ist wirklich, weil sie so erscheint Die Beziehung zwischen Subjekt und Objekt, von der bisher schon die Rede war, verdoppelt sich im Tausch, weil daran zwei Subjekte und zwei Objekte beteiligt sind. Dadurch ist das wirtschaftlich bewertete Objekt in eine doppelte Wertungsrelation gestellt: Aus der Perspektive seines ursprünglichen Eigentümers ist es nicht nur wertvoll wegen des Genusses, den es selbst ihm bereiten kann, sondern zusätzlich wegen des Genusses, den ein dagegen einzutauschender Gegenstand in Aussicht stellt. Wird im Zuge des Tausches der am ursprünglich besessenen Objekt erlebte Genuß aufgegeben, so nennt Simmel das Opfer. Die beteiligten Subjekte werden den Tausch nur vollziehen, wenn beide das erforderliche Opfer im Vergleich zu dem erwarteten Genuß (am neu zu erwerbenden Objekt) als geringer einschätzen. "Freilich liegt die Bedeutung, die die Dinge in und mit dem Tausch gewinnen, nie ganz isoliert neben ihrer subjektiv-unmittelbaren, über die Beziehung ursprünglich entscheidenden; vielmehr gehört beides zusammen, wie Form und Inhalt zusammengehören. Allein der objektive und oft genug auch das Bewußtsein des Einzelnen beherrschende Vorgang abstrahiert sozusagen davon, daß es Werte sind, die sein Material bilden, und gewinnt sein eigenstes Wesen an der Gleichheit derselben - ungefähr, wie die Geometrie ihre Aufgaben nur an den Größenverhältnissen der Dinge findet, ohne die Substanzen einzubeziehen, an denen allein doch jene Verhältnisse real bestehen" (ebd.: 32).
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Hier meint Simmel gleichsam den Ursprung jener Objektivität enthüllt zu haben, die aus dem Schritt hin "zu einem sachlichen, überpersönlichen Verhältnis zwischen Gegenständen" (ebd.: 30) hervorgeht. Die "subjektiv-unmittelbaren" (ebd.: 32) Bedeutungen der Dinge gehen nicht etwa spurlos verloren, sondern werden einbezogen in die objektivierte Tauschrelation, sie bleiben darin aufgehoben wie der Inhalt einer Form. Und diese Form, eben der Tausch, stellt sich für Simmel als ein Erzeugnis des Bewußtseins dar, bei dem die kreative Leistung des Bewußtseins unsichtbar bleibt, weil es von allen subjektiven Bestandteilen der Form "Tausch" abstrahiert. Freilich sieht Simmel im Tausch nicht eine Erscheinung, die nur in der Wirtschaft wichtig ist. Statt dessen hält er diese Formung des Bewußtseins, die sich als objektive Realität ausgibt, für ein allgemeines Grundphänomen der Gesellschaft: "Man muß sich hier klarmachen, daß die Mehrzahl der Beziehungen von Menschen untereinander als Tausch gelten kann; er ist die zugleich reinste und gesteigertste Wechselwirkung, die ihrerseits das menschliche Leben ausmacht, sobald es einen Stoff und Inhalt gewinnen will. Zunächst wird schon oft übersehen, wie vieles, das auf den ersten Blick eine bloß einseitig ausgeübte Wirkung ist, tatsächlich einschließt: der Redner scheint der Versammlung, der Lehrer der Klasse, der Journalist seinem Publikum gegenüber der allein Führende und Beeinflussende zu sein; tatsächlich empfindet jeder in solcher Situation die bestimmende und lenkende Rückwirkung der scheinbar bloß passiven Masse;" (ebd.: 33f). Aus der Perspektive des Wirtschaftens ergibt sich freilich ein einschneidender Unterschied zwischen dem Tausch einer Eigentumswohnung in der Stadt gegen ein kleines Haus auf dem Lande einerseits und der Unterrichtssituation im Hörsaal. In der Wirtschaft werden dingliche Gegenstände, über die nur deren rechtmäßige Eigentümer legitim verfügen dürfen, gegeneinander eingetauscht; im geistigen Austausch z.B. in der Universität werden Inhalte mitgeteilt, die jedermann gehören und die niemals im dinglichen Sinne Eigentum des Lehrenden sind. Er gibt daher in der Wechselwirkung mit seinen Studenten, etwas, das er nicht nur für sich selbst hat. Unabhängig von diesem Unterschied läßt Simmel die Einschränkung der Betrachtung auf den dinglich-materiellen Bereich generell nicht zu. Die subjektiv-unmittelbare Komponente ist für ihn als der Gefühlsreflex der jeweiligen Person beteiligt, und sie ist fraglos das höchstpersönlich eigene Element, das jeder in den Tausch einbringt, das er seinem Gegenüber mitteilt, und wofür er im Gegenzug das persönliche Engagement des anderen zurückerhält. Doch die Verschleierung der subjektiven Anteile durch das Objektivität produzierende Bewußtsein geht so weit, daß Tausch substantialisiert wird, und die Beteiligung der Personen unbedeutend erscheint. "Indem man die beiden Akte oder Zustandsänderungen, die in Wirklichkeit vor sich gehen, in den Begriff 'Tausch' zusammenfaßt, liegt die Vorstellung verlok-
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kend nahe, als wäre mit dem Tausch etwas neben oder über demjenigen geschehen, was in dem einen und in dem anderen Kontrahenten geschieht..." (ebd.: 35). "Die Gegenstände können deshalb in unsere Erfahrung eingehen, von uns erfahren werden, weil sie Vorstellungen in uns sind, und die gleiche Kraft, die die Erfahrung bildet und bestimmt, sich in der Bildung jener äußert. In demselben Sinne können wir hier sagen: die Möglichkeit der Wirtschaft ist zugleich die Möglichkeit der Gegenstände der Wirtschaft" (ebd.: 45). Marx hatte die Philosophie Hegels als esoterische Ökonomie umgedeutet. Hegels Weltgeist, der sich autonom fortentwickelt, wird bei Marx zum allmächtigen Kapital. Diesen Akt, in dem - wie Marx meint - die idealistische Philosophie als verkappte Beschreibung der Wirtschaft entlarvt wird, dreht Simmel gleichsam zurück: Simmel beschreibt die Wirtschaft als Wirkungsfeld menschlicher Einbildungskraft. Nur darum kann er Aussagen Kants zur Erkenntnistheorie in Anleitungen zum Verständnis ökonomischer Vorgänge umdeuten. Nur darum fallen für Simmel auch geistiger Austausch und der Tausch von Dingen zusammen. "Denn wenn der Materialismus erklärt: der Geist ist Materie - so lehrt die Transzendentalphilosophie: auch die Materie ist Geist" (ebd.: 158). Marx hat Hegel auf den Kopf gestellt, Simmel stellt ihn wieder auf die Füße. Simmel behandelt den Begriff 'Geld' schrittweise in vier Stufen: 1. Seine Erkenntnistheorie beantwortet die Fragen, wie Wirklichkeit erlebt werden kann. 2. Aus seiner Wirklichkeits- und Wahrheitslehre folgt seine Werttheorie. 3. Die Werttheorie fuhrt er weiter zu einer Lehre vom Tausch, und 4. daraus entwickelt er, was unter Geld zu verstehen sei. Geld dient zwar nicht nur dazu, andere Güter im Wege der Zahlung dagegen einzutauschen, sondern auch, um Werte zu transportieren und aufzubewahren. Doch seine Bedeutung als Tauschmittel steht für Simmel eindeutig im Vordergrund: "Den Wert, den das Geld als solches besitzt, hat es als Tauschmittel erworben; wo es also nichts zu tauschen gibt, hat es auch keinen Wert Denn ersichtlich steht seine Bedeutung als Aufbewahrungs- und Transportmittel nicht in derselben Linie, sondern ist ein Derivat seiner Tauschfunktion" (ebd.: 134). Das soziale Prinzip der Kultur, aufgrund dessen aus Wechselwirkungen der Subjekte Wertungen der Objekte hervorgehen, gewinnt im Geld greifbare Gestalt. Weil Menschen Sinneseindrücke zu Gegenständen gestalten, erleben sie Wirklichkeit; weil sie sich zu Objekten auf Distanz begeben, erfahren sie in dem Wunsch nach Überwindung der Distanz den Wert eines Gegenstandes; weil sie im Tausch beim Aushandeln die Überwindungshofihung der beteiligten Personen gegeneinander abwägen, werden ihnen aus dem Vergleich der getauschten
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Güter deren Wertrelationen bewußt. Abgelöst von den Gütern, aus deren Vergleich sie stammen, erscheinen die Relationen dann als selbständiges Gut: der Mensch gibt ihnen die Form des Geldes. "Kurz, das Geld ist Ausdruck und Mittel der Beziehung, des Aufeinanderangewiesenseins der Menschen, ihrer Relativität, die die Befriedigung der Wünsche des einen immer vom anderen wechselseitig abhängen läßt; es findet also da keinen Platz, wo gar keine Relativität stattfindet - sei es, weil man von den Menschen überhaupt nichts mehr begehrt, sei es, weil man in absoluter Höhe über ihnen - also gleichsam in keiner Relation zu ihnen - steht und die Befriedigung jedes Begehrens ohne Gegenleistung erlangen kann" (ebd.: 134). Geld ist die allgemeinste Form sozialer Beziehung. Das mit der sozialen Konstruktion der Wirklichkeit beschäftigte Bewußtsein weist dem Geld seinen Dingcharakter mit solcher Entschiedenheit zu, daß im Alltagsdenken vergessen wird, was es seinem Ursprung und seiner Wirkung nach ist: Ausdruck des gegenseitigen Aufeinanderangewiesenseins. Wo die Beziehung zwischen Menschen nicht sozial ist, wo sie nicht in Wechselwirkung zueinander, wo sie nicht in Tauschverhältnisse eintreten, sondern einander wie Dinge behandeln, da erlischt die Bedeutung des Geldes, da verliert es seinen Sinn. "Das Geld, ein ausschließlich soziologisches, in Beschränkung auf ein Individuum ganz sinnloses Gebilde, kann irgend eine Veränderung gegen einen gegebenen Status nur als Veränderung der Verhältnisse der Individuen untereinander bewirken. Die gesteigerte Lebhaftigkeit und Intensität des Verkehrs, die einer Geldplethora folgt, geht darauf zurück, daß mit ihr die Sehnsucht der Individuen nach mehr Geld gesteigert wird" (ebd.: 143). Diese Feststellung gehört in die verstehende Soziologie des Geldes. Zur Deutung des Geldes als Paradigma der Gegenstände und Prozesse der Kultur entschließt Simmel sich, den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt seiner Geldtheorie noch einmal vorzufuhren. Wert, dieses im unmittelbaren Empfinden verankerte allgemeine Kulturphänomen, findet seine spezielle Ausprägung im ökonomischen Wert, weil die begehrten Gegenstände als gegeneinander tauschbar erlebt werden. Dazu muß kein Tausch vollzogen sein; schon das Abwägen unter dem Gesichtspunkt der potentiellen Eignung dazu genügt, um ein Bewußtsein von der Wertrelation der Güter zu schaffen. War der Wert für Simmel nicht eine Eigenschaft der Dinge, sondern ein Urteil über sie, so ist das Geld Ausdruck der Relationen solcher Urteile: Im Geld schafft sich das Bewußtsein ein Maß für das relative Gewicht der Urteile. Insofern ist Geld Paradigma der Kultur. In ihm treffen die Welt der Werte und die konkreten Dinge aufeinander. Simmel vertrat die Ansicht, Piaton habe das Reich der Ideen als Instrument der Erkenntnisgewinnung gedanklich konstruiert, sich selbst aber über diesen Konstruktionsvorgang ge-
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täuscht und irrtümlich geglaubt, er habe eine objektiv gegebene Realität nur aufgefunden. Diese Piatonkritik als Denkfigur, überträgt Simmel auf seine Kritik der Substanztheorie des Geldes "Wenn das Geld nun wirklich nichts wäre, als der Ausdruck für den Wert der Dinge außer ihm, so würde es sich zu diesen verhalten wie die Idee, die sich Plato ja auch substanziell, als metaphysisches Wesen vorstellt, zu der empirischen Wirklichkeit. Seine Bewegungen: Ausgleichungen, Häufungen, Abflüsse - würden unmittelbar die Wertverhältnisse der Dinge darstellen. Die Welt der Werte, die über der wirklichen Welt, scheinbar zusammenhangslos (sie!) und doch unbedingt beherrschend, schwebt, würde im Geld die 'reine Form' ihrer Darstellung gefunden haben. Und wie Plato die Wirklichkeit, aus deren Beobachtung und Sublimierung die Ideen zustande gekommen sind, dann doch als eine bloße Abspiegelung eben dieser deutet, so erscheinen die wirtschaftlichen Verhältnisse, Abstufungen und Fluktuationen der konkreten Dinge als Derivat ihres eigenen Derivates: nämlich als Vertretungen und Schatten der Bedeutung, die ihren Geldäquivalenten zukommt" (ebd.: 136). Seine Piatonkritik wendet Simmel auf die Geldthematik an, weil er zeigen will, daß es sich bei der Bedeutung des Geldes nicht um seinen substantiellen Wert handelt, sondern um seine Eignung als Form einer Beziehung. "Dennoch kann es einen Rest von substanziellem Werte nicht abstreifen..." (ebd.) Das gesteht Simmel zu, nur ist das eben ein Randphänomen. Entscheidend ist nicht die gleichsam körperliche Qualität des Geldes, sondern seine Wirkung als Gestalt sozialer Wechselwirkungen, in denen Wertrelationen ihren Ausdruck finden. Doch in der Geschichte der Geldtheorien hat die einseitige Betonung des Substanzwertes des Geldes als Edelmetall eine beherrschende Rolle gespielt. Von dort aus ergaben sich die ethischen Vorstellungen über Zinsnehmen und Wucher: "Die ganzen Bedenken des Mittelalters gegen das Zinsennehmen gehen darauf zurück, daß das Geld viel starrer, substanzieller, den Dingen geschlossener gegenüberstehend erschien und war, als in der Neuzeit, in der es vielmehr dynamisch, fließend, sich anschmiegend wirkt und erscheint." (ebd.: 152). Simmeis erkenntnistheoretischer Ansatz erlaubt ihm auch, den Weg der historischen Entwicklung des Geldes zu deuten: Piaton hatte das Reich der Ideen für metaphysische Realität gehalten, Simmel erkennt es als gedankliche Konstruktion. Das ist Ausdruck des Fortschritts der Philosophie. Und nun analog: Gesellschaften der Vergangenheit haben im Geld nur dessen Substanzwert gesehen, Simmel deckt dessen symbolische und soziale Funktion auf. Das ist der Fortschritt in der Geldtheorie, den die verstehende Soziologie möglich macht. Geld als Substanz kann nur einer besitzen, behalten oder verschenken. Geld als Relation verwirklicht sich gerade erst an zwei Subjekten, deren Beziehung sich darin ausdrückt. Das Zinsverbot mußte gegenüber dem Kreditgeber als Entmutigung wirken. Simmeis Geldtheorie illustriert dagegen die entfaltete Kraft zu der das Geld gerade gelangt aufgrund einer
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"Doppelexistenz des ausgeliehenen Geldes" (ebd.: 155). Es kann effizient sein einmal in der ideellen Form als Forderung des Gläubigers an den Schuldner und außerdem "als Realität in der Hand des Schuldners" (ebd.: 155). Daher ist es bei beiden aktiv: "So wird durch das Ausleihen des Geldes seine Wirksamkeit in zwei Teile zerlegt und damit der Ertrag seiner wirtschaftlichen Energie außerordentlich gesteigert. Aber die intellektuelle Abstraktion, die diese Zerlegung bewirkt, kann ihre Erfolge eben nur unter einer so gefesteten (sie!) und verfeinerten Gesellschaftsverfassung üben, daß man in ihr überhaupt mit relativer Sicherheit Geld ausleihen und wirtschaftliche Aktionen auf jene Teilfunktionen seiner gründen kann" (ebd.: 156). Vor allem die Rechtsordnung muß ausreichend zuverlässig sein, um dem Geldund Kapitalverkehr langfristige Sicherheit zu geben, ohne die kein Kreditwesen bestehen kann. Das Recht ist sowenig wie die Wirtschaft von dem kulturellen Untergrund unabhängig. Darum läßt sich sozialer Wandel als Evolution der Kultur und Gesellschaft an der Entwicklung des Wirtschaftens studieren. Dieses Anliegen hat Max Weber sowohl in seinen sozialhistorischen als auch in seinen religionssoziologischen Arbeiten verfolgt. Charakteristisch ist stets bei Simmel die Fähigkeit und Bereitschaft, historische Prozesse in ihrer Ambivalenz zu sehen. Geld gestattet die Entstehung und Durchsetzung neuer Formen des menschlichen Miteinanders in der Gesellschaft. Das bringt Befreiung und Erweiterung des Handlungsspielraums, zugleich jedoch auch Entlassung aus fürsorglicher Betreuung. Es bringt das, was die marxistische Kapitalismuskritik und der späte Simmel Entfremdung nennen. Simmel vermeidet sowohl naive Fortschrittsgläubigkeit als auch polemische Kritik der Geldwirtschaft. Er arbeitet die Chancen heraus, die die von ihm aufgezeigte Entwicklung für die Entfaltung der Persönlichkeit des Individuums bietet. "Alle höhere wirtschaftliche Technik beruht auf einer Verselbständigung der ökonomischen Prozesse: sie werden von der Unmittelbarkeit der personalen Interessen gelöst, sie funktionieren, als ob sie Selbstzwecke wären, ihr mechanischer Ablauf wird immer weniger von den Unregelmäßigkeiten und Unberechenbarkeiten des personalen Elementes gekreuzt" (ebd.: 358f). Simmeis Menschenbild wird sichtbar: Das Personale ist eben auch ambivalent, es enthält Elemente der Unzuverlässigkeit, die eingegrenzt werden müssen, wenn eine rationale Geldwirtschaft fortentwickelt werden soll: "Und das eben ist ausschließlich durch das Geld möglich. Erst wenn der Ertrag des Betriebes eine Form annimmt, in der er ohne weiteres an jeden Punkt übertragbar ist, gewährt er, durch die Entfernung zwischen Besitz und Besitzer, beiden jenes hohe Maß von Unabhängigkeit, sozusagen von Eigenbewegung: dem einen die Möglichkeit, ausschließlich nach den inneren Anforderungen der Sache betrieben zu werden, dem anderen die Möglichkeit, sein Leben ohne Rücksicht auf die spezifischen Anforderungen seines Besitzes einzurichten" (ebd.: 359).
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Entfremdung als Entstehung von Distanz ist bei Simmel offensichtlich nicht eine nur negativ zu wertende Tendenz, sondern eben auch ambivalent: Besitz und Besitzer werden voneinander ablösbar, sie sind unter den Bedingungen der Geldwirtschaft nicht mehr auf Gedeih und Verderb aneinander gekettet. Und ambivalent ist nach Simmel weiterhin die Entwicklung der Stellung der Industriearbeiter und ihrer Vorgesetzten zueinander. Die Substitution von hierarchischen Anordnungsbefugnissen durch technisch vorgegebene Sachgesetzlichkeiten, die Hans Paul Bahrdt, Heinrich Popitz, Ernst August Jüres und Hanno Kesting 1964 an den Verhältnissen in der deutschen Hüttenindustrie nachgewiesen haben, hat Simmel theoretisch schon zu einer Zeit formuliert, als sie noch keineswegs evident war: "Die ökonomische Organisation der früheren Jahrhunderte, jetzt die zurückgebliebenen Formen derselben, Handwerk und Kleinhandel, ruhen auf dem Verhältnis persönlicher Unterordnung des Gesellen unter den Meister, des Angestellten unter den Ladenbesitzer usw. Auf diesen Stufen vollzieht sich die Wirtschaft durch ein Zusammenwirken von Faktoren, das durchaus persönlichunmittelbarer Natur ist und in jedem einzelnen Fall im Geiste der leitenden Persönlichkeit und mit Unterordnung der übrigen unter deren Subjektivität verläuft. Dieses Verhältnis nimmt einen anderen Charakter an durch das steigende Übergewicht der objektiven und technischen Elemente über die personalen. Der Leiter der Produktion und der niedrigere Arbeiter, der Direktor und der Verkäufer im großen Magazin, sind nun gleichmäßig einem objektiven Zweck Untertan, und erst innerhalb dieses gemeinsamen Verhältnisses besteht die Unterordnung fort als technische Notwendigkeit, in der die Anforderungen der Sache, der Produktion als eines objektiven Prozesses, zum Ausdruck kommen" (ebd.: 361). Simmel hat in seiner "Philosophie des Geldes" von 1900 eine genauere Prognose der sozialen Wandlungstendenzen infolge des Fortschritts der modernen Wirtschaft und Technik gegeben als viele Kulturpessimisten. Bei aller Offenheit für die Ambivalenz geldwirtschaftlicher Tendenzen sieht Simmel auch die Chancen, die darin liegen, daß die Versachlichung des Lohnarbeitsverhältnisses die Entfaltung von Individualität und Persönlichkeitswerten begünstigen kann: "Sobald der Arbeitsvertrag aber, die Geldwirtschaftlichkeit in ihre letzten Konsequenzen verfolgend, als Kauf der Ware Arbeit auftritt, so handelt es sich um die Hingabe einer völlig objektiven Leistung, die, wie man es formuliert hat, als Faktor in den kooperativen Prozeß eingestellt wird und in diesem sich mit der Leistung des Unternehmers, ihr gewissermaßen koordiniert, zusammenfindet. Das gewachsene Selbstgefühl des modernen Arbeiters muß damit zusammenhängen: er empfindet sich nicht mehr als Person untertänig, sondern gibt nur eine genau festgestellte - und zwar auf Grund des Geldäquivalentes so genau festgestellte - Leistung hin, die die Persönlichkeit als solche gerade um so mehr freiläßt, je sachlicher, unpersönlicher, technischer sie selbst und der von ihr getragene Betrieb ist" (ebd.: 362).
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5. Verstehende Religionssoziologie Für Simmel stellt die menschliche Kultur einschließlich der Religion etwas dar, das sich entwickelt. Aufgrund dieser Ansicht unternimmt er es, den höchsten Wert in dieser Entwicklung zu suchen. Über das Studium des Kulturwandels schreibt er: "Alle solche hohen und reinen Gestaltungen treten zunächst gleichsam versuchsweise, keimhaft, in Verwebung mit anderen Formen und Inhalten auf; aber in diesen unausgebildeten Stadien müssen wir sie aufsuchen, um sie in ihren höchsten und selbständigen zu begreifen" (Simmel, 1989: 23 u. 37). Dieser Empfehlung folgt Simmel in seinen Arbeiten zur Religion. In seinem Aufsatz Zur Soziologie der Religion vom 1898 betont er die Unbestimmbarkeit der Religion, die ja aus einer Vielheit psychologischer Motive entspringt (vom Gespensterglauben bis zu metaphysischer Spekulation). "Darum wird man sich der Lösung des Problems nur so nähern, daß man alle Impulse, Ideen, Verhältnisse, die auf diesem Gebiet wirksam werden, inventarisiert, aber mit dem ausdrücklichen Verzicht darauf, die Bedeutung einzelner Motive über die Fälle ihrer Festgestelltheit hinaus zu allgemeinen Gesetzen des religiösen Wesens zu erweitern." (ebd.: 36) Weder der subjektive Gefühlswert noch der objektive Wahrheitswert der religiösen Vorstellungen werden von Simmel berührt, da diese Bereiche jenseits der von ihm beabsichtigten Untersuchung liegen. Simmel sieht in den sozialen Beziehungen zwischen Menschen den Ausgangspunkt für Religion als diesseitig empirisches Phänomen. Die Hinneigung eines Kindes zu seinen Eltern, eines Patrioten zu seinem Vaterland, eines begeisterten Bildungsbürgers zur Menschheit insgesamt hat häufig jene spezifisch nicht-rationale Qualität, die man religiös nennen kann. Simmel identifiziert diese erlebte Erfahrung der Person als Religiosität.
Die objektivierten
Ergebnisse religiöser Wechselwirkung nennt er Religion, ähnlich wie die fließenden Beziehungen zwischen den Teilnehmern am politischen Leben sich zu dem objektivieren, was wir Staat nennen. Wenn erst einmal objektive Religion zu existieren begonnen hat, beeinflußt sie ihrerseits die Formen der Religiosität im Erleben der Person (ebd.: 48). Als Evolutionist, der das Werden von Kultur möglichst weit in Richtung auf seine Ursprünge zurückverfolgen möchte, fragt Simmel: wo findet man die Religion vor der Religion? Diese Frage stellt sich, da sich für ihn religiöse Gefühle und Impulse auch in vielerlei anderen Verbindungen äußern, die dann schließlich in der Religion als selbständigem Lebensinhalt gipfeln. "Sitte, Recht, freie Sittlichkeit des Einzelnen sind verschiedene Verbindungsarten der sozialen Elemente, die alle ganz dieselben Gebote zum Inhalt haben können, und bei verschiedenen Völkern und zu verschiedenen Zeiten auch haben" (ebd.: 37). Religiöses zeigt sich in vielen Verhältnissen, die Menschen untereinander pflegen, wobei es sich "von den auf
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reinen Egoismus oder reine Suggestion oder rein äußerliche oder sogar rein moralische Kräfte gegründeten Beziehungen" (ebd.: 38) unterscheidet. "Alle Religiosität enthält eine eigenartige Mischung von selbstloser Hingabe und eudämonistischem Begehren, von Demuth und Erhebung, von sinnlicher Unmittelbarkeit und unsinnlicher Abstraktion." (ebd.: 38) Dies bedeutet auch, daß ein Inhalt, der vorher und nachher in anderen menschlichen Beziehungen auftritt, in einer bestimmten Phase die Form einer religiösen Beziehung annimmt, so beispielsweise in Zeiten erregten Patriotismus, der dann durchaus - so konnte Simmel vor dem Ersten Weltkrieg schreiben - von religiöser Hingabe und Innigkeit getragen sein mag. Im gesellschaftlichen Leben entwickeln sich spezialisierte Handlungsbereiche mit der dazugehörigen Spezialistengruppe. So entsteht z.B. das Recht, das gesellschaftliche Abläufe reglementiert, und daraus der Richterstand, der dies überwacht. Ähnlich stellt Simmel sich für die Religion vor, daß sich die Priesterkaste bildet, die den Komplex von Ideen und Vorstellungen, der die Götter betrifft, als Exekutive überwacht. (Ähnlich argumentiert Max Weber in "Wirtschaft und Gesellschaft", II. Teil, 5. Kapitel "Religionssoziologie", 2.) Das Wesentliche der Religion ist der Glaube. Er tritt anfangs als ein "Verhältniß zwischen Menschen auf, denn es handelt sich um den praktischen Glauben, der keineswegs nur eine Unterstufe oder Abschwächung des theoretischen Fürwahrhaltens ist" (ebd.: 42). Der Glaube an Gott bedeutet, obwohl nicht beweisbar, daß man ihn für existent hält und er bedeutet gleichzeitig ein innerliches Verhältnis, ein Hingabe des Gefühls zu ihm. Gefühle und Suggestionen äußern sich dann in Vorstellungen, die man nur als glaubensmäßig bezeichnen kann. Als zweites zentrales Thema spricht Simmel auch im Kontext der Religion das der Einheit an. In Familie, Staat und jedem anderen Zweckverband stellt sich aus vielen Einzelteilen ein Ganzes, eine Einheit her und dies ist nirgendwo so sichtbar wie in diesen Bereichen. Diese Einheit auf sozialem Sektor überträgt sich auch auf den religiösen Bereich. "Es ist das tiefste Wesen der Gottesidee, daß in ihr die Mannigfaltigkeit und Entgegengesetztheit der Dinge Zusammenhang und Einheit findet - mag es nun die absolute Einheit des einen Gottes, oder mögen es die partiellen, auf einzelne Provinzen des Seins bezüglichen Einheiten des Polytheismus sein" (ebd.: 44). Die Relationen zwischen den Menschen finden "in der Vorstellung des Göttlichen ihren substantiellen und idealen Ausdruck" (ebd.: 49) Als seelische Wirklichkeit ist die Religion für Simmel nichts Feststehendes, "sondern ein lebendiger Prozeß, den, bei aller Unerschütterlichkeit überlieferter Inhalte, doch jede Seele und jeder Augenblick selbst hervorbringen muß" (ebd.: 49). Die Themen Glaube und Einheit hängen für Simmel so eng zusammen, daß er sie in ihrer Verbindung zueinander behandelt. In seiner verstehenden Religionssoziologie hebt Simmel dann die Dimension der Erfahrung hervor. Er will keineswegs die theologischen Frage aufgreifen, was in der transzendenten
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Wirklichkeit tatsächlich existieren mag (ebd.: 50). Dies liegt außerhalb des Zuständigkeitsbereichs jeder Erfahrungswissenschaft. Die Gefuhlsbedeutung der Religion, beruht auf den Erfahrungen einzelner, und die sind weitgehend "unabhängig von allen Annahmen über die Art, wie diese Vorstellungen zustande gekommen seien" (ebd.: 50) sind. Simmel beklagt Mißverständnisse bei der historisch-psychologischen Ableitungen idealer Werte; denn für ihn schmälert das Nicht-Begreifen des Werdens den Wert des Gewordenen keineswegs: Ebenso zieht die Niedrigkeit des Ausgangspunktes die erreichte Höhe des Ziels nicht herab, und die reizlose Einfachheit der einzelnen Elemente zerstört nicht die Bedeutung des Produkts. "Denn wie die echte und tiefste Liebe zu einem Menschen durch die nachträgliche Klarheit über ihre Entstehungsgründe nicht angefochten wird, ja, ihre triumphirende (sie!) Kraft darin zeigt, daß sie den Fortfall all jener einstmaligen Entstehungsgründe ungebrochen überlebt so wird alle Stärke des subjektiven religiösen Gefühls erst durch die Sicherheit erwiesen, mit der es in sich ruht und seine Tiefe und Innigkeit ganz jenseits aller Ursprünge stellt, auf die Erkenntniß es zurückleiten mag" (ebd.: 51). Den Aufsatz "Beiträge zur Erkenntnistheorie der Religion" veröffentlicht Simmel 1902. Auch hier befaßt er sich mit Religion als Prozeß im Inneren des Menschen. Religion ist für ihn zunächst ein Vorgang im menschlichen Bewußtsein. Die angenommene Tatsache, daß es einen Gott gibt, der die Welt geschaffen hat und sie lenkt, ist Inhalt der Religion, aber nicht Religion selbst. "Die großen Kategorieen unseres inneren Lebens: das Sein wie das Sollen, die Möglichkeit wie die Notwendigkeit, das Wollen wie das Fürchten, bilden eine Reihe, durch welche die Sachgehalte des Bewusstseins, die logisch fixierbaren, begrifflichen Bedeutungen der Dinge hindurchpassieren" (ebd.: 53). Das menschliche Bewußtsein hat die Fähigkeit, gewisse Inhalte des Denkens mit einem religiösen Sinngehalt auszustatten, und das ist ein freiwilliger und kreativer Akt. Die Frage nach der Existenz Gottes könnte ebensogut in einem intellektuellen wie in einem religiösen Kontext behandelt werden (ebd.: 53): Im intellektuellen hieße die Aussage: Gott wird vermutlich existieren, im religiösen: Ich weiß, daß ich von Gott geliebt werde. Religiosität ist für Simmel ein Zustand des Bewußtseins, der die Fähigkeit erzeugt, ein religiöses Weltbild zu schaffen. So wird die religiöse Dimension gänzlich unabhängig von jeder Legitimation aus anderen Bereichen des Bewußtseins: die religiösen und intellektuellen Kategorien beziehen sich aufeinander wie cogitatio und extensio in der Philosophie Spinozas. Jedes der beiden drückt für sich die Gesamtheit des Seins in seiner eigenen Sprache aus (ebd.: 54). Angeregt durch Spinoza kritisiert Simmel die Religionsphilosophie Kants. Für Kant gründet sich Moral nicht auf Religion, sondern umgekehrt, der religiöse Glaube ist Ausdruck oder Konsequenz der sittlichen Gesinnung. Für Simmel bleibt daher das spezifische Wesen des
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Glaubens bei Kant im Dunkeln, "da nur seinen Veranlassungen und Beziehungen, nicht aber ihm selbst der theoretische Charakter genommen wird. Wir gewinnen seine eigentliche Färbung deshalb auch noch nicht, wenn wir, statt auf Willensvorgänge, auf Gefühle als seine Ursprünge zurückgreifen. Angst, Verzweiflung, Vereinsamung; ebenso aber auch ein überquellendes Lebensgefühl, das die Schranken der Endlichkeit sprengt, kann zum Glauben an Gott führen, aber damit wird dieser Glaube selbst noch nicht beschrieben. . Das innerste Wesen des religiösen Glaubens scheint mir vielmehr nur so ausdrückbar: dass er einen Zustand der menschlichen Seele, eine Tatsächlichkeit bedeutet, aber nicht, wie alles theoretische, ein blosses Spiegelbild einer solchen" (ebd.: 57) Simmel nimmt menschliche Affekte genauso ernst, wie Spinoza das getan hat. Seine Methode ermöglicht es Simmel, zu erklären, warum es einen Sinn haben kann, um den Glauben zu beten. Auf der Ebene intellektueller oder theoretischer Argumentation wäre es unsinnig, überhaupt zu beten, ohne vorher die Existenz Gottes schon zu unterstellen. Wer das jedoch tut, braucht nicht mehr um die Fähigkeit zu beten, das als wahr anzunehmen, was er selbst als gegeben zugestanden hat. Wenn andererseits der Glaube ein affektuell begründeter Zustand des Bewußtseins ist, dann haben Menschen stets ausreichenden Anlaß, eine Verbesserung dieses Zustandes zu erbitten (ebd.: 58f). Der Unterschied zwischen theoretischem
(intellektuellem) und religiösem Glauben besteht
darin, daß man bei ersterem die Glaubensinhalte wechseln kann, ohne daß sich der Mensch verändert, da die Glaubensfünktion erhalten bleibt. Diese Unabhängigkeit vom Glaubensinhalt besteht im religiösen Glauben nicht, denn bei religiösem Glauben hängt alles von der Übereinstimmung
zwischen Person und Inhalt ab Die Person kann den Inhalt ihres Glaubens
nicht ändern, ohne daß sich dadurch die Person des Glaubenden selbst ändert. Der Glaube an einen anderen Gott ist ein anderer Glaube, das Sein des Menschen ist jeweils ein anderes: "Die Einheit des religiösen Zustandes geht nach zwei Seiten auseinander: nach der intellektuellen in die theoretische Vorstellung von der Existenz der Heilsthatsachen, nach der Gemütsseite in Gefühl. Wenn wir nun den Zirkel begehen: an Gott (theoretisch) zu glauben, weil wir ihn fühlen, während wir ihn doch erst fühlen können, wenn wir seine Existenz annehmen - so ist dies völlig legitim, es ist der Ausdruck jener Einheit" (ebd.: 59). Simmel zitiert Gregor von Nyssa: '"Wer sein Herz von aller Schlechtigkeit befreit, der sieht in der eigenen Schönheit das Abbild des göttlichen Wesens'" (ebd.: 58). Zu dem intellektuell veranlaßten Fehlschluß über die Natur des Glaubens konnte es für Simmel nur kommen, weil "ein Gefühl oder subjektiver Seinszustand in einen bloss theoretischen Begriff umgesetzt wurde, der nun keine Zeugungskraft mehr besass" (ebd.: 59). Der Glaube selbst ist ein Sein, nicht nur ein theoretisches
Fürwahrhalten.
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Im Jahre 1903 erscheint der Aufsatz "Vom Heil der Seele". Simmeis Hauptanliegen ist in diesem Text die Herstellung von Einheit als Leistung der Religion. Das Erreichen vollständiger Einheit all der getrennten Komponenten einer Persönlichkeit ist identisch mit dem Wohlergehen der Seele, mit Gnade oder Heil. Egoismus entsteht dadurch, daß in die komplexe Einheit der Personen Komponenten Eingang finden, die sich wegen ihres äußerlichen und inkompatiblen Charakters nicht integrieren lassen. Das Heil der Seele muß von ihrer Heilung und auch ihrer Unsterblichkeit unterschieden werden. "Denn mit ihm bezeichnen wir die Befriedigung alles letzten Verlangens der Seele, keineswegs nur des sittlichen, sondern auch des nach ihrer Seligkeit, ihrer Vollkommenheit, ihrer Höhe und Stärke" (ebd.: 61). Der Inhalt des Heils steht nicht für etwas, worauf sich unsere Sehnsucht richtet, er ist der Ort unserer Sehnsüchte. Außerdem meint der Begriff etwas Innerliches - die Frage, ob nun die Seele ihr Heil in einem Körper oder im Jenseits gefunden hat, ist also nebensächlich. "Mit dem Heil der Seele meinen wir die höchste Einheit, zu der all ihre innerlichsten Vollendungen zusammenrinnen, die sie nur mit sich und ihrem Gott abzumachen hat; aber nicht die Einheit eines Begriffes, sondern die eines Zustandes, den wir fühlen, obgleich wir ihn nicht haben, oder vielleicht: den wir in der Form der Sehnsucht nicht weniger fühlen, als wir es in der Form der Erfüllung könnten" (ebd.: 61f.). "In jedem Menschen ruht potenziell, aber doch wirklich, das Ideal seiner selbst" (ebd.: 62). Das ist das Heil der Seele - sie braucht nur eine Hülle abzuwerfen, nichts von außen hinzuzufügen, sie braucht lediglich das zu werden, was sie der Möglichkeit nach schon ist. "Alles Äußerliche mit seiner Macht über die Seele muß erst von ihr abfallen, aber indem es abfallt, hat die Seele auch schon ihr Heil gefünden; denn damit fand sie sich selbst: 'wer seine Seele verliert, der wird sie gewinnen!"' (ebd.: 63). Damit verliert der Mensch auch jeglichen Egoismus, denn dieser ist immer nur "ein Verhältnis der Seele zu ihrer Umgebung, sie erwartet von dieser irgend eine Gewährung, irgend ein Glück, zu dem sie sie ausnutzt. Jeder Egoismus ist eine Mischung der Seele mit Äußerem, ein Umweg, auf dem sie sich selbst verliert, ein Sich-ergänzen-wollen einer Lücke in ihr, das ihr selbst nicht gelingt. Die Seele aber, die ganz und gar sie selbst geworden ist, bedarf dessen nicht. Nirgends in ihrem Umkreis hat sie ein Äußerliches, das ihr Sehnsucht oder Selbstsucht wecken könnte, sondern weil sie überall sich selbst hat und nichts als ihr reinstes Inneres ist, so ist sie überall Verlangen und Erfüllung zugleich." (ebd.: 63) Daraus entsteht die Handlungsfreiheit des Menschen, die Freiheit von allem, was von außen kommt. "Erst wenn der Inhalt der religiösen Forderung an einen jeden Menschen in ihm selbst wirklich ist, und nur von dem befreit zu werden verlangt, was an uns nicht wir selbst sind - erst dann ist das
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Gebiet des religiösen Heiles zugleich das Reich der Freiheit" (ebd.: 64). Die Heilsbegriffe sind allerdings in den verschiedenen Religionen unterschiedlich definiert. Für Simmel stellt sich die Frage, warum sich die Seelen trotz ihrer Unterschiede vereinheitlichen, wenn es für jede einzelne doch darum geht, ihr ureigenes reinstes Bild zum Ausdruck zu bringen. Er meint, man habe den gesamten Individualismus des christlichen Heilsbegriffes verkannt, indem man allen ein einheitliches Lebensideal vorschrieb: "Jesus deutet an vielen Stellen an, wie sehr er die Verschiedenheit der menschlichen Anlagen zu schätzen weiß, zugleich aber, wie wenig dies die Gleichheit des Endresultates des Lebens zu alterieren braucht. Es kommt eben alles auf das Verhältnis an, das zwischen jenem, im Menschen selbst vorgezeichneten Ideal seiner selbst und dessen Durchdringen in seine Wirklichkeit besteht" (ebd.: 65). Nietzsche hat aus Simmeis Sicht das Christentum völlig mißdeutet, indem er es für eine banale Volksversicherung hält. "Der Haß Nietzsches gegen das Christentum richtet sich prinzipiell gegen den Gedanken der Gleichheit vor Gott, als dessen Konsequenz erst man die Wendung der praktischen Interessen zu den geistig Armen, den Mittelmäßigen, den Zukurzgekommenen ansehen kann. Daß die Seele des armen Schachers, jedes kleinen Lumpen und Dummkopfs denselben metaphysischen Wert haben soll wie die Michelangelos und Beethovens - das ist der Scheidepunkt der Weltanschauungen." (Simmel, 1923: 157). Die Fehldeutung des Christentums durch Nietzsche sieht Simmel z.B. darin, daß Nietzsche bei seiner Bewertung des Altruismus die Doppelwirkung altruistischen Verhaltens übersieht: Der Christ tut ja durch seine Hinwendung zum Nächsten nicht nur dem etwas Gutes, sondern entwickelt dadurch an sich selbst Qualitäten, die andernfalls nicht entfaltet würden: "Daß man zum Gewinn des Heils sich selbst gegen sich selbst durchzusetzen hat, bedeutet eine furchtbare innere Gefahr, die sich in der Gnadenwahl nach außen hin projiziert." (ebd.) Simmel folgert: "Wo das Christentum sich diesem Heilsbegriffe nähert, rührt es an das tiefste Lebensproblem der Gegenwart. Denn im Sittlichen wie im Künstlerischen, im Sozialen wie in den Normen der Erkenntnis suchen wir nach dem Allgemeingültigen, das zugleich individuell ist, nach dem Rechte der Person, das zugleich das Recht der Allgemeinheit ist, nach dem Typus, der die Unvergleichbarkeit der Einzelgestaltung in sich aufnehme. Was man bisher dem Leben als Norm vorhielt, pflegte nur das eine oder das andere zu betonen, aber die ganzen Entscheidungen des modernen Lebens hängen an der Synthese von beidem." (ebd.). Damit traut Simmel dem Christentum sehr viel zu. Ein Grundgedanke des ganzen Simmelschen Werkes wird hier als potentielle Leistung des Christentums formuliert: daß sich das Individuelle im Allgemeinen wiederfinde, ist die große Hoffnung Simmeis für die Kultur und die Ethik der Zukunft.
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Das Individuum ist nur in dem Maße frei, in dem sein Zentrum darüber bestimmt, was an der Peripherie geschieht. Darum ist es nicht möglich, das Heil der Seele zu erzwingen (ebd.: 63). Außerdem ist jeder Versuch, jeden Einzelnen das gleiche Verhaltensmuster befolgen zu lassen, um ihn dadurch zum Heil zu fuhren, zum Scheitern verurteilt wegen der Einzigartigkeit des Individuums. Denn was für alle das Gleiche ist, bleibt für die Persönlichkeit notwendig äußerlich (ebd.: 65). Darum muß die Person sich stets mit einem Teil ihrer Existenz vor dem Aufgehen ins Soziale bewahren. Simmel fordert das 1908 als zweites Apriori zu der Frage "wie ist Gesellschaft möglich" (Simmel, 1908: 21 ff). Freiheit bedeutet für den Einzelnen demnach, daß er seine Existenz von seinem Zentrum her bestimmen kann und daß sie nicht den peripheren Einflüssen einer äußeren Macht unterworfen wird: Der Gottheit kann sich ein Mensch als einer machtvollen Gestalt murrend unterordnen, wenn die Einflüsse dieser Gottheit an der Peripherie dieses Menschen bleiben. In Freiheit angenommene Religion dagegen setzt nach diesem Konzept Simmeis die Hereinnahme der betreffenden Gottheit in die Mitte der eigenen Existenz voraus (Helle, 1988: 135f ). Simmeis Aufsatz "Die Gegensätze des Lebens und die Religion" erscheint 1904. Auch dieser Text wurde in der Kontinuität von Simmeis Interesse an den Problemen der Einheit geschrieben. "Alle Mystik ist ein Verschmelzen des Ich mit der Gottheit, weil es keine andere Brücke als unsere eigene Seele gibt, die unerträgliche Vielheit und Fremdheit der Dinge in eine Einheit überzufühlen" (Simmel, 1989: 67). Für den religiösen Menschen ist Gott eine Quelle der Einheit und zugleich eine Realität so wie das Reale selbst, während die übrige Welt nur vorgestellt und daher von sekundärer Bedeutung ist (ebd : 69). Und dennoch, Gott ist der Gott des Realen ebenso wie der des Vorgestellten (ebd.: 70). Die Religion hilft besonders dem modernen Menschen, die Gegensätze des inneren Lebens zu verarbeiten, z.B. Demut oder Erhebung, Hoffnung oder Zerknirschung, Verzweiflung oder Liebe. Die innere Spannung zeigt sich wohl am besten in der Liebe, dem mittleren Zustand zwischen Haben und Nichthaben, wie sie Piaton bezeichnet. Für Simmel ist sie aber auch mit einem dritten Zustand zu vergleichen, nämlich einer wirklichen Mischung aus beidem, "ein gleichzeitiges Haben und Nichthaben, ein unendlich sicherer Besitz, der dennoch täglich und mit unermüdlicher Anstrengung erworben werden muß - nicht nur erhalten!" (ebd.: 69). Der Fromme sieht nur Gott als realen, gewissesten Besitz an, alle irdische Wirklichkeit zerplatzt für ihn wie Seifenblasen. Aber die Sehnsucht sucht ihre Erfüllung auch im Genuß, und so bezeichnet man für Simmel Gott zu Recht als "die Liebe" schlechthin; denn so wird sie völlig zum Gebilde der seelischen Kräfte. Die religiösen Möglichkeiten der Seele wirken ordnend auf die Gegensätze ein, die innerhalb jedes Menschen kämpfen. "Viele Situationen des Innenlebens sind nur so auszudrücken, daß
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irgend eine leere, indifferente Unüberschreitbarkeit zwischen dem Reich des Hellen, des Idealen und dem Reich des Schweren und Dumpfen in uns liegt und den direkten Kampf beider verhindert. Es ist eine der tiefsten und freilich nur mit unvollkommenen Gleichnissen auszudrückende Erfahrung, daß unser Bestes sehr häufig gar keinen rechten Ansatzpunkt zur Weiterwirksamkeit in uns findet, gar nicht die Handhabe, um das Böse, das als bloße Tatsache daliegt und nicht einmal positiv kämpft, mit der Wurzel auszureißen" (ebd.: 70). Diese Auseinandersetzung ist nicht einfach Kampf, sondern ein Auseinanderliegen, das den Sieg des einen über das andere ausschließt. Not und Leid sind es häufig, die die Seele in eine Form bringen, in der sie für religiöse Empfindungen offen wird. Die Not lehrt uns, was Schicksal, was Leben ist: "Bei dem religiös angelegten Menschen fuhrt gerade die Fülle des persönlichen Leidens über das Persönliche hinaus - als durchbräche das Leiden das enge Gefäß des Ich und eröffnete ihm den Zugang zum Unendlichen" (ebd.: 71). Um eine Versöhnung zwischen seinen Bedürfnissen und deren Befriedigung, zwischen seinem Sollen und Tun, seinem Idealbild von der Welt und ihrer Wirklichkeit herbeizuführen, bedarf der Mensch für Simmel der Religion. Die Religion begibt sich auf den Kampfplatz, wird Partei, wobei sie zugleich Richter ist; sie erhebt sich über den Konflikt in Form ihrer eigenen höheren Instanz und "versöhnt in sich den Dualismus, den sie selbst heraufbeschworen und ist so in jedem Augenblicke Einheit und erst werdende Einheit, sie versöhnt die Gegensätze, die sie außerhalb ihrer findet und zugleich den weiteren, der sich fortwährend zwischen ihr selbst und der Ganzheit des sonstigen Lebens auftut" (ebd.: 72). Dies kann als ein unendlicher Prozeß gesehen werden. Der Mensch braucht die Religion, um die Widersprüche zwischen seinen Bedürfnissen und deren Erfüllung, zwischen seinen Pflichten und Taten, zwischen seiner idealen Vorstellung von der Welt und der Realität miteinander versöhnen zu können. Als Arbeit auf der Grenzlinie zwischen Religions- und Kunstsoziologie veröffentlicht Simmel 1907 den Text "Das Christentum und die Kunst". Entspricht eine Religion mehr und mehr ihrem reinen Begriff, so drängt sie "ihren Gott" ins Jenseits - es ergibt sich eine Distanz zur realen Welt, und mit diesem Doppelverhältnis zur Wirklichkeit als diesseitig und jenseitig beschäftigt sich die Kunst. "Sie ist das Andere des Lebens, die Erlösung von ihm durch seinen Gegensatz, in dem die reinen Formen der Dinge, gleichgültig gegen ihr subjektives Genossen- oder Nichtgenossen-Werden, jede Berührung durch unsere Wirklichkeit ablehnen. Aber indem die Inhalte des Seins und der Phantasie in diese Distanz rücken, kommen sie uns näher, als sie es in der Form der Wirklichkeit konnten" (ebd.: 74f). In der Wirklichkeit existiert eine Unüberbrückbarkeit, die im Kunstwerk aufgehoben wird, denn es ist allein für unsere Seele offen und erkennbar: "indem es mehr für sich ist als alles andere, ist es mehr für
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uns als alles andere" (ebd.: 75). Nur Gott und die Kunst sind von Anfang an für unsere Seele bestimmt, alles andere gehört durch seine bloße Existenz noch nicht zu uns. Im Christentum entwickelt sich eine neue Form der Kunst, die versucht, die Eigenbedeutung des Individuums hervorzuheben: die Konfiguration der christlichen Mythologie unterscheidet sie von der antiken. Die Maler bemühten sich, anfangs vor allem angeregt durch die Darstellung von Maria und dem Jesuskind, das Individuelle und die Eigenbedeutung des Kindes an seinem Verhältnis zu einem anderen, in diesem Fall zu Maria, anschaulich zu machen. Dadurch eröffnete sich ein völlig neues Reich der Formen für die christliche Kunst: Hier wird jede Einzelperson "in einer wesentlichen, ihre Bedeutung bestimmenden Beziehung zu anderen" (ebd.: 78) dargestellt. Charakteristisch für die christliche Kunst ist daher die Malerei, da sie die Möglichkeit zur Abbildung der Wechselwirkung mehrerer Personen bietet. In der Antike dagegen stellte die Plastik Einzelpersonen ohne Beziehungen dar (Dörr, 1993). In der christlichen Kunst kommt es zu einer "Umdeutung" des Todes: er ist nicht mehr Befreiung von der Last des Lebens, "sondern das Opfer Christi zeigt den Tod als den Gipfel des Lebens selbst, als seine eigentliche Weihe und die gleichsam positiv ausgedehnte Stufe, die der Seele zwischen dem Diesseits und dem Jenseits bestimmt ist" (Simmel, 1989: 82). Das Leiden verliert im Christentum sein Negatives, es wird zum integrierten Bestandteil des religiösen Lebens - deshalb leidet der Gerechte, deshalb erlangen die Mühseligen und Beladenen Seligkeit. Das Leiden verlagert sich ins Positive, verliert so seinen depressiven Charakter. "Das Christentum hat damit den ästhetischen Wert des Leidens entdeckt und hat seiner religiösen Bedeutung die Sprache der Anschaulichkeit verliehen" (ebd.). "Indem die Religion, wie diese wenigen Beispiele zeigten, der Kunst solche Dienste leistet, offenbart die Kunst zwar, was ihrer jeweiligen Wirklichkeit an unbedingt eigenem Schöpfertum fehlt; aber eben damit gibt sie der Seele die Möglichkeit, mit der Ergänzung der einen Welt aus der andern sich selbst als den Einheitspunkt beider zu fühlen, als die Kraft, die einen dieser Ströme aus dem anderen speisen kann, weil jeder für sich aus ihr entspringt" (ebd.: 83). Simmel findet es typisch für das Christentum, die Zurückweisung irdischer Güter nicht nur als einen Weg zu schätzen, auf dem man sich irdischer Hindernisse entledigt, die der Seele auf dem Weg zur Vollendung im Wege stehen würden, sondern die Zurückweisung wird als Teil dieses Weges zum Heile selbst gewertet und daher als etwas Positives (ebd.: 81, Helle, 1988: 138ff). Als Folge verliert das menschliche Leid seine niederdrückende, häßliche Qualität, die es normalerweise davon ausschließen würde, jemals Gegenstand der Kunst zu werden. Die Christenheit hat den ästhetischen Wert der Passion, des Leidens entdeckt, und kann dadurch Ereignisse im Umfeld des Kreuzes zu passenden Sujets der Kunst werden lassen (Simmel, 1989: 82).
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Simmel und einige andere prominente Wissenschaftler wurden von der deutschen Monatszeitschrift "Nord und Süd" gebeten, ihre Meinung über die offensichtlichen Widersprüche zwischen traditionellen religiösen Inhalten und modernem wissenschaftlichen Denken zu Papier zu bringen. Aus diesem Anlaß entstand "Religiöse Grundgedanken und moderne Wissenschaft. Eine Umfrage" (1909): Die menschliche Erfahrung hat immer schon der Idee widersprochen, daß ein Kind von einer Jungfrau geboren werden könne, daß Wasser in Wein umgewandelt werden könne, daß jemand, der schon tot war, zum Himmel auffahren könne. Die Fortschritte der modernen Wissenschaften haben es also nicht schwerer gemacht, die Realität dieser Wunder zu akzeptieren (ebd. 84). Abgesehen von den Einzelheiten, die den Kern des christlichen Glaubens nicht berühren, sind die Forschungsergebnisse der Wissenschaften ungeeignet, die religiöse Tradition herauszufordern (ebd.: 85). "Wenn die Religion nicht eine Summe von Behauptungen, sondern ein bestimmtes So-Sein der Menschen ist, und erst dadurch eine Charakterisierung und Rangierung der Weltinhalte, so ist sie der Wissenschaft so wenig widerlegbar, wie überhaupt ein Sein widerlegt werden kann. Sie wird dies erst, wenn sie ihre Bilder der Dinge von dem wesenhaften inneren Sein ablöst und zu einer Erkenntniswelt erstarren läßt, die die Denkformen der Wissenschaft irgendwie nachahmt und darum mit dieser in denselben Wettbewerb treten muß, wie die Kirche es mit dem Staate muß, wenn sie sich selbst nach dessen Formen bildet" (ebd.: 86). Die Wissenschaft ist Simmel nichts als Theorie, die Religion jedoch ist ein Sein. Simmel kritisiert diejenigen, die annehmen, daß der Fortschritt der Wissenschaften die grundlegenden religiösen Bedürfnisse der Menschen hat überflüssig werden lassen. Er schlägt vor, die Bedeutung der Religiosität als Form persönlicher Existenz zu akzeptieren. Er bedauert den Trend bei religiösen Menschen, solche Inhalte zu produzieren, die tatsächlich theoretischen Charakters sind und daher überflüssigerweise dazu neigen, mit wissenschaftlichen Einsichten zu konkurrieren. Er sieht Religion nicht als eine Ansammlung theoretischer Aussagen, sondern als eine Form des Lebens oder der Existenz. Als solche kann sie nicht widerlegt werden, ebensowenig wie irgendeine andere Form des Lebens widerlegt werden kann (ebd.: 86). Der Text "Die Persönlichkeit Gottes" erscheint 1911 Diese Arbeit ist ein Aufsatz im Bereich der Persönlichkeitstheorie Simmeis. Doch ehe er seinen Begriff der Persönlichkeit entwickelt, setzt er sich zu Beginn mit der religionsphilosophischen Frage nach dem Dasein Gottes auseinander: Zu wissen, daß es einen Gott gibt, da man an ihn glaubt, bedeutet noch nicht, daß man weiß, was Gott ist. Die Mystiker sehen in Gott ein "Nichts", allerdings in dem Sinne, daß Gott nichts Einzelnes, sondern das Ganze ist. Die Behauptung, daß es Gott gibt, schließt in sich etwas von der wunderlichen "Unlogik, die Existenz von Etwas zu be-
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haupten, wovon man durchaus nicht sagen kann, was es denn eigentlich ist" (ebd.: 87). Man glaubt sozusagen einfach, d.h., in der Seele ist eine Form des Glaubens wirksam, ohne daß man weiß, was ihr Inhalt wäre: "der Gegenstand des Glaubens ist das Sein. Das Was und Wie macht der Verstand, die Intuition, die Überlieferung aus; aber das gleichsam von diesen fertig gestellte Gebilde bleibt so noch in der Schwebe, in einer ideellen und noch fragwürdigen Begrifflichkeit. Erst der Glaube rückt es in die Festigkeit des Seins, das dem Verstände und der Phantasie mit ihren nur qualitativen und quantitativen Bestimmungen gar nicht ergreifbar ist" (ebd.: 87f). Simmel wiederholt seine Betonung des Vorrangs von Leben über Inhalt. Glauben ist eine Form des Lebens, unabhängig von den detaillierten Determinanten des Glaubens (ebd.: 87). Dann entwickelt er sein Konzept einer idealen Persönlichkeit: Ebenso wie unser Körper nicht dem Ideal eines sich selbst erhaltenden Organismus entspricht, weil er notwendigerweise mit der ihn umgebenden körperlichen Welt in Wechselwirkung steht, so entspricht auch unsere Seele nicht dem Ideal einer perfekten Persönlichkeit, weil ihr sowohl Autonomie als auch Integration im eigenen Inneren fehlen. Das Konzept der Gottheit oder Gottes dagegen erfüllt diese Bedingungen, ist daher eine Verwirklichung dieses Ideals der Persönlichkeit (ebd.: 91). Für Simmel kann Gott nicht als eine Persönlichkeit gesehen werden, wenn von ihm erwartet wird, daß er die menschlichen Begrenztheiten teilt. Vielmehr sind diese Begrenztheiten gerade verantwortlich dafür, daß der Mensch daran gehindert ist, eine vollendete Persönlichkeit zu werden. Die Persönlichkeit Gottes bedeutet für Simmel "die Erhöhung und Vollendung, die die Form des körperlichen Organismus durch ihre Fortsetzung in das seelische Dasein gewinnt" (ebd.: 89). So ist für den Menschen Gott die Vorstellung von verwirklichter Persönlichkeit. Da der Mensch sein seelisches Erleben ausschließlich seinem engen Umkreis entnimmt, ist er keine vollkommene Persönlichkeit. Wir sind körperlich und psychisch mit unserer ganz persönlichen Umwelt verknüpft. Eine erinnerte Vorstellung kann nur eine einzige Ursache haben, nämlich die in einem früheren Moment bewußt gewesene Vorstellung gleichen Inhalts. Insoweit sind die Vorstellungen der Menschen von ihren Erfahrungen abhängig und daher begrenzt. "So wenig wir mit unserem Körper den reinen Begriff des Organismus erfüllen, so wenig mit unsrer Seele den der Persönlichkeit." (ebd.: 91) Der Begriff Gottes ist die eigentliche Realisierung der Persönlichkeit! "Ein Wesen, das der Teil eines Ganzen ist, wie der Mensch, kann nie vollkommene Persönlichkeit sein, weil es sich von außen speist und nach außen abgibt... Es ist ganz irrig, daß der Gott in dem Maße Persönlichkeit sei, in dem der Mensch ihn in seine Eingeschränktheit hinabzieht" (ebd.: 92).
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Wenn Gott wirklich allmächtig ist und alles durch seinen Willen existiert, ist nichts außerhalb von ihm, er ist also gleichsam das Sein und Werden aller Dinge. Je mehr sich nun der Mensch als Persönlichkeit empfindet, desto unabhängiger weiß er sich und sein Ich "von jedem einzelnen Inhalt, desto weniger reißt irgend einer es mit, aber desto selbständiger steht auf dieser Ausbildungsstufe auch jeder einzelne Inhalt in seinem logischen und ethischen, seinem dynamischen und historischen Rechte dem Ich gegenüber, in dessen sonst bestimmtes Gesamtschicksal nicht hineingezogen" (ebd.: 95). Jede "Persönlichkeit" trägt in sich dieses Doppel- und Gegenspiel zwischen dem Einzelelement und dem einheitlichen Ganzen. Nach diesem Doppelverhältnis muß Gott als Persönlichkeit gedacht werden, "als die Einheit und Lebendigkeit des Daseins, die ihre einzelnen Produkte sich gegenübersieht, Macht über sie übend, aber in gewissen Intervallen doch ihrer Selbständigkeit nicht Herr, in jedem einzelnen lebend und es doch wie in einer Distanz haltend, die zwischen Fremdheit oder Abfall und innigstem Verschmolzensein unendliche Stufen zeigt" (ebd.. 95). Dem göttlichen Prinzip scheint eine Tendenz zur Spaltung innezuwohnen. Vertreter der Religionsgeschichte behaupten z.B., daß es noch nie einen reinen Monotheismus gegeben habe. Die vollkommenste Einheit Gottes, wie man sie etwa im Pantheismus oder in der Mystik empfindet, "ist zugleich seine vollkommenste Auflösung in die Vielheit der realen Erscheinungen" (ebd.: 97). Gott ist nicht allein Geist, das wäre ein auf den Kopf gestellter Materialismus, seine Persönlichkeit muß vielmehr als allgemeine Form gefaßt werden; das geistige Selbstbewußtsein, das wir empirisch erfassen können, stellt lediglich einen Sonderfall dar. Die Idee vollendeter Wechselwirkung schließt irgendeine Abhängigkeit von anderen aus und nimmt zudem an, daß eine unbeeinträchtigte innere Harmonie besteht, und eben dies sieht Simmel als Merkmal der Persönlichkeit Gottes. Es ist auch das Endziel menschlicher Persönlichkeit (ebd.: 97). "Gott ist nicht der Mensch im Großen, aber der Mensch ist Gott im Kleinen." (ebd.: 98). Simmel setzt die Fähigkeit Gottes, sich selbst zum Du zu werden, in Parallele zu der des Menschens "...wie es die Mystik Spinozas andeutet: unsre Liebe zu Gott wäre ein Teil der Liebe, mit der Gott sich selbst liebt" (ebd. : 97). An aktuellen Sorgen der Kirchen zwischen Jahrhundertwende und Erstem Weltkrieg orientiert sich Simmel in seinem Aufsatz "Das Problem der religiösen Lage" (1911). Der Titel könnte auch lauten: Der problematisch Zustand der Religion. Simmel fuhrt eine Unterscheidung ein zwischen den Inhalten des Glaubens und ihrer Stellung zur Realität: Meine spezifische Art, in der ich mir mein eigenes Heil vorstelle, kann nicht von der Notwendigkeit ablenken, daß es eine real existierende Welt im Hintergrund geben muß, die von meinen Vorstellungen nur modifiziert werden kann. So gilt im Christentum: "Wenn Jesus nicht die volle, durch keinen erkenntnistheoretischen Vorbehalt geschwächte Realität hat, so kann er uns
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eben nicht erlöst haben" (ebd.: 100). Der moderne Mensch, der weder einer Religion angehört, noch aufgrund seines "aufgeklärten" Standpunkts alle diesbezüglichen menschlichen Aktivitäten fiir einen Traum hält, befindet sich in einer überaus beunruhigenden Situation. Trotz unterschiedlicher Inhalte der einzelnen Religionen, verbindet sie doch alle ihre Stellung einer nicht erfährbaren Wirklichkeit gegenüber, und das ist es, was heute manchem Menschen fehlt: Das Transzendente der Religion ist verlorengegangen, doch sie verträgt keine Abschwächungen, die Glaubensinhalte bedürfen eines Seins, eines wesentlich festeren
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kens als die Erfahrungswelt. Der Mensch, der nicht glauben kann, weil durch den Verlust der absoluten Realität des Transzendenten der Glauben sinnentleert erscheint, "muß das beängstigende Gefühl haben, daß ihm ein Sinn fehlt, mit dem andre etwas Reales an einer Stelle wahrnehmen, wo, wie er schwören könnte, nichts ist und nichts sein kann" (ebd.: 101). Aus der Schwierigkeit heraus, entweder den Glauben an seine eigene Vernunft zu verlieren oder den an die größten Menschen der Vergangenheit, bleibt er zurück mit der Realität eines Empfindens, das ihm sein religiöses Bedürfnis übermittelt, bzw. jenes Bedürfnis, das er bisher durch die Religion befriedigt hat. Nach Kant ist Religion ein inneres Verhalten der Seele, und wenn es ein Verhältnis zwischen Seele und Transzendentem gibt, so spielt sich die Religion eben ganz auf Seiten der Seele ab. Gott wandert nicht in unser Herz über, in diesem Sinne gibt es kein Einssein oder Verschmelzen der Seele mit Gott. Auf dieser Grundlage entsteht die Aufklärung
mit der Alter-
native: entweder der Wahrheit als metaphysische Realität eines Gottes oder seiner eingebildeten Existenz als Problem der Psychologie. Aber für Simmel existiert eine dritte Möglichkeit, nämlich die, daß die seelisch gegebene Tatsache des Glaubens selbst etwas Metaphysisches ist. Denn der Mensch projiziert auf Gott neben seinen Emotionen (Furcht, Hoffnung, Erlösungsbedürfnis u.a.) vielleicht auch das, was in ihm selbst metaphysisch ist. Feuerbach brach kurz vor diesem Punkt ab, denn er unterstellte, daß der Mensch in seiner Not sich selbst bis ins Unendliche steigere: fiir ihn war Religion Anthropologie, und damit hielt er das Transzendente für erledigt. Wird die Religion zu einem Inhalt des Lebens (sonntäglicher Kirchgang aus Gewohnheit), so kann sie nicht das Leben selbst sein, sie verliert also ihre wahre Natur. Die transzendenten Inhalte werden zu etwas, das dem Menschen gegenübersteht. So ermöglichen sie es auch jemandem, für den die Religion nicht das Leben, sondern nur ein Teil desselben ist, religiös zu leben. Da das religiöse Bedürfnis des Menschen nach wie vor vorhanden ist, ist es gleichwohl denkbar, "daß die Religion sich aus ihrer Substanzialität, aus ihrer Bindung an transzendente Inhalte zu einer Funktion, zu einer inneren Form des Lebens selbst und aller
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seiner Inhalte zurück- oder emporbilde" (ebd.: 106). Dabei stellt sich die Frage, ob der Mensch fähig ist, ein solches Leben als einen so metaphysischen Wert zu empfinden, "daß er ihn, wie durch eine Achsendrehung, an die Stelle der transzendenten Religionsinhalte rücken kann" (ebd.: 107). Für Simmel steht die religiöse Natur nie im Leeren, da sie die Fülle besitzt. Nicht sie wird die religiöse Not der Zeit erfahren, "sondern die Menschen mit einigen religiösen Elementen, die Menschen, die Religion brauchen, weil ihr Sein sie nicht besitzt, die Menschen, in denen sie eine schmerzlich empfindbare Lücke der Existenz ausfüllt" (ebd.: 108). Wer Gott nicht in sich trägt, muß ihn wenigstens außer sich haben - besonders religiöse Menschen tragen ihn sowohl in als auch außer sich. Simmel stellt zum Schluß die Frage, ob der religiöse Durchschnittsmensch "die Wendung von der Substanz des Götterhimmels und der transzendenten 'Tatsachen' vollziehen kann; die Wendung zu der religiösen Gestaltung des Lebens selbst und zu der inneren Tatsächlichkeit, die man, in philosophischer Ausdrucksweise, als das Selbstbewußtsein der metaphysischen Bedeutung unserer Existenz bezeichnen kann" (ebd.: 108f ). Was konnte es bringen, die religiösen Werte auf Dauer in die Wirklichkeiten des historischen Glaubens einzusperren, wie man es beispielsweise mit den Mitteln von Mystik und Katholizismus praktiziert? Der Mystik wirft Simmel vor, sie tauche das, was zu glauben aufgegeben ist, in so nebelhafte Dämmerung, daß sich die Frage des Gegebenseins oder Nichtvorhandenseins der Gegenstände gar nicht mehr beantworten läßt. Am Katholizismus kritisiert Simmel, daß er durch seine organisatorischen Vorkehrungen den einzelnen Gläubigen viel zu sehr von der Frage entlastet, ob er die Heilstatsachen für real gegeben halten muß oder nicht. Dies alles besorgt für ihn die Großorganisation Kirche, die ihn dadurch zwar entlastet, aber auch anfällig macht. Für Simmel treibt das Schicksal der Religion - schon vor einem Jahrhundert - einer radikalen Wende zu, die den religiösen Energien "eine andere Betätigungs- und gleichsam Verwertungsform bieten möchte, als die Schaffung transzendenter Gebilde und des Verhältnisses zu ihnen - und die den metaphysischen Wert vielleicht wieder dem religiösen Sein der Seele zurückgewähren wird, das jene aus sich entlassen hat und als ihr Leben in ihnen lebt" (ebd.: 109). Es scheint der Weg des Geistes zu sein, daß er die Inhalte seines Glaubens vor die harte Frage des Seins oder Nichtseins stellt. Bis jetzt, schreibt Simmel, hat das religiöse Prinzip jede konkrete Religion überlebt. Aber der noch nie dagewesene Ernst der gegenwärtigen Situation liegt in der Tatsache, daß nicht ein bestimmtes Dogma in Frage gestellt wird, sondern daß der Glaube generell mit dem Etikett der Illusion belegt wird (ebd.: 101). Was von diesem Trend erfolgreich bewahrt und gerettet werden kann, ist die Einsicht, daß Religiosität eine Form des Seins ist.
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Die Monographie Simmeis mit dem Titel "Die Religion" stellt die Synthese mancher der Aussagen dar, die in den vorher veröffentlichten Aufsätzen enthalten sind. Sie ist zuerst 1906 in einer Schriftenreihe publiziert worden, deren Herausgeber Martin Buber war. Im Jahr 1912 erschien dann eine zweite Auflage, die Simmel Gelegenheit bot, den Text völlig zu überarbeiten. Er fügte Zusätze ein, deren Länge von einem Satz bis zu mehr als drei Seiten variiert und er strich Teile aus der Version von 1906 heraus. Wie in den meisten seiner Texte stützt Simmel sich bei seinen Aussagen auf erkenntnistheoretische Erwägungen: Für den naiven Menschen sind die Ergebnisse seiner Sinneserfahrung und seiner praktischen Aktivitäten real und alles übrige wie Kunst, Religion afFektuelle Intuition oder philosophische Spekulation werden als der Realität entgegengesetzt, eben als Konstruktionen betrachtet. Simmel besteht darauf, daß die sogenannte Realität genauso eine konstruierte Sicht der Welt ist und daß jede verantwortungsbewußte Methodologie die erfahrene Wirklichkeit nicht in einen Gegensatz zu Kunst, Religion usw. stellen sollte, sondern an die Seite dieser anderen Konstruktionen als eine von mehreren möglichen Perspektiven der Welt. Er unterscheidet drei Segmente des Lebens, die mit religiöser Qualität ausgestattet werden können: 1. die Natur, 2. das Schicksal, 3. Soziale Beziehungen. Mit jedem dieser drei Segmente befaßt er sich gesondert: 1. Natur Phänomene der physischen Wirklichkeit können mit unterschiedlichen Sinn erfüllt werden. Wenn sie auf der Grundlage religiöser Vorstellungen gedeutet werden, ergibt sich ein religiöses Bild der Natur (ebd.: 117). 2. Schicksal Weit verbreitet ist die Neigung, dem Schicksal eine religiöse Qualität zuzuschreiben. Das Konzept der Prädestination ist ein Beispiel dafür (ebd.: 119). 3. Soziale Beziehungen Das Geflecht der sozialen Beziehungen ist der Bereich, in dem die Religionssoziologie eigentlich zuhause ist. Hier entwickelt Simmel eine Theorie der Gesellschaft (ebd.: 121f) und der Wechselwirkungen zwischen verschiedenen Typen der Religion und sozialen Verhältnissen. Er erwähnt den Puritanismus und diskutiert andere Fallbeispiele aus der Sicht der Kulturanthropologie mit einem speziellen Interesse für arabische Stammesreligion (ebd.: 123126).
Religion ist wie Gesellschaft darum möglich, weil die Inhalte des Bewußtseins nicht nur Reflexionen über etwas davon Unbeeinflußtes, sondern unmittelbar selbst Wirklichkeit sind.
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Religion ist im Vergleich zu Gesellschaft nicht etwas prinzipiell anderes; sie ist eine von mehreren möglichen Wirklichkeitskonstruktionen. Religion hat mit Gesellschaft gemeinsam, daß sie nur als soziale Realität denkbar ist, weil sie eine aus Wechselwirkungen objektivierte Form ist. Simmel nennt Beispiele dafür, daß Formen ursprünglich rein sozialer Normierung zu religiösen Normen aufsteigen können: "überall entfalten sich hier Verhältnisse innerhalb der Gesellschaft, die ohne ihre soziale Bedeutung niemals zu religiösen aufgestiegen wären... Und in diesem Aufsteigen entwickeln sie nun die Energien und Formen, zu denen sie durch ihre inneren, nicht erst vom Transzendenten entlehnten Gefühlsspannungen und Bedeutungen gestimmt sind. (Sie) würden dies Transzendente niemals zu sich herangerufen haben wie unzählige andere ihnen vielfach koordinierte Normen es auch wirklich nicht getan haben - wenn nicht gerade ihr Gemütswert, ihre vereinigende Kraft, ihre Enge sie von sich aus zu der Projizierung auf die religiöse Ebene disponierte" (ebd.: 124). Hygienische Vorkehrungen im antiken Judentum gelten auf der religiösen Ebene als von Gott selbst angeordnet, Fürsten fordern Gehorsam, weil sie von Gottes Gnaden zu regieren beanspruchen etc. Soziales und Religiöses ermöglichen einander: ohne soziale Formung als Grundlage und Begleitprozeß ist religiöse Formung für Simmel nicht denkbar. Daraus zieht er die überraschende - und doch vor dem Hintergrund seiner Prämissen plausible - Konsequenz, daß man dem Buddhismus die Qualität einer Religion absprechen müsse. Der Buddhismus ist keine Religion aus diesem Grund: "Ihm fehlt völlig das soziale Moment... Er lehrt das völlige Zurückziehen von der gesellschaftlichen Welt. Das Sich-Erlösen ist ihm nur das Sich-Lösen von allem Dasein, dem sozialen nicht weniger wie dem natürlichen: er kennt nur Pflichten gegen sich selbst... Nun aber ist der Buddhismus auch keine Religion. Er ist die Lehre von dem Heil, das der Strebende absolut allein, durch sein eigenes Wollen und Denken gewinnen kann" (ebd.: 127). Die Voraussetzung, daß sich lebendige Wechselwirkung zu religiöser Form objektiviert, sieht Simmel hier nicht gegeben, weil er im Buddhismus keine soziale Dimension vermutet. Simmel zeigt, wie Religiöses und Soziales verbunden sind: "Sonst ist überall - am deutlichsten im alten Semitentum, Griechentum, Römertum - die religiöse Pflicht der Opfer, das Gebet, der gesamte Kultus keine persönliche Angelegenheit, sondern liegt dem Individuum als Mitglied einer bestimmten Gruppe ob, welche denn auch als ganze für die religiösen Verfehlungen des Einzelnen haftbar gedacht wird" (ebd.: 128). Hier konfrontiert er das religiöse Verhalten des konkreten Gruppengliedes mit der Haftung einer Gruppe für dessen Verfehlungen. Das religiöse Gefühl ist zwar kreativer Beitrag des einzelnen zur religiösen Weltdeutung, aber das Ritual, das Opfer, etc. sind Verantwortung der religiösen Gemeinschaft. In-
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dem das Individuum sich in sie hineinstellt, kann es an dem Wechselwirkungsprozeß teilhaben, der seinem religiösem Gefühl Gegenstände gibt. Die Gegenüberstellung von Opfer, Gebet und Kultus als Angelegenheiten der Gruppe einerseits, und persönlicher Religiosität als Eigenbeitrag des Einzelnen andererseits, erinnert an den Satz, daß "nicht die Religion die Religiosität, sondern die Religiosität die Religion" (ebd.: 120) schafft. Religion ist Gruppenphänomen und Religiosität ist emotionale Befindlichkeit der Person. Für den beabsichtigten Zweck seiner Betrachtung des Themas Religion läßt Simmel die Initiative vom Individuum ausgehen. Die Person empfindet in einer bestimmten Situation religiös, sie hat den Eindruck, einem wichtigen Erlebnis der Freude oder der Trauer einen, wie Simmel schreibt, religiösen "Ton" oder eine religiöse "Färbung" verleihen zu müssen, und braucht zur Realisierung dieser Neigung die Gruppe, in der aus den Wechselwirkungen der Mitglieder zueinander Religion als gemeinschaftlich geschaffene anschauliche Wirklichkeit entsteht. Nach dieser Begriffsbestimmung von Religion gehört eine Gottheit zur Gruppe hinzu, und zwar nicht als ein irgendwo fern im Jenseits gedachtes Wesen, sondern als Mitglied der Gemeinde selbst, die Trägerin der Religion ist. Wechselwirkung als soziale Realität braucht sich nicht auf empirische Personen im Diesseits zu beschränken. Das Religionsverständnis Simmeis schließt die lebendige Beziehung zwischen Gottheit und Gläubigem ein. Das zeigt sich an seinem Begriff des Glaubens. Dabei geht es nicht etwa nur um theoretische, in diesem Fall theologisch-dogmatisch Inhalte, sondern Glaube bedeutet vor allem ein Gefühl personaler Nähe. Simmel weist auf die Bedeutung des sozial-emotionalen Engagement des Menschen hin; denn wir fühlen, "daß, wenn der Religiöse sagt: Ich glaube an Gott, damit noch etwas anderes gemeint ist als ein gewisses Fürwahrhalten seiner Existenz. Es sagt nicht nur, daß diese Existenz, obgleich nicht streng beweisbar, dennoch angenommen wird; sondern es bedeutet ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm, eine Hingebung des Gefühls an ihn, eine Dirigierung des Lebens auf ihn zu" (ebd.: 133f). Soziale Realität ergibt sich erst in lebendigen Beziehungen: In die Relation hat Simmel ja den Sitz der Wirklichkeit verlegt. Es geht deshalb für den Gläubigen nicht nur darum, ob es den Gott irgendwo gibt oder nicht, sondern vielmehr um die Frage, ob er selbst "ein bestimmtes innerliches Verhältnis zu ihm" (ebd.: 134) hat. Das Vorhandensein oder das Fehlen einer solchen lebendigen Beziehung des Gläubigen zu seiner Gottheit ist das entscheidende Kriterium für das Vorhandensein des Religiösen. Simmeis Verständnis von Glaube unterliegt genau der charakteristischen erkenntnistheoretischen Wendung von intellektuell-theoretischem Reflektieren über etwas Äußerliches (im Falle der Gottheit: äußerlich dem Subjekt gegenüber) hin zur unmittelbaren Formgestaltung
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im inneren Erlebnisbereich. Ich kann nicht einem mir Nahestehenden - oder überhaupt einem Mitmenschen - gegenübersitzen und nur theoretische Reflexion über ihn (oder sie) pflegen. Einer als Mitglied des Gemeinwesens vorgestellten Gottheit gegenüber dürfte dies ebensowenig denkbar sein. "Der praktische Glaube ist ein Grundverhalten der Seele, das seinem Wesen nach soziologisch ist, d h. als ein Verhältnis zu einem dem Ich gegenüberstehenden Wesen aktualisiert wird. Daß es dem Menschen auch sich selbst gegenüber möglich ist, ruht auf seiner Fähigkeit, sich in Subjekt und Objekt zu spalten, sich selbst wie einem Dritten gegenüberzutreten, - einer Fähigkeit, die an keiner sonstigen Erscheinung der Welt, die wir kennen, eine Analogie besitzt und die unsere ganze Geistesart begründet" (ebd.: 136). Glaube ist nicht theoretischer Inhalt, sondern er ist "seinem Wesen nach soziologisch" (ebd.). Vergleichbar mit den Formulierungen Max Webers zur Legitimität von Herrschaft als im Glauben der Beherrschten begründet schreibt Simmel: "Das Gehorsamsverhältnis etwa beruht unzählige Male nicht auf dem bestimmten Wissen von Recht und Überlegenheit des anderen, auch nicht auf Liebe und Suggestion, sondern auf jenem 'Glauben' an die Macht, das Verdienst, die Unwiderstehlichkeit und Güte des anderen, - einem Glauben, der eben keineswegs nur eine theoretische Annahme hypothetischer Art ist, sondern ein ganz eigenartiges zwischen den Menschen aufwachsendes seelisches Gebilde" (ebd.: 136). Die Beziehung zwischen zwei Menschen wird bei Simmel als ein "seelisches Gebilde" beschrieben, sie ist eine aus Wechselwirkung hervorgehende Formung. Von gleicher relationaler Qualität stellt sich dann nicht nur der Glaube dar, sondern die Gottheit selbst. Keineswegs bestreitet Georg Simmel der Gottheit die Qualität, real zu sein. Nur ergibt sich die vom Menschen erlebte Wirklichkeit nicht aus Gott selbst, sondern eben als Folge der Beziehung zwischen Personen, zumal als Mitglieder einer Gruppe. "Nicht das einzelne Mitglied, sondern die Gruppe als solche steht unter einem bestimmten Gott, und diese eben weist darauf hin, daß es ihre Einheit ist, die sich in dem Gott ausspricht, das, was über die Individuen hinübergreifend sie zusammenhält. Der Gott ist sozusagen der Name für die soziologische Einheit..." (ebd.: 140). Der These, Religion sei eine soziale Form, entspricht das Bild von der Gottheit, die dem Gemeinwesen als Mitglied angehört. Simmel untersucht den Übergang von der Form empirisch soziologischer Einheit als sozialer Gruppe zur absoluten Einheit der Gottesidee: "Diese Skala hat noch eine Stufe, die die vorchristlichen Epochen vielfach charakterisiert. In ihnen nämlich steht die Gottheit dem Einzelnen und seinem Kreise nicht gegenüber, sondern sie ist in den letzteren einbezogen, ist ein Element der Lebenstotalität, auf die das Individuum angewiesen ist. Im alten Judentum z.B. nimmt der Gott gelegentlich des Schlachtopfers am Schmause teil, es ist nicht nur die Einrichtung eines Tributes. Allenthalben besteht ein Ver-
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wandtschaftsverhältnis zwischen dem Gott und seinen Verehrern. Und überall, wo er als Stammvater, wo er als König auftritt, ja, wo er der Gott eben dieses Stammes, eben dieser Stadt ist, während andere, in ihrer Existenz ebensowenig bezweifelte Götter anderen Gruppen eigen sind, - überall da ist der Gott das oberste Mitglied des Gemeinwesens" (ebd.: 144). Die Gottheit steht als "oberstes Mitglied des Gemeinwesens" potentiell in einer lebendigen Beziehung zu den Gläubigen, und sie muß dies tun, um für sie ihren Realitätscharakter nicht zu verlieren. Ob sie dies tun kann, hängt freilich von den Gläubigen ab und davon, ob sie von ihrem Gott sagen können: Er ist einer von uns! Der Mitgliedschaft der Gottheiten im Gemeinwesen entspricht es, daß die soziale Gestalt des Olymps oder des jeweiligen Himmels der Verfassung der irdischen Gesellschaft adäquat ist. "In Griechenland und Rom, wo das Königtum früh der Aristokratie unterlag, behauptete sich auch eine aristokratische Verfassung des Religiösen, eine Vielheit gleichberechtigter Götter und eine Hierarchie derselben... in Asien dagegen, wo das Königtum sich viel länger behauptet hat, tendiert die Religionsbildung auf eine monarchische Machtstellung des Gottes. Ja, die bloße Stärke der Stammeseinheit, die bei den alten Arabern das soziale Leben beherrscht, hat in sich den Monotheismus präformiert" (ebd.: 145). Weil "die interindividuellen Formen des sozialen Lebens" (ebd.: 145), zu Inhalten des Glaubens werden, können bestimmte Kulturen bestimmte Glaubensinhalte noch nicht (als Thema der Missionswissenschaften) oder nicht mehr (zur Entchristlichung von Industriegesellschaften) annehmen, wenn eine Mindestentsprechung zwischen ihren Sozialformen und den angebotenen Dogmen nicht besteht. Zu der Sonderstellung der christlichen Religion im Vergleich der verschiedenen Weltreligionen miteinander, trägt der Universalitätsanspruch bei. Er besagt, daß ein Gott geglaubt wird, der nicht Stammesgott oder Volksgott einer begrenzten Population ist, sondern von dem unterstellt wird, daß er für die gesamte Menschheit der ganzen Welt zuständig sei. "Erst der Christengott spannt seine Sphäre über die, die ihn glauben, und die ihn nicht glauben. Von allen Lebensmächten durchbricht er zuerst die Exklusivität der sozialen Gruppe, die bis dahin die gesamten Interessen ihrer Individuen in je einer raum-zeitlichen Einheit zusammenhielt. Deshalb ist es widerspruchsvoll, daß die Beziehung zu ihm indifferent neben der Beziehung anderer Menschen zu anderen Göttern stehen sollte. Dies ist vielmehr eine positive Verletzung des ideellen Anspruchs, den er durch seine absolute Allumfassung erhebt; an andere Götter zu glauben bedeutet: sich gegen ihn aufzulehnen, der ja doch in Wirklichkeit auch der Gott dieses Ungläubigen ist" (ebd.: 162f). Simmel stellt die Besonderheiten der christlichen Religion als Endpunkt einer langen religionsgeschichtlichen Entwicklung heraus. Dazu gehört die Andeutung der Möglichkeit einer Auflösung von Religion in Individualismus, die sich auch im Spätwerk Max Webers findet.
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"So mag die soziologisch erwachsene Gottesvorstellung zu einem immer weiteren Umkreis seines Wesens aufwärts fuhren. Sobald dieser Prozeß aber mit dem absoluten Gott des Christentums seinen Endpunkt erreicht hat, schlägt sein Inhalt in das Gegenteil jenes soziologischen Charakters um, an dessen Exklusivität der Gott ursprünglich gebunden war" (ebd.: 164). Simmel bindet den Gottesglauben an die Zugehörigkeit zu einer Gruppe. Simmel kannte Bubers Buch "Die Geschichten des Rabbi Nachman", und übernimmt eine charakteristische Episode daraus Es geht dabei um einen "galizischen Wunderrabbi Meir" (ebd.: 155), der seinen Schülern sagt: "'Wenn der Herr mich im Jenseits fragen wird: Meir, warum bist du nicht Moses geworden? - so werde ich sagen: Herr, weil ich nur Meir bin. Und wenn er mich weiter fragen wird: Meir, warum bist du nicht Ben Akiba geworden? - so werde ich gleichfalls sagen: Herr, weil ich eben Meir bin. Wenn er aber fragen wird. Meir, warum bist du nicht Meir geworden? - was werde ich da antworten?"' (ebd.: 155). Von der tief personalen Sicht des Religiösen, die diese Geschichte einfängt, nimmt Simmeis Kritik an gewissen nivellierenden Tendenzen im Christentum ihren Ausgang. Simmel beklagt: "Den ganzen Individualismus des christlichen HeilsbegrifFs hat man verkannt, und daß jeder mit seinem Funde wuchern soll, indem man ein einheitliches Ideal, ein gleichartiges Verhalten von allen verlangte, statt von jedem - ihn selbst zu fordern" (ebd.: 42, 56 ,133). Im Jahre, in dem Simmel stirbt, erscheint die gedruckte Fassung des Vortrags "Der Konflikt der modernen Kultur" (1918). Der Text enthält die These, die verbreitete Enttäuschung über traditionale religiöse Formen veranlasse den modernen Menschen, sich von vorgeformter Religion ab und dem Mystizismus zuzuwenden (ebd.: 172). Simmel berichtet von seiner Beobachtung, "daß nicht wenige geistig fortgeschrittene Persönlichkeiten ihre religiösen Bedürfnisse mit der Mystik" (ebd.: 172) befriedigen. Er nennt eine doppelte Motivation für diesen Zustand: zum einen die, daß die objektiven, inhaltlich festgelegten Bildreihen, die das religiöse Leben bis dato bestimmt hatten, nicht mehr ausreichen, zum anderen jene, daß dadurch die Sehnsucht des Suchenden nicht etwa ihren Antrieb verliert, sondern nach anderen Zielen und Wegen Ausschau hält. Hier betritt die Mystik die Bühne der Sinnsuche, denn sie scheint vorerst "die letzte Zuflucht der religiösen Naturen zu sein, die sich noch nicht von jeder transzendenten Formung lösen können, sondern - sozusagen vorläufig - nur von jeder bestimmten, inhaltlich festgelegten" (ebd.: 172). Das religiöse Leben, das in seinen äußeren Formen erstarrt ist, sucht gleichsam nach einem neuen Gewand - allerdings nach einem, das dem Inneren des Suchenden gerecht wird und Ausdruck verleiht. "In dem Endzustand, auf den diese ganze innere Umstimmung hinaussieht, würde Religion sich als eine Art der unmittelbaren Lebensgestaltung vollziehen, gleichsam nicht als eine einzelne Melodie innerhalb der Lebenssymphonie, sondern als die
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Tonart, in der diese sich als ganze abspielt; der Raum des Lebens, ausgefüllt von allen weltmäßigen Inhalten, von Handeln und Schicksal, Denken und Fühlen, würde mit all diesem durchdrungen sein von jener einzigartigen inneren Einheit der Demut und der Erhebung, der Spannung und des Friedens, der Gefahrdung und der Weihe, die wir eben nur religiös nennen können" (ebd.: 173). Religion wird nicht einfach Sozialreligion, denn das würde immer noch bestimmte Formen mit sich bringen, obwohl diese eher empirische als transzendente Qualität haben. Statt dessen wird eine allgemeine Frömmigkeit entwickelt, die man Glauben nennen muß, wenn sie Objekte hat, die jedoch bei Abwesenheit fester Formen den Lebensprozeß ungeformt dahinfließen läßt (ebd.: 173). Das religiöse Leben entpuppt sich zunehmend als ein Sein (nicht ein Haben), das seine Bedürfnisse aus einer inneren Tiefe heraus zu stillen versucht. Es bedarf keines Gegenstands, keiner äußeren Regeln: "Die Seele will ihre Gläubigkeit bewahren, während sie den Glauben an alle bestimmten, vorbestimmten Inhalte verloren hat" (ebd.: 174). Dabei geht Simmel davon aus, daß Frömmigkeit oder Gläubigkeit einen vorgegebenen Zustand der Seele darstellen, der auch dann vorhanden ist, wenn der Mensch nie einen religiösen Gegenstand findet, um diese Anlagen seiner Seele zu leben. Sobald sich ein kulturelles Leben herausbildet, das entweder schöpferisch wirkt oder von anderen Geschaffenes übernimmt, entsteht ein Konflikt, da sich das Leben entweder in Formen bewegen oder selbst Formen hervorbringen muß. Der Mensch wird sich bewußt, daß er das Leben ist, daß dieses aber immer mit einer bestimmtem Form verknüpft ist. Einerseits will das Leben sich von jeglicher Form lösen, quasi nur aus sich selbst heraus existieren, andererseits aber braucht es natürlich irgendwelche Formen, um "sichtbar" zu werden - und hier hat es zwar die Möglichkeit, die Gewänder zu wechseln, aber nicht die, völlig entblößt aufzutreten. Simmel erklärt, daß Konflikte und Probleme Teil des Lebens sind. Aber es ist ein Trugschluß, davon auszugehen, daß jeder Konflikt oder jedes Problem, das sich uns oder dem wir uns in den Weg stellen, auch lösbar sei. Sie erfüllen unabhängig von ihrer Lösung eine Aufgabe und sind keineswegs überflüssig, "auch wenn die Zukunft nicht den Konflikt durch seine Schlichtung, sondern nur seine Formen und Inhalte durch andere ablöst" (ebd.: 176). Simmels Gegenwart, und das gilt - wahrscheinlich verstärkt - ebenso für die unsere, erweckt den Eindruck, als wäre in einer noch nie dagewesenen Weise zwischen dem Vorher und Nachher der Kulturformen die Brücke abgebrochen, weshalb sich die entstehende Lücke nur mit einem formlosen Leben ausfüllen zu lassen scheint. Zweifellos treibt man aber auch "auf jenen typischen Kulturwandel hin, auf die Schöpfung neuer, den jetzigen Kräften angepaßter Formen, mit denen aber nur - vielleicht langsamer bewußt werdend, den offenen Kampf län-
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ger hinausschiebend - ein Problem durch ein neues, ein Konflikt durch einen anderen verdrängt wird. Damit aber erfüllt sich die echte Vorzeichnung des Lebens, das ein Kampf in dem absoluten Sinne ist, der den relativen Gegensatz von Kampf und Frieden umgreift, während der absolute Frieden, der vielleicht diesen Gegensatz ebenso einschließt, das göttliche Geheimnis bleibt" (ebd.: 176). Das Leben kann nicht Eingang in die Wirklichkeit finden, wenn es sich nicht der Formen bedient. Dies trifft selbstverständlich auch zu, wenn das Leben religiöse Qualitäten annimmt. Darum ist Simmel besorgt über den wachsenden Konflikt zwischen Leben und Form und über die Wirkung, die dieser Konflikt für die Zukunft der Religion haben wird
6. Musiksoziologie bei Georg Simmel und Max Weber Da weder Georg Simmel noch Max Weber als Musikwissenschaftler gelten wollten, muß es für beide ganz selbstverständlich gewesen sein, wegen eines Interesses über Musik zu schreiben, das über die Tonkunst hinausging. Sie wurde ihnen zu einem Demonstrationsfeld, auf dem eine Hypothese getestet, eine Methode erprobt werden sollte Simmel arbeitete an einer Philosophie der Formen - Ernst Cassirer nach ihm an einer Philosophie der Symbolischen Formen - als einem dritten Bereich zwischen Subjekt und Objekt: "Das Kunstwerk ist immer eine Objektivierung des Subjekts und bekommt dadurch seinen Platz jenseits der Realität, die am Objekt für sich oder am Subjekt für sich haftet. Sobald es nun die Reinheit dieser Jenseitsstellung aufgibt, sei es um bloß ein Objekt darzustellen, sei es um bloß das Subjekt anzusprechen, so gleitet es in eben diesem Maß aus seiner spezifischen Kategorie in die der Realität" (Simmel, 1919: 29). Dieses Zurückgleiten in hörbare Klänge der Wirklichkeit, die nur noch ein Jubeln oder Schluchzen aber keine Musik mehr sind, oder - je nach der Denkrichtung - es noch nicht sind, diese Faszination von dem Prozeß, in dem aus dem Leben einem autonomen Formenreich etwas hinzugefügt oder fortgenommen wird, veranlaßte Simmel, über Musik zu arbeiten Max Weber wird - trotz überzeugender Korrekturen durch Martin Albrow (Albrow 1991) und andere - überwiegend als der Theoretiker der Rationalisierung gelesen. Für ihn ist Musik ein Beispiel, an dem er demonstrieren möchte, daß bestimmte Schritte der Rationalisierung nur im Abendland vollzogen wurden. Aber außerdem will er zeigen, daß sich die eigenständige Form dieser Kunst dort wie überall sonst der restlosen Erfassung durch vernünftige Systematisierung entzieht. In der Musik finden sich mathematisch beschreibbare Regelmäßigkeiten, doch die Kunst selbst bleibt mindestens mit einem nicht-rationalen Rest unfaßbar. Simmel ist dazu geneigt, den Prozeß der Schaffung von Kunst in Analogie zur Konstraktion wissenschaftlicher Theorien zu sehen. Das illustriert er an der Arbeit des Historikers, die der
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unternimmt, um die "historische Wahrheit" jenseits von Subjekt und Objekt hervorzubringen: "Die historische Wahrheit ist keine bloße Reproduktion, sondern eine geistige Aktivität, die aus dem Stoff - der als innerliche Nachbildung gegeben ist - etwas macht, was er an sich noch nicht ist, und zwar nicht nur durch kompendiöses Zusammenfassen seiner Einzelheiten, sondern indem sie von sich aus Fragen an ihn stellt, das Singulare zu einem Sinne zusammenfaßt, der oft gar nicht im Bewußtsein ihres 'Helden' lag, indem sie Bedeutungen und Werte ihres Stoffes aufgräbt, die diese Vergangenheit zu einem ihre Darstellung für uns lohnenden Bilde gestaltet" (Simmel, 1923: 55). Diese Beschreibung einer wissenschaftlichen Tätigkeit hat deutliche Anklänge an künstlerisches Schaffen. Während Simmel die Musik untersucht, um Parallelen zwischen Kunst und Wissenschaft zu finden, demonstriert Weber an der Musik, an welche Grenzen die wissenschaftliche Erfassung von Kunst stößt. Für Simmel ist auch die Wissenschaft eine Kunst; für Weber kann die Kunst nicht zur Wissenschaft werden. a) Simmeis Studien über Musik Als Beispiel für eine abwegige Vorstellung von dem "natürlichen Charakter" der Musik zitiert Simmel den britischen Musikhistoriker Charles Burney, der 1789 schrieb: "Music is an innocent luxury, unnecessary indeed to our existence, but a great improvement and gratification of the sense of hearing" (zitiert bei Simmel 1882: 281). Simmel weist "das flach rationalistische Wesen der psychologischen Untersuchungen des vorigen Jahrhunderts" (also des achtzehnten) (ebd.) zurück und beschreibt statt dessen die Musik als Medium für die Übertragung von Gefühlen. Sie leistet so die Ablösung der Emotionen von der Erfahrungsebene rein individueller Subjektivität und deren Verankerung im Bereich der Wechselwirkung, also im Medium selbst. Das wird auf dem Wege über Gestaltung oder Formung erreicht, und Simmel schreibt über die romantische Musik seiner Zeit: "Die jetzige Musik erregt, verglichen mit jener einfachsten, eine solche Fülle von Gefühlen verschiedenster Art, daß eine gewisse Ausgleichung unter ihnen durch Hemmungsverhältnisse und damit Objektivität resultiert" (ebd.). Simmel stellt den Fortschritt der Musik dar als allmähliches 'Abwerfen' des natürlichen Charakters (ebd.), das die Annäherung an das "Ideal als Kunst" (ebd.) möglich macht. Den Prozeß der Kunstwerdung deutet er an mit dem Begriff des Erreichens von "Objektivität" (ebd.: 282), doch dieser Vorgang der Distanzierung vom spontan empfindenden Subjekt darf nicht in der Entstehung eines abgetrennten Objekts enden: "Nicht als ob die Gefühle, oder auch nur die heißen und leidenschaftlichen aus der Musik verschwinden, sie nicht mehr anregen und nicht mehr von ihr angeregt werden sollten. Nur soll die Musik und die Art wie sie vor-
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getragen wird, nicht mehr direkt aus ihnen resultieren, wie sie es ursprünglich getan, sondern soll nur ein Bild von ihnen sein, zurückgeworfen von dem Spiegel der Schönheit" (ebd.) Simmeis Interesse konzentriert sich auf den Prozeß der Formung als Entstehung objektiver Kultur aus subjektiven vitalen Emotionen. (Helle, 1988: 47) Das Modell, an dem er diese Dynamik durchdenkt, ist das der lebendigen Interaktion zwischen einem Vorsänger und einer vom Gesang emotional angerührten Gruppe von Zuhörern. Auf den Vortrag des einzelnen Sängers reagieren Angehörige der Gruppe durch spontanes Mitsingen: "Das ist noch reine Subjektivität, der Gesang des Ersten als solcher ist ganz gleichgültig, wirkend ist hier nur der dadurch hervorgebrachte Affekt, der ebensogut von irgend einer anderen Ursache könnte hervorgebracht sein. Erst allmählich, wenn die Objektivität ein wenig mehr Raum gewonnen.., wird man, von einem Lied erregt, in denselben Tönen mitgesungen haben" (ebd.: 286). Simmel gelingt es, zwei Prozesse widerspruchslos ineinander zu verschlingen: Den evolutiven Prozeß der langsamen Zunahme von Komplexität innerhalb menschlicher Kultur und den Formungsprozeß der Objektivierung vitaler Erfahrungen der Subjekte. Diese Formen entstehen aus gefühltem Leben und erzeugen es auch wieder aus sich heraus: In einem Kreislauf, den Simmel mit dem Erleben beginnen läßt, entsteht aus Erfahrung Kunst, und die fuhrt wieder zu neuen Erfahrungen. An der Musik illustriert er das so: "So wie so würde jenes erste Lied zu einer ihm verwandten Stimmung bei den Hörern gefunden haben, und diese wieder zu einem verwandten, wenn auch natürlich nicht ganz gleichen Liede" (ebd.). Stimmungen als vital-emotionale Befindlichkeiten werden zu Formen gestaltet und die wiederum erzeugen und bestärken Stimmungen: "In diesem Sinne hat die alte Erklärung, daß die Musik nachahmen sollte, wie jede andere Kunst, ihre Begründung Sie ahmt die Töne nach, die auf Grund eines Affekts sich der Brust entringen" (ebd.: 282). Die Trauerklage im Totenritual der ostkirchlich christlichen Liturgie ist ein Beispiel für eine Form der Kirchenmusik, die ihren Ursprung aus dem Weinen des Menschen noch durchklingen läßt. b) Rationalisierung abendländischer Musik bei Max Weber Der Rationalismus unterwirft die Wissenschaft der Logik des Denkens, das Leben des Menschen verläuft jedoch nach seiner eigenen Logik. Diesen Zwiespalt überträgt Max Weber auf das Verhältnis zwischen Musik als Wissenschaft und Musik als Kunst. Er beginnt mit dem Hinweis auf die Gesetzmäßigkeiten, denen "alle harmonisch rationalisierte Musik" (Weber, 1956: 877) folgt: Die Schwingungszahlen zweier Töne mit dem Abstand einer Oktave verhalten sich zueinander wie 1 : 2. Innerhalb der Oktav gibt es als Tonschritte die Quint (2 : 3) und die Quart (3 : 4). "Wenn man nun aber von einem Anfangston aus in "Zirkeln" auf- oder
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absteigt, zuerst in Oktaven, dann in Quinten, Quarten. ., so können Potenzen dieser Brüche niemals auf einen und denselben Ton zusammentreffen, soweit man die Pozedur auch fortsetzen möge" (ebd.). Die Musik unterliegt also Regelmäßigkeiten, die sich in der präzisen Welt der Zahl zwar andeuten, aber nicht exakt abbilden lassen! Dem widerspricht jeder aus den Naturwissenschaften geläufige Umgang mit Mathematik Hat man in der Astronomie oder Physik die Zahlenrelationen zweier Größen entdeckt, so kann man darauf vertrauen, daß sich die Konsequenzen daraus mit unbedingter Genauigkeit ziehen lassen. In der Musik ist die mathematische Formel nur Idealtyp, sie läßt sich in der gelebten Wirklichkeit der Kunst nicht exakt auffinden. Das ist kein spezifisches Problem der abendländischen Musiktheorie; in der chinesischen Kultur trifft Weber die gleichen Verhältnisse an: "Die chinesische Einteilung der Oktave in 12 Lü, welche als gleich gedacht, aber nicht wirklich so behandelt werden, bedeutet nur die unexakte theoretische Interpretation der praktisch verwendeten diatonischen, nach dem Quintenzirkel gebildeten Intervalle" (ebd.: 888) Die Musiktheorie ist angesichts der lebendigen Vielfalt der Tonkunst darauf angewiesen, schrittweise zu rational formulierten Aussagen über Harmoniebildung zu kommen. Zum Problem der "alterierten" Septimenakkorde schreibt Max Weber. "Aus dem Material dieser Akkordkategorien lassen sich dann die vielumstrittenen "alterierten Tonleitern" konstruieren, denen sie leitereigen und von denen ausgesehen sie also "harmonische" Dissonanzen sind, deren Auflösung sich mit den Regeln der... Akkordharmonik konstruieren und zur Kadenzbildung verwenden lassen. Sie sind historisch charakteristischerweise in den Molltonarten zuerst aufgetreten und von der Theorie erst allmählich rationalisiert worden" (ebd. 879, Hervorhebung von mir). Die Erfolgschancen der Rationalisierungsbemühungen sieht Weber als begrenzt an. Er erläutert, daß man "reine Terzen nur unter Mitwirkung der Primzahl 5" konstruieren kann und daß sich infolgedessen der Quintenzirkel nicht auf reine Terzen zurückfuhren läßt. Dies nennt er ein "Versagen der Rationalisierung", das "auf keinerlei Weise aus der Welt zu schaffen" ist (ebd.: 880). Aber die Rationalisierungsbemühungen, mit deren Möglichkeiten Weber hier eher ungeduldig umgeht als Grenzen der Harmonielehre, sind nicht etwa nur als Aktivitäten von Wissenschaftlern nachweisbar, die sich gleichsam von außen der Kunst nähern, sie zeigen sich auch innerhalb des Prozesses des Kunstschaffens selbst. Weber deutet die alte und weit verbreitete Pentatonik als "eine Art von Auslese rationaler harmonischer Intervalle aus der Fülle der melodischen Distanzen" (ebd.: 885). Diese Art zu argumentieren ist für Weber charakteristisch: Die Entwicklung eines Kulturbereichs, hier der Musik, wird mindestens zum Teil - als Ergebnis einer immanenten Rationalisierungstendenz gesehen
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Weber zeigt die Ambivalenzen auf, die in der Kulturgeschichte der Musik mit fortschreitender Rationalisierung auftraten. Eine nicht "harmonisch rationalisierte Musik" (ebd.: 915) hat weit größere Ausdrucksmöglichkeiten im melodischen Bereich, kann Chromatik bis zum Glissando ausbilden und überhaupt "an harmonisch nicht einzuordnenden Intervallen... Geschmack finden" (ebd.). Doch diesem Vorteil steht der Nachteil gegenüber, daß eben der mehrstimmige Gesang oder jede andere Form harmonischen Musizierens nicht entwickelt werden kann. "Die Überschwemmung ganz Vorderasiens mit dem arabischen Musiksystem bedingte endgültig die Abschneidung jeder Entwicklung zur Harmonik oder doch der reinen Diatonik. Nicht von ihr berührt wurde, soweit bekannt, ausschließlich der jüdische Synagogengesang..." (ebd.). Wie in seinen großangelegten Studien zur "Wirtschaftsethik der Weltreligionen" betreibt Weber auch in dieser kurzen Arbeit über die Musik Kulturvergleich. Wie dort die Religion die Form ist, an der individuelle Merkmale spezieller Kulturen herausgearbeitet werden, so hier die Musik. Wo es der im Binnenbereich der Musik selbst entfalteten Rationalisierung gelingt, irrationale Neigungen in der Melodik bis zu einer kritischen Schwelle zu bändigen, kann Harmonik entstehen und entfaltet werden. Auf die arabische Musik trifft dies, wie Weber darlegt, nicht zu. Mit dem Anspruch, Harmonik zu ermöglichen, entfällt die Verpflichtung, tonrein zu singen oder zu spielen, damit wachsen die Ausdruckschancen irrationaler Melodik. Ein eher technischer Rationalisierungsschritt, der musikimmanent vollzogen wird oder unterbleibt, ist die Erfindung und Anwendung der Notenschrift: "Ein irgendwie kompliziertes modernes musikalisches Kunstwerk... ist ohne die Mittel unsrer Notenschrift weder zu produzieren noch zu überliefern noch zu reproduzieren..." (ebd.: 911). c) Vergleich Simmel - Weber In seiner Studie über die Musik untersucht Max Weber das Thema Rationalisierung auf zwei ganz unterschiedlichen Ebenen: Auf der Ebene der Musikwissenschaft als Harmonielehre und auf der anderen der musikimmanenten Entwicklungstendenzen. Daß beide in der historischen Wirklichkeit nicht ohne Einfluß aufeinander sind, ist unmittelbar einleuchtend, doch ebenso selbstverständlich ist ihre Behandlung als getrennte Versuche einer Verwissenschaftlichung. Die Selbstrationalisierung der Musik bringt eine Einengung affektiver Ausdrucksvielfalt mit sich, aber auch die Chance des Übergangs zur Harmonie und zur Notenschrift. Die rationale Harmonielehre stößt an deutliche Grenzen, produziert in manchen Bereichen ihr eigenes Versagen, wenn sie sich der Kunst mit dem impliziten Anspruch nähert, sie zu verwissenschaftlichen.
Entwurf des Verstehenden Ansatzes durch Georg Simmel
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Simmel hat ein anderes Wissenschaftsverständnis als Weber. Für ihn ist Wissenschaft eine Art, die Wirklichkeit zu sehen. Mindestens in diesem Punkt ist sie der Kunst vergleichbar. Daher stellt Simmel die Musik dar als eine Kunst, von deren Arbeitsweise die Kulturwissenschaften lernen können. Weber versteht Wissenschaft als die Pflicht ihre Gegenstände zu Rationalisieren und zeigt, wo diese Pflicht sich an den Eigenständigkeiten der Musik bricht.
II. Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber (1864-1920) 1. Über den Umgang mit Werturteilen Max Weber wurde 1904 im Alter von 40 Jahren zum Mitherausgeber der angesehenen Zeitschrift "Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" bestellt. Das war eine ehrenvolle und einflußreiche Tätigkeit, deren Übernahme ihn sehr gefreut haben dürfte. Etwas von Webers Enthusiasmus spürt man zwischen den Zeilen seines Artikels "Die 'Objektivität' sozialwissenschaftlicher und sozialpolitischer Erkenntnis", mit dem er sich den Lesern als neuer Mitherausgeber vorstellt und zugleich das zukünftige Programm der Zeitschrift entwirft. Der schwerfällige Titel dieses Aufsatzes erklärt sich aus dem Namen der Zeitschrift, in der er erschien: Sie sollte unter ihren Lesern sowohl Sozialwissenschaftler als auch Sozialpolitiker ansprechen, und darum war Weber bemüht, seinen Aufsatz dieser Doppelthematik zu widmen. Der lange und komplizierte Titel bedeutet also einfach dies: Wie verhält es sich mit der 'Objektivität' dessen, was in dieser Zeitschrift veröffentlicht werden soll? Freilich war der Name der Zeitschrift, meist abgekürzt als 'das Archiv', mehr als nur ein erst neuerlich so beschlossenes Faktum, das Weber eben akzeptieren mußte. Die Doppelthematik "Sozialwissenschaft und Sozialpolitik" stellt ein zentrales und selbständiges Problem in Max Webers wissenschaftlichem Arbeiten dar. Es war für ihn durchaus fraglich, ob sozialwissenschaftlichem und sozialpolitischem Wissen derselbe Typ der Objektivität zugrundeliegen konnte. Ja selbst, ob beide Arten des Wissens in einer Zeitschrift gemeinsam behandelt werden sollten, oder ob es nicht besser wäre, ihnen je eigene Zeitschriften zu widmen, war für ihn problematisch. Es muß mit Zustimmung seiner beiden Mitherausgeber Werner Sombart und Edgar Jaffe geschehen sein, daß Weber diesen methodologischen Grundsatzartikel schrieb. Er erschien in Nummer 1 des 19. Bandes im Archiv für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik und war damit, soweit wir heute wissen, im März 1904 der Öffentlichkeit zugänglich. Zugleich spricht manches dafür, diese Arbeit als den Beginn der Phase des Weberschen Werkes anzusehen, die man der Soziologie zurechnen kann. Weber war der wissenschaftlichen Ausbildung nach Jurist und nach den Titeln seiner bis dahin erschienenen Arbeiten Rechtshistoriker, Volkswirt und Sozialpolitiker und er war darüber hinaus allgemein an politischen Fragen interessiert In diesem Jahr 1904 veröffentlichte er in rascher Folge die Aufsätze, die seinen Ruhm als Soziologe begründen sollten: Zuerst diesen Text, kurz Objektivitätsaufsatz genannt, im März 1904, dann den ersten Teil des zweiteiligen Artikels "Die protestantische Ethik und der
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Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber
'Geist' des Kapitalismus. I. Das Problem" (im Original: "Geist" in Anführungszeichen) im November 1904 und die Fortsetzung als zweiten Teil "Die protestantische Ethik und der 'Geist' des Kapitalismus. II. Die Berufsidee des asketischen Protestantismus" im Juni 1905. Alle drei Texte erschienen jeweils in der ersten Nummer eines Bandes, der Objektivitätsaufsatz in Band 19, der Protestantismusaufsatz, Teil 1, in Band 20 und der Protestantismusaufsatz, Teil 2, in Band 21. Da die neuen Herausgeber ihre Tätigkeit mit Band 19 übernahmen, begann dieser Band mit einem "Geleitwort der Herausgeber (zum Übergang des Archivs für Soziale Gesetzgebung und Statistik auf die neuen Herausgeber Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffe)" (S. 1-7). Der Objektivitätsaufsatz wurde in eine der als Buch veröffentlichten Aufsatzsammlungen Max Webers aufgenommen,
die unter
dem
Namen
"Gesammelte Aufsätze zur Wissenschaftslehre" (abgekürzt GAWL) bekannt ist. In der zweiten Auflage dieser "Wissenschaftslehre" von 1951 findet man den Text auf den Seiten 146 bis 214. Weber beginnt damit, daß er dem Archiv zwei Aufgaben zuweist: es soll dazu beitragen, das Wissen über soziale Tatsachen aus allen Ländern zu vermehren und es soll den Lesern helfen, in praktischen Angelegenheiten richtig zu urteilen (Weber, 1951: 147). Doch gleichsam in Eile fügt er hinzu, daß das Archiv eine wissenschaftliche Zeitschrift sein solle, daß also beide genannten Ziele ausschließlich mit wissenschaftlichen Methoden erreicht werden müssen. Das führt ihn direkt zu der zentralen Frage nach den Regeln, die für das Fällen von Urteilen gelten sollen, oder anders ausgedrückt: Welches sollen die Kriterien für die Gültigkeit von Werturteilen sein (ebd.) Alle Aussagen sollen wissenschaftlich sein, fordert Max Weber. Daher macht er sich nun daran, zu klären, was das zu bedeuten habe. Wissenschaftlich sind für ihn solche Denkergebnisse, die objektiv sind. Wegen ihrer objektiven Gültigkeit können sie als wahr akzeptiert werden (ebd.). Gibt es aber diesen Typ der Wahrheit überhaupt in dem Bereich der Wissenschaften, den Weber nun "Wissenschaften vom Kulturleben" (ebd.) nennt. Seine Unterteilung der Wissenschaften steht in der Kontinuität von Diltheys BegrifFspaar Naturwissenschaften - Geisteswissenschaften. Heinrich Rickert hatte nicht wie Dilthey von Geisteswissenschaften, sondern von Kulturwissenschaften gesprochen, und an ihn scheint Weber sich anzulehnen, wenn er die Formulierung "Wissenschaften vom Kulturleben" gebraucht. Die angesprochenen Leser des Archivs sind Wirtschaftswissenschaftler und Wirtschaftspolitiker, und so schreibt Weber, daß aus der Sicht der Ökonomie an deren Beginn zunächst die Aufgabe stand, "Werturteile über bestimmte wirtschaftspolitische Maßnahmen des Staates zu produzieren..." (ebd.: 148). So war die Volkswirtschaftslehre an ihrem Anfang eine
Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber
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Technik zur Erreichung bestimmter praktischer Effekte, vergleichbar der klinischen Medizin. Zwar entwickelte sich das Fach über diese Anfangsstadien hinaus, doch "eine prinzipielle Scheidung von Erkenntnis des 'Seienden' und des 'Seinsollenden'" (ebd.: 148) wurde nicht vollzogen. Als Grund für diesen Mangel nennt Weber - ganz ähnlich wie Dilthey - Schwächen der geschichtsphilosophischen Denkweisen. Das Archiv nimmt in den Personen seiner neuen Herausgeber eine eindeutige Stellung ein, indem es, wie Weber schreibt, den Gedanken entschieden zurückweist, eine empirische Wissenschaft könne die Aufgabe haben, Werturteile zu produzieren, und zwar "aus einer spezifisch 'wirtschaftliche Weltanschauung' heraus" (ebd.: 149). Weber begründet diese programmatische Zurückweisung so: Eine empirische Wissenschaft habe die Aufgabe, das 'Seiende' zu ermitteln. Aus dem, was ist, kann nicht geschlossen werden, was sein soll, also kann es keine empirische Grundlage geben, auf die sich eine Einzelwissenschaft stützen könnte, wenn es um die Ermittlung von Werten geht. Darum darf eine empirische Wissenschaft nicht den Irrweg beschreiten, ein Seinsollendes zu entwerfen und dann davon Rezepte oder praktische Handlungsanweisungen zu deduzieren. Insoweit hat eine Einzelwissenschaft wie die Nationalökonomie, die Weber hier vor Augen hat, und die Soziologie, für die das Gleiche gilt, werturteilsfrei zu sein. Das bedeutet aber nicht, daß etwa Werturteile von der wissenschaftlichen Diskussion ausgenommen wären. Werturteile sind vielmehr wissenschaftlicher Kritik zugänglich und solcher Kritik durchaus zu unterwerfen. Wie vollzieht sich demnach, und was ist der Zweck einer kritischen Diskussion von Idealen und von Werturteilen, fragt Weber weiter. Solche Kritik kann sich beziehen: auf das Verhältnis zwischen Zweck und Mittel und damit auf die Aufdeckung unbeabsichtigter Nebenfolgen und das Abwägen der "Kosten" solcher Nebenfolgen (ebd.: 149f). auf die "Kenntnis der Bedeutung des Gewollten selbst" (ebd.: 150), also auf die Frage, wie sinnvoll es überhaupt ist, einen bestimmten Zweck zu verfolgen, seine Verwirklichung anzustreben, und zwar bezogen auf die gegebene historische Situation oder Lage, in der die Verfolgung des fraglichen Zieles zur Debatte steht. In seiner berühmten Rede "Wissenschaft als Beruf' vom 7. November 1917 formuliert Weber das so: "Wir können so, wenn wir unsere Sache verstehen (was hier einmal vorausgesetzt werden muß), den Einzelnen nötigen, oder wenigstens ihm dabei helfen, sich selbst Rechenschaft zu geben über den letzten Sinn seines eigenen Tuns" (ebd.: 592). Weber geht von der Tatsache eines "Allzusammenhanges alles Geschehens" (ebd.: 150) aus, ganz ähnlich wie Dilthey das getan hat. Der Allzusammenhang läßt es überhaupt erst zu, die
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Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber
Erreichung eines Zweckes gegen die Kosten abzuwägen, die sie in Form der Verletzung anderer Werte verursacht. Die Wissenschaft hat mindestens den Bildungswert, aufgrund dessen jedem die Chance geboten wird zu lernen, daß es wertneutrales Handeln nicht geben kann, weil jedes Handeln, gleich in welcher Form, notwendig immer eine Stellungnahme für oder gegen bestimmte Werte bedeutet. Das gilt nach Weber ebenso für das Nichthandeln durch Handlungsabstinenz. Immer wenn jemand etwas tut oder unterläßt, vollzieht er eine "Parteinahme" (ebd.). Wissenschaft kann das dem Menschen bewußt machen, und sie kann ihm außerdem zeigen, welches die Bedeutung dessen ist, was er will. Bei alledem handelt es sich zwar mindestens zum Teil um Sozialphilosophie, jedoch hält Max Weber es für nötig, daß das Archiv, dessen neuer Mitherausgeber er geworden ist, sich diesen Problemen stellt, ja sie "in den Kreis ihrer wichtigsten Pflichten einbeziehen wird" (ebd.: 151). "Aber die wissenschaftliche Behandlung der Werturteile möchte nun weiter die gewollten Zwecke und die ihnen zugrunde liegenden Ideale nicht nur verstehen und nacherleben lassen, sondern vor allem auch kritisch 'beurteilen' lehren. Diese Kritik freilich kann nur dialektischen Charakter haben..." (ebd.). Mit "dialektisch" meint Max Weber "eine formal-logische Beurteilung" und "eine Prüfung der Ideale an dem Postulat der inneren Widerspruchslosigkeit des Gewollten" (ebd.). Eine kritische Beurteilung also der Werturteile hält Weber durchaus für möglich und nötig. Wenn aber der einzelne Handelnde sich erst einmal seiner Wertungen und vielleicht auch der inneren Widersprüchlichkeit seiner Werte bewußt geworden ist, dann darf es keinesfalls von den empirischen Wissenschaften übernommen oder erwartet werden, dem einzelnen zu sagen, welche Werte er für richtig halten soll, oder zu welchen Werten er sich öffentlich bekennen sollte. Dazu findet Weber die einprägsame Formulierung: "Eine empirische Wissenschaft vermag niemanden zu lehren, was er soll, sondern nur, was er kann und - unter Umständen was er will" (ebd.). Ohne ausdrücklich auf Nietzsche Bezug zu nehmen, aber doch in innerer Nähe zu dessen Denkweise, erklärt Weber "gerade jene innersten Elemente der 'Persönlichkeit', die höchsten und letzten Werturteile, die unser Handeln bestimmen und unserem Leben Sinn und Bedeutung geben, werden von uns als etwas 'objektiv' Wertvolles empfunden. Wir können sie ja nur vertreten, wenn sie uns als geltend, als aus unseren höchsten Lebenswerten fließend, sich darstellen..." (ebd. . 152). Darin liegt nun freilich ein Bekenntnis, das zu formulieren Weber sich nicht scheut. Jedenfalls sind für ihn Überlegungen zur Gültigkeit von Werten eine Angelegenheit des Glaubens, der Überzeugung und auf keinen Fall eine der empirischen Wissenschaft, gleich welcher Disziplin. Konflikte sieht Weber nicht nur als Klassenkonflikte oder als Auseinandersetzungen über Fragen des Besitzes und der Verfügungsmacht über materielle Dinge, sondern für ihn entste-
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hen Konflikte zwischen den Repräsentanten verschiedener Weltanschauungen. Dabei gesteht er zu, daß sich zwischen einem "Klasseninteresse" und einer bestimmten Weltanschauung eine "Wahlverwandtschaft"
ergeben kann (ebd.: 153).
Weber kommt zurück zu der Aussage, daß die empirischen Wissenschaften unzuständig sind, wenn es darum geht, Werte als gültig zu erklären. Das können - wie wir in dem Kapitel über Kant schon sahen - nur Religionsgemeinschaften, und zwar vorwiegend solche mit bestimmten Merkmalen, von denen Weber schreibt: "Nur positive Religionen - präziser ausgedrückt: dogmatisch gebundene Sekten - vermögen dem Inhalt von Kulturwerten die Dignität unbedingt gültiger ethischer Gebote zu verleihen" (ebd.: 154). Diese Grenzziehung zwischen Wissenschaft und Glaube ist eines der unverwechselbaren Merkmale der Wissenschaftslehre Max Webers. Freilich ist diese Position Max Webers selbst eine weltanschauliche Stellungnahme eigener Art. Sie wird am eindrucksvollsten deutlich aus der folgenden Formulierung: "Das Schicksal einer Kulturepoche, die vom Baum der Erkenntnis gegessen hat, ist es, wissen zu müssen, daß wir den Sinn des Weltgeschehens nicht aus dem noch so sehr vervollkommneten Ergebnis seiner Durchforschung ablesen können, sondern ihn selbst zu schaffen imstande sein müssen, daß 'Weltanschauungen' niemals Produkt fortschreitenden Erfahrungswissens sein können, und daß also die höchsten Ideale, die uns am mächtigsten bewegen, für alle Zeit nur im Kampf mit anderen Idealen sich auswirken, die anderen ebenso heilig sind, wie uns die unseren" (ebd.). Dieser Satz konzentriert auf engstem Raum eine Reihe fundamentaler Aussagen. Weber greift die These auf, daß Erfahrungswissenschaften keine Werte begründen können, daß man also den Sinn des Weltgeschehens nicht ermitteln kann, selbst wenn man Geschichte und Gesellschaft mit aller nur erdenklicher Gründlichkeit durchforscht. Dann geht er über zu dem Grundsatz Kants und Simmeis, daß der Forscher selbst sich seine Wirklichkeit konstruieren muß: Weber schreibt vom Sinn des Weltgeschehens, daß wir ihn "selbst zu schaffen imstande sein müssen" (ebd.). Der dritte wichtige Gedanke ist der, daß sich Ideale stets nur "im Kampf mit anderen Idealen" (ebd.) auswirken können. Daran schließt endlich ein vierter Gedanke an, nach dem anderen ihre Ideale "ebenso heilig sind, wie uns die unseren" (ebd.). Weber hält nichts von oberflächlichen Kompromissen und von einem "optimistische(n) Synkretismus" (ebd.), der aus verschiedenen miteinander unvereinbaren Weltanschauungen hier dieses, dort jenes Teilstück herausnimmt und zu einem neuen Mischgebilde zusammenstükkelt. Solche Synkretisten präsentieren sich gern im Gewände des friedenstiftenden Vermittlers, doch Weber erkennt an ihnen die Seite des Opportunisten. Er schreibt gegen diese Kompromißler, daß die Suche nach Wahrheit mit dem Einschwenken auf eine mittlere Linie nichts zu schaffen hat: "Es kann selbstverständlich subjektiv im einzelnen Falle genau ebenso
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Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber
pflichtgemäß für den praktischen Politiker sein, zwischen vorhandenen Gegensätzen der Meinungen zu vermitteln, als für eine von ihnen Partei zu ergreifen. Aber mit wissenschaftlicher 'Objektivität' hat das nicht das Allermindeste zu tun. Die 'mittlere Linie' ist um kein Haarbreit mehr wissenschaftliche Wahrheit, als die extremsten Parteiideale von rechts oder links" (ebd.). Die Folgerung für die Redaktionspolitik der neuen drei Herausgeber, in deren Namen Weber hier schreibt, ist eindeutig: "Das Archiv wird die schwere Selbsttäuschung, man könne durch Synthese von mehreren oder auch der Diagonale zwischen mehreren Parteiansichten praktische Normen von wissenschaftlicher Gültigkeit gewinnen, unbedingt bekämpfen, denn sie ist, weil sie ihre eigenen Wertmaßstäbe relativistisch zu verhüllen liebt, weit gefährlicher für die Unbefangenheit der Forschung als der alte naive Glaube der Parteien an die wissenschaftliche 'Beweisbarkeit' ihrer Dogmen" (ebd.: 155). Zwei Pflichten weist Weber denen zu, die in seinem Lager stehen: eine wissenschaftliche und eine praktische. Wissenschaftliche Pflicht ist es, die Wirklichkeit der Fakten unverfälscht zu sehen, und praktische Pflicht ist es, für die eigenen Ideale und Werte offen einzustehen. Wenn im wissenschaftlichen Handeln, wenn in der Forschung selbst Werte zur Geltung kommen müssen, dann darf das nur unter der Voraussetzung geschehen, daß solche Werte offengelegt werden, und zwar bedeutet das, daß sie als außerwissenschaftliche Vorentscheidungen, gleichsam als apriorische Rahmenbedingung des wissenschaftlichen Arbeitens eingestanden und unverhüllt anerkannt werden, und zwar von dem Wissenschaftler selbst, der so vorgehen will (ebd.: 156). Neben dem Anliegen der Sozialwissenschaften soll das Archiv freilich auch dem der Sozialpolitik seinen legitimen Platz einräumen. Sozialpolitik sieht Weber als "die Darlegung von Idealen" (ebd.: 157). Doch in konsequenter Fortführung der bisher schon vorgetragenen Argumente schreibt er: "Aber wir denken nicht daran, derartige Auseinandersetzungen für 'Wissenschaft' auszugeben und werden uns nach besten Kräften hüten, sie damit vermischen oder verwechseln zu lassen" (ebd.). Die Unterscheidung, um die es Weber immer geht, präzisiert er noch einmal entlang der Dichotomie Denken - Wollen oder jener verwandten Gegenüberstellung Verstand - Gefühl. Damit endet Teil I des "Objektivitätsaufsatzes". Im zweiten Teil nennt Weber die Themen, denen das Archiv gewidmet sein soll. Die Ausführungen sind ausdrücklicher auf das Interesse des Wirtschaftswissenschaftlers zugeschnitten und darum für uns als Soziologen von etwas geringerer Bedeutung. Weber nennt die Namen von Karl Marx und von Wilhelm Roscher (1817-1894), der als Nationalökonom Begründer und bedeutendster Vertreter der älteren historischen Schule war. Roscher hatte die Gesetzessuche der Klassiker seines Fa-
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ches abgelehnt, die meinten, Regelmäßigkeiten finden zu können, die für alle Völker aller Kulturen und aller Zeiten gelten. Statt dessen forderte schon Roscher den Kulturvergleich durch die Gegenüberstellung der Wirtschaftsweisen der verschiedenen Völker zu verschiedenen historischen Epochen. Roscher und einem anderen Vertreter der älteren historischen Schule der Nationalökonomie, Karl Gustav Adolf Knies (1821-1898), dessen Nachfolger Weber in Heidelberg wurde, ist eine Reihe von drei Aufsätzen gewidmet, die Max Weber unter dem Rahmentitel "Roscher und Knies und die logischen Probleme der historischen Nationalökonomie" in den Jahren 1903, 1905 und 1906 in Schmollers Jahrbuch veröffentlichte. Ziel bleibt für Weber, mit der isolierten Betrachtung der Wirtschaft abzuschließen. Sie leuchtet ihm durchaus nicht ein. Statt dessen vertritt er die Perspektive der "Sozialökonomie" und strebt "die Heraushebung der sozialökonomischen Seite des Kulturlebens" (165) an. "Wir ziehen nur die Konsequenzen dieses Verhaltens, wenn wir jetzt als eigenstes Arbeitsgebiet unserer Zeitschrift die wissenschaftliche Erforschung der allgemeinen Kulturbedeutung
der
sozialökonomischen
Struktur des menschlichen Gemeinschaftslebens und seiner historischen Organisationsformen bezeichnen. - Dies und nichts anderes meinen wir, wenn wir unsere Zeitschrift 'Archiv für Sozialwissenschaft' genannt haben" (ebd.: 165). Der Name der Zeitschrift ist so neu wie die Herausgeberschaft durch Werner Sombart, Max Weber und Edgar Jaffe. Den Zusatz "und Sozialpolitik" übergeht Weber an dieser Stelle. Aber jedenfalls begründet er die Namensänderung des Archivs, das vorher den Namen trug: "Archiv für Soziale Gesetzgebung und Statistik". Die Kontinuität ist gewahrt in der Kurzbenennung als "Das Archiv", das übrigens später ganz in das Eigentum von Edgar Jaffe überging Zum Verständnis der Methode Max Webers in der Tradition Kants, Diltheys und Simmeis ist seine Aussage dazu wichtig, was eine einzelwissenschaftliche Disziplin konstituiert: "Nicht die 'sachlichen' Zusammenhänge der 'Dinge', sondern die gedanklichen Zusammenhänge der Probleme liegen den Arbeitsgebieten der Wissenschaften zugrunde..." (ebd.: 166). So wie sich der Gegenstand der Forschung erst in der Beschäftigung mit ihm konstituiert, so sind auch die Grenzen zwischen den einzelnen Wissenschaften weniger durch die zu erforschende Realität vorgegeben als vielmehr durch die methodischen Festlegungen des Problems, das untersucht werden soll. Weber distanziert sich kritisch vom historischen Materialismus (ebd.: 166f), wie das ja auch Simmel getan hat. Er antizipiert den von Hans Freyer populär gemachten Begriff "Wirklichkeitswissenschaft", wenn er schreibt: "Die Sozialwissenschaft, die wir betreiben, ist eine Wirklichkeitswissenschaft. Wir wollen die uns umgebende Wirklichkeit des Lebens, in
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welches wir hineingestellt sind, in ihrer Eigenart verstehen - den Zusammenhang und die Kulturbedeutung ihrer einzelnen Erscheinungen in ihrer heutigen Gestaltung einerseits, die Gründe ihres geschichtlichen So-und-nicht-anders-Gewordenseins andererseits" (ebd.: 170f.) Dem Konzept der Wirklichkeitswissenschaft stellt Weber den der Kulturwissenschaft zur Seite. "Wir haben als 'Kulturwissenschaften' solche Disziplinen bezeichnet, welche die Lebenserscheinungen in ihrer Y^AXvsbedeutung zu erkennen strebten. Die Bedeutung der Gestaltung einer Kulturerscheinung und der Grund dieser Bedeutung kann aber aus keinem noch so vollkommenen System von Gesetzesbegriffen entnommen, begründet und verständlich gemacht werden, denn sie setzt die Beziehung der Kulturerscheinungen auf Wertideen voraus. Der Begriff der Kultur ist ein Wertbegriff. Die empirische Wirklichkeit ist für uns 'Kultur', weil und insofern wir sie mit Wertideen in Beziehung setzen..." (ebd.: 175). Auch als Professor der Volkswirtschaftslehre bleibt Max Weber am Studium der Kultur des Menschen im weitesten Sinne interessiert, und insofern stehen seine früheren Arbeiten als Rechtshistoriker in ungebrochener Kontinuität zu dem, was er als Ökonom oder was er als Soziologe schreibt Heute gilt Max Weber als Hauptvertreter der 'Verstehenden Soziologie'. Doch die Grundlegung seiner Methode geht zurück auf Dilthey und Simmel, deren Schriften Weber genau gekannt hat und denen er vieles verdankt.
2. Zur Konstruktion von Idealtypen Die Methode des Verstehens, die Max Weber entwickelt und empfohlen hat, ist eng mit einem Verfahren verknüpft das Weber "Konstruktion von Idealtypen" genannt hat. Die Grundzüge dieses Verfahrens findet der Leser ebenfalls in dem Objektivitätsaufsatz, von dem im vorigen Abschnitt schon die Rede war. Weiterhin sind die Beispiele für wissenschaftliche Problemlösungen aus der Nationalökonomie, der heutigen Volkswirtschaftslehre genommen, wobei Max Weber allerdings die Tradition der historischen Schule der Wirtschaftsforschung fortsetzen will und teils deshalb, teils auch unabhängig davon seine methodische Auseinandersetzung mit Historikern führt. Simmel hält es für normal - ähnlich wie Spinoza - daß der Mensch sich aufgrund bestimmter Wertungen ein Bild von der Wirklichkeit schafft, dann aber verleugnet, zu dieser Konstruktion auch nur einen Beitrag geleistet zu haben, und sich statt dessen das Produkt seiner eigenen Kreativität als objektiv gegeben vorstellt. Max Weber geht ähnlich vor, wenn auch er, wie Simmel, gut eingebürgerten Vorgehensweisen eine neue Deutung gibt, jedoch bezieht Weber seine erkenntnistheoretischen oder - wie Weber selbst schreibt - logischen Erörterungen nicht allgemein auf alle Menschen in deren jeweiligen Alltagswelt, sondern ausschließlich auf den Wissenschaftler, hier konkret den Wirtschaftswissenschaftler.
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Ausarbeitung des Verstehenden Ansatzes durch Max Weber
Max Weber stellt seinem Leser die "abstrakte(n) Wirtschaftstheorie" (ebd.: 190) vor Augen, "welche man als 'Ideen' historischer Erscheinungen zu bezeichnen pflegt" (ebd.). Sie ergeben sich eben nicht induktiv als gleichsam naturwissenschaftlicher Kosmos von Gesetzen, die aus unerbittlich wirksamen Trieben des Menschen und ohne einen Konstruktionsbeitrag des Forschers logisch gefolgert werden könnten. Sie sind statt dessen für Max Weber notwendig konstruiert, und er verfährt insoweit ganz ähnlich wie Simmel, als er das methodische Vorgehen, das ohnehin geschieht, das längst üblich ist und kaum rasch verändert werden kann, gleichsam entlarvt, indem er darlegt, daß seine Autoren nicht wissen was sie tun, weil in Wahrheit unerkannt etwas geschieht, was sie nicht vermuten oder verleugnen, nämlich das Konstruieren von Idealtypen. "Dieses Gedankenbild vereinigt bestimmte Beziehungen und Vorgänge des historischen Lebens zu einem in sich widerspruchslosen Kosmos gedachter
Zusammenhänge. Inhaltlich
trägt diese Konstruktion den Charakter einer Utopie an sich, die durch gedankliche
Steige-
rung bestimmter Elemente der Wirklichkeit gewonnen ist. Ihr Verhältnis zu den empirisch gegebenen Tatsachen des Lebens besteht lediglich darin, daß da, wo Zusammenhänge der in jener Konstruktion abstrakt dargestellten Art, also vom 'Markt' abhängige Vorgänge, in der Wirklichkeit als in irgend einem Grade wirksam festgestellt sind oder vermutet werden, wir uns die Eigenart dieses Zusammenhangs an einem Idealtypus pragmatisch
veranschaulichen
und verständlich machen können. Diese Möglichkeit kann sowohl heuristisch, wie für die Darstellung von Wer, ja unentbehrlich sein" (ebd.). Das Zitat ist darum wichtig, weil es die Einführung des Idealtypus in den Text des Objektivitätsaufsatzes enthält. Der Begriff "Gedankenbild" erinnert an Simmeis wiederholten Vergleich des verstehenden Nachschaffens mit der Kreativität des Künstlers, zumal des Malers. Die Zusammenhänge werden widerspruchslos gedacht, und Weber bezeichnet das Ergebnis auch als Utopie, also als in des Wortes Urbedeutung etwas, das es so nirgendwo gibt. Zweck und Aufgabe des Konstruktionsverfahrens, das zur Utopie oder zum Idealtypus führt, ist es, die Eigenart eines Zusammenhangs zu veranschaulichen und sie verständlich zu machen (ebd.). "Für die Forschung will der idealtypische Begriff das Zurechnungsurteil schulen: er ist keine 'Hypothese', aber er will der Hypothesenbildung die Richtung weisen. Er ist nicht eine Darstellung
des Wirklichen, aber er will der Darstellung eindeutige Ausdrucksmittel
verleihen" (ebd.. All dies ist wie bei Simmel die notwendige Neufassung der Logik als Reaktion auf den Kritizismus Immanuel Kants. Es ist das Anerkenntnis des Konstruktionsbeitrags, den der Wissenschaftler bei der Theoriebildung leistet. Aber im Unterschied zu Simmel kreist das methodologische Denken Webers - wie erwähnt - nur um die Aktivitäten des Wissenschaftlers,
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nicht die das Alltagsmenschen. Daraus ergibt sich dann trotz der Zurückweisungen von Deduktion und Gesetzessuche und trotz der Ablehnung von Analogien zur Naturwissenschaft bei Weber eine größere Nähe zum naturwissenschaftlichen Objektivitätsbegriff. Zunächst fährt Weber mit der Einfuhrung des Idealtypus als heuristischem Werkzeug fort, indem er genau beschreibt, wie der Wissenschaftler bei der "historische(n) Arbeit" vorzugehen hat. Die Frage: wie gelangt man zu einem Idealtypus beantwortet er so: "Er wird gewonnen durch einseitige Steigerung eines oder einiger Gesichtspunkte und durch Zusammenschluß einer Fülle von diffus und diskret, hier mehr, dort weniger, stellenweise gar nicht, vorhandenen £7«ze/erscheinungen, die sich jenen einseitig herausgehobenen Gesichtspunkten fugen, zu einem in sich einheitlichen GedankeribMe. In seiner begrifflichen Reinheit ist diese Gedankenbild nirgends in der Wirklichkeit empirisch vorfindbar, es ist eine Utopie, und für die historische Arbeit erwächst die Aufgabe, in jedem einzelnen Falle festzustellen, wie nahe oder wie fern die Wirklichkeit jenem Idealbilde steht..." (ebd.: 191). Damit ist der Übergang vollzogen von der Position, die nur ein allgemein übliches Verfahren neu deutet Wir hatten ja den Weg zur Konstruktion des Idealtypus bei Max Weber bisher in diesen Schritten nachgezeichnet: Weber weist den quasi naturwissenschaftlichen Anspruch zurück, man könne eine Kulturtheorie der Wirtschaft als System von Gesetzen auf der Grundlage unerbittlicher menschlicher Triebe induktiv erarbeiten und dann davon Antworten auf Einzelfragen deduzieren. Weber nimmt die ihm abgeschlossen vorliegende wissenschaftliche Theoriebildung zur Kenntnis, macht aber seinem Leser bewußt, daß es sich dabei in Wahrheit um die Konstruktion von Idealtypen handelte, selbst wenn das den Autoren nicht einsichtig war. Weber empfiehlt das absichtliche und planmäßige Konstruieren von Idealtypen und gibt dazu genauere Anweisungen. Als anschauliche Beispiele nennt Weber: "die 'Idee' der historisch gegebenen modernen verkehrswirtschaftlichen Organisation der Gesellschaft" (ebd.: 190f), "die Idee der 'Stadtwirtschaft 1 des Mittelalters... nicht etwa als einen Durchschnitt der in sämtlichen beobachteten Städten tatsächlich bestehenden Wirtschaftsprinzipien, sondern ebenfalls als einen Idealtypus" (ebd.: 191), "die 'Idee' des 'Handwerks'" (ebd.) als Resultat des Versuchs, eine Gesellschaft zu zeichnen, in der alle Zweige wirtschaftlicher, ja selbst geistiger Tätigkeit von Maximen beherrscht werden, die uns als Anwendung des gleichen Prinzips erscheinen, welches dem zum Idealty-
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pus erhobenen 'Handwerk' charakteristisch ist. Man kann nun weiter jenem Idealtypus des Handwerks als Antithese einen entsprechenden Idealtypus einer kapitalistischen Gewerbeverfassung, aus gewissen Zügen der modernen Großindustrie abstrahiert, entgegensetzen und daran anschließend den Versuch machen, die Utopie einer 'kapitalistischen' d.h. allein durch das Verwertungsinteresse privater Kapitalien beherrschte Kultur zu zeichnen" (ebd.). Auf der Grundlage dieser letztgenannten Konstruktion ergibt sich endlich als Beispiel die '"Idee' der kapitalistischen Kultur" (ebd : 192). Gerade der Hinweis auf dieses letzte der vier Beispiele, auf den Idealtypus der "kapitalistischen Kultur" macht deutlich, daß Weber uns in diesem Objektivitätsaufsatz von 1904 nicht nur methodische Möglichkeiten vage andeutet, sondern daß er uns gleichsam einen Blick in die eigenen Werkstatt tun läßt; denn, wie bekannt, hat Weber gerade mit seinem Idealtyp
der
aus der protestantischen
Ethik
des Kalvinismus
entwickelten
"kapitalistischen Kultur" seinen Weltruhm als Soziologe begründet und eine nicht endende Debatte ausgelöst. Aus dem Studium dessen, was ist kann unter gar keinen Umständen abgeleitet werden, was sein soll. Daran ändert sich selbstverständlich auch dann nichts, wenn man sich als Denkund Darstellungs- und Deutungswerkzeuge Idealtypen konstruiert. Das Mißverständnis, etwas, das den Begriff 'Ideal' enthalte, müsse doch wohl auf gute und erwünschte Zustände hindeuten, sieht Weber voraus, und er scheidet scharf zwischen dem "Gedanke(n) des Seinsollenden, 'Vorbildlichen'" (ebd.) einerseits, daß hier nicht gemeint ist, und "in rein logischem Sinn 'idealen' Gedankengebilden" (ebd.) andererseits, um die es sich hier allerdings handelt Aber nicht nur demjenigen gibt Weber eine Absage, der eine normative Theorie wünscht und sich daher vom Idealtypus einen Hinweis darauf erhofft, wie die Dinge geordnet sein sollen. Wir finden ihn wieder an der Seite vom Georg Simmel, wenn er ganz ebenso wie die normative Theorie auch den erkenntnistheoretischen Realismus zurückweist, gegen den Simmel sein Buch "Die Probleme der Geschichtsphilosophie" geschrieben hat. Der Idealtypus kann also weder aussagen, was sein soll noch auch unbearbeitet gleichsam im Rohzustand die Wirklichkeit so wiedergeben, wie sie objektiv ist\ Idealtypische Begriffe, wie Max Webers sie verwenden will, sind also für Realisten nicht geeignet: "Wer auf dem Standpunkt steht, daß die Erkenntnis der historischen Wirklichkeit 'voraussetzungslose' Abbildung 'objektiver' Tatsachen sein solle oder könne, wird ihnen jeden Wert absprechen" (ebd.). Weber wirbt nicht für seine Position, um den Vertreter des erkenntnistheoretischen Realismus zu überzeugen, sondern er schließt einfach: wer den Realismus konsequent vertritt, wird notwendig idealtypischen Begriffen "jeden Wert absprechen" (ebd.). Ihre letzte gültige Quelle ist näm-
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lieh nicht die Empirie, sondern die Phantasie. "Es handelt sich um die Konstruktion von Zusammenhängen, welche unsere Phantasie als zulänglich motiviert und also 'objektiv möglich', unserem nomologischen Wissen als adäquat erscheinen" (ebd.). Wenn der Idealtypus nicht sagen darf, was wünschenswert ist, wenn er nicht sagen kann, was man tatsächlich da draußen in der unberührten Wirklichkeit vorfindet, dann ist zu befurchten, daß seine Kritiker ihn "überwiegend... einfach als Spielerei ansehen" (ebd.: 193) werden. "Und in der Tat: ob es sich um reines Gedankenspiel oder um eine wissenschaftlich fruchtbare Begriffsbildung handelt, kann a priori niemals entschieden werden: es gibt auch hier nur einen Maßstab: den des Erfolges für die Erkenntnis konkreter Kulturerscheinungen in ihrem Zusammenhang, ihrer ursächlichen Bedingtheit und ihrer Bedeutung Nicht als Ziel, sondern As Mittel kommt mithin die Bildung abstrakter Idealtypen in Betracht" (ebd.). Hier legt Max Weber das Kriterium offen, mit Hilfe dessen das Konstruieren von Idealtypen wissenschaftlich kontrolliert werden kann: Der Idealtypus muß seine Fruchtbarkeit erweisen, der Erfolg bei dem Ringen um neue und klarere Erkentnisse entscheidet darüber, ob die Konstruktion legitim war oder nicht. Freilich ist dies nicht das einzige Kriterium, aber es ist ein notwendiges. Ein weiterer Einwand, nach jenem, der im Konstruieren von Idealtypen überwiegend eine Spielerei sieht, ist mit dem Hinweis auf das Fehlen einer dauerhaften Gültigkeit gegeben. Naturwissenschaftliche Gesetze werden ja in der Erwartung formuliert, daß sie Aussagen sind über Tatbestände, die sich nicht ändern. Denn z.B. eine Änderung der planetarischen Ordnung unseres Sonnensystems brächte das Ende der Bewohnbarkeit der Erde und damit der Wissenschaft. Nun kennt Max Weber den Einwand gegen die Methode, die er vertritt, in dem deren Gegner sie mit der Unreife der Volkswirtschaftslehre oder der jeweiligen Kulturwissenschaft in Verbindung bringen. Eine ausgereifte Wissenschaft dagegen sei sehr wohl in der Lage, Ergebnisse vorzulegen, die nicht ständig überholt würden. Aus der angesonnenen Unreife macht Weber - wie wir schon in der Einfuhrung sahen - die Lebenskraft der Jugend, die eben mancher dürr gewordenen älteren Wissenschaft fehlt: "(Sondern vor allem:) es gibt Wissenschaften, denen ewige Jugendlichkeit beschieden ist, und das sind alle historischen Disziplinen, alle die, denen der ewig fortschreitende Fluß der Kultur stets neue Problemstellungen zufuhrt. Bei ihnen liegt die Vergänglichkeit aller, aber zugleich die Unvermeidbarkeit immer neuer idealtypischer Konstruktionen im Wesen der Aufgabe" (ebd.: 206). Aus der Not, daß sich wissenschaftliche Ergebnisse im Bereich der Kulturwissenschaften durch den Wandel ihrer Gegenstände überholen, macht Max Weber die Tugend der stets neuen idealtypischen Konstruktionen, die geschaffen werden müssen, damit die Wissenschaft mit der Wirklichkeit Schritt halten kann. Weber schreibt am Ende
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des Objektivitätsaufsatzes: "Das Licht der großen Kulturprobleme ist weiter gezogen. Dann rüstet sich auch die Wissenschaft, ihren Standort und ihren Begriffsapparat zu wechseln und aus der Höhe des Gedankens auf den Strom des Geschehens zu blicken..." (ebd.: 214). Das ist der Entwurf des verstehenden Ansatzes, wie Weber ihn in seinem Objektivitätsaufsatz von 1904 vorlegt. Doch diese Position, die zu der von Georg Simmel in deutlicher Nähe steht, hält er nicht durch. Im Laufe der Jahre von 1906 bis 1911, welche die Max-WeberForscher gelegentlich auch "die dunklen Jahre" nennen (Küenzlen, 1980: 46-55), geht Weber zu Simmel in manchen Einzelheiten seiner Methode auf Distanz. Nach seinem Tode erst wird "Wirtschaft und Gesellschaft" von seiner Witwe herausgegeben, doch die Arbeiten daran müssen etwa 1911 begonnen worden sein (Küenzlen, 1980: 50). Darin findet man den anderen Weber dokumentiert. Obwohl Max Weber und Georg Simmel Vertreter des verstehenden Ansatzes als Methode der Soziologie sind, (Max Weber bezieht sich 1905 zustimmend auf Simmeis Konzept des Verstehens), findet man in "Wirtschaft und Gesellschaft" einige Passagen, in denen deutlich wird, daß nun beide voneinander abweichen Vor diesem Hintergrund läßt sich zeigen, daß solchen Verschiedenheiten der methodischen Standpunkte nicht oberflächliche Differenzen zwischen den beiden Autoren zugrundeliegen, sondern daß sie konsequent aus der jeweiligen Erkenntnistheorie folgen, die Weber und Simmel vertreten haben. In dem für den "Grundriß der Sozialökonomik" geschriebenen Text "Soziologische Grundbegriffe" erwähnt Weber "Simmeis Methode (in der 'Soziologie' und in 'Philos. des Geldes')", von der er "durch tunlichste Scheidung des gemeinten von dem objektiv gültigen 'Sinn'" (Weber, 1951: 527) ausdrücklich abweichen will. Aufgabe "der empirischen Wissenschaften vom Handeln" (ebd.: 528), also "der Soziologie und der Geschichte" sei es, ihr Erkenntnisinteresse auf den gemeinten Sinn auszurichten, während "Jurisprudenz, Logik, Ethik" und andere dogmatische Disziplinen "den 'richtigen', 'gültigen', Sinn erforschen wollen" (ebd.). Webers Bemerkung, nach der Simmel beide Erscheinungsformen von Sinn "nicht nur nicht immer scheidet, sondern oft absichtsvoll ineinander fließen läßt" (ebd.: 527), signalisiert keineswegs eine nachlässige Arbeitsweise Simmeis, sondern dessen Erkenntnistheorie, nach der jeder Sinn das Ergebnis eines Konstruktionsvorgangs ist, und eine objektive Wahrheit zwar nicht in ihrer Existenz geleugnet, aber ihre unverformte Erkennbarkeit prinzipiell bestritten wird. Max Weber weist die Neigung, soziale Gebilde "genau so zu behandeln wie Einzelindividuen" (ebd.: 538f.) der Jurisprudenz zu, legt dagegen die Soziologie auf einen methodischen Individualismus fest, nach dem nur die Personen und deren Handlungen im Sinne der Empirie real sind (ebd.: 539). So sind Kollektivgebilde für ihn "Vorstellungen..- in den Köpfen
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realer Menschen" (ebd.), die er gegen das reale Geschehen abgrenzt (ebd.: 540). Für Simmel besteht in Kultur und Gesellschaft alle geistige und soziale Realität aus Vorgestelltem, daher ist auf der Grundlage von Simmeis erkenntnistheoretischen Prämissen die Scheidung, die Weber vornimmt, nicht möglich.
3. Protestantische Ethik und kapitalistischer Geist Max Weber hat die Entstehung des kapitalistischen Geistes aus der protestantischen Ethik aufgezeigt und den Idealtyp der kapitalistischen - oder allgemeiner gesagt: westlich abendländischen - Kultur herausgearbeitet. Er fragt dabei auch nach den Ursprüngen rationaler Wissenschaft, wie sie vor allem in Gestalt der von der Theologie emanzipierten Kulturwissenschaft entstanden ist. Warum hat dieser charakteristische Typ menschlichen Wissens auf dem der gewaltige technische Fortschritt des Westens beruht, sich nur in Europa und in Nordamerika herausbilden können. Andere große alte Kulturen, wie die von Mesopotamien, Ägypten, China und dem vorkolonialen Indien, haben zwar bemerkenswerte Errungenschaften der Wissenschaft vorzuweisen. Ihnen lagen viele einzelne Komponenten vor, die man ebenso im Westen antrifft. Aber diese oder jene typische Zutat, die beim "Backrezept" der Abendländischen Kultur nicht fehlen durfte, war in diesen anderen Kulturen nicht vorhanden. Entweder fehlte die hochentwickelte Mathematik oder das Verfahren des kontrollierten Experiments oder die rationale Begriffsbildung usw. Nur in der westlich christlich protestantischen Kultur haben sich nach Max Weber diese Zutaten nach einem einzigartigen Rezept miteinander verbunden. Max Weber betrachtet neben der Wissenschaft die politische Herrschaft: In alten Hochkulturen findet man wie im Westen eine gut ausgebildete Beamtenschaft die in der Lage war, zuverlässige Dienstleistungen zu erbringen, aber nur im Westen entstand - heute oft zu unserer Verärgerung - die Verbindung des fachgebildeten Beamten mit dem rationalen bürokratischen System, das an strikte Verfahrensweisen, an Aktenkundigkeit der Behördenhandlungen und an die Entscheidungsfindung ohne Ansehen der Person gebunden ist. Diese rationale Herrschaftsform, die Max Weber im Zusammenhang mit seiner Entwicklung des Idealtyps der rationalen Bürokratie beschreibt, mußte jede Bevorzugung von Verwandten oder jede Entgegennahme von Bestechungsgeldern zum Erliegen bringen. Wenn man diese rationale bürokratische Herrschaft mit einem hochentwickelten Rechtssystem verbindet, erreicht man die Kombination westlich parlamentarisch demokratischer staatlicher Herrschaft. Ein anderes Thema, das Max Weber beschäftigt, ist die Kunst Die Rationale, auf mathematische Grundsätze zurückfuhrbare Musiktheorie der Harmonie hat sich nur im Westen entwickelt. In der Malerei ergab sich nur hier die mathematisch konstruierte Perspektive, mit
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deren Hilfe die Illusion der dritten Dimension auf die zweidimensionale Leinwand des Malers gebannt werden konnte. Im Rahmen des Prozesses fortlaufender Rationalisierung sieht Max Weber die Entwicklung der vernunftgemäßen und nüchternen Weltsicht: Es gibt keine Nymphen mehr, keine Geister, keine Gespenstererscheinungen, keine Trolle oder Zwerge oder sonst irgend etwas Magisches oder Überweltliches. Vor dem Hintergrund einer vom kalvinistischen Protestantismus gesteuerten Rationalisierung und Entzauberung des Diesseits wird Gott selbst höflich aufgefordert, doch bitte sehr nicht in Tabernakeln zu sitzen, sondern sich ganz aus der Reichweite des diesseitigen Menschen ins Jenseits zurückzuziehen. Wer immer oder was immer sich nicht dem Gesetz der Schwerkraft unterwirft soll aus der diesseitigen Welt verschwinden. Die Welt besteht ausschließlich aus materiellen Dingen, und der Mensch wurde in sie eingesetzt, um sie sich Untertan zu machen, um sie zu manipulieren und um ihren Stoff als Rohmaterial und wie Bauklötze in einem Baukasten zu benutzen. Das Ergebnis ist die Entzauberung der Welt. Während frühe Soziologen wie August Comte und Karl Marx die Religion als eine Durchgangsstufe im abergläubischen Denken des Menschen betrachteten, die sich schließlich in rational wissenschaftliches Denken auflösen würde, und die nur vorübergehend die Entwicklung der Kultur behindern könnte, sieht Max Weber auf dem Weg der Herstellung neuer Kulturkontexte zur Moderne hin in der Religion gerade die entscheidende Antriebskraft, gleichsam den Motor der geschichtlichen Entwicklung. Zu den Ingredienzien der modernen kapitalistischen Kultur, deren einzigartige Kombination Max Weber idealtypisch beschreibt, gehört neben Rationalisierung und Entzauberung die Askese. Wieder haben wir es mit einer Zutat zu tun, die auch in den Backrezepten anderer Kulturkontexte vorkommt. Auch die anderen Zweige der Christenheit kennen das Konzept der Askese, andere, nicht christliche Religionen halten ebenfalls Teile ihrer Gläubigen - insbesondere im Bereich des Mönchstums - dazu an, asketisch zu leben. So verstanden bedeutet Askese einfach dies: Man darf nicht spontan die Bedürfhisse erfüllen, die einem gerade in den Sinn kommen. Man muß seine Wünsche kultivieren und die Fähigkeit entwickeln, auf deren Erfüllung warten zu können. Georg Simmel hat in seinem Buch über Schopenhauer und Nietzsche deutlich gemacht, das es ein unvermeidbarer Bestandteil komplexer Kulturen sei, die Pfade, die zur Wunscherfullung führen, ständig länger und komplizierter gestalten zu müssen. Diese verwickelte Methode der Wunscherfüllung ist der Preis, den wir Bürger der Moderne dafür zahlen, das wir das Privileg genießen, in einer hochentwickelten und anspruchsvollen Kultur leben zu dürfen. Askese ist in der einen oder anderen Form - als die Fähigkeit, auf die Wunscherfullung lange warten zu können - in jeder hochentwickelten Kultur vorhanden. Doch was ist das Besonde-
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re der protestantisch kalvinistischen Askese? Als Christ sollte man das dringende Bedürfnis haben, ein heiligmäßiges Leben zu fuhren. In der katholischen und orthodoxen Tradition, die vor das historische Ereignis der Reformation zurückreicht, wurde erwartet, daß nur wenige, heiligmäßige Menschen die Abgeschlossenheit des Klosters wählten, und daß sie durch die Zurückweisung des Alltagslebens der diesseitigen Welt sich in besonderer Weise auf das Leben im Himmel vorbereiteten. Diese wenigen Ausnahmemenschen führten so ein Leben, das dem eines Heiligen nahe kam und in dessen Verlauf sie im Jenseits mehr Gnaden erwarben, als sie für die Rettung ihrer eigenen Seelen nötig hatten. Sie gelangten dadurch in die Lage, die von ihnen erworbenen Gnaden mit einem Anderen zu teilen, der nicht ins Kloster gegangen, sondern im sündhaften Leben der Welt verstrickt geblieben war. Man kann dieses Konzept mit einer himmlischen Buchführung des Heils vergleichen, in deren Abwicklung die Salden zwischen im Kloster lebenden und in der Welt lebenden zum Ausgleich gebracht werden konnten. Dieses traditional christliche Heilskonzept wurde im kalvinistischen Protestantismus radikal verworfen. Jeder war für sein eigenes Heil allein verantwortlich und niemand konnte durch sein tun erworbene Heilsgüter einem anderen zuwenden. Dieses radikale Konzept der Gleichheit förderte die Individualisierung unter den Menschen der Moderne. Es hatte die doppelte Wirkung, daß erstens das Kloster aufgelöst und überflüssig gemacht wurde und dafür zweitens die ganze Welt des Diesseits gleichsam in ein Kloster verwandelt wurde. Als Folge davon wurden alle kalvinistischen Puritaner dazu aufgefordert, ein heiligmäßiges Leben im Diesseits zu führen und in der zum Kloster gewordenen Welt in der Berufsarbeit eine Art ständigen Gottesdienst zu verrichten. Der Effekt für die Struktur der Gesellschaft war freilich der, daß die Erringung des Heils nicht mehr von einer erwählten Elite (der ins Kloster gegangenen und der Mitglieder des Klerus) abhängig war, sondern daß nun jeder für sich selbst an der Front um die Erringung des Heils kämpfen mußte. Harte Arbeit hatte überdies den Effekt, daß den betreffenden Personen keine Zeit und keine Energie übrig blieb, um Müßiggang zu pflegen und dadurch etwa sündig zu werden. So war die protestantische Askese zugleich ein Schutz vor der Sünde. Aber Max Webers Konstruktion, die auf die Zusammenhänge der kapitalistischen Kultur hinweist, bleibt dabei nicht stehen. Die Ausgestaltung des Berufslebens mit dem Mittel der "Werkheiligkeit" wäre allein nicht attraktiv. Und selbst wenn man bedenkt, daß die frühen Puritaner nicht zögerten, die Mitglieder ihrer Sekten auch durch einigen Druck zur Konformität anzuhalten, so mußte es doch noch attraktivere Motivationen für das Leben nach diesem Muster geben: Den Anhängern des puritanischen Kalvinismus wurde gepredigt, daß ein Sichzurückziehen in die Abgeschlossenheit des Klosters und in die Lebensform des Kle-
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rikers egoistisch und lieblos sei, ja vor allem, daß es dem Willen Gottes widerspreche. Gott habe nämlich den Reformatoren und insbesondere Calvin geoffenbart, daß er sich von jedem einzelnen getauften Christen die äußerst korrekte Erfüllung seiner Berufspflichten als Gottesdienst erwarte. So wird dem Puritaner eingeschärft, daß die Erfüllung der Berufspflichten der Ehre Gottes dient und daß es keine Entschuldigung davon gibt, jede nur verfügbare Anstrengung und Kraft in die Berufsarbeit zu investieren. Hinzu kommt noch das verständliche Bedürfnis, die Vorherbestimmtheit für Himmel oder Hölle erkennbar zu machen: Der Berufserfolg ist ein Hinweis darauf, daß der einzelne Mensch, der diesen Erfolg erringen konnte, von Gott schon vor seiner Geburt für das ewige Leben im Himmel ausersehen war. Er kann zwar durch sein Verhalten während seines Lebens diese Entscheidung nicht mehr beeinflussen. Sie ist prädeterminiert und irreversibel. Aber er kann an dem Maße seines beruflichen Erfolgs mit größerer oder geringerer Sicherheit ablesen, daß er zu den Erwählten gehört. Es ist die einzigartige Kombination dieser verschiedenen Merkmale zu einer integrierten Kultur, die Max Weber als charakteristisch herausarbeitet. Die auf Jean (Johannes) Calvin (1509-1564) fußende Variante des Christentums selbst treibt die Rationalisierung immer weiter voran. Die Welt wird entzaubert, alles Heilige wird daraus verbannt und ins Jenseits hinüberdefiniert, die mathematischen Grundsätze ermöglichen die Entwicklung der Naturwissenschaften, ja selbst der Musik und der Malerei, die Zuwendung des Heiles, das einzelne im Kloster lebende Menschen im Übermaß für sich erworben haben, an andere die in der Welt geblieben sind, wird für egoistisch und lieblos gehalten. Jeder muß für sich selbst wirken und vor Gott erfolgreich sein: Das Kloster als Sonderstatus wird verurteilt, dafür wird die ganze Welt in ein Kloster verwandelt. Die rastlose Berufstätigkeit wird mit der Askese verbunden als dem Verbot, die durch Berufserfolg erzielten Reichtümer dem Konsum und einem Leben in Luxus zuzuführen. So bleibt nichts anderes übrig, als sie immer fort neu zu investieren. Das erzwingt geradezu das kontinuierliche Wachstum des Kapitalbesitzes. Dazu gehört die Pflicht zum kontinuierlichen Erwirtschaften einer Rendite und Mehrung des investierten Kapitals durch kluge, auf Renditemaximierung abzielende Investitionstätigkeit. Nicht für die Ausbreitung, wohl aber für die Entstehung des modernen, rationalen Kapitalismus macht Weber den auf Calvin zurückgehenden Protestantismus verantwortlich. Er spricht von einer religiös motivierten Wirtschaftsethik als vom 'Geist des Kapitalismus'. Weber sieht in dem Puritaner den Träger jenes religiösen Bewußtseins, das als kalvinistischprotestantische Ethik seiner berühmt gewordenen These nach den Anstoß zur Entwicklung der kapitalistischen Wirtschaftsform gegeben hat. Er stellt den Prozeß der Umwertung der traditionell christlichen Einstellung zur Arbeit und zum Reichtum in ein puritanisches Ver-
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ständnis im Sinne Calvins so dar: "Nicht Arbeit an sich, sondern rationale Berufsarbeit ist eben das von Gott Verlangte. Auf diesem methodischen Charakter der Berufsaskese liegt bei der puritanischen Berufsidee stets der Nachdruck, nicht, wie bei Luther, auf dem Sichbescheiden mit dem einmal von Gott zugemessenen Los" (Weber, 1920, Bd. I: 174f). Nicht der lutherische
Protestantismus also, sondern der kalvinistische
schuf die bewußt-
seinsmäßigen Voraussetzungen für die Entstehung des Kapitalismus aus rastloser Berufsarbeit in Verbindung mit Askese und InvestitionsgcAo/ Dazu war vor allem eine Überwindung der traditionell christlichen Verdammung des Reichtums wichtig. Solange im Christentum die Meinung vorherrschte, daß Reichtum dem Seelenheil im Wege stehe, weil leichter ein Kamel durch ein Nadelöhr denn ein Reicher in den Himmel käme, war die Entstehung von rationalem Kapitalismus kaum denkbar. Für den Puritaner dagegen ist "Reichtum...eben nur als Versuchung zu faulem Ausruhen und sündlichem Lebensgenuß bedenklich und das Streben danach nur dann, wenn es geschieht, um später sorglos und lustig leben zu können. Als Ausübung der Berufspflicht aber ist es sittlich nicht nur gestattet, sondern geradezu geboten" (ebd.: 176). So wurde das Streben nach Reichtum durch den Puritaner von einer sündhaften zu einer tugendhaften Neigung uminterpretiert. Zugleich erhält der Ausdruck von der Werkheiligkeit seine Berechtigung: Mit dieser Heiligung der Anhäufung von Produktionsmitteleigentum und rastloser Berufsarbeit, war - so meint Weber - die geistige Voraussetzung für die Entstehung des rationalen Kapitalismus gegeben. Die Bedingungen seiner sind freilich andere als die Bedingungen seiner Durchsetzung.
Entstehung
Die Durchsetzung des Kapita-
lismus ist nicht auf religiöse Motive angewiesen. Weber stellt die Frage, welche spezifische
Gestalt sozialer Beziehungen, oder wie wir zu
sagen uns angewöhnt haben, welche Sozialstruktur denn dem kapitalistischen Geist entspricht. Bei der Suche nach diesem strukturellen Korrelat gelangt er zu dem Gebildetyp der protestantischen Sekte. Er unterscheidet Kirche und Sekte als zwei voneinander verschiedene Strukturprinzipien der Gesellschaft und zwar so: "'Kirche' als Gnadenanstalt, oder 'Sekte', als Verein der religiös Qualifizierten..." (ebd.: 221). Während die Kirche unter einer hierarchischen Führung alle Menschen erfassen will und dabei in Kauf nimmt, eine Kirche auch der Sünder zu sein, versteht sich die Sekte als eine Elite der Erwählten, die selbst als Gemeinschaft persönlich bekannter Mitglieder die schwere Verantwortung für ihre eigene Reinhaltung trägt. So übt die Sekte eine unerbittlich scharfe Kontrolle über die Lebensführung ihrer Mitglieder aus. Sie treibt den einzelnen Puritaner zu rastloser Berufsarbeit an, denn Arbeit ist der sicherste Schutz vor Sündhaftigkeit, Reichtum aber ist der Erweis, rastlos gearbeitet und also nicht gesündigt zu haben. Dem entspricht die Redensart: Müßiggang ist aller Laster Anfang.
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Die von den Puritanern neu geschaffene kalvinistisch protestantische Ethik bringt demnach außer gewissen, den Kapitalismus begünstigenden Handlungsformen auch die Strukturform der Sekte hervor, die es im Gegensatz zur Kirche möglich macht, zwischen den Sektenmitgliedern als den erwählten Brüdern und den übrigen Menschen als den sündigen Fremden zu unterscheiden. Damit ist durch den Wechsel von Kirche zu Sekte als religiösem Strukturprinzip die Voraussetzung für ein doppeltes Recht entstanden, die Voraussetzung also dafür, daß im Umgang mit den Sektenbrüdern andere Regeln Gültigkeit haben können als für den Umgang mit den Nichtmitgliedern. Das im Deuteronomium, also im 5. Buch Mose des Alten Testaments in Kapitel 23, Vers 21 angedeutete Prinzip der exklusiven Werthaltung, die dem Angehörigen der Gruppe der Erwählten sowohl sein Sendungsbewußtsein als auch seine Bevorrechtigung im wirtschaftlichen Umgang garantiert, ist durch die Sektengestalt des Christentums im Puritanismus wieder möglich geworden. Auf diesen Zusammenhang hat auch Werner Sombart in seinem Buch "Die Juden und das Wirtschaftsleben" (Sombart, 1911) hingewiesen.
4. Das antike Judentum Mit der mosaischen Religion des jüdischen Volkes beschäftigt Max Weber sich innerhalb seiner Aufsätze zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen unter der Überschrift "Das antike Judentum". Sein Interesse an der Wirtschaftsethik verschiedener Kulturen legt es für ihn nahe, die Konfrontation zweier Kulturen zur Zeit des antiken Judentums auch unter dem Gesichtspunkt der Güterproduktion zu sehen. (Weber, 1920 Bd. III: 49ff.) So kommt es, daß er Viehzüchter und Bauern einander gegenüberstellt: "Abraham hält in der Sage außer Schafen auch Kamele und trinkt keinen Wein, sondern bewirtet die drei Männer der göttlichen Epiphanie mit Milch... Jakob gilt zwar, im Gegensatz zu dem Bauern Esau, wesentlich als in Zelten wohnender Viehzüchter, wird aber als ger in Sichern seßhaft und kauft Land" (ebd.. 49). Am Schluß seines Lebens will er als rituell Gemiedener gelten, um "ohne Vermischung mit den Ägyptern leben zu können. Er betreibt Ackerbau und bedarf Getreide zur Nahrung. Allen Erzvätern wird Rinderbesitz zugeschrieben" (ebd.). Doch daneben interessiert sich Weber eben für die religiösen Besonderheiten, die mit Ackerbau einerseits oder Viehzucht andererseits einhergehen. Er stellt den Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs als unbürokratisch dar und schreibt über den Gott der Viehzüchter: "Nachdrücklich weist er sein Volk daraufhin, daß in Israel nicht wie in Aegypten der Ackerertrag durch die Bewässerung bedingt werde - also, heißt das, ein Produkt der bürokratischen Verwaltung des irdischen Königs und der eigenen Arbeit des Bauern sei -, sondern durch den von ihm, Jahwe, nach seiner freien Gnade gespendeten Re-
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gen" (ebd.: 139). Zur Religion der seßhaften Landwirtschaft gehört der durch König und Bürokratie wirkende, zum nomadisierenden Viehzüchter der unmittelbar aus den Wolken regierende Gott, der sich auf keinen irdischen Verwaltungsstab zu stützen braucht. Eine weitere Gegenüberstellung entwickelt Weber zwischen dem im Tempel ansässigen Stadt- oder Ortsgott, den sein Verehrer außerhalb dieser einen Stadt nicht antreffen oder verehren konnte einerseits (ebd.: 143), und dem allgegenwärtigen Gott "der halbnomadischen Viehzüchterstämme... Sie wissen recht gut, daß Jahwe auch von nichtisraelitischen Stämmen verehrt wird..." (ebd.: 144). Außerdem ist es für Krieger und Viehzüchter charakteristisch, daß sie ihr Heiligtum mit sich fuhren, wie im Katholizismus in der Fronleichnamsprozession, wodurch die Unabhängigkeit des Kultes von einem "seßhaften" Stadtheiligtum erreicht wird. Doch die eigentliche Neuerung und bedeutsame Kulturleistung des Abrahamglaubens ist für Max Weber weniger die Universalisierung und Mobilisierung des Heiligen, sondern die Abschaffung des Orgiasmus, auf dessen sexuelle Komponente Weber hinweist: "Die Baalkulte, wie die meisten alten Ackerbaukulte, waren und blieben bis zuletzt orgiastisch, und zwar insbesondere alkohol und sexMfl/orgiastisch. Die rituelle Begattung auf dem Acker als homöopathischer Fruchtbarkeitszauber, die alkoholische und orchestische Orgie mit der unvermeidlich sich anschließenden Sexualpromiskuität, abgemildert später zu Opfermahl, Singtanz und Hierodulenprostitution, sind mit voller Sicherheit als ursprüngliche Bestandteile auch der israelitischen Ackerbaukulte nachzuweisen. Die Reste liegen zutage. Der 'Tanz um das goldene Kalb', gegen welchen nach der Tradition Mose, die 'Hurerei', gegen welche die Propheten eifern..." (ebd.: 202). An die Stelle der Sexualorgiastik der Bauern, setzen die Patriarchen als Viehzüchter und Hirten das Verbot des Ehebruchs: "Der Ehebruch des Dekalogs war Verletzung der Ehe eines fremden Mannes, nicht der Bruch der eigenen Ehe. Den Geschlechtsverkehr des Mannes außerhalb der Ehe zu verpönen hat erst die spätere nachexilische Zeit begonnen..." (ebd.: 204). Die funktionale Bedeutung dieser Norm ist offenkundig: Es kam den Repräsentanten der mosaischen Kultur darauf an, für die eindeutige Bestimmung von Vaterschaft die biologischen Voraussetzungen zu schaffen. Darum durften die Frauen zum Geschlechtsverkehr nur mit einem einzigen Mann zugelassen werden, der dann im Falle der Schwangerschaft als Vater feststand. Polygynie war, wie die Bibel berichtet, bei den Patriarchen üblich. Sie stand nicht im Gegensatz zum Prinzip der Vaterschaft und der patrilinealen Abstammungsordnung. Dem entsprach die Vererbung des Viehbesitzes in männlicher Linie vom Vater auf den Sohn.
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5. Religionen in Asien Die Durchsetzung der patrilinealen Abstammungsordnung kennzeichnet auch die Kulturen Nordostasiens. Max Weber untersucht als die Religionen Chinas den Konfuzianismus und den Taoismus (Weber, 1920 Bd. I: 276ff). Wie bei seinen anderen Arbeiten zur Wirtschaftsethik der Weltreligionen auch, geht es ihm im Falle Chinas um die "praktischen Antriebe zum Handeln" (ebd.: 238). Er geht davon aus, daß neben anderen Faktoren auch "die religiöse Bestimmtheit der Lebensführung" (ebd.) und besonders die "Einstellung des Menschen zur Welt" (ebd.) das Handeln beeinflussen. Er interessiert sich in dieser Absicht für die dogmatischen Inhalte als das, was religiös für wahr und für wirklich gehalten wurde. Außerdem interessiert er sich für die führenden sozialen Schichten, die durch ihre Überzeugung und ihre Lebensführung der ganzen Bevölkerung die Richtung weisen. So kommt er beim Konfüzianismus Chinas auf die Bildungsschicht der Literaten und auf die von ihnen entwickelte Standesethik (ebd.: 239). Da man je nach dem Verständnis von Religion den Konfuzianismus dazu rechnen kann oder nicht - im letzteren Falle erscheint er als ein rein weltliches ethisches System - müssen wir uns Max Webers Kriterium für das Religiöse ansehen: Er gesteht zu, daß der Übergang fließend ist, schreibt aber dann: "Es gibt keinerlei Scheidung von 'religiösen' und 'profanen' Zuständlichkeiten anders als durch die ziw/teralltäglichkeit der ersteren" (ebd.: 250). So gesehen handelt es sich beim Konfüzianismus um eine Religion. Als außeralltäglich betrachtet Max Weber die Gottesidee, aber nicht sie allein. Sie ist in ihrer jeweils spezifischen Form kulturprägend. Weber stellt dem "zürnenden, vergebenden, liebenden, fordernden" (ebd.: 258) Gott der iranischen, vorderasiatischen und okzidentalen Religionen das höchste Wesen Indiens und Chinas gegenüber: Es ist "nur kontemplativ, als Zuständlichkeit, zugänglich(en)" (ebd.). Der Vergleich zwischen dem Okzident, den Weber ja wegen der weitgehenden Rationalisierung der Lebensführung für weltweit einzigartig hält, einerseits, und China speziell oder - wie wir wohl unter Einschluß von Korea und Japan sagen können - Nordostasien andererseits, läuft nun etwa auf das Folgende hinaus: Die Irrationalismen der Gottesidee, die zunächst Zorn, Liebe und andere unzuverlässige und schwer voraussagbare Neigungen bei dem höchsten Wesen einschlössen, mußten aus dem Alltagshandeln zurückgenommen werden können, um ein stabiles Staatswesen religiös abstützen zu können. Sonst könnte jede Form des launenhaften Despotismus mit der Berufüng auf eine ähnlich launische Gottheit legitimiert werden. Im Okzident wird dieser Effekt angestrebt und mit Einschränkungen auch erreicht durch die Entzauberung des Diesseits und die Verbannung des personal irrational Göttlichen ins Jenseits. In Nordostasien dagegen bleibt
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das Göttliche im Diesseits anwesend, wird aber als der "Himmel", dessen Sohn der Kaiser dem Glauben nach ist, immer unpersönlicher. Der Kaiser opfert "dem Himmel", doch die empfangende Macht, an die das Opfer sich richtet, ist keine von Emotionen getriebene Person, sie ist das Prinzip von Ordnung und Harmonie. Bei Ordnung und Harmonie handelt es sich nicht um Personen, die geliebt, gefürchtet und denen nachgefolgt werden kann, sondern um Zuständlichkeiten, in die das Diesseits, in die also die Natur ebenso wie der Staat und der darin lebende Mensch versetzt werden sollen. Wenn in Nordostasien die Polarität heilig - profan nicht durch die Unterscheidung von Gegenständen, sondern von Zuständen herbeigeführt wird, ordnet sich auch die Zweiteilung in Diesseits und Jenseits anders als im Okzident Im Abendland, dessen Tendenz zu fortlaufender Rationalisierung Max Weber kritisch herausarbeitet, wird das Diesseits für den vernünftigen Verstand immer durchsichtiger, weil nach dem Glauben Israels das auserwählte Volk, nach der Prädestinationslehre Calvins der zum Heil vorherbestimmte Puritaner geheiligt, die anderen Menschen dagegen verworfen sind. Es sind also konkrete Personen, die aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Volk Israel oder ihrer Prädestination das Heiligsein unverlierbar in sich tragen, unabhängig von der Zuständlichkeit, in der sie sich jeweils befinden. Sie können daher kontinuierlich als die Pioniere und Neuerer der Gesellschaft die wirtschaftliche Entwicklung vorantreiben. Das nordostasiatische Weltbild kennt ein Diesseits und ein Jenseits, unterschieden als empirische Welt der Alltagserfahrung einerseits und Welt des Außeralltäglichen andererseits. Doch im Diesseits wie im Jenseits kann ein Zustand der Harmonie oder einer der Unordnung herrschen! Das sogenannte Böse wie der Titel eines Buches von Konrad Lorenz formuliert ist nicht so leicht lokalisierbar als Merkmal von konkreten Personen und Sachen, es ist ein Zustand, in den die Natur und der Staat geraten können, wenn rituelle Fehler gemacht werden. Das muß man sich bei einem evolutionären Konzept von nordostasiatischer Religion wohl in einer sehr frühen Phase als Glaube an die Harmonie in der Natur vorstellen, die der Jäger durch das Erlegen von Tieren stört. Der Religionsdiener der Lokalgruppe vollzog periodisch das Ritual zur Wiederherstellung von Harmonie und Ordnung, was ein friedliches Einvernehmen mit den Mächten des Jenseits - also auch mit den Geistern der getöteten Tiere und der verstorbenen Menschen - einschloß. Das Anliegen, die Harmonie der Natur nicht zu stören, verhinderte - oder hemmte doch mindestens - die Entstehung des Kapitalismus. Max Weber meint aufgrund seiner Kenntnis der sinologischen Forschungsergebnisse, die ihm vor einem Menschenalter vorlagen, daß sich die kaiserliche Macht als ein - die zu Streit neigenden Fürsten befriedendes Ordnungsprinzip herausbildete. Der Kaiser war nicht primär ein Herrscher, der aufgrund seiner überlegenen militärischen Macht die konkurrierenden
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Regionalfursten besiegen und unterwerfen konnte Er war für sie vor allem Garant eines Zustandes des Friedens und der Harmonie, und er garantierte das nicht durch weltliche, d.h. militärische Aktionen, sondern durch rituelles Handeln. So "wurde das Opfer für den Himmel, als dessen 'Sohn' der Kaiser galt, dessen Monopol; die Fürsten opferten den Geistern des Landes und der Ahnen, die Hausväter den Ahnengeistern des Geschlechts" (ebd.: 300). Als Inhaber des rituellen Monopols war der Kaiser von China in religionssoziologischer Sicht dem Papst des Abendlandes vergleichbar. Doch ein solcher Vergleich würde dem Herrscher Chinas als Pontifex und Zelebrant des Reichsrituals wohl eine stärkere Stellung einräumen müssen als der Papst sie je gehabt hat. Der Papst war und ist ja seinem Selbstverständnis nach als Bischof von Rom einer von vielen Bischöfen des Weltkreises, und das Ritual, das er zelebriert, ist im Wesentlichen die Messe, die jeder Pfarrer feiert. Der Kaiser jedoch vollzog einen Ritus, den nur er vollziehen konnte. Er war, wie das chinesische Schriftzeichen für "König" anschaulich macht, der Mittler zwischen Himmel und Erde, der Pontifex im wörtlichen Sinne, jener, der die Brücke zum Himmel baut. Die für einen Religionsdiener überaus erhabene Stellung des Kaisers setzte voraus, daß er von den Literaten als einer Schicht religiöser "Virtuosen" umgeben war, die seine einzigartige Bedeutung durch rituelle Affirmation stützten. So wurde sein kaiserlich geformtes Leben dem Bereich des Außeralltäglichen zugerechnet, und der lange Weg durch die vielen Tempeltore bis zu ihm selbst mußte bei dem, der den Kaiser oder auch nur einen seiner hohen Beamten besuchen durfte, den Eindruck einer Jenseitsreise fördern. Das "Verbotensein" der "Verbotenen Stadt", wie die alte Kaiserresidenz in Beijing genannt wird, drückte die tiefe Kluft aus, welche "die Lebensführung der 'Laien' von jener der Virtuosen-Gemeinschaft" (ebd.: 262) schied. "Die Herrschaft des religiösen Virtuosenstandes innerhalb der religiösen Gemeinschaft glitt dann gern in die Bahnen einer magischen Anthropolatrie: der Virtuose wurde als Heiliger direkt angebetet..." (ebd.: 262). Das gilt nach Max Weber nur für die "kontemplative und die ekstatische Religiosität" (ebd.: 261). Beim Protestantismus und anderen asketischen Religionen dagegen, die ihren Gläubigen nicht die Meditation, sondern die aktive Umgestaltung der Welt zur Aufgabe machen, erfolgte die Entzauberung des Diesseits und damit am Ende auch die des Herrschers, wie das im Okzident typisch ist. Eine der faszinierendsten Erfahrungen, die ich bei Gesprächen in Nordostasien machen durfte, war die mit einigen Kollegen dort geteilte Einsicht, daß Marx, Mao und die Entzauberung des Diesseits für Denkweisen des Westens stehen, die der Kulturtradition Chinas, Koreas und Japans ganz fremd sind. In der Religionsgeschichte Chinas wurden der Himmelsgeist, der Himmelskönig, der Himmel selbst, in der Meditation über sie immer unpersönlicher (ebd.: 300). "In der konfuzianischen
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Philosophie verschwand die Vorstellung eines persönlichen Gottes, die noch im 11. Jahrhundert Vertreter fand, seit dem 12. Jahrhundert..." (ebd.). Der Weg des Himmelsgottes von einer heiligen Person zu einer Zuständlichkeit der Harmonie, der Ordnung und des Friedens im menschlichen Vorstellen wird bei Max Weber durch den Vergleich mit dem Gott der Israeliten anschaulich gemacht. Dort, bei Jahwe handelt es sich um einen personalen Gott, der "zuerst ein bergsässiger Sturm und Naturkatastrophengott" war und "der in Gewitter und Wolken den Helden zu Hilfe in den Krieg heranzog..." (ebd.: 301). Da aber sein Volk nicht endlich dank seiner Segnungen durch militärische Erfolge ein Großreich errichten konnte, mußte Jahwe ein "überweltlicher Schicksalslenker werden" (ebd.), der im Diesseits mindestens zunächst noch nicht so recht zum Zuge gekommen war. Der Himmel dagegen, dem der Kaiser von China opfert, den er und nur er allein rituell verehrt, wölbt sich jahrtausendelang über ein gigantisches Reich aus vielen Völkern. So kann die befriedete Ordnung des kaiserlichen Staates als der zwar immer wieder gefährdete, aber doch grundsätzlich gegebene, ins Diesseits gewendete himmlische Zustand gedeutet werden. Ihr Garant ist der Kaiser. Indem der Himmel die Qualität eines persönlichen Gottes verliert, gewinnt der Kaiser die einer Inkarnation des Göttlichen. Dabei ist das Göttlichsein im Sinne der schon erarbeiteten Gegenüberstellung eine Zuständlichkeit, in die ein Mensch eintreten kann, ohne daß er deshalb aufhören müßte, ein Mensch zu sein. Wenn Japan seinen Kaiser spät erst in seiner Geschichte zum Gott erklärt, so war das wohl ein Zugeständnis an westliches Denken, und wenn die U S A. als Sieger 1945 den Kaiser zwangen, öffentlich zu erklären, er sei kein Gott, so wurde dadurch vielleicht in der Religionsgeschichte Japans eine Westabweichung durch eine Intervention aus dem Westen korrigiert. Japan mag sich übrigens von China durch die Art unterscheiden, wie militärische Leistung in der jeweiligen Kultur bewertet wurde. Max Weber jedenfalls glaubt schließen zu können, daß die Männerbruderschaft in China sehr früh den militärischen Kampf als Leistungsnachweis ersetzt, und zwar einerseits durch das Studium der Klassiker, also durch Schriftgelehrsamkeit was ja wohl nicht nur dem japanischen, sondern auch dem abendländischen Krieger eher fern gelegen haben dürfte und andererseits durch ritualisiertes Kämpfen, z.B. als Bogenschießen (ebd.: 302). Während die Kaiser und Könige des Okzidents gern als oberste Krieger und in Generalsuniform auftraten (und das immer noch tun), vollzog der chinesische Kaiser "den Ritus des Pflügens, er war ein Schutzpatron des Ackerbauers geworden und also längst nicht mehr ein Ritterfiirst" (ebd.: 303). Die Heiligung des Ackerbaus rückt China in die Nachbarschaft Ägyptens und Mesopotamiens und bringt es in typologischen Gegensatz zu Judentum und Protestantismus. Doch was hatte der Bauer davon, daß sein Kaiser aus besonderem Anlaß pflügte? War nicht die Au-
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ßeralltäglichkeit des kaiserlichen Zelebrierens und Regierens die Ursache für eine so gewaltige soziale Distanz, daß die völlige Ohnmacht der Untertanen die Folge war? Nein, denn auch der einfache Laie lebte in dem religiösen Kosmos aus Himmel und Erde und konnte sich über den Kaiser und dessen Beamte beim Himmel beschweren. Max Weber schreibt, daß wie im alten Ägypten und Mesopotamien so auch im kaiserlichen China bei den Regierenden aller Ränge "der Fluch des Bedrückten und Armen besonders gefurchtet war" (ebd.: 303). Im Fluch wurde der Verlust der Harmonie sichtbar! Weber sieht darin "ein ganz spezifisches Merkmal bureaukratischer und zugleich pazifistischer Gesinnung" (ebd.), weil Fluch und antizipatorische Angst vor dem Verfluchtwerden mit großer Wahrscheinlichkeit Aufstände und Volkskriege in ihrer Zahl reduzieren (ebd.: 304). Überhaupt führten die religiösen Vorstellungen im kaiserlichen China dazu, daß rechtmäßige Kriege im "Innern nicht mehr möglich" (ebd.) waren. Das zahlenmäßig gemessen an der Bevölkerung des Riesenreiches kleine Militär wurde nur gegen äußere Feinde eingesetzt. Auch insofern war das Massaker am Platz des Himmlischen Friedens ganz und gar unchinesisch. Harmonie ist in der Perspektive chinesischer Kulturtradition nicht eine Frage des Lebensstils ruhebedürftiger Menschen, sondern ein heiliger Zustand, der in der unpersönlichen Ruhe des Himmels vorgebildet ist. "Die Garantie der Ruhe und inneren Ordnung leistete am besten eine in ihrer Unpersönlichkeit und gerade durch sie als über alles Irdische spezifisch erhaben qualifizierte Macht, welcher Leidenschaft, und vor allem 'Zorn': das wichtigste Attribut Jahwes, fremd bleiben mußte" (ebd.: 305). Die heilige Macht im Jenseits, der Himmel, offenbart sich den einfachen Menschen in China durch das, was ihnen in ihrem Alltag geschieht, also auch durch die Art, wie sie regiert werden! "Gutes Ergehen der Untertanen dokumentierte die himmlische Zufriedenheit, also: das richtige Funktionieren der Ordnungen" (ebd.: 307). Und umgekehrt, Streit und Unordnung im politischen Alltag waren der Beweis, daß den Herrschenden das Charisma fehlte, daß sie sich vom Himmel abgewandt hatten und daher zur Ordnung gerufen oder abgesetzt werden mußten Der vom Charisma erfüllte Kaiser übte eine Herrschaft über das Schicksal aus, zuweilen auch gegen Götter und Geister, die ihm, dem Kaiser, im Rang unter Umständen gleich oder nachstanden! Nicht nur der Kaiser, auch ein Gott oder Geist konnte versagen. "Noch 1455 hielt ein Kaiser dem Geist des Tsai-Berges eine strafende Rede" (ebd.: 309) und der Kaiser konnte verfugen, daß einem unzuverlässigen Geist "Kulte und Opfer gesperrt" (ebd.) wurden. Andererseits verlieh der Kaiser "den Göttern, die sich bewährt hatten, Anerkennung..." (ebd.). Das nun ist eine religiöse Funktion, für die es im Abendland bei Menschen keine Parallele gibt, außer vielleicht das Privileg des Papstes, Heiligsprechungen vorzunehmen.
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All dies im Zusammenhang mit seiner rituellen und weltlichen Machtfiille sollte dem Kaiser dazu verhelfen, daß er aus der Sicht seines Volkes Erfolg hatte. "Das magische Charisma des Kaisers mußte sich zwar auch in kriegerischen Erfolgen (oder doch dem Fehlen eklatanter Mißerfolge) vor allem aber in gutem Erntewetter und gutem Stande der inneren Ruhe bewähren...: er mußte den rituellen und ethischen Vorschriften der alten klassischen Schriften entsprechend leben" (ebd.: 311). Konnte er nicht erreichen, daß es dem Volk gut ging, "so fehlte ihm eben das Charisma" (ebd.: 312) "Er tat dann... öffentlich Buße für seine Sünden" (ebd.). "Wenn auch das nicht half, hatte er Absetzung, in der Vergangenheit wohl Opferung, zu gewärtigen" (ebd.). Wenn die Chinesen einen ihrer Kaiser abgesetzt haben, war das häufig durch ihre Religion gedeckt. So blieb der Kaiser und Sohn des Himmels Garant himmlischer Harmonie, was ausreichenden Regen und gute Ernteerfolge der Landwirtschaft einschloß. Der Imperativ, die Harmonie der Natur nicht zu stören, steht im kaiserlichen China wie überall der Entwicklung des Kapitalismus im Wege. Die Beziehung zwischen Konfuzianismus und Taoismus ist - wie Weber zeigt - anders als die zwischen Hinduismus und Buddhismus. Zwar waren die Brahmanen in Indien ebenso wie die Mandarine in China stolz "auf ihr Wissen um die Ordnungen der Welt" (Weber, 1921: 147), doch wollten "die chinesischen Literaten" (ebd.), die "eine politische Amtsbürokratie darstellten" (ebd.), nach einer rationalen Ethik leben und "mit magischer Technik nichts zu tun" (ebd.) haben. Solche von ihnen verachteten Künste im Umkreis des Schamanismus überließen sie "vielmehr den taoistischen Zauberern" (ebd.), wie Max Weber die Religionsdiener des Taoismus nennt. Von Indien dagegen berichtete er, daß "die Brahmanen der Herkunft und dem bleibenden Wesen nach Priester, und das heißt: Magier waren" (ebd.). Dem entspricht die rauschhafte Komponente mit dem "orgiastischen Charakter der alten" SchiwaKulte (ebd.: 198) im Kontext des orthodoxen Hinduismus. Davon setzte sich allerdings innerhalb der geistigen Führungsschicht Indiens eine von den Brahmanen verschiedene Gruppe ab: die Anhänger einer "heterodoxen IntellektuellenSoteriologie" (ebd.), die deren nüchternen und asketischen Charakter schätzten. Als eine solche aus dem Hinduismus hervorgegangene und doch gleichsam sektenhaft von ihm abgeschiedene Neustiftung sieht Max Weber den Buddhismus ebenso wie die nur wenig jüngere Bhagavata-Religiosität (ebd.: 191ff.) um Krischna. Buddhismus und "Heilslehre des Bhagavadgita" (ebd.: 192) sind aus dem Hinduismus hervorgegangen, haben sich jedoch seiner magischen Komponenten entledigt. Insofern also in Indien innerhalb der Literatenschicht danach unterschieden werden muß, ob es sich um Brahmanen, also um orthodoxe Hindus, oder um Buddhisten und Bhagavadgita-Anhänger als Abweichler handelt, wird ein deutlicher
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Unterschied zum kaiserlichen China sichtbar, weil dort der Konfiizianismus die geistige Führungsschicht weitgehend eint. Bei dem Vergleich zwischen den Religionen Chinas und Indiens zeigt Max Weber (ebd.: 137-141, 144, 147-152), daß die Brahmanen den Hinduismus unter Einschluß seiner magischen Komponenten auf der Ebene des Literatenstandes entschieden vertraten (ebd.: 136), während die Mandarine eben Konfuzianer und nicht Taoisten waren. Da er dabei durchweg Brahmanen mit Mandarinen vergleicht, stellt er inhaltlich den Hinduismus (der Brahmanen) dem Konfiizianismus (der Mandarine) gegenüber, während der Buddhismus bei den Vergleichen unberücksichtigt bleibt und gesondert bearbeitet werden muß (ebd.: 217ff). Was Weber über den Buddhismus, seine Formen und seine unterschiedlichen Ausprägungen in Indien, Ceylon, Hinterindien, China, Korea und Japan schreibt, soll hier übergangen werden. Neben dem Buddhismus steht als Abweichung vom orthodoxen Hinduismus die schon erwähnte Lehre des Bhagavadgita. Bei diesem Sanskrittext handelt es sich um ein Lehrgedicht in achtzehn Kapiteln, das literarisch als Teil des Mahabrahata (ebd.: 189) überliefert wird und dessen älteste Schichten wohl bis in das dritte vorchristliche Jahrhundert zurückreichen. Der Titel der Dichtung - Bhagavadgita - kann mit "Gesang des Erhabenen" übersetzt werden. "Aeußerlich ist sie ein unmittelbar vor dem blutigen Kampf der miteinander blutsverwandten Gegner stattfindendes Gespräch zwischen dem Helden Arjuna, dem Bedenken über die Rechtmäßigkeit des Tötens so nahestehender Verwandter in der Schlacht kommen, und seinem Wagenlenker Krischna, der sie ihm mit Erfolg ausredet. Krischna gilt aber dabei dem Dichter bereits als menschliche Inkarnation (avatar) des höchsten göttlichen Wesens, des Bhagavat..." (ebd.: 191). Max Webers Charakterisierung der Dichtung als "Gespräch" ist formal zutreffend, doch der sterbliche Krieger stellt kurze Fragen, auf die dann lange Belehrungen durch den Gott folgen. Der Text erhält daher die Qualität einer Selbstoffenbarung des höchsten Gottes. Er erinnert streckenweise an die großen Dialoge zwischen dem Gott der Israeliten und Mose. Der Krieger, Aijuna tritt mit ergreifender Eindringlichkeit für diesseitigen Frieden ein, doch der Gott des Bhagavat-Gesanges weist auf die Unsterblichkeit der Seele hin und spielt so das Töten im Krieg herunter: So wie ein Mensch ein abgetragenes Gewand ablegt, um ein neues anzuziehen, so wirft die Seele ausgediente Körper von sich und tritt in neue ein (II, 22). Keine Waffe kann die Seele treffen, kein Feuer sie verbrennen, kein Wasser sie ertränken und kein Wind kann sie ausdörren (II, 23). Ebenso, wie die Seele innerhalb des jetzt gelebten Lebens von der Kindheit in die Jugend und endlich in das welke Alter dieses Körpers übergeht, so wird sie auch in einen anderen Körper übergehen (II, 13). Die Verse zur Reinkarnation sollen die Gelassenheit gegenüber der sichtbaren Welt einschärfen.
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Das Gottesbild des Lehrgedichts ist eher geeignet als die Verse zur Reinkarnationslehre, seinen heterodoxen Charakter zu belegen. Der Held Aijuna fragt als scharfsinniger Theologe, wie Gott Krischna einerseits ein neuer Gott sein und gleichwohl seine Lehre schon seit Anbeginn der Schöpfung predigen konnte. Der Erhabene erklärt, daß er sich mehrfach und in unterschiedlicher Weise geoffenbart habe (IV, 5 u. 6). Immer, wenn Tugend und Rechtschaffenheit darniederliegen, manifestiere er sich, um die Bösartigen niederzuwerfen (IV, 8). Auf dem Höhepunkt dieser Selbstoffenbarung stellt Krischna sich dar als der Schöpfergott (IV, 13) und als eine Gottheit, die jeden Menschen annimmt, der sich ihm zuwendet und ihn verehrt (IV, 11). Das stellt diese Heilslehre in die Nähe einer Religion, die sowohl monotheistisch (VII, 5 u. 6) als auch universalistisch ist. Insofern ist der Text des Bhagavadgita gegenüber dem orthodoxen Hinduismus nicht nur eine Abweichung, sondern auch eine Weiterentwicklung.
6. Kritik der Psychoanalyse Grundlage der Kritik Max Webers an den Thesen von Sigmund Freud (1856-1939) ist ein Brief, der einen Einblick in die Debatte über den wachsenden Einfluß der Psychoanalyse vor dem Ersten Weltkrieg gewährt, und den er am 13. September 1907 an Else Jaffe schrieb (Weber, 1990: 393-403). Formal schreibt er ihr als Mitherausgeber der Archivs für Sozialwissenschaft und Sozialpolitik, weil Frau Jaffe ihm ein Manuskript von Otto Gross zur Veröffentlichung übersandt hat. Doch außerdem schwingen in diesem Brief Webers personale und emotionale Saiten mit. Darauf weist die gewählte, dann aber modifizierte Form der Anrede in der Korrespondenz der beiden hin. In einer Weise, die Einsichten aus Goffmans "Frame Analysis" (Goffman, 1974) antizipiert, handelt Weber in seiner Fußnote zur Anrede eine Ebene niedrigeren Formalitätsgrades mit Jaffe aus. Ihr Brief, auf den Weber antwortet, hatte mit der Formel "Verehrter Herr Prof." begonnen. Dies, obwohl eine enge persönliche Bekanntschaft des Ehepaares Max und Marianne Weber mit dem Ehepaar Edgar und Else Jaffe belegt ist. Weber wehrt sich denn auch dagegen, daß sie ihn "dergestalt als 'Bonzen'" (Weber, 1990: 393) behandelt habe und entscheidet sich seinerseits für die vertraulichere Anrede "Liebe Frau Doktor" (ebd.), der das Ende Briefes mit dem "Herzliche Grüße ihres Max Weber" (ebd.: 403) entspricht. Über die Nähe oder Distanz Webers zu der Adressatin seines Briefes sagt der Text selbst mehr nicht aus, doch die Herausgeber teilen in einer Einführung mit, Weber habe "zum Zeitpunkt der Abfassung des Briefes von der erotischen Beziehung zwischen Else Jaffe und Otto Gross im Frühjahr 1907" (ebd.) gewußt. Jaffe übergibt also Weber einen Artikel, dessen Verfasser ihr Geliebter ist oder war und bittet Weber, den Text in einer Zeitschrift zur
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Veröffentlichung anzunehmen, die Weber mit ihrem Ehemann zusammen herausgibt! Zu dem Kreis der beteiligten Personen gehört außer den vier genannten (das Ehepaar Jaffe, Weber und Gross) freilich noch Webers Ehefrau Marianne, die eine in interessanter Weise abweichende Fassung des Briefes als Witwe des großen Toten schon 1926 veröffentlicht hat (Weber, 1926). Ein Vergleich der beiden Fassungen soll in den folgenden Kommentar zu dem Brief einbezogen werden. Max Weber sind die ethischen Implikationen der Psychoanalyse, so wie er sie in dem von Else Jaffe vorlegten Manuskript des Otto Gross vertreten findet, verächtlich. Obschon er sich in einer Schlußpassage seines Brief, die in Marianne Webers Fassung fehlt, bemüht, mit Bezug auf Gross "den adeligen Zug seiner Natur" (Weber, 1990: 402) gelten zu lassen, läßt er keine Zweifel daran, daß er dessen Thesen mit Vehemenz ablehnt, und selbst in der Passage über den "adeligen Zug" kommen dem Leser Zweifel, ob das wohl von Weber wörtlich so gemeint war, wie es dort steht Jedenfalls sendet Weber "die Copie des Aufsatzes von Dr. Groß zurück" (ebd.: 393). Weber schreibt handschriftlich nicht Gross, sondern Groß), weil er eine Veröffentlichung in dem "Archiv" ablehnt. Im Laufe der Niederschrift des Briefes verschärft sich aus der eigenen Argumentation heraus der Standpunkt Webers deutlich: Zu Beginn schreibt er noch, er sei notfalls bereit, sich "von Ihrem (Else Jaffes) Mann u. Sombart überstimmen zu lassen" (ebd.: 394), doch am Schluß heißt es dann: "Ich (Max Weber) muß meine Eingangsbemerkung zurücknehmen. Es wäre charakterlos, mich überstimmen zu lassen u. ich mache von dem contraklichen 'Veto' Gebrauch" (ebd.: 403). Die nun unerbittlich gewordene Zurückweisung folgt aus dem Urteil: "...in eine/acÄwissenschaftliche Zeitschrift gehört kein Aufsatz, der eine Predigt sein will, - und eine schlechte Predigt ist" (ebd.). Was sind konkret die Argumente Webers, mit denen er seine Gegnerschaft zu dem im Anschluß an "Freud's Gedankenreihen" (ebd.: 395) formulierten Manuskript von Otto Gross begründet? Max Weber kennt die Theorien S. Freuds durch die Lektüre von dessen "größeren Schriften"(ebd.: 394) und meint, daß sie "sich im Lauf der Jahre (zugestandenermaßen) stark gewandelt" (ebd.) haben Für wichtig hält Weber bei Freud den Begriff des "Abreagierens" und beklagt, der sei "gerade neuestens leider bis zur völligen Verschwommenheit verstümmelt und verwässert worden..." (ebd.: 395). Er erkennt an, daß "Freud's Gedankenreihen für ganze Serien von kultur-, speziell re//g/'o«s-historischen und sittengeschichtlichen Erscheinungen zu einer Interpretationsquelle von sehr großer Bedeutung werden können..." (ebd.). Jedoch, als Kulturhistoriker urteilt Weber, daß "Freud und seine Jünger" (ebd.: 396) die Relevanz ihrer Entdeckungen gleichwohl weit überschätzen. Notwendig wäre nach Webers Überzeugung die Erarbeitung "einer exakten Casuistik (ebd.). Aber während Freud seine
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Theorien umbaut und signifikant verändert, bleibt seine Datenbasis "erschreckend klein" (ebd.). Freuds Anhänger allgemein und den Verfasser des Weber vorgelegten Manuskripts speziell trifft angesichts dieser Lage der Psychoanalyse der Vorwurf, "metaphysische(n) Spekulationen" (ebd.) zu betreiben anstatt sich der dringend erforderlichen empirischen Fundierung zuzuwenden. Schlimmer noch, wenn eine Steigerung denn denkbar wäre, ist die Neigung "eine 'Weltanschauung' praktischer Art daraus fabrizieren" (ebd.) zu wollen. Jeder Entdecker, ganz gleich in welchem Wissenschaftsbereich, fühle sich berufen, neue Werte zu begründen und die Ethik zu reformieren. Für das leider wohl unvermeidliche Verbreiten solcher Ideen stünden Organe mit geringem wissenschaftlichen Anspruch zur Verfügung, doch Weber will nicht einleuchten, warum diese "Kinderwindeln in unsrem 'Archiv' gewaschen werden müßten" (ebd.). Den Anspruch des Otto Gross, eine neue, menschlichere Ethik aus der Psychoanalyse abzuleiten, eine Ethik, die von Weber abgelehnt und kurz "Nerven-Ethik" (ebd.: 397) genannt wird, kommentiert er so: Oberster Wert ist die Gesundheit der Nerven! Max Weber insistiert ärgerlich darauf, daß "doch der ethische (wohlgemerkt!) Gehalt der 'neuen' Lehre nur dieser (ebd.) sei, weil konsequent zu Ende gedacht, "ihr 'Ideal': - der ganz banale gesunde Nervenprotz sein müßte..." (ebd.) Gross legt offenbar in seinem von Weber zurückgewiesenen Manuskript, dessen tatsächlicher Inhalt uns verborgen bleiben muß, da es nicht auffindbar ist, folgende Argumentation nahe: Eine soziale Norm, deren Befolgung die nervliche Gesundheit des Menschen gefährdet, die, wie Weber spöttisch schreibt, "für die lieben Nerven nicht "bekömmlich' sei" (ebd.), sei eben dadurch diskreditiert. Nach der Psychoanalyse führe die Unterdrückung von Affekten und Trieben zur Verdrängung. Die wiederum führe "zum 'Irrtum und Feigheit"' (offenbar übernimmt Weber die Worte "Irrtum und Feigheit" wörtlich von Gross) (ebd.) und aus der Fachperspektive des Psychotherapeuten bedeute sie "die Gefahr der Hysterisierung oder der Zwangsneurose, der Phobie etc. etc." (ebd.) Weil dem Menschen die Belastung, der er sich durch Triebverzicht aussetzen würde, zur Gefährdung seiner psychischen Gesundheit würde, muß er vor sozialen Normen, die ihm eben das zumuten "auskneifen" (ebd.). Feigheit wandelt ihren Sinn: Vor der Psychoanalyse ist der feige, der seine Pflicht nicht tut, nach ihr jener, der nicht den Mut aufbringt, seine Affekte abzureagieren! Sieh also zu, daß du nicht deine Affekte verdrängst, "was Dir (Bei Weber groß geschrieben) unbedingt schlecht bekommt und daher unsittlich ist" (ebd.). Als Beispiel für die unsittlichen Konsequenzen dieser Lehre verweist Weber auf Feigheit und Tapferkeit im Kampf. In Südafrika waren die Buren nach anfänglichen Erfolgen 1900 der britischen Kolonialmacht erlegen und daraufhin zu Guerillataktik übergegangen. Darauf
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reagierte Großbritannien mit der Taktik der verbrannten Erde und der Errichtung von Konzentrationslagern für Frauen und Kinder. So wurde die Burenrepublik 1902 zur britischen Kolonie. In seinem Brief von 1907 ergreift Weber offensichtlich Partei für den verlorenen Freiheitskampf der Buren und meint, der psychoanalytische Feigheitsbegriff führe dazu, daß man den gegen Großbritannien kämpfenden Männern zur sofortigen Flucht hätte raten müssen mit dem Argument: "... sonst 'verdrängst' Du Deine Angstaffekte..." (ebd.) Weber erkennt richtig, daß Heldentum und Mannesehre mit einer auf Freuds Theorien aufruhenden Ethik nicht in Einklang zu bringen sind. Und genau diese Position Webers ist - wenn nicht durch den Freiheitskampf der Buren selbst, so doch durch die beiden Weltkriege in Europa, den Vietnamkrieg und endlich durch die aktuellen Vorgänge im ehemaligen Jugoslawienzutiefst in Frage gestellt worden. Aber Weber bezieht sich nicht nur auf die Konsequenzen der Psychoanalyse für den Krieg. In Ehen oder Liebesbeziehungen kann es zu Ausbrüchen von Eifersucht kommen, und jedem der solche Affekte erlebt, müsse man "zurufen: laß sie abreagieren, k la Othello, oder durch Zweikampf..." (ebd.: 398). Meine Triebe brauchen Befriedigung, "weil andernfalls meine lieben Nerven Schaden nehmen könnten: der echte - und wohlbekannte - Standpunkt des medizinischen Banausen!" (ebd.). Otto Gross argumentiert, daß die Nichterfüllung von affektuellen Wünschen uns Opfer abverlangt, "und diese 'Opfer' sind eben Gesundheitsopfer (ebd.) Das Handeln in den Bahnen traditionaler Ethik bedeutet Verdrängung, bedeutet die Übernahme der Kosten, die Triebverzicht gegenüber der Gesundheit veranlaßt, und die neue Sexualethik redet mir ein "es meiner Menschenwürde schuldig zu sein, zu berechnen: 'was kostet's'" (ebd.). In mühsam gezügeltem Zorn stellt Max Weber fest, er müsse sich der Autorität seines Nervenarztes unterwerfen, um zukünftig ermitteln zu können, "ob wohl der ethische Wert meines Handelns die 'Kosten' lohnt?" (ebd.). Diese verächtliche Kostenrechnung der Ethik quittiert Weber mit dem Zweifel, ob denn Otto Gross überhaupt "eine Vorstellung (noch so undeutlicher Art) davon hat, was es denn eigentlich heißt, an absolute Werthe glauben..." (ebd.). Jedoch, man muß nicht ein Vertreter absoluter Werte sein, um zu den ethischen Konsequenzen der Psychoanalyse auf Distanz zu gehen. Auch relativistische, situationsbezogene Ethiken muten ihren Anhängern ein gewisses Maß an innerer Konsequenz zu. Auch hier müsse ja der Mensch sein Ideal im Stich lassen, sobald es ihm "auf die Nerven fällt", weil "das Streben nach ihm etwas 'kostet"' (ebd.: 399). Weber setzt seinen Brief mit einer Einteilung aller Ethiken fort, die er vornimmt, um höchste Anforderungen, denen der Mensch "generell nicht gerecht zu werden vermag" (ebd.), zu unterscheiden von Anforderungen an den Lebensalltag. Den ersten Typ nennt er "Helden-
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Ethik", den zweiten "Durchschnitts-Ethik"(ebd). Als Helden-Ethik nennt Weber "die Ethik des alten, ungebrochenen Christentums, wie die Kantische..." (ebd.). Beide stellen ihren hohen Idealen eine so realistische und "pessimistische Beurteilung der "Natur' des Durchschnitts-Individuums" (ebd.) gegenüber, daß die Aufdeckung des Unbewußten durch die Psychoanalyse dem nichts wirklich Neues hinzufugen könnten. Sie erschöpft sich darin, dem Menschen vor Augen zu fuhren wie er tatsächlich ist, und indem er sich genötigt sieht, das einzugestehen, steht im wahrlich kein ethisches Ziel vor Augen. An die Stelle des gesundheitlich zu kostspieligen Idealismus tritt selbstgenügsame Resignation. Weber vergleicht christliche Seelsorge mit psychoanalytischer Therapie. In dem "Freudschen Curverfahren" sieht er "eine Repristination der Beichte - mit etwas anderer Technik" (ebd.: 400). Doch der ihm an sich schon hinreichend unsympathischen Praxis des Ablaßhandels gewinnt Weber relativ mehr Sympathien ab als der Psychotherapie: Zum einen betrage nach Freud die Mindestfrist der Behandlung sechs Monate, zum anderen könne sie ethisch dem nicht helfen, der "es verlernt hat, sich der Dinge zu erinnern, deren er sich in seinem Leben zu schämen hat..." (ebd.). Es mag ja psychohygienisch hilfreich sein, im Laufe der Therapie herauszufinden, daß "irgend ein sexueller Unfug, den, meinetwegen, ein Dienstmädchen mit mir getrieben hätte" (ebd.) als ich noch ein Kind war, von mir vergessen wurde und daher als verdrängt gelten mag, aber es ist völlig unklar, "was ich z.B. aber dabei ethisch gewinnen sollte" (ebd.). Nach all der Zurückweisung fragt Weber, was denn bleibt als vielleicht positiver Gehalt des Manuskripts von Otto Gross. Tatsächlich entdeckt er etwas als "das einzige ethische Postulat, welches ich (Weber) in dem Aufsatz zu entdecken vermag, und welches uns bei Strafe, für einen 'Feigling' zu gelten eingeschärft wird:" (ebd.: 401) Begib dich bei Freud oder seinen Schülern in Behandlung, "um die historische Wahrheit über Dich und Dein Thun zu erfahren" (ebd.). Das ist der kategorische Imperativ der Psychoanalyse, wie sie sich Weber darstellt. Merkwürdigerweise fehlt der Satz, daß dies das einzige ethische Postulat sei, in der Version, die Marianne Weber veröffentlicht hat. Es bleibt der Psychoanalytiker als Seelenfuhrer, der für sich und seine Zunft Reklame macht und bei alledem nichts zu bieten hat als ein Angebot zur Vertiefung der Selbsterkenntnis. Dagegen erscheinen die traditionellen Ethiken "greisenhaft" (ebd.). Wollte man sie darstellen, so liefe man immerfort gegen die Wand, an der die Kostenrechnung der nervlichen Gesundheit einsetzt, weil stets irgendwo ein Opfer gefordert wird. "Es geht aber nicht an, eine Ethik von einem anderen Fundament aus zu kritisieren, als von eigenen Idealen aus, - sonst kommt man auf das Gebiet der schäbigsten 'Kosten-Rechnung..." (ebd.). Das höchste Ideal
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menschlicher Existenz wäre "der normale Gesundheitsprotz" (ebd.), und das ist Max Weber zu wenig. Die Damen Else Jaffe und Marianne Weber sehen das anders. Jaffe hält das Manuskript fiir geeignet, im "Archiv" publiziert zu werden und schätzt den Verfasser ganz unabhängig davon. Und auch Marianne Weber zeigt Sympathien, die in die gleiche Richtung neigen, obschon sie immer wieder bemüht ist, den Konsens der "Gefährten" (Weber, 1926: 376) - also zwischen sich und ihrem verstorbenen Mann - zu konstruieren Schon 1907 war nach Mariannes Darstellung die studentische Jugend Vorreiterin einer "neuen Ethik". Dabei wird "Keuschheit als Mönchsmoral" karikiert und "die Ehe als staatliche Zwangseinrichtung zum Schutz des Privateigentums" (ebd.). Die Folge dieser Sicht ist ein "Recht auf 'freie Liebe' und das uneheliche Kind" (ebd.). Diese Bewegung arbeitete damals unter der Bezeichnung "Mutterschutz", und gemeint war der Schutz der unverheirateten Mutter. Max Weber muß sich der Gruppe vorübergehend angeschlossen haben; denn Marianne zitiert ihn in seinem charakteristischen Ungestüm: "Diese spezifische Mutterschutzbande ist ein ganz konfuses Gesindel. Ich trat nach dem Geschwätz der N N wieder aus. Grober Hedonismus und eine Ethik, die nur dem Mann zugute käme als Ziel der Frau - das ist einfach Quatsch" (ebd.). Entgegen dieser barschen Ablehnung zitiert Marianne sich selbst aus einem Vortrag, den sie Pfingsten 1907 über "sexualethische Prinzipienfragen" gehalten hat. Die daraus wiederholten Sätze "bargen eine neue Erfahrung, die Frucht schicksalsvoller Ereignisse..." (ebd.). In bedrohlicher Nähe zu dieser dunklen Andeutung, im darauf folgenden Satz, taucht dann der uns vertraute Otto Gross in Mariannes Buch auf, allerdings ohne daß sein Name genannt würde (ebd.). Daß sich bei dem folgenden Satz um ihn handelt, wird erst nachträglich sichtbar, wenn der uns schon vertraute Brief in einer etwas anderen Variante abgedruckt wird. Der Leser von 1926 wußte jedoch vermutlich nicht, wer gemeint war: "Ein junger Psychiater, Jünger S. Freuds, umkleidet vom Zauber der Genialität des Geistes und Gemüts, hatte bedeutsamen Einfluß gewonnen" (ebd.). Weiter konnten die Eheleute Weber in der Einschätzung der Person des Otto Gross kaum auseinander liegen. Doch bezieht sich diese Verschiedenheit des Urteils nicht nur auf den Menschen. Über sein Werk hat sich Max in dem Brief an Jaffe geäußert, und Marianne schriebt darüber dies: "Der lebenssteigernde Wert der Erotik ist so groß, daß sie frei bleiben muß von jeder fremden Rücksicht und Gesetzlichkeit, und vor allem von der Verflechtung in den Alltag. Wenn vorerst die Ehe als Frauen- und Kinderversorgung bestehen bleibt, so feiere die Liebe die Ekstase außerhalb ihres Bereichs. Eheleute sollen einander neidlos gönnen, was sich jedem an erotischem Aufschwung bietet. Eifersucht ist gemein... Die Liebeskraft erschlafft notwendig durch die Beziehung auf immer dasselbe
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Du" (ebd.: 377). Marianne referiert nicht ohne Pathos und kommentiert dann behutsam: der namentlich nicht genannte Freudschüler habe Erfolg gehabt, seine Botschaft habe "Gläubige" gefunden: "Unter seinem Einfluß wagten nicht nur Männer, sondern auch Frauen die eigne Seele und die ihrer Gefährten aufs Spiel zu setzen" (ebd.). Ein wenig dunkel berichtet Marianne von Menschen, die jene gefährliche Theorie bejahen, weil sie hoffen, so einen "Ausweg zu finden aus schwerstem Konflikt, daß zerfallene Ehen sich fortspinnen, nicht nur um der Kinder willen, sondern auch aus Freundestreue gegen die Gefährten" (ebd.: 378): Und vor diesem Hintergrund eines Sittenbildes des Jahres 1907 präsentiert Marianne dann den Brief, den wir schon kennen, freilich ohne den Namen Otto Gross an irgendeiner Stelle preiszugeben, sie nennt ihn Dr. X ! Dabei ist es für uns heute schwierig, die Abweichungen zwischen den beiden nun zugänglichen Versionen des Briefes zu deuten. Aus der Einführung zur Veröffentlichung der Fassung in der Max Weber Gesamtausgabe erfahren wir, daß Else Jaffe von dem an sie gerichteten Original eine Abschrift angefertigt hatte, die sie Marianne Weber überließ. Welche Abweichungen bei der Herstellung der Abschrift, welche im Übergang von der Abschrift zur Veröffentlichung 1926 entstanden sind, kann hier nicht entschieden werden. Wir befinden uns daher in der etwas prekären Lage, Textunterschiede vage auf den gemeinschaftlichen Einfluß der beiden Damen zurückführen zu müssen. Nicht alle Abweichungen sind interessant, so wenn Max Weber (nach der Gesamtausgabe) schreibt, Otto Gross sei "Natura/«? und nicht Naturforscher" (Weber, 1990: 394) und man bei Marianne liest, er sei "Moralist und nicht Naturforscher" (Weber, 1926: 379), oder wenn man 1990 den Vergleich mit den Erfindern "der farbigen Photographie" (Weber, 1990: ebd.), dagegen 1926 mit dem "der heutigen Photographie" (Weber, 1926: 380) liest. Das mag mit der schweren Lesbarkeit der Handschrift Max Webers ausreichend erklärt sein. Diese Erklärung taugt jedoch nicht, wenn Auslassungen vorgenommen werden. Als Weber die Ablehnung des Manuskripts mit seiner fehlenden Wissenschaftlichkeit begründet und es in die Nähe von Kinderwindeln rückt, fugt er einen Satz an, in dem er zwei Publikationsorgane nennt, die geringere wissenschaftliche Ansprüche stellen als das "Archiv" und daher auch "Kinderwindeln" drucken würden: "Sombart's 'Morgen' oder der 'Mutterschutz' werden sie ja als Delikatesse servieren" (Weber, 1990, ebd.). Dieser Satz fehlt 1926 bei Marianne Weber. Die Fachwelt kann ihn erst seit 1990 zur Kenntnis nehmen. Bei Max Webers Vergleich der Psychotherapie mit der Beichte, trägt Weber temperamentvoll vor, daß er dem ethisch hochstehenden Menschen sehr wohl zutraue, sich jener Ereignisse zu erinnern, deren er sich zu schämen habe. In diesem Zusammenhang liest man 1990 die Worte "dies gegen Freud" (Weber,1990: 400), die 1926 fehlen (Weber, 1926: 382). Im
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gleichen Satz attackiert Weber die lange Behandlungsdauer: 1990 liest man "6 Monate lang" (Weber, 1990: ebd.), doch 1926 liest man nur "Monate lang" (Weber, 1926: ebd.) ohne eine Angabe über die Zahl der Monate. Man könnte meinen, die kleine Ziffer 6 sei eben übersehen worden, doch es folgt 1990 von Weber in Klammern gesetzt "(Mindestfrist nach Freud)" (Weber, 1990: ebd.), und dieser Zusatz fehlt eben 1926 auch (Weber, 1926: ebd.). An dieser Stelle des Briefes, an der Max Weber sich weniger mit Otto Gross als vielmehr direkt mit dem großen Freud auseinandersetzt, häufen sich - wie es scheint - die Eingriffe in die Handschrift. Soll Freud vor Weber in Schutz genommen werden oder Weber vor den Freudianern? An der Stelle seines Briefes, an der Max Weber "Freud's Curen" jeden ethischen Wert bestreitet und die Vorgänge auf "Freud's Kanapee" glossiert, liest man 1990 auch: "NB! immer unter Beichtgeheimnis des Arztes!" (Weber, 1990: ebd.). Bei Marianne fehlt der Passus. In dem sich anschließenden längeren Satz findet sich 1990 in Klammern gesetzt: "(für die, hier ja nicht zur Diskussion stehende, hygienische Seite der Sache wäre mir die Sache zu langwierig und fragwürdig, offen gestanden)" (Weber, 1990: ebd.). Vielleicht fehlt das 1926 (Weber, 1926: 383) konsequenterweise, weil ja auch der Hinweis auf die Sechsmonatsfrist entfallen ist, und demnach nicht mehr ganz einsichtig wäre, wieso Weber das Verfahren als langwierig einschätzt. Aber es gibt freilich auch ganz andere Möglichkeiten einer Deutung dieser Auslassung. Die letzte Kürzung, auf die hier hingewiesen werden soll, wurde oben schon erwähnt: Er betrifft das, was Max Weber den kategorischen Imperativ der Psychoanalyse nennt: "Geh zu Freud oder zu uns, seinen Schülern" (Weber, 1990: 401) und lasse dich analysieren, dies sei, so schreibt Weber, "das einzige ethische Postulat, welches ich in dem Aufsatz zu entdecken vermag, und welches uns bei Strafe, für einen Feigling gehalten zu werden, eingeschärft wird" (ebd.). Dieser lange Satz, von "das einzige ethische Postulat" bis zu "eingeschärft wird" erhält 1926 die Kurzfassung "sonst bist du ein Feigling" (Weber, 1926: ebd.). Nur 1990 liest man den Absatz, in dem mit Bezug auf Otto Gross von dem "adeligen Zug seiner Natur" (Weber, 1990: 402) die Rede ist. Max Weber begründet diese so positive Einschätzung mit "dem kurzen Eindruck", den er selbst von Otto Gross hat "und Ihren Erzählungen" (ebd.). Der ganze Absatz kann also aus höflicher Rücksichtnahme auf die Empfängerin des Briefes, Else Jaffe geschrieben worden, um deren Gefühle zu schonen. Ob sie selbst oder Marianne Weber diese Sätze unterdrückt hat, könnte eine Einsichtnahme der von Jaffe angefertigten Abschrift klären, die in Merseburg archiviert ist. Wie auch immer, Marianne Weber kommentiert ihre Version des Briefes mit den romantisierenden Sätzen: "Aber mochte auch das Aufbauschen gewisser psychiatrischer Einsichten zur welterlösenden Pro-
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phetie bald als Wahn erkannt werden - was kann das helfen, wenn im Schatten der Entsagung verkümmernde Menschenblumen ungestüm zu Sonne drängen, und der durch die Fron unglücklicher Ehen mißhandelte Eros seine Fesseln sprengt!" (Weber ebd.: 384). Otto Gross wurde 1913 auf Betreiben seines Vaters Hanns Gross in Berlin von der Polizei als gefährlicher Psychopath verhaftet, nach Österreich überfuhrt und dort in eine geschlossene Anstalt eingeliefert (Green, 1974: 66).
D. Weiterentwicklung des verstehenden Ansatzes I. George Mead (1863-1931) und Hans Freyer (1887-1969) In der Kontinutität der Schriften von Simmel arbeitet George Herbert Mead die Notwendigkeit heraus, den Vorgang der Bedeutungsverleihung und den seiner Engschlüsselung im Verstehensprozeß zusammenzusehen, da in den Sozialwissenschaften sinnhaftes Tun nicht nur als sinnstiftendes, sondern auch als sinnverstehendes Handeln gesehen werden muß. Erfahrungen der Individuen werden in der VS besonders ernsthaft studiert. Bedeutungen, die irgendwo unerkannt verborgen liegen, mögen so objektiv sein, wie sie wollen, sie bleiben im Kontext einer Wissenschaft vom Handeln des Menschen irrelevant, da sie nicht als Erfahrungen in einen subjektiv gewußten Sinn eingehen. Bedeutungen "must be found in the experiences of these individuals if they are to exist for these sciences at all" (Mead, 1927: 78; Helle, 1986: 22f). Das ist eine Prämisse, die schon Dilthey als Grundlage der Geisteswissenschaften genannt hat. "In the second place, it is only in so far as the individual acts not only in his own perspective but also in the perspective of others, especially in the common perspective of a group, that a society arises, and its affairs become the object of scientific inquiry" (Mead, 1927: 78). Das sinnverstehende Handeln des Individuums schließt demnach ein, daß es die Attitüden, Einstellungen, Ansichten, Rollen anderer übernimmt und dadurch die Perspektive seiner Bezugsgruppe zu seiner eigenen macht. Der überindividuellen "social perspective" muß Objektivität zugestanden werden, und insoweit sie verstehbar ist, steigt das Individuum in sie ein und gewinnt zugleich mit der Mitgliedschaft oder der Identifikation mit der Bezugsgruppe auch die Teilhabe an deren objektiver Perspektive. "The social perspective exists in the experience of the individual in so far as it is intelligible, and it is its intelligibility that is the condition of the individual entering into the perspectives of others, especially of the group" (ebd.). Im Laufe der Sozialisation lernt der Mensch schon als kleines Kind, sich mit den Augen anderer zu sehen. In der Kommunikation mit seinen Mitmenschen sieht er sich als der andere, der er für sie ist. Erst nachdem er so ein 'Anderer' geworden ist, wird er ein 'Selbst'. Je älter er wird, desto größer wird die Zahl der 'Anderen' als die er sich in verschiedenen sozialen Umwelten erlebt: beim Spiel als Kind, als Mitglied einer Wettkampfmannschaft im Sport oder in Großorganisationen. So lernt er allmählich, sich aus der Perspektive der Gemeinde oder Gesellschaft zu sehen, sich mit einem 'generalisierten Anderen' zu identifizieren und aus
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dieser Perspektive sein 'Selbst' zu finden. "In this situation he has become a definite self over against the social whole to which he belongs This is the common perspective" (ebd.: 80). Die "social perspective" dient dem Individuum also nicht nur zum Verständnis seiner kulturellen, sozialen und physischen Umwelt, sondern sie dient ihm zur Bestimmung seines 'Selbst'! Wenn daher der Mensch die Objektivität jener Perspektive in Frage stellt, aus der er sein 'Selbst' bestimmt hat, so stellt er sich selbst notwendig mit in Frage. Die 'social perspective' hört dann auf, objektiv zu sein. "What has happened... is that the rejected perspective fails to agree with that common perspective which the individual finds himself occupying as a member of the community of minds, which is constitutive of his self. This is not a case of the surrender to a vote of the majority, but the development of another self through its intercourse with others and hence with himself' (Mead, 1927: 82). Mead meint, daß in diesem Prozeß, in dem eine ehemals objektive Perspektive gleichsam subjektiv wird, in dem ferner durch die Bildung neuer überindividueller Zusammenschlüsse neue objektive Perspektiven Gestalt gewinnen, ein Beispiel für kreativen Fortschritt gesehen werden kann. Auch Freyer stützt sich auf die Arbeiten Simmeis und entwickelt dessen Ansatz weiter: "Alle Formen des objektiven Geistes stammen genetisch aus menschlichem Gemeinschaftsleben, insofern haben sie alle jene soziale Situation zu ihrer Voraussetzung. Die besondere Art von Formen aber, die hier gemeint ist, ist außerdem dadurch charakterisiert, daß irgendwelche sozialen Bezüge ihren Sinngehalt bilden. Sie sind also nicht nur, wie alle übrigen Formen auch, den Bedingungen ihrer Herkunft nach, sondern sie sind außerdem ihrem Sinngehalt nach sozial" (Freyer, 1928: 68). Die sozialen Formen haben nach Freyer in menschlichem Gemeinschaftsleben ihren Ursprung. Das zeichnet sie nicht aus, sondern das haben sie mit allen anderen Formen des objektiven Geistes gemeinsam. Sodann haben soziale Formen eine Bedeutung, die wiederum sozial ist, und dies unterscheidet sie von den anderen Formen des objektiven Geistes. Was außerdem noch eine Besonderheit der sozialen Formen darstellt, ist der Umstand, daß sie einen geringeren Grad der Objektivität erreichen als die übrigen Formen der Kultur. Das liegt an dem Material, aus dem sie gebaut sind. Nicht Holz oder Stein, sondern lebendige Menschen sind ihr Material, "sie sind aus lebendigem Willen, aus Menschen gebaut. Sie sind nicht aufgeführt wie ein Bau - sie werden aufgeführt wie eine Musik" (ebd.). Über den Vergleich mit der Musik gelangt Freyer zur Kategorie des Nachschaffens.
Der
Abstand zwischen dem Akt der Objektivation und dem Akt des Verstehens, der zum Nachschaffen wird, schmilzt dahin. Das aktive Element tritt als Kunstfertigkeit auf: "Zu allem Verstehen, überhaupt zu allem Auffassen eines Gegenständlichen ist einer um so begabter, je fähiger er im betreffenden Gegenstandsgebiet zum Gestalten ist. Nur wer eine Leistung sei-
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ber hervorzubringen vermöchte, wird sie völlig begreifen... So hängt es also vom Gesamtvorrat einer Seele an schöpferischen Kräften ab, welchen Umkreis von Welt sie zu begreifen fähig wäre" (ebd.: 81). Deutendes Verstehen als Interpretations- und Entschlüsselungsprozeß läßt sich so aus Freyers Theorie der Kulturformen herleiten Im Bereich der Soziologie sind die Formen "nicht wie eine Grammophonplatte, in deren Engramme das verstehende Leben seinen Transmissionsstift einsetzen könnte, so daß nun aufgrund automatischer Umsetzungsprozesse und jedesmal mit absoluter Sicherheit wiedertönte, was dort eingeritzt ist. Sondern sie sind wie ein Notenblatt, in dessen Zeichen das Lied zwar vollkommen objektiviert und festgelegt ist, aber doch nur als Vorlage, die nachgeschaffen werden muß, als eine objektive Forderung, die aktive Kräfte zu ihrer Erfüllung aufruft, die ewig unerfüllt bliebe, stände ihr nicht ein mit Aktivität geladenes Leben gegenüber, und die eben deswegen aus jeder einzelnen Erfüllung irgendwie verwandelt hervorgeht" (ebd.: 84).
Wie der Interpret in der Musik die aufgezeichneten Noten immer wieder neu "nachschaffen" muß, so muß der handelnde Mensch in seiner Konfrontation mit dem Kulturobjekt den objektiven Geist immer neu in sein lebendiges Tun hineinnehmen. Der Lösung des Problems der Entzweiung zwischen handelndem Subjekt und Kulturobjekt dient das Verstehen. Es leistet die Synthese zwischen der den Sinnen gegebenen Erscheinung und dem verstehenden Gedanken und damit die Versöhnung von Subjekt und Objekt. Die verstehenden Gedanken hält Freyer für vorgegeben: Das Zeichen hat seine Bedeutung unabhängig davon, ob es verstanden wird. Es ist Objektivation des Geistes, und seine Bedeutung erhält es in eben diesem Vorgang der Objektivation. Doch Freyer modifiziert den zunächst zum Naturalismus tendierenden Ansatz durch den Hinweis, daß alle Formen des objektiven Geistes ihrer Herkunft nach sozial sind. Jene Formen des objektiven Geistes, die als Themen der Soziologie bearbeitet werden, sind außerdem ihrem Sinngehalt nach sozial. Die Kluft zwischen ihnen als Objekten und dem verstehenden Subjekt wird weniger tief sein, da sie einen geringeren Grad der Objektivität erreichen als Bauwerke oder Wegweiser; denn das Material, aus dem sie bestehen, ist der Mensch selbst, ist "lebendiger Wille". In ihnen ist erkennbar immer schon Subjektives dem Objektiven verbunden. Sie sind wie ein Notenblatt, aus dem der Verstehende aktiv und kreativ nachschaffend herausarbeiten kann, was objektiv zwar, aber nur potentiell darin enthalten ist. Schwerpunkt der Fragestellung ist bei Freyer die Objektivation als Entstehung von Bedeutung, bei Mead ist es die Wahrnehmung als Entschlüsselung von Bedeutung. Ihren Sitz haben die Bedeutungen für Mead im Individualbewußtsein, und zwar aufgrund von Erfahrun-
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gen, die der einzelne im Handeln gemacht hat. Nun handelt aber der einzelne in der Perspektive anderer, und die soziale Perspektive, die er seinem Handeln zugrundelegt, existiert dann als Erfahrung in seinem Bewußtsein. Er setzt für sich die soziale Perspektive als objektiv und gültig und entnimmt ihr die verstehenden Gedanken sowohl zur Deutung seines Selbst als auch zur Deutung der Objekte. Da er sich aus der gleichen Perspektive sieht, aus der er auch die anderen und das andere sieht, kann er verstehen. Die soziale Perspektive Meads steht in der Ahnenreihe hinter Piatons Welt der 'Ideen', Kants 'reinen Vernunftbegriffen', Rickerts Prinzip der 'Wertbeziehung' und Max Webers 'Wertideen'. Wie bei Max Weber konstituiert der Handelnde auch bei Mead aktiv seinen Erkenntnisgegenstand. Dabei nimmt er sozial vermittelte Bedeutungsverleihungen vor, die nachzuvollziehen Aufgabe verstehender Soziologie ist. Die hier skizzierten Aussagen von Mead und von Freyer sind Anregung dazu, Verstehen als Nachvollzug des Vorgangs der Bedeutungsverleihung zu begreifen.
II. Strauss, Shibutani und Goffmann 1. Strauss: Synthese zwischen Mikro- und Makrosoziologie Anselm Strauss ist einer der wenigen bedeutenden Soziologen, die schon zu Beginn ihrer wissenschaftlichen Karriere ihren Arbeitsplatz im Bereich der Medizin fanden. Als Mitarbeiter an der psychosomatischen und psychiatrischen Klinik des 'Michael Reese Hospital' in Chicago publizierte er 1959 sein erstes einflußreiches Buch mit dem Titel "Mirrors and Masks. The Search for Identity". Das Werk ist wichtig für die Entwicklung der VS und der Theorie der Symbolischen Interaktion (TSI), weil der Verfasser darin eine zweifache Syntheseleistung vollbringt: Er verbindet erstens den sozialpsychologisch und primärgruppenorientierten Ansatz der frühen TSI (Cooley) mit der Makrotheorie der Sozialstruktur, und er rezipiert zweitens neben dem amerikanischen Pragmatismus auch die deutsche VS. Strauss zitiert in "Mirrors and Masks" sowohl Arbeiten von Cooley, Mead, Dewey, Blumer, Kenneth Burke, Erik Erikson, Everett Cherrington Hughes, Erving Goffman und Harold Garfinkel als auch Werke von Georg Simmel, Max Scheler und Karl Mannheim (Strauss, 1959: 181-186). Die TSI bezeichnet Strauss als einen Standpunkt, der den Pragmatisten und den Werken mehrerer früherer Soziologen verpflichtet ist und der die zentrale Bedeutung der Sprache für menschliches Verhalten hervorhebt. Die TSI betone, daß die Ereignisse im zwischenmenschlichen Bereich offen und nicht voraussagbar sind: Interaktion wird als ein Vorgang betrachtet, der von Regeln, Normen und Ordnungen gesteuert wird, aber seine Resultate kann man im voraus nicht immer oder nicht völlig bestimmen. Diese Unbestimmtheit braucht für wissenschaftliches Forschen kein Hindernis zu sein, sondern sie muß in die Überlegungen einbezogen werden (ebd.: 10). Obwohl Strauss sich ausdrücklich zur TSI bekennt, kritisiert er die dort zentralen Begriffe 'Selbst', 'Identität' und 'Persönlichkeit', weil dabei der Einfluß der Sozialstruktur zu wenig berücksichtigt worden sei. Die sozialpsychologische Theorie behandelt Kleingruppen, nicht aber die Tatsache, daß der Mensch stets in gesellschaftliche Großstrukturen eingebunden ist und daß daher Effekte aus dem Makrobereich bis in Fragen der 'Persönlichkeit' und der 'Identität' hinein wirksam werden. Da andererseits die funktionalistische Theorie in Gefahr ist, den Menschen als Persönlichkeit zu wenig zu berücksichtigen, sieht Strauss eine seiner Aufgaben darin, eine Synthese anzubieten zwischen der persönlichkeitsbezogenen Sozialpsychologie und der strukturbezogenen Makrosoziologie. Dazu will er die TSI mit den Perspektiven sozialer Organisationsanalyse verbinden.
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Ganz im Sinne der Thesen Meads (vgl. Helle, 1992, S. 71 und 75) betont Strauss, daß Sprache nicht eine Form menschlichen Verhaltens sei wie andere auch, sondern daß es die zentrale Verhaltensform sei. Sprachliche Begriffe bezeichnet er hier noch nicht als 'categories' (Strauss, 1970), auch nicht wie Blumer als 'concepts', sondern Strauss spricht in diesem Buch von 'names', also von Namen und Benennungen: Ein Name ist wie ein Behälter; in ihn 'hineingegossen' werden die bewußten sowohl als auch die kaum beachteten Bewertungen dessen, der den Namen gibt. Die große Bedeutung des Benennens wird daran sichtbar, daß bei Personen meist mit einem Initiationsritus ein Wechsel des Namens einhergeht (Strauss, 1959: 16). Besonders einleuchtend ist das im Falle der Taufe oder der Namensgebung, wo der Mensch mit der Verleihung eines Namens überhaupt erst Mitglied seiner Familie und der sie umgebenden Gesellschaft wird. Aber auch der Wechsel des sozialen Status im Laufe eines Lebens geht häufig mit einem Namenswechsel einher. Das gilt in aller Regel für eine Frau bei ihrer Heirat und galt früher in der Katholischen Kirche bei der Firmung. Wenn der Wechsel des sozialen Status nicht so radikal ist wie in den vorher bezeichneten Fällen, genügt ein Zusatz zum Namen, der im übrigen beibehalten wird, z B durch die Verleihung eines Titels oder einer Amtsbezeichnung. Im Akt der Benennung wird das Benannte in seiner Individualität mit dem Kollektivphänomen Sprache verknüpft. Auf die Person bezogen wirkt Benennung persönlichkeitsprägend und zugleich statusverleihend. Strauss spricht von einem Plazierungsprozeß, in dessen Verlauf das individuell Benannte in eine kollektive Perspektive einrückt. Dabei wird die Zugangsweise des Pragmatismus sichtbar; denn Strauss sieht den Vorgang der Klassifikation als entscheidend für die Richtung des Handelns an: Die Benennung eines Gegenstandes bestimmt die Richtung der Handlung, gleichsam als ob das Objekt geradeheraus sagen würde: "Du willst, daß ich dies bin? Dann handle auch in der entsprechenden Weise mir gegenüber" (ebd.: 22). Umgekehrt gilt ebenso, daß ein Subjekt, das von einem Gegenstand nicht weiß, worum es sich dabei handelt, nicht auf diesen Gegenstand hin handeln kann: Strauss konstruiert das Beispiel eines durstigen Menschen, der in der Dunkelheit ein Glas zum Munde führt, dessen Inhalt er für Milch hält. Auf Milch eingestellt, wird er entsetzt davor zurückschrecken, wenn es tatsächlich Tomatensaft ist. So zeigt sich, daß jede Klassifikation zugleich auch Elemente der Bewertung einschließt. Benennungen tragen in sich nicht nur unsere Erwartungen, sondern auch unsere Bewertungen. Des Verfassers Begriffsbestimmung von 'Wert' stimmt fast wörtlich mit der Georg Simmeis überein (Simmd, 1907: 8). Strauss schreibt: Ein Wert ist nicht ein Element; er hat vielmehr etwas zu tun mit der Beziehung zwischen dem Objekt und der Person, die Erfahrungen mit dem Objekt gemacht hat. Dies ist nur eine andere Form der Aussage, daß das
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'Wesen' der Objekte nicht in diesen Objekten seinen Ort hat, sondern in der Beziehung zwischen ihnen und dem, der sie benennt. Wert als eine Beziehung wird leicht sichtbar in Verbindung mit dem Adjektiv 'nützlich' - nützlich für wen, unter welchen Bedingungen, zu welchem Zweck? (Strauss, 1959: 24). Das Benennen oder Identifizieren von Objekten ist nie abgeschlossen. Strauss bezieht sich auf Mead, der das Klassifizieren als Bildung von Hypothesen interpretierte und die Meinung vertrat, Benennung sei ihrem Wesen nach ein Handeln, das die Rekonstruktion vergangener Erfahrung und dabei das Entstehen neuer Gegenstände mit sich bringe. Die ständige Notwendigkeit der Überprüfung des Prozesses der Benennung ist die Voraussetzung für Innovation und Wandel im Leben des Menschen (ebd.: 26). Wenn im menschlichen Miteinander die Erwartungen immer erfüllt würden, wenn die Situationen und Ereignisse der Gegenwart exakt so einträfen, wie sie aufgrund vergangener Erfahrungen antizipiert wurden, könnte soziales Handeln vollständig ritualistisch sein, und die sprachlichen Konzepte in Bezug auf menschliches Handeln müßten für alle Zeiten statisch bleiben. Innovation, Wandel, Erneuerung hängen davon ab, daß Situationen mehrdeutig, unklar, nicht restlos definiert sind. Aus solchen Mehrdeutigkeiten entsteht der Anreiz zur Entdeckung neuer Werte (Helle, 1980: 107f). Strauss formuliert an verschiedenen Stellen Thesen, die sich später in den Arbeiten von Peter L. Berger (Hettlage, 1991) wiederfinden So weist Strauss z.B. daraufhin, daß die Wahrscheinlichkeit eines Alternierens in der Perspektive eines Menschen um so größer ist, je intensiver er an Gruppen teilhat, zu denen auch solche Menschen als Mitglieder gehören, die von ihm selbst sehr verschieden sind (Strauss, 1959: 29). Für den, der nur mit seinesgleichen soziale Beziehungen unterhält, gibt es keine Chance für einen radikalen Wandel in der eigenen Wertorientierung. Alternative Handlungsmöglichkeiten, die sich in Auseinandersetzung mit Andersdenkenden als Vorstellungsinhalte ergeben, werden durch die Terminologien der beteiligten Personen begrenzt: Die Vorstellungen, die bei Beginn der Auseinandersetzung darin Eingang finden und auch die Vorstellungen, die am Ende des Streits bei den Beteiligten zurückbleiben, sind abhängig vom Vokabular der beteiligten Individuen (ebd.: 30). Wenn schon der Buchtitel 'Spiegel und Masken' an den Begriff des 'Spiegelselbst' bei Cooley erinnerte, so werden in dem Kapitel des Buches, das sich mit Selbsteinschätzung und Handlungsverläufen befaßt, die Parallelen zu Cooley ganz deutlich sichtbar: Soziale Beziehungen werden in vielen Fällen von der Einstellung geprägt, die der einzelne seinem Selbst gegenüber hat, weil er sie dem Bewußtsein eines anderen zuschreibt Darum schauen wir in den Spiegel, weil wir uns dann am ehesten vorstellen können, mit welchen Augen uns die anderen sehen. Der einzelne macht sich eine Vorstellung von sich aus der Perspektive anderer
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und entwickelt so das, was Cooley "self-idea" nennt. Vor dem Hintergrund dieser Lehre Cooleys, die auf Georg Simmel zurückgeht (Helle, 1988: 40, 84ff), betont er, daß der Mensch nicht darauf verzichten kann, seine eigenen Handlungen zu beurteilen. Handlungen, die in seinem Leben eine bedeutende und zentrale Stellung einnehmen, werden womöglich im Laufe seiner Biographie mehrfach neu beurteilt. Auch dies ist ein Gedanke, den wir bei Peter L. Berger wiederfinden (Berger, 1963: 54-65, 183). Strauss fuhrt die Bemerkung über die Neigung des Menschen, sein eigenes Tun zu beurteilen, zu der Aussage weiter, daß der Mensch in der Lage ist, sich selbst zum Objekt zu werden. Wenn eine Person die Handlungen einer anderen beurteilt, so tut sie das als 'Subjekt'. Wird eine Handlung oder Person beurteilt, so ist sie insoweit ein 'Objekt' der Beurteilung (Strauss, 1959: 32). Das Bedeutsame am Menschen ist nun, daß er in der Lage ist, beides zugleich zu sein; sobald er gehandelt hat, kann er seine eigene Handlung zum Objekt des eigenen Urteils machen, das er als Subjekt fällt Doch damit noch nicht genug. Er kann seinem Handeln gegenüber aus so vielen verschiedenen Perspektiven urteilen, wie ihm das aufgrund der ihm verfügbaren Sprache möglich ist, und die verschiedenen Terminologien und Sprechweisen erwirbt der einzelne als Ergebnis seiner jeweiligen Mitgliedschaft in verschiedenen sozialen Gruppen. Strauss verbindet also den Vorgang des Erwerbs einer neuen Perspektive mit dem Vorgang des Erwerbs eines dazugehörigen Vokabulars und Sprachvermögens und das wiederum mit dem Erwerb der Mitgliedschaft in der entsprechenden Gruppe Jeder gruppenspezifischen Perspektive entspricht eine eigene gruppenspezifische Sprache. Eines ist ohne das andere nicht artikulierbar. Der Schritt von Cooley zu Strauss kann daher wohl so gesehen werden: Während Cooley bei seinem Konzept des Spiegelselbst noch verhältnismäßig global von den anderen spricht, mit deren Augen wir uns selbst betrachten, differenziert Strauss diese 'Gruppe der anderen' in eine Reihe voneinander deutlich unterscheidbarer Teilgruppen, in deren Perspektive wir jeweils eintreten können, wenn wir unsere eigenen Handlungen und damit uns selbst beurteilen. Ergebnis der Beurteilungen der eigenen Person durch sie selbst aus der Perspektive anderer ist das 'Me'. Bekannt ist bei George Herbert Mead die Gegenüberstellung von T und 'me' (Siehe hier im Anhang!). Im Unterschied zum kleingeschriebenen 'me' findet sich nun bei Anselm Strauss ein großgeschriebenes 'Me', von dem er im Anschluß an den Philosophen Kurt Riezler berichtet. Dieses 'Me' kann verschiedenes bedeuten: Es kann sich um das 'Me' von gestern handeln, oder um das von heute, oder das von morgen, oder es kann das 'Me' aller Tage sein, oder das 'Me' in dieser besonderen Handlung oder Situation, oder das 'Me' aller denkbarer Handlungen und Situationen (ebd.: 33. Riezler, 1950: 80) Dabei kann die
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Frage auftauchen, ob alle 'Mes', die das Ergebnis meiner früheren Urteile über mich selbst sind, haltbar waren, oder ob die Urteile und damit die daraus resultierenden 'Mes' revisionsbedürftig sind. Das kann soweit gehen, daß sogar das zentrale Selbst, also die urteilende Instanz in unserer Person, in Frage gestellt wird. Die Revisionsmöglichkeit von Urteilen über unsere Handlungen der Vergangenheit und das Element der Überraschung in Handlungen der Gegenwart fuhren dazu, daß die Zukunft des Menschen offen ist. Der Mensch ist insoweit frei, dem Unerwarteten einen Sinn zuzuschreiben, neue Bewertungen zu finden und die Situation definitorisch zu bestimmen. "Values are consummated and - now formulated - become targets for reattainment..." (Strauss, 1959: 33). Strauss sieht Werte als etwas, dem nachgestrebt wird, und zwar unter vergleichbaren oder auch verschiedenen Bedingungen. Diese Werte, die die Perspektiven der Beurteilung begründen, ganz im Sinne der VS Max Webers, nach der im Anschluß an Rickert Kultur ohne eine Wertbeziehung nicht denkbar ist, finden Eingang in die Konstitution des 'Me' als Objekt der beurteilenden Akte, die das T aus der Perspektive anderer vornimmt. Das T bewegt sich als Subjekt der verschiedenen einer ständigen Revision unterworfenen 'Mes' kontinuierlich immer weiter in eine mindestens teilweise unbestimmte Zukunft hinein. So ergeben sich neue 'Is' und neue 'Mes', und sowohl Persönlichkeitsentwicklung als auch sozialer Wandel werden möglich (ebd.: 34). Strauss warnt vor einer einseitigen Sichtweise des Individuums, durch die es als nicht festgelegt und gar zu beliebig beeinflußbar beschrieben würde. Er erwähnt deshalb die Möglichkeit für den einzelnen Menschen, sich langfristig an einen Wert zu binden durch "dedication and devotion" (ebd.: 41). Wer für lange Zeit als Mitglied einer Gruppe stark engagiert war, wird im Zuge der Verfolgung der Gruppenziele viel Kraft aufgewandt haben. Jede lang andauernde Identifikation mit einer bestimmten Überzeugung bedeutet zugleich immer auch die Bereitschaft zu dem, was Strauss 'sacrifice' nennt, also zum Opfer. Jede Gruppe hat das Recht, als Gegenleistung für die von ihr verliehene Mitgliedschaft ein bestimmtes Maß an Opferbereitschaft von ihren Mitgliedern zu fordern. Das Individuum fordert von sich selbst solche Opfer und tut das aus der Perspektive der Gruppe gleichsam als sein eigenes Publikum. Die Forderung nach Opferbereitschaft in direkter Verlängerung des Cooleyschen Konzepts des Spiegelselbst formuliert. Die äußerste Steigerung des Opfers ist - auch flir Strauss - die Selbsthingabe bis zum Tode. Man opfert sich gleichsam auf einem rituellen Altar als Zeichen der letzten Hingabe an den Wert, zu dem man sich bekennt. Ein Akt der Selbstaufopferung ist überindividuell und gehört einem größeren und umfassenderen Muster des Verhaltens an, welches etwaige unreine Motive des Individuums bei weitem transzendiert Nur so wird auch verständlich, daß es
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Menschen gibt, die ohne Furcht und Zögern ihr eigenes Martyrium suchen. Das Handlungsmuster der Selbstaufopferung taucht in der Geschichte der Hochkulturen in mancherlei Formen auf, etwa als Selbstverbrennung buddhistischer Priester in Vietnam oder auch eines evangelischen Geistlichen in der damaligen DDR. Anselm Strauss weist darauf hin, daß das Wort 'Märtyrer' aus dem Griechischen stammt und übersetzt werden kann mit dem Begriff 'Zeuge'. Durch extreme Identifikation des Individuums mit dem Kollektivbewußtsein wird erreicht, daß der einzelne seine ganze physische und individuelle Existenz im Dienst an dem Zeugnis für den vom Kollektivbewußtsein repräsentierten Wert hingibt (ebd.: 42). In dem Kapitel "Interaction" wird in besonders einleuchtender Weise die Grundposition der interaktionstheoretischen Zugangsweise zur soziologischen Theoriebildung erläutert: Anselm Strauss bringt das anschauliche Beispiel einer Alltagssituation, in der ein Mann am Feierabend zu seiner Familie zurückkehrt, seine Frau ihm an der Haustür entgegenkommt, sie einander mit einem Kuß begrüßen, ein paar alltägliche Äußerungen austauschen und dann den Abend gemeinsam verbringen. Die Anordnung der Gegenstände in dem gewohnten Zimmer, die Begrüßung, die Worte, der Kuß, all dies stellt eine unübersehbare Vielzahl von Hinweisen dar, die Strauss hier, wie später auch Goffman, als 'cues' bezeichnet, also als Signale, die einzeln gar nicht bewußt wahrgenommen werden und dennoch in ihrer Gesamtheit den Handelnden bestätigen, daß ihre Definition der Situation zutreffend ist. Zur Definition der Situation gehört selbstverständlich auch die Bestimmung der Identitäten der beteiligten Akteure. Beide gehen davon aus, daß sie einander restlos kennen und jeder das zu erwartende Verhaltensrepertoire des anderen einzuschätzen vermag. Im Gegensatz zu dieser unproblematischen Alltagssituation lädt Strauss seinen Leser dann dazu ein, sich vorzustellen, wie es wäre, wenn eines Tages der Ehemann nach Hause kommt, wahrnimmt, daß die Begrüßung durch seine Frau nicht in der üblichen Herzlichkeit erfolgt, daß sie sich schnell ohne ein weiteres Wort von ihm zurückzieht, daß ihm ihre Gesten als fremdartig erscheinen, daß im Zimmer eine überraschende Unordnung herrscht und daß er so insgesamt verunsichert sich fragen muß, ob seine übliche Alltagsdefinition der Situation noch zureicht, um das zu erklären, was er heute und hier bei seiner Rückkehr von der Berufsarbeit erfährt (ebd.: 46). Mit dem Infragestellen der Definition der Situation wird womöglich zugleich die richtige Einschätzung der Identität des Partners in Frage gestellt: Ist sie wirklich die, für die ich sie immer gehalten habe? Natürlich, schreibt Anselm Strauss, weiß der Ehemann, wer sie ist. Er kennt ihren Namen, er kennt ihren allgemeinen Sozialstatus als Tochter, Ehefrau, Mutter. Er weiß aber nicht, in welcher Rolle sie ihm hier heute begegnet. Ist sie krank, mit sich selbst beschäftigt, ärgerlich, voller Vorwürfe ihm gegenüber oder was sonst? Angesichts der Rat-
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losigkeit versucht der Ehemann wahrscheinlich, die zunächst fremdartig erscheinenden 'cues' als Signale zu identifizieren, die ihm doch in der Vergangenheit schon einmal begegnet sind; er sucht also in der Erinnerung, um die heutige Überraschung durch ihren Rückbezug auf bereits bekannte Muster aufzulösen - in der Absicht, sich vom Gefühl der Ratlosigkeit zu befreien. Dies ist darum so bedeutsam, weil das Erlebnis der Unfähigkeit, eine Deutung der Situation zu leisten, zugleich die eigene Identität des Ehemannes in Frage stellen würde. Der einzelne wird als Ergebnis seiner Verunsicherung bemüht sein, die Situation dadurch zu verstehen, daß er sie auf Erfahrungen bezieht, die er in der Vergangenheit gemacht hat und die ihm infolgedessen eventuell Erklärungsmuster und Definitionsmöglichkeiten vermitteln. Wenn ihm dies jedoch mißlingt, muß er seine eigene Identität mit in Frage stellen. Anselm Strauss formuliert die Frage: "Who am I in this Situation?" (ebd.: 47). Dadurch, daß die Situation problematisch wird, werde ich, wird meine eigene Identität mit problematisch. Eine sinnhafte Deutung der Situation hängt davon ab, daß ich zusammenhängende Muster erkennen kann, daß ich unterscheiden kann, welche Elemente der Situation bedeutsam und welche unbedeutend sind, was hier wichtig ist und was nicht, und das bezieht sich auch auf mich und meine eigene Person. So erklärt sich denn wohl auch der Ärger oder gar die Wut, mit der Menschen auf unvorhergesehene Ereignisse reagieren: Das In-Frage-Stellen ihrer Deutungsschemata, mit denen sie üblicherweise Alltagssituationen erfolgreich gemeistert haben, erleben sie mindestens halb bewußt zugleich auch als Infragestellung ihrer Identität. Das aber wird mit Recht als Bedrohung erlebt. Auf der Flucht vor derartigen Bedrohungen der eigenen Identität beginnen Personen nach Perspektiven zu suchen, aus denen ein Verstehen der Situation möglich wird. Die gleiche Handlung, die gleiche Situation kann ja aus unterschiedlichen Perspektiven ganz unterschiedlich gedeutet werden. Wir hatten gesehen, daß Perspektiven als Resultate von Mitgliedschaften in spezifischen Gruppen gewonnen werden. Die Mitgliedschaft in solchen Gruppen führt zum Erwerb der gruppenspezifischen Perspektive, die gekoppelt ist an eine gruppenspezifische Sprache. Je mehr Mitgliedschaften wir in verschiedenen Gruppen erwerben, und je besser es uns gelingt, die verschiedenen dazugehörenden Perspektiven zu einem sinnvollen Zusammenhang zu integrieren, desto reichhaltiger wird die Identität, die wir aufbauen. Finden wir uns nun mit einer Situation konfrontiert, die aus keiner der gerade verfügbaren Perspektiven heraus als deutbar erscheint, muß der Eindruck entstehen, daß unsere Identität unzureichend differenziert und gefestigt ist, und daß daher die Notwendigkeit gegeben sein kann, weitere Gruppenmitgliedschaften zu erwerben, um weitere Perspektiven mit den dazugehörigen Sprachen hinzugewinnen zu können.
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V o r dem Hintergrund dieser Überlegungen ist die Erzeugung überraschender Situationen durch nonkonformistisches Verhalten einzelner j e nach dem wertenden Standpunkt, den jemand einnimmt, entweder zu beurteilen als Beitrag zur Persönlichkeitsentwicklung und zum sozialen Wandel, oder als Angriff auf die psychische Gesundheit einzelner und die Stabilität der sozialen Verhältnisse. Freilich ist es in manchen Situationen auch denkbar und sinnvoll, bei der Deutung unvorhersehbarer und überraschender Verhaltensweisen beides zu unterstellen: Die psychische Gesundheit einzelner mag bewußt aufs Spiel gesetzt werden, um dadurch den Wandel sozialer Bedingungen zu erzwingen. Doch der Gedanke an Zwang liegt dem interaktionstheoretischen Ansatz fern. Anselm Strauss kommt es in seinem Buch darauf an, die Bedingungen zu untersuchen, unter denen Menschen in Freiheit miteinander umgehen können. Die Freiheit des Individuums muß sich insbesondere daran erweisen, daß es in der Lage ist, seinem eigenen Handeln und der Situation, in der es sich ereignet, einen Sinn zu geben. Die Überlegungen, die Strauss zum Thema Sinngebung anstellt, ordnet er der Kategorie 'motivation' zu. Dabei argumentiert er in weitestgehender Übereinstimmung mit der VS: Eine Situation verstehen heißt, den Vorgang der Situationsdefinition nachzuvollziehen. Dazu gehört, daß das Subjekt sich selbst verdeutlicht, wie es gehandelt hat und wie es demnächst handeln wird. Zur Klärung dieser Situationsinterpretation bedarf das Subjekt eines 'motivational Statement1. Eine solche Motivationsaussage enthält eine Rechtfertigung für das Handeln des Subjekts Strauss schlägt vor, zwischen dieser Aussage, die der Handlung ihren Sinn gibt einerseits, und der Handlung selbst andererseits nicht zu unterscheiden. Handlung und Sinngebung verschmelzen zu einem einzigen Kulturphänomen (Strauss, 1959: 51). Dabei wird eine Reihe von Problemen sichtbar, wenn man sich verdeutlicht, daß die zugeschriebenen Motive häufig nicht die wahren sind. Gegenüber der Öffentlichkeit kann das handelnde Subjekt für sein eigenes Tun Motive vortäuschen, die in Wahrheit nicht der subjektiv gemeinte Sinn der Handlung waren. Das Bewußtsein um diese Zusammenhänge veranlaßt Personen, die sich um Sinnverstehen bemühen, unter Umständen nicht die an der Oberfläche liegenden Motivationszuschreibungen zu akzeptieren, sondern bewußt in tieferen Schichten nach tatsächlich oder vermeintlich wahren Motivationen zu suchen. Anselm Strauss wendet sich einem Beispiel aus der Psychiatrie zu. Zunächst geht er von der allgemeinen Aussage aus, daß es immer bedenklich ist, wenn eine Person glaubt, die Handlungen einer anderen genauer verstehen zu können als der Handelnde selbst dies anscheinend tut. Immer wieder sind Psychiater etwa davon überzeugt, die wahren Motive eines Patienten genauer zu kennen als dieser selbst. Darin liegt die Gefahr einer gespaltenen Kommunikation, die auf verschiedenen Beziehungsebenen zu unterschiedlichen Ergebnissen kommt.
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Strauss berichtet von einem schizophrenen Patienten, der offen zutage liegende Inhalte verbaler Aussagen nicht zur Kenntnis nimmt, sondern als Inhalt der Nachricht nur das auf sich bezieht, was seiner Meinung nach unter der Oberfläche der Aussage verborgen liegt. In dem Beispiel fuhrt das wiederholte Verhalten des schizophrenen Patienten zu der Überzeugung bei ihm selbst, daß er über ein ungewöhnliches Maß an Intuition verfuge, aufgrund dessen er verborgene Sinngehalte enthüllen könne. Auch von Patienten mit einer Tendenz zu Paranoia berichtet Strauss, daß sie sich in einem solchen Milieu der Suche nach verborgenen Sinngehalten unter Umständen sehr wohl fühlen. Interessant ist dabei, daß man in einer psychiatrischen Klinik die Konzentration auf 'verborgene' Kommunikationsinhalte nicht nur bei Patienten antrifft. Auch Psychiater neigen im Umgang miteinander dazu, den manifesten Inhalt ihrer Aussagen zu ignorieren und statt dessen nach dem zu suchen, was ihrer Meinung nach latent 'tatsächlich' dahintersteckt. So kann es sein, daß ein älterer Psychiater den verdeckten Protest eines jüngeren Kollegen als Rebellion gegen eine Vaterfigur interpretiert. Psychiater neigen offensichtlich dazu, solche Deutungen nicht nur zu ihrer eigenen Beruhigung zu produzieren, sondern sie auch dem Partner nahezubringen, in der Absicht, ihm klarzumachen, wie die Dinge im Grunde liegen. Wenn der Partner darauf eine abwehrende Haltung einnimmt, so mag es sein, daß der Initiator der Interpretation darin eine Bestätigung seiner Deutung sieht. Er wird mit noch größerem Eifer die von ihm konzipierte Interpretation vertreten und dadurch die Chance gewinnen, daß er seinen Partner von der Richtigkeit überzeugt, selbst wenn sie objektiv nicht gegeben war. So kann der bekannte Mechanismus einer sich selbst erfüllenden Prophezeiung eingeleitet werden und die Form einer Mystifikation annehmen. Doch diese und ähnliche Einsichten, die sich aus dem interaktionstheoretischen Ansatz entwickeln lassen, befriedigen Anselm Strauss nicht. Ihm kommt es darauf an, die Wirksamkeit sozialstruktureller Einflüsse in sozialen Beziehungen deutlicher zu machen. Dazu geht Strauss vom Modell einer Paarbeziehung aus, in der zwei Menschen einander von Angesicht zu Angesicht begegnen, um eine bestimmte Rolle zu spielen. Die Gefahr des Terminus Interaktion sieht er darin, daß dieser Begriff nicht nur einiges verdeutlicht, sondern auch einiges verschleiert. Er verschleiert potentiell insbesondere den Umstand, daß in der Begegnung zweier Menschen ja viel mehr geschieht als nur die Konfrontation von zwei Individuen. In ihrem Rollenspiel repräsentieren die Handelnden soziale Gruppen. Zwar sind in dem Beispiel von Strauss physisch nur der Handelnde A und der Handelnde B präsent. Aber A ist offizieller Repräsentant seiner Gruppe, und daher handelt er möglicherweise so, als wäre seine Gruppe ebenfalls gegenwärtig und mit einigen ihrer Mitglieder oder gar mit allen Zeuge der Begegnung zwischen A und B. A wird also sein Verhalten und seine
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verbalen Äußerungen so wählen, daß er in Gedanken das zustimmende Kopfnicken der Mitglieder seiner Gruppe dadurch erzeugt und es daher an ihnen ebenso orientieren wie an seinem unmittelbaren Interaktionspartner B. Wenn der Begriff der Rolle so interpretiert wird, erscheint er in einem anderen Licht, als wenn man Rolle im Kontext der strukturellfunktionalen Theorie versteht. Rolle ist hier Konsequenz der Mitgliedschaft in einer konkreten Gruppe. Es ist ein Verhalten, das von den Erwartungen dieser Gruppe gesteuert wird, und das gedeutet werden kann aus der Perspektive, welche durch die Mitgliedschaft in der betreffenden Gruppe gewonnen wird. Das Verstehen von Interaktion wird dadurch komplizierter, daß viele Reaktionen nicht voll bewußt geschehen. Strauss weist darauf hin, daß in jeder denkbaren Situation das folgende eintreten kann (ebd.: 58): 1. A kann auf eine absichtliche Geste von B bewußt reagieren. 2. A kann auf eine unabsichtliche Geste von B bewußt reagieren (z.B. den Ton der Stimme oder die Bewegung einer Hand von B) 3. A kann auf eine bewußte Reaktion des B in einer Weise reagieren, die ihm selbst nicht völlig klar wird. 4. A kann unbewußt reagieren auf eine Handlung, die dem B ebenfalls nicht voll bewußt war. Strauss fordert seine Leser dazu auf, diese vier Möglichkeiten noch dadurch zu verdoppeln, daß jeweils A und B gegeneinander ausgetauscht werden. Dabei wird das Bild noch komplizierter, wenn man berücksichtigt, daß eine Geste oder verbale Mitteilung dem Betreffenden, von dem sie ausgeht, zwar in dem Moment, in dem er sie produziert, in ihrer Bedeutung nicht voll bewußt werden mag, daß ihm ihre Bedeutung aber sofort anschließend durchaus klar werden kann. In einem derart komplizierten Interaktionsmodell wird leicht sichtbar, wie groß beim Verstehen die Gefahr eines Fehlurteils ist. Jeder Interaktionspartner hat die Aufgabe, bei seinem Gegenüber dreierlei Dinge zu beurteilen: 1. Die allgemeine Absicht, die der Partner in der Situation verfolgt. 2. Die Einstellung des Partners sich selbst gegenüber. 3. Die Einstellungen und Gefühle des Partners gegenüber dem Beobachter der Situation. Selbstverständlich bestehen zwischen diesen drei Bewertungsaufgaben enge Wechselbeziehungen (ebd.: 59). Zum Verstehen konkreter Interaktionssituationen ist es daher notwendig, nicht nur die individuellen Faktoren einzubeziehen, sondern auch die strukturellen. Freilich setzt der Vorgang des Verstehens eine möglichst umfassende Kenntnis der sozialen Beziehungen voraus, in
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denen die Interaktionspartner stehen, d.h. auch eine Kenntnis der Mitgliedschaften und jener sozialen Gruppen, innerhalb derer sie bestehen. Angesichts der Komplexität des Themas 'Interaktion' warnt Strauss davor, durch ein wissenschaftliches Vokabular im Umkreis der Begriffe 'Signal', 'Reiz', 'Reaktion', 'das Unbewußte', 'Bedürfnis', 'Triebe', 'Rollenspiel', 'Status', 'Selbstbewußtsein' die Komplexität zuzudecken, anstatt sie in allen Einzelheiten dem Wissenschaftler bewußt zu machen. Weitere Differenzierungen müssen angebracht werden, weil es einerseits Personen gibt, die sich selbst kaum beobachten und daher ihr objektives Verhalten nicht beurteilen können, während wir andererseits Menschen begegnen, die sehr viel über sich nachdenken und folglich zu einer objektiven Wertung ihres eigenen Tuns viel leichter in der Lage sind. Strauss weist darauf hin, daß Interaktion nicht eine Serie isolierter Momente sei. Die Wechselwirkung, die bei der Begegnung von Angesicht zu Angesicht zwischen Menschen stattfindet, ähnelt vielmehr einem dramatischen Prozeß mit Kontinuität. Interaktionen laufen in Phasen ab und haben häufig den Charakter eines Schauspiels mit dramatischen Höhepunkten, selbst wenn sie die Subjekte an den Ausgangspunkt ihrer Interaktion zurückfuhren und sie also nicht eigentlich voranbringen. Auch Gespräche laufen nach bestimmten Mustern ab. Strauss zitiert Herbert Blumer, der von dem 'Entwicklungscharakter' und von der 'variablen Karriere' der Interaktion gesprochen hat (ebd.: 62). Da sich eine länger andauernde Interaktion in Phasen einteilen läßt, hält Strauss es für sinnvoll, von einem strukturierten Interaktionsablauf zu sprechen. Dabei unterscheidet er zunächst den Fall einer Einheitsstruktur, bei dem nur ein Satz möglicher Statusbeziehungen in die Interaktion Eingang findet, also etwa nur die Beziehung Vater-Sohn, von einer multistrukturellen Beziehung. Von ihr spricht er dann, wenn die sozialen Kontexte wechseln können, von denen her die Interakteure ihre soziale Beziehung deuten: Multistrukturell ist demnach eine Beziehung etwa, wenn die Interakteure einander bald als Arzt und Ärztin, die Berufskollegen sind, bald als Mann und Frau mit sexueller Attraktion, bald wieder als Glieder einer Kirchengemeinde begegnen (ebd.: 74). Dieser Ansatz eröffnet interessante Möglichkeiten für eine Anwendung in der Soziologie der Familie und insbesondere der Ehe. Man könnte im Anschluß an Strauss' Unterscheidung prüfen, ob es für die Stabilität einer Ehe in der Industriegesellschaft ausreichend ist, wenn sich die Partner nur in der Dimension Ehegatte-Ehegattin begegnen. Vielleicht erfordert ein befriedigendes und dauerhaftes Interagieren unter den Bedingungen der Industriegesellschaft zumal im Privatbereich die Fähigkeit, die Interaktion multistrukturell auszugestalten. Strauss wendet sich nochmals dem Thema 'Psychiatrie' zu. Ihn interessieren die Publikationen des Psychiaters Harry S. Sullivan über pathologische Interaktion: Ein Patient kommt zu
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Sullivan in die Sprechstunde, und anstatt sich wie ein Patient einem Psychiater gegenüber zu verhalten, handelt der Patient wie ein Sohn seinem Vater gegenüber. Es ist die Aufgabe des Psychiaters, jede Phase der Interaktion von der vorhergehenden und der folgenden deutlich zu unterscheiden. Für Anselm Strauss kommt es nun darauf an zu zeigen, daß das Verhalten des Patienten gegenüber dem Psychiater eine strukturierte Interaktion ist, während das Verhalten eines Sohnes gegenüber dem Vater so von persönlichen Erfahrungen aufgeladen ist, daß es keine vergleichbar strukturierte Gestalt hat. Die Vater-Sohn-Beziehung enthält persönliche Bilder. Im Vergleich dazu ist die Beziehung zwischen Psychiater und Patient stärker von sozialen Normen determiniert. Tatsächlich sind beide Aspekte der Beziehung eng ineinander verflochten, und Anselm Strauss diskutiert die Unterscheidung hier, um schließlich das Fazit zu ziehen, daß Interaktionen generell sowohl eine strukturelle als auch eine personale Seite haben. Was er nicht ausdrücklich folgert, was aber dem Gang seiner Argumentation entsprechen würde, ist die Konsequenz, daß die strukturell-funktionale Rollentheorie nur die strukturelle Seite der Interaktion hervorhebt, aber die personale ignoriert, während die psychiatrische Interaktionstheorie dazu neigt, die personale Seite einseitig hervorzuheben, dagegen die strukturellen Elemente von Interaktion zu ignorieren (ebd.: 75). Schließlich betrachtet Strauss 'Interaktion' unter dem Gesichtspunkt der sozialen Kontrolle und der Stabilisierung von sozialem Status. Er weist auf Max Schelers (Bühl, 1991) Beitrag zur Soziologie des affektuellen Handelns hin und betont, daß jede Gesellschaft nach Schelers Ansicht Mittel hat, mit deren Hilfe sie bei ihren Mitgliedern das Gefühl von Beschämung hervorrufen kann Für Strauss ist dies ein Sonderfall Das allgemeinere Konzept sieht er darin, daß Gruppen unterschiedlicher Größe und Zusammensetzung in der Lage sind, ihre Mitglieder in bestimmte Formen der Identität hineinzuzwingen. Der Zustand der Beschämung ist dabei ein Beispiel für vorübergehende Identitätszuweisung. Strauss spricht von "status-forcing" (ebd.: 77), also von erzwungener Zuweisung eines sozialen Status. Er zitiert die Dissertation, mit der Erving Goffman 1953 an der University of Chicago promovierte: "Communication Conduct in an Island Community". Darin erläutert Goffman, wie durch die Technik erzwungener Statuszuweisung soziale Kontrolle ausgeübt wird mit dem Ziel, eine Konversation, an der mehrere beteiligt sind, geregelt ablaufen zu lassen (ebd.: 78). Ebenfalls in diesen Zusammenhang gehört die Arbeit, die Harold Garfinkel unter dem Titel "Conditions of Successful Degradation Ceremonies" 1956 veröffentlicht hat (Garfinkel, 1956: 422f). Darin geht es Garfinkel um die Mechanismen, mit deren Hilfe einer Person ihre öffentliche Herabwürdigung aufgezwungen wird. Garfinkel erarbeitet sechs Voraussetzungen für erfolgreichen öffentlichen Statusentzug:
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1. Sowohl das Ereignis als auch die Abweichler müssen aus dem Bereich des Alltagsgeschehens entfernt und so definiert werden, daß sowohl ihr Tun als auch sie selbst als etwas Außerordentliches angesehen werden. 2. Derjenige, der die Degradierung vornehmen will, muß sich den Zeugen gegenüber als jemand definieren, der nicht als Privatperson, sondern gleichsam im öffentlichen Auftrag handelt. 3. Er muß sich dabei auf die Würde überpersonaler Werte beziehen, die Werte kenntlich und leicht zugänglich machen und den Statusentzug im Namen dieser Werte vornehmen. 4. Er muß eine Situation schaffen, in der ihm das Recht zuerkannt wird, im Namen solcher höchsten Werte zu sprechen. 5. Er muß dafür sorgen, daß die Zeugen des Degradierungsprozesses ihn so definieren, daß er als jemand angesehen wird, der die sanktionierten Werte unterstützt. 6. Die degradierte Person muß rituell abgetrennt werden von der legitimen Ordnung, d.h. sie muß definiert werden als jemand, der Außenseiter oder Fremder ist. Außer auf Goffman und Garfinkel bezieht Anselm Strauss sich auch auf Orrin E. Klapp, der mit seiner Arbeit "The Fool as a Social Type" 1949 gezeigt hat, wie jemand zu einem Narren gestempelt werden kann. Klapp hat diese Arbeit später zu einem Buch erweitert und 1962 unter dem Titel "Heroes, Villains and Fools" publiziert (Klapp, 1949; Klapp, 1962). Das Zum-Narren-Machen ist ein kollektiver Definitionsvorgang, für den es nicht unbedingt notwendig ist, daß die betroffene Person sich tatsächlich kontinuierlich närrisch verhält. Eine Person wird zu einem Narren, wenn sie als Narr definiert wird. Was aber ist die Voraussetzung dafür, daß die Bezeichnung als Narr auch wirklich an der betreffenden Person haften bleibt? Orrin Klapp nennt vier solche Voraussetzungen: 1. Wiederholtes Sichtbarwerden von offenkundigen Persönlichkeitsmerkmalen, die die Zuweisung der Rolle eines Narren kontinuierlich nahelegen. 2. Ein auffälliges, schlüssiges und farbenprächtiges Ereignis, in dem der Betroffene für die Öffentlichkeit überzeugend darlegt, daß er ein unheilbarer Narr ist. 3. Eine Geschichte, die so gut ist, daß sie immer wieder erzählt und über lange Zeit erinnert wird und aus der eine unverlierbare Legende wird, und 4. die Unfähigkeit des Betroffenen, der Rolle des Narren dadurch zu widersprechen, daß er andere Rollen spielt und daß anderes über ihn berichtet wird (Strauss, 1959: 79). Das Problem der erzwungenen Statuszuweisung als Mittel sozialer Kontrolle läßt sich theoretisch nur bearbeiten, wenn man zugleich die Zuweisungsagenturen betrachtet. Zuweisungsmaßnahmen können von Gerichten, von Eltern, von Geistlichen und von gewalttätigen Menschenansammlungen vollzogen werden. Strauss warnt auch hier vor Einseitigkeiten der
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Betrachtung. Zwar hat der institutionelle Rahmen große Bedeutung in diesem Zusammenhang, aber auch jeder einzelne Mensch kann in besonderen Situationen in die Lage kommen, die Aufgabe der Statuszuweisung zu vollziehen. Zwar ist es normalerweise der Arzt, dem die Zuweisung der Patientenrolle obliegt. Wenn aber kein Arzt vorhanden ist, dann kann auch ein Freund, ein Familienmitglied oder sogar ein fremder Mitmensch in die Lage geraten, dem einzelnen den Patientenstatus zuzuweisen. In einer Zeitungsmeldung aus Chicago wird beschrieben, wie ein in einer Gaststätte an der Bar arbeitender Mann einen anderen niederschießt, der das Lokal betritt, um es zu berauben. Nachdem der Barkeeper den Räuber niedergeschossen hat, beugt er sich über den Schwerverletzten und fragt ihn, ob er getauft sei. Als er keine eindeutige Antwort erhält, vollzieht er den Ritus der Nottaufe an dem Sterbenden, den er kurz zuvor niedergeschossen hat. In hoher Geschwindigkeit hat der Mann an der Bar dem Eindringling nacheinander den Status des Kriminellen und den des erlösungsbedürftigen und zur Erlösung berufenen Christen zugewiesen (ebd.: 80). Er konnte diese beiden Zuschreibungen vornehmen, weil er sowohl Mitglied eines Milieus in Chicago war, in dem Kriminalität häufig auftritt und wirksam bekämpft werden muß, als auch offensichtlich Mitglied einer Religionsgemeinschaft, in der man sich über den Status Verstorbener im Jenseits Gedanken macht. Man kann also die Zuschreibungen, die jemand vornimmt, in Abhängigkeit von den Mitgliedschaften verstehen, die er innehat. Strauss behandelt Mitgliedschaft als symbolisches Phänomen Das Gruppenleben hängt von den Wegen der Kommunikation ab. Aber Verständigung darf nicht nur aufgefaßt werden als Übertragung von Inhalten auf dem einen oder anderen Wege. Kommunikation bezeichnet Strauss auch als gemeinsame Teilhabe an Sinngehalten. Mit 'gemeinsamer Teilhabe' ist dabei gemeint, daß mehrere Personen einander verstehen und daß aus dem Prozeß des kommunikativen Austauschs, in dem sie miteinander stehen, gemeinsame Begriffe und eine gemeinsame Sprache hervorgehen und stabilisiert werden. Strauss betont hier wie auch zu Beginn seines Buches die Bedeutung der Sprache. Die Mitglieder von Gruppen brauchen eine ihnen gemeinsam verständliche Terminologie, um ihr Handeln koordinieren zu können. Die Bildung von Gruppen erfolgt um Inhalte herum, über die Einverständnis besteht, und auf der Grundlage gemeinsamer Erfahrungen bilden die Mitglieder eine übereinstimmende Terminologie heraus. So ist die Konstitution einer Gruppe von Menschen primär nicht ein physischer, sondern ein symbolischer Vorgang. Es gibt sogar Zusammenschlüsse, deren Existenz sich auf symbolische Inhalte beschränkt. Solche Gruppen sind Vorstellungsinhalte und nur durch symbolische Kommunikation im Handeln wirksam. Ihnen fehlt eine biologisch oder geographisch reale Existenz (ebd.: 148ff).
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Damit steht Strauss vor der Schwierigkeit einer empirischen Bestimmung von Mitgliedschaft. Ist diese schon problematisch, so wird das Bild noch komplizierter, sobald man berücksichtigt, daß es Gruppen gibt, die das Handeln von Menschen prägen, obwohl sie offensichtlich dort gar keine Mitglieder sind. Er weist auf die Unterscheidung zwischen 'membership groups' und 'reference groups' hin, also zwischen Mitgliedschaftsgruppen und Bezugsgruppen Muzafer Sherif hat in seiner Untersuchung militärischer Einheiten behauptet, daß die Streitkräfte des Landes und ihre Offiziere die Wirkung einer Bezugsgruppe haben, an der Rekruten sich mehr orientieren als an der informell gebildeten Gemeinschaft, der sie physisch tatsächlich angehören. Dagegen haben Merton und Kitt bestritten, daß es sinnvoll sei, zwischen Bezugsgruppen und Mitgliedschaftsgruppen eine scharfe Trennungslinie zu ziehen. Weil sich der Mensch in der Industriegesellschaft an vielfaltigen Zusammenschlüssen orientiert, sei es Aufgabe des Sozialwissenschaftlers, bei der Erforschung einer konkreten Handlungssituation herauszufinden, mit Bezug auf welche Gruppe oder als Mitglied welcher Gruppe der betreffende in dieser Situation tatsächlich handelt. Strauss empfindet diese verschiedenen Zuweisungen als unbefriedigend. Ob von multipler Gruppenmitgliedschaft die Rede ist, von Bezugsgruppenmitgliedschaft oder von der Orientierung sozialen Handelns an Gruppennormen und Bezugsrahmen, die aus Gruppen gewonnen werden, alle diese Ansätze treffen nicht genau das, worauf es ihm ankommt. Für ihn steht im Zentrum des Problems die Tatsache, daß Mitgliedschaft symbolischen Charakter hat. Daraus folgt, daß sie, ebenso wie das soziale Gebilde, innerhalb dessen sie besteht, durch soziale Definition real werden kann. Das Thomas-Theorem in der erweiterten Fassung von Reinhard Bendix lautet: "As long as men live by what they believe to be so, their beliefs are real in their consequences" (Bendix in Helle 1969: 63). In freier Übersetzung bedeutet das: Solange Menschen ihrer Überzeugung gemäß handeln, schaffen sie in den Folgen ihres Handelns eine ihrer Überzeugung entsprechende Realität. So erhält der subjektiv gemeinte Sinn den Status der Objektivität. Mit diesem Thomas-Bendix-Theorem' wird die Schranke zwischen Mikro- und Makrobereich wieder geöffnet, die Mead durch sein Insistieren auf gleichem Realitätsstatus zwischen 'social world of selves' und 'physical world' errichtet hatte (Vgl. Nieder, 1994). Solange soziale Gebilde an das empirische Kriterium der physischen Erfahrbarkeit gekoppelt bleiben, muß sich die Forschung auf Phänomene des Mikrobereichs beschränken. Eine methodologisch so festgelegte TSI mußte Sozialpsychologie bleiben und konnte nicht Soziologie werden. Cooley hatte mit seiner These, "that the imaginations which people have of one another are the solid facts of society" (Mead, 1964: 294), für eine Ausweitung der TSI auf definierte soziale Gebilde des Makrobereichs die methodischen Voraussetzungen geschaffen,
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sich dann aber in der Anwendung auf den Bereich der Primärgruppen beschränkt. Strauss verbindet Cooleys Ansatz mit Meads Lehre von der 'Objektiven Realität von Perspektiven' und mit der Wissenssoziologie von Scheler und Mannheim, um so die ehemals auf Sozialpsychologie beschränkte TSI zu einer verstehend- interaktionstheoretischen Sicht der Gesellschaft auszubauen. Eine Zusammenschau der wissenschaftlichen Leistung von Anselm Strauss wird durch das Buch "Creating Sociological Awareness" erleichtert (Strauss, 1991). Der Übersichtsaufsatz "The Chicago Tradition's Ongoing Theory of Action/ Interaction" (ebd.: 3-32) bietet eine gedrängte Darstellung der Geschichte der TSI aus Strauss' Sicht, beginnend mit der Handlungstheorie von John Dewey und George Herbert Mead über die frühestens Vertreter einer soziologischen Handlungstheorie in den U.S.A., William Isaac Thomas und Robert Ezra Park bis zu der "nächsten Generation", also Everett Cherrington Hughes und Herbert Blumer, bei denen Strauss selbst studiert hat. Strauss sieht in Hughes den Anwalt der Theorien von Park und Thomas und in Blumer denjenigen, der sich an Park und Mead anschließt. Die Schüler der beiden einflußreichen Lehrer Hughes und Blumer, zu denen Strauss gehört, sind außer ihm selbst Shibutani, H. S. Becker, Stone, Davis, Gusfield und Freidson (ebd.: 18). Vor dem Hintergrund dieser Theorietradition von Chicago skizziert Strauss seinen eigenen Beitrag. Dabei erwähnt er, daß die Schule seit fast drei Jahrzehnten ihren Sitz nicht mehr in Chicago hat: "Meanwhile, although the Chicago sociology department had vanished as a training ground for interactionists, Chicagoans were scattered in many different universities..." (ebd.: 19) Strauss bestätigt, daß sein Buch "Mirrors and Masks" (Strauss, 1959) im Zentrum seines Gesamtwerkes steht Die ersten Kapitel formuliert er als soziologisches Erbe des amerikanischen Pragmatismus, und als er drei Jahre später den Rest des Buches schrieb, gelang es ihm, den Ansatz Parks mit dem Pragmatismus zu verbinden in dem Bemühen "to put social psychology and social organization together" (ebd.: 21f). Sein eigenes Werk deutet er als "an extension of the basic Chicagoan action scheme" (ebd.: 21).
2. Shibutani: Mitgliedschaft als Perspektive Anselm Strauss konnte sich bei der Arbeit an "Mirrors and Masks" (1959) auf einen Artikel von Tamotsu Shibutani stützen, der mit dem Titel "Reference Groups as Perspectives" 1955 erschienen war (Shibutani, 1955: 562-569). Die Vorgehensweise in diesem Aufsatz deckt sich mit der, die wir bei Strauss in seinem Buch Mirrors and Masks kennengelernt haben. Wie Strauss hat auch Shibutani in Chicago bei Herbert Blumer studiert. Tamotsu Shibutani war 1920 in Kalifornien geboren worden und mußte als Amerikaner japanischer Abstam-
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mung nach dem Überfall der Japaner auf Pearl Harbor am 7. Dezember 1941 erleben, daß er mit seiner Familie zwangsinterniert wurde. Die Lagererfahrungen, die sich anschlössen, haben ihn entscheidend geprägt. Seine Dissertation über das Gerücht (Shibutani, 1966), mit der er 1948 in Chicago promovierte, beruht auf Erfahrungen aus der Internierung. "Tom" Shibutani wurde von 1951 bis 1957 "assistant professor" an der University of California, Berkeley Als man auch Goleta bei Santa Barbara zu einer vollen Universität ausbaute, ging er, als "associate professor", 1961 nach Südkalifornien an die University of California, Santa Barbara. Dort - 1966 zum Professor ernannt - lehrte er noch während der neunziger Jahre Eines seiner aktuellen Forschungs- und Publikationsprojekte beschreibt er in dem Aufsatz über Human Agency (Shibutani, 1991). Shibutani nahm sich 1955 mit dem Artikel "Reference Groups as Perspectives" vor, die Mißverständnisse zu mindern, die zwischen Soziologen entstehen, weil der Begriff 'Bezugsgruppe' nicht eindeutig ist. Er will mit diesem Text den Bedeutungsgehalt des Begriffes festlegen auf Gruppen, deren Perspektive von einem handelnden Menschen als Bezugsrahmen für sein Handeln benutzt wird. Zunächst zeigt er die verschiedenen Bedeutungen, die in der bis 1955 vorliegenden Fachliteratur mit dem Terminus 'Bezugsgruppe' verbunden werden. Den Ausdruck 'Bezugsgruppe' selbst hat Herbert H. Hyman geprägt (Hyman, 1942). Dabei ging es um die Erklärung der Inkonsequenzen, die sich in dem Verhalten z B von Jugendlichen aufzeigen ließen und die dann als Loyalitäten gegenüber verschiedenen Gruppen erklärt werden konnten. So war Jugenddelinquenz eines der ersten Anwendungsgebiete für das Konzept der 'Bezugsgruppe'. Das Konzept war nach Darstellung Shibutanis besonders nützlich, um Entscheidungen zu erklären, die sich als Wahlen zwischen Alternativen darstellten, besonders solche Entscheidungen, bei denen sich das Individuum im Sinne seines eigenen Interesses nicht richtig entschieden hatte. Die Nützlichkeit des Begriffs 'Bezugsgruppe' bei seiner Anwendung in der soziologischen Forschung fand bald ihre Grenzen, weil die Bedeutung nicht eindeutig genug festgelegt war. Die verschiedenen Verwendungen in der Literatur stimmen jedoch darin überein, daß eine identifizierbare Gruppe gemeint ist, zu der der Handelnde in einer bestimmten Beziehung steht, weil er ihre Normen und Werte anerkennt. So wird die Gruppe als Bezugspunkt benutzt für Vergleiche und Urteile, die der einzelne fällt, und zwar auch über sich selbst Schon Hyman sah 'Bezugsgruppen' als Ausgangspunkte für eine Bewertung des eigenen Status. Das Bild wird anspruchsvoller, wenn mehrere Gruppen in das Blickfeld des einzelnen Handelnden treten. Da prinzipiell jede denkbare Gruppe zur 'Bezugsgruppe' werden kann, variiert das Urteil, das der einzelne fällt, mit der Bezugnahme auf die eine oder die andere. Die
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jeweilige 'Bezugsgruppe' liefert dann den Maßstab, mit dessen Hilfe eine konkrete Situation beurteilt wird und mit dessen Hilfe die eigene Stellung in dieser Situation abgeschätzt wird. Eine andere Verwendung, die ebenfalls in der Literatur auftaucht, besagt, daß die 'Bezugsgruppe 1 für den einzelnen insofern Priorität hat, als ihre Ansprüche in einer Konfliktsituation den höchsten Rang einnehmen und sich daher gegen die Ansprüche anderer Gruppen durchsetzen können. Dabei setzt sich diejenige Gruppe durch, in der der einzelne den größten Wert auf Mitgliedschaft legt. In Konfliktfällen kann nämlich die Befolgung der gruppenspezifischen Normen über Erwerb oder Verlust der Mitgliedschaft entscheiden. Während also in dem erstgenannten Verständnis die 'Bezugsgruppe' unabhängig von der Frage der Mitgliedschaft den Beurteilungs- und Bewertungsmaßstab liefert, an dem der einzelne sein Handeln orientiert und mit dessen Hilfe er die Situation und seine Stellung darin beurteilt, wird 'Bezugsgruppe' im zweiten Kontext als jene Gruppe verstanden, in der Mitgliedschaft unbedingt angestrebt wird, und deren Normen und Werte sich eben deshalb im Konfliktfall durchsetzen. Dabei bleibt freilich offen, ob Mitgliedschaft erst fiir die Zukunft erhofft wird (antizipatorische Sozialisation) oder ob sie schon in Vergangenheit und Gegenwart erlangt wurde. Tamotsu Shibutani nennt ein drittes Verständnis des Begriffs, in dem die Perspektive der Gruppe zu jener des einzelnen Handelnden wird. Im Anschluß an Muzafer Sherif kann er darauf hinweisen, daß Gruppennormen zu Orientierungspunkten werden, die das Wahrnehmungsfeld des einzelnen bestimmen. Mit der Übernahme der Gruppenperspektive gewinnt jeder einen Bezugsrahmen für seine Interpretationen, oder, wie wir auch übersetzen können, für sein systematisches Verstehen. Durch direkte oder stellvertretende Partizipation am Leben der Gruppe kommt der einzelne dazu, die Welt vom Standpunkt dieser Gruppe aus wahrzunehmen (Shibutani, 1955: 563). Für Shibutani ist also in dieser dritten Sicht an der 'Bezugsgruppe' die Leistung wesentlich, die zur Organisation der Erfahrung des Handelnden führt. Den Hinweis auf die Organisation der Erfahrung greift Erving Goffman in seinem Buch "Frame Analysis" auf (Gofiman, 1974). Beiden geht es um die Feststellung, daß das Wahrnehmungsfeld in einer bestimmten Weise strukturiert wird. Diese Verwendung des Begriffes 'Bezugsgruppe' bedeutet nun, daß jedes beliebige soziale Gebilde, sei es physisch real oder nur vorgestellt, sei es bewundert oder verachtet, das Potential einer Perspektive bietet, die der Handelnde zu seiner eigenen machen kann. Shibutani faßt die Einleitung zu seinem Artikel so zusammen, daß er drei voneinander deutlich unterscheidbare Bedeutungen des Begriffes Bezugsgruppe einander gegenüberstellt:
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1 Gruppen, die als Orientierungspunkte für einen Vergleich dienen, 2. Gruppen, denen anzugehören man sich wünscht, 3. Gruppen, deren Perspektive man übernimmt. Er schlägt vor, die Fruchtbarkeit und Anwendbarkeit des Konzepts 'Bezugsgruppe' dadurch zu verbessern, daß man den Begriffsinhalt festlegt und einschränkt auf die dritte Alternative, also auf die Sichtweise einer 'Bezugsgruppe' als Ursprung einer Perspektive. Zur Begründung greift Shibutani auf William Isaac Thomas zurück. Der hatte darauf hingewiesen, daß das Handeln eines Menschen davon abhänge, wie er seine Situation definiert (Shibutani, 1955: 563). Dies wiederum ist Ergebnis einer spezifischen Perspektive. Shibutani bestimmt eine Perspektive als die geordnete Sicht der Welt des Betreffenden, als das, was von den Merkmalen verschiedener Gegenstände für selbstverständlich erachtet wird. Somit bezeichnet er sie als geordnete Konzeption dessen, was plausibel und was möglich ist Eine Perspektive stellt die Matrix dar, mit deren Hilfe der Mensch seine Umwelt wahrnimmt. Als Muster des Verstehens ist sie schon vor den je aktuellen Erfahrungen gegeben, sie definiert, was erfahren wird und steuert den Gang der Erfahrung. So läßt sich einleuchtend zeigen, daß auch Urteile auf Perspektiven beruhen. Shibutani bewegt sich hier in deutlicher Nachbarschaft zu Max Webers Auseinandersetzung mit dem Wertbegriff. Das wird besonders deutlich, wenn er Robert Redfield zitiert und sich auf dessen Kulturbegriff bezieht. Für Redfield stellt Kultur eine Perspektive dar, an der die Mitglieder einer bestimmten Gruppe teilhaben. Max Weber hatte darauf hingewiesen, daß das Konzept der Kultur nur sinnvoll ist in Verbindung mit einer Wertvorstellung. Erst durch die bewußt gemachte Bezugnahme auf einen Wert wird Kultur verstehbar. Anstelle der Wertbeziehung ist bei Shibutani die Perspektive Voraussetzung für das Verstehen von Kultur und menschlichem Handeln. Ausgehend von dem Kulturbegriff Redfields geht er zur Sozialisationstheorie Meads über. Wenn Mead lehrt, daß der einzelne die Rolle des 'generalisierten Anderen' übernimmt, so bedeutet das nach Shibutani, daß jeder Mensch sich seiner Umwelt vom Standpunkt der Kultur seiner Gruppe aus nähert. Er meint damit, die sozialisierte Person sei eine Gesellschaft 'en miniature'. So kommt er zu folgendem Ergebnis: Als Mead davon sprach, daß die Rolle des 'generalisierten Anderen' übernommen wird, bezog er sich nicht auf Personen als 'Andere', sondern auf Perspektiven, an denen der einzelne in einer Interaktionssituation gemeinsam mit anderen teilhat (ebd.: 564). Die Kontinuität und Konsistenz im Handeln eines Menschen läßt sich unter Bezugnahme auf seine 'organisierte' Perspektive verstehen. Obwohl das Handeln, das unter Berücksichtigung von 'Bezugsgruppen' verstehbar wird, gewöhnlich in Situationen studiert wird, in denen Alternativen offenstehen, ist sich der einzelne Handelnde häufig der Tatsache gar nicht bewußt,
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daß er wählen könnte, weil er sich einer spezifischen Betrachtungsweise ausschließlich anvertraut. Shibutani weist darauf hin, daß einer alten Lehre der Völkerkunde und der Wissenssoziologie zufolge die Menschen in ihrem Denken, Fühlen und ihrer Wahrnehmung an einen bestimmten Standpunkt gebunden und infolgedessen abhängig von der Gruppe seien, an deren Leben sie teilhaben. Diese wissenssoziologische These von der Seinsgebundenheit des Denkens kann nun in verfeinerter Form in der Forschung zur Anwendung kommen, wenn der Begriff der 'Bezugsgruppe' so verwandt wird, wie Shibutani es vorschlägt. Das gilt insbesondere beim soziologischen Studium von Massengesellschaften. Dazu hebt er drei Punkte hervor: 1. In modernen Massengesellschaften handeln Menschen zuweilen aufgrund von Gruppenstandards. Die haben sie u. U. einer bestimmten Gruppe entnommen, der sie gar nicht angehören, an deren Leben sie vielleicht niemals direkt teilhatten oder die empirisch gar nicht existiert. 2. In der Situation des Pluralismus verwendet jeder Mensch mehrere Perspektiven und gerät dadurch nicht selten in Konfliktsituationen, die besonders studiert werden müssen. 3. Die wissenschaftliche Anwendung der Bezugsgruppentheorie, wie Shibutani sie vorschlägt, ermöglicht eine Überwindung der einseitigen Beschäftigung mit Sozialstruktur in der Massengesellschaft und die stärkere Berücksichtigung individueller Erfahrungen, die einzelne Handelnde machen. Shibutani versteht jenes soziale Gebilde als 'Bezugsgruppe', dessen Perspektive der Handelnde als Bezugsrahmen für die Organisation seines Wahrnehmungsfeldes heranzieht. Bezugsgruppen werden durch die Internalisierung von Normen wirksam. Sie konstituieren die Struktur der Erwartungen, die man jenem Publikum zuschreibt, auf das man sein eigenes Verhalten wie auf einer Bühne einstellt Vor dem Hintergrund der genannten Thesen wendet sich Shibutani dem Thema der Konstruktion sozialer Welten zu. Diese Thematik erinnert an die von Peter L. Berger und Thomas Luckmann verfaßte Arbeit "The Social Construction of Reality" (Berger u. Luckmann, 1966). Shibutani greift auf Dewey zurück, für den Gesellschaft in und durch Kommunikation besteht. Gemeinsame Perspektiven, gemeinsame Kulturen gewinnen durch die Teilhabe an gemeinsamen Kommunikationskanälen Gestalt. All jene Perspektiven, die den Mitgliedern einer Gruppe eigen sind, werden im Prozeß sozialer Partizipation internalisiert (Shibutani, 1955: 565). Daraus folgt, daß durch unterschiedliche Teilhabe an unterschiedlichen sozialen Gruppierungen auch verschiedene Perspektiven erworben werden. Dies ist das Konzept der differenziellen Assoziation als Folge von differenziellem Kontakt, das in der Kriminologie Bedeutung hat.
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Man kann sich die Entstehung von Subkulturen durch Aufrechterhaltung sozialer Distanz zur übergreifenden Kultur entstanden denken. Angehörige verschiedener sozialer Schichten entwickeln unterschiedliche Lebensstile und Werthaltungen nicht wegen ihrer wirtschaftlichen Stellung, sondern wegen der Ähnlichkeit ihres Berufs und anderer Determinanten der Sozialkontakte, die sie unterhalten. So verschiebt sich das Schwergewicht des Interesses von sozialstrukturellen oder anderen objektivistischen Fragestellungen auf Fragen der Kommunikation. Für Shibutani ist jedes soziale Interaktionsfeld ein Kulturbereich, dessen Grenzen nicht aufgrund geographischer Räumlichkeit oder formal struktureller Gruppenabgrenzungen entstehen, sondern als Grenzen effektiver Kommunikation (ebd.: 566). Diese symbolisch-interaktionstheoretische Sichtweise der Entstehung von Subkulturen erklärt zugleich auch deren Wandlungsfähigkeit. Shibutani hält es für äußerst wichtig, zur Kenntnis zu nehmen, daß 'social worlds' nicht statische Einheiten sind. Die Perspektiven, die Menschen gemeinsam einnehmen, wandeln sich und werden kontinuierlich rekonstruiert. Soziale Welten entstehen und vergehen mit der Errichtung von Kommunikationskanälen. Wenn sich die Lebensbedingungen verändern, wandeln sich gleichfalls Art und Weise gegenseitiger Informationsübermittlung und damit die sozialen Welten, die wesentlich auf Kommunikationsbeziehungen beruhen. Diese Sichtweise erlaubt auch Deutungen der Entstehung und Stabilisierung personaler Identität. Für jede einzelne Person läßt sich zeigen, daß sie eine einzigartige Kombination sozialer Welten in sich realisiert. Shibutani bezieht sich auf Simmel für den jeder einzelne an einem Punkt steht, in dem soziale Kreise sich in einer einmaligen Kombination überschneiden (ebd.: 567. Vgl. auch Simmel, 1890: 100-116). Shibutani weist auf das Problem hin, daß die meisten Menschen ein sektorales Leben fuhren, in dem sie von einer sozialen Welt in die andere überwechseln. In jeder dieser Welten spielen sie je eigene Rollen und in jeder artikulieren sie eine andere Facette ihrer Persönlichkeit. Diese Segmentierung des menschlichen Lebens kann zu einer Gefahr werden, wenn es den Menschen nicht mehr gelingt, die unterschiedlichen Erfahrungsbereiche in ein zusammenhängendes Muster zu integrieren (ebd.). Wird die Segmentierung des Lebens vermieden, dann treten häufig Situationen auf, in denen Konflikte zwischen verschiedenen Lebensbereichen sichtbar werden, und in denen zwischen ihnen eine Wahl getroffen werden muß mit dem Ziel, einen der Bereiche als bedeutsamer und den anderen als weniger bedeutsam zu definieren. Bei der Lösung solcher Konflikte handelt es sich also um Situationsdefinitionen, die aus den verschiedenen möglichen Perspektiven gewonnen werden können. Shibutani zitiert William James, der zur Illustration die folgenden Beispiele bringt: "Als Mensch habe ich Mitleid mit dir, aber als Beamter darf ich keine Gnade üben; als Politiker betrachte ich
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ihn als einen Verbündeten, aber als moralisch denkender Mensch verabscheue ich ihn". Das Problem besteht also darin, für die Definition der Situation eine Perspektive auszuwählen. In der Terminologie Meads kann man das so formulieren: Die Rolle welches 'generalisierten Anderen' soll hier übernommen werden? In sozialen Konstellationen, in denen alternative Situationsbestimmungen möglich sind, entstehen nicht selten Loyalitätskonflikte. Shibutani weist darauf hin, daß die Entscheidung einer Person für diese oder für jene Bezugsgruppe von der persönlichen Loyalität gegenüber 'signifikanten Anderen' abhängig ist. 'Signifikante Andere' sind für Sullivan solche Personen, die für die Internalisierung von Normen direkt verantwortlich sind. Vor diesem Hintergrund kann Sozialisation als das Resultat einer schrittweisen Ansammlung von Erfahrungen mit bestimmten Personen gesehen werden, besonders mit denen, zu denen wir in einer Primärbeziehung stehen. Hier wird sichtbar, daß emotionale Bindungen für die Entstehung von Loyalitäten besonders wichtig sind. Über die Entstehung persönlicher Loyalitäten aufgrund emotionaler Bindungen wird die Bezugnahme auf einzelne Bezugsgruppen erklärbar und damit die Entstehung von Perspektiven zur Deutung sozialer Welten. Perspektiven werden ständig ihrer Überprüfung anhand der erfahrbaren Wirklichkeit unterworfen. Alle Wahrnehmung hat hypothetischen Charakter. Wenn sich aufgrund einer Perspektive formulierte Erwartungen bestätigen, wird die Perspektive gestützt und verstärkt. Umgekehrt bedeutet das häufige Eintreten von Enttäuschungen, daß die Ausgangsperspektive geschwächt und schließlich gar aufgegeben werden kann. Am Schluß seines Artikels betont Shibutani die Eignung der von ihm dargestellten Bezugsgruppentheorie für die soziologische Untersuchung von Massengesellschaften Organisierte Perspektiven ergeben sich aufgrund der Teilnahme an Kommunikation und des Zugangs zu Kommunikationskanälen. Die Vielfalt der Massengesellschaften beruht daher auf der Vielfalt der Kommunikationskanäle, deren sich die Massenmedien bedienen. In einer makrosoziologischen Analyse können alle Formen sozialer Mobilität, sowohl die einer persönlichen Konversion wie auch die eines allmählichen Übergangs, als Wechsel der 'Bezugsgruppe' gedeutet werden (Wiesberger, 1990). Dabei wird die Perspektive einer Gruppe aufgegeben und die einer anderen internalisiert. Bei der Analyse menschlichen Handelns in Massengesellschaften sollten nach Shibutanis Empfehlung drei Tatsachen geklärt werden: 1. Wie definiert jemand eine Situation? 2. Aus welcher Perspektive nimmt er die Situationsdefinition vor? 3. Aus welchen Personen besteht das Publikum, dessen antizipierte Reaktionen als Bestätigung für die Perspektive des Handelnden dienen (Bezugsgruppe)?
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Innerhalb der empirischen Erforschung sozialer Konflikte ist es möglich, den 'signifikanten Anderen' als symbolischen Repräsentanten der 'Bezugsgnippe' dadurch zu ermitteln, daß man in Situationen der Ratlosigkeit, des Zweifels und der Verwirrung danach fragt, wer vor dem geistigen Auge des einzelnen in dessen Phantasie als 'signifikanter Anderer' auftaucht. Jedenfalls eignet sich das Konzept der 'Bezugsgruppe' in der Darstellung Shibutanis dazu, differenzielle Assoziationen und Loyalitäten zu studieren und Phänomene selektiver Wahrnehmung soziologisch zu bearbeiten (ebd.: 569. Vgl. auch die neuere Arbeit von Shibutani, 1991).
3. Goffman: Bedingungen der Realitätszuschreibung In seinem Buch "The Presentation of Seif in Everyday Life" entwickelt Goffman die Sichtweise von dem theaterspielenden Individuum, dessen Hauptanliegen die Herstellung und Stabilisierung seiner eigenen Identität ist (Goffman, 1959). Er betrachtet die soziale Wirklichkeit nicht nur als Bühne, sondern auch aus der sicheren Distanz des Unbeteiligten. Das Groteske, Überraschende und Außerordentliche im menschlichen Alltagsgeschehen fasziniert ihn. Während in den früheren Arbeiten das Schwergewicht der Fragestellung auf Handeln und Verhalten lag, verschob sich die Thematik in "Frame Analysis" auf Probleme der Wahrnehmung und der Sinndeutung (Rosenberg, 1976) Darum eignet sich gerade dieses Buch, um die Verbindung zur Verstehenden Soziologie aufzuzeigen. Goffman fragt darin, welches die Bedingungen unserer Erfahrungen sind. Er knüpft an beim Thomas-Theorem, nach dem Definitionen von Situationen in ihren Konsequenzen real werden. Seine "Frame Analysis" stellt er ausdrücklich auch in die Tradition des Pragmatismus William James' (Goffman, 1974: 2). Einer Arbeit von ihm entnimmt er die Frage: Unter welchen Umständen meinen wir, daß Dinge real sind? In dem Aufsatz, der vor mehr als hundert Jahren veröffentlicht wurde, fragte James also nicht einfach, was Realität sei, sondern gab, wie Goffman schreibt, der Fragestellung eine 'subversiv phänomenologische Drehung1 und fand die Formulierung: Welches sind die Voraussetzungen dafür, daß wir von einer Sache annehmen, sie sei real? Wichtig für die Konstitution von erlebter Realität ist also unser Gefühl für Wirklichkeit; im Gegensatz zu dem Gefühl oder Erlebnis, daß ein Phänomen die Qualität der Wirklichkeit nicht hat (ebd.: 2ff). Der Arbeit von Goffman liegt die gleiche, auf James und Simmel zurückgehende, erkenntnistheoretische Position zugrunde, die auch Mead übernommen hat. Goffman zitiert die Unterscheidung der Wirklichkeit in eine Reihe von Subuniversa, von denen William James sagt, daß sie - jedes auf seine Art - eine je eigene Existenz haben. Die Welt der sinnlichen Wahrnehmung, die Welt wissenschaftlicher Objekte, die Welt abstrakter philosophischer Wahrhei-
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ten, die Welt des Mythos und übernatürlicher Überzeugungen, die Welt des Psychopathen usw. Alle diese Subweiten haben nach William James ihren eigenen besonderen und separaten Stil der Existenz und jede Welt ist, solange man ihr seine Aufmerksamkeit zuwendet, auf ihre eigene Art real. Nur muß beachtet werden, daß die jeweilige Realität mit der Abwendung der Aufmerksamkeit dahinschwindet (ebd.). James bleibt aber bei dieser Position nicht stehen, sondern hebt die Welt der Sinne als mit einem Sonderstatus ausgestattet hervor, weil wir Menschen dazu neigen, ihr die Rangordnung der höchsten Realität zuzuerkennen (James, 1902) In dieser Ansicht stimmt James mit dem Lehrer Husserls, Brentano, überein: Er unterscheidet zwischen dem Inhalt lebendiger Wahrnehmung einerseits und dem Realitätsstatus, den wir dem Wahrgenommenen zuerkennen, andererseits (Goffman, 1974: 3). Alfred Schütz nimmt nach Darstellung Goffmans den Faden hier auf und publiziert 1945 seine Arbeit "On Multiple Realities" (Schütz, 1945). Zunächst als Zeitschriftenaufsatz veröffentlicht, folgt dieser Artikel der Argumentation von James mit großer Genauigkeit. Auch Schütz hebt ein Subuniversum als mit besonderem Realitätsstatus ausgestattet hervor, aber er ist im Vergleich zu James zurückhaltender mit dem Zuerkennen eines Objektivitätsstatus. Schütz spricht von 'Sinnbereichen' anstatt von Subuniversa wie James, weil Schütz die Komponente subjektiver Erfahrung betonen will. Harold Garfinkel greift die Gedanken von Alfred Schütz auf und beginnt, nach Regeln zu suchen, deren Befolgung zur Entstehung einer bestimmten Welt oder Realität fuhrt. Ist die Sinnhaftigkeit des Alltagslebens gebunden an einen überschaubaren Satz fester Regeln, wie z.B. bei einem Schachspiel? Kann die soziologische Forschung solche Regeln sichtbar machen, etwa an den Stellen, an denen sie verletzt, durchbrochen werden? Ist deshalb das Studium abweichenden Verhaltens, ist die soziologische Analyse psychiatrischer Phänomene ein Weg, auf dem der Zugang zu den Regeln für die Konstitution sinnhafter Alltagserfahrung gefunden werden kann? Dies sind die Fragestellungen Erving Goffmans. Von ihm werden die Probleme der Verstehenden Soziologie aufgegriffen und so konkret formuliert, daß sie sich unmittelbar auf die empirische Forschung anwenden lassen. Für die Arbeit "Frame Analysis" übernimmt er den Terminus 'frame' von Gregory Bateson aus dessen Aufsatz "A Theory of Play and Phantasy" (Bateson, 1955; Goffman, 1974: 7) Ein 'frame' ist die Definition der Situation, die Perspektive, die dem Verstehen und dem Handeln zugrundegelegt wird. "Frame Analysis" bezieht sich auf die Erforschung der Organisation von Erfahrung, also eines Phänomens, das seinen Ort im Bewußtsein des Individuums hat. Goffman wählt in seiner Abhandlung die Blickrichtung vom Individuum zur Gesellschaft hin.
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Theodor Geiger hat diesen Ansatz die anaskopische Perspektive genannt (Geiger, 1960). Es geht Goffinan um die Analyse von Interpretationsperspektiven, von Verstehenskontexten. Zur Ermöglichung des Verstehens und zur Erleichterung des Erkennens und der Einordnung dienen 'frame clues'. Aus der Interaktion der vielen am sozialen Geschehen beteiligten Personen entsteht im Kollektivbewußtsein der Gesellschaft ein Vorrat an etablierten 'framing Conventions'. Die Gesellschaft bietet ihren Mitgliedern die Chance, sich dieser 'framing Conventions' zu bedienen. Die Menschen neigen dazu, boshaft zu ihrem eigenen Vorteil und in ausbeuterischer Weise die 'clues' und 'Conventions' auszunutzen. Mißbrauch und Bedrohung der Konventionen werden sozial sanktioniert. Wenn z.B. ein Verkäufer seinen Geschäftspartner ausfuhrt, für ihn zahlt und ihn über lange Zeit mit allerlei Scherzen unterhält, nur um endlich zu vorgerückter Stunde nach dem Auftrag zu fragen, den er zu buchen hofft, zieht er sich das Verdikt der 'frame manipulation' zu. Goffman setzt sich in "Frame Analysis" das Ziel, grundlegende Bezugsrahmen des Verstehens herauszuarbeiten, die in unserer Gesellschaft angetroffen werden, und die dazu dienen, Situationen zu definieren. Darüber hinaus möchte er die Gefährdungen und Verwundbarkeiten sichtbar machen, denen solche Bezugsrahmen unterworfen sein können. Ihn interessieren Fehlinterpretationen und Mißverständnisse. Wie kommt es etwa, daß ein Ereignis von einem bestimmten Menschen mit allem Ernst als das gedeutet wird, was es bei oberflächlicher Betrachtung tatsächlich zu sein scheint, während andere es als Scherz, als Zufall, als Täuschung oder als Bühnenauffiihrung verstehen. Sodann will er die Ordnung von Erfahrung untersuchen, 'the Organization of experience', etwas, das ein handelndes Individuum in sein Bewußtsein aufnehmen kann, und also nicht eine "objektive" Struktur der Gesellschaft. Damit entscheidet er sich gegen einen strukturell-funktionalen Ansatz und für ein verstehendes Vorgehen Nachdem Goffman diese Vorklärungen getroffen hat, wendet er sich dem zu, was er 'primary frameworks' nennt. Dabei übersetzt er 'framework' oder Bezugsrahmen mit dem Wort Perspektive. Beide Begriffe sind für ihn demnach synonym (Goffman, 1974: 21). Ein primärer Bezugsrahmen ist jenes Interpretationsschema, das zur Deutung einer Situation spontan und mit einem hohen Maß an Selbstverständlichkeit angewandt wird, ohne daß vorher ein komplizierter Vorgang der Reflexion einsetzen müßte. Die Funktion eines primären Bezugsrahmens ist es also, das Individuum davor zu bewahren, daß es die Ereignisse, die ihm begegnen, als bedeutungslos erlebt. Primäre Bezugsrahmen unterscheiden sich voneinander im Grad ihrer Konkretisierung. Aber unabhängig davon, wie weit entfaltet oder wie vage ein solcher primärer Bezugsrahmen gestaltet ist, er gestattet es dem, der ihn zur Anwendung bringt, eine unendlich große Zahl konkreter Ereignisse als sinnhaltig zu definieren.
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Im Alltagsleben unserer Gesellschaft ist eine Unterscheidung zwischen zwei Typen primärer Bezugsrahmen zweckmäßig: zwischen dem natürlichen und dem sozialen. Die von Goffman hier vorgeschlagene Trennung erinnert an die Einteilung in zwei Formen des Wissens bei Cooley, nämlich in physisches Wissen einerseits und menschliches oder soziales Wissen andererseits (Cooley, 1926/27; Rose, 1962). Goffinan bestimmt seine beiden Kategorien wie folgt: Natürliche primäre Bezugsrahmen dienen der Definition und Identifikation von Ereignissen, die keinen erkennbaren Kulturbezug haben, sondern wie das Herabrollen eines Felsbrockens im Gebirge rein physisch sind. Solche von Menschen nicht gesteuerten Ereignisse werden sinnvollerweise nur im Hinblick auf ihre naturgegebenen Variablen interpretiert. In diesem Bereich der natürlichen Bezugsrahmen herrscht vollständiger Determinismus. Als ein Beispiel von verhältnismäßig großer Bedeutung im Lebensalltag des Menschen nennt er die Darstellung der Witterung im Wetterbericht (Goffinan, 1974: 22; Weber, Max, 1951a: 65: "Wenn der Sturm einen Block von einer Felswand herabgeschleudert hat....". Max Weber fuhrt aus, daß es bei Naturvorgängen kein innerlich nacherlebbares konkretes Motiv gibt ). Dagegen stellen soziale primäre Bezugsrahmen den Interpretationshintergrund dar, der Willen, Zielsetzungen, Intelligenz des Menschen und andere Merkmale menschlicher Individualität und kultureller Bezüge in sich aufnimmt. Dieser Bezugsrahmen eignet sich zur Deutung von Ereignissen, die menschlichem Willen und bewußter Sinngebung durch Individuen unterliegen. Angesichts der getroffenen Unterscheidung weist Goffinan aber darauf hin, daß wir den Ausdruck Kausalität sowohl auf kulturell blinde Effekte von Naturkräften als auch auf willentlich intendierte Effekte menschlichen Handelns beziehen. Ein Unterschied liegt allerdings darin, daß im Bereich der Natur von einem unendlichen Ablauf von Ereignissen ausgegangen wird, die jeweils Ursachen und Wirkungen mit sich bringen, während im Bereich menschlichen Handelns unterstellt wird, daß am Ausgangspunkt je bestimmte Bewußtseinsentscheidungen stehen. Goffinan verbindet die beiden Bezugsrahmen, indem er darauf hinweist, daß zwar natürliche Ereignisse ohne die Beteiligung menschlichen Bewußtseins geschehen, daß aber mit subjektivem Sinn ausgestattetes Handeln nur wirksam werden kann, wenn es sich mit der Ordnung der Natur verbindet. Darum kann jedes Segment eines Kulturphänomens auch als Teil der Natur theoretisch untersucht werden. Den beiden Aspekten entsprechen nach Goffman zwei Arten der Wahrnehmung. Er macht es am Beispiel des Schachspiels klar: Der Zuschauer kann beobachten, wie jemand eine Schachfigur auf dem Brett von einem Feld in ein anderes bewegt. Der Zug läßt sich unter zwei Gesichtspunkten beurteilen. Er kann entweder unter dem Aspekt der Theorie des Schachspiels ein unsinniger Zug sein, oder er kann darum nicht taugen, weil etwa dem Spie-
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ler die Figur umfällt oder er sie so ungenau plaziert, daß nicht sofort erkennbar ist, auf welchem Feld sie stehen soll. Die beiden Aspekte beziehen sich einmal auf die soziale Dimension und einmal auf die physische oder natürliche Dimension menschlichen Handelns (Goffinan, 1974: 24).
Die verschiedenen Formen und Variationen primärer Bezugsrahmen, die Goffinan im einzelnen erläutert, sind für das Verstehen menschlichen Alltagshandelns unentbehrlich. Er fuhrt die Überlegung einen Schritt weiter, wenn er darauf hinweist, daß die primären Bezugsrahmen einer spezifischen sozialen Gruppe für die Kultur dieser Gruppe besonders deshalb von zentraler Bedeutung sind, weil sich in ihr eine Vorstellung davon herausgebildet hat, wie die einzelnen Bezugsrahmen aufeinander bezogen werden können. Um diese Integrationsleistung erbringen zu können, braucht die Gruppe einen Bezugsrahmen für ihre Bezugsrahmen. Als 'framework of frameworks' beschreibt Goffinan die Kosmologie oder das Glaubenssystem der Gruppe. Man würde wohl seine Intentionen nicht falsch deuten, wenn man auch den Begriff des 'Sinnsystems' nach Berger oder des 'Wertebewußtseins' hier einbezieht. Die weltanschauliche Orientierung einer Gruppe stellt also den Bezugsrahmen höherer Ordnung dar, der herangezogen werden muß, um die zur Sinndeutung des Alltagsgeschehens erforderlichen Bezugsrahmen niedrigerer Ordnung aufeinander beziehen zu können (ebd.: 27).
In den einzelnen Kapiteln zeigt Goffinan, welchen Verwundbarkeiten Situationsdefinitionen ausgesetzt sind. Als Alternativen zum Alltagshandeln untersucht er Träume, experimentelles Handeln, Ritual, Spiel, Prüfungssituationen, Proben, Täuschungsmanöver, erdichtete Szenen und das Bühnengeschehen im Theater. Er bemüht sich darum, die spezifischen Konventionen jedes Bezugsrahmens herauszuarbeiten. Schließlich wendet er diese theoretische Methode der Analyse auf den Gegenstand des Alltagsgesprächs an. Gestörte Alltagsinteraktionen haben Goffinan schon in seinen früheren Werken beschäftigt. Er versucht, seine Methode der 'frame analysis' auf das Verhalten von Patienten der Psychiatrie anzuwenden und berichtet über die folgenden Tatsachen: 1. Der Patient, der in allen Alltagssituationen schweigt und jeder Begegnung mit einem Angehörigen des Pflegepersonals aus dem Wege geht, wird sehr gesprächig und im Verhalten offen und zugänglich während einer Tanzveranstaltung für Patienten der Klinik. 2 Der Patient, der in gewöhnlicher Alltagsrede stottert, spricht klar und ohne Behinderung, als er während eines Psychodramas die Rolle eines anderen spielt; ganz ähnlich wie jemand, der stottert, von seiner Sprachbehinderung nichts merkt, wenn er sich bemüht, einen bestimmten schwierigen Dialekt zu sprechen.
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3. Ein Patient verhält sich in normaler Alltagskonversation halluzinatorisch, kann aber in einem Theaterstück, das in der Klinik aufgeführt wird, sehr wirksam und in anscheinend geistiger Gesundheit die Hauptrolle übernehmen. 4. Eine Patientin ist psychisch zu sehr gestört, als daß sie von sich aus mit jemandem ein Gespräch aufnehmen würde und bleibt den ganzen Tag über stumm. Sie kann aber schriftlich die erforderlichen Botschaften übermitteln und dies auch tun, wenn sie sich der Ursprungssprache ihrer Einwandererkultur bedient. 5. Schließlich erwähnt Goffman den Fall jenes Patienten, der Ereignisse seines eigenen Lebens im Spiel wiederholt und dabei auch sich selbst und andere abwesende Personen einschließt, und dies in einer solchen Weise tut, daß die Anwesenden den Eindruck gewinnen, sein Verhalten bezöge sich auf sie (ebd.: 246). Alle diese bizarren Formen des Verhaltens psychisch Gestörter werden als nicht ganz so ungewöhnlich verstehbar, wenn man den entsprechenden 'frame' erkennt, der einen vernünftigen Interpretationskontext für das jeweilige Tun darstellen könnte. In der Tradition der erkenntnistheoretischen Position des Pragmatismus, der Lehre von der Definition der Situation von W. I. Thomas, der von Anselm Strauss entwickelten Vorstellungen von Bewußtseinskontexten und der Bezugsgruppentheorie in der Form, die Tamotsu Shibutani ihr gegeben hat, in der bewußten Übernahme all dieser Erkenntnisse hat Goffman eine Arbeit vorgelegt, die zugleich eine großartige Zusammenfassung der TSI darstellt und ihre Parallelität zur VS bewußt macht Der Ansatz Max Webers vom sozialen Handeln, das mit subjektiv gemeintem Sinn ausgestattet ist und daher verstanden werden kann, ist in Goffmans "Frame Analysis" weiterentwickelt worden. Als Kernpunkt seiner Untersuchung sieht er die Tatsache an, daß das Individuum häufig Handlungen vollzieht, die nur aus der Sicht seiner biographischen Identität verstanden werden können, obschon es bei der Ausführung dieser Handlungen als Rollenspieler erscheint: Die Art und Weise, in der jemand seine Rolle spielt, gibt ihm Gelegenheit, seine persönliche Identität flexibel innerhalb der Rolle zum Ausdruck zu bringen. Nun hängt aber die Möglichkeit, von einer präzise umschriebenen Rollendefinition abzuweichen, von der Situation ab, in der das Rollenspiel sich ereignet. Es gibt also einmal die Beziehung zwischen Person und Rolle, sodann aber auch die Beziehung von beiden zu dem 'frame', in dem die Rolle wahrgenommen wird. So ist das 'Selbst' nicht eine Größe, die halb verborgen hinter den Ereignissen steckt, sondern eine variable Formel für die Steuerung des Verhaltens in unterschiedlichen Situationen. Die aktuelle Situation schreibt nicht nur die Verkleidung vor, hinter der wir unsere Individualität als Rollenspieler verstecken können, sie verleiht uns auch das Bewußtsein davon, wer wir als individuelle Einheit selbständig sind.
Anhang 1. Meads Verständnis von „I" und „me" Auszug aus einer Vorlesung von George Herbert Mead
LECTURES
IN S O C I A L
PSYCHOLOGY
George Herbert Mead edited by Harold L. Orbach Lecture No. 33 (out of a total of 42) One of two lectures that were given over entirely to questions Thursday, March 1, 1928 We reached the end of the hour yesterday when I think there were one or two points that [some of you?] wanted to be brought up. Question: The statement was made that although the symbol has a universality, the individual response cannot be determined. Is it the ,"I" aspect of the personality that determines the response? Answer: Yes, that is the response It isn't the "I" aspect that determines it, it is it. Question: It seems the "I" and the symbol both have that universality and limit the field of the response. Answer: They order the field and make the response, however, possible. They determine the conditions, to be sure, but they also provide the means. I tried to illustrate [this] in the case of physical things, where the furniture in the room presents the field within which one can reach the object he wants. They are not simply then a field, but also provide the implements for carrying it out. That is also true in the social situation in which others constitute a social field; but they, through their common type of response, they provide the means by which that can he carried out, [by] cooperative activity. The particular response is something that as just the response, I suppose[,] it isn't universal. Whereas the "me" as representing the customs, the way in which the form acts, the habits, the organized habits, and not only as habitual but also as representing that which I have called "the other", they are all universal; they represent the rules of the game, if you like. Whereas with the expression of an individ-
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ual under those conditions, we will say, where he is free to make this play or that, the way in which he will do it will be particular. But as soon as he has undertaken it that play has become part of the game. If he throws to second instead of to third, that affects the attitudes of the fielders, and pitcher perhaps, and they adjust themselves to the situation which he determines. It is particular in so far as you get this immediate reaction of the individual but it at once becomes then a part of the whole situation, becomes universalized. Question: Is the "me" the same as the sum total of the attitudes of the others taken by the individual? Answer: The "me" is these various responses of the other, of all the others, in so far as they are involved in this situation which the individual determines. [In] the illustration of a "me" who is going to throw the ball, the "me" is determined by the response of everybody else if he does this or the other thing. These resources, in so far as they are in his own nature, that is what constitutes the "me." They do represent all these other responses but they are organized with reference to the various things which he can do under the conditions. Question: At what age does the "me" usually mature? Answer: As a "me" I should say it would mature at the age at which a child can play the game as distinct from mere playing. Up to that time he is just playing. It is what Wordsworth called "endless imitation." He doesn't organize them as a set of interrelated persons. Now, since he can play a game he has reached a point where he can do that. First of all it is a simple game, such as "hide and seek." Question. Is there much fluctuation in the "me" after that period? Answer: Of course, at various intervals it enlarges, expands with the social situation into which the individual is able to self-consciously enter. A good deal of a person's social activity is something that doesn't enter into the "me" at all. There is a whole set of processes going on, that he acts in terms of them, but that don't enter into what we call his selfconsciousness. A person find[s] that out when he gets into a different situation and finds himself passing judgment on things to which he did not pass before. He sees they were implied before. That is involved in a person's traveling, you just put yourself in a situation where what has been entirely implicit becomes a part of your self-consciousness. That is what we ordinarily term prejudice. It is the way of acting with reference to other persons in which you don't definitely place the other as a "me," [as] a part of yourself. You act definitely with reference to him without doing that. Where you have a caste order of society you have such situations as well. The actual content of the "me" in the self-conscious sense is determined by the particular game one is playing or the social situation of which he is a part.
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Question: Is that all the change there is in the "me" in the case, for instance, of violent conversion? Answer: It is there in the adjustment of the larger whole which is involved in the acceptance of the religious position. So that one takes in them a whole self-consciousness of the part he is acting; while the attitude lasts. Question: In these attitudes we have spoken of postural actions, verbal mechanism; will you explain this? Answer. It is an adjustment to the verbal mechanism but it involves a certain type of response. You say 'chair' and you say you are adjusting yourself to the word, but the chair does set free the process of sitting down. It takes a part in your nervous organization and sets that free. What is its function is that it is definitely a gesture which is a part of that activity of sitting down. So you can have a set of arbitrary gestures such as workmen have in determining what one person is to do with reference to another. You look at them as arbitrary from the point of view of the observer, but they are part of the carrying out of this cooperative activity and they involve the response of the individual. It is only in so far as they are gestures, part of the social process by which you set free a certain state of attitudes that they have this value. If you take a conception of the mind as just a sort of substance, and one of those states is a universal state, we will say, then a word is purely arbitrary — it is just a symbol. You can have it in any language you like. You can take words and pronounce them backwards, as children do; there seems to be absolute freedom and language seems to be an entirely mechanical thing that lies outside the process of intelligence. If you recognize that language is, however, just a part of your set of a cooperative process~ that part of it which does lead to adjustment to the response of the other [in order that] the whole activity can go on-- then your language has a certain range of arbitrariness. That is, if you are talking to another person you are able to scent perhaps the change in his attitude by something that wouldn't strike another person at all. You may know his mannerisms. That becomes a gesture to you, a part of the response of the individual There is a certain range in the gesture as to what is to serve as the symbol. It sometimes is an attitude that you can get, we [will] say, a whole set of separate symbols which are accepted; but they always are gestures, that is, they are parts of the act of the individual which reveal what he is going to do to the other person so that when the other person utilizes it he calls out in himself the attitude of the other. It isn't ever then arbitrary in the sense of a bare state of consciousness, it is a part of an act. That is what I wanted to insist upon with refer-
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ence to the medium of communication and its function. Language has this important function. It makes possible this calling out in ourselves of the attitude of the other, setting up the "me" in a social situation, and it has that power because it is a part of this cooperative activity. What particular part of one's act will serve, that is more or less arbitrary. Different phases of the act may do it. What seems unimportant may be highly important in revealing what the attitude is. In that sense you can speak of the gesture as unimportant. It is of great importance as to what your gesture is going to reveal, the difference between the purely intellectual character of your symbol and its emotional character. The latter part of it a poet depends on. For him the language is rich and full of values which we, perhaps, utterly ignore. We are trying to express the message in something less than ten words, we are sending a wire. We want to convey a certain meaning, while for the poet [the words] are dealing with what is really living tissue — the emotional throb is in the expression itself. There is a great range in our use of language, but whatever phase it appears as, it is language, communication; it is a part of a social process, and is that part always by means of which we affect ourselves as we affect others and are able to carry on the conversation and mediate the social situation through this understanding of what we are saying. That is fundamental of any language. If it is going to be language you have to understand what you are saying, you have to affect yourself as you affect others. Question: How does lying enter into this conversation of gestures? What relation has it to the general background? Answer: In that case you have the situation of taking the attitude of the other and then utilizing it for this specific purpose of conveying a false attitude of your own. It is just the same situation that you have when you are boxing or fencing. You make a feint You take an attitude which calls for a certain blow and you are able to take that attitude because that gesture of yourself does call out in yourself the same attitude that it does in the other. On the basis of that you can go ahead and do something else. You are shifting to the final response. That would be the mechanism of it, not the morality. Question: Would you mind saying again what you explained regarding the conversion experience? Answer: The taking of the conversion experience would be that of adjusting one's self, becoming a member of this larger community. That would change the organization of the "me." The "me" then becomes entirely different on account of it. Question: That is the explanation of the evangelist's statement that a person doesn't experience conversion until he surrenders himself?
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Answer: Yes, you give up the old self and get another one. The situation isn't logically different from the scientist who faces a problem. He gives up the old attitude he has taken when he finds an exception, a contradiction. He has to abandon a certain organization of response. There is always that involved in such situations. Question: Where one has reached a decision in a problem, does that then become a part of the "me," and under what circumstances does it appear as an "I?" Answer: After you reach a certain decision, of course, there is there definitely a certain reorganization of your situation and the "me" is a different one. You refuse to accept a certain social situation in which you find yourself, and which you have accepted in the past. That involves a certain organization of the "me." Now you refuse to accept that and you are going to recognize rights you haven't recognized in the past, making you an entirely different "me." Question: What about a case of a man becoming dissatisfied with it? Answer: Your problem always arises out of the sort of conflict which scientists state in terms of an [exception. We are organizing in a certain fashion. You start to act in accordance with that and with reference to a world in which that action is rational. The boy playing the game, his act calls for certain responses from the others, it is adjusted to that Your conflict comes in where he does not get the response which he thinks they ought to get. The conflict doesn't appear on the side of the "I," it is on the side of this objective situation which on the social side is expressed in the "me." Then the "I" comes in in the readjustment. The boy insists that he isn't getting the proper response. He must have a different situation than that which was there before. The conflict doesn't lie in the field of the response which expresses the "I" but in that of the "me." Question: How do you explain the type of divergent "I" and "me," where it diverts from the standard of the "me?" Answer: You can have that sort of type which is pathological in character, that is, one which isn't able to belong to the community within which it finds itself. It would be abnormal in that sense, [i.e., that] in a community which calls for a certain set of cooperative activity the individual doesn't carry out his part in the activity. Now, that divergence instead of being an expression of abnormality might be that of the genius, [of] divergence in that sense. The individual is so different without being abnormal that he is able to get a standpoint of [the] reconstruction of society which will take place. Question: Considering the force of the "me" it is not clear to me how this individual arises.
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Answer: I say that such an individual of the type to which we are referring arises always with reference to a form of society or social order, some phase of social order, which is implied but not adequately expressed. You take the religious genius, such as that of Jesus, Buddha, or the type such as that of Socrates. What has given them their unique importance is that they have taken the attitude of living with reference to a larger society. That larger state was one which was already implied more or less in the institutions of the community in which they lived. They have been able to act upon that. Such an individual is divergent from the point of view of what we would determine [as] the prejudices of the community; but in another sense he expresses the principles of the community more completely than any other. So you get the situation of the Athenian, a Grecian, a Hebrew stoning the genius although they do express the principles of their own society, one the rationality and the other that of complete neighborliness. These are generally the type we refer to as genius. We can get it also in the field of artistic creation. [The artists] reveal contents which represent a wider emotional expression which answers to a wider society. That would be where, I suppose, the divergent individual would come in. Question. Does the element of novelty in the "I" come in through the inner forum? Answer: The inner forum is simply a part of the response to the "me." It is preparatory to the individual adjusting himself to the final action through his response to the "me." I emphasized that you can never take this act of the individual out of the larger cooperative activity to which he belongs. The inner life shut off from the other is merely part of the larger life to which it belongs. Question: If you should try to distinguish between a genius and a person who is abnormal, would the distinction be on the basis of whether the genius contributed something larger and different? Answer: Yes, the abnormal individual would restrict the group to which he belongs and the other enlarges it. Of course where you get abnormalities which take a person out of the range of rational conduct, entirely out of it, there you get something of a perhaps qualitatively different character, but that could, of course, be brought within this statement. Wherever you enlarge a community you aren't getting higher, more effective organization, [as] I have already said, [in] the statement of the contrast between what is supposed to be [and] mere bigness, and [I] called that an unfortunate phrase. If you have a big society, you have to have a high order of organization; that goes along together. And any organization that makes a larger society possible is so far highly valuable. It may be that this larger society is one that isn't realized, so that the setting up, as in religious terms, the sort of setting up a problem rather than full realization [serves the function ] The Sermon on the Mount is, as
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we say, a challenge set up to the community in which there are individuals who do act on the basis of that neighborliness. It takes a long period of development in which you can work out an organization of society in which that is possible. A genius in such a case is a man who is able to order his own life in such a way that he does live on that basis and becomes an example, if you like, of the sort of being that might be from the point of view of the goal toward which we are going. Question. How would you connect up such things as the split personality with the "I" and the "me?" Answer: The personality would represent the organized "me" of the individual which characterizes him. We always organize, and in some respects we are different each of us from everybody else and have different functions in a certain sense in a society to which we belong because of the unique position that each occupies. And the "me," therefore, that he gets, that the individual gets, expresses the response of others to him. Now, he is able to realize himself in these responses to others. His own unique position constitutes his personality rather than the others. In the case of split personality you have the conflict, or the beginning at least of this, and the breaking of [the responses] off where a person has come back to the tendencies which a person has. He has impulses that lead to one thing and others that lead to another thing, and he tends to organize his life about one and then perhaps about another; and where he fails in one phase he is thrown back on the other, but that doesn't get successfully organized as a whole. From either standpoint he has, of course, a different social world. Question: Does it follow that the conception of rationality is purely an intimate concept? If an individual finds a group which is large enough and can enter in conversation of gesture with him and no conflict arises then that individual's behavior is rational, and if we all of us were insane or irrational, why none of us would be? Answer: Yes, that would be true But if we were all insane there wouldn't be any rationality or irrationality. It wouldn't exist. We wouldn't be able to converse; [there would be] no meaning in our conversation, there would be no meaning in our gesture, no cooperative activity. Just in so far as we can cooperate and take the attitude of the other whom we are influencing, then we have rationality. But if we were insane, then conversation such as (we) that would be impossible and in such a community there would be neither rationality nor irrationality. Question: The response is intimate to the group, is it not? Answer: Yes, it belongs to the group. Question: Would you say a great personality would be one which can have a self in all these
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many different worlds of literature, art, all phases of life? Answer: Greatness wouldn't depend, as some would say, upon his capacity to have an artistic response as well as others. That, of course, would put him definitely in touch with a group and the values in these groups of which otherwise he wouldn't have, that would be true. A person may be tremendously effective who is relatively narrow in his field of what we may call appreciation. It always involves, however, that he is able to take the attitude of the whole community in some common way. Almost all persons who reach politically great power have a sense as to what the attitude of the country is. They feel it out. They know what the responses of the different people are going to be. He can put himself in the place of great groups, he has a wide sense of response. It is that which we generally regard as the basis for leadership. If he does have that attitude of the whole community then what he has to say "goes." It may be an effective measure or ineffective, but there is that possibility of leadership. In that respect there is a difference between a politician and the statesman. The politician is confined to the political machine which he operates, which is narrower in its interest than that to which the statesman as such is supposed to appeal. The clever politician knows how to organize his particular group so as to be effective at the polls over against another group, whereas the statesman is in touch with the entire community. It may be possible for the man who is a clever politician to be a statesman also. Question: You said that society began before there were selves and society developed with the selves. How do you explain that? Answer: It is simply a higher development in society. It seems to me that a society where you have cooperative activity is just as definitely a new form as any other form, [any] biological form. And it has its own type of conduct and reaches a perfectly definite goal. Now the self appears in this social structure, or organism; it is possible in that organism, but it belongs to [this] social organism. If you take it entirely out of it, it would lapse. There is a fusion of that, relation of the social organism to its environment in the sense of control. I want to take this point of view up further tomorrow.
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2. Ein Interview mit Herbert Blumer (1900-1987) Das Gespräch fand am 25. November 1981 in Berkley, California, statt. Die Niederschrift der Tonbandaufzeichnung wurde von Blumer geringfügig überarbeitet. Helle: What is your reaction to this idea that Kant is an influential philosopher for the development of Mead's thinking and of your thinking? Blumer: Well... H: Is that a correct assumption? B: I think it is a very indirect relation, and I am quite positive that if that question were put to Mead himself, he would not acknowledge much influence of Kant along the line that is represented by this perspective of his version of American pragmatism that got incorporated in his point of view, which came to serve as a basis of this so called symbolic kind of an approach. H: Well, the great pragmatists are of course William James... B: Yes, William James, and of course he was definitely influenced by James H:...and John Dewey. But then in Peirce I noticed: doesn't he write on Kant? So it is indirect in any case. B: It's indirect, there is no question, of course all those figures that tied in with one another indirectly, yes. I would say from that historical point of view in trying to identify lines so to speak that connected with one another, that probably the influence of Hegel on pragmatism is more significant than Kant. H: Yes. B: Although the pragmatist position of course as voiced by Mead rejects in a sense the fundamentals of the Hegelian position on this matter. But in looking at this matter of the historical background in terms of what developed out of what, what led to what, I would say that probably the line of connection through Hegel is more significant than that through Kant. H: I see. Another thing, I have heard contradictory, or at least stories not completely in agreement with one another on the reason for Mead's departure from the University of Chicago. There was the story that there may have been a harsh conflict with the administration about hiring a philosopher... B: Yes.
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H: ...and I have read in your paper that he was seriously ill and had to undergo an operation... B: I can explain to you what took place there in Chicago... H: Please, do! B: . . .to account for the intention of Mead actually to go to Columbia University. What happened was that the University of Chicago chose a young man, Robert Maynard Hutchins as president. And he came to the University of Chicago, I think, at the age of 30, 31 as president, and he was brash, I think all of us would have to declare. And he had, in the East in Yale he had developed a very strong relation with Mortimer Adler, an American philosopher, also about the same age, who was also very brash, if I be permitted to use that statement, and so Hutchins was determined to put him in the Department of Philosophy... H: Yes B: . ..and went about it in a rather ruthless fashion. The Department of Philosophy, unanimously, I understand, rejected the intention to have Mortimer Adler be placed on their faculty, but Hutchins pressed the matter. In pressing the matter he alienated Mead very, very much. H: Yes, yes. B: And so, John Dewey, who was at Columbia, invited Mead to come there in the department as full professor, which Mead, I understand, accepted. He was all prepared to go when his illness came later, you see. H: I see. B . So there is no connection between this matter. His going to Columbia and the illness just happened to coincide. H: Hhum. B: Does this give you a reasonably good picture... H: Yes, yes thank you! So has he... B: I could expand on it if you wish. H: No, no, that is not necessary. Had he stayed healthy he would have continued to teach at Columbia... B: Oh, there is no question about it. No question about it. H: ...at Columbia University. B: Oh, yes, sure, he would have gone there. It was all settled, yes.
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H: Well, and then, how did it... What happened then after he left? Then you mentioned that you took over his lecture... B: Well, what happened was that... H: He asked you to come to the hospital, and... B: Yes, well, I think this was in January of... 1931, I forget the exact year there. Mead had to go to the hospital because of prostrate difficulty. And in those days apparantly they did not have the knowledge of how to handle it as well as they do in the present time. H: Yes. B: Anyway, he went into the hospital three weeks after the winter quarter, the term there in Chicago, began. And he had to give up his teaching of course consequently, and he called me over to the hospital, in which he was, and asked me if I'd be willing to take over this course, his major course, on advanced social psychology. H: Advanced social psychology. B: I have a suspicion that he had probably asked Professor Ellsworth Fans first to take it over and inquire whether Fans could. But Fans was at that time chairman of the department and had many duties. So he did not do it. H: What was your position at the university? B: I was, let's see, I guess I was an assistant professor at that time. H: At the department of sociology? B: Sociology, yes. H: Who was, who were the other sociologists at the department... B: There at the time... H: ...the tenured professors there at the time? B: Well, there weren't many of them. Let's see if I will identify them: There was Fans, whom I have mentioned, Park, Ogburn, Burgess, Wirth... H: And had you been trained in Chicago? Who had been your main teachers up to that time? B: Well, as far as the department of sociology is concerned, the two teachers I think mostly I worked with were chiefly Ellsworth Fans... H: Ellsworth Fans. B: who was the chairman incidentally of my dissertation, I wrote my dissertation under him, and the other person of course with whom I was rather closely identified, was Robert Park. Of course I have worked with Burgess. Louis Wirth and I were colleagues of the same age, same period, we never took each other's courses. Ah , I had no work with Og-
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burn, many conversations with him. So, in the sociology department, I just have to repeat, my primary instructors were Faris and Park. H: Yes. Now I noticed in your article on fashion that you of course knew Simmel and quote Simmel, and so does Park. Now, how important would you say the influence of Simmel has been on the Chicago school? B: I would say fairly considerable through Park. H: Through Park, hum. B: Park was very much influenced by Simmel. H: Was he a student of Simmel at one time? B: I think so. At least of course Park spent time, he was over, did his doctor's degree, I think, over in Germany. H: Aha. B: And his doctoral dissertation "Masse und Publikum" was of course reflecting the background of German sociology. And he was unquestionably very much influenced by Simmel. This comes out, I would say, particularly in the organization of the book which Park and Burgess brought out, the "Introduction to the Science of Sociology". A lot of treatment there is a reflection, so to speak, of the way in which Simmel would have thought. H: I did not understand you, what was his dissertation? You said... B: Masse, I hope I got the pronunciation correct: Masse und Publikum. H: Oh, ja: Masse und Publikum, I am sorry. B: Crowd and Public. H: So you could say, collective behavior. B: That is the source of it. That is where Park's ideas arose, germinated. He subsequently incorporated them under the rubric of collective behavior. H: Hum. B: Where I had, what I regard as the opportunity, the privilege of picking him up. Of course Park asked me, originally asked me to write a section on collective behavior in a very good book that was brought out, and I think that section did more than anything else to make this field of collective behavior known to American sociologists. It was very definitely right in line with Park's perspective. I made some addition, this matter of fashion is something that Park knew nothing about, it intrigued him. This is probably the only real additional kind of feature that I incorporated in that work... H: Yes, yes.
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B: of, of collective behavior . But, as I said, Park invited me to do that, and of course when he was prepared to retire, he asked me to take over his field of collective behavior at the University of Chicago. H: Now, how about Max Weber? Was there anyone there who got interested, more than average, interested in Max Weber... B: I would say, not... H: just as Park was in Simmel? B: I would say, not. It's a curious thing that this was true, because in many ways, in my judgement, the general perspective and approach of Max Weber was something that was rather kindred in character to what they were doing in Chicago. H: That was my impression. B: Yes, it's true, but it is really interesting that there is very little reference to Weber during the earlier period of the so-called Chicago school of sociology. Later Wirth did bring in Weber a great deal. Of course Wirth, as you know, probably know, was born in Germany and reared in Germany. A rather brilliant scholar, who came to know the literature there very well. H: Yes. B: He had, I think, a very high regard and respect for Weber, and he brought that in. But this, his participation along this line was not in the beginning of this so-called Chicago school, which is not a very good term in my judgement. - Wirth joined the faculty at about the same time I did, in 1929 or 30, somewhere around in there, and in the earlier years the orientation of Park was already, so to speak laid down, even in the expression, in the direction of quite a number of doctoral dissertations. That was something that Wirth had nothing to do with, and I had nothing to do with either. H: Well, and then, to switch now from the question of who influenced you to the other side of the picture: Who were your pupils? I know some of them, but then, how can I visualize this? You start teaching Mead's course, then gradually the idea of symbolic interactionism develops and grows, and more and more people come and use it as an approach, or how... B: Well... H: how did that come about? B: I think that perhaps it is necessary here to avoid kind of getting tangled up somewhat with this term 'symbolic interaction', and 'symbolic interactionism'. That term 'symbolic interactionism' I devised more or less casually and accidentally, later, along in the mid-
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thirties when I had to write an article. Nobody was using it, I was not using it, it was not known there. And I mention this merely to signify that I think that the term 'symbolic interactionism' kind of picked up a scholarly kind of inherence, largely just because it is a catchy term, to be very frank about it. H: Right. B: And it brought together - this is certainly the way in which I view it - it brought together perspectives that had, arose historically in different segments of the area of sociological interest. I would say that the influence of W. I. Thomas is very pronounced in this whole symbolic interactionist approach. Now... H: I included him in that little book too. B: I see. Well, on making these observations for the purpose of trying to indicate that if one, so to speak, tries to trace back the historical happenings, which might be thought of as giving rise to symbolic interaction as a perspective so to speak at Chicago, one would have to make identification of a variety of different individuals. And I do this for the purpose of indicating that the position of Ellsworth Faris in this is much stronger than I think that it is recognized. H: Aha B: It is much stronger than I have stated it, I think. This is one of the weaknesses in whatever I may have said and written about symbolic interactionism, in not acknowledging sufficiently Faris's position in this whole matter. His position in the matter of course - this is my point of view, no more - was that of a primary expositor of Mead's position. H: Hahum. B: Faris had worked with Mead, was very much impressed by Mead. In Faris's course in social psychology in the department of sociology there he was extensively laying the groundwork, organized in terms of Mead's perspective. H: In which way did they cooperate? Did they co-teach a course or... B: No, they taught separate courses. H. They just knew each other and exchanged ideas? B: Oh, yes. Faris had been a student of Mead, and they maintained close - 1 say close, I think close personal relations with one another, after Faris came and was appointed to the faculty there. So what I am trying really to indicate is that Faris was in a major sense the link between the students in the sociology department who were interested so to speak or came to be interested in Mead's work on one hand, and Mead and his course on advanced social psychology on the other hand. That was my own channel that I pursued when I
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came to Chicago to take graduate work on the doctoral program. Of course I went there, and I already knew about Fans, and I was interested in social psychology, which was his field, so I worked with Fans. Well, I had known something about Mead previously, but that was very, very scanny. And it was through Fans and his... that I got directed towards Mead. H: Well, and then you also mentioned W. I. Thomas as an important influence. B: Well, it was. Of course that came in partly through Fans, Fans paid a great deal of attention to W. I. Thomas's work, especially on the topic of attitude. This was one of the primary matters of concern to Fans there. So, there was the feeding in of Thomas's work through Fans, but also through Park. H: Yes. B: Fans and Park have been very, very close together. H: Now, Thomas is another example of a person, who suddenly left Chicago. What was the reason? B: Well, he got into trouble. Supposedly, I never did get all the details, and never was too much interested in them, but it was trouble over women. H: Hahum. B: He was supposed to have engaged in extra-marital relations with some woman, and it created a bit of a scandal there. So... H: Today nobody would care, but in those days it was a major issue. B: Well, it was more of an issue, yes, in those days, oh, very definitely, so, no question about it. H: Now, how did then the school develop? Who are some of the people who were students with you and got their Ph.D.s under your direction and later on became... B: Under my direction? H: Yes. B: Well, I would say, my teaching on the graduate level there began in the late twenties. I went to Chicago as a graduate student first in the summer 1923, came back the summer of 1924, I was teaching at the University of Missouri at the time as an instructor, then came back in the summer of 1925 and stayed on as a graduate student there. See, I was imported as an instructor on the faculty in 1927, that was not actually a faculty appointment. But I got my degree in 1928. .. H: Your Ph.D.?
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B: My Ph.D. degree, yes. H. And you mentioned, again, who was on your committee? B: Oh, Fans was on it, and Mead was on it. H: Fans and Mead. B: Fans and Mead, yes. Thomas was not around during that period. He was of course a very revered figure, and the graduate students under the influence particularly of Park but also under the influence of Faris, as I have been trying to indicate, became interested in W. I. Thomas. He exercised a great deal of influence, he had a great deal of influence upon me. I have always tended to look upon my work, if one was to characterize it narrowly, as being chiefly a bringing together of the perspectives of Mead on one hand and Thomas on the other hand. H: Aha, ja. B: The perspective of Mead providing, so to speak, the theoretical picture, with the perspective of Thomas doing something that Mead did not do: getting out there and actually study things. H: Right, right. B: That's the combination. And I am very much indebted to Thomas in that respect, because Thomas, I think, unwittingly in this regard - he was not going to give expression to Mead's point of view - he was just giving expression to his own perspective and its sides. Thomas very definitely was working on the assumption that to understand the behavior of people you better get in their position and see how they see the world. They cannot do anything else but act in terms of how they see the world, and meet situations, and so doing it sums up somewhat this very ambiguous term of defining a situation, which people could associate with Thomas. Well, it is in this sense that one finds a merging together here, it really is Mead's perspective and Thomas's perspective. H: Didn't Thomas like Park spend some time in Europe as a student or... B: I don't know, not, well, he may... H: Didn't he meet Znaniecki in Poland? B: Oh, that was later. H: That was later. B: Oh, yes, sure, that was after Thomas got 50,000 dollars to carry on a study. He wanted to make a study of European immigrants coming to the United States, and he got this sum of 50,000 dollars to do it. Then it was a question of which immigrants he was going to study.
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H: Who donated the money? B: A woman in Chicago. H: A wealthy woman. B: Yes, this is all a matter of public record, however. But Thomas, I have heard Thomas himself say that he did not know whether he should focus his study upon Italians or Poles. He finally said Poles. The reason he gave - I presume he did jokingly - but he said he did it because he found that they had a better golf course in Poland! (Laughs) He liked to play golfl H: (Laughs) B: It's probably not the real reason, but anyway I've heard him say that. But, he made that study, as I say, really out of the background that it was an area of tremendous public interest and importance in this country at that time, namely European immigrants and their assimilation. They did not assimilate, and it was a big public issue down there. H: Why? Because there was a lot of crime? B: Well, it was that in part, but there was the feeling that these - voiced by many people of course an ethnocentric expression of feeling, that the European immigrants, who were coming in, and they did come in in big droves during the first, yes in the first decade of the present century, there was the feeling that they weren't really becoming Americans, you see, they clung to their old cultures and what not and... So, this had become a matter of rather grave public concern. So Thomas and others got involved in studying this, and that is the background of the study of the Polish Peasant. H: Yes B: And Thomas met Znaniecki in his effort to work out the... for studying the Polish peasant. The study there was really, as you know, a study of the Polish peasant in two areas, Poland on one hand and the United.. H: and Chicago. B: Chicago is quite correct, on the other hand, that is what it turned out to be. The results were great in my judgement, well, a number of things, but I would point out it was really a naturalistic study. I love that term, because it meant, going out and study the people as they actually are, just like the anthropologists might do with primitive tribes, or the botanist might do in the study of, let us say plant life in a given community. He is going out to study what is really going on. Also the biologist doing it, zoologist doing it on animal life, and so on. Naturalistic study, that was one thing, and the other thing is that in trying to study that life naturalistically, as I was saying before, Thomas came to recognize that -
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you probably already know it - but he certainly employed this as his theme, namely that people act upon the basis of what they are confronted with. They see what they are confronted with, so they organize themselves to meet what they have to meet in order to live. H: The topic of'meaning', yes. B: Of course! What the things meant, of course! H: Well then, who were some of your Ph.D. students that you... B: Allright, oh, you asked that question, well, my PhD. students of course came after I of course was elevated to the position of giving graduate instruction at the department. That began in the later part of the nineteen-twenties and then carried through the thirties. Who were they, that is an interesting question: Donald Pearson, whose name probably doesn't mean much, although he became, perhaps he did more than anything else to develop sociology down in Brazil. He is not so well known in this country, he is down there. Now let's see. I forget names, I should really have a list of names that I could go down and check off those who were working with me early in the nineteen-thirties. H: Well that was before people like Strauss and Shibutani. .. B: Yah, they came later. I was trying to think of the earlier group. Dunham, H. Warren Dunham, of course you may not know him, he got directed over to the field of psychiatry and has done some very substantial work there in social psychiatry. He is one of my early students, in the early thirties... H: What I was really interested in, how could this misrepresentation develop if there is an almost uninterrupted line of tradition, then these misunderstandings and misrepresentations that come up must have a reason. How would one explain this, is there an intention behind it or is it sheer coincidence? B: Well, I think Kimball Young has something to do with this. Kimball Young had been a student at the University of Chicago, I think he got his Master's degree there. He had taken work with Thomas, incidentally, he worked as an assistant to Thomas, and also worked, I believe, with Mead, I am not too certain about this. And he did not complete. . He got his doctor's degree elsewhere, I forget where it is now, and then of course he went to the University of Wisconsin to teach. Now I mention all this to signify that Kimball Young became a focal point for the development of a perspective on Mead that is different from that which I have. And this perspective on Mead came to be developed by Kimball Young at the University of Wisconsin, where he had graduate students, and then got transplanted, I guess that's the proper word to use, to the University of Iowa. H: Is that how the Iowa school got started?
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B: Yes. H. I see. When about was that that Kimball Young , about what year was Kimball Young starting to work in Wisconsin? B: Well, that was already in the late twenties... H: The late twenties. B: . ..you see, and the early thirties. And so they grew up under particularly the influence of another person. I know him well, but I can't recall his name at the moment, who was the head of that group at Iowa, who were presenting his point of view. And then this point of view at Iowa developed an offshoot... H: Was it Kuhn? B: Kuhn, Yeah! H: Manford Kuhn? B: His name was Kuhn, you are absolutely correct, that's the person, whose name I was trying to get. Now, that point of view also, as I say, got developed into kind of an offshoot at Michigan State University, where a number of people, like Jane Hubert for example was attached. What I am stating is a frightfully cursory kind of account here, but all I am trying to imply, to bring out, is a double approach here, an approach, which I think would be regarded historically as identified with the developments at the University of Chicago itself, and a second approach, which, I think, came into being originally through Kimball Young and through Kuhn, and branched out up to Michigan State. So, that's where this thing arose, in other words, I would say - there are probably a few little exceptions here, but I would say that by and large the division that is represented by this article of mine that you referred to there, that was written in response to a fellow by the name of McPhail, that division in not taking place inside of the ranks of students who had their training in Chicago. It's rather between those on one hand, who think of themselves as symbolic interactionists on one side, and this other group that have a different historically background. H: I see B: And in a sense this has in the present time come to expression in a book which I have just examined cursorily, I'll have to read it carefully, and reply to it obviously, a book by two people, Lewis of Notre Dame, a young man there at Notre Dame, and Smith, a person from one of the universities in North or South Carolina, I forgot which, where they are taking the point of view, that Mead stood very definitely apart from Dewey, and that Mead was, as they declare, a realist, Dewey was a nominalist, and they are presenting the
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contention that the symbolic interactionism as associated with my work they declare contrary to Mead's position, and that it is an expression of Dewey's position. It's a crazy kind of view, but what they are seeking to do really to lay a groundwork for this to declare that pragmatism itself as a philosophy split into two groups: One group represented by the founder, Charles Peirce, who developed a realistic position, the other founder William James, representing a nominalist position in terms of the traditional philosophical distinction there. And the contention is that I have misinterpreted Mead very profoundly in the sense that the position which I have presented is actually a nominalist position, whereas Mead's is a realist position, and this original separation I referred to is taking place between the so-called Iowa school and the Chicago school that has gotten now incorporated into this division. H: That means that this McPhail, did he grow out of the Iowa school? B: Yes, out of the influence of those. H: I see. B: See, he is connected there with Jane Hubert, who I think wrote her doctoral dissertation, I understand she did, on pragmatism, and she regards herself as an authority on pragmatism, and of course takes a very different view of pragmatism than, I think, most of the scholars in the field do. But McPhail fits right into that. H: Hum. B: Some of my philosopher friends speak of a revisionist group that is emerging there in Urbana in philosophy, in sociology, twisting around this whole philosophical perspective. H: I would like to get your reaction to the state of the discipline today. Now, it so happens that Talcott Parsons died in Munich as my guest. . B: Oh, in Munich, that's right. H: ...we had the very difficult task of consoling Helen Parsons and of taking care of the body, all of this very sad. But this is only maybe the symbolic side of the question behind it: Parsons's theory has really been a very clear alternative to your approach, and there have been two opposing schools for a long time. Today it seems that the Parsons school has almost disappeared, or... B: Well, I would not say that... H: what are the major trends now in American sociology as you see it? B: I would say American sociology, looking at it as a person from abroad and then realizing all the different perspectives that one can identify with some legitimacy, I think American sociology is in a state of great confusion.
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H: Hum. B: Great confusion. I think that contusion exists in a much more pronounced way in what for the moment here let us speak of as the theoretical realm, than it does let us say on the side of actual study. In other words, actual study as so-called research I think is still undeniably under the influence to a great major extend of a perspective which looks upon human group life as being organized in terms of a structure, and probably in terms of a system, which of course was Parsons's contention. That represents the actual research that is going on. But when one passes over to what I referred to here as the arena of theory, one finds such a range of different points of view: It does signify confusion. Now, in this theoretical area I think there is no doubt but what the structural-functional point of view, as it was referred to, is becoming very weak, there is no doubt about it... H: Well, I must not take anymore of your time. I am very grateful that I could have this conversation with you...
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