Versöhnung: Theologische Perspektiven: Festschrift für Martin Leiner [1 ed.] 9783666500282, 9783525500286


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German Pages [322] Year 2023

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Versöhnung: Theologische Perspektiven: Festschrift für Martin Leiner [1 ed.]
 9783666500282, 9783525500286

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Francesco Ferrari / Susan Baumert / Charalampos Karpouchtsis / Georg Schmolz (Hg.)

Versöhnung: ­ Theologische Perspektiven Festschrift für Martin Leiner

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Research in Peace and Reconciliation Herausgegeben von Martin Leiner und Francesco Ferrari in Zusammenarbeit mit Benot Bourgine (Louvain-la-Neuve), FranÅois Dermange (Genve), Dennis Doyle (Dayton/Ohio), Matthias Gockel (Jena), Makoto Mizutani (Kyoto), Arie Nadler (Tel Aviv), Bertram Schmitz (Jena) und David Tombs (Belfast/Dublin) Band 8

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Francesco Ferrari / Susan Baumert / Charalampos Karpouchtsis / Georg Schmolz (Hg.)

Versöhnung: Theologische Perspektiven Festschrift für Martin Leiner

Vandenhoeck & Ruprecht

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Mit freundlicher Unterstützung der Evangelischen Kirche der Pfalz.

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über https://dnb.de abrufbar.  2023 Vandenhoeck & Ruprecht, Robert-Bosch-Breite 10, D-37079 Göttingen, ein Imprint der Brill-Gruppe (Koninklijke Brill NV, Leiden, Niederlande; Brill USA Inc., Boston MA, USA; Brill Asia Pte Ltd, Singapore; Brill Deutschland GmbH, Paderborn, Deutschland; Brill Österreich GmbH, Wien, Österreich) Koninklijke Brill NV umfasst die Imprints Brill, Brill Nijhoff, Brill Hotei, Brill Schöningh, Brill Fink, Brill mentis, Vandenhoeck & Ruprecht, Böhlau, V&R unipress und Wageningen Academic.

Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Umschlagabbildung: Josefina de Vasconcellos: „Reconciliation“ (ursprünglich „Reunion“), Bronze-Skulptur, Cathedral Church of Saint Michael, Coventry, England, 1977. Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Reconciliation_Statue,_The_Old_Cathedral,_Coventry.jpg Umschlaggestaltung: SchwabScantechnik, Göttingen Satz: le-tex publishing services, Leipzig

Vandenhoeck & Ruprecht Verlage j www.vandenhoeck-ruprecht-verlage.com ISSN 2197-0947 ISBN 978-3-666-50028-2

Inhaltsverzeichnis

Vorwort................................................................................................

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Cesare Zucconi Frieden ist immer möglich ...................................................................... 15 Wolfgang Huber Erhoffte Versöhnung. Thesen zur Friedens- und Versöhnungsarbeit ............. 29 Thomas Niederberger Verzeihen – Vergeben – Versöhnung. Eine religionspädagogische Skizze des Übergangsfeldes von der Kompetenz des Verzeihens zum Unverfügbarkeitscharakter der Versöhnung ....................................... 39 Miriam Rose Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt ...................... 61 Matthias Gockel Predigt über Jeremia 8,4–7 am 18. November 2007 .................................... 83 Bertram Schmitz Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen als religionsvergleichende Überlegung zur Versöhnungsforschung ................... 89 Gerd Theißen Die Jesusbewegung. Was war neu in dieser Erneuerungsbewegung? ............. 103 Manuel Vogel Vom Blut im Boden. Ein jüdisch-christlicher Motivzusammenhang zu Sühne und Gewalt ............................................................................. 125 Michael Wermke Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770. Chancen und Diskrepanzen des christlich-jüdischen Dialogs .......................................... 145

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Inhaltsverzeichnis

Jean-Marc Tétaz Politik der Versöhnung: Ernst Troeltsch und die Begründung der Weimarer Demokratie ............................................................................ 161 Nikolaus Knoepffler „Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene? Überlegungen zu einer rahnerschen These vor dem Hintergrund der Kritik Ratzingers/Benedikt XVI. ...................................... 181 Hans-Martin Rieger Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens. Eine ethische Perspektive ........................................................................ 207 Jürgen Boomgaarden „… wie dich selbst“. Ist die Liebe zu sich selbst geboten? ............................. 237 Markus Mühling „Gott ist abenteuerlich in den Höhen“. Luthers Theologie des Abenteuers ...... 261 Anne Käfer Wider den Ruf nach Werten. Zum Wertediskurs in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften ............................................... 281 Reiner Anselm Ethik der Nähe – Ethik der Ferne. Leitlinien für eine Ethik internationaler Beziehungen ................................................................... 301 Über die Herausgeber:innen ................................................................... 313 Über die Autor:innen ............................................................................. 315

Vorwort

Streit und Versöhnung, Schuld und Vergebung sind Themen, denen jeder Mensch in seinem Leben begegnet. Sie sind menschliche, nicht nur theologische oder gar exklusiv christliche Themen. Überall in der Welt finden Menschen Zugang zu Versöhnung. Bereits 411 vor Christus brachte der griechische Komödiendichter Aristophanes Lysistrate auf die Bühne, ein Stück, in dem sich die Frauen der im Krieg befindlichen Stadtstaaten Athen und Sparta zusammentun, um ihre Männer durch einen berühmten Streik zum Frieden zu zwingen. Die Versöhnung erscheint in dem Stück als eine schöne, spärlich bekleidete Frau auf der Bühne und zeigt den Männern den Weg zum Frieden. Trotz dieser unvergesslichen Szenen in der griechischen Komödie, und trotz der vielfältigen Beiträge aller Religionen zu Versöhnung und Vergebung, kommt der christlichen Religion und Theologie die Besonderheit zu, dass in ihr die Versöhnung der Welt nicht ein Thema neben anderen ist, sondern das zentrale, die christliche Botschaft zusammenfassende Thema darstellt: Gott war in Christus und versöhnte die Welt mit sich selber und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu und hat unter uns aufgerichtet das Wort von der Versöhnung. So sind wir nun Botschafter an Christi Statt, denn Gott ermahnt durch uns: so bitten wir nun an Christi Staat: „Lasst euch versöhnen mit Gott!“ (2. Kor. 5,19f).

Als ein Pionier der Versöhnungsforschung hat Martin Leiner diesen äußerst wichtigen Forschungs- und Praxisbereich in den vergangenen Jahren maßgeblich mit seinen innovativen Ideen geprägt und gefördert. Als Gründer und Leiter des 2013 ins Leben gerufenen Jena Center for Reconciliation Studies/Zentrum für Versöhnungsforschung (JCRS) an der Theologischen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität Jena ist er ein unermüdlicher Brückenbauer und Netzwerker über die universitären Grenzen hinaus. Gerade die Schwerpunkte der vergleichenden Konflikterforschung und der Untersuchung von Versöhnungsprozessen weltweit verleihen dem Jenaer Forschungszentrum eine Sonderstellung par excellence. Versöhnung findet nach Leiner immer in allen unterschiedlichen Beziehungen statt: Nicht nur mit Gott, sondern auch zwischen Menschen, zwischen verfeindeten und einander entfremdeten Gruppen, oder auch als manchmal besonders schwierige Aufgabe: die Versöhnung mit sich selbst. Leiners besonderes Anliegen ist es, politische, gesellschaftliche und andere Versöhnungsprozesse zu einem wissenschaftlichen Forschungsgebiet zu machen, das von zahlreichen Fächern kooperativ entdeckt und bearbeitet wird. Die zeitgleich erscheinende zweite Festschrift Transdisciplinary

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Vorwort

Approaches to Reconciliation Studies, herausgegeben durch Francesco Ferrari, Laura Villanueva, Davide Tacchini und Binyamin Gurstein, ist ein Zeugnis für die Breite der transdisziplinären Kooperation, die zu einem einigermaßen vollständigen Verständnis von Versöhnungsprozessen nach Leiners Auffassung nötig ist. Die hier vorliegende Festschrift konzentriert sich ganz auf theologische Perspektiven. Der Sammelband zeigt die Fruchtbarkeit und Vielfalt der Diskussionen, die sich aus der Frage nach Versöhnung ergeben. Der Band beginnt mit einem Rückblick auf dreißig Jahre Versöhnungsarbeit der Gemeinschaft Sant’Egidio, die sich in verschiedenen Teilen der Welt für den Dialog sowie für die Lösung und Verhütung von Konflikten einsetzt. Ihr langjähriger Generalsekretär Cesare Zucconi verdeutlicht in seinem Beitrag die Wichtigkeit der Friedensarbeit auf internationaler Ebene, aber auch innerhalb der Zivilgesellschaften und der Religionen. Sie alle sind wertvolle und herausragende Akteure im Kampf gegen Krieg, Gewalt und Ungerechtigkeit in einer sich immer stärker gespaltenen, multipolaren und fragmentierten Welt. Die Gemeinschaft Sant’Egidio hat durch ihre unermüdlichen Bemühungen die Erfahrung gemacht, dass der Frieden alle angeht und jeder dazu beitragen kann. Anhand eines weiteren Beispiels, der „Stiftung Garnisonkirche und Potsdam“, entwickelt Wolfgang Huber seine Ideen zur Arbeit an Frieden und Versöhnung als menschlicher Aufgabe im Bereich des Vorletzten. Die hierzu entfalteten Thesen umfassen auch das Gebet um Versöhnung und die Verkündigung der Versöhnungsbotschaft, die zu den grundlegenden Aufgaben der Garnisonkirche in Potsdam gehören. Versöhnung bedeutet hier, zerbrochene, zerstörte oder gefährdete Verbindungen wiederherzustellen und zu kräftigen, wobei es dafür einer erinnernden Solidarität bedarf. Huber verweist in diesem Zusammenhang auf Projekte in unterschiedlichen Sprachen, in denen vielfältige Versöhnungsperspektiven entwickelt werden sollen. Thomas Niederberger, Kirchenrat der Pfälzischen Landeskirche, skizziert aus religionspädagogischer Sicht das Übergangsfeld von der Kompetenz des Verzeihens zum Unverfügbarkeitscharakter der Versöhnung. Verzeihen besteht seiner Ansicht nach im Verzichten auf Vergeltung und im Erlernen von Kommunikationskompetenzen, wobei es jedoch bei letzterem erkennbar an seine Grenzen stößt. Vergebung geht einen Schritt weiter und bietet die Gabe eines schöpferischen Neustarts sozialer Beziehungen an. Dass dieses soziale Heilungsgeschehen gelingt, kann keine Methode oder Technik garantieren; es ist unverfügbar und muss sich ereignen. Die Kraft der Versöhnung, im Leben, Sterben und Auferstehen Jesu sichtbar, ermutigt dazu, in allen Menschenbeziehungen – also zu anderen, zur Gemeinschaft, zur Welt und zu sich selbst und zu Gott – auf konstruktive und befriedende Beziehungen hin zu denken und zu handeln. Miriam Rose diskutiert als systematische Theologin Hannah Arendts klassische Ausführungen zu Versöhnung und Vergebung in Vita activa und macht dabei auf

Vorwort

selten beachtete Aspekte des Textes wie die Unterbestimmung des Phänomens der Schuld aufmerksam. Ihre leitende These lautet, dass Arendt alles Handeln für vergebungsbedürftig hält. Es wird gezeigt, dass Arendts Vergebungstheorie eine tugendtheoretische Besinnung auf die Grundbedingungen von Politik und auf die Grundlagen eines bewussten, kommunikativen Lebens in geistiger Unabhängigkeit darstellt. Anhand des Vergleichs mit dem israelischen Philosophen Avishai Margalit und der amerikanischen Prozess-Theologin Marjorie Suchocki tritt hervor, dass Arendts Theorie der Vergebung bemerkenswert wenig interessiert ist an der Phänomen-Erhellung des Schuldig-Werdens und der Schuld-Bewältigung. Daran wird Arendts Theorie profiliert als nicht-psychologisch interessiert, sondern vielmehr als eine geist-fokussierte, als eine nicht-soziale, also schließlich als eine politische Theorie. Arendt insistiert neben der Universalität der Vergebungsbedürftigkeit alles Handelns zugleich auf der Unvergebbarkeit (und Nicht-Bestrafbarkeit) von bestimmten bösen Taten. Dies ist ebenso als Grenze von Arendts Theorie wie auch als bleibende mahnende Herausforderung für aktuelle Konzepte von Versöhnung nach Genozid und Kriegsverbrechen zu bewerten. Matthias Gockels Predigt zu Jeremia 8,4–7 entstand für einen Gottesdienst am Volkstrauertag im Rahmen der Ökumenischen Friedensdekade 2007. Sie ist nach dem russischen Einmarsch in der Ukraine auf eine neue Art aktuell durch die Verbindung der Bitte, Gott möge Menschen Mut schenken, gegen Unrecht und Lüge vorzugehen, mit der Mahnung, Versöhnung nicht aus dem Blick zu verlieren. Nach einer kurzen Betrachtung über die Geschichte und Bedeutung dieses Tages widmet sich die Predigt der Erläuterung und Interpretation des Predigttexts, Jeremia 8, 4–7. Der Religionswissenschaftler Bertram Schmitz behandelt die Entsühnungs- und Versöhnungsrituale der abrahamitischen Religionen im Vergleich miteinander und zu anderen Religionen. Seine Ausführungen zeigen, auf welche unterschiedliche Art und Weise Übertretung und Versöhnung in den Religionen Abrahams verstanden werden. Weiterführend konstatiert der Autor, dass sich im Judentum Jüdinnen und Juden wiederum in ihrer Verantwortung vor Gott gestellt wissen. Vergehen sind demnach in der Hoffnung auf Gottes Vergebung wieder gut zu machen. Im Christentum sieht Schmitz hingegen Vergebung durch das Heilswirken Christi verwirklicht. Durch diese unbegrenzte Versöhnung entstehe eine gleichsam unendliche Aufgabe, Gottes Liebe in die Welt zu tragen. Im Gegensatz dazu nimmt im Islam besonders der Moment der Entsühnung auf der Wallfahrt eine zentrale Stellung ein. Gerd Theißen stellt die Botschaft Jesu als Versöhnungsbotschaft heraus. In seinem Aufsatz widmet er sich zwei neuen grenzüberschreitenden Veränderungen innerhalb der Jesusbewegung: einerseits der Öffnung für fremde Völker und andererseits der Übernahme von Oberschichtwerten durch Unterschichten. Derlei Entwicklungen interpretiert Theißen als das Ergebnis eines langen Lernprozesses innerhalb der jüdischen Gesellschaft. Er unterstreicht diese Erkenntnis mit der

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Vorwort

Feststellung, dass eine für die Fremden offene hellenistische Erneuerungsbewegung in der Oberschicht noch ca. 200 Jahre zuvor gescheitert war. Laut Theißen war die Jesusbewegung im Gegensatz zu ihr eine Öffnungsbewegung von unten, der ca. 20 bis 30 Jahre zuvor zwei militante Widerstandsbewegungen gegen die Römer vorausgingen, die jedoch beide erfolglos geblieben waren. Der Autor unterstreicht im weiteren Verlauf seines Artikels den Unterschied zwischen jener militanten Widerstandsbewegung und der Jesusbewegung, in dem letztere vor allem für Feindesliebe eintrat und nicht für militärischen Widerstand. Den entscheidenden Übergang von Feindschaft gegen die Fremden zur friedlichen Erneuerung des Judentums von innen heraus sieht Theißen dabei schon durch Johannes den Täufer bewirkt. Theißen zufolge führt Jesus seine Botschaft fort und setzt dabei neue Akzente in der Raumsymbolik der Wüste, im eschatologischen Zeitverständnis, im Heilsverständnis, vor allem aber in der Beziehung zu dem nach ihm Kommenden, von dem er nicht als dem „Stärkeren“ spricht, sondern wie von sich selbst als dem „Menschensohn“. Manuel Vogel behandelt die Aufnahme der Tradition vom schreienden Blut Abels (1. Mose 4,10) im Hebräerbrief (12,24). Was heißt es, wenn dort gesagt wird, dass das Blut Jesu „besser redet als Abels Blut“? Im Kontext christlicher Denk- und Überlieferungszusammenhänge wird deutlich: Es geht vielfach nicht oder jedenfalls nicht nur um das Sühneblut Jesu, das Sündenvergebung wirkt. Jesus Christus ist gleichermaßen auch Identifikationsfigur für die Gewaltopfer aller Zeiten. Christlich kann deshalb, wenn von „Versöhnung“ die Rede ist, niemals isoliert und ausschließlich vom Heilswirken Jesu die Rede sein. Versöhnung ist christlich verstanden immer auch eine Angelegenheit zwischen Tätern und Opfern. Jesus ist, wie gerade das Motiv vom „schreienden Blut“ zeigt, als Versöhner auch Gewaltopfer und umgekehrt. Nach diesen biblisch orientierten Beiträgen folgen an bestimmten historischen Situationen orientierte Beiträge: Michael Wermke behandelt die LavaterMendelssohn-Kontroverse von 1769, in dem er der Frage nachgeht, ob diese berühmte Auseinandersetzung tatsächlich als den Beginn des Dialogs zwischen Christen und Juden in Deutschland oder bereits als dessen Absage betrachtet werden kann. Zur Beantwortung dieser zentralen Frage widmet sich Michael Wermke zunächst dem Aufzeigen der widersprüchlichen Charaktere, Lebensläufe und religiösen Glaubenssätze Lavaters und Mendelssohns. Der Aufsatz vermittelt weiterhin Einsichten in die Genese der Lavater-Mendelssohn-Kontroverse, innerhalb welcher sich Lavater zunächst als sehnender Gesprächspartner und naiver christlicher Enthusiast, dann jedoch als indiskreten Bekehrer der Juden und religiöser Herausforderer entpuppt und Mendelssohn als bedacht und entschieden gegen Lavaters Gesinnung Handelnder, der mit großem rhetorischen Geschick und politischer Vorsicht auf seinen Herausforderer reagierte und damit an der eigenen konservativ-religiös-jüdischen Lebensführung festhielt. Schließlich

Vorwort

verweist Wermke auf die in dieser Kontroverse liegenden Anstöße für den heutigen christlich-jüdischen Dialogbedarf, wenngleich ersichtlich wurde, dass Lavater nicht an einem echten Austausch mit der Absicht einer gegenseitigen Verständigung interessiert war. Mendelssohn hingegen vertrat eine Philosophie der strikten Toleranz, die „seinen tiefen Glaube an die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen“ beinhaltete und wonach er die Fragen nach der Religionszugehörigkeit als Privatangelegenheit betrachtete und eine Einsicht und Duldung der Glaubensvorstellungen und Religiosität anderer Konfessionen erwartete. Der Aufsatz von Jean-Marc Tétaz betrachtet und analysiert die herausragende politische Rolle des evangelischen Theologen, Historikers, Religions- und Geschichtsphilosophen Ernst Troeltsch (1866–1923) innerhalb der Begründung der Weimarer Demokratie in den Jahren 1917 bis 1922: Die Revolution von November 1918 markierte in Deutschland eine politisch unumkehrbare Zäsur. Dessen war sich Troeltsch früh bewusst. Seit seinem Umzug nach Berlin im Frühjahr 1915 spielte der Gelehrte und grandiose Redner eine zunehmend wichtige Rolle in den politischen Debatten des Kaiserreiches. In den ersten Jahren der Weimarer Republik griff der Berliner Professor der Philosophie aktiv in die Politik ein, war aber auch und vor allem als Demokratietheoretiker und politischer Kommentator tätig. Nach einer knappen Übersicht über das politische Engagement von Ernst Troeltsch zwischen 1915 und 1923 fragt dieser Beitrag nach Troeltschs Begründungstrategie und seinem Verständnis von Demokratie. Diese Frage ist unumgänglich, da Troeltsch noch 1915 Monarchie und Militarismus als spezifisch deutsche Lösung des politischen Problems verteidigt hatte. Es wird zuerst gezeigt, dass Troeltschs Begründung für die Notwendigkeit der Demokratie 1918 auf historische, soziologische und ökonomische Argumente rekurriert, und nicht auf politische Prinzipien: im Lichte der gegebenen Unterscheidung stellt die Demokratie die einzige Möglichkeit dar, die staatliche Ordnung wiederherzustellen. Dabei bleibt er einer Grundeinsicht treu, die er schon 1903 formuliert hatte: die Notwendigkeit einer Versöhnung von Konservatismus und Demokratie, in der „Staatssozialismus und Bildungsindividualismus“ vereinigt werden. Das systematische Spätwerk von Troeltsch, Der Historismus und seine Probleme (1922) dient der Ausarbeitung der kulturellen Grundlagen einer deutschen Demokratie. Ihr Gegenstand ist die Schaffung einer „Kultursynthese des Europäismus“, die den Boden zukünftigen Handelns in Staat und Gesellschaft ebnen soll. Diese Begründungsstrategie zielt darauf, die Demokratie sowohl als die legitime Erbin der spezifisch deutschen, romantisch-idealistischen Tradition als auch als das historisch verständliches Ergebnis der gemeinsamen Geschichte der ehemaligen Kriegsgegner darzustellen. Die Rhetorik des Kulturkriegs, die Troeltsch in seiner Kriegspublizistik analysiert und gerechtfertigt hatte, wird so in eine geschichtsphilosophisch fundierte Politik der Versöhnung überführt. Nikolaus Knoepffler erinnert an die ökumenisch wichtige These der „erkenntnistheoretischen Toleranz“ von Karl Rahner, dem wohl bedeutendsten deutsch-

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Vorwort

sprachigen katholischen Theologen des 20. Jahrhunderts. In seinem mit Heinrich Fries veröffentlichten Werk Einigung der Kirchen hat er eine reale Handhabe entworfen, um eine Kircheneinheit zu ermöglichen. Knoepffler zeigt fortfahrend, wie bereits das Werk Ratzingers/Benedikt XVI. an wesentlichen Punkten Rahners These bestätigt, ja sogar noch radikalisiert. Abschließend problematisiert Knoepffler am Beispiel der altkatholischen Kirchen und ihrer Kommuniongemeinschaft mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft, ob es überhaupt materialiter möglich sein kann, der erkenntnistheoretischen Toleranz Grenzen zu ziehen und ob von daher das rahnersche Projekt nicht im Kern anzuzweifeln ist. Versöhnung verlangt das Engagement des Herzens und ermöglicht die Wiedergeburt von Liebe. Hans-Martin Rieger behandelt die Rede vom Herzen bei Autoren wie Max Scheler und Blaise Pascal: Konzentriert zunächst auf den Stellenwert und den Gebrauch der biblisch-augustinischen Metapher des Herzens bei Scheler und dann im hebräischen Denken des Alten Testaments versucht der Beitrag, die möglichen ethischen Implikationen jener bedeutungsvernehmenden und wertschätzenden Wahrnehmung des Herzens für die gegenwärtige Ethik zu erkunden. Im Dialog mit gegenwärtiger Philosophie und Ethik der Emotionen wird fortsetzend die Frage der Rationalität einer Erkenntnis, die auf einer solchen teilnehmenden Welterschließung beruht, diskutiert. Jürgen Boomgaarden schreibt zum Gebot der Selbstliebe: Zentral ist die Frage, ob Selbstliebe eine notwendige Voraussetzung ist, um auch den Nächsten lieben zu können, oder ist sie eine Unmöglichkeit, weil Liebe per se an den Nächsten geknüpft ist? Nach einem Blick auf Erich Fromms Buch The Art of Loving, das explizit die Selbstliebe propagiert, wird die Ablehnung der Selbstliebe durch Karl Barth und Martin Luther näher betrachtet. Eine sich anschließende anthropologischphänomenologische Analyse geht der Frage nach, inwieweit unser Selbsterleben und Erleben des anderen Menschen auf die Möglichkeit einer Selbstliebe hinweisen. Die sich dabei zeigenden Probleme und gewonnenen Einsichten werden mit philosophischen Überlegungen Georg Wilhelm Friedrich Hegels und Søren Kierkegaards verbunden. Besonders Kierkegaards Gedanke einer Selbstliebe, die eine paradoxe Leidenschaft in sich trägt, leitet über zu theologischen Überlegungen, in denen der Gedanke einer ‚Selbstliebe jenseits seiner selbst‘ als christliche Antwort auf die Frage nach einer Selbstliebe entfaltet wird. Narrationen und Werte sind für Versöhnungsprozesse von nicht zu überschätzender Wichtigkeit. Markus Mühling entfaltet darum Luthers Rede vom Abenteuer Gottes kulturhistorisch und theologisch. Aber ist „Abenteuer“ mehr als ein oberflächlicher und modischer Begriff in der Theologie? Ist es ein substantieller Begriff, der neue Einsichten in unser Verständnis von Gott verspricht? Der vorliegende Artikel leistet eine notwendige Vorarbeit, um diese Frage in der Zukunft beantworten zu können: Vor dem Hintergrund der kulturhistorischen Entwicklung des Begriffs „Abenteuer“ – beginnend mit seinen Ursprüngen bis zur Zeit der Renais-

Vorwort

sance – wird die vielfältige Verwendung von „Abenteuer“ durch Martin Luther analysiert. Diese Betrachtungen bringen ein überraschendes Ergebnis zu Tage: Es ist möglich, zentrale Züge von Luthers Theologie als Theologie des Abenteuers zu zeichnen. Luthers Behauptung, dass „Gott im Höchsten abenteuerlich ist“, kann eine neue, noch unentwickelte Theologie des Abenteuers inspirieren, in der das dreieinige Werden Gottes als ein Abenteuer der Liebe gesehen wird, da der Begriff des Abenteuers das immer neue, spontane Zusammentreffen von Kontingenz und Güte bedeutet. Anne Käfer legt Eberhard Jüngels Text von der Tyrannei der Werte kritischkonstruktiv aus. In ihrem Beitrag weist sie darauf hin, dass es bei jeder Suche nach einheitlichen Wertvorgaben für eine Gesellschaft wachsam zu sein gilt angesichts der immer drohenden Gefahr einer „Tyrannei der Werte“. Das Zusammenleben in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften gelingt erst dann menschenfreundlich und auf die Gefahr der Wertetyrannei bedacht, wenn in einem offenen Wertediskurs die unterschiedlichen Weltanschauungsüberzeugungen aller Gesellschaftsglieder berücksichtigt werden. Der Beitrag Käfers erinnert politische, philosophische und theologische Wertediskurse und benennt Herausforderungen, die durch digitale Überwachungsmöglichkeiten und die Corona-Pandemie im Blick auf die Gewichtung von Werten wie Sicherheit und Gesundheit gegeben sind. Anne Käfer schärft die Unterscheidung von „Wert“ und „Würde“ ein und plädiert für einen freiheitlichen Kommunikationsprozess über das Zustandekommen von Werten und ihre Beurteilung. Für sie ist Freiheit die entscheidende Voraussetzung für eine Wertediskussion, die einer Entwertung von Menschen vorbeugt und autoritäre Wertsetzungen verhindert. Reiner Anselm beschließt den Band mit einem Versuch, durch die Unterscheidung einer Ethik der Nähe und einer Ethik der Ferne eine Ethik internationaler Beziehungen aufzubauen: Am Beispiel gegenwärtiger Probleme der Friedensethik zeigt Anselm, welche Schwierigkeiten entstehen, wenn die Differenz zwischen der Hinwendung zum konkreten Nächsten und dem generalisierten Anderen nicht beachtet wird. Im Anschluss an Karl Barths Unterscheidung zwischen den Nahen und den Fernen präsentiert der Autor als Konkretion des Programms des Öffentlichen Protestantismus eine Zugangsweise zur Ethik internationaler Beziehungen, die die Differenz bewahrt, aber zugleich präsent hält, dass ein christliches Engagement in der Politik darauf ausgerichtet sein muss, trotz der unvermeidlichen Kompromisse möglichst Vielen, die beste Realisierung ihrer individuellen Ziele zu ermöglichen. All die angesprochenen Beiträge zeigen wissenschaftliche Gesprächszusammenhänge und gemeinsame Forschungsinteressen, aber auch Freundschaften, in denen Martin Leiner lebt, genauso wie das innovative Potential einer im Gespräch mit transdisziplinärer Versöhnungsforschung befindlichen Versöhnungstheologie. Susan Baumert und Francesco Ferrari

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Cesare Zucconi

Frieden ist immer möglich

Einführung Gern beteilige ich mich an der Festschrift zum 60. Geburtstag von Prof. Martin Leiner, denn ich kenne ihn schon lange und schätze ihn sehr. Vor einigen Jahren besuchte er mit einer Gruppe seiner Studenten Sant’Egidio in Rom, um unsere Arbeit für den Frieden und den Geist unseres Engagements besser kennenzulernen. Seitdem gab es zahlreiche Begegnungen in Rom, Jena und anderen Orten im gemeinsamen Einsatz für Versöhnung und Frieden auf der Welt. Martin Leiner führt diesen Einsatz vor allem durch sein Jena Center for Reconciliation Studies durch, das nicht nur wissenschaftliche Studien betreibt, sondern auch konkrete Initiativen zur Förderung von Frieden und Versöhnung in zahlreichen Regionen realisiert. Mein Beitrag ist weniger ein wissenschaftlicher Aufsatz als eine im Rahmen der Erfahrungen der Gemeinschaft Sant’Egidio hervorgegangene Reflexion über die heutigen Herausforderungen von Krieg und Frieden.1 Daher möchte ich zunächst auf die Gemeinschaft Sant’Egidio zu sprechen kommen.

1.

Sant’Egidio: eine christliche Gemeinschaft ohne Grenzen

Sant’Egidio ist mit den Worten von Papst Franziskus, die er beim Besuch in unserem römischen Zentrum in Trastevere anlässlich des fünfzigsten Jahrestages an uns richtete, die Gemeinschaft der drei „Ps“: preghiera, poveri, pace (Prayer, Poor, Peace). Diese drei Dimensionen bestehen gleichzeitig und sind in unserer Erfahrung eng miteinander verbunden. Sant’Egidio entstand 1968 in Rom durch die Initiative von Andrea Riccardi in den Jahren der Studentenrevolte und der Nachkonzilszeit. Mit anderen Jugendlichen stellte er die Bibel und die Armen in den Mittelpunkt.2 Die

1 Die Ausführungen dieses Beitrags sind weitgehend der Einführung des Buches von Andrea Riccardi, Die gewaltlose Kraft des Friedens (Riccardi 2018a) entnommen. 2 Sant’Egidio ist offiziell vom Heiligen Stuhl als „öffentlicher Verein von Gläubigen” anerkannt. Mitglieder sind heute nicht nur Katholiken, auch Angehörige anderer christlicher Konfessionen. Aufgrund seines Einsatzes für Frieden und Zusammenleben in Europa und auf der Welt wurde Andrea Riccardi der internationale Karlspreis 2009 verliehen. Zu Sant’Egidio siehe auch: Riccardi 2018b sowie auch: www.santegidio.org.

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Cesare Zucconi

Mitglieder sind Laien und leben wie alle als Frauen und Männer verschiedener Altersgruppen und sozialer Schichten, die durch eine Vision und einen gemeinsamen Weg verbunden sind. Die Begegnung mit dem Wort Gottes und vielen Armen hat ausgehend von den römischen Baracken der sechziger Jahre des vergangenen Jahrhunderts an vielen Orten der Welt auf den Weg einer grenzenlosen Liebe geführt (Sant’Egidio existiert heute mit ca. 70.000 Mitgliedern in über 70 Ländern der Welt). In der zweiten Hälfte der 80er Jahre des vergangenen Jahrhunderts kam dann das dritte „P“ (pace), der Friede hinzu. Andrea Riccardi sagt, dass der Krieg der Vater aller Armut ist. In diesem Zusammenhang wurde das Leben mit den Armen auch immer mehr zu einem Friedensengagement auf verschiedenen Ebenen. Es gibt die Arbeit der „Schulen des Friedens“ für Kinder, um in vielen Ländern der Welt eine Kultur des Friedens und Respekts gegenüber dem Anderen zu fördern, vor allem in Situationen größerer Armut und Gewalt (siehe dazu Gulotta 2018). Dieser Einsatz wird von den Gemeinschaften täglich in der jeweiligen Stadt durchgeführt, indem Freundschaften und Dialoge in vielen menschlichen und existenziellen Peripherien aufgebaut werden, in denen es Spannungen und Konflikte gibt (vgl. Riccardi 2017). Ein weiteres Engagement bezieht sich auf die Aufnahme von Flüchtlingen und Immigranten auf dem europäischen Kontinent, die durch Schulen für Sprache und Kultur in die Gesellschaft integriert werden, wobei zugleich eine Kultur des Zusammenlebens gefördert wird (vgl. Riccardi 2008).3 Es gibt daneben auch den Einsatz für den interreligiösen Dialog mit täglichen Aktivitäten in vielen Alltagssituationen und dem jährlichen Höhepunkt beim internationalen Friedenstreffen der Religionen, das Sant’Egidio jahraus jahrein jeweils in einem anderen Land organisiert (siehe Zucconi 2015, 127–146). Diese Friedensarbeit begann mit dem von Johannes Paul II. 1986 einberufenen historischen Weltfriedensgebetstag in Assisi. Dabei wird inständig für den Frieden gebetet und an die Situationen von Krieg und Gewalt in der Welt erinnert in der Überzeugung, dass das Gebet eine große Kraft beinhaltet, die in der Geschichte wirksam wird (siehe dazu Paglia 2018).4 Sant’Egidio kommt in vielen Teilen der Welt jeden Abend zum Gebet zusammen. Die Friedensarbeit hat sich schließlich auch zu einer regelrechten internationalen Diplomatie entwickelt, in deren Folge Sant’Egidio als „UNO von Trastevere“

3 Bedeutend ist auch die Initiative der „humanitären Korridore”, die seit 2016 von der Gemeinschaft Sant’Egidio in Zusammenarbeit mit protestantischen Kirchen und der katholischen Kirche in Italien, Frankreich und Belgien durchgeführt wird und neue, sichere und legale Wege verbunden mit einer sofortigen Integration im Gastland für Menschen aufgetan hat, die vor Krieg und Gewalt vor allem aus den Nahen Osten und vom Horn Afrikas auf der Flucht sind. 4 Zum Gebet von Sant´Egidio wird dieses Buch jedes Jahr in einer neuen Auflage publiziert, um durch einen Bibelabschnitt mit angefügten Kommentar jeden Tag im Jahr zu begleiten und eine wertvolle Hilfe für das Gebet anzubieten und auch die Spiritualität von Sant’Egidio kennenzulernen.

Frieden ist immer möglich

bezeichnet wurde (nach dem römischen Stadtviertel, in dem sich der Hauptsitz der Gemeinschaft befindet). Ausgangspunkt war dabei die Friedensvermittlung für Mosambik, durch die der sechzehnjährige Bürgerkrieg mit über einer Million Toten nach siebenundzwanzig Monate andauernden Verhandlungen in Sant’Egidio im Jahr 1992 beendet werden konnte (zur Friedensarbeit siehe auch Morozzo 2019 sowie Zucconi 2012 und Zucconi 2013). Vor allem glauben wir als Christen der globalen Welt, dass uns auf diesem Weg alles etwas angeht und eine Anfrage darstellt. Die Welt wird militärischer durch ausgeklügelte Waffen, aggressive Sprache und Politik und auch durch Worte, die Waffen sind. Welcher Geist steht hinter dem Einsatz von Sant’Egidio? Die Juden sprechen von Tikkun Olam und meinen damit die Reparatur der aus dem Chaos herausgeholten Welt. In vielen Winkeln der Welt ist das soziale Umfeld zerstört, es zeigt sich die alltägliche Notwendigkeit, mit Geduld Brüche zu heilen und Brücken zu bauen. Um Tikkun Olam zu ermöglichen, wird in der jüdischen Tradition Ghemilut chassadim benötigt, was als Verbreitung von liebenswürdiger Freundlichkeit zu verstehen ist, ohne etwas als Ausgleich zu erwarten. Freundschaft und Sympathie müssen verbreitet werden, um die durch neue Mauern, Hassgefühle, Verachtung und Antipathie gespaltene Welt wiederaufzurichten. Es gibt eine Kraft der Freundschaft, Sympathie und persönlichen Begegnung, die die Herzen der Menschen entwaffnen kann, denn Krieg und Frieden beginnen im Herzen eines jeden Menschen.

2.

Der Krieg heute

Die Welt, in der wir leben, muss neu betrachtet werden. Die internationale Lage ist sehr heikel. Es ist lange her, dass es zwei Supermächte gab, die die gegensätzlichen Bestrebungen – zumindest teilweise – kontrollieren konnten. Nach dem Ende des Kalten Krieges und des sowjetischen Systems waren die Vereinigten Staaten eine Zeitlang die einzige Supermacht, die auf Weltebene eine hegemoniale Rolle beanspruchen konnte. Doch auch diese Phase gehört der Vergangenheit an. Wir stehen an der Schwelle einer unsicheren Zeit, in der der Friede auf dem Spieltisch eines sehr zerbrechlichen und ganz sicher multipolaren Gleichgewichts ausgewürfelt wird. Die Militärausgaben nehmen wieder zu, nachdem sie verringert worden waren. In der Welt nach dem Zweiten Weltkrieg, der Entkolonialisierung und der Entstehung der Vereinten Nationen, dann der Europäischen Union und viel später der Afrikanischen Union wurde Gewalt abgelehnt, der Krieg wurde „verabscheut“. Das ist Schritt für Schritt nicht mehr der Fall: Für den Westen und vor allem für Europa ist die Erklärung „Nie wieder Krieg“ eine der größten Errungenschaften nach dem Zweiten Weltkrieg. Das gilt jedoch auch für Afrika seit der Zeit der Unabhängigkeiten und des Entschlusses von 1963, die Grenzen der Kolonialzeit nicht in Frage

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zu stellen. Und nun? Angst hat sich auf der Welt ausgebreitet, die alten Verträge der Nichtverbreitung von Waffen werden aufgegeben, Aufrüstung ist im Gange, alte Konflikte – vor allem, aber nicht nur im Nahen Osten – können scheinbar die Welt wieder in Flammen setzen; es treten stärkere und gewalttätige sezessionistische und ethnische Tendenzen sowie aggressive Nationalismen auf und die Pazifisten bleiben stumm. Es scheint, als kehrte alles zurück. Sorge bereitet vor allem, dass in einem solchen Klima eine unbesonnene Bewegung oder ein Zwischenfall einen globalen oder zumindest weitreichenden Konflikt auslösen könnten. Nachdem die Zahl der Konflikte unbestreitbar abgenommen hatte, nimmt sie wieder zu: von 26 Auseinandersetzungen im Jahr 1992 hat sie sich bis 2007 auf vier reduziert; 2018 ist sie wieder auf 14 gestiegen, von denen sich sechs in Afrika zutragen. Am meisten bereitet jedoch Sorge, dass es dauerhaft viele graue Gebiete gibt, die „weder Frieden noch Krieg“ erfahren, latente und ungelöste Krisen, schwelende Spannungen, die jederzeit neu aufflammen können. Experten bezeichnen sie als „lauwarme Kriege“. Meistens handelt es sich um interne Konflikte oder Bürgerkriege, oft Krisen mit „geringer Intensität“. Es herrscht die Meinung vor, dass ein Konflikt eingedämmt oder, was noch schlimmer ist, verheimlicht werden kann, dass er jedoch niemals vermeidbar ist, da er von äußeren Umständen abhängig sei. Man neigt immer dazu, den Anderen oder äußeren Faktoren die Schuld zu geben. Simone Weil erlebte die Aggressionen Hitlers, dachte über den Krieg nach und schrieb: Der größte Irrtum fast aller bedeutender Studien über bewaffnete Konflikte […] besteht darin, den Krieg als eine Episode der Außenpolitik anzusehen, während er vor allem eine Tatsache der Innenpolitik ist, und das ist die grausamste von allen (siehe Weil 2011).

Das bedeutet: Krieg wird auch geführt, um stärkeren inneren Zusammenhalt herzustellen. Krieg durchdringt alles, er beginnt immer damit, die Leute von seiner Unvermeidlichkeit oder sogar von seiner Nützlichkeit zu überzeugen. Der Krieg ist zu einem allgemeinen Konzept geworden. Je mehr er gefordert wird, umso größere kollektive Hysterie löst er aus, und man gewöhnt sich daran. In all seinen Formen spaltet Nationalismus (Indigenismus, Nativismus, Ethnizismus, Lokalismus, Regionalismus, Rassismus, religiöser Extremismus) das Volk. Völker und Staaten spalten sich in Stämme auf, das gilt nicht nur für Afrika. Nationalismus ist ein falsches Konzept, denn er richtet sich gegen jemanden. Der Krieg ist daher eine bruchstückhafte, unzusammenhängende, ungeordnete Ideologie der Spaltung, doch es handelt sich um eine Ideologie – der Gegensätze und des Feindes. Alles wird immer im Rahmen der Kultur des Feindes gedeutet. Und der Feind wird erfunden.

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3.

Die syrische Tragödie

Die langwierigen und dramatischen Ereignisse in Syrien zeigen, dass der Krieg in unserer Zeit eine Realität ist: Dieser Konflikt beschränkt sich nicht auf ein einziges Land, sondern löst weit über die jeweiligen Staatsgrenzen hinaus internationale Verwicklungen aus. Dieses Geschehen ist eine Warnung: Sind neue, ähnliche Konflikte denkbar? Wird unser Jahrhundert sich damit abfinden müssen, Zeuge solcher Ereignisse zu sein? Der Krieg in Syrien wird mit überraschender Gewaltbereitschaft geführt. Auf der einen Seite stehen die, die das Regime in die Knie zwingen, und auf der anderen diejenigen, die es aufrechterhalten wollen. Die ganze Angelegenheit ist ungeheuer komplex, und es gibt eine große Zahl verschiedener Akteure, doch alles dreht sich in diesem traurigen Geschehen um den Krieg. Acht Jahre einer mit allen möglichen Arten der Gewalt geführten Auseinandersetzung in Syrien haben uns an die Vorstellung gewöhnt, dass solche Kämpfe etwas Normales sind. In dieser soeben beginnenden Epoche droht die Gefahr, dass der Krieg als Mittel der Politik rehabilitiert wird und sich das internationale Bewusstsein und die internationale Politik an dieses Phänomen gewöhnen.

4.

Der Krieg löst weniger Besorgnis aus

Die Folgen des Syrienkonflikts waren sehr schmerzlich: Menschen auf der Flucht, Tote, traumatisierte Bewohner und Kinder, Städte, Geschichts- und Kulturschätze in Trümmern, Vernichtung der Ressourcen des Landes. Und doch erscheint es einem Großteil der öffentlichen Meinung gar nicht unbedingt merkwürdig, skandalös oder unnatürlich, dass gekämpft wird. Vielleicht, weil man meint, der Krieg sei das Problem der anderen, auch wenn die anderen gar nicht so weit entfernt sind. Die Akzeptanz dieses Mittels ist etwas Neues, das sich in den letzten Jahrzehnten langsam ins allgemeine Bewusstsein eingeschlichen hat, nachdem man sich – zu Zeiten des Kalten Krieges – noch vor den verheerenden Folgen einer Eskalation zwischen den beiden Supermächten gefürchtet hatte. Die Generation, die damals Einfluss ausübte, hatte den Zweiten Weltkrieg miterlebt, nicht nur das Grauen der Kämpfe und Zerstörungen, sondern auch die Schoah (die wie so viele Völkermorde erst durch die Abschottung im Schatten der Kampfhandlungen möglich wurde) und die tragischen Folgen des Konflikts, dass etwa ein beträchtlicher Teil Europas letzten Endes der kommunistischen Diktatur überlassen wurde. Die Generation, die das alles miterlebt hat, ist inzwischen größtenteils verschwunden oder hat ihren Einfluss weitgehend verloren. Die öffentliche Meinung wird von Frauen und Männern gesteuert und geprägt, die in einer Welt des Friedens geboren worden und sich weniger verantwortlich fühlen, wenn es darum geht, das Grauen

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des Zweiten Weltkriegs zu bezeugen und diese Tragödie nicht in Vergessenheit geraten zu lassen. Vielleicht erscheint der Krieg heute nicht mehr so gefährlich, vielleicht wirken die vielen Reden über den Frieden nur mehr wie eine politisch korrekte Rhetorik. Doch in der aktuellen Haltung und in der Art und Weise, wie internationale Entscheidungen gefällt werden, verbirgt sich etwas Tieferes, das es zu verstehen gilt. Denn die globale Situation ist womöglich gefährlicher, unkontrollierbarer als zu Zeiten des Kalten Krieges. Zugleich zeigt man sich allgemein weniger besorgt angesichts der Gefahren, die den Frieden heute bedrohen. Die Beunruhigung, mit der die Politik, die Kultur oder die öffentliche Meinung auf die ungelösten oder potentiellen Konflikte reagiert, hält sich in Grenzen. Einerseits steht man den Kriegen der »anderen« gleichgültig gegenüber, weil man davon überzeugt ist, dass sie niemals auf das eigene Land übergreifen können. Andererseits findet man sich – wie schon gesagt – leichter mit der Vorstellung ab, dass der Kampf ein Mittel sein kann, seine eigenen Beweggründe oder Interessen zu vertreten und sich zu verteidigen. Nationalistische Leidenschaften, die in einigen Ländern erneut auf dem Vormarsch sind, werten den Einsatz von Gewalt wieder auf oder begünstigen zumindest eine repressive Politik. Die Antwort auf die verheerenden Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA war der Krieg im Irak, für den es letztlich keine Begründung gab. Dabei beeinflussen die Vereinigten Staaten durch ihre Entscheidungen nicht nur das Verhalten anderer europäischer Länder, sondern auch die herrschende Kultur. Doch der Krieg im Irak hat im Land selbst und in der Architektur der gesamten Region eine Zerstörung in Gang gesetzt, deren Auswirkungen bis heute nicht abgeschlossen sind. Man müsste nur über diese Ereignisse nachdenken, um sich mit aller Klarheit bewusst zu machen, dass der Krieg seinen Befürwortern oft aus den Händen gleitet, sich zuweilen sogar gegen diejenigen richtet, die ihn gewollt haben, und gemessen an den ursprünglichen Absichten ganz anders geartete Ergebnisse erzielt. Die Kriege des 21. Jahrhunderts sind eine einzige große Geschichtslektion über die Nutzlosigkeit von Konflikten – eine Lektion, über die man sehr viel gründlicher nachdenken sollte. Auch das Beispiel von Libyen kann angeführt werden. Die Folgen der Militärintervention von 2011 sind offensichtlich. Das Land lebt im Chaos wenige Kilometer von den Grenzen Europas entfernt, die Europäer haben dagegen scheinbar nur Interesse an der Kontrolle der Ölquellen oder an den Folgen, die der Konflikt auf Immigranten haben könnte, die unseren Kontinent erreichen wollen. Oder auch Afghanistan, das heute in eine tiefe Krise geraten ist. Das Land wird wieder von den Taliban beherrscht, nachdem es 2001 von den Amerikanern und anderen nach dem 11. September angegriffen wurde. Der Sieg hat diesem Land keinen Frieden gebracht, das schon das Martyrium einer Jahrzehnte langen sowjetischen Besatzung erleiden musste. Achtzehn Jahre Krieg und ein zwischen verschiedenen Fronten eingezwängtes Volk, das weitgehend von den Taliban kontrolliert wird. Das Land liegt am Boden, obwohl verschiedene europäische Länder

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es vor kurzem zu einem sicheren Land erklärten, um Afghanen wieder abschieben zu können. Viele Afghanen sind weiterhin auf der Flucht, drei Millionen von 33 Millionen Einwohnern. Für den Krieg in Afghanistan wurden 900 Milliarden Dollar ausgegeben (davon 827 durch die USA), ohne die Taliban wirklich zu besiegen, mit denen man heute ein Abkommen aushandeln will. Das sind ca. 30.000 Dollar pro Afghane bei einem jährlichen Pro-Kopf-Einkommen von 600 Dollar.

5.

Was ist aus der Friedensbewegung geworden?

2003, in der Zeit des Konflikts gegen Bagdad und Saddam Hussein, haben wir – zumindest in Europa – die letzte große Mobilmachung der öffentlichen Meinung gegen den Krieg erlebt. Eine breite, politisch und ideell bunt zusammengewürfelte Bewegung bewies mit ihrer Ablehnung des Krieges sicherlich größere politische Klugheit als die kleine Gruppe von Leadern, die damals den Angriff befürworteten. Der Krieg fand dennoch statt, aber es ist nicht zu übersehen, dass die Friedensaktivisten Recht gehabt haben. Obwohl sich die amerikanische Entschlossenheit für einen Angriff gegen den Irak letztlich durchgesetzt hat, stellte die Bewegung mit einer nie dagewesenen Mobilisierung ihren Zusammenhalt unter Beweis. Allerdings ist es seit den Ereignissen von 2003 immer seltener gelungen, Menschen für den Frieden zu mobilisieren und zu interessieren. Liegt es daran, dass die Bewegung eine Niederlage erlitten hat? Oder macht sich im Hinblick auf internationale Entscheidungen ein Gefühl der Ohnmacht breit? Mit wem soll man heute in diesem Gewirr aus Konflikten überhaupt sprechen, gegen wen soll man sich stellen? Damals wandte sich die Bewegung gegen die Entscheidung des amerikanischen Präsidenten George Bush Jr., der den Krieg wollte. Das Ziel waren die Vereinigten Staaten, ein klar definiertes Gegenüber und eine große Demokratie. Das Interesse ist jedenfalls rückläufig. Mit dem Jahr 2003 brach für das Friedensengagement eine Art Herbst an. Im Grunde setzte sich die verbreitete Wahrnehmung durch, dass es um Entscheidungen ging, die außerhalb der Reichweite des Durchschnittsbürgers liegen: Entscheidungen, die von anderen Personen und anderen Mächten getroffen werden. Hinter dem wachsenden Desinteresse steht häufig ein Gefühl der Ohnmacht. Darüber hinaus wurde den europäischen Ländern immer deutlicher bewusst, dass sie bei den großen Entscheidungen der Welt eher am Rand stehen. Das hat der Syrienkrieg gezeigt, wo sogar die Vereinigten Staaten außen vor geblieben sind, während Russland, die Türkei und der Iran sich über eine Waffenruhe verständigten. Außerdem fragt man sich, wie die kleinen europäischen Länder als einzelne mit ihren begrenzten Ressourcen den großen internationalen Fragen gewachsen sein sollen. Die Komplexität dieser Fragen erfordert die Präsenz der Europäischen Union, denn nur sie kann sich wirkungsvoll an die Seite der großen Staaten der Welt stellen. Dennoch bremsen und begrenzen sowohl die größeren

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als auch die kleineren europäischen Länder – wenn auch aus unterschiedlichen Motiven – die Handlungsfähigkeit der Union in internationalen Fragen. Der Einsatz für den Frieden erfordert jedoch die Stärkung der internationalen Politik der Europäischen Union. Zwischen »Pazifismus« und »Europäismus« besteht ein ganz wesentlicher Zusammenhang. Der Bedeutungsverlust der Friedensbewegung erfolgte im Rahmen eines umfassenderen Prozesses, bei der sich die Allgemeinheit nach und nach von der internationalen Bühne ins lokale Alltagsgeschehen zurückgezogen hat. Man interessiert sich für andere Fragen, die dem eigenen Leben und dem nationalen Geschehen näherstehen. Die Konflikte sind so verworren und zuweilen so weit entfernt, dass eine Orientierung schwerfällt. Die öffentliche Meinung konzentriert sich auf andere Fragen, die enger mit den Problemen des Alltagslebens zusammenhängen, während verschiedene Formen von Populismus nach Kräften ihren Einfluss geltend machen. Offenbar liegt hier heutzutage der Kampfplatz, auf dem man sich der politischen Herausforderung stellen muss. Man entrüstet sich weniger darüber, dass andere durch die Tragödie des Krieges heimgesucht werden, als darüber, dass diese »anderen« in den europäischen Ländern Zuflucht suchen. Warum sollte man sich überhaupt mit den Konflikten und Problemen anderer Länder beschäftigen? Hat nicht die Sicherheit des eigenen Nationalstaats Vorrang, der sich durch Terrorismus oder Flüchtlingsströme und Einwanderer bedroht fühlt. Vor allem diese werden als das eigentliche Problem angesehen. Im Grunde geht es darum, wie man seine eigene »Welt« beschützen kann: Es ist eher ein Problem der Grenzen, Sicherheitsmaßnahmen und Mauern als des Friedens. Wenn man sich belagert fühlt, konzentriert man sich vorwiegend auf die eigene Sicherheit. Das Problem besteht darin, sich – notfalls auch mit Gewalt – selbst zu verteidigen. Ich will damit nicht sagen, dass die öffentliche Meinung kriegstreiberisch wäre, die Frage des Friedens steht jedoch nicht im Mittelpunkt. Es sind andere Erfordernisse, die von der Allgemeinheit als dringlicher wahrgenommen werden. Sich für den Frieden zu engagieren, scheint eine ideelle, utopische oder religiöse Motivation vorauszusetzen, die heute niemanden mehr umtreibt. Diese Frage beschäftigt nur einige wenige und stellt damit eher ein Nischenproblem als ein vitales Interesse aller dar. Das Problem besteht dabei nicht im Fortbestand der Friedensbewegung oder der historischen Formen, die sie in den letzten Jahrzehnten angenommen hat. Es geht vielmehr darum, die großen internationalen Probleme und insbesondere die Konflikte und die drohenden Kriege nicht aus dem Blick zu verlieren.

6.

Der Krieg der »anderen« geht auch uns an

Der Krieg ist nicht unsere Angelegenheit, sondern die der »anderen«: Das ist die verbreitete Auffassung in öffentlichen Debatten, die nicht über den Tellerrand ihrer

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eigenen nationalen Grenzen hinausdenken. Die Kriege sind weit weg. Tatsächlich trifft dies gar nicht immer zu. In der globalen Welt breiten sich Phänomene mit großer Leichtigkeit aus, die Entfernungen werden immer kleiner. Das eklatanteste Beispiel ist der Krieg im Nahen Osten. Der verheerende Syrienkonflikt hat Millionen von Flüchtlingen hervorgebracht. Ein Teil von ihnen (eine Minderheit) ist nach Europa gekommen. Dieses Phänomen hat in den europäischen Ländern eine Krise ausgelöst. Insbesondere der Osten Europas macht keinen Hehl aus seiner Angst vor einer fremden und muslimischen »Invasion«. Hinter der Entscheidung, die Grenzen zu schließen, steht die Vorstellung, man handele im nationalen Interesse, wenn man sich aus den Problemen heraushält, die der Konflikt im Nahen Osten verursacht – selbst auf die Gefahr hin, dass man seiner eigenen Verantwortung den Flüchtlingen gegenüber nicht gerecht wird. Diese Haltung hat in der Europäischen Union zu einem Bruch und zu einer Reihe von Schwierigkeiten geführt. Die Flüchtlingsfrage hat einen Keil zwischen die westlichen und die östlichen Länder getrieben. Das alles ist eine Folge des Syrienkrieges, der weite Kreise zieht. Der Friede in diesem Land lag vorrangig im Interesse der Syrer, aber – in anderer Hinsicht – auch im Interesse Europas. Wie man es wendet, so betrifft der Krieg der »anderen« letzten Endes auch die, die sich heraushalten. Eine weitere grenzüberschreitende Folge des Nahostkonflikts war der Terrorismus in Europa, auch wenn ich niemals den Fehler machen würde, von einem »Krieg« des Daesch gegen die europäischen Länder zu sprechen – das wäre zu viel der Ehre. Es handelt sich um bloßen Terrorismus, der allerdings in dem Versuch, eine direkte Auseinandersetzung zu erzwingen, von einer radikalen Propaganda geschickt als Krieg gegen den Westen stilisiert wird. Das Problem des Terrorismus in Europa beschränkt sich nicht auf (muslimische) Elemente, die sich in den europäischen Gesellschaften radikalisieren (mithin also auf ein internes, weil mit den Einwanderern oder Flüchtlingen verbundenes Problem); es handelt sich vielmehr um eine weitreichende internationale Frage, die mit der Krise des gesamten Nahen Ostens zusammenhängt. Kriege beschränken sich nicht immer und nicht so einfach auf eine bestimmte Weltgegend. Instabilität überträgt sich von einer Nation auf die andere. Der Aufbau des Friedens in anderen Ländern ist nicht nur eine moralische Verpflichtung, sondern letztlich gewissermaßen auch eine Voraussetzung für die eigene Sicherheit. Es soll nicht zu ausführlich auf dieses Thema, das alles andere als zweitrangig ist, eingegangen werden, doch es trägt auch in den Augen seiner Bürger zum Ansehen eines Staates bei, wenn er sich für den Frieden in einem anderen Land einsetzt und sich an Friedensmissionen beteiligt. In der heutigen Welt breiten sich noch immer zu viel Gewalt, zu viel Konfliktkultur aus; es gibt zu viele Kultstätten, die Gewaltbereiten als Sammelstätte dienen, zu viele Ressourcen werden solchen Netzwerken zur Verfügung gestellt. Und der

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Vertrieb und Verkauf von Waffen sind in diesem Kreislauf eine treibende Kraft. Mangelndes Interesse an den oft gar nicht weit entfernten Konflikten ist nicht sehr klug, nicht sehr moralisch und auch nicht immer vorausschauend. Wer sich um den Frieden der »anderen« sorgt, der kümmert sich letztlich – zumindest ein wenig – auch um seinen eigenen Frieden.

7.

Eine Bewegung, ein Denken und eine Kultur des Friedens

Wie soll man sich gegenüber komplexen Konflikten verhalten, wenn Recht und Unrecht so eng zusammenrücken, die Interessen verflochten und die Geschichten ineinander verwoben sind? Und zu wessen Nutzen? Das sind konkrete Fragen, die eine Antwort verlangen. Im Grunde hat sich die Friedensbewegung nicht nur durch Niederlagen bei Entscheidungen über Krieg und Frieden, sondern auch durch politische Verworrenheit der Konflikte, mit denen sie sich befasste, entmutigen lassen. Zu Zeiten des Kalten Krieges wusste man aufgrund der eigenen politischideologischen Verortung, auf wessen Seite man stand. Genau darum geht es: dass der Bürger der globalen Welt die Orientierung und damit auch das Interesse an der Friedensproblematik verliert. Wie lassen sich diese Schwierigkeiten überwinden? Um in unserer heutigen Welt verantwortungsvoll zu leben, müssen wir mehr über sie wissen. Die Zeit der ideologischen Vereinfachungen ist vorbei. Kultur, Bildung und Politik sind auf internationaler Ebene notwendige Voraussetzungen, um die globale Welt zu gestalten. Das heißt nicht, dass wir alle Akademiker oder Experten sein müssen, dass wir gleichwohl die aktuellen Entwicklungen verfolgen sollten, auch wenn sie zugegebenermaßen etwas kompliziert, für die Allgemeinheit aber keineswegs unbegreiflich sind. Die internationale Politik und die Geopolitik müssen wieder Teil der Alltagskultur und Bildung werden. Ein gewisses Maß an geopolitischer Bildung ist heutzutage notwendig – wie auch etwas Englisch, wenn man auf Reisen geht –, weil wir dadurch die vielen Nachrichten, die uns jeden Tag erreichen, interpretieren können, weniger orientierungslos sind und uns beteiligen können, indem wir uns eine Meinung bilden. Es ist hilfreich, wenn man Bescheid weiß, sich auskennt und mitdiskutiert, das beeinflusst letztlich auch die Friedenspolitik. In der globalen Welt können einige wenige (man denke an die Terroristen) schweren Schaden anrichten oder Konflikte auslösen, aber alle – das ist meine feste Überzeugung ‒ können helfen, Frieden zu stiften. Wir sind nicht zur Ohnmacht verdammt angesichts eines Spiels, das größer und stärker ist als wir. Wir haben die Pflicht, unseren Meinungen zu den Fragen von Krieg und Frieden Gehör und Geltung zu verschaffen. Eine Gesellschaft, die mit größerer Aufmerksamkeit auf das Geschehen der Welt achtet, bietet einen sehr viel besseren Schutz vor nationalistischen Leidenschaften und kriegstreiberischer Abenteuerlust, als man vielleicht meint. Sie bietet auch

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einen Schutz vor Entscheidungen, die den heimlichen Interessen einiger weniger dienen und letztlich jedoch ganze Völker betreffen. Im Grunde genommen ist Wachsamkeit erforderlich, auch wenn man – angesichts internationaler Gremien oder gegenüber den Entscheidungsträgern ‒ oft den Eindruck hat, man selbst oder das eigene Land sei mehr oder weniger unbedeutend. Was wir brauchen, ist eine wiedererstarkte Friedenskultur und mit ihr eine Bewegung, die neue Wege zu einer aktiveren Beteiligung an den großen internationalen Themen erprobt. Die globale Welt mit ihren unüberschaubaren Dimensionen und ihren gefestigten Verbindungen benötigt Menschen mit globalem Bewusstsein. Die Friedenskultur muss zu einer gemeinsamen Leidenschaft und zu einer festen Größe in der Erziehung der jungen Generationen werden. Das alles kann jedoch heranreifen, wenn verantwortungsbewusste Bürger an allen Orten wieder über den Frieden sprechen und über die Grenzen ihres eigenen Landes hinweg wieder mit Interesse die Ereignisse in der weiten Welt verfolgen. Das Interesse für den Frieden darf nicht nur gelegentlich oder in Notfällen erfolgen. Früher gab es große ideologisch-politische Leidenschaften: die europäische Idee, die Dritte-Welt-Bewegung, die Leidenschaft für Solidarität mit den westlichen oder den östlichen Ländern, die Entkolonialisierung usw. Unsere Zeit braucht wieder eine zivile Leidenschaft für die globale Welt mit ihren vielfältigen Aspekten. Denn diese Welt ist nicht homogen, nicht überall gleich und sie ist auch nicht uninteressant. Sie ist vielmehr ein Gefüge aus Geschichten und Geschehnissen, die heute mehr denn je miteinander zusammenhängen und eine gemeinsame Geschichte bilden. Die globale Welt ist nicht bloß ein großer, von zügellosen Wirtschaftskräften beherrschter Markt und auch kein Schauplatz, auf dem nur einige wenige Mächte zählen. Wir sind Teil dieser globalen Geschichte mit ihren vielen kleinen und großen Akteuren. Und wir hoffen, dass diese Geschichte sich in eine Perspektive des Friedens entwickelt, der die bestmögliche Ausgangssituation für die Menschheit ist.

8.

Die unbewaffnete Kraft des Friedens

Der Friede ist das Erbe der großen Persönlichkeiten des 20. Jahrhunderts. Es kann nicht an alle Denker der letzten 100 Jahre erinnert werden, die eine enge Verbindung zwischen Frieden und Humanismus hergestellt und auch gewaltfreie Wege der Veränderung aufgezeigt haben. Es sei nur an Gandhi und die Entkolonialisierung Indiens, an Johannes Paul II. und die Befreiung Polens vom Sowjetkommunismus und an Nelson Mandela erinnert, der sein Volk aus der Apartheid geführt hat. Das sind nur drei Beispiele (von vielen), die zeigen, dass Befreiung nicht zwangsläufig mit Gewalt einhergehen muss. Befreiung erfolgt nicht unbedingt unter Einsatz von Gewalt. Letztere verursacht oft keine echte Befreiung, sondern löst Prozesse

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neuerlicher Versklavung aus. Demgegenüber haben die politischen Übergänge von 1989 – zum Großteil – die Vorstellung in die Archive verbannt, eine gewaltsame Revolution sei das beste Mittel, eine bestehende Situation zu verändern. Kriege hinterlassen bei den Völkern ein vergiftetes Erbe, dessen Wirkung oft lange Zeit anhält. Nelson Mandela war ein Mann des Friedens und ein Revolutionär und hat der Welt am Ende des 20. Jahrhunderts von der Tribüne der UNO aus die Aufgabe übertragen, sich gegen die Tendenz zu wenden, Waffen zu glorifizieren und Gewalt zu verherrlichen. Dies scheint mir unverzichtbar, wenn wir unser 21. Jahrhundert nicht zu einer unmenschlichen Zeit mit großen Zerstörungen machen wollen. Das ist weder Utopie noch Sentimentalität, sondern Ausdruck einer sehr realistischen Einschätzung, die sich auf die Beschäftigung mit der zeitgenössischen Geschichte und mit den Folgen von Konflikten, gewaltsamen Revolutionen und Waffengebrauch gründet. Die Entscheidung für den Krieg betreibt ein Glücksspiel mit der Geschichte und hat ungeahnte und unkontrollierbare Folgen für sämtliche Akteure auf dem Kriegsschauplatz und für die ganze Welt. Die Erfahrung von Sant’Egidio bringt die Überzeugung zum Ausdruck, dass jeder für den Frieden arbeiten kann, weil der Friede – auch in sehr schwierigen Situationen – möglich ist. Er ist zwar nicht immer die bequemste, aber auf jeden Fall die klügste Option. Motivationen für den Friedenseinsatz und das Interesse am Frieden können unterschiedliche Standpunkte und Geschichten beinhalten. Man denke an die Rolle der Religionen, und das nicht nur deshalb, weil religiöse Ideologien in einigen Konflikten oder in einer Reihe terroristischer Handlungen als Rechtfertigung angeführt werden. Die Religionen können einen wichtigen Beitrag leisten vor allem dadurch, dass sie sich von jeder Kriegsrechtfertigung distanzieren und ihre Gläubigen dazu erziehen, den Frieden zu suchen und zu bevorzugen. Das ist vor allem in unserer Zeit keine geringfügige Aufgabe. Zwischen der religiösen Erfahrung und dem Frieden besteht eine enge Verbundenheit, die mutig und energisch in den Blickpunkt gerückt werden muss. Und auch der Dialog unter den Religionen ‒ nicht nur auf höchster institutioneller Ebene, sondern auch im täglichen Miteinander – schafft ein Klima der Harmonie, das imstande ist, den religiösen Rechtfertigungen der Konflikte den Boden zu entziehen. Im Christentum ist die Verbindung zwischen dem Frieden und der religiösen Erfahrung meiner Ansicht nach besonders deutlich, auch wenn die Kirchen und die Christen im Lauf ihrer langen Geschichte nicht immer eine friedliche Agenda verfolgt haben. Heute sehen wir, dass es dem eigentlichen Kern des Christentums zutiefst entspricht, eine prophetische Aufgabe für den Frieden wahrzunehmen. Dies ist vor allem im 20. Jahrhundert angesichts der beiden Weltkriege und anderer Konflikte deutlich geworden. Und es zeigt sich mit aller Klarheit in der Botschaft, die die verschiedenen Päpste des letzten Jahrhunderts in Bezug auf Kriegssituationen formuliert haben. Die Christen haben mithin eine besondere (unbewaffnete) Kraft,

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den Frieden zu fördern und zu verwirklichen, wenn sie die Kühnheit besitzen, aus ihren Gemeinschaften in die Welt hinauszutreten. Diese reale Kraft befähigt sie auch als Minderheit oder unter Druck dazu, Widerstand gegen kriegstreiberische Leidenschaft, Hass und Streitsucht zu leisten, die Konfliktszenarien typischerweise vorbereiten oder begleiten.

9.

Schlussfolgerung

Wir befinden uns in einer Zeit des Übergangs, nachdem die ersten Jahre nach dem Mauerfall von Euphorie und Optimismus geprägt waren und die Grenzöffnungen neue Versprechungen von Entwicklung und Demokratie mit sich brachten. Heute dagegen hat es den Anschein, dass wenn schon nicht Mauern, so doch Grenzen wiederaufgerichtet werden müssen. Es herrscht ein Gefühl der Unsicherheit. Hier ist ganz sicher politischer Weitblick gefragt. Die globale Welt muss daher von klugen Frauen und Männern geführt werden, die über die Geschicke des Friedens nachdenken. Es bedarf wieder einer Bewegung, eines Denkens und einer Kultur mit der Kraft, der Kriegstreiberei den Wind aus den Segeln zu nehmen und der Kriegslogik nicht das Feld zu überlassen. Das ist mehr als Pazifismus, es ist die reife Frucht unserer heutigen Geschichte, die aus den vielen blutigen Lektionen der vergangenen Jahrzehnte und des letzten Jahrhunderts etwas gelernt hat. Diese Frucht wird zur öffentlichen Stellungnahme, zum moralischen Zeugnis, zum politischen Vorschlag. Und das ist ein Prozess, der dazu anspornt, Friedensstifter zu werden, Konfliktparteien zu versöhnen und die Arsenale des Hasses zu entschärfen. Viele, Gläubige wie Humanisten, können mit der unbewaffneten Kraft des Friedens auf die Geschichte einwirken. Es ist eine Kraft, die unsere Zeit unbedingt braucht.

Literaturverzeichnis Gulotta A. (Hg.) 2018, In der Schule des Friedens. Kinder erziehen in einer globalen Welt, Würzburg. Morozzo della Rocca, R. (Hg.) 2019, Wege zum Frieden. Die internationale Friedensarbeit der Gemeinschaft Sant’Egidio, Würzburg. Paglia, V. 2018, Das Wort Gottes jeden Tag 2018/2019, Würzburg. Riccardi, A. 2018a, Die gewaltlose Kraft des Friedens, Würzburg. Riccardi, A. 2018b, Alles kann sich ändern. Gespräche mit Massimo Naro, Würzburg. Riccardi, A. 2017, Die Peripherie. Ort der Krise und des Aufbruchs für die Kirche, Würzburg. Riccardi, A. 2008, Die Kunst des Zusammenlebens. Kulturen und Völker in der globalisierten Welt, Würzburg. Weil, S. 2011, Krieg und Gewalt. Essays und Aufzeichnungen, Zürich.

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Zucconi, C. 2015, „Frieden schaffen im 21. Jahrhundert. Die Erfahrung der Gemeinschaft Sant´Egidio“, in: Linzer Philosophisch-Theologische Beiträge, 30, S. 127–146. Zucconi, C. 2013, „Sant´Egidio: Frieden durch Vermittlung (Mosambik)“, in: Religionen und Weltfrieden. Friedens- und Konfliktlösungspotenziale von Religionsgemeinschaften, hg. R. Mokrosch, T. Held, R. Czada, Stuttgart, S. 267–277. Zucconi, C. 2012, „Die Friedensarbeit der Gemeinschaft Sant’Egidio“, in: Friedensfähigkeit und Friedensvisionen in Religionen und Kulturen, hg. M. Delgado, A. Holderegger, G. Vergauwen, Stuttgart 2012, S. 294–318.

Wolfgang Huber

Erhoffte Versöhnung Thesen zur Friedens- und Versöhnungsarbeit

Potsdam, Nagelkreuzkapelle, 20. März 2021

1. Im März 2018 hielt der Greifswalder Theologe Heinrich Assel in der Potsdamer Friedenskirche einen Vortrag, der den Titel trug: „Versöhnung und Aussöhnung heute. Das Beispiel Polen und Deutsche“ (Assel 2018, Kap. 1 § 2). Dieser Vortrag war dem Verfasser so wichtig, dass er ihn an den Beginn eines dreibändigen Werks über „Elementare Christologie“ (Assel 2020) stellte, das im vergangenen Jahr veröffentlicht wurde. Das ist zum einen deshalb spannend, weil der komplexe Vorgang der allmählichen Annäherung von Polen und Deutschen nach den Gräueln des Zweiten Weltkriegs von dem Autor als ein Modell angesehen wird, mit dessen Hilfe man auch diejenige Versöhnung besser verstehen kann, die im Zentrum des christlichen Glaubens steht: Gott überbrückt und überschreitet in Christus den Graben, der den in sich verkrümmten Menschen von ihm trennt. So befreit er ihn aus seiner Selbstbezogenheit und beruft ihn zur Offenheit für seine Mitmenschen. Wenn ein Theologe einen solchen konkreten Versöhnungsvorgang wie die deutsch-polnische Versöhnung an den Beginn eines hochgradig theologischen Buchs stellt, so ist damit nicht gemeint, dass die Versöhnung der Menschen mit Gott mit der Versöhnung unter den Menschen gleichgesetzt oder in einem imperativen Sinn als Voraussetzung für Versöhnungsbemühungen unter den Menschen verstanden wird. Dass die Versöhnung in der Begegnung mit Gott zur Versöhnung unter den Menschen ermutigt und befreit, kann erhofft werden, ein ursächliches Abhängigkeitsverhältnis dagegen scheidet schon deshalb aus, weil es die Gottesbeziehung instrumentalisieren würde. Wenn im künftigen Turm der Garnisonkirche beide Dimensionen gelebt und erlebt werden können, dann nicht im Sinn einer solchen Instrumentalisierung. Assel versucht, die Differenz zwischen der Gottesbeziehung des Menschen und der zwischenmenschlichen Ebene durch die begriffliche Unterscheidung zwischen Versöhnung und Aussöhnung zu verdeutlichen. Er beruft sich dafür auf Hans Koschnick, den langjährigen Bremer Bürgermeister, der von 1994 bis 1996 EUAdministrator in Mostar war. Nicht für Versöhnung sei er zuständig, sagte der

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bekennende Protestant, denn diese setze die Versöhnung mit Gott voraus; seine politische Aufgabe sei Aussöhnung (vgl. Assel 2018, Fußnote 157). Ich halte diesen terminologischen Vorschlag nicht für glücklich. Denn Aussöhnung klingt eher nach einem – oft unerreichbaren – Resultat. Aller Streit muss auf Dauer befriedet sein, wenn man von einer Aussöhnung sprechen könnte. Selbst bei den berühmten Bruderzwisten – nicht ohne Grund ein Modell für die harte Arbeit der Versöhnung – wagt man nur selten von „Aussöhnung“ zu sprechen. Der terminologische Vorschlag von Hans Koschnick stellt also die politische Aufgabe der Versöhnung unter einen Anspruch, der in vielen Fällen gar nicht einlösbar ist. Denn wir müssen einräumen, dass Versöhnungsprozesse zwischen Menschen immer nur vorläufigen, niemals endgültigen Charakter haben. Auch wenn man besonders gelungene politische Versöhnungsprozesse in den Blick nimmt, kann man die Zerbrechlichkeit der Versöhnung niemals ausschließen. Die Versöhnung ist ein andauernder Prozess. Wie im menschlichen Leben überhaupt so sind auch in Prozessen der Versöhnung, mit Dietrich Bonhoeffer gesprochen, letzte und vorletzte Dinge voneinander zu unterscheiden (Bonhoeffer 1992, 137–162). Darin liegt eine große Freiheit. Wir können uns zur Arbeit an der Versöhnung als menschlicher Aufgabe im Bereich des Vorletzten zusammentun, ohne diese Zusammenarbeit an eine gemeinsame Sicht des Letzten zu binden. Es mag sein, dass wir dadurch auch im Blick auf das Letzte – in Bonhoeffers Worten: die Gnade Gottes – zusammenfinden, aber eine Voraussetzung ist das nicht. Erhoffte Versöhnung umfasst zwei Dimensionen: die Dimension des Letzten, die im Glauben an Gottes versöhnende Gnade zum Ausdruck kommt, und die Dimension des Vorletzten, die in menschlichen Bemühungen um Schritte der Versöhnung untereinander wie mit der Schöpfung zum Ausdruck kommt. Zur Freiheit des Glaubens gehört es, ihn nicht zur Voraussetzung für die Möglichkeit der Versöhnung zwischen Menschen zu machen. Deshalb ist „Versöhnung leben“ offen für Menschen unterschiedlicher Erfahrungen und Glaubensüberzeugungen. These 1: Christen bekennen sich zu der Versöhnung, deren Bote Jesus Christus ist: der Versöhnung mit Gott, der Versöhnung unter den Menschen, der Versöhnung mit der Schöpfung. These 2: Das Gebet um Versöhnung wird im Turm der Garnisonkirche zu den grundlegenden Aufgaben gehören. Der Friedenscarillon wird die Versöhnungsbotschaft in der Öffentlichkeit der Stadt hörbar machen. These 3: Christen leben Versöhnung mit Menschen verschiedener Herkunft und unterschiedlicher Überzeugungen. Für die Projekte der Stiftung ist diese Offenheit von grundlegender Bedeutung.

Erhoffte Versöhnung

2. Heinrich Assel geht in seinen Überlegungen vom theologischen Verständnis von Versöhnung aus und versucht, dieses Wort im Blick auf das Überwinden von Gräben zwischen Menschen und Völkern zu vermeiden. Ein solches Vorgehen entspricht einem Muster, das gegenwärtig in der Theologie, vor allem, wenn sie sich als „öffentliche Theologie“ versteht, verbreitet ist. Man geht vom theologischen Gebrauch aus und versucht dann, ihn zu übersetzen. Dabei handelt es sich bei den Wörtern, die für den christlichen Glauben verwendet werden, in den allermeisten Fällen gar nicht um genuin religiöse oder gar theologische Wörter. Die Sprache des christlichen Glaubens ist keine Sonntagssprache. Die Wörter, die der christliche Glaube in solchen Zusammenhängen gebraucht, entstammen vielmehr der Alltagserfahrung, bevor sie zur Beschreibung religiöser Erfahrungen Verwendung finden und damit zu Wörtern der „Sonntagssprache“ werden. Wir sind gut beraten, sie in ihren alltäglichen Kontext zurückzuversetzen, um zu lernen, was sie für unseren heutigen Alltag leisten können. So knapp wie möglich will ich das verdeutlichen. Es ist vor allem der Apostel Paulus, der das Wort Versöhnung in der Sprache des christlichen Glaubens heimisch gemacht hat. Er verwendet dafür das griechische Substantiv katallage beziehungsweise das Verb katallassein. Es bedeutet wörtlich Tausch, Veränderung. Wie das englische Wort change kann es für den Geldwechsel verwendet werden, aber auch für die Gestaltung grundlegender Veränderungen. Das Entscheidende am change management besteht bekanntlich darin, alle an der Veränderung Beteiligten mitzunehmen, keinen abzuhängen, auf unterschiedliche Geschwindigkeiten Rücksicht zu nehmen. Schon in der Antike wurde das Wort katallage für praktische Tätigkeiten wie den Austausch von Naturalien oder das Wechseln von Münzen genauso verwendet wie für kompliziertere Verhandlungen über Geben und Nehmen. Diesen elementaren Vorgang des „Austauschs“ (worunter wir im Deutschen ja nicht nur den Ersatz funktionsuntüchtig gewordener Geräte oder Geräteteile, sondern auch das Gespräch zwischen Menschen meinen) nimmt Paulus zum Bild für das Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Den unter Menschen im Idealfall symmetrisch verlaufenden Austausch verbindet er mit dem göttlichen Austausch, in dem Gott schon vorher weiß, was wir Menschen brauchen, nämlich die Befreiung aus den Gebrochenheiten der Welt und unseres eigenen Lebens. Worin die Versöhnung, von der hier die Rede ist, besteht, kann man sich verdeutlichen, wenn man nach dieser Anknüpfung an den griechischen Sprachgebrauch einen Blick auf den lateinischen wirft, der über die romanischen Sprachen wie über das Englische für weite Teile des Globus prägend geworden ist. Das entscheidende Wort reconciliatio führt auf das Wort conciliare zurück, zu Deutsch: vereinigen, verbinden, befreunden. Demgemäß bedeutet das zugehörige Substantiv concilium Vereinigung, Verbindung. Erst im übertragenen Sinn findet es auch für Versamm-

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lungen oder Zusammenkünfte Verwendung. Doch vorrangig ist die Verbindung selbst, nicht die Versammlung, in der sie sich zeigt. Reconciliare bedeutet demzufolge: unterbrochene oder zerstörte Verbindungen wiederherzustellen. Die Alltagserfahrung, dass die Erneuerung solcher Verbindungen für den Frieden zwischen Menschen unentbehrlich ist, wird im christlichen Glauben zugleich auf das Gottesverhältnis des Menschen angewandt. Aber noch einmal ist daran zu erinnern: Die Aufgabe, zerbrochene Verbindungen wieder zu heilen, gilt aus einer Glaubensperspektive unabhängig davon, ob der andere diesen Glauben teilt oder nicht. Die Versöhnungsperspektive des Glaubens hat deshalb eine erstaunliche Affinität zu den Bedingungen in einer religiös-weltanschaulich, pluralen und gesellschaftlich wie politisch in vielen Hinsichten zerklüfteten Welt. Ein Blick auf die Geschichte des deutschen Worts „Versöhnung“ bestätigt den bisherigen Befund. „Versühnen“ ist das Ausgangswort. Dank des Einflusses von Bayern und Schwaben hat sich im Lauf der Zeit der Umlaut „ö“ in das Wort hineingeschlichen. Aber mit Sohn oder Sohnschaft hat das deutsche Wort nichts zu tun – obwohl Jesu Erzählung vom verlorenen Sohn ein großartiges Gleichnis für Versöhnung ist. Doch das ist eine andere Geschichte. Im deutschen Wort „Versühnung/Versöhnung“ geht es darum, einen Konflikt durch eine angemessene Sühne, durch eine Entschädigung oder einen anderen Ausgleich zu einem guten Ende zu bringen. Im Regelfall ist mit dieser Sühne also mehr als nur ein Handschlag gemeint. Wiedergutmachung ist ein legitimes Element der Versühnung. Aus dieser Alltagsbedeutung von Versöhnung erklärt sich, warum in der christlichen Theologie die Versöhnungstheologie so lange als „Wiedergutmachungstheologie“ betrieben worden ist – mit teilweise sehr problematischen Folgen. Es mag befreiend sein, sich daran zu erinnern, dass das Wort „Versühnung“ als Alltagswort entstanden ist, das noch nichts von dem „Gefühlston“ an sich hatte, der dem Grimm’schen Wörterbuch zufolge die spätere Wortgeschichte prägt. Es gibt nach dem Gesagten keinen Grund, Versöhnung und Vergebung gleichzusetzen. Schuld ist an die Person gebunden; ihr wird deshalb auch die Vergebung zugesprochen. Ebenso vollzieht sich zwischen Personen die Bitte um Vergebung und deren Gewährung. Es gibt keine kollektive Vergebung. Versöhnung ist dagegen auch zwischen Gruppen und Völkern vorstellbar. Wenn es auch keine Kollektivschuld gibt, so liegt die Schuld bei Verbrechen aus Gehorsam doch nicht nur bei den Auftraggebern, sondern auch bei denen, die den Befehl ausführen. Kollektiv wird geschichtliche Schuld somit erst durch ihre Folgen. Die jetzt lebenden Generationen erfahren das dadurch, dass die Schuld der Vergangenheit auch dann nicht vergeht, wenn keine Täter mehr am Leben sind. Unsere kollektive Teilhabe an den Folgen dieser Schuld lässt sich nicht durch Akte der Vergebung beenden. Eine rückwirkende Vergebung gegenüber den Tätern liegt nicht in menschlicher Macht. Aber auch die Nachfahren der Täter können keine Vergebung für sich in Anspruch nehmen; sie sind, obwohl nicht Täter, in eine geschichtliche Haftung für

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die Folgen vergangener Taten einbezogen. Von ihnen wird zu Recht erwartet, dass sie erinnernde Solidarität mit den Opfern walten lassen und aus ihr Konsequenzen ziehen. Erinnernde Solidarität mit den Opfern ist ein wichtiges Element in Prozessen der Versöhnung. Geschichte erinnern und Versöhnung leben sind unlöslich miteinander verknüpft. These 4: Versöhnung bedeutet Veränderung, change; deshalb wurde der Wind, der am Ort der Garnisonkirche wehen soll, schon früh mit dem Song der Scorpions als „Wind of change“ bezeichnet. These 5: Versöhnung bedeutet, zerbrochene, zerstörte oder gefährdete Verbindungen wiederherzustellen und zu kräftigen. Austausch, Kommunikation, voneinander Lernen sind ihre wichtigsten Mittel. These 6: Versöhnung und Vergebung sind voneinander zu unterscheiden. Die Schuld der Vergangenheit vergeht nicht; Versöhnung bedarf der erinnernden Solidarität.

3. Zu meinen Wünschen für den Lernort Garnisonkirche gehört, dass von ihm exemplarische Alltagsprozesse der Versöhnung in all den Sprachen ausgehen, die im Sockel des Turms eingemeißelt sind: Deutsch, Englisch, Französisch, Polnisch, Russisch. Ich konzentriere mich auf ein Beispiel. Dabei folge ich noch einmal der von Heinrich Assel vorgezeichneten Spur, indem ich mit einigen Überlegungen an das deutsch-polnische Verhältnis anknüpfe. Am 1. Februar 2021 hat die polnische Historikerin Agnieszka Pufelska in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung einen Essay über die Potsdamer Garnisonkirche unter dem Titel „Vergesst die Teilung Polens nicht“ veröffentlicht (Pufelska 2021). Am 14. März wurde eine leicht variierte Fassung dieses Aufsatzes in der Evangelischen Zeitung (Evangelische Zeitung Nordkirche 2021) veröffentlicht, die in der gesamten Nordkirche von Niebüll bis Swinemünde verbreitet wird. „Aus polnischer Sicht“ wird eine Garnisonkirche „ohne Glanz und Gloria“ gefordert. Der „Geist von Potsdam“ wird in Erinnerung gerufen, zu dem eine aggressive Expansionspolitik nach Osten gehört. Für Pufelska verlangt die Zerstörung der polnischen Staatlichkeit durch die friderizianischen Kriege nach Aufmerksamkeit. Nach den polnischen Teilungen von 1772, 1793 und 1795, machten nach Pufelskas Rechnung die ehemals polnischen Gebiete mehr als die Hälfte des preußischen Staatsgebiets aus; rund drei Millionen der damals etwa acht Millionen Einwohner Preußens waren „Untertanen polnischer Zunge“ (Evangelische Zeitung Nordkirche 2021). Pufelska regt an, bei den Versuchen zu einer architektonisch-kulturellen Anknüpfung an die preußische Tradition auch die Bauwerke aus dieser Tradition im heutigen Polen einzubeziehen.

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Nicht nur in politischer, sondern ebenso in kultureller sowie auch kirchlicher Hinsicht ist der polnisch-deutsche Dialog für eine kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit unentbehrlich. Dabei muss man sich auf deutscher Seite der Parallele zwischen Antisemitismus und Polenfeindlichkeit seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts genauso bewusst sein, wie der Tatsache, dass der Kampf gegen den Versailler Vertrag von 1819 in der Weimarer Zeit nicht nur die verlorene Heimat und deren Rückgewinnung im Blick hatte, sondern dies mit dem Eintreten für die evangelische Minderheit in Polen verband. Dieser kirchliche Akzent wirkte sich auch noch auf die Debatten über die Anerkennung der Oder-Neiße-Grenze nach 1945 aus. Eigens dafür hebt Agnieszka Pufelska die Rolle von Otto Dibelius, dem Generalsuperintendenten der Kurmark und späteren Bischof von BerlinBrandenburg hervor, der von dieser Traditionslinie aus, die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze ablehnte. Daraus mag es sich erklären, warum es zwanzig lange Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs bedurfte, bis eine kirchliche Verlautbarung zum ersten Mal offiziell die Anerkennung der Oder-Neisse-Grenze und mit ihr die Veränderung des Verhältnisses Deutschlands zu seinen östlichen Nachbarn thematisierte. Die sogenannte Ost-Denkschrift der Evangelischen Kirche in Deutschland vom Oktober 1965 leistete einen unvergesslichen Beitrag zur Veränderung der politischen Atmosphäre in Deutschland und trug auf diese Weise maßgeblich zur Vorbereitung der Friedens- und Entspannungspolitik nach 1969 bei. Ergänzt wurde dieser Anstoß durch den Brief der polnischen katholischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965, der den berühmten Satz enthielt: „Wir gewähren Vergebung und bitten um Vergebung.“ Dieser Satz, so problematisch er im Rückblick auch erscheinen mag, war die wichtigste Antwort von polnischer Seite auf den Versuch, das Tabu zu brechen, das einer deutsch-polnischen Versöhnung im Weg stand. Es dauerte noch fünf Jahre, bis Willy Brandt zur Unterzeichnung des Warschauer Vertrags über die Grundlagen der Normalisierung der wechselseitigen Beziehungen nach Warschau kam. Sein Kniefall vor dem Mahnmal des Warschauer Ghettos wurde bald als Symbol einer Vergebungsbitte gedeutet. Willy Brandt hat eine solche Deutung nie ausgesprochen; seine Erklärung findet sich vielmehr derzeit auf dem Block einer 110-Cent-Briefmarke mit den Worten: „Am Abgrund der deutschen Geschichte und unter der Last der Millionen Ermordeten tat ich, was Menschen tun, wenn die Sprache versagt.“ Noch einmal zwanzig Jahre dauerte es, bis es 1990 bis zum deutsch-polnischen Grenzvertrag sowie im Folgejahr zu dem ihn ergänzenden Nachbarschaftsvertrag kam. Agnieszka Pufelska schreibt aus einer Sicht, in der die Versöhnungsbemühungen zwischen Deutschland und Polen, unter denen kirchliche Bemühungen eine erhebliche Bedeutung hatten, keine Rolle mehr spielen. Auch der bewegende Moment des 1. Mai 2004 tritt nicht in die Erinnerung, an dem wir auf den Oderbrücken zwischen Frankfurt und Słubice, zwischen Guben und Gubin, zwischen Görlitz

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und Zgorzelec den Tag feierten, von dem an es keine trennende Grenze zwischen Deutschland und Polen mehr geben sollte. Seitdem hat sich die politische Lage zwischen Deutschland und Polen so erschwert, dass sogar die Geschichte von Versöhnung und europäischer Einigung hinter der Erinnerung an Krieg und Teilung, Eroberung und Massenmord zurücktritt. Initiativen wie das Weimarer Dreieck zwischen Frankreich, Polen und Deutschland gehören der Vergangenheit an. Polen und Ungarn werden unter politischen und rechtsstaatlichen Gesichtspunkten von vielen Seiten als Sorgenkinder der Europäischen Union betrachtet. Das Bemühen um Verständigung und die Wiederherstellung zerbrochener oder gefährdeter Verbindungen zwischen Deutschland und Polen gehören gerade heute zu den vorrangigen Aufgaben nicht nur der staatlichen Politik, sondern auch des zivilgesellschaftlichen Engagements. Die Kooperation mit anderen Initiativen grenzüberschreitender Zusammenarbeit und Versöhnung, die derzeit im Rahmen der Bildungsarbeit von Hana Hlásková in Gang kommt, kann dafür ein Baustein sein. In meinen Augen liegt es nahe, das deutsch-polnische Verhältnis in Geschichtswerkstätten und Begegnungsveranstaltungen zu einem ersten Modell dafür zu machen, wie Geschichtserinnerung und Bildungsarbeit sich miteinander verzahnen und mit dem Leitgedanken der Versöhnung verbinden können. Dabei ist nicht nur die Geschichte von Feindschaft und Gewalt bis 1945, sondern auch die Geschichte gemeinsam erlittener Unterdrückung der Freiheit durch den Stalinismus zu erinnern. Aus diesem Grund hat der spanische Schriftsteller Jorge Semprún (Semprún 1997) von einem gedoppelten Gedächtnis (mémoire dédoublée) gesprochen. Auch der Ort der Garnisonkirche und des Mosaiks von Fritz Eisel gibt zu einem solchen gedoppelten Gedächtnis Anlass. Genauso wichtig ist die Erinnerung an die Bürgerrechtsbewegungen in beiden Ländern und den schließlich errungenen Übergang zur Demokratie. Neue Schritte zur Versöhnung können aus der Erinnerung an die Versöhnungsbemühungen der Vergangenheit und an den Weg in die Freiheit Kraft schöpfen. These 7: Die Inschrift im Sockel des Garnisonkirchturms regt dazu an, die fünf dort in Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg gewählten Sprachen zum Leitfaden für die Auswahl von Projekten zu nehmen, in denen Versöhnungsperspektiven entwickelt werden. These 8: Es liegt nahe, mit Projekten zum Verhältnis zwischen Polen und Deutschen zu beginnen. Dabei ist die Verknüpfung mit vergleichbaren Perspektiven auf beiden Seiten anzustreben.

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4. „Versöhnung ist die Reise aus einer zerbrochenen Welt in eine gemeinsame Zukunft.“ Mit diesen Worten hat John Witcombe, der Dechant der Kathedrale von Coventry hier in der Nagelkreuzkapelle am 23. November 2019 die Hoffnung auf Versöhnung beschrieben. Seinen Leitsatz mache ich mir gern zu eigen. Er hebt die zeitliche Struktur von Versöhnung hervor: Von der Erfahrung zerbrochener Verbindungen herkommen und dennoch auf eine gemeinsame Zukunft zugehen – dieser spannungsvolle Weg wird unter das Wort Versöhnung gefasst. Zwischen beiden liegt eine Reise, ein Weg. Dieser Weg ist der Weg des Friedens: „Richte unsere Füße auf den Weg des Friedens.“ (Lk 1, 79) Wir haben uns angewöhnt, vom gerechten Frieden zu sprechen und dabei vier Dimensionen dieses gerechten Friedens in den Vordergrund zu rücken: den Schutz vor Gewalt, die Förderung der Freiheit, den Abbau von Not und die Anerkennung kultureller Verschiedenheit. Aber der Ort, an dem wir gerade bauen, erinnert uns daran, dass Frieden eine weitere Dimension hat, nämlich die Aufklärung über die Vergangenheit, von der Klaus von Dohnanyi einmal gesagt hat, sie müsse rücksichtslos sein, denn „wir brauchen ein helles Licht, um die dunkle Vergangenheit wirklich auszuleuchten.“ (Dohnanyi 2011). Das Licht, das dadurch entsteht, erhellt den Weg zu dieser Reise. Die Hoffnung auf Versöhnung braucht dieses Licht. These 9: „Versöhnung ist die Reise aus einer zerbrochenen Welt in eine gemeinsame Zukunft“ (Witcombe 2019).

Literaturverzeichnis Assel, H. 2018, Elementare Christologie: Erster Band: Versöhnung und neue Schöpfung, Gütersloh. Assel, H. 2020, Elementare Christologie: Erster Band: Versöhnung und neue Schöpfung Zweiter Band: Der gegenwärtig erinnerte Jesus - Dritter Band: Inkarnation des Menschen und Menschwerdung Gottes, Gütersloh. Bonhoeffer, D. 1992, „Die letzten und die vorletzten Dinge“. In: Band 6 Ethik, hg. Ilse Tödt, Heinz Eduard Tödt, Ernst Feil and Clifford Green, Gütersloh, S. 137–162. Dohnanyi, von K. 2011, Vorwort, in: Deutsche Schuld 1933–1945? Die ignorierten Antworten der Zeitzeugen von Konrad Löw. München. Pufelska, A. 2021, „Der Ungeist von Potsdam – Der Wiederaufbau der Garnisonkirche braucht dringend eine polnische Perspektive“, in: Evangelische Zeitung Nordkirche, 14. März 2021. Pufelska, A. 2021, „Vergisst die Teilung Polens nicht“. 01.02.2021. Frankfurter Allgemeine Zeitung. Online: https://www.faz.net/aktuell/feuilleton/debatten/potsdamer-garnisonkirchevergesst-die-teilung-polens-nicht-17174418.html, letzter Zugriff: 11.08.2021.

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Semprún, J. 1997, La escritura o la vida, Barcelona. Witcombe, J. 2019, „Was bedeutet Versöhnung für uns heute“ Vortrag am 23. November 2019 in der Nagelkreuzkapelle der Garnisonkirche Potsdam von John Witcombe, Dompropst von Coventry.

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Verzeihen – Vergeben – Versöhnung Eine religionspädagogische Skizze des Übergangsfeldes von der Kompetenz des Verzeihens zum Unverfügbarkeitscharakter der Versöhnung Zeitgemäßer Religionsunterricht zeichnet sich aus durch einen breiten und intensiven Bezug zur Lebenswelt und durch die Zielsetzung, zur Orientierung im Leben zu befähigen durch den Aufbau einer umfassenden Urteilskraft in religiösen, weltanschaulichen und ethischen Fragen. Beidem soll hier im Themenbereich „Verzeihen – Vergeben – Versöhnung“ nachgedacht werden. Er ist in besonderer Weise geeignet, das Spektrum religionspädagogischer Herausforderungen und Begründungen exemplarisch zu beleuchten. Greift er doch Phänomene und Probleme des individuellen wie gesellschaftlichen Lebens auf, die unbestreitbar und teils drängend vorliegen, und greift er doch andererseits auf zentrale Fundamente theologischer Begründungsstrukturen zu, die allerdings prinzipiell umstritten sind – jedenfalls im öffentlichen Nachdenken über Bildung. Wie der Titel schon andeutet, bewegen wir uns dabei in einem Übergangsfeld, das für den gesamten konfessionellen Religionsunterricht typisch ist. Einerseits geht es um erlernbare Kompetenzen, die vermittelt und eingeübt werden können und sich somit als operationalisierbar und säkularer Rationalität unterworfen erweisen. Für unseren Fall ist zu prüfen, ob es sich beim „Verzeihen“ um eine solche Kompetenz handelt. Andererseits bezieht sich das Lehren und Lernen zu Vergebung und Versöhnung auf eine Botschaft, die solcher Rationalität voraus liegt. Es ist eine Botschaft, die eine Gottesbeziehung voraussetzt, und mit konkreter Rede von Gott und biblischen Textaussagen arbeitet, dabei sogar mit Widerspruch rechnet zu dem, was sich im Leben vorfindet und rational plausibel erscheint, und darauf hofft, dass ein neues Licht auf das Vorfindliche fällt und sich damit neue Lebensperspektiven und Optionen auftun. Jeder Religionsunterricht ist unentwegt damit befasst, Zugänge zu dieser Gottesbotschaft und diesen Hoffnungsperspektiven zum verheißenen Leben frei zu legen und Plausibilitäten aufzuweisen. Insofern es aber um Perspektiven geht, die sich theologisch gesprochen erst dem Glauben eröffnen, sind sie eben nicht operationalisierbar, sondern grundsätzlich unverfügbar. Sie können sich einstellen, wenn Gott gegenwärtig ist und dies bewirkt, worum wir bitten können, was wir aber nicht methodisch bewerkstelligen können. Der Religionsunterricht ist gut beraten, den Glauben nicht vorauszusetzen. Das gilt im Blick auf die Schülerinnen und Schüler, unter denen sich auch Konfes-

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sionslose befinden und darüber hinaus in einem großen Segment konfessionell Gebundene, die sich kaum von jenen unterscheiden, aber auch im Blick auf das Bildungssystem Schule. Sachlogisch wird der Glaube allerdings immer wieder in Ansatz gebracht werden müssen, um die Sache des Religionsunterrichts voran zu bringen, auch wenn man andererseits sagen kann, dass konkret die Schülerinnen und Schüler in ihrem Lebensbezug Sache des Religionsunterrichts sind. Heuristisch gesehen, ist in der konzeptionellen Aufstellung des Religionsunterrichts im Sinne des didaktischen Dreiecks idealtypisch zwischen der Tradition der Kirche beziehungsweise den biblischen Inhalten und der Lebenswelt der Schüler*innen klar zu unterscheiden. Auch für die konkrete Unterrichtsplanung ist dies nötig. In der Unterrichtspraxis zeigt sich aber ständig, dass die begründungstheoretischen Ebenen in der Realität vermischt und wechselseitig interdependent aufscheinen.

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Vorklärungen: Verzeihen – Vergeben – Versöhnung

Wir verzichten auf eine endgültige Sachdefinition von „Verzeihen“ und „Vergeben“ und gehen zunächst von einer funktionalen Sichtweise aus: Als „Verzeihen“ bezeichnen wir den kommunizierten Verzicht auf ein Vergeltungshandeln für erlittenen Schaden und für erlittene Verletzung im sozialen Miteinander. Insofern es sich um eine Kommunikationskompetenz handelt, sollte das Verzeihen durch schulisches Lernen erschlossen und vermittelt werden können. Insofern es ein Beziehungsgeschehen darstellt, geraten wir bereits an die Grenzen schulisch-pädagogischer Möglichkeiten und wir behelfen uns zunächst damit, der generellen Reflexion über Beziehungen, Beziehungsverletzungen und Beziehungsauffrischungen oder -wiederherstellungen einen Platz im Unterricht zuzugestehen, aber die konkrete persönliche Anwendung und Einübung als übergriffig und im schulischen Rahmen unangemessen anzusehen. In jedem Fall bewegt sich das bislang Gesagte so sehr im Allgemeinen, dass es für alle Schülerinnen und Schüler gelten kann und nicht auf einen konfessionell konzipierten Religionsunterricht angewiesen wäre. Man könnte auch „Vergeben“ genauso beschreiben1 , wir wollen aber im Sinn der Klärung des anvisierten Übergangsfeldes den Begriff „Vergeben“ reservieren für ein Kommunikations- und Beziehungsgeschehen, das über das Verzeihen hinausgeht, indem es nicht nur passiv den Verzicht auf Vergeltung umfasst, sondern darüber hinaus eine positive „Gabe“ einbringt, nämlich das „Geben“ eines Neuanfangs der

1 Karin Scheiber betont in ihrer theologischen Dissertation zur „Vergebung“, dass sie die moralphilosophische Einsicht teilt, „dass sich zwischenmenschliche Vergebung ethisch beschreiben lässt als ein Handlungsmuster, das grundsätzlich allen Personen, und nicht nur Mitgliedern einer bestimmten Partikulargemeinschaft, zur Verfügung steht“ (Scheiber 2006, 10).

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Beziehung, das als schöpferischer Akt einer neuen sozialen Realität zu verstehen ist. In der Alltagssprache empfinden wir „Verzeihen“ als einen durchaus weltlichen Begriff mit einem „auffällig alltäglichen“ Klang (Flaßpöhler 2016, 21), während wir „Vergeben“ eher im religiösen Bereich ansiedeln. Man kann in unserer Annäherung eine Widerspiegelung dieses Empfindens erkennen. Dass die „Gabe“, das „Geschenk“ der Vergebung sich nur dann als schöpferisch erweist, wenn sich tatsächlich die Realität einer neuen Beziehung einstellt und die Störung der erlebten Verletzung überwunden werden kann, zeigt die Unverfügbarkeit der Vergebung auf. Es besteht kein Automatismus, der von der Vergebungsbereitschaft zum Gelingen von Vergebung führt, auch von der Reue des Täters führt nicht zwingend ein Weg zur Vergebungsbereitschaft des Opfers. Es gibt keine methodisch sichere Erschließung geheilter Sozialverhältnisse nach erlittenen Verletzungen und Störungen. Insofern transzendiert das Vergeben die allgemein gegebenen Kommunikationsmöglichkeiten und ist angewiesen darauf, dass sich eine neue Realität einstellt, die die Reichweite des eigenen Tuns übersteigt. Konfessioneller evangelischer oder katholischer Religionsunterricht bezieht sich grundlegend auf das Evangelium, auf jene christliche Botschaft, die Gottes Versöhnungshandeln verkündigt. Gott hat den Raum eröffnet, in dem Vergebung angeboten ist, angenommen werden kann, sich ausbreitet und neue Realitäten erzeugt. Das vorgängige Vergeben Gottes, dem der Mensch im Glauben sich anvertraut, setzt Kräfte frei, die Vergebung weiter zu tragen und heilend wirksam werden zu lassen. Die umfassende Versöhnung Gottes bietet nicht nur Versöhnung zwischen Gott und Mensch, sondern auch mit der ganzen Welt (2. Kor. 5,17–19) an. In anthropologischer Perspektive kann die Versöhnung in die grundlegenden Relationen des Menschseins einziehen als Versöhnung des Menschen mit Gott, mit sich selbst, mit anderen und mit der Welt. Aus diesen theologischen Topoi kann der Religionsunterricht reichhaltig schöpfen und die Unverfügbarkeit des Gelingens von Vergebung aus der Sphäre des Ausgeliefertseins an Zufälligkeiten herausholen und in die Verheißungsperspektive des Evangeliums rücken. Im unterrichtlichen Kontext kann es natürlich nicht einfach um ein Lernen dieser Topoi gehen. Damit wäre bestenfalls ein Standort gewonnen, von dem aus die eigentliche religionspädagogische Arbeit erst beginnen muss, während auch andere Ausgangspunkte sich anbieten. Vielmehr ist die Verheißungsperspektive in der unterrichtlichen Kommunikation und in den Lernprozessen mit den Lebens- und Wirklichkeitsperspektiven der Schülerinnen und Schüler ins Gespräch zu bringen. Das Evangelium wird dabei nicht als unerreichbare Utopie, sondern als Ausdruck eines eigenen Wirklichkeitsverständnisses kommuniziert, welches von Gottes Wirken im Sinne der Botschaft von der Auferweckung Jesu von Nazareth von den Toten als neuschaffende Kraft spricht.

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Relevanz der Versöhnungsthematik

Im Verschränken der Evangeliums- und der Lebensperspektive, dieser religionspädagogischen Kernaufgabe, kann es durchaus zu überraschenden Wahrnehmungen und Erkenntnissen kommen, wie wir sehen werden. Die Offenheit für diese Überraschungen gehört zur professionellen Grundhaltung der Religionslehrkraft. Man kann auch von der „Ergebnisoffenheit“ der Kommunikation des Evangeliums sprechen, die nach Michael Domsgen „eine Voraussetzung dafür zu bilden (scheint), dass sich bei den Kommunizierenden neue Einsichten einstellen können“ (Domsgen 2019, 258). Gerade im Umgang mit emotional aufgeladenen Themen im Umfeld von Verletzungen und Störungen kann, wenn die Lehrkraft nicht spürbar diese Offenheit für das Zulassen verschiedener Haltungen und Kommunikationsbeiträge ausstrahlt, eine innere Abwehrhaltung und ein Sich-Verschließen auf Schülerseite die Folge sein. Domsgen weist auch darauf hin: „Das, was Menschen orientiert, kann nicht einfach von außen vorgegeben werden, sondern muss auch innerlich angeeignet werden können“ (Domsgen 2019, 240). Er spricht von der (Lebens-)„Relevanz“ als „Schlüsselkategorie […] religiöser Bildung“ und davon, dass sie sich „nicht methodisch herstellen, argumentativ herbeiführen, kontrollierbar erzeugen (lässt), weil sie in subjektiv-situativ-selektiven Reflexionsprozessen allererst „generiert“ wird bzw. „sich einstellt“ oder eben „ereignet““. (Domsgen 2019, 241 unter Zitat von Bucher 2019, 100). Es wird also bereits im notwendigerweise dialogischkommunikativen Grundcharakter des Religionsunterrichts mit der Unverfügbarkeit des Angestrebten zu leben und in permanenter Offenheit für und mit Interesse an den konkreten Menschen im Lernprozess die Relevanzfrage wachzuhalten sein. Wir wollen – bei allem Zugeständnis, dass Relevanz situationsbedingt zu untersuchen ist – kurz nach Aktualität und grundsätzlicher Bedeutung des Themas fragen. Es überrascht dann doch, dass bei der zentralen theologischen Bedeutung der Versöhnungs- und Vergebungsbotschaft in Bibel, Kirchengeschichte und Dogmatik, sowohl bei einer schnellen Durchsicht der Bücher zur Religionspädagogik2 als auch der Religionsbücher für den Unterricht, eine eher marginale Präsens erkennbar ist. Dieser Widerspruch sollte sich nicht fortsetzen. Zumal meines Erachtens das Thema nicht nur ein Topos unter anderen darstellt, sondern sich für eine systematische Erschließung von Zusammenhängen eignet. Zu Recht beklagt Bernd Schröder, dass die Themenbereiche des Religionsunterrichts weitgehend additiv nebeneinander (stehen) – eine verbindende, einprägsame Idee von dem, was „es heißt als Christ in unserer Welt

2 So finden sich die Stichworte „Versöhnung“ und „Vergebung“ z. B. weder bei Domsgen 2019, noch bei Schröder 2012, Kunstmann 2004, Grethlein 1998; ein kurzer Hinweis dagegen in Adam, Lachmann, 1984, 114.

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zu leben“ (Weert Flemming) stellen sie nicht zur Diskussion. Wo und wie aber sollen Schüler einen roten Faden durch den Facettenreichtum des Christentums finden, und ein christliches Selbstverständnis artikulieren lernen, wenn der Religionsunterricht seinerseits keine Angebote macht, das über die Jahre akkumulierte Wissen und Kompetenzreservoir zu einer Gesamtsicht zu bündeln? (Schröder 2012, 586)

Dieses Desiderat aus der Sicht der Lernenden ist zu ergänzen mit einem Desiderat aus der Lehrenden-Perspektive: In meiner Tätigkeit als Leiter des Amts für Religionsunterricht der Evangelischen Kirche der Pfalz höre ich ständig die Klagen von Religionslehrkräften, dass die Entwicklung in der Religionspädagogik hin gehe zu einer immer stärkeren Ausdifferenzierung und Verkomplizierung des Handwerks. Auch in der Reaktion auf die gestiegene Heterogenität der Lerngruppen durch weitere Individualisierung des Lernangebots zerrinne der Inhaltsfluss in eine mäandernde Vielheit, die Überblick und Kohärenz erschwere. Außerdem sei die limitierte Zeit im Unterricht und in der Vorbereitung konzeptionell zu berücksichtigen. Da würde eine organisierende Idee, die Zusammenhänge erschließen und verdeutlichen kann, helfen und ein Gegenpol zur Stofffülle bieten. Sieht man sich beispielsweise die sechs Themenbereiche an, die das ”Kerncurriculum für das Fach Evangelische Religionslehre in der gymnasialen Oberstufe“ (EKD 2009, 27–60) auflistet, so springt ins Auge, dass der unter „christliche Ethik“ explizit aufgeführte Topos der „Versöhnung“ sich als roter Faden eignen würde, um die innere Verbindung aller Bereiche nachvollziehbar zu machen: • Das christliche Bild des Menschen • Das Evangelium von Jesus Christus • Die christliche Rede von Gott • Das Wahrheitszeugnis der Kirche als Gemeinschaft der Glaubenden • Die christliche Ethik der Menschenwürde, der Gerechtigkeit, der Versöhnung und des Friedens • Die christliche Zukunftshoffnung Hier ist sogar der wichtige Bereich „Schöpfung“ ausgespart, der im Blick auf die gegenwärtige Lage und unser Verhältnis zu Erde und Natur eine besondere Beachtung durchaus verdient, auch unter dem Aspekt der Versöhnung. Kann man aus der Perspektive der christlichen Tradition unter dem Aspekt eines systematisierenden zentralen Leitgedankens dem Versöhnungsthema ein besonderes Gewicht zubilligen, so gibt der Blick auf die Lebensrealität auch reichlich Anlass, ihm Relevanz zu attestieren. Um ein glücksfähiges und verantwortungsbewusstes Leben führen zu können, sind Kompetenzen zur konstruktiven Aufarbeitung sozialer Störungen und Verletzungen nötig. Die gesellschaftliche Großwetterlage zeigt, dass wir es nicht mit einem Randphänomen zu tun haben. Man kann geradezu von

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einer Krise der Konsensgesellschaft sprechen. Über unser eigenes Land hinaus zeigt ein Blick auf ganz Europa, auf Amerika, das lange als Modell für den westlichen way of life und die Ideale und Werte einer offenen Gesellschaft galt, und auf die ganze Welt, dass eine Aufheizung in den gesellschaftlichen Debatten im Gang ist und dass es zu Verhärtungen in den Positionen bis hin zu gewaltsamen Zusammenstößen und offenen Anfeindungen, sowie Hassattacken kommt – von einem Diskurs kann man kaum noch reden. Die Verrohung des Umgangstons wird in den sogenannten sozialen Medien durch die Distanz zum „Gesprächspartner“, die Möglichkeiten der Anonymisierung, auch durch die enorme Beschleunigung der Frequenz im Schlagabtausch und die unbegrenzte mediale Reichweite forciert. Mit der Erweiterung der technischen Möglichkeiten der Kommunikation hat die Sensibilität für die Auswirkungen und das Wahrnehmungsvermögen für das, was solches Verhalten mit anderen Menschen macht, nicht in gleicher Weise zugenommen. Das muss in der Pädagogik ausgewertet werden und zu Konsequenzen führen. Es gibt an Schulen Projekte zur Streitschlichtung, Anlaufstellen für Mobbing-Opfer, schulpsychologische Dienste, Schulseelsorge und mehr. Über die Hilfe für Schadensfälle hinaus gibt es auch Initiativen, die präventiv tätig sind, wie z. B. „Schule ohne Rassismus – Schule mit Courage“. Schule als Bildungsinstitution sollte aber generell anzielen, Kompetenzen zu fördern, die ein möglichst friedliches, von inakzeptablen Übergriffen und persönlichen Angriffen minimiertes gesellschaftliches Miteinander fördern. Das kann nicht nur den Familien oder dem freien Spiel der Kräfte in der Zivilgesellschaft überlassen bleiben. Die Leistungs- und Konkurrenzgesellschaft prägt nicht nur außerhalb der Schule und nicht nur unter Erwachsenen das Leben. Auch wenn Konsens darüber besteht, dass Schulbildung im Blick auf den Selektionsprozess für die Berufswelt mit ihren ökonomischen Zwängen nicht funktional verengt werden darf, wird von Jugendlichen und schon von Kindern recht früh verinnerlicht, dass sie im Wettbewerb stehen, dass andere Konkurrenten sind und dass man dem Ranking nicht entfliehen kann. Konkurrenz und Leistungsmessung können sportlich gesehen werden und gehören zum Leben dazu, aber auch diese Relativierung will gelernt und eingeübt sein – wo sie nicht gelingt, kommt es zu Kränkungen und Obstruktionen. Das Eltern-Kind-Verhältnis, von fundamentaler Bedeutung für eine gesunde Entwicklung, wird durch Ehrgeiz und überzogene Erwartungshaltungen schnell so belastet, dass es zu Beeinträchtigungen im Selbstwertgefühl und zu schmerzhaften Einschränkungen und Unfreiheiten führt. Zusammengefasst lässt sich sagen: Die moderne Gesellschaft hat mit ihrer Loslösung von gängelnden Autoritäten und der Eröffnung von Individualisierung zu neuen Freiheiten geführt, die sich aber dialektisch zeigen und die Gefahr neuer Zwänge und Abhängigkeiten heraufbeschworen, die zu anderen Störungen und Verletzungen führen.

Verzeihen – Vergeben – Versöhnung

3.

Versöhnung nicht nur individuell – Erinnerungskultur

Die Gewöhnung an individuelle Zuspitzungen von Fragen persönlicher Orientierung und Lebensausrichtung lässt leicht übersehen, wie entscheidend das Miteinander mit anderen und das Eingebundensein in Kollektive mit ihrer Geschichte und ihren Zukunftsperspektiven für das eigene Leben ist. Die Arbeiten zum kulturellen Gedächtnis und zur Erinnerungspädagogik und -kultur (Assmann 2006; Assmann 2013) haben schlüssig gezeigt, dass die bewusste Gestaltung und Annahme dieser Lebensdimension unausweichlich ist. In der Geschichte des Christentums und vor allem in der deutschen Geschichte des vergangenen Jahrhunderts begegnen uns Verbrechen ungeheuerlichen Ausmaßes, die selbstverständlich von der heranwachsenden Generation nicht zu verantworten sind, aber auch nicht einfach ausgeblendet werden können. Die entstandenen kollektiven – mit einer Unzahl an individuellem Leid verbundenen! – Verletzungen, die Schäden und Störungen bei Opfern und Tätern sind nicht einfach vergangen und haben weiterhin Folgen auf beiden Seiten. Erinnerungsarbeit muss zwingend Teil einer Pädagogik des Verzeihens und der Versöhnung sein. Dem weit verbreiteten Gedanken „Verzeihen ist die Kunst des Vergessens“ (Macho 1988, zitiert in Flaßpöhler 2016, 132) ist mit Paul Ricoeur entgegen zu halten, dass es „einen zusätzlichen Aufwand an Erinnerungsarbeit [verlangt]“ (Ricoeur 1998, 145) um ein Loslassen-Können in Gang zu setzen. Der kollektive Aspekt ist auch im Blick auf gemeinsame Vorurteile innerhalb von Nationen, Ethnien, gesellschaftlicher Gruppen und Parteien nicht zu unterschätzen und beim Erstarken partikularer identitärer Bewegungen und unaufgeklärter Anlehnungen an selbsternannte Autoritäten in der pädagogischen Arbeit aufzugreifen. In den schweren Auseinandersetzungen in Bürgerkriegen in unserer weiteren Nachbarschaft, z. B. in den Auflösungsprozessen des ehemaligen Jugoslawien oder immer noch in Syrien und jetzt im Krieg in der Ukraine, ist es teilweise zu tiefsitzendem Hass, zu furchtbaren Gewalttaten zwischen ehemaligen Nachbarn und Kollegen gekommen, besonders Kinder und Jugendliche waren dem hilflos ausgesetzt. Man fragt sich, wie diese verfeindeten Gruppen wieder verträglich miteinander auskommen und mit- oder auch nur nebeneinander leben wollen. Die Herausforderung zur Versöhnung zeigt sich an vielen Stellen in unserem globalisierten Dorf. Unsere Schülerschaft nimmt das nicht nur über die Medienberichte als zu verarbeitende Nachricht auf. In unseren Schulen begegnen wir jungen Leuten, die ihre persönlichen und kollektiven psychischen Wunden mit ihrer Migrationsgeschichte mitgebracht haben – bis hin zu schweren Traumata. Versöhnung ist ein drängendes Thema unter uns geworden, Tendenz zunehmend bei dem erkennbaren Prozess des Brüchigwerdens internationaler Ordnungen und Spielregeln.

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4.

Zwei religionspädagogische Wege zur Versöhnung

Erste These: Religionsunterricht muss in präventivem Ansinnen in gleicher Weise an konstruktiven, versöhnungsorientierten Kommunikationskompetenzen arbeiten, die in methodisch geklärten, operationalisierbaren, allgemeinverständlichen Lernprozessen zu fördern und aufzubauen sind, und im Rückgriff auf die Botschaft, in der christliches Leben gründet, die unverfügbare Gabe gelingender Versöhnung in ihrem Ereignischarakter, in ihrer Lebensrelevanz und in ihren situativen Chancen und heilsamen Perspektiven für alle Relationen des Menschseins aufzeigen. Dass die beiden Wege religionspädagogischer Arbeit zu Verzeihen und Versöhnen gleichgewichtig und gleichzeitig zu beschreiten sind, scheint auf den ersten Blick die oben genannte Beobachtung zu unterstreichen, dass Religion zu unterrichten sich als eine zunehmend komplexe und überaus anspruchsvolle Tätigkeit erweist, die in der praktischen Umsetzung sich immer schwerer realisieren lässt. Das dürfte auf einen klassischen, lehrerzentrierten Unterricht in der Spur einer Vermittlungsdidaktik auch zutreffen. Nehmen wir die Ausrichtung auf Orientierung am Subjekt und an seiner Stärkung konsequent auf, auch in der konkreten methodischen Planung, ergibt sich diese Gleichzeitigkeit quasi automatisch – wie wir das vom Theologisieren mit Kindern und Jugendlichen kennen. Wenn wir jetzt Verzeihen als Kompetenz und gelingende Vergebung als unverfügbare Gabe nacheinander betrachten, so ist das nur der Darstellungslogik geschuldet, die Gleichgewichtigkeit und permanente unterrichtliche Präsenz beider Ebenen bleibt bewusst.

5.

Recht und Grenze von Verzeihens-Kompetenzen

Der Paradigmenwechsel im bundesdeutschen Bildungssystem nach dem sogenannten Pisa-Schock brachte mit Bildungsstandards und der Kompetenzorientierung auch eine Wende für den Religionsunterricht mit sich (vgl. Obst 2008). Der Blick fokussierte sich auf die „Fähigkeit, Probleme zu lösen“ (F. E. Weinert zitiert nach Schröder 2008, 582). Zwar gehe es im Unterricht weiterhin „vorrangig um die geistige Auseinandersetzung mit Religion“, allerdings „nicht als Aneignung von Fakten und isolierten Kenntnissen, sondern als Klärung von bedeutsamen Situationen, in denen sich spezifische Anforderungen an das Handeln und Verhalten der Schüler stellen“, so Gabriele Obst, die auch klarstellt: „Nicht für den Unterricht soll gelernt werden, sondern für die Bewährung in lebenspraktischen Zusammenhängen“ (Obst 2008, 65). Grundsätzlich lassen sich Anforderungssituationen aus den oben genannten Konflikt-, Störungs- und Verletzungserfahrungen formulieren, die als zu lösende Aufgabe angegangen werden können. Generell können „individuelle, gesellschaftliche, kulturelle und politische Bezugsfelder in eine dialogische Beziehung

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zum christlichen Glauben“ gebracht werden, „die mit den Stichworten Begegnung, Anknüpfung und Auseinandersetzung“ beschreibbar ist (Obst 2006, 109).3 Wir verzichten darauf, eine umstrittene „religiöse Kompetenz“ anzuführen.4 Wir stellen also die „dialogische Beziehung zum christlichen Glauben“ nicht zwingend sofort her, sondern erlauben es, in heuristischer Absicht die aufgeführten Bezugsfelder unmittelbar einzusehen und erst einmal direkt nach „gangbaren Problemlösungen“ zu suchen ohne von Gott zu sprechen oder besondere Einsichten vorauszusetzen, die nicht jedem wachen Zeitgenossen auch erschließbar wären. Das entspricht dem in unserer Gesellschaft üblichen Verfahren, das auch den meisten bekannt und vertraut sein dürfte. Es kann die Motivation zur Problemlösung stärken, spricht jedenfalls nicht nur die „religiös Vorgeprägten“ an und fordert das subjektive Entdeckerpotential heraus. Die allgemeinen Kompetenzformulierungen sind dabei eine gute Hilfe und geben Anregungen. Schauen wir ein Beispiel an: Denken wir an Mobbing über soziale Medien, so ist das Kriterium der Lebensrelevanz erfüllt und es dürfte in der Lerngruppe genügend persönliche Berührung mit der Thematik vorausgesetzt werden können. Es braucht nun Wahrnehmungskompetenz und soziale Kompetenz, um die Kränkung, das Zurücksetzende und Verletzende an einer Mobbinghandlung zu erkennen. Die Handlung selbst ist als Kommunikation, als Zeichenhandlung mit einer Botschaft erst einmal zu deuten und in ihrer Abwertungsabsicht gegenüber der betroffenen Person als Herabwürdigung zu erkennen. Das betrifft Kompetenzen, die von jedem zu erlernen und zu erwarten sind, wenn auch – wie bei allen Lernvorgängen – ein Prozess nötig sein kann und Zeit vorzusehen ist für die Einübung dieser Kompetenzen. Wenn die Urteilskraft einzelner dazu führt, keine Demütigung und Diskriminierung im Mobbing zu erkennen und entwürdigende Aussagen beispielsweise einfach als Meinungsäußerung zu werten, die durch das Recht auf Meinungsfreiheit gedeckt wird, kann durch eine Verbreiterung und Vertiefung der Wahrnehmung des/der Betroffenen an der Sensibilisierung weiter gearbeitet werden. In dieser Skizze reicht die Andeutung, dass solche Beispiele für alle Bezugsfelder denkbar sind, wobei ein Bezug zur Lebenswelt der Lernenden und zugleich die nötige persönliche Distanz zu wahren ist. Andererseits zeigt sich darin die Ganzheitlichkeit des Religionsunterrichts, dass die emotionale Dimension gerade einzubeziehen und nicht auszublenden ist. Empörung, Ärger und das Übelnehmen einer Handlung in verletzender Absicht ist geradezu konstitutiv, um das Selbstwertgefühl der verletzten Person nicht zu beschä-

3 In Zusammenfassung des Grundmodells der im Auftrag der Kultusministerkonferenz erarbeiteten „Einheitliche(n) Prüfungsanforderungen in der Abiturprüfung Evangelische Religionslehre“, beschlossen am 6.1.2006. 4 Ein umsichtiges Konzept dazu stammt von Hemel 1998 (vgl. Obst 2008, 70–78).

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digen5 und auch um in den Prozess des Verzeihens überhaupt sich hineindenken zu können und nicht bei einer gleichgültigen Verdrängung der Verletzung stehen zu bleiben. Auch wenn das „Verzeihen“ bei einer ersten Annäherung den Beigeschmack einer zu persönlichen Angelegenheit haben sollte, sind doch allgemein nachvollziehbare Kommunikationskompetenzen betroffen, die eine unterrichtliche Bearbeitung zulassen. Der angezeigte Weg, über Anforderungssituationen Problemlösungen suchen zu lassen, ist sachgemäß. Es wäre ein Missverständnis, wollte man „VerzeihensKompetenzen“ lehren, wie sie auf Online-Ratgebern6 und in Beratungsbüchern angeboten werden. Die Philosophin Svenja Flaßpöhler begründet, weswegen in ihrem Buch (Flaßpöhler 2016) „keine Schritte zum erfolgreichen Verzeihen entwickelt werden, wie sie in zahlreichen Ratgebern zu finden sind“ (Flaßpöhler 2016, 32). Der von ihr angegebene Sachgrund liegt in einer „Fundamentalspannung“, die das Verzeihen unaufhebbar durchziehe. Es ist die Spannung zwischen der beschreibbaren, durch Angabe von Zwecken und Bedingungen rational nachvollziehbaren Seite des Verzeihens und der „buchstäblich aus dem Nichts kommenden“, „bedingungslosen, gnadenvollen“ Seite des Verzeihens (Flaßpöhler 2016, 30f), die ich hier als „unverfügbare Gabe der Versöhnung“ darstelle. Ratgeberliteratur fokussiert einseitig das Machbare. Die Philosophin stößt ständig auf die das Machbare transzendierende Dimension im Verzeihen und beschreibt dies reichhaltig. Sie behält sich die Vokabel „Verzeihen“ vor und gesteht gleichzeitig zu, dass andere, z. B. Hannah Arendt, dies als „Vergebung“ bezeichnen. „Dass ich für den Titel meines Buches jedoch den Begriff des Verzeihens gewählt habe, findet seinen Grund in seiner benannten Weltlichkeit: Mir geht es um […] dezidiert diesseitige Akte des Schulderlasses, die gleichwohl […] immer wieder ins Transzendente, Übermenschliche ausgreifen“ (Flaßpöhler 2016, 23). Die Theologin Karin Scheiber betitelt ihr Buch Vergebung, Untertitel Eine systematisch-theologische Untersuchung (Scheiber 2006, 10) und bemüht sich sehr, im Hauptteil zur „zwischenmenschlichen Vergebung“ anschlussfähig zum moral-philosophischen Diskurs zu bleiben. In Weiterentwicklung der Sprechaktanalytischen Einsichten John Austins, John Searles u. a. stellt sie eine eigene Rahmentheorie auf, mit der sie Vergeben als „moralische Kommunikation“ versteht und präzise Kommunikationsbedingungen dazu formuliert. Sie kann sogar von den „Regeln für das Glücken der Äußerung „Ich vergebe dir““ sprechen (Scheiber

5 Drastisch formulieren Jeffrie und Hampton 1998, 16: „Resentment (perhaps even some hatred) is a good thing, for it is essentially tied to a non-controversially good thing – self-respect. …the primary value defended by the passion of resentment is self-respect.“ (zitiert bei Scheiber 2006, 137). 6 Unter dem Label lernen.net (sic!) https://www.lernen.net/artikel/verzeihen-vergeben-6647/ kann man „Verzeihen lernen: Mit diesen 7 Tipps fällt dir Vergebung leichter“, letzter Zugriff:28.6.2020.

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2006, 175) und sieht im Gegensatz zu Flaßpöhler in der Reue des Täters eine Voraussetzung für Vergebung. Die Auswertung beider Bücher hat mich für die eigene Fragestellung dazu gebracht, nicht auf die Begriffe zu setzen, die in der Literatur durcheinandergehen und dies auch bei Schüler*innen tun werden – eine Klärung auf dieser Ebene wäre für den Unterricht zeitökonomisch vertan. Vielmehr ist die o.g. Fundamentalspannung herauszustellen und an ihr ein Wesenszug jedes konfessionellen Religionsunterrichts zu illustrieren, nämlich die Spannung zwischen Lebensbezug und Transzendenzbezug und die wache Offenheit für das Ereignis möglicher Übergangsmomente. Die angesprochene Fundamentalspannung zeigt sich sehr schnell beim Verzeihen, wenn wir über banale Alltäglichkeiten hinausgreifen, für die das floskelhafte „Verzeihung“ gebraucht wird, etwa, wenn man in der überfüllten Bahn jemandem versehentlich auf den Fuß getreten hat. Wo es schwerfällt zu verzeihen, weil etwas Einschneidendes, Verletzendes vorgefallen ist und die emotionale Geneigtheit massiv hereinbricht, auf Vergeltung, Rache, eine Gegen-Verletzung setzen zu wollen, stehen wir auf einmal mitten im pulsierenden Leben.

6.

Schuld oder Scham?

Zur Aufarbeitung solcher Phänomene wäre in der Logik der dialogischen Begegnung von Bezugsfeld und christlichem Glauben nun direkt von Schuld, sogar von Sünde zu sprechen. Der Religionspädagoge Heinz Schmidt hat schon 1986 festgestellt: „Der Begriff der Sünde scheint bis auf weiteres diskreditiert“ (Schmidt 2003, 272). Eine Durchsicht von Lehrplänen und Unterrichtsmaterialien damals lässt ihn erkennen: So sind die Begriffe „Sünde“ oder „Sünder“ fast völlig durch den Schuldbegriff verdrängt. Sie werden nur noch „zitiert“. […] Man darf wohl vermuten, dass der Begriff „Schuld“ wegen seiner psychologischen und seiner gesellschaftlichen Relevanz in der Alltagssprache leichter vermittelbar ist als eine dezidiert auf die Gottesbeziehung abhebende Bezeichnung für Schuldverhaftung wie sie im Sündenbegriff einst vorlag (Schmidt 2003, 271f).

Gut drei Jahrzehnte später wird man feststellen dürfen, dass die Stoßrichtung dieser Aussage auch den Schuldbegriff trifft. Es stimmt zwar, dass „wir immer wieder spektakuläre öffentlich-mediale Tribunale der Beschuldigung (erleben), die zumeist mit einem öffentlichen Schuldbekenntnis und einem Rücktritt vom öffentlichen Amt enden“, „in Bezug auf Gott scheint es (das Phänomen der Schuld) keine Rolle mehr zu spielen, und gesellschaftlich redet man vom Absterben des persönlichen

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Schuldgefühls“ (Link-Wieczorek 2015, 7). Angesichts dieser Zeitansage haben wir einen Grund mehr, nicht bei einem direkten Dialog mit christlichen Schuld- und Sünde-Theologoumena religionspädagogisch einzusetzen, sondern die Verletzungen und Störungen, die ein echtes Verzeihen bräuchten, mit Hilfe zeitgemäßer Interpretationshilfen in den Blick zu nehmen. Auf der Jahrestagung der Gesellschaft für Evangelische Theologie wurde 2015 in Berlin das Phänomen „Scham“ schwerpunktmäßig in den Blick genommen „damit die Rede von der Sünde erfahrungsnäher werde“ (Link-Wieczorek 2015, 9). In unserem Kontext interessiert vor allem jene Grundform der Scham, welche die Differenz zwischen den eigenen identitätsrelevanten Werten und den realisierten Handlungen und Haltungen schmerzhaft markiert. Schuld müsste durch das Anlegen eines allgemeinverbindlichen, gewissermaßen objektiven Maßstabes klargelegt werden – in pluralistisch geprägter Umgebung und bei der gegebenen auch kulturellen Heterogenität unserer Lerngruppen eine mit Kontroversen verbundene Aufgabe. Scham setzt bei den je verinnerlichten subjektiven Maßstäben an und kann unmittelbar auf auswertbare Erfahrungen und Emotionen zugreifen. Dieser Zugangsweg zu den Phänomenen von Störung und Verletzung kann unterrichtlich geebnet werden durch Kreativmethoden zur Beschäftigung mit Tätern und Opfern – sogar mit beteiligten und unbeteiligten Zeugen – einer verletzenden Handlung. Solche Wahrnehmungs- und Sensibilisierungsarbeit ist notwendig, da keine Gemeinschaft auf Dauer friedlich existieren kann ohne die Befähigung ihrer Mitglieder zur Verantwortungsübernahme für die von ihnen verschuldeten Schäden. Es kann dabei auch nicht um ein punktuelles juridisches Urteil gehen, sondern um eine ganzheitliche Einsichtnahme in die Beschädigung und ein Durcharbeiten in innerlicher Beteiligung. Die „Schamlosigkeit“, mit der aggressives Verhalten und diskriminierendes Vorgehen gegen andere in der Gesellschaft bisweilen offen ausgeübt wird, legen heutzutage leider auch Personen an den Tag, die im öffentlichen Leben eine Vorbildfunktion haben sollten. Das erschwert den erzieherischen Auftrag enorm und müsste in der Zivilgesellschaft vehementer öffentlichen Widerspruch erfahren. Mit dem Phänomen „Schamlosigkeit“ ist also zu rechnen und beharrlich und nachhaltig an der Durchdringung und didaktischen Bearbeitung verletzenden Verhaltens weiter zu arbeiten. Ohne eine intensive Beschäftigung mit der „Ur-Situation“ von Täter – Tat – Opfer drohen auch die weitergehenden Auseinandersetzungen mit der Thematik die nötige Tiefe und Bodenhaftung zu verlieren.

7.

Innenperspektive und Gesellschaftsperspektive

Hilfreich ist die Einübung in den Perspektivenwechsel auf eine Tat mit negativen Folgen. In der gesellschaftlichen Perspektive kann allgemein nachvollziehbar das Negative, also der entstandene Schaden herausgearbeitet und gewissermaßen

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objektiviert festgestellt werden. Auch die Demütigung eines Einzelnen hat natürlich Auswirkung auf die Gemeinschaft, auch wenn nicht die ganze Gemeinschaft mit der Handlung getroffen werden sollte. Schwieriger und ein Stück weit spekulativer sind die Innenperspektiven der Beteiligten einzunehmen. Gerade hier bewähren sich Methoden eines performativen Religionsunterrichts und Veranschaulichungen z. B. durch biblische Erzählfiguren, mit denen der Zusammenhang von innerem Empfinden und Körperausdruck dargestellt und bemerkt werden kann. Assoziationsübungen zum Schamempfinden können das Spektrum psychischer Regungen erweitern helfen. Vielfach erlebbare apathische Reaktionen von Kindern und Jugendlichen auf solche Herausforderungen sind oft nur typisch für Anfangssituationen und können sich bei wiederholter Beschäftigung legen. Eine ganzheitliche Sichtweise macht erkennbar, dass „Schäden“ nicht leicht einzugrenzen sind. Sie drohen Beziehungen und Gemeinschaft zu gefährden und zu einem Bruch, zu Spaltungen und Feindschaften zu führen. Das Gespür für die Reichweite verunglimpfenden und schädigenden Tuns und die Haltung, Konsequenzen für das eigene Verhalten einzuschätzen werden so kultiviert. Sowohl in der gesellschaftlichen wie in der Innenperspektive kann die Erkenntnis gewonnen werden, dass wir Menschen darauf angewiesen sind, dass Störungen überwunden und Verletzungen geheilt werden können. Wir sind individuell wie kollektiv versöhnungsbedürftig und kennen ein Sehnen nach Frieden und gelingendem Miteinander. Im konkreten Streben danach kann die Aufgabe angegangen werden, Lösungen zur Wiederherstellung gestörter Beziehungen und Gemeinschaft zu suchen und entsprechende Kommunikationswege auszuloten. Ein subjektorientiertes Verfahren kann in seinen Ergebnissen nicht einfach antizipiert werden. In der Vielfalt von Lösungsvorschlägen zum „Verzeihen“ werden aber Grundmuster auffallen, die sich auch in der Literatur niederschlagen. So können Schüler*innen nachsinnen, ob Verzeihen an Bedingungen geknüpft ist, was förderlich und hinderlich sein kann. „Wiedergutmachung“ stellt sich als Euphemismus heraus, schwerer Schaden kann selten wieder rückgängig gemacht oder aus der Welt geschafft werden. Es bleiben aber Signale des Interesses am „Wieder-gutSein“ zwischen den Konfliktpartnern sinnvoll, um eine bessere Beziehung in der Zukunft zu ermöglichen. Verzeihen muss die Vergeltungslogik überwinden und die Kette von Aggression und Gegen-Aggression unterbrechen, aber es bleibt auch für Zeitgenossen manchmal das Bedürfnis lebendig, dass um der Gerechtigkeit willen oder einer ersehnten Verlässlichkeit der Lebensgesetze wegen an Vergeltung festgehalten wird. Wie auch immer – es gibt Grenzen, an die wir stoßen beim Ausloten des Verzeihens. Je schwerer die Störung, Verletzung und Demütigung, desto spürbarer die Grenze, der wir begegnen. Es gibt nachvollziehbar keine Kommunikationsregeln, die das Gelingen von Verzeihung garantieren könnten. Es stellt sich auch massiv die Frage des Limits der „Verzeihlichkeit“.

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8.

Transzendieren des Alltäglichen

„Vergebung“ kann als Symbolbegriff dienen für ein radikaleres weiteres Zugehen auf den Störungsverschulder, das engagierter, aktiver und im Blick auf den anderen voraussetzungsärmer auf die Wiederherstellung der Beziehung hinarbeitet. Kann man dieses „Mehr“ näher beschreiben? Aus der Alltagssprache, hergeleitet kann sich eine religiöse Konnotation anbieten, so Flaßpöhler 2016, 22: „Um Verzeihung bitten wir einen anderen Menschen, um Vergebung hingegen vor allem religiöse Würdenträger oder Gott selbst“. Aber das Transzendieren des Alltäglichen in der Vergebung ist nicht einzugrenzen auf einen religiösen Sektor des Lebens. Flaßpöhler selbst formuliert: Opfer und Täter kommen zusammen in einem extra-ordinären, feierlichen, man möchte fast sagen göttlichen Akt, den die Theologin Beate Weingardt als einen genuin „schöpferischen Akt“ beschreibt. „Im Wort Vergebung“, so Weingardt, werde „das Negative des Verzichts“ (sc. auf Vergeltung), das dem Verzeihen innewohnt, „in das Positive des Gebens gewendet (Flaßpöhler 2016, 21).7

Dieses Überschüssige „jenseits jeder Rationalität, jenseits jeder Nachvollziehbarkeit“ (Flaßpöhler 2016, 25) nennt sie selbst „eine Verzeihung im eigentlichen Sinne“. Wir hatten schon festgehalten, dass die Begriffe nicht eindeutig verwendet werden. Auch das Verzeihen im vollen Sinn kennt schon Elemente, die wir hier als „Vergebung“ bezeichnen würden, weil sie nicht selbstverständlich leistbar sind, sondern sich einstellen müssen, unverfügbar sind und Ereignischarakter haben. Unter Aufnahme eines Diktums von Jacques Derrida zu gewaltiger Schuld konzentriert Flaßpöhler die Abgründigkeit, der man hier begegnen kann, in dem Satz: „Nur das Unverzeihbare ruft nach Verzeihung“ (Flaßpöhler 2016, 24; vgl. Derrida 2000, 11). Er illustriert die „unmögliche Möglichkeit“ der Versöhnung unter Bedingungen zerbrochenen Vertrauens und zugleich das existentielle Angewiesensein auf eine Überwindung solcher Ausweglosigkeit. Versöhnung, Vergeben, „Verzeihen im eigentlichen Sinn“ speisen sich aus einer schöpferischen konstruktiven Kraft, die gesucht, gewollt und erbeten sein will und doch nicht einfach zur Verfügung steht.

7 Zitiert wird Weingardt 2003, 13.

Verzeihen – Vergeben – Versöhnung

9.

Die Begegnung von Lebens- und Transzendenzbezug eröffnet neue Perspektiven

Zweite These: Auf dem Übergangsfeld von der Kommunikationskompetenz des Verzeihens zum Erkennen des Unverfügbarkeitscharakters gewollter und gelingender Versöhnung begegnen sich Lebensbezug und Transzendenzbezug des Religionsunterrichts und können sich Zukunftsperspektiven eröffnen, die Mut machen, Beziehungschancen zu erkennen und entschlossener wahrzunehmen – in Beziehungen zu Mitmenschen, zu menschlichen Gemeinschaften, zu Tieren und der natürlich-kreatürlichen Welt auf dieser Erde, zu Gott und auch zu einem selbst. Die konkrete Kommunikations- und Deutungsarbeit an „Fällen“, die Verzeihen und Versöhnen angezeigt sein lassen, stellt fortlaufend eine weltbildhafte Abschottung in geschlossene positivistische Positionen oder in Vorstellungen einer grenzenlosen Machbarkeit aller Dinge in Frage und bringt daher Lebensannäherung mit sich. Sie kann die Sehnsucht nach Frieden im umfassenden Sinn – nicht nur als Abwesenheit von Krieg, sondern als beglückendes, wechselseitig bereicherndes Miteinander von Menschen, Gemeinschaften und Lebewesen – bewusst und spürbar machen. Sie hilft, nach der Lebensdienlichkeit von Haltungen, Denkmodellen und Überzeugungen kritisch zu fragen und kann Impulse zur Dekonstruktion von wenig verheißungsvollen Ansätzen bieten – nach dem biblischen Motto: „Prüfet alles, das Gute behaltet!“ (1. Thess. 5,21) Was diese religionspädagogische Arbeit nicht erarbeitet, ist die direkte vertrauensvolle Übernahme der Botschaft, in der christliches Leben sich gründet – weil dies nicht leistbar ist, sondern dem freien Wirken des Heiligen Geistes überlassen bleibt. Allerdings ist das Hören der Botschaft Voraussetzung dafür, dass sich dies ereignen kann. Daher muss auch die Botschaft von der Versöhnung Gottes mit der Welt im Geschick Jesu im Religionsunterricht ihren Platz finden – aber immer in der Entscheidungsoffenheit, dass die unverfügbare, geheimnisvolle und wundersame Kraft der Versöhnung im Anschluss oder ohne Bindung an die christliche Botschaft angenommen wird. Diese Offenheit ist auch für den sich konfessionell, also im Bekenntnis gründenden Religionsunterricht konstitutiv in der pluralistischen Gesellschaft und im öffentlichen Bildungssystem. Gleichwohl ist offensiv zu vertreten, dass sich aus dem Gegründetsein im Narrativ dieses Bekenntnisses zum versöhnenden Gott auch für diejenigen, die nicht der Kirche angehören und nicht das Bekenntnis teilen, lebensförderliche Anregungen gewinnen lassen.

10.

Versöhnungsnarrativ

Mit Jürgen Ebach kann man sagen, dass die Bibel „als Speicher gelebten Lebens Handlungsmodelle und -angebote (enthält) und so Möglichkeiten zur Versöhnung

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eröffnen (kann)“ (Ebach 2014, 346). In der Gesellschaftsperspektive meint Ebach sogar, das Versöhnungshandeln und die Versöhnungsbedürftigkeit der Christen „können in Staat und Gesellschaft nicht zur allgemeinen Regel erhoben werden, doch sie können dort zu einem Ferment eines Zusammenlebens werden, in dem Liebe und Gerechtigkeit versöhnt sind“. Das alles ist richtig und gut und doch vor dem Hintergrund der Erkenntnis, dass Machbarkeitsratschläge nur sehr begrenzte Reichweite haben auf diesem Gebiet, auch wieder weiter zu verweisen auf das eigentliche Mysterium der christlichen Versöhnungsbotschaft, auf ihr Verbundensein mit dem Kreuzestod Jesu und mit der Botschaft seiner Auferweckung. Sie setzt eine Deutung als Versöhnungshandeln Gottes frei, die eine Aufhebung der Störung der Beziehung zwischen Gott und Mensch bewirkt und auszustrahlen beginnt bis in kosmische Dimensionen. Insofern hat die Versöhnungsbotschaft der Christen einen eschatologischen Zug auf eine umfassende, alle Störungen und Verletzungen betreffende Heilung hin. Diese steht erkennbar in ihrer Verwirklichung noch aus. Was Christen eschatologisch nennen, werden andere womöglich als utopisch einstufen. Und doch wirkt diese Versöhnungszukunft durch die Kraft Gottes schon in die Gegenwart hinein und das „Reich Gottes“ hat bereits begonnen. Das eigentliche Wunder geschieht schon da, wo jemand um Vergebung bittet8 . Grundzüge christlicher Versöhnungslehre sind in den Unterricht zwingend einzubringen, auch wenn eine ausgeführte Satisfaktions- und Stellvertreterlehre wohl eher hinderlich sein kann. Unaufgebbar ist aber die Botschaft, dass die Gottesbeziehung die Grundsituation des Menschen offenlegt (vgl. Ebeling 1979, 189–191; 194–210) und dass der Person Jesu eine Schlüsselrolle für die Erkenntnis dieser Grundsituation zukommt. Von dieser Basis aus kann eine soteriologische Deutung der Wirklichkeit angegangen werden, also ein Entdecken, Aufspüren und Proklamieren heilsamer Perspektiven für konkrete Lebenssituationen. Um den Ansatz bei der Scham wieder aufzugreifen, kann auf der Grundlage der Versöhnungsbotschaft mit Ulrich Körtner erkannt werden: Der Mensch wird passivisch dazu aufgefordert, sich mit Gott versöhnen zu lassen. Versöhnung mit Gott bedeutet nun aber auch, von sündigen und lebenszerstörenden Allmachtsfantasien ab zu lassen. Es bedeutet auch, mit sich selbst barmherzig zu sein und sich selbst zu verzeihen, dass man den eigenen Idealen nicht genügt (Körner 2020, 353f).

Die heilende Kraft der Versöhnung kann in allen Relationen des Menschseins gesucht werden. Sie zu erbitten ist Bestandteil christlicher Frömmigkeitspraxis und

8 So Moisés Mayordomo: „Das eigentliche Wunder ist nicht, dass Vergebung geschieht, sondern dass diese durch die Einsicht in persönliche Schuld und die Bitte um Vergebung überhaupt erst ermöglicht werden kann“ (Mayordomo 2015, 172).

Verzeihen – Vergeben – Versöhnung

in Andachten, Schulgottesdiensten und in Grenzen auch im Religionsunterricht erlebbar. Auch wenn der Zugang zur Gottesbotschaft über die klassischen metaphysischen Konzeptionen heute nicht mehr gangbar ist, auch wenn christliche Sozialisation in Familien eher ausnahmsweise angenommen werden kann und selbst wenn die „großen Erzählungen“ (Jean-Francois Lyotard) nicht mehr zu Hilfe stehen: Geeignete biblische Geschichten können in ihrer Symboltiefe Aufschluss über Gott, Welt und Mensch liefern und als „kleine Meta-Erzählungen“ (Ulrich Luz in Aufnahme von Francis Watsons „small-scale narratives“) (Luz 2014, 144–147; 60–64) auch den Blick für die fundamentale Bedeutung des Versöhnungsangebotes Gottes für Lebensorientierung, -empfindung und -gestaltung öffnen. Schon im Kindesalter kann z. B. an der Zachäusgeschichte (Luk 19,1–10) die Wirksamkeit von Betrug, Ausgrenzung, Feindschaft innerhalb einer Gemeinschaft, menschlicher Nähe und Zuwendung, Versöhnung und Wiedergutmachung gezeigt, auch die aufbauende und heilsame Nähe Jesu empfunden werden. Allein schon die Tatsache, dass die Versöhnungsbotschaft da ist, kann ein kritisches Hinterfragen jener mit sich bringen, die partout Unversöhnlichkeit ideologisch rechtfertigen. Die Relevanz von Beziehungen wird evident und stellt jene in Frage, die zwischen Menschen, Nationen, Religionen und Kulturen aber auch gegenüber der Natur Beziehungspflege ablehnen und Durchsetzungs-, Überwältigunsstrategien das Wort reden. Die politische Dimension von Versöhnung ist unverkennbar und der aufklärerische Impetus zwingend. „Eine emanzipierte Gesellschaft wäre […] die Verwirklichung des Allgemeinen in der Versöhnung der Differenzen“ (Adorno 1997, 116). „Versöhnte Verschiedenheit“ – ein Begriff aus der Ökumene – markiert die besondere Verantwortung der christlichen Kirchen und ihres Zusammenlebens als Leuchtturm für die Koexistenz der Nationen, Kulturen, Ethnien und Religionen.

11.

„Versöhnlich leben“ – Leitbild mit uneinheitlichen Begründungsmotiven

Die Beschäftigung mit Verzeihen, Vergeben und Versöhnung konfrontiert mit der Brüchigkeit, Verletzlichkeit und Abgründigkeit, auch der Endlichkeit des Lebens. Daher darf die Ermutigung für die aufbauende Kraft der Versöhnung nie fehlen. „Versöhnlich leben“ sollte ein Leitbild für Bildung und Erziehung in pluralen Gesellschaften sein. Eine abstrakte Toleranz, die sich im Wertekonsens großer Zustimmung erfreut, aber als „schwache Toleranz“ bei Ausblendung der schmerzhaften Differenzen und gewaltsamen Störungen in der eigenen Vergangenheit leicht als kraftlose Gleichgültigkeit entlarvt, hilft nicht weiter. Eine starke Toleranz, die sich dem Anderssein anderer und den offenen und verborgenen Konflikten im Miteinander stellt, wird sich im „Ertragen“ nicht erschöpfen, sondern Wege

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und Zeichen einer versöhnlichen Grundhaltung und -ausrichtung suchen wollen (Krimmer 2013, 347).9 In der Begegnung zwischen Handlungs-/Kommunikationskompetenz und der Botschaft von der unverfügbaren, aber von Gott angebotenen Versöhnung, bin ich auf Hinweise eines Exegeten gestoßen, die religionspädagogisch relevant sind. Moisés Mayordomo weist in seiner Untersuchung zur „zwischenmenschlichen Vergebung in der Perspektive des Matthäusevangeliums (Mayordomo 2015, 169) im Anschluss an die Vaterunserbitte Mt 6,12 („und vergib uns unsere Schuld, wie auch wir vergeben unseren Schuldigern“) hin auf das „unauflösliche Wechselverhältnis von menschlicher und göttlicher Vergebung“. Er erkennt: „Damit gerät die theologisch-architektonische Ordnung von Ursache und Wirkung oder, theologisch gesprochen, von Gerechtigkeit aus Gnade und Gerechtigkeit aus Werken durcheinander“. Während die Tradition nachvollziehbarer Weise die vorgängige, unverdiente Versöhnung Gottes betont, auf deren Grundlage der Mensch befreit ist zu nachfolgendem Versöhnungshandeln, stolpern wir über das Gleichnis vom „Schalksknecht“, das mit dem Zorn und der Überantwortung des Knechts an seine Peiniger endet „bis er alles bezahlt hätte, was er schuldig war“, also mit Strafe und Vergeltung und dem Jesuswort nach Mt 18,35: „So wird auch mein himmlischer Vater an euch tun, wenn ihr nicht von Herzen vergebt, ein jeder seinem Bruder.“ Mayordomo kommt zu dem Schluss: „Zwischenmenschliche Vergebung darf auf göttliche Vergebung hoffen, weil sie bereits Ausdruck von göttlicher Vergebung ist. In jedem Akt der Vergebung kommt etwas Göttliches, Gnadenhaftes, Unerwartetes zum Vorschein. In der Wiederherstellung von Beziehungen wird die Basileia Gottes erkennbar“ (Mayordomo 2015, 172). Wenn also ein Schüler oder eine Schülerin für sich zu dem Ergebnis kommt, dass die Rede von Gott für ihn/für sie nicht zugänglich ist und nur eine atheistische oder agnostische Position überzeugen kann, aber dennoch sich in der Beschäftigung mit Lebenssituationen zur Offenheit gedrängt sieht, ein vergebendes Zugehen auf andere und Handlungen der Versöhnung für wichtig zu halten und sich ihnen verpflichtet zu fühlen, dann geschieht bereits das Ereignis, dass die unverfügbare Kraft der Versöhnung präsent ist. Aus christlicher Sicht wird man sagen können, dass Gott selbst verborgen gegenwärtig ist und das Wunder der Versöhnung bewirkt. Und doch ist es aus Sicht dieses/dieser einzelnen der eigene Entschluss. Wir haben in der Fridays-for-Future-Bewegung ein spektakuläres Anschauungsbeispiel für solche Verhältnisse. Es gibt sicher viele Beteiligte, die sich aus christlichen Motiven für die „Bewahrung der Schöpfung“ engagieren, aber sich

9 Krimmer arbeitet den Unterschied zwischen einer „beliebig und abstrakt bleibenden“ und einer aktiven, starken, von ihr als „reflektiert“ benannte Toleranz überzeugend heraus und fordert zu Recht eine „Didaktik der reflektierten Toleranzerziehung“ (Krimmer 2013, 347) ein.

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vielleicht noch mehr für Tiere und Pflanzen einsetzen und den Erhalt der natürlichen Lebensgrundlagen aus der Einsicht heraus, dass wir Menschen Störungen und Verletzungen ungeheuren Ausmaßes verursacht haben, die zukunftsgefährdend sind. Ohne Zweifel spielt Scham eine Rolle, als schmerzliches Erleben der Differenz zwischen dem eigenen Lebensideal und der Lebenswirklichkeit, in die man gemeinschaftlich verstrickt ist. Die Radikalität und Schonungslosigkeit, mit der man ein Verpflichtetsein gegenüber der Welt empfindet, entspricht dem Anspruch, den auch Glaubende für sich durch die transzendente Instanz ihres Schöpfers und Erlösers wahrnehmen. Da ist etwas, was unbedingt angeht, ein Gefühl schlechthinniger Abhängigkeit, ein nicht hintergehbares Angesprochen-Sein und In-VerantwortungStehen. Subjektorientierter Religionsunterricht sieht sich konfrontiert mit Anforderungssituationen und bietet Impulse, Sprach- und Denkangebote, um Kindern und Jugendlichen eigene Urteilsbildung zu ermöglichen und eine Grundorientierung aufzubauen. Ob es zu Positionen führt, die die biblische Botschaft vom Versöhnungshandeln Gottes integriert, in Teilen aufnimmt oder außen vorlässt, muss offenbleiben. In allen Varianten lässt sich vorstellen, dass sich Zugänge zum „Wunder“ auftun, dass die unverfügbare Kraft der Versöhnung erkannt und persönlich fruchtbar gemacht wird. Prozessorientiertes Unterrichten hat einen Schwerpunkt in solchen subjektgeleiteten Schüleraktivitäten. Allerdings sind immer wieder intensive und gehaltvolle Reflexionsphasen nötig, in denen die Lehrkraft mit Interesse und Aufmerksamkeit den Schüler:innen zuhört, ihnen hilft ihre Vorschläge präzise zu versprachlichen und – bei älteren Jahrgängen – mit Theorieangeboten darzustellen und zu kommunizieren. Außerdem kann die Lehrperson selbst in transparenter Positionalität ihre eigene Überzeugung aus einer Innenperspektive des Glaubens und Engagiertseins heraus einbringen, am besten so auf die Schülerperspektiven bezogen, dass sie als Impuls dienen können, sich eventuell noch mehr oder anders auf das Angebot der Versöhnung einzulassen und es auf Lebenssituationen hin zu konkretisieren. Das kann in der Hoffnung geschehen, dass Mut wächst, Phantasie für Beziehungs- und Lebensgestaltung erblüht, Vertrauen entsteht, um sich auf Neues und auf andere Menschen, auf die Welt und auf Gott zuversichtlicher und erwartungsoffener einzulassen, dass Schmerz gelindert, Wut und Drang nach Vergeltung überwunden wird. Eine solche Hoffnung ist mit der Professionalität des Religionslehrerberufs vereinbar, immer wieder sogar geboten und sie ist für die eigene Berufszufriedenheit sehr wohl von Gewicht. Aber sie ist keine Garantie – auch hier gilt die bereits erwähnte Unverfügbarkeit und Entscheidungsoffenheit. Ziel ist es, die Urteilskraft des Schülers/der Schülerin zu stärken und anhand konkreter Szenarien und Kommunikationen nachhaltig in langen Zeiträumen weiter zu bringen. Gleichgewichtig mit der Stärkung der Innenperspektive bleibt die Gesellschaftsperspektive zur Versöhnung als eigene Aufgabe bestehen. Sie führt zu rational

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nachvollziehbarer Beschäftigung mit den Fragen, wie ein friedliches, gerechtes und funktionierendes Miteinander in menschlicher Gemeinschaft, in Staaten und zwischen Nationen, aber auch im Gesamtzusammenhang des Lebensraums Erde möglich ist, was es dazu braucht und wie Störungen erkannt und überwunden werden können. Hier ist die Kooperation auf Augenhöhe mit anderen Schulfächern geboten und dem Fach Religion steht es gut an, sich dabei auch lernend einzubringen, während in der erwähnten Innenperspektive das Proprium des Faches zur Geltung kommt und notfalls auch im Streit der Angebote hochgehalten werden soll. Beim subjektorientierten Lernen begegnen wir freilich einem „religionsdidaktischen Paradox“ (Bernd Schröder): „Religionsdidaktisch reflektiertes Handeln muss voraussetzen, worauf es zugleich erst hin arbeitet“ (Schröder 2012, 584), z. B. die ethische und religiöse Urteilskraft des Schülers/der Schülerin. Ebenso setzen wir voraus, dass Lebenserfahrungen positiver aber auch schmerzlicher und abgründiger Art sowie grundlegende Daseins- und Sinnfragen eingebracht werden – obwohl sie sich vielleicht erst später im Leben in Schärfe einstellen – und mit den Überzeugungen einer Glaubensexistenz konfrontiert werden – obwohl es diese Glaubensexistenz vielleicht noch nicht gibt, vielleicht nie geben wird. Indem Bildung auch religiöse Bildung umfasst, ist dieses Paradox als gegebene Voraussetzung von Religionsunterricht zu akzeptieren: Es hat seinen Platz an der Schule. Die EKD hat 2020 in dem Grundlagentext der Kammer für Bildung und Erziehung, Kinder und Jugend „Religiöse Bildung angesichts von Konfessionslosigkeit, Aufgaben und Chancen“ grundsätzlich zu dieser Frage Stellung genommen und betont: „Es gilt in Begegnung und Dialog mit Konfessionslosen offen (und selbstkritisch), aber auch positionierungsbereit zu sein“ (EKD 2020, 145). Religionsunterricht kann im Respekt gegenüber und innerhalb der eigenen Lerngruppe selbst ein Übungsfeld und ein gelebtes Beispiel für eine versöhnliche und versöhnungsorientierte Haltung und Grundatmosphäre sein. Er hält damit eine verbindende, einprägsame Idee von dem, was „es heißt als Christ in unserer Welt zu leben“, präsent. Dritte These: Subjektorientierter Religionsunterricht, der Schülerinnen und Schüler mit Situationen beschäftigt, die durch beziehungsverletzende und gemeinschaftsstörende Handlungen entstanden sind, und sie nach Lösungen suchen lässt, führt zur Erkenntnis, dass wir Menschen auf Versöhnungsbereitschaft angewiesen sind, dass bestimmte Kommunikationsfähigkeiten hilfreich für eine konstruktive Überwindung der verletzten Beziehungswirklichkeit sind, dass sie aber auch an Grenzen stoßen und dass das Gelingen von Versöhnung immer wieder unsere Erkenntnis- und Handlungsreichweite10 transzendiert. Die Reflexion dieser Lösungsversuche lädt zur Kommunikation

10 Domsgen 2019, 9 schlägt eine interessante Perspektivenunterscheidung in dem von uns untersuchten Übergangsfeld vor: „Für eine am Evangelium orientierte Religionspädagogik heißt das, dass sie

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des Evangeliums ein, um ein Wirklichkeitsverständnis zu eröffnen, das in Gottes Versöhnungsangebot eine Perspektive für das eigene Leben frei legt, in der sich je neu und situationsgebunden das Erleben der Kraft von Versöhnung beglückend und ermutigend ereignen kann, aber nicht muss. Das Eintreten in diese Kommunikation bringt eine Intensivierung der Beschäftigung mit lebensgestaltenden und -eröffnenden Optionen mit sich und stärkt die ethische und religiöse Urteilskraft, z. B. die innere Auseinandersetzung mit der Gottesfrage und der Frage nach der eigenen Versöhnungsbereitschaft – auch wenn die Antworten auf diese Fragen ergebnisoffen zu erwarten sind.

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einerseits in der Wahrnehmung auf allgemein menschliche Kommunikationsformen bezogen ist, andererseits jedoch in der Handlungsorientierung eine vom Evangelium bestimmte Richtung anbahnen will“. Im Ansatz schließe ich mich dieser Vorstellung an, insofern ich allgemeinverständlich bei Kommunikationsbeobachtungen einsetze. Allerdings würde ich nicht erst bei der Handlungsorientierung, sondern bereits bei der Wahrnehmung der Kommunikation und ihrer Grenzen bzw. ihres Gelingens das Phänomen der „Unverfügbarkeit“ bzw. den Ereignischarakter des Evangeliums in Anschlag bringen wollen.

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Miriam Rose

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

Wir verallgemeinern aus dem, was wir erleben. Wann immer wir sagen: „Menschen sind, was sie sind“, meinen wir die Menschen, denen wir begegnen; Menschen, die von der Welt, die wir zufällig gemeinsam bewohnen, geformt und bewegt und geleitet werden (Baumann 2019, 7).

So zeigt das Nachdenken auch über ein so universales menschliches Phänomen wie das Vergeben, in welcher Welt die jeweilige Denkerin lebt. Was sind die destruktiven Kräfte in dieser Welt und auf welche veränderte Welt denkt der jeweilige Philosoph hin? Die Rede von Vergebung ist niemals nur ein moralisches Thema, sondern hat politische, soziale und kulturelle Implikationen; es ist beheimatet in einer je bestimmten historischen Welt. Organisierter Massenmord, Genozid, Vergewaltigung als „Mittel“ der Kriegsführung sowie strukturelle Diskriminierung gehören zum 20. Jahrhundert als Horizont des politischen, ethischen und theologischen Nachdenkens. Das Nachdenken über Vergebung und Versöhnung konfrontiert daher immer über alle persönlichen Schulderfahrungen hinaus mit dem Abgrund an Vernichtung. Die Frage nach der Vergebung ist im Zentrum die Frage nach der Möglichkeit einer gemeinsamen Zukunft. Der Vergebung weist die Denkerin Hannah Arendt (1906–1975) eine konstitutive Rolle für das politische Handeln der Menschen zu. Diese konzeptionelle Schlüsselrolle nimmt das Vergeben in ihrem Werk ein, obwohl Arendt sich nur an wenigen Stellen und auch da nur knapp zum Thema Vergebung geäußert hat. Deshalb und weil die Art der Thematisierung zu vielen anderen christlichen, psychologischen oder philosophischen Theorien der Vergebung quer liegt, auch durchaus kontraintuitiv ist, spielt Arendts Theorie nur eine relativ geringe Rolle in der komplexen und umfangreichen wissenschaftlichen Forschung zu Vergebung und Versöhnung. Im Folgenden soll – nach einigen einleitenden Vorbemerkungen zu Arendts Biographie und Perspektive – ihr Denken über Vergebung in seinen Hauptzügen skizziert werden. Die Denkerin Hannah Arendt erlitt als kritische jüdische Philosophin schon 1933 nationalsozialistische Gewalt; aufgrund ihrer Recherchen zu antisemitischen Reden und Aktionen von Nationalsozialisten nahm man sie in Berlin fest. Nach ihrer Verhaftung floh sie nach Paris. 1940 nahm man sie dort als „feindliche Ausländerin“ fest, wie es nach Kriegsausbruch zwischen Frankreich und Deutschland allen

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geflüchteten Deutschen geschah. Aber auch dort konnte sie fliehen und mit Hilfe verschiedener Freunde 1941 zusammen mit ihrem Ehemann Heinrich Blücher und ihrer Mutter in die USA entkommen.1 1944 schrieb sie (auf Deutsch) den Essay Organisierte Schuld. Die konkrete Welt, mit der sie sich konfrontiert sah, in Zugehörigkeit und Distanz, war das nationalsozialistische Deutschland und die Auswirkungen auf ganz Europa. Die Perfidie der Nationalsozialisten bestand unter anderem darin, alle Deutschen mitschuldig zu machen als Täter oder als Komplizen. Die Strategie bestand darin, „die private Existenz jedes Individuums auf deutschem Boden davon abhängig zu machen, daß es Verbrechen entweder begeht oder ihr Komplize ist“ (Arendt 2016, 36). Das bedeutet für alle anderen, dass sie es zukünftig mit einem Volk zu tun haben werden, „in welchem die Linie, die Verbrecher von normalen Menschen, Schuldige von Unschuldigen trennt, so effektiv verwischt worden ist, daß morgen niemand in Deutschland wissen wird, ob er es mit einem heimlichen Helden oder einem ehemaligen Massenmörder zu tun haben wird“ (Arendt 2016, 36f). In der Konsequenz interessiert sich Arendt dafür, wie es zu einem solchen totalitären System hat kommen können und wie es in bestimmten neuzeitlichen Entwicklungen wurzelt (ohne hier eine Geschichtsnotwendigkeit zu postulieren). Das Ergebnis ist ihr Werk Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft (Arendt 1986). Als weitere Konsequenz arbeitet sie daran, zur völligen Entstellung des Politischen ein Gegenbild zu entwerfen, also eine Konzeption wahrhaft humaner Politik, welche sich auf den Begriff des Handelns stützt. Fortan bezeichnet sie sich als „politische Theoretikerin“, welche Wert darauf legt, keine politische „Philosophin“ zu sein.2 Über eine künftige mögliche bessere Welt schreibt sie in diesem Essay abschließend: Eines aber ist sicher: auf sie und nur auf sie, die eine genuine Angst vor der notwendigen Verantwortung des Menschengeschlechts haben, wird Verlaß sein, wenn es darum geht, gegen das ungeheure Übel, das Menschen anrichten können, furchtlos und kompromißlos und überall zu kämpfen (Arendt 2016, 45).

Arendt sieht, dass nur in der „Idee der Menschheit […] politisch die sehr schwerwiegende Konsequenz [liegt], daß wir in dieser oder jener Weise die Verantwortung für alle von Menschen begangenen Verbrechen, daß die Völker für alle von Völkern

1 Einen auch sehr anschaulichen Eindruck von ihrer Biographie gibt der Ausstellungskatalog zu einer Arendt-Ausstellung des Historischen Museums in Berlin (Blume 2020). 2 Gegen die Einordnung in den Kreis der Philosophen protestiert Arendt gleich zu Beginn des berühmt gewordenen Fernseh-Interviews mit Günter Gaus vom 28.10.1964 (Arendt 1964).

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

begangenen Untaten die Verantwortung werden auf sich nehmen müssen“ (Arendt 2016, 44). Wie verbinden sich diese beiden Themen im Werk von Hannah Arendt? Das Konzept von Vergebung könnte als Verbindung fungieren zwischen der Auseinandersetzung mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und der Ermöglichung des politischen Handelns in der Gegenwart hin zur Zukunftsgestaltung. Doch für Arendt besteht die Brücke im Verstehen: im nüchtern-analytischen Verstehen dessen, was war und wie es war und warum es war, wie es war sowie im Verstehen dessen, was Politik im eigentlichen Sinne, in einem dem Menschen gemäßen Sinne ausmacht. Diese Nüchternheit und Kühle im Verstehen der nationalsozialistischen Verbrechen wurde ihr auch zum Vorwurf gemacht: so vielfach in der heftigen Kritik an ihrem Bericht über den Prozess an Adolf Eichmann in Jerusalem 1960/1961 (vgl. Mommsen 2013, v. a. 32). Dem Vergeben dagegen weist sie nur einen Ort innerhalb des politischen Handelns zu, während sie für das konkrete Vergangene, den organisierten Massenmord an Jüdinnen, Juden und vielen weiteren Opfergruppen, dessen Unvergebbarkeit (und Unbestrafbarkeit) betont. Hannah Arendt verstand ihr Werk als politische Theorie. Diese enthält jedoch eine umfassende Anthropologie, die sie zum großen Teil in ihrem Buch Vita activa oder Vom tätigen Leben von 1958 entfaltet. Darin kommt dem Vergeben eine konstitutive Funktion für das Politische zu: als seine beständige neue Ermöglichung (gemeinsam mit dem Versprechen). Nochmals ausdrücklich sei betont: Anders als vielleicht zu erwarten, stellt Arendts Theorie von Vergebung und Versöhnung keine Auseinandersetzung mit den Menschheitsverbrechen in den Konzentrationslagern und den deutschen Kriegsverbrechen dar. Vergebung bezieht sich ausschließlich auf die Ermöglichung von Politik, also auf das tägliche Miteinander von Menschen, genauer von Bürgerinnen und Bürgern; das geschichtliche Unrecht bleibt dezidiert ausgenommen auch nur von der Möglichkeit der Vergebung und Versöhnung. Bevor inhaltlich die Vergebungstheorie von Arendt vorgestellt wird, seien drei Besonderheiten benannt, welche die Art ihres Interesses an Vergebung und Versöhnung bestimmen. (a) Empfänger-Perspektive: Interessant ist, wie das asymmetrische Verhältnis zwischen Menschen im Vollzug der Vergebung vorkommt. Vergeben setzt Pluralität, setzt andere Menschen voraus. Diese kommen Arendt aber nicht primär in den Blick als „Opfer“ unserer Handlungen, sondern primär als diejenigen, die uns vergeben können. Die Mitmenschen sind bei Hannah Arendt Menschen, mit denen ich handle und die mir vergeben. Das sind vor allem die Mitbürgerinnen und Mitbürger, diejenigen, mit denen ich eine politische Gemeinschaft bilde. Es sind bei Arendt also nicht primär die Menschen aus dem privaten, persönlichen Nahbereich im Blick, sondern diejenigen, mit denen das Subjekt auf politische Weise eine gemeinsame Welt teilt, welche zugleich verbindet und trennt (vgl. Arendt 1996, 66). Die in dieser politisch geteilten Welt eigene Freiheit im Handeln verdankt sich dem

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Vergeben anderer Menschen. Das Subjekt wird also als ein solches angesprochen, das aus der Vergebung der anderen Menschen, genauer der Mitbürgerinnen und Mitbürger lebt. (b) Vergebungstheorie ohne Interesse am Schuldphänomen: Arendt interessiert sich im Kontext des Werkes Vita activa nicht für das Phänomen Schuld in seinen Differenzierungen oder in seinen moralischen und psychologischen Auswirkungen. Reflexionen zu Prozessen innerer Reue oder sonstiger innerer Auseinandersetzungen mit Schulderfahrungen fehlen in ihrem Werk. Insbesondere reflektiert sie nicht, wie Täter und Opfer mit der von ihr so genannten unvergebbaren Schuld umgehen und umgehen könnten. Einerseits ist das verständlich, weil Hannah Arendt ihre Überlegungen im Rahmen einer eigenen anthropologischen Analyse der menschlichen Tätigkeitsformen vorträgt und eine Rehabilitierung der Politik als höchster menschlicher Daseinsform intendiert. Andererseits wird die Zurückhaltung gegenüber der Schuldfrage dadurch eher noch verwunderlicher, dass Arendt als aufmerksame politische Zeit-Beobachterin sehr wohl sieht, wie in Europa angesichts der nationalsozialistischen Verbrechen und in Amerika angesichts des politischen Rassismus ein politisches Miteinander ohne Bearbeitung der Schuldfrage kaum möglich ist. Insofern ist dieser Verzicht auf eine Schuld-Typologie im engeren Sinne als eine umso bewusster vollzogene konzeptionelle Entscheidung anzusehen. (c) Neutrale Offenheit gegenüber der religiösen Dimension: So sehr Arendt eine philosophisch-politische Theorie von Vergebung vortragen will, so stark sie sich auch von christlicher Theologie, insbesondere augustinischer Prägung abgrenzt, so schwebend bleibt ihr Umgang mit der allgemein religiösen Dimension von Vergebung. Sie lehnt eine menschliches Handeln bestimmende Bezugnahme auf Gericht oder Gnade Gottes ab; zugleich aber spricht sie unbefangen von Gott und von der Erschaffung des Menschen durch Gott (vgl. Arendt 1996, 216). Auch knüpft sie explizit an die Lehre des Jesus von Nazareth und an reflektierte Erfahrungen der frühen christlichen Gemeinden an. Diese Lehren will sie aber dezidiert als allgemeine politisch-ethische Einsichten verstanden wissen. Arendts Konzept ist in sich kohärent verständlich ohne religiöse Bezugnahmen; zugleich aber ist es offen dafür, als politisches Konzept in bestimmte religiöse Wirklichkeitsdeutungen integriert zu werden. Als Kriterium für solche religiösen Wirklichkeitsdeutungen stellt sie auf, dass Gott dabei in keiner Weise vereinnahmt und vereindeutigt werden darf. Anders ausgedrückt: Die Transzendenz und Unverfügbarkeit Gottes muss strikt mitgedacht werden. Dieses Motiv ist in allen monotheistischen Religionen präsent, ursprünglich aber im Judentum und in besonderer Weise auch in der jüdischen Philosophie der Neuzeit.

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

Hannah Arendts Verständnis von Vergebung in ihrem Werk Vita activa sei im Folgenden in seinen Grundzügen nachgezeichnet3 , wobei zur Profilierung auf Entwürfe von Denkerinnen und Denkern verwiesen wird, die ähnlich sind und im Detail doch unterschiedlich. Abschließend sei auf ihr Modell von Versöhnung verwiesen, wie sie es in frühen privaten Aufzeichnungen umrissen hat.

1.

Arendts Konzept von Vergebung

1.1

Vergebung als Handeln und Handlungsermöglichung

Vergebung thematisiert Arendt als Umgang mit dem Prozesscharakter des Handelns. Den Terminus „Handeln“ verwendet Arendt in einer prägnanten Weise, die sich an Aristoteles anlehnt. Der Überbegriff ist menschliches Tun, das sich in drei Arten untergliedert: arbeiten, herstellen, handeln. Handeln zeichnet sich dadurch aus, dass es den Sinn in sich selbst trägt, dass es im Miteinander mit anderen Menschen geschieht und dass es letztlich darum geht, die Person des Handelnden darzustellen (vgl. Arendt 1996, 293–311). Menschliches Handeln ist weiter dadurch gekennzeichnet, dass es jeweils einen neuen Anfang und unabsehbar Prozesse in Gang setzt, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden können. Die Unabsehbarkeit des Handelns begründet Arendt damit, dass alles Handeln (auch wenn es ein Neu-Anfangen ist) sich einfügt in bereits bestehende soziale Zusammenhänge und dass es andere Menschen dazu bringt, mit-zu-handeln, welche das Handeln auf eigene, unvorhersehbare Weise beeinflussen (vgl. Arendt 1996, 237). Wegen dieser Unübersehbarkeit spricht sie dem Handeln auch die Souveränität ab. Wer handelt, ist gerade nicht souverän. Im Wesentlichen bewertet Arendt die Unübersehbarkeit des Handelns als außerordentlich positiv. Sie ist es, welche uns zu Neugierde, Spannung und Zukunftslust verlockt, so dass wir Menschen trotz der Gewissheit des Todes am Ende ein spannendes Leben leben (vgl. Arendt 1996, 239). Die Unvorsehbarkeit ist darüber hinaus aber auch der Preis „für die Freude, nicht allein zu sein, und für die Gewißheit, daß das Leben mehr ist als nur ein Traum“ (Arendt 1996, 312). Unvorhersehbare Prozesse in Gang zu setzen, die nicht mehr ungeschehen gemacht werden können, ist eine enorme Fähigkeit des Menschen. Diese Handlungsmacht belastet und bedrückt den Menschen; er lebt im Schatten der Verzweiflung, insbesondere wenn das Handeln sichtbar völlig unbeabsichtigte Folgen auftürmt. 3 Hierzu sei auf die Monographie über Arendts Konzept des Verzeihens verwiesen (vgl. Dürr 2009). Diese Dissertation zeichnet die Argumentation Arendts in vielerlei Hinsicht textnah nach, misst aber implizit Arendts Konzept an klassisch christlichen Vorstellungen, so dass Arendt gerade da kritisch in den Blick kommt, wo sie Neues und Anderes zu sagen hätte.

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Die Bürde liegt auch darin, dass der handelnde Mensch durch die Folgen seines Tuns, das er zu verantworten hat, gebunden ist und zwar für seine gesamte Lebenszeit. Besonders plastisch wird Arendt, wenn sie von der „ungeheuer widerstandskräftige[n] Zähigkeit“ der Handlungsprozesse spricht (Arendt 1996, 304). Offen bleibt bei Arendt, worin diese Bindekraft der Handlungsfolgen liegt: Entspringt die Bindekraft dem anrechnenden und verhaftenden Agieren der anderen Menschen, welche jemanden auf sein einmal Gehandeltes festlegen und ihn beständig mit den Folgen konfrontieren? Oder ist diese Bindekraft zwar sozial vermittelt, besteht aber darin, dass das Subjekt sich selbst mit seinem Gehandelthaben identifiziert und identifizieren muss, um überhaupt eine individuelle Identität aufrechtzuerhalten? Für Arendt wäre dies eine falsche Alternative. Personale Identität bildet sich im Sich-Zeigen und Gesehen-Werden. Sie ist für die Perspektive aller Beteiligten ebenso offensichtlich wie mehrdeutig, damit also wirkungsvoll, aber nicht durch Interpretationen (adäquat) einholbar. Dieses Gebunden- und Verhaftetsein an Folgezusammenhänge, die für Arendt bis ans Ende der Menschheitsgeschichte reichen, verunmöglicht dem Menschen aber das, worin für Arendt das eigentlich Humane der menschlichen Existenz liegt: das (beständige) Setzen eines neuen Anfangs und damit die Unterbrechung des bisherigen Geschehenszusammenhangs. Nur ein solches Tun nennt Arendt Handeln. Weil also der Mensch durch ein Handeln einen Folgezusammenhang notwendig auslöst, wäre er dadurch so gebunden, dass er nie wieder einen neuen Anfang setzen, also nie wieder handeln könnte. Hilfe dabei kann dem Menschen nur durch das Handeln selbst zuteilwerden: „Das Heilmittel gegen Unwiderruflichkeit – dagegen, daß man Getanes nicht rückgängig machen kann, obwohl man nicht wußte, und nicht wissen konnte, was man tat – liegt in der menschlichen Fähigkeit zu verzeihen“ (Arendt 1996, 301). An dieser Stelle ist besonders aufschlussreich, wie Arendt ihr Konzept in Kontrast setzt zu Immanuel Kant, wie aus ihrer Perspektive die Kantische Alternative zur konstitutiven Rolle des Vergebens lautet: „Weil Kant so viel von der Würde des Menschen verstand, hatte er auch den Mut, den handelnden Menschen von den Folgen seiner Tat freizusprechen und sich mit der Reinheit eines guten Willens zufriedenzugeben“ (Arendt 1996, 468, Schlussnote 78). Wie Arendt in dieser gewagten Kant-Interpretation Kant einen universalen Freispruch von den Folgen der Tat unterstellt, so behauptet sie für sich dazu entgegengesetzt und genauso einseitig einen universalen Schuldspruch für alle Folgen einer Tat. 1.2

Alles Handeln bedarf der Vergebung

Bisher war in keiner Weise von Unrechts-Taten, vom Bösen oder vom Schuldigwerden die Rede. Arendt geht davon aus, dass alles Handeln auch negative Folgen hat, also alles Handeln ambivalente Konsequenzen zeitigt. Für Arendt wird der Handelnde immer schuldig, indem er „eine Schuld an Folgen auf sich nimmt, die er

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niemals beabsichtigte oder auch nur absehen konnte“ (Arendt 1996, 297). Deutlich wird das beispielsweise auch in folgender Formulierung, wenn sie von der „Relevanz des Vergebens für den Schaden, den alles Handeln unweigerlich mitanrichtet“ spricht (Arendt 1996, 305, Hervorhebung M. R.). Wenn Arendt an anderer Stelle aber formuliert, dass „Unrecht“ vergeben wird, so deutet das darauf hin, dass sie die Unterscheidung guter Taten, die (notwendig) auch negative Konsequenzen haben, von Unrechtstaten mit ihren negativen Konsequenzen für nicht besonders stark und relevant hält. Das kann nur deshalb als irgendwie plausibel gedacht werden, weil Unrechtstaten in Arendts Definition nur solche sind, die nicht wissentlich oder willentlich Unrecht tun. Dass aber Menschen (beständig) Unrecht tun, ist für Arendt keiner weiteren Reflexion bedürftig. Eine Rückführung von Unrechtstaten auf eine Grundsünde im christlichen Sinne oder auf eine durch Wirtschaftsstrukturen entfremdete gesellschaftliche Lebenssituation in der Neuzeit lehnt sie explizit ab. Für sie resultieren Unrechtstaten vor allem daraus, dass Menschen die Folgen ihres Tuns niemals überblicken können und dass sie sich ihrer eigenen Motive, Ziele und Ausrichtungen nicht ganz bewusst sein können. Unrechttun ist eine Konsequenz von Nichtwissenkönnen; unrechtes Handeln geschieht hinsichtlich des Unrechts unabsichtlich. Unrechttun ist für Arendt daher eine nüchtern zu betrachtende Begleiterscheinung des menschlichen Handelns, also des menschlichen Daseins in intersubjektiven und geschichtlichen Zusammenhängen. Unrechttun bezieht sich bei Arendt ausdrücklich auf das Handeln; es ist nicht verortet im Arbeiten oder Herstellen. Demzufolge kann sich Unrechttun auch nur auf Menschen beziehen, nicht auf Dinge oder andere Lebewesen. Weil also alles Handeln (auch) negative Folgen hervorbringt, bedarf alles Handeln auch der Vergebung und gerade nicht nur das Tun, das im alltagssprachlichen Gebrauch als eine Fehltat oder ein Vergehen gilt.4 Die sonst üblicherweise geltend gemachten Unterschiede zwischen absehbaren und unabsehbaren Folgen, damit zwischen moralischer Schuld und faktischer Verursachung, bezieht Arendt damit ein. Darin besteht jedoch gerade die Pointe von Arendts Vergebungskonzept.5 Wenn aber alles Handeln der Vergebung in diesem Sinne bedarf, dann ist Vergebung ein alltäglich gefordertes Handeln. Ohne dieses alltägliche Handeln könnten

4 Die „Alternativen“ zum Vergeben sind Rache und Strafe. Rache ist eine reine Reaktion auf das vergangene Handeln; daher ist es selbst lediglich ein Automatismus, der das vergangene Handeln weiterführt. Es kann keinen neuen Anfang setzen. Die Strafe dagegen versucht, den Automatismus, den das Handeln ausgelöst hat, zu beenden. Arendt hält behutsam in der Schwebe, ob das durch Strafe gelingen kann. 5 Dürr dagegen bewertet es so, dass hier Arendt ein Fehler unterlaufen würde (vgl. Dürr 2009, 126). Diese Ausrichtung von Arendts Theorie ist sicher strittig, aber macht gerade den Kern ihrer Überlegungen aus. Daher kann es nicht als ein unbeabsichtigter Fehler interpretiert werden.

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Menschen nicht mehr miteinander und voreinander handeln. Ohne Vergebung gäbe es das nicht, was Arendt Politik nennt. Damit wird Vergebung zu einer konstitutiven Voraussetzung von Politik: Vergebung erneuert die Möglichkeit von Politik jeden Tag. Arendt schreibt: Könnten wir einander nicht vergeben, d. h. uns gegenseitig von den Folgen unserer Taten wieder entbinden, so beschränkte sich unsere Fähigkeit zu handeln gewissermaßen auf eine einzige Tat, deren Folgen uns bis an unser Lebensende im wahrsten Sinne des Wortes verfolgen würden, im Guten wie im Bösen (Arendt 1996, 302).

In diesem Zitat wird deutlich, dass alles Handeln der Vergebung bedürftig ist, wie gerade eben ausgeführt. Dieses Zitat aber legt einen noch kühneren Gedanken nahe: Der Mensch braucht Befreiung nicht nur von den negativen Folgen seines Tuns, sondern auch von den positiven Konsequenzen. Damit ein Mensch einen neuen Anfang setzen kann, muss er überhaupt von den Folgen seines Handelns entbunden werden. Er bedarf es, weder mit den negativen noch den positiven Folgen identifiziert und auf sie festgelegt zu werden. Auch die guten Taten im Hinblick auf ihre guten Folgen bedürfen der mitmenschlichen Verzeihung, damit Politik und (politisches) Handeln möglich bleibt. Verzeihung aber ermöglicht nicht dem jeweils anderen, neu zu beginnen, sondern auch demjenigen, der verzeiht: „Weil das Verzeihen ein Handeln eigener und eigenständiger Art ist, das zwar von einem Vergangenen provoziert, aber von ihm nicht bedingt ist, kann es von den Folgen dieser Vergangenheit sowohl denjenigen befreien, der verzeiht, wie den, dem verziehen wird“ (Arendt 1996, 307). Auch an dieser Doppelbestimmung zeigt sich Arendts Bemühen, die im Vollzug der Vergebung realisierte Asymmetrie zwischen dem, der vergibt und dem, der Vergebung empfängt, so weit wie möglich zu relativieren und auf die grundsätzliche politische Gleichheit und Symmetrie hin transparent zu machen. Ob dieses Beharren auf politischer Symmetrie nicht faktisch Asymmetrie stärkt, indem diese gar nicht thematisiert bzw. deren Thematisierung für unangemessen erklärt wird, wäre weiter zu diskutieren. Auffällig ist auch, dass Arendt nur eine Art von Vergebung kennt. Im Unterschied dazu unterscheidet beispielsweise Martha Nussbaum drei Formen von Vergebung, welche sie „transaktionale Vergebung“, „bedingungslose Vergebung“ und „bedingungslose Liebe und Großzügigkeit“ nennt (vgl. Nussbaum 2017, 90f.). Nussbaum stellt die Vorteile der letzteren Form heraus, die darin bestehen, vor allem auf den Übergang zur Zukunft ausgerichtet zu sein und nicht primär auf die Vergangenheit. Mit dieser Betonung darauf, wie Zukunft und Neuanfang ermöglicht werden können, stimmt Arendt mit Nussbaum überein.

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

1.3

Vergeben ermöglicht einen neuen Anfang

Vergebung hat in Bezug auf das Handeln bei Arendt eine doppelte Bedeutung: Es ist selbst ein Handeln, sofern es einen Neuanfang setzt. Es ist aber zugleich ein „Meta-Handeln“, insofern es den anderen Menschen und sich selbst überhaupt erst ermöglicht, wieder zu handeln und Neuanfänge zu setzen. Vergebung stellt zwar gegenüber der bisherigen Geschichte einen echten Neuanfang, ein Anderes, ein Unwahrscheinliches dar. Gegenüber der Vergangenheit ist es also ein Neuanfang. Gegenüber der Zukunft jedoch setzt es selbst keine neuen inhaltlich bestimmten Prozesse in Gang, sondern ermöglicht, dass solche in die Zukunft gerichteten Prozesse gesetzt werden – sowohl vom Täter als auch vom Opfer.6 Im Hinblick auf die Zukunft ist Vergeben also eher ein (die Vergangenheit) abschließendes und beendendes Handeln, so dass künftig Neuanfänge möglich werden. Es ist eine Initiative, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft radikal unterscheidet und als Kontinuität aufbricht. Vergeben ist ein Neuanfang, der Neuanfänge ermöglicht. Damit eröffnet Vergebung einen Möglichkeitsraum. Es ist das Prinzip des Neuen. Damit bildet sich die Gebürtlichkeit des Menschen – ein Neuanfang sein – direkt im Vergeben ab: einen Raum des Neuanfangenkönnens in die Welt zu bringen. Hier stellt Arendt jahrhundertelange Denktraditionen der europäischen Philosophie in Frage: nicht die künstlerische Kreativität ist der Inbegriff der Darstellung menschlicher Individualität und des Neuen, sondern das Handeln und zwar potenziert das vergebende Handeln. Allein in der sozialen Interaktion offenbart sich Individualität für Arendt. Im künstlerischen Tun zeigen sich herausragende Fähigkeiten der Einzelnen; aber sie enthüllen gerade nicht sein Personsein. In Kunst und Kultur geht es laut Arendt darum, Zeiten-Überdauerndes zu schaffen und damit den Menschen eine Heimat in der Welt zu gestalten; aber das Ziel besteht nicht darin, die Individualität des Künstlers zum Ausdruck zu bringen. Nicht der Bereich der Ästhetik und der Kultur, sondern der Bereich der Politik ist der Raum für die Entfaltung von Individualität. Elemente von romantischen Kunsttheorien, von Genie-Ästhetik oder auch von religiöser Individualitätskultur transformiert Arendt hier radikal in ein Konzept von Vergebung. Die Theorie der Vergebung als Kern von Arendts Handlungstheorie ist also zugleich auch eine Theorie der Individualität als einer strikt sozial-kreativen Individualität. Die Fähigkeit, neu zu handeln und das eigene Leben nicht nur jeweils fortsetzen zu müssen, stellt auch der israelische Philosoph Avishai Margalit (*1939) ins 6 Arendt selbst spricht in diesem Zusammenhang niemals von Täter und Opfer. Zu vermuten sind zwei Gründe: Zum einen möchte sie ein essenzielles und darin unangemessenes Verständnis vermeiden, denn Menschen sind beständig Opfer und Täter zugleich. Zum anderen intendiert sie, die politische Gleichheit in den Vordergrund zu stellen; die Rede von Täter und Opfer aber betont die Asymmetrie.

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Zentrum seines ethisch-politischen Denkens. Er verortet jedoch die Fähigkeit, das eigene Leben zu ändern allein in der Freiheit des Einzelnen. Diese nie verlierbare Grundfähigkeit des Menschen begründet bei Margalit auch die Pflicht, alle Menschen zu achten. Insofern besteht die Würde des Menschen bei Margalit darin, dass jeder Mensch dazu fähig ist, „dem eigenen Leben zu jedem beliebigen Zeitpunkt eine völlig neue Deutung zu geben und es dadurch radikal zu ändern“ (Margalit 2012, 79). Weil und insofern Margalit das Neuanfangen als eine dem Menschen unverlierbar inhärente Freiheitsfähigkeit konzipiert, vertritt er auch eine unverlierbare Würde, eine Würde, die unabhängig vom sozialen Zusammenhang Geltung beanspruchen kann. Arendt dagegen bindet das Neuanfangen-Können an soziale Bedingungen (nämlich, Verzeihung zu erfahren) und daran, dass das verübte Unrecht ein verzeihbares Unrecht ist. Dass zur Erfahrung der Verzeihung der anderen immer noch der eigene Wille dazukommen muss, den „Sinn zu ändern und neu anzufangen“ (Arendt 1996, 306), gilt aber natürlich auch für Arendt. Eine unbedingte Geltung von Menschenwürde und von Menschenrechten will Arendt im Gegensatz zu Margalit gerade nicht denken. Was weiter auffällt an Arendts Konzept von Vergebung als Ermöglichen eines Neuanfangs, gerade auch im Kontrast zu anderen Entwürfen: Transformation, Veränderung und Wandlung der beteiligten Subjekte spielen bei ihr keine Rolle. Als Konsequenz dessen interessiert sich Arendt auch kaum dafür, welche Kräfte im Menschen Vergebung befördern und welche Rolle Kultur, Gemeinschaft und Religion dabei spielen (können). Ebenso wenig erklärt Arendt die Reue zur Voraussetzung dafür, Verzeihung zu empfangen. Von Reue oder anderen Voraussetzungen beim Täter ist in Vita activa ausdrücklich nicht die Rede; die einzige Bedingung für das Verzeihen liegt darin, dass die zu verzeihende Handlung nicht vorsätzlich und wissentlich das Böse als Böses intendierte. Keine weitere Voraussetzung soll das Verzeihen bedingen.7 In Arendts Nachdenken verbinden sich pathetische Zentralstellung von Vergebung für eine humane Existenz mit einem karg-nüchternen, fast technischen Zugang zum Prozess der Vergebung. Erkennbar ist auch ihre Intention, Vergebung aus der rein religiösen/theologischen Reflexion zu holen und sie als einen adäquaten Gegenstand politischer Theorie auszuweisen. Vergebung soll als alltägliches und damit politisch konstitutives Geschehen erkannt werden.

7 Dürr zieht jedoch die in einem Briefwechsel Arendts mit Auden geäußerten Gedanken über Reue zur Interpretation des entsprechenden Kapitels in der Vita activa methodisch unkontrolliert heran. Er liest die in diesem Briefwechsel zur Bedingung von Verzeihung gemachte Reue in die Vita activa hinein ohne jeden Anhalt am Text; dann jedoch kritisiert er Arendts Ausführungen auf der Basis der (von ihr angeblich aufgestellten) Forderung nach Reue als Bedingung von Verzeihen als inkonsistent (vgl. Dürr 2009, 108; 276–280).

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

1.4

Vergebung als Unterscheidung zwischen Täter und Tat

Vergebung vollzieht sich um der Person willen, so Arendt. Um der Person willen wird von der Unrechtstat als solcher abgesehen, ohne damit ihren Unrechtscharakter zu relativieren. Die Unrechtstat wird von der Person des Täters so getrennt und gelöst, dass der Täter entbunden wird von der Tat und ihrem Folgezusammenhang. In diesem Sinne bedeutet Verzeihen das Ungeschehenmachen einer Tat. Arendt verwendet für diesen Sinn des Vergebens verschiedene Formulierungen, die zumindest semantisch nicht ganz kohärent sind: „von den Folgen unserer Taten wieder entbinden“ (Arendt 1996, 302), „von der Vergangenheit befreit werden“ (Arendt 1996, 303), „gegenseitiges Sich-Entlasten“ (Arendt 1996, 306) oder auch „Rückgängigmachen eines Gehandelten“ (Arendt 1996, 308). Ganz präzise trifft nur die erste Formulierung Arendts das von ihr Gemeinte. Die Folgen des Handelns sind nicht zu ändern oder gar rückgängig zu machen; aber die handelnde Person kann von der sozialen Identifikation mit diesen Folgen entbunden werden. Reale Veränderung der Folgen kann es im Denken von Arendt nur für die sozialen Beziehungen als solche geben; verzeihen kann bedeuten, vertrauensvolle Beziehungen wiederzugewinnen. Zum Vergeben ist für Arendt nicht nur wichtig, die Person als wichtiger denn ihre Tat zu nehmen. Dazu ist außerdem notwendig, dass die Unrechtstat interpretiert wird als unwissentlich oder unwillentlich, in Arendts an das Neue Testament explizit angelehnter Diktion: „was sie getan haben, ohne zu wissen, was sie tun“ (Arendt 1996, 306). Bei diesem Konzept werden gedankliche Spannungen deutlich, die aber zugleich etwas von der Schwierigkeit der Vergebung, also in der Sache freilegen: Handeln ist dazu da, dass Menschen sich als Person zeigen und durch ihr Handeln zu einer Lebensgeschichte werden, die sie als Person definiert. Wenn nun aber jedes Handeln der Vergebung bedürftig ist und beim Vergeben die Person von ihrem Handeln unterschieden wird: wie kann dann Handeln überhaupt noch die Person des Handelnden enthüllen? Diese Schwierigkeit macht es notwendig, sich näher mit Arendts Person-Begriff auseinanderzusetzen. Arendt benennt selbst die begriffliche und darin philosophische Schwierigkeit, über Personsein allgemein und im Konkreten zu sprechen. Alle philosophischen Zuschreibungen und Attribuierungen würden das „Was“ einer Person beschreiben, aber das Entscheidende, dass die Person ein „Wer“ ist, nicht ausdrücken können. Das Sein der Person geht also nicht (weder individuell noch allgemein) in ihren (als „was“ beschreibbaren) Eigenschaften auf. Sie enthüllt sich

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in allem Handeln (sogar gegen ihren Willen), aber über alle inhaltlichen Aspekte des Handelns hinausgehend.8 Daher ist die Person nur im je gegenwärtigen Erleben ihres Handelns offenbar, aber gerade nicht oder nur sehr indirekt im Gehandelten, in der vergangenen Handlung und ihren Folgen. Das Sich-Zeigen einer Person ist damit ganz an die Präsenz gebunden, es ist flüchtig und es ist vor allem vieldeutig (vgl. Arendt 1996, 222). Die Person zeigt sich im Handeln, aber als eine solche, die jenseits aller definierenden Attribute und Zuschreibungen steht. Sie definiert sich im und durch das Handeln, aber das (niemals eindeutige) Handeln definiert nicht die Person. An dieser Stelle scheint eine weitere vermeintliche Spannung im Denken Arendts auf. Das Handeln definiert nicht die Person, wohl aber definiert nach Arendt die Lebensgeschichte eine Person: „Wer jemand ist oder war, können wir nur erfahren, wenn wir die Geschichte hören, deren Held er selbst ist, also seine Biographie“ (Arendt 1996, 231). Eine Transzendierung der Person gegenüber ihrer Lebensgeschichte nimmt Arendt nicht vor. Die Bedeutung einer Person, ihr Wer-Sein ist mit ihrer Lebensgeschichte gegeben. Da einerseits ein wichtiger Teil der Lebensgeschichte, das Leben im Privaten, öffentlich unsichtbar bleibt und andererseits die Lebensgeschichte vieler Menschen durch widrige Umstände bzw. Gewalt nach ihrem Tod nicht weitererzählt oder erinnert wird, müsste Arendts Konzept zur Konsequenz haben, dass viele Menschen gar nicht als Personen sichtbar und darin niemals bedeutungsvoll werden. Demgegenüber ist es m. E. weitaus humaner, von einer moralischen Pflicht zur Erinnerung und zum Gedenken auszugehen. Avishai Margalit konzipiert eine entsprechende Ethik der Erinnerung (Margalit 2000). Ethik wird für ihn dort relevant, wo Menschen zur Gleichgültigkeit neigen. Sie verpflichtet uns zur Aufmerksamkeit für andere, zu einem aktiven Gedenken an diejenigen, die sonst namenlos und unerinnert bleiben würden (Margalit 2000, 7–31). Wie mit Geschichte umzugehen ist, wird damit zu einer ethischen und in diesem Sinne kulturellen Aufgabe. Wenn Vergebung nach Arendt bedeutet, den Täter von den Folgen seiner Tat zu entbinden, weil der Mensch stets mehr und anders ist als seine Taten, so ist daran nicht nur das Person-Konzept zu problematisieren, sondern auch, dass offenbleibt, wozu ein Mensch diese Entbindung vornehmen sollte. Den einzigen Hinweis zu dieser Frage versteckt Arendt im folgenden Zitat: „Jedenfalls bildet Respekt durchaus einen hinreichenden Beweggrund, jemandem das, was er getan hat, zu vergeben, um dessentwillen, der er ist“. Dieser Bestimmung aber stellt sie folgende Erläuterung voran: Respekt „drückt die Achtung vor der Person aus, die

8 Das wird in der Forschung auch „der virtuose Charakter des Handelns“ bei Arendt genannt (vgl. Pavlik 2015, 110–115). Das findet seinen Anhalt an Formulierungen von Arendt selbst (vgl. Arendt 1996, 263).

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

aber in diesem Fall aus der Entfernung gesehen ist, welche der weltliche Raum zwischen uns legt, wobei diese Achtung ganz unabhängig ist von Eigenschaften der Person, die wir bewundern mögen, oder von Leistungen, die wir hochschätzen“ (Arendt 1996, 310). Arendt also definiert hier Achtung als einerseits unabhängig von besonderen Leistungen oder Eigenschaften der Person, andererseits als personales (aber nicht privates oder gar intimes) Verhältnis zu dieser Person. In Verbindung mit ihrem Person-Konzept bedeutet das: um der Personhaftigkeit willen der konkreten Person, die stets mehr und anders ist als alle ihre Taten, Leistungen und Eigenschaften, also mehr und anders als alle ihre Manifestationen, wird die Person von ihren Taten unterschieden und damit von den Folgen entbunden. Wenn man vertraut mit den Debatten um Menschenwürde ist, neigt man dazu, hier das Konzept Menschenwürde einzutragen. Das führt hier aber nicht weiter; nicht nur, weil Arendt skeptisch war gegenüber den theoretischen Begriffen Menschenwürde und Menschenrechte (in irgendeinem natur- oder vernunftrechtlichen Sinne), sondern auch, weil hier die Personalität des Verhältnisses zur anderen Person betont wird. Also nicht aufgrund der Achtung der Menschenwürde und unter Absehung der konkreten Person soll nach Arendt Vergebung geschehen, sondern gerade im Hinblick auf die konkrete Personalität der Person, die freilich wiederum von allen ihren Leistungen und Vorzügen als verschieden gedacht wird. Das deutet auf ein Person-Konzept, das Gleichheit und Individualität von Personen als (im politischen Raum) stets verbunden denkt. Ein alternatives Person-Konzept sowie eine daran anschließende Theorie der Motivation für Vergebung bietet Marjorie Hewitt Suchocki: Ein Mensch definiert sich in seiner Identität auch über seine Taten. Doch keine einzelne Tat definiert den Menschen vollständig, sondern nur die Fülle seiner Taten. Vergeben, auch sich selbst vergeben oder Vergebung annehmen, bedeutet nach Suchocki, den schuldig gewordenen Menschen nicht auf diese eine Tat (oder auf diese bestimmten Taten) zu reduzieren, sondern ihn in der Fülle seiner geschehenen Handlungen zu sehen und in seinen positiven zukünftigen möglichen Taten zu imaginieren (vgl. Suchocki 1995, 150f). Die Imagination möglicher Zukunft wird damit zu einem konstitutiven Moment von Vergebung. Bei Suchocki bezieht sich diese Imagination nicht nur auf die Zukunft desjenigen, dem zu verzeihen ist, sondern auf Zukunft aller Beteiligten als eine Zukunft des well-being. Nicht nur überhaupt eine Zukunft zu ermöglichen, die anders ist als die Gegenwart, sondern eine gute, für alle förderliche Zukunft, wird bei Suchocki zum Hauptmovens des Vergebens (vgl. Suchocki 1995, 144). An diesen beiden Kontrastierungen – durch Margalit und Suchocki – tritt hervor, was Arendts Denken auszeichnet und warum es diese Ambiguitäten aufweist. Arendt will – entgegen den völligen Entstellungen, ja der Abschaffung des Politischen durch den Totalitarismus – die Humanität des Politischen denken und damit die eigentliche humane Bedeutung der Politik ins Bewusstsein rufen. Indem sie

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aber nun die Humanität so an das Politische bindet, dass die eigentlich humanen Vollzüge nur innerhalb eines politischen Rahmens und noch genauer sich nur als Politik ereignen, kann sie das Leben der vielen Menschen, die außerhalb eines öffentlichen, politischen Rahmens leben müssen, nicht mehr als im vollen Sinne humanes Leben denken. Die gedankliche Humanisierung der Politik führt bei Arendt zu einer gedanklichen Enthumanisierung des Nichtpolitischen, also des privaten und des bloßen Lebens. 1.5

Das vergebbare Unrecht und unvergebbare Böse

Arendt ringt darum, wie im Denken von Vergebung auf die angemessene Weise von der Gleichheit aller Menschen und von der Unterschiedenheit der Menschen (hinsichtlich ihrer Taten) zu sprechen ist. Die meisten Vergebungstheorien arbeiten sich daran ab und haben jeweils die Tendenz zu einer Seite: Entweder wird die gleiche Verstrickung aller Menschen ins Unrechttun, in Grundsünde, in strukturelle Schuld hervorgehoben oder (um der Opfer willen) die starke Unterscheidung zwischen Tätern und Opfern und damit verbunden die klare Unterscheidung zwischen Menschen, die Verbrechen begehen und Menschen, die sich unter persönlichen Opfern für andere einsetzen oder selbst zu Opfern werden. Arendt vollzieht diesen Balance-Akt, indem sie eine kategoriale und zwar duale Unterscheidung zwischen den Taten einführt: Taten, die unwissentlich Unrecht sind oder unwissentlich destruktive Folgen zeitigen auf der einen Seite und Taten, die Böses bzw. das Unrecht als Unrecht wollen und die damit auf die Zerstörung der Grundlagen der Menschheitsgemeinschaft zielen andererseits. Gleich sind die Menschen darin, dass alle Menschen so handeln, dass ihr Handeln unwissentlich auch oft Unrecht ist bzw. sich negativ auswirkt auf andere Menschen. Völlig unvergleichbar sind Menschen darin, dass nur einige wenige zu solchen werden, die das Böse als das Böse tun.9 Dieser kategorialen Unterscheidung zwischen den Taten entspricht eine kategoriale duale Unterscheidung hinsichtlich ihrer Vergebbarkeit. Die unwissentlichen Unrechtstaten (die Menschen beständig begehen) bedürfen und sind fähig der Vergebung. Die bösen Taten, die als böse Taten begangen werden, können und dürfen dagegen nicht vergeben werden. Die prinzipiellen und moralischen (nicht: psychologischen) Grenzen der Vergebung sind ein wichtiges und wiederkehrendes Thema bei Arendt. Es gibt Taten,

9 Diese Unterscheidung hält Dürr (vgl. Dürr 2009, 123) für inkonsistent unter Arendts Denkbedingungen. Er verweist darauf, dass alle Handlungen nach Arendt ihre ursprünglichen Ziele nicht erreichen und dem unvorhersehbaren Mithandeln der Mitmenschen ausgesetzt sind. Arendts Grundunterscheidung aber thematisiert nicht die Folgen von Handlungen, sondern orientiert sich allein an der Intention des Handelnden. Diese Unterscheidung ist aber vollkommen konsistent in Arendts Werk.

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die ebenso wenig vergeben wie bestraft werden können. Diese bezeichnet sie im Anschluss an Kant als das „radikal Böse“, jedoch in einer von Kant deutlich unterschiedenen Bedeutung. Bei Arendt ist es das Böse, das als Böses gewollt wird. Das „radikal Böse“ jedoch kann weder vergeben noch bestraft werden, „was nichts anderes heißt, als daß es den Bereich menschlicher Angelegenheiten übersteigt und sich den Machtmöglichkeiten des Menschen entzieht“ (Arendt 1996, 307). Zu fragen bleibt, ob Arendt mit dem Konzept von der „Banalität des Bösen“ (Arendt 2013, 56; 371) nicht eine dritte Kategorie einführt: Böses, das als Böses getan wird, jedoch ohne dass der Mensch dabei „denkt“ (im anspruchsvollen Sinne des Begriffes denken). Aus der Beobachtung des Prozesses gegen Adolf Eichmann 1961 in Jerusalem gewinnt Arendt den Eindruck, dass Eichmann die Planung von Verbrechen nicht aus Lust am Bösen begangen hat, sondern aus entleertem Ehrgeiz und Pflichtgefühl, dass also sein eigentlich moralisches Vergehen darin lag, konsequent auf das Selbst-Denken verzichtet zu haben. Die „Lektion von der Banalität des Bösen“ durch die Beobachtung des Prozesses gegen Eichmann fasst sie folgendermaßen zusammen: Daß eine solche Realitätsferne und Gedankenlosigkeit [wie bei Eichmann, MR] in einem Menschen mehr Unheil anrichten können als alle die dem Menschen innewohnenden bösen Triebe zusammengenommen, das war in der Tat die Lektion, die man in Jerusalem lernen konnte (Arendt 2013, 57).

Auf eine andere Weise geht die amerikanische Theologin Marjorie Hewitt Suchocki in ihrem Buch The Fall to Violence vor. Sie unterscheidet bei den konkreten Taten auf eindeutige Weise Täter und Opfer. Genauso nachdrücklich aber analysiert sie, inwiefern Täter und Opfer beide in Unrechtsstrukturen verwickelt sind, also von ihnen geprägt und zugleich an ihnen beteiligt. Diese Beteiligung an Unrechtsstrukturen versteht sie nicht abstrakt und prinzipiell, sondern gerade als konkrete moralische Verantwortlichkeit. Als eine solche moralische Verantwortlichkeit nennt sie beispielsweise: „no one who does not in some sense integrate the sins of others into the self through solidarity“ (Suchocki 1995, 149). Als Anfrage an Arendt ergibt sich daraus, ob ihre zwei Grundunterscheidungen hinsichtlich der Schuld wirklich ausreichen, um auch nur all die Schuld- und Vergebungsphänomene zu verstehen, die direkt mit politischen Prozessen verknüpft sind. Die Grenze des Arendtschen Denkens tritt auch und gerade hinsichtlich der politischen Prozesse hervor: Um einer gemeinsamen Zukunft willen müssen in vielen Ländern und Regionen Täter und Opfer (von eigentlich unvergebbaren Taten) zusammenleben und gemeinsam Gesellschaft gestalten. All diejenigen, die sich beispielsweise an Völkermord beteiligt haben, hinzurichten, wie Arendt es für Eichmann forderte (bzw. diesem Urteil des israelischen Gerichts zustimmte),

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kann aus vielen Gründen nicht die Lösung sein. Doch dass Arendt hier an einer so strikten und aus ihrer Sicht unüberschreitbaren Grenze festhält, ist theoretisch und praktisch höchst produktiv. Alle Versöhnungskonzepte, welche sich theoretisch und praktisch für einen zukunftsöffnenden Umgang mit dem einsetzen, was nie hätte geschehen dürfen und was unvergebbar ist, müssen im Überschreiten der Grenze ihrer Grenzhaftigkeit eingedenk sein. Das tun wir, wenn wir diejenigen einfühlsam würdigen, welchen unermessliche Gewalt angetan wurde und die sich trotzdem auf den Weg der Versöhnung machen.

2.

Zwischenüberlegung. Arendts Vergebungstheorie als tugendtheoretische Reformulierung von Magnanimitas und Dankbarkeit

Arendts Theorie der Vergebung zielt auf die Tugenden der Magnanimitas und der Dankbarkeit. Diese etabliert Arendt als das demokratische Tugendpaar. Diese These sei im Folgenden begründet. Arendt interessiert sich nicht für die einzelnen Akte des Vergebens, für deren innere Dynamik und für deren Motivation, sondern für strukturelle Zusammenhänge, so dass sich Arendts Theorie – so die These – als tugendtheoretisches Vergebungskonzept verstehen lässt. Zwar versteht Arendt Vergeben dezidiert jeweils als eine (nicht-selbstverständliche) Handlung; diese Handlung des Vergebens muss sich jedoch auf alle Handlungen von Mitmenschen beziehen, da sie in allen sozialen Interaktionen beständig geübt werden. Vergeben als sich ständig zu wiederholendes Handeln kann nicht anders als zu einer Habitualisierung und damit zu einer Grundhaltung führen. Diese Grundhaltung von Vergebungsbereitschaft ist sinnvoll als Großmut, als Magnanimitas zu bezeichnen. Gegenstände der Vergebung können nach Arendt nur jeweils die unbeabsichtigten Folgen von allen Taten und die unabsichtlich destruktiven Taten sein. Das gesamte soziale und politische Tätigwerden besteht aus solchen. Das bedeutet, dass jeder Mensch aus der Vergebungsbereitschaft seiner vielen Mitmenschen lebt. Ohne diese würden dem handelnden Menschen die rechtliche Freiheit und materielle Güter nichts nützen, um im Handeln frei zu sein. Weil aber kein Mensch ein Recht auf das Vergeben der anderen hat, ereignet sich dieses ihm zuteilwerdende Vergeben als ein Beschenktwerden. Die adäquate Haltung dazu wäre die der Dankbarkeit, als einer grundlegenden und beständigen Dankbarkeit. Dankbarkeit bezeichnet die Haltung, die sich aus der reflektierten Erfahrung bildet, immer wieder neu aus der nicht-selbstverständlichen Vergebung der vielen anderen zu leben. Arendt lehnt die Vorstellung von souveränen Subjekten gut begründet ab. In ihrer Theorie von Vergebung entwickelt sie aber ein Bild von geistig relativ unabhängigen, sich ihrer Bedeutung und ihres Wertes bewussten Persönlichkeiten, die nüchtern

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und wertschätzend mit anderen interagieren. Arendt stellt die Umkehrung nicht auf, aber sie wäre eine sachlich zutreffende These: die Bereitschaft zu vergeben, stärkt die geistige Unabhängigkeit der Person. Letztlich stellt Arendts Vergebungstheorie also eine tugendtheoretische Besinnung auf die Bedingungen von Politik und auf die Grundlagen eines bewussten, kommunikativen Lebens in geistiger Unabhängigkeit dar.

3.

Arendts Konzept von Versöhnung

Mit der skizzierten Interpretation von Arendts Vergebungs-Konzept in ihrem Werk Vita activa sind aber Arendts Impulse noch nicht ausgeschöpft. War bisher nur von Vergebung/forgiveness die Rede, so kennt Arendt in einem früheren Text doch auch die Rede von Versöhnung. Darin ertastet sie noch ganz andere Möglichkeiten des mitmenschlichen Umgangs mit Unrecht. Der Akzent liegt in diesem frühen Nachdenken darauf, durch Versöhnung die (politische) Gleichheit zwischen Menschen/ Völkern wieder zu ermöglichen. Die Überlegungen zur Versöhnung entfaltet Arendt in ihrem Denktagebuch, dessen einzelne Hefte von 1950 bis 1973 erhalten sind und ediert wurden. Die Eintragungen für Juni 1950, mit denen die erhaltenen Denktagebücher auch beginnen, fokussieren sich ganz auf die Themen Verzeihen und Versöhnen. Diese beiden Weisen, mit Unrecht umzugehen, konstruiert Arendt als einander ausschließende Alternativen. Das Verzeihen lehnt sie ab, weil es die Ungleichheit zwischen den Menschen verstärkt und auf einem Erbsündenkonzept beruht. Verzeihung gibt es nur unter prinzipiell qualitativ voneinander Geschiedenen; […] Die Geste der Verzeihung zerstört die Gleichheit und damit das Fundament menschlicher Beziehungen so radikal, dass eigentlich nach einem solchen Akt gar keine Beziehung mehr möglich sein sollte. […] Verzeihung, oder was gewöhnlich so genannt wird, ist in Wahrheit nur ein Scheinvorgang, in dem der Eine sich überlegen gebärdet, wie der Andere etwas verlangt, was Menschen einander weder geben noch abnehmen können (Arendt 2002, 3, Hervorhebung im Original).

Davon grenzt Arendt sehr scharf „Versöhnung“ ab: Versöhnung mit dem Geschickten ist nur auf der Grundlage der Dankbarkeit für das Gegebene möglich. […] Der sich Versöhnende lädt sich einfach die Last, die der andere ohnehin trägt, freiwillig mit auf die Schultern. Das heißt, er stellt Gleichheit wieder her. Dadurch ist Versöhnung das genaue Gegenteil der Verzeihung, die Ungleichheit herstellt (Arendt 2002, 4).

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Dann stellt Arendt den Bezug zum Politischen her: „Politisch gesprochen setzt die Versöhnung einen neuen Begriff der Solidarität“ (Arendt 2002, 6, Hervorhebung im Original). Analysieren wir Arendts Versöhnungs-Modell genauer: Versöhnung bezieht sich auf zwischenmenschliche Taten, die ein Unrecht darstellen. Dieses Unrecht kann – damit Versöhnung möglich ist – zugleich auch nur ein begrenztes sein, ein Unrecht, das den Zusammenhang des Menschlichen nicht grundsätzlich unterminiert und in Frage stellt. Das Unrecht, das ein Mensch getan hat, wird für diesen Menschen zu einer Last: Das ist für Arendt die entscheidende Metapher. Dezidiert lehnt sie die Metapher der inneren Vergiftung durch getanes Unrecht ab. Die Metapher der Last besagt einerseits eine Begrenzung der negativen Folgen von getanem Unrecht für den Täter: Last ist etwas, was äußerlich bleibt und den Menschen nicht auf Dauer verändert bzw. verändern muss. Zugleich besagt die Metapher der Last andererseits eine ausnahmslose, also umfassende Auswirkung auf alle Lebensvollzüge des Täters. Wer eine Last trägt, bei dem sind alle Bewegungen von der Last in Mitleidenschaft gezogen und manche Bewegungen werden dadurch (äußerlich) unmöglich. Doch bleiben die grundsätzlichen Fähigkeiten des Menschen intakt. Was ist das Unrecht für denjenigen, der es erleiden musste? Es ist in Arendts Worten etwas, das dem Subjekt „geschickt wurde“. Dabei steht das Subjekt vor der Wahl, diese ihm geschehene Wirklichkeit als (nicht mehr zu ändernde) Wirklichkeit anzunehmen oder ihr auszuweichen. Das Entscheidende vollzieht sich darin, diese (nun unabänderliche) Wirklichkeit in keiner Weise mit Möglichkeiten zu korrelieren; sei es mit der Möglichkeit, dass diese Tat nicht stattgefunden habe, sei es mit der Frage nach der Möglichkeit, ob das Leidens-Subjekt selbst hätte das Täter-Subjekt sein können. Versöhnung hat also als eine ihrer Bedingungen die Annahme der konkret geschehenen Wirklichkeit. Diese Annahme gründet für Arendt in einer grundsätzlichen Lebenshaltung gegenüber dem Gegebenen, Vorgegebenen und Unabänderlichen im eigenen Leben. Auch hier stellt sie zwei Alternativen einander gegenüber: Dem Gegebenen kann das Subjekt mit Dankbarkeit10 oder mit einem resignierten, widerwilligen Sich-Abfinden begegnen. Wer grundsätzlich dem Vorgegebenen im eigenen Leben mit dankbarer Akzeptanz begegnet, hat die Chance, dann auch das von anderen Menschen zugefügte Leid als Wirklichkeit zu akzeptieren und damit als Teil des eigenen Lebens für sich selbst zu integrieren. Versöhnung ist also darauf angewiesen, in eine entsprechende Lebenspraxis und in einen bestimm-

10 Wenn überhaupt irgendwo in Arendts Denken, so wäre hier beim Thema Dankbarkeit gegenüber dem Gegebenen die (Leer-)Stelle, um Spiritualität oder gar eine religiöse Lebens-Dimension positiv zu verankern.

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

ten Selbstumgang eingebettet zu sein. Die Auseinandersetzung des von Unrecht Getroffenen mit der ihm geschehenen Tat primär als Wirklichkeit des eigenen Lebens ist also der grundlegende erste Schritt und die weitere Bedingung von Versöhnung. Der zweite Schritt und die darauf aufbauende Dimension ist die Auseinandersetzung mit dem Täter des Unrechts. Hier nimmt Arendt eine höchst bemerkenswerte Weichenstellung vor. Der Täter kommt (im Zusammenhang von Versöhnung) gar nicht als Verursacher des Leidens in den Blick, sondern als Mensch, der an der Last seines Unrechtes leidet. In der Versöhnung geht es nun darum, dem an seiner Last leidenden Menschen dabei zu helfen, seine Last zu tragen: „Der sich Versöhnende lädt sich einfach die Last, die der andere ohnehin trägt, freiwillig mit auf die Schultern“ (Arendt 2002, 4). Ohne dass Arendt es hier ausdrücklich sagt, findet also auch hier eine strikte Unterscheidung zwischen Täter und Tat statt. Die Auseinandersetzung mit der Tat wird konsequent gelöst von der Auseinandersetzung mit dem Täter. In der Auseinandersetzung mit dem Täter fokussiert sich der Blick auf die Beziehung zwischen dem Täter und der Last seiner Tat; die Beziehung zwischen dem Täter und dem Leiden des „Opfers“ wird dagegen ausgeblendet. In Sprachweisen übersetzt, die Arendt fremd wären, würde das heißen: In der Versöhnung beteiligt sich derjenige, dem Unrecht geschehen ist, an der Last des Täters. Es geht dabei um Empathie für den Täter ob seiner Last. Unabhängig von dieser Empathie für den Täter vollzieht derjenige, dem Unrecht geschehen ist, Empathie für das eigene Erleiden und eine Grundakzeptanz der Wirklichkeit des erlittenen Unrechtes. Dieses ermöglicht, das eigene Leben anzunehmen und weiterzuführen. Jenes ermöglicht es, mit dem Täter in einem sozialen Zusammenhang weiterzuleben und dem Täter selbst ein Weiterleben mit seiner Last zu erleichtern. Eine angemessene Alternative zum Versöhnen – während Verzeihen und Rächen unangemessene, schlechte Alternativen darstellen – ist „schweigen und vorübergehen“ (Arendt 2002, 6). Mehr führt Arendt dazu nicht aus. Inwiefern stellt Versöhnung Gleichheit her? Die geschenkte Gleichheit liegt darin, dass Täter und der von der Tat Betroffene, dass also beide an der Last des Unrechtes tragen. Die Täter notwendig, weil sie das Unrecht begangen haben; die Betroffenen, weil sie sich frei dazu entscheiden, die Last des Unrechtes (nicht seine Schuld!) mit den Tätern mitzutragen. Versöhnung stiftet daher nach Arendt eine neue Solidarität. Dabei ist Arendt der kausale Zusammenhang wichtig: Nicht aus der Solidarität entsteht und geschieht Versöhnung; sondern Versöhnung bringt politische Solidarität hervor (vgl. Arendt 2002, 6). Versöhnung impliziert in keiner Weise eine Relativierung der Differenz von Tätern und Opfern oder der Differenz von wirklich verübten Taten und nur möglichen Taten (Taten, welche die Opfer möglicherweise verübt hätten, wenn sie an Stelle der Täter gewesen wären). Die zwischen Menschen, zwischen Tätern und von der Tat Betroffenen errungene

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Gleichheit ist keine moralische oder allgemein menschliche Gleichheit, sondern eine gewährte Solidarität im Tragen der Last des Unrechts. Diese von den TatBetroffenen geschenkte Gleichheit setzt gerade eine moralische Differenz und damit die Benennung von Taten als Unrechts-Taten voraus. An keiner Stelle ist davon die Rede, dass die Last des Unrechts aufgehoben oder beseitigt wird. Dies gilt für Arendt ausdrücklich auch für die Beziehung des Menschen zu Gott und Gottes zu den Menschen. Für die Möglichkeit der Versöhnung kommt alles darauf an, Gottes Urteil gerade nicht vorwegzunehmen, weder in die eine noch in die andere Richtung: „Nur, wenn man nicht mit der verlogenen Lautverstärkung, als sei die eigene Stimme auch Gottes Stimme, urteilt, kann man ein Leben ohne Rache und Verzeihung, die ja beide Gottes Zorn und Gottes Gnade nachzuahmen vorgeben, aushalten“ (Arendt 2002, 8). Was aussteht, ist, Arendts Konzept der Vergebung und Arendts Überlegung zu Versöhnung zusammen zu denken. Wenn man das tut, berühren sich ihre Überlegungen punktuell mit aktuellen Versöhnungskonzepten, die theoretisch und in ihrer praktischen Relevanz vom Jena Center for Reconciliation Studies seit dessen Gründung 2013 durch Martin Leiner erforscht werden. Hier wird der versöhnende Umgang damit erforscht, was Arendt das Unvergebbare nennt. Zu dieser wichtigen und weltweit wirksamen Arbeit sei dem geschätzten Kollegen zu dessen 60. Geburtstag herzlich gratuliert.

Literaturverzeichnis Arendt, H. 2016, Organisierte Schuld, in: Dies., Die verborgene Tradition. Acht Essays, Berlin. Arendt, H. 2013, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München. Arendt, H. 2002, Denktagebuch. 1950–1973, Bd. 1, hg. U. Ludz, I. Nordmann, München. Arendt, H. 1996, Vita activa oder vom tätigen Leben, München. Arendt, H. 1986, Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. Antisemitismus, Imperialismus, totale Herrschaft, München. Arendt, H. 1964, „Interview mit Günter Gaus“, https://www.youtube.com/watch?v=J9SyTEUi6Kw, letzter Zugriff: 26.04.2020. Baumann, Z. 2019, Wieder allein. Ethik am Ende der Gewissheit, Wien-Hamburg. Blume, D., Boll, M., Gross, R. 2020, Hannah Arendt und das 20. Jahrhundert, München. Dürr, T. 2009, Hannah Arendts Begriff des Verzeihens, Freiburg–München. Margalit, A. 2012, Politik der Würde, Berlin. Margalit, A. 2000, Ethik der Erinnerung, Frankfurt am Main. Mommsen, H. 2013, „Hannah Arendt und der Prozeß gegen Adolf Eichmann“, in: H. Arendt, Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen, München.

Vergebung und Versöhnung im Denken von Hannah Arendt

Nussbaum, M. 2017, Zorn und Vergebung. Plädoyer für eine Kultur der Gelassenheit, Darmstadt. Pavlik, J. 2015, „Uninteressiertes Weltinteresse“. Über die Ausbildung einer ästhetischen (Denk-) Haltung im Werk Hannah Arendts, Paderborn. Suchocki, M.H. 1995, The Fall to Violence. Original Sin in Relational Theology, New York.

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Matthias Gockel

Predigt über Jeremia 8,4–7 am 18. November 2007

Vorbemerkung Die Predigt entstand im Rahmen der Ökumenischen Friedensdekade 2007. Die Geschichte des Soldaten Robert Rosen wird in dem dokumentarischen Roman Vaterland ohne Väter von Arno Surminski erzählt. Das Thema hat spätestens seit dem Frühjahr 2022 neue Aktualität gewonnen. Deutsche Journalistinnen und Politikerinnen überschlagen sich in feindlichen Absichtserklärungen. Ein Kommentar der ehemals liberalen Wochenzeitung DIE ZEIT ließ am 31. März 2022 (Ausgabe 14/2022) verlauten: „Deutschland sollte in der Lage sein, Russland ernsthaft zu drohen.“ Das bezog sich auf die „Sanktionen“, die angeblich zu langsam „umgesetzt“ wurden. Anschließend lancierte der Kommentar unter Verwendung einer PR-Formel („Putins Krieg“) die Behauptung: „Mehr als drei Viertel der Bevölkerung befürchten, dass Wladimir Putins Krieg in der Ukraine zu einer Wirtschaftskrise in Deutschland führt.“ Tatsächlich fürchten die Menschen in Westeuropa die Auswirkungen eines Wirtschaftskriegs, den die NATO unter Führung der USA und mit williger Hilfe aus Deutschland gegen Russland stetig eskaliert, mitsamt werbewirksamer Lieferung von allerlei Waffengerät an die ukrainische Armee. Die deutsche Außenministerin erklärte frühzeitig, worum es geht: Russland zu „ruinieren“. Ihr Amtsvorgänger von Ribbentrop beabsichtigte Ähnliches. *** Liebe Gemeinde, der November ist der Monat des Totengedenkens. Er beginnt mit den katholischen Feiertagen Allerheiligen und Allerseelen. Und am kommenden Sonntag feiern wir den Ewigkeitssonntag, auch Totensonntag genannt. Dazwischen, heute, steht der Volkstrauertag, der ist allerdings kein kirchlicher Feiertag, sondern ein staatlicher Gedenktag. Man kann nun fragen: Lässt sich Trauer zu einem bestimmten Termin anordnen, dazu die Trauer eines ganzen Volkes? Wenn viele Menschen trauern, dann doch eher aufgrund aktueller dramatischer Ereignisse. Ich denke an die Tage nach dem 11. September 2001 oder nach dem Erdbeben und dem Tsunami im indischen Ozean um die Jahreswende 2004–2005. Doch ein Volkstrauertag, an dem es um Ereignisse geht, die viele Generationen zurückliegen? Der Volkstrauertag wurde 1919 als Gedenktag für die gestorbenen deutschen Soldaten des Ersten Weltkrieges angeregt. Das betraf damals fast jede Familie. Wir

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können uns das heute kaum noch vorstellen. Ab 1925 gab es eine zentrale jährliche Feier am fünften Sonntag vor Ostern, also im Februar oder März. Im Februar 1934 wurde der Tag dann zum gesetzlichen Feiertag und zum „Heldengedenktag“. Damit änderte sich der Charakter des Tages: Es ging nicht mehr um Trauer und Besinnung, sondern um Mobilmachung. Die toten Soldaten wurden als deutsche Helden verehrt, um die Bevölkerung auf neue Kriege und weitere tote Soldaten einzustimmen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges und der Befreiung vom Faschismus wurde beschlossen, den Volkstrauertag an das Ende des Kirchenjahres zu verlegen, in eine liturgische Zeit, die von ernsten Themen dominiert wird. Allmählich weitete sich der Blick. Es ging nicht mehr nur um die Kriegstoten der eigenen Nation, sondern auch um die zahlreichen Kriegsopfer anderer Nationen, darunter Millionen von Menschen in Osteuropa, aber auch in Italien und auf dem Balkan, die von deutschen Soldaten getötet wurden. Aus einem Heldengedenktag wurde so ein Tag der Mahnung zur Versöhnung, zur Verständigung und zum Frieden. Aber bleibt das nicht zu allgemein: Ein Gedenktag zur Erinnerung an die Kriegstoten und Gewaltopfer aller Nationen? Es ist sicher richtig und wichtig, dass alle Nationen in das Gedenken einbezogen werden. Doch machen wir es uns damit nicht zu leicht, in einem Land, das den Zweiten Weltkrieg und viele Verbrechen gegen die Menschheit zu verantworten hat und auch am Ersten Weltkrieg eine große Schuld trägt? Wenn es um internationales, ökumenisches Gedenken geht, dann gibt es dafür wohl einen geeigneteren Tag: den 11. November. Viele Nationen begehen ihn bis heute als offiziellen Feiertag: England, Frankreich, Belgien und die Niederlande, aber auch Kanada, Australien und Südafrika, die damals zum Britischen Empire gehörten und ebenfalls Soldaten auf die Schlachtfelder in Europa schickten. Der 11. November 1918 war der Tag des Waffenstillstands an der Westfront. Die Schrecken des Weltkriegs waren nach vier blutigen Jahren endlich vorüber. Nun ist der Volkstrauertag nicht der 11. November. Und vielleicht machen wir es uns tatsächlich zu einfach, wenn wir heute alle Nationen in unser Gedenken einschließen und dabei in die Gefahr des Vergessens um Schuld und Verantwortung geraten. Aber der zweite Teil des Volkstrauertags behält auf jeden Fall seinen guten Sinn: die Mahnung zur Versöhnung, zur Verständigung und zum Frieden. Dass diese Mahnung über den Rahmen des Militärischen weit hinausreicht, das zeigt der heutige Predigttext. Er steht im Buch des Propheten Jeremia, im 8. Kapitel die Verse 4–7. Jeremia empfängt eine Botschaft von Gott: Sprich zu ihnen: So sagt Gott: „Wenn Menschen hinfallen, stehen sie dann nicht schnell wieder auf? Wenn jemand vom Weg abkommt, kehrt er nicht gleich wieder um? Warum hat dieses Volk sich abgewandt? Warum bleiben sie so stark im Betrug? Weigern sich

Predigt über Jeremia 8,4–7 am 18. November 2007

umzukehren? Aufmerksam habe ich gehört, was sie reden, so dass ich erkannt habe: Unrechtes sprechen sie, die eigene Bosheit bereut niemand, dass er sagt „Was habe ich getan?“ Allesamt stürzen sie dahin, wie Pferde, die sich in die Schlacht stürzen. Selbst der Storch am Himmel kennt seine Zeiten, Turteltaube, Schwalbe und Kranich halten die Zeit ihres Kommens ein. Nur mein Volk kennt die Rechtsordnung Gottes nicht!“

Liebe Gemeinde, was für ein schönes Bild! Die Zugvögel kennen ihre Ordnung. Sie wissen, was wann an der Zeit ist, wann sie fortfliegen und wann sie zurückkehren. Der Storch, die Turteltaube, die Schwalbe, der Kranich. Hättet Ihr gedacht, dass so etwas in der Bibel steht? Die Tiere kennen ihre Bestimmung und haben nicht den Ehrgeiz, sich zu etwas Höherem und Besserem zu machen. Ihr Verhalten ist sinnvoll, denn es ist an den Sinnen orientiert. Aber sind sie deswegen ein Vorbild für menschliches Verhalten? Einfach nur die Naturordnung beachten, und dann wird es schon gut gehen? Das ist zu einfach. Tiere besitzen zwar nicht nur Instinkt, sondern auch ihre jeweils eigene Intelligenz, die in vielen Fällen noch gar nicht richtig erforscht und bekannt ist. Im Unterschied zu den Tieren haben wir Menschen aber auch einen Willen und unsere Fantasie. In unserem Predigtwort geht es um die Frage von Schuld und Umkehr – und um die „Ordnung“. Zu Beginn der Hinweis auf einen, der hinfällt und sofort wieder aufstehen will; auf jemanden, der sich verläuft und sofort versucht, wieder auf den richtigen Weg zu kommen. Beides so, wie es eben der Ordnung entspricht. Aber die Menschen, um die es geht, merken gar nicht, dass sie hingefallen sind und sich verlaufen haben. Niemand erkennt seine eigene Schuld, niemand kann sie erkennen, weil es gar kein Schuldbewusstsein gibt. Einsicht ist der erste Weg zur Besserung, lautet ein Sprichwort. Wenn aber keine Einsicht vorhanden ist, dann ist die Hoffnung auf Besserung vergebens. Fragen wir also: Was wäre denn eine solche Einsicht? Woran kann sie sich orientieren? Das zentrale Wort steht im Vers 7: die Rechtsordnung Gottes. Darunter ist nicht eine Aufzählung von Geboten und Verboten zu verstehen. Das hebräische Wort für Rechtsordnung heißt Mischpat. Darin enthalten ist das Verb schapat, „Recht sprechen“. Es geht also nicht um einzelne Vorschriften, sondern um die Auslegung des Rechts. Der übergeordnete Begriff dafür ist Thora, was mit dem deutschen Wort „Gesetz“ nur teilweise getroffen wird und eher „Weisung“ bedeutet. Eine Weisung erfolgt nicht nur durch Verbote, sondern auch und gerade in Form von Erzählungen. Deshalb hat es seinen guten Sinn, wenn die fünf Bücher Mose, in denen wir viele Erzählungen finden, insgesamt als Thora, als Weisung bezeichnet werden. Weisung bedeutet auch: Recht sprechen und Recht verwirklichen. Nicht nur im persönlichen Bereich, sondern auch im Zusammenleben. Eine wichtige Richtschnur

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ist die prophetische Forderung nach sozialer Gerechtigkeit. Schon im alten Israel wussten die Menschen, dass sie schwer zu verwirklichen ist und immer wieder neu erhoben werden muss – durchaus auch im Widerspruch, zu dem, was wir in den letzten Jahren in unserem Land erleben konnten. Das Recht ist nicht bloß das sprichwörtliche Recht des Stärkeren. Mit dieser resignierten Formel dürfen wir uns auf keinen Fall zufriedengeben! Dagegen stehen viele Worte der Bibel. Herausfordernde Worte, eindeutige Worte. Eindeutig, denn sie sagen, was nicht geht: Rechtsbruch, Erpressung, aggressive Gewalt – auch nicht unter dem Vorwand vorgeblich höherer Ideale. Damit sind wir wieder beim Volkstrauertag, genauer: bei der Mahnung zu Versöhnung und Verständigung zwischen Menschen und Völkern. Diese Mahnung kann nur dann wirksam sein, wenn wir bereit sind, Schuld einzugestehen. Im Hinblick auf den Zweiten Weltkrieg ist uns das erst nach einer langen Zeit des Nicht-Wahrhaben-Wollens bewusst geworden und hat zu einem Umdenken auf vielen Ebenen geführt. Allerdings fällt die Erinnerung an diese Schuld nach so vielen Jahren auch nicht mehr besonders schwer. Und sie wird inzwischen sogar missbraucht, um neue Kriege und Kriegseinsätze zu rechtfertigen. Deutschland habe aufgrund seiner besonderen Vergangenheit eine besondere Verantwortung für die Gegenwart – wobei das Wort „Verantwortung“ sehr unterschiedlich interpretiert werden kann. Man redet heute nicht mehr vom „süßen“ Tod für das Vaterland. Stattdessen beschwört man andere Ideale und Werte, die gerade hoch im Kurs sind: Menschenrechte, Menschenwürde, Humanität. Und wer kann dagegen etwas sagen, sind das nicht Werte, für die man gerne Opfer bringt? Das sagt sich leicht: „Opfer bringen“. In Deutschland gibt es in vielen evangelischen und katholischen Kirchen Listen von Soldaten, deren Namen unter dem Wort Jesu aus dem Johannesevangelium stehen: „Niemand hat größere Liebe als die, dass er sein Leben lässt für seine Freunde“. Doch warum starben diese Menschen? Sicher nicht deswegen, weil sie wie Jesus handelten. Denn Jesu Gehorsam gegen Gott ist nicht zu verwechseln mit der Befolgung eines soldatischen Eides. Die Namenslisten verschweigen die Geschichten der Menschen hinter den Namen. Diese Geschichten erzählen oft etwas ganz Anderes. So ließ der deutsche Unteroffizier Robert Rosen einen sowjetischen Kommissar, den er erschießen sollte, davonlaufen. Stellt Euch das vor. Dieser Soldat, der den Krieg nicht überlebte, zeigt Sympathie für den Feind. In seinem Tagebuch berichtet er von seinem Entsetzen über ein Massaker, das seine Einheit verübte: „Ich halte es nicht mehr aus und laufe fort, unterwegs kommen mir die Tränen”. Nach einem Gespräch mit sowjetischen Gefangenen, notiert er: „Wie nahe man sich kommt, wenn man miteinander spricht. Plötzlich waren sie keine Feinde mehr”. Genau diese einfache und in Zeiten des Krieges doch so schwere Menschlichkeit wird den Soldaten systematisch abtrainiert, bis heute. Robert Rosen wurde bei der Nachtwache von einer Granate getötet.

Predigt über Jeremia 8,4–7 am 18. November 2007

Seine Gedanken sind ein Ruf zur Verständigung zwischen Menschen und Völkern, zur Überwindung von Feindschaft, zur Versöhnung. Bewahren wir dieses Erbe des Volkstrauertages. Schützen wir es vor Missbrauch. Und erinnern wir uns an Gottes Rechtsordnung. Lasst uns beten: Langmütiger Gott, wir haben in unserem Land schmerzlich erfahren müssen, dass auch das Schweigen und das Wegschauen zur Schuld werden können. Darum schenke uns Mut, gegen Unrecht und Lüge anzutreten. Lass uns wachsam sein, wenn die Mahnung zur Versöhnung zwischen Menschen und Völkern verdrängt wird von selbstgerechten Schuldzuweisungen gegen andere Nationen. Schenke uns die Einsicht und den Mut zur Umkehr, dass wir heute nicht gleichgültig von hier fortgehen. Lass uns deine Rechtsordnung erkennen und beständig suchen, was dem Frieden dient. Amen.

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Bertram Schmitz

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen als religionsvergleichende Überlegung zur Versöhnungsforschung

Hinführung Ein besonders umfangreiches Projekt des Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS) bezog sich auf die Versöhnung eines komplexen Verhältnisses von Judentum, Christentum und Islam. Dies allein ist schon Grund genug, auf eine grundsätzliche Art zu fragen, was es mit Sünde und Entsühnung in den genannten Religionen auf sich hat und anschließend in das Thema der Versöhnung insgesamt fortzuschreiten. In dem folgenden Beitrag sollen nicht die Ergebnisse protokolliert werden, wie sie als Veröffentlichungen dieses „Hearts of Flesh“ (HoF) genannten Unternehmens bereits zur Verfügung stehen. Es soll vielmehr eine religionswissenschaftliche Überlegung ausgearbeitet werden, wie in den genannten Religionen über Verfehlung gesprochen wird, wie diese Verfehlungen wieder annulliert werden können und – in einem Ausblick – welche Bedeutung diesen Vorstellungen von Versöhnung im globalen Kontext und in der Ausrichtung des JCRS zukommt. Dieser Beitrag geht von einer sehr allgemeinen religionsgeschichtlichen Betrachtung aus und mündet zunehmend in die spezifische Vorstellungswelt der genannten Religionen. Zugleich wird zunächst das Verhältnis des einzelnen Menschen oder auch der jeweiligen Religionsgemeinschaft hin zur Transzendenz entfaltet, um auf dieser religiösen Grundlage umso deutlicher das entscheidende Gewicht der Immanenz, der Welt, in der wir jetzt und hier miteinander leben, zu betonen. Dabei verstehe ich die Religion des Alten Israels als historische Grundlage für Judentum, Christentum und Islam, die diese Grundlage je nach ihrem eigenen Bedeutungsgehalt modifizieren, der ewig sich weiter gestaltenden Tora im Judentum, der Christusbotschaft im Christentum und schließlich dem Koran im Judentum. Die Religion des Alten Israels wird dabei zunächst im Kontext der allgemeinen Religionsgeschichte betrachtet – auch um daraufhin ihr spezifisches Verständnis von Sünde und Versöhnung im Rahmen der göttlichen Ordnung entfalten zu können. Das Thema der Versöhnung wird alle drei nachfolgenden Religionen entscheidend beeinflussen und sie gestalten. Es ist integraler Bestandteil der Korans, dessen praktisch jede einzelne Sure – nur die beiden kurzen letzten Suren als Anhang bilden eine Ausnahme – das göttliche Gericht und damit das Verhältnis von Sünde und Versöhnung anspricht, mit Blick auf den Gott, der zuvor als „barmherzig, all-

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barmherzig“ angerufen wird; es ist Zentrum des Christentums, dessen Evangelium die Botschaft der Versöhnung des Glaubenden mit Gott verkündet; und schließlich bestimmt es den höchsten Feiertag des Judentums, den „Tag der Versöhnung“ (Jom Kippur). Gegen Ende dieser Ausführungen wird der Blick noch einmal zurück auf andere Religionen und auch die nicht-religiöse Welt gelenkt und eine in der Praxis und für das JCRS elementare gemeinsame Grundlage aller dieser Richtungen aufgezeigt.

1.

Sünde und Ordnung

Mit Sünde und Ordnung ist schon ein religionsgeschichtlich elementarer Gedanke ausgesprochen. In wohl allen Religionen, aber auch z. B. in Schriften der antiken Philosophen Griechenlands findet sich die Vorstellung einer gewissen Ordnung in der Welt. Diese Ordnung gilt dem gesamten Kosmos – und der Kosmos im modernen wie auch antiken Sinn ist geradezu exemplarischer Ausdruck und Beispiel dieser Ordnung: Die Sterne haben ihre Bahn, sind von idealer Gestalt und haben im Firmament ihre feste Stellung, in dem sie als Ganzes in Perfektion rotieren. Allein die Planeten irren herum und es gibt einzelne Himmelskörper, die wie Kometen ihr Eigenleben führen. Diese Ordnung kann im Weiteren in einer Harmonie der Kräfte und Energien bestehen, der Handlungsweisen und der Körpersäfte; oder aber im Flug der Vögel, deren Ordnung es ist, zu fliegen, wie Blumen blühen und Wasser fließt. Da sich dieser Artikel zunächst auf die abrahamitischen Religionen bezieht, lässt sich die Frage nach dem Urheber der (jeweiligen) Ordnung eindeutig beantworten. Es ist nicht etwa der ewige Dharma wie in den indischen Religionen, besonders dem vielgestaltigen Hinduismus, oder das Wechselspiel von Yin und Yang, das von Chi durchdrungen ist wie in den chinesischen Religionen, besonders tiefsinnig ausgearbeitet im Neokonfuzianismus, sondern es ist der eine und einzige Gott, der diese Ordnung eingerichtet hat. Gott hat diese Welt erschaffen, und bedeutender noch als die – historisch wohl erst sekundäre – Vorstellung, dass er diese Welt als creatio ex nihilo aus dem Nichtsein in das Sein gehoben hat, ist die Beschreibung, dass er der Welt eine Ordnung gegeben hat, - vor allem grundlegend dadurch, dass er Bereiche voneinander getrennt hat: Licht und Finsternis, Wasser und Land, Oberhalb und Unterhalb des Firmaments. Schließlich hat er die Lebewesen erschaffen und wiederum haben alle Wesen ihre Aufgaben und ihre Ordnungen bekommen. So hat auch der Mensch allgemein seine einzelnen Aufgaben und Ordnungen und er ist zugleich Hüter der Ordnung über die anderen lebenden Wesen. Darüber hinaus wurden dem Volk Israel spezifische Weisungen gegeben, nach denen es leben soll. Nach christlicher und islamischer Vorstellung gelten diese spezifischen Weisungen in modifizierter Weise wiederum für alle Menschen und

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen

werden damit ebenfalls allgemein. Der Israelit, oder dann auch der Mensch als einzelner und die Gesamtheit der Menschen, sind sowohl untereinander, als auch der Schöpfung und Gott verantwortlich, diese Weisungen der Ordnung einzuhalten.

2.

Das Alte Israel

Dieses religionsgeschichtlich grundlegende Verständnis von Ordnung hilft zunächst entscheidend, sich dem Verständnis von Sünde zu nähern: Sünde in diesem klassischen Sinn ist zunächst die Übertretung der von dem einen Gott in dieser seiner Schöpfung eingerichteten Ordnung, spezifisch, soweit es das Verhalten einzelner Menschen betrifft. Nach der Überlieferung wurde ein Bund von Gott gestiftet, der durch Moses mit dem Volk Israel geschlossen wurde. Das Volk insgesamt wie auch jeder einzelne Israelit wurde verpflichtet, diese Ordnung nicht zu übertreten. Die entsprechenden Grenzen, auf die sich die Weisungen der Ordnung beziehen sind verschiedener Art. Sie können nur insofern ethisch genannt werden, als dieser Terminus im weitesten Sinn die Frage nach dem richtigen Verhalten des Menschen oder einer Gruppe stellt. Es wird sich an diesem Denken beispielhaft zeigen, dass es nicht unproblematisch ist, überhaupt von einer religiösen Ethik im engeren Sinn des Wortes zu sprechen. In der Religion des Alten Israels beziehen sich die göttlichen Weisungen zunächst auf drei voneinander weitgehend getrennte Bereiche. Allein der letzte könnte spontan mit dem Terminus ethisch assoziiert werden, wenn man das Wort ethisch für eine offenbarte Verhaltensnorm anwenden möchte. Zunächst ist der Bereich der Sakramentalität und Heiligkeit zu nennen. Sakramental sind Gegenstände und Orte der direkten göttlichen Präsenz. Diese Präsenz wird besonders im Tempel und dort wiederum im Allerheiligsten des Tempels angenommen. Dieser Bereich ist abgesondert. Demgegenüber steht der allgemeine und weite Bereich der Profanität. Neben dem Raum der Heiligkeit findet sich eine Heiligkeit der Zeit. Diese umfasst die Festzeiten, insbesondere den Sabbat. Zu dieser Zeit müssen bestimmte Tätigkeiten ausgeführt werden, andere hingegen sind unbedingt zu meiden. Als zweites bekennt die Religion Israels davon unabhängig den Bereich der kultischen Verfügbarkeit, der sich von dem Nicht-Verfügbaren abgrenzt. Eine Übersetzung mit Reinheit trifft diese Kategorie nur bedingt und wäre für die Religion des Alten Israels ohnehin anachronistisch. Mit dem Nicht-Verfügbaren ist in diesem Fall gemeint, dass bestimmte Gegenstände, Tiere und Personen durch ihr Sosein in gerade diesem Zustand oder allgemein für einen bestimmten Zweck nicht zur Verfügung stehen. Es kann eine Stuhlfläche durch Blut oder durch eine quasi feinstoffliche Substanz wie etwa durch den Tod, der in dem entsprechenden Zelt oder Raum stattgefunden hat, kontaminiert sein, bis sie wieder verfügbar (gemacht) wird. Weithin können etwa Kamele als Lastentiere verwendet werden,

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sollen aber nicht gegessen werden. Oder es sollten Personen aufgrund eines körperlichen Ausflusses nicht berührt werden oder sie können bestimmte Rituale nicht ausüben. Nach Reinheit im modernen Sinn wird in diesem Bereich nicht gefragt. Diese beiden Bereiche betreffen zwar das richtige Verhalten, würden aber ohnehin kaum mit Ethik assoziiert werden. Schließlich findet sich noch eine dritte Kategorie, die das zwischenmenschlichen Verhalten betrifft, - mitunter auch das Verhalten des Israeliten gegenüber Tieren, selten auch gegenüber Pflanzen, etwa, wenn Ochsen fressen dürfen, oder beide Lebenssphären auch mal ihre Ruhe brauchen, sei es am Sabbat, sei es in der Brachezeit. Dieser Bereich könnte schon eher mit gebotener Vorsicht als gut und böse im modernen Sinn bezeichnet werden. Er wird jedoch im Folgenden den Schwerpunkt bilden, auch wenn die anderen Bereiche für das Verständnis von Sünde und Versöhnung in den genannten Religionen weiterhin eine Rolle spielen und deswegen für ein Gesamtverständnis mit betrachtet werden müssen. Für das Volk des Alten Israel sind die Regeln aller drei Bereiche gleichermaßen verpflichtend und in allen Bereichen kann die Ordnung übertreten, und damit „gesündigt“ werden. Das moderne Judentum unterscheidet sich von dieser Vorstellung an einigen Punkten: der Bereich der Sakralität ist bis auf minimale Ausnahmen seit der Zerstörung des Tempels in Jerusalem um 70 n. Chr. nicht mehr vorhanden. Die beiden anderen Bereiche haben daraufhin einen je größeren Raum eingenommen. Dabei sind für das orthodoxe Judentum grundsätzlich die beiden Bereiche der Verfügbarkeit und der Ethik gleichermaßen bedeutsam. Im progressiven Judentum hingegen hat das zwischenmenschliche Verhalten eindeutig den Primat bekommen. So abstrakt diese Unterscheidungen zunächst scheinen mögen, so sind sie doch grundlegend, um das jeweilige Verständnis von Sünde auch in Christentum und Islam nachvollziehen zu können.

3.

Sühne und Versöhnung im Alten Israel

Im Alten Israel war es also eine Übertretung, wenn eine nicht hochheilige oder nicht heilige Person einen hochheiligen Ort betritt. Das wohl eindrücklichste biblische Beispiel wird ausgerechnet in den ersten beiden Wörtern aufgegriffen, mit denen der Abschnitt zum Versöhnungstag (Jom Kippur) in Lev 16 beginnt: „Achare mot“, „nachdem gestorben waren“, nämlich die beiden Söhne des Aaron, als sie ohne hochheilig zu sein, den Sakralbereich des Stiftzeltes betraten. Das war nicht im ethischen Sinn böse, und dennoch eine Übertretung im höchsten Maße. Wenn man sich dieses Verständnis durch eine moderne Analogie verdeutlichen will, so kann man etwa das Beispiel einer Starkstromleitung verwenden: bei Berührung unterscheidet der Strom in seiner Wirkung nicht, ob dies aus Versehen, in guter oder böser Absicht geschah; die Wirkung ist in allen drei Fällen dieselbe.

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen

Ebenso wenig ist es böse, bewusst Kamelfleisch zu essen; dennoch ist es eine deutliche Überschreitung der von Gott gegeben Ordnung. Und selbst wenn dieses Fleisch unbewusst gegessen wurde, muss die vor Gott begangene Übertretung entsühnt werden. Wenn jemand einen anderen verletzt, ist dies ebenfalls eine Übertretung; war die Tat absichtlich, könnte man sie als böse bezeichnen. War sie fahrlässig, wird auch in diesem Fall diese Qualifizierung als böse zweifelhaft; im Gegensatz zum Alten Israel unterscheidet das rabbinische Judentum solche Vorgänge nach der Intention. Interessant ist weiterhin eine biblische Verordnung für den Fall, dass jemand offensichtlich getötet wurde und so aufgefunden wird, doch sich der Täter nicht ermitteln lässt. Die Tötung, sei es Totschlag oder Mord, ist damit ein Vergehen. Es ist eine Übertretung vor Gott, die auch ihm gegenüber durch ein bestimmtes Ritual entsühnt werden muss, denn es wurde eines von Gottes eigenen Geschöpfen getötet und ihm damit etwas genommen. Die Entsühnung erfolgt in diesem Fall dadurch, dass einer Kuh das Genick gebrochen wird. Es wird deutlich, wie sehr das System einer Ordnung und deren Übertretungen, das in der Tora vorgefunden wird, nicht einfach einem klassischen, ethisch geprägten Begriff der Sünde im Christentum oder erst recht nicht in der Philosophie entspricht. Ebenso bemerkenswert ist das Verständnis der Entsühnung, das sich gerade in dem genannten Kapitel Lev 16 zum Jom Kippur in der Tora findet: die von Gott eingesetzte Ordnung wurde von einzelnen und damit prinzipiell auch von ganz Israel überschritten. Jegliche Überschreitung muss wieder ausgeglichen werden, damit die Störung der Beziehung von Gott zu (ganz) Israel, seinem Volk, behoben ist. Dafür hat Gott nach Lev 16 ein komplexes Ritual eingesetzt, aus dem nur einige Momente herausgegriffen werden sollen: zunächst wird Sünde offensichtlich ebenso wie Sakramentalität gewissermaßen feinstofflich verstanden. Sie wird während des Rituals in den Sündenbock oder auch das Lamm hineingedrückt, das diese Sünde trägt und mit ihr in die Wüste geschickt, oder um die Zeitenwende einen Hang hinuntergestürzt wurde. Die Sünde muss aus Israel herausgetragen werden. Diesen Grundgedanken artikuliert das Christentum bis heute bei jedem Abendmahls- oder auch Eucharistiegottesdienst, wenn gesungen wird: „Christe, du Lamm Gottes, der du trägst die Sünd[e] der Welt.“ Sünde kann also aufgeladen, getragen und entfernt werden. Ein solch komplexer Akt kann jedoch nur von einer Person zelebriert werden, die nicht selbst „Teil des Problems“, also selbst sündig ist. So wurde der Hohepriester des Alten Israels, der dieses Ritual vollzog, zunächst seiner befleckten Kleidung als auch dann seiner Sünden entledigt. Dies gilt ebenfalls für Christus, der als sündenfrei verstanden wird und sich nur deswegen die „Sünden der Welt“ aufladen und sie hinaustragen konnte. Dieses gesamte Ritual, der Akt am Tempel zum Jom Kippur oder auch die Eucharistiefeier, oder die seit der Zerstörung des Tempels vollständig – allerdings ohne gegenständliches Opfer – in die Synagoge transformierte jüdische Feier, kann nur

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deshalb seinen Zweck erfüllen, weil Gott selbst es für diesen Zweck eingesetzt hat. Es ist Gottes Ordnung, die übertreten und damit verletzt wurde, und so kann auch nur er selbst bestimmen, wie diese Ordnung wiederhergestellt werden kann und er selbst vollzieht dann die Wiederherstellung. Die innerweltlichen Akteure des Rituals müssen dabei die Israeliten, Juden oder Christen persönlich sein oder auch rituell in deren hohepriesterlicher Stellvertretung; sie zelebrieren den innerweltlichen Akt der Bußhandlung und ihrerseits der Suche nach Versöhnung mit Gott, die dann von Gott gewährt wird. Damit zeigt dieses gesamte Verständnis in sich eine nachvollziehbare Logik: soweit Gottes Ordnung übertreten wurde, kann auch nur er selbst sie wieder herstellen. Doch die Verursacher dieser Störung sind auch diejenigen, an denen es liegt, die Störung wieder äquivalent rückgängig zu machen. Als Äquivalenz wurde jeweils ein bestimmtes Ritual eingesetzt.

4.

Modifikation der Bereiche von Sünde in den abrahamitischen Religionen

Im zwischenmenschlichen Bereich kann auch eine Schädigung von anderen Personen stattfinden. Diese Störung verletzt damit nicht nur die Ordnung Gottes wie im Fall der Sakralität oder der Eignung, sondern betrifft zugleich auch die Sphäre von Mensch zu Mensch. Die Frage der Eignung wurde bemerkenswerter Weise im Christentum als Reinheitsfrage definiert, und der gesamte Bereich als Faktor innerhalb der göttlichen Ordnung annulliert. Deshalb können für Christen in diesem Bereich auch keine Übertretungen stattfinden. In Judentum und Islam ist der Bereich bis in die Gegenwart relevant und Bestandteil der göttlichen Ordnung. Wie fremd diese gesamte Kategorie Christen mitunter ist, wird an Formulierungen deutlich, wenn etwa formuliert wird, dass Pferd sei im Judentum ein „unreines Tier“. Jeder jüdische Reiter würde sich massiv gegen dieses Missverständnis wehren. Natürlich reitet er auf seinem Pferd und achtet auf dessen Reinlichkeit. Er würde es allerdings nicht essen; das ist alles. Der missverständliche und missverstandene Terminus „unrein“ bezieht sich also höchstens in manchen Aspekten auf die Vorstellung der Sauberkeit oder gar (anachronistisch) Hygiene, sondern in diesem speziellen Fall auf das Essen. Im Judentum findet sich demgegenüber allerdings nicht mehr der Bereich der Sakralität. Dieser ist jedoch im Christentum zentral geworden. Je nach Perspektive kann im Christentum mehr der ethische oder mehr der sakramentale Bereich in den Mittelpunkt gestellt werden, wobei zumindest implizit letztlich der sakramentale Aspekt übergeordnet ist, denn er lässt den ethischen Anspruch erst nachvollziehbar werden. Dazu seien drei Punkte aus den Evangelien dargestellt. Sehr häufig wird darauf hingewiesen, dass Christen bereit sein müssten, anderen zu vergeben: Sie-

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen

benmal oder gar siebenundsiebzigmal siebenmal. Der Forderung nach Vergebung steht in den Evangelien allerdings eine ebenso extreme Betrachtung der Schwere des Vergehens am anderen: sei es im Diebstahl, in der Begierde, in der Trennung vom Lebenspartner: all dieses ist ausgeschlossen, führt zur Hölle oder ins Feuer. Auf der einen Seite steht die Bereitschaft zu großzügiger Vergebung, auf der anderen die Betonung der Schwere zwischenmenschlichen Vergehens. Es liegt an der Definition von Ethik, ob das christliche Verständnis einer Tatintention damit angemessen bezeichnet werden kann: Zwar geht es um gutes oder im Gegensatz dazu böses zwischenmenschliches Verhalten, aber dieses geschieht vor Gott. Wie in den anderen abrahamitischen Religionen ist diese Komponente entscheidend: alles, was Menschen einander antun, wirken sie vor den Augen Gottes. Es ist damit nicht nur ein zwischenmenschliches Geschehen. Nach der Vorstellung der Evangelien wird das Böse, das anderen angetan wird, damit gewissermaßen unendlich schlimm und führt ins Feuer. Gott hat den Menschen oder zumindest den Glaubenden im Glauben seine Gnade geschenkt – und aus dieser Gnade heraus wird der Glaubende nicht nur aufgefordert gut zu handeln, sondern er kann auch gut handeln, und das würde sein böses Handeln quasi unendlich schlimm machen. Er würde sich um die Freude des künftigen Lebens bringen, wenn er einem anderen um die Freude dieses Lebens bringt – wohl wissend, dass auch er immer Sünder bleibt. Erst aus dem göttlichen Akt der Gnade wird der Anspruch an den Glaubenden, keinesfalls zu sündigen, andern zu vergeben und sich zu versöhnen nachvollziehbar, - sonst wäre dieser Anspruch hyperdimensional. Das Bewusstsein unendlicher Schuld am anderen innerhalb der göttlichen Schöpfung kann nur getragen werden durch die Vergebung – und dennoch bleibt die Schuld. Vergebung ist damit kein „Schwamm drüber“. Die genannte göttliche Ordnung zeigt damit jegliches böse Handeln am anderen – oder auch an sich selbst (?) – in der Tiefe der Tat. Zwar geht es damit innerweltlich auch um die Vergebung desjenigen, der diese Tat erlitten hat, aber sowohl Tat als auch Vergebung machen nur innerhalb dieses Ordnungssystems von göttlicher Weisung und göttlicher Vergebung, aber auch dem Bewusstsein der Schuld und damit der Sünde einen Sinn. Die göttliche Vergebung findet im Christentum allerdings ihren Ausdruck in weltlicher Sakramentalität, vom gesprochenen Zuspruch bis hin zum vollzogenen Ritual.

5.

Der Akt der Versöhnung mit Gott

In Judentum und Islam finden sich demgegenüber andere Konzepte. Denn der Versöhnungsakt Gottes mit den Menschen durch Jesus Christus hat nach diesen Religionen nicht stattgefunden, ebenso wenig wie dieser Versöhnungsakt nach dem Verständnis einer säkularen Welt stattgefunden hat. Im Judentum hat der

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Versöhnungstag (Jom Kippur, am 10. Tag des jüdischen Monats Tischri) nach wie vor seine zentrale Bedeutung. Es ist nicht mehr der zentrale und sakramentale Ort des Tempels, an dem die genannten Rituale vollzogen werden, sondern in der Synagoge findet der Akt des Gebets und der Anrufung statt, der Besinnung auf die eigenen Übertretungen und die Hoffnung auf Gottes Entsühnung an diesem Tag. So wird dieser Tag in der Mischna aufgrund seiner zentralen Bedeutung auch direkt „der Tag“ (Joma) genannt. Dem Jom Kippur geht im rabbinischen Judentum, orthodox wie progressiv, ein Zeitrahmen von 10 Tagen voraus. Damit ist die Spanne von Rosh Ha-shana, als dem „Kopf des Jahres“, dem jüdischen Neujahrtag, bis zu dem besagten Jom Kippur gemeint. In dieser Spanne sind jede Jüdin und jeder Jude aufgefordert, aktiv bei allen, gegen die man sich versündigt hat, zunächst die innerweltlich zwischenmenschliche Entsühnung zu erbitten und Ausgleich zu schaffen, bevor man am Jom Kippur vor Gott zu treten wagt. Vor Gottes Angesicht liegen – bildlich gesprochen und in den Liturgien plastisch ausgeführt – die Bücher des Lebens aufgeschlagen bereit, um Namen aufzuschreiben oder auch zu löschen. Um Gottes Willen wird also die Entsühnung des Anderen erbeten, wohl wissend, dass auch dieser ebenso wie man selbst Geschöpf des Höchsten ist und von ebensolchem Wert. Jede und jeder einzelne ist damit letztlich für seine Taten gegenüber dem anderen vollständig und mit aller – auch göttlichen – Konsequenz verantwortlich. Diese uneingeschränkte Verantwortung gilt im Judentum ebenso wie im Islam. Ein Äquivalent findet sich im Islam beim Stehen am Arafa im Umkreis des „Berges des Erbarmens“ (Dschebel ar-rahman). Dieser Berg befindet sich geographisch gesprochen in Mekka, in Saudi-Arabien, islamisch gesprochen aber mit der Kaaba zusammen am Mittelpunkt der Welt. Es ist beeindruckend, die Stille zu sehen, zu hören, zu erfühlen, wenn Muslime – und nur ihnen ist der Zugang zu diesem Berg und insbesondere zu dieser Zeit möglich – dort in der Erwartung der Vergebung stehen.

6.

Rituale der Versöhnung

Bevor die Überlegungen weitergeführt werden, sollen noch einmal die spezifischen Punkte der drei genannten Religionen in ihrem Versöhnungsverständnis und ihrem entsprechenden Ritual zusammengefasst und einander gegenübergestellt werden: Im Judentum wird die Versöhnung am 10. Tischri in der Liturgie und der inneren Partizipation am Ende des Zeitrahmens ab dem 1. Tischri (Rosh Ha-shana) einmal jährlich erbeten. Im Christentum fand das eigentliche Versöhnungsritual ein für alle Mal durch Gott und seine Gnade in Christus und seinem hohepriesterlichen Opfer statt und wird von Christen zelebriert, wann immer sie sich zum Abendmahl oder auch der Eucharistiefeier treffen; und sie lassen sich diese von Gott gewährte Gnade

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen

im Gottesdienst zusprechen. Im Islam schließlich partizipieren zwar alle Muslime am selben Zeitpunkt einmal im Jahr im Rahmen der Wallfahrtszeit an dem Tag des Stehens am Arafat, doch nur diejenigen, die an der Wallfahrt teilnehmen und somit persönlich anwesend sind, stehen selbst am Dschebel Ar-Rahman, um die göttliche Vergebung zu empfangen und die versöhnende Gemeinschaft in diesem Augenblick an diesem heiligen Ort zusammen mit allen anderen Muslimen zu erfahren. Es ist geboten, zumindest einmal im Leben diese Wahlfahrt zu vollziehen, wenn es die Umstände erlauben.

7.

Zwischenmenschliche Vergehen und das Dreieck der Vergebung

Bei zunächst rein zwischenmenschlichen Störungen kommt zur Versöhnung noch eine weitere Komponente hinzu: sie muss nicht nur vor Gott, sondern auch vor dem Geschädigten wieder gut gemacht werden, denn sie ist böse und bleibt böse, bis sie wieder gut ist. Beide Ebenen sind dadurch miteinander verbunden, dass die beteiligten Personen jeweils nicht nur einander gegenüberstehen, sondern auch, dass sie als Menschen Geschöpfe Gottes sind. Damit also müsste auch der Vorgang der Entsühnung auf beiden Ebenen stattfinden. Was die Reihenfolge beider Entsühnungen angeht, formuliert Jesus in der Bergpredigt, dass erst die Entsühnung gegenüber dem Bruder erfolgen solle, bevor das Opfer auf den Altar gestellt wird. Also müsste christlich gesehen vor der Abendmahlfeier, vor jeder Abendmahlfeier, eine solche Entsühnung mit dem Bruder, und natürlich auch der Schwester und überhaupt allen erfolgen, denen der Abendmahlsbesucher eine Störung des Verhältnisses und einen Schaden zugefügt hat. So findet sich die gebotene Reihenfolge der Akte im jüdischen Zeitrahmen von Rosh Hashana bis Jom Kippur. Das „Zeichen des Friedens“ im Christentum vor der eigentlichen Abendmahlsliturgie kann als ein solches allgemeines, aber damit auch unspezifisches Moment verstanden werden, in dem diese Versöhnung zum Ausdruck gebracht wird, sei es klassisch als Kuss oder auch als Händedruck. Offensichtlich wird christlich in diesem Fall implizit von einer transzendent versöhnten Welt ausgegangen, die in diese immanente Welt hineinwirkt. Erst im Zustand des Friedens kann das Abendmahl in seiner Reinheit und Tiefe empfangen werden. Wie der Hohepriester im Alten Israel zunächst in einen Zustand der Reinheit gebracht werden musste, bevor er in das Opferritual eintreten konnte und auch der Priester im Christentum in diesem Zustand sein soll, so soll auch der einzelne Glaubenden in diese Sphäre des Friedens eintreten, bevor er Gottes Gegenwart im Mahl empfängt.

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8.

Die immanente Dimension der Versöhnung

In diesen drei Religionen ist Versöhnung also zunächst vorrangig eine Versöhnung von und mit Gott, die allerdings eine zwischenmenschliche Versöhnung voraussetzt, wenn auch das Vergehen zwischen Menschen stattgefunden und nicht allein die Ordnung Gottes übertreten hat. Versöhnung wird von Gott her und auf Gott hin gesehen und verstanden. Dennoch wird diese transzendenzbezogene Versöhnung immer unter der Voraussetzung einer immanenten Versöhnung gesehen, denn die Immanenz ist Gottes Schöpfung und alle Handlungen seiner Geschöpfe, alle Verwirklichung seiner göttlichen Ordnung können nur in dieser Welt stattfinden. Keine dieser Religionen geht davon aus, dass eigentliches die Ordnung Gottes und damit das Gericht betreffendes menschliches Handeln noch in der jenseitigen Welt stattfindet. In diesen Ausführungen beziehen sich die Vorstellungen des menschlichen Handelns auf ein Handeln, das in den Bereich von Sünde und Vergebung fällt. Der Koran zeigt wie die Johannesapokalypse mit deutlichen Bildern, dass der Mensch bereits während des göttlichen Gerichts eher Objekt ist, der aus den Gräbern geholt wird, unwillkürlich seine Sünden bekennen muss und über den geurteilt wird. Selbst in der ausführlichen Fantasie über das Fegefeuer bei Dante Alighieri leidet der Sünder letztlich nur seine Schuld ab, bis er in das Paradies kommt; in Hölle und Himmel sind ohnehin keine gerichtsentscheidenden Handlungen mehr möglich. Die Tür ist geschlossen, nachdem der Bräutigam mit den fünf Jungfrauen, die noch leuchtende Fackeln gehabt haben, zum Hochzeitsmahl schreitet, um es mit einem Gleichnis aus dem Matthäusevangelium (Kapitel 25) zu sagen. Alle drei Religionen kennen in ihren Schriften ein deutliches „zu spät“ für ein Handeln; insbesondere die Evangelien und der Koran. Die Grenze ist mit dem Ableben in dieser Welt erreicht. Damit erhält das Sein, Fühlen und Handeln in dieser Welt seinen höchsten Wert in diesem einmaligen irdischen Leben.

9.

Die zwischenmenschliche Versöhnung und der rückwärts gerichtete Blick in die Zukunft

Erst nach (!) den genannten Voraussetzungen kommt die zwischenmenschliche Versöhnung als zentrales Thema in den Blick und erhält nun ihr scheinbar grenzenloses Gewicht. Es ist der unendlich wertvolle Moment des Augenblicks und der in diesem Moment vollzogenen Tat, der nicht nur über die eigene Situation und den eigenen Lebensweg entscheidet, sondern in dem jeder auch mit anderen interagiert, heilt und hilft oder sich schuldig macht. Dieses Leben entscheidet schließlich über die Ewigkeit, weil es kein Zurück mehr gibt. In der Folge gelangt

Sünde und Entsühnung in den abrahamitischen Religionen

man an das Paradox des Gerichts und der Strafe, die eigentlich die Folge von etwas ist, dass nicht hätte sein dürfen, – aber nun nicht mehr rückgängig zu machen ist. An dieser Stelle setzen die biblischen Religionen wie auch der Koran in ihren Schriften ein erstaunliches Stilmittel ein: der Blick in die Zukunft, in der die Folge des Geschehens bereits als Realität vor Augen gestellt wird, mitunter mehr noch, bei der sie bereits zur Vergangenheit wird und aus ihr Konsequenzen gezogen werden können. Die zu erwartende Konsequenz wird zur Voraussetzung des eigenen Tuns. In der abstrakten Formulierung ist es schwer, sich diesen Sachverhalt vorzustellen. Deswegen erzählen diese Schriften Geschichten: Jemand sei bereits gestorben, wurde von Gott gerichtet, sieht und erlebt seine Strafe und will nun wieder zurück, um wenigstens seine Liebsten zu warnen, damit sie nicht auch diese Strafe erleiden müssen. Die Paradoxie dieser – inzwischen auch gerne in modernen Science-Fiction verwendeten – Konstruktion liegt zunächst darin, dass auch innerhalb dieser Erzählung die anderen nicht glauben, was der aus der Zukunft Kommende ihnen berichtet, und weiter noch, dass er es sich selbst nicht geglaubt hätte. Über diese Gleichnisse hinaus liefert das Neue Testament sogar im historischen Geschehen die implizite Frage, ob Paulus seiner eigenen Botschaft geglaubt hätte, die er in seinen Briefen verkündigen muss, wenn er nicht selbst zuvor eine göttliche Offenbarung erlebt hätte. Das Paradox von Vergangenheit und Zukunft bleibt bei Tat und Strafe, denn die Strafe ist genau das, was seinen eigentlichen Sinn darin hätte haben müssen, die Tat zu vermeiden. Ebenso wäre es Sinn der Belohnung, die gute Tat hervorzubringen, für die sie allerdings erst nachträglich gegeben werden kann. Eine bereits vollzogene Tat lässt sich jedoch nicht rückgängig machen und die Bereuenden müssen sich die Frage gefallen lassen, warum sie die Tat vollzogen haben, wenn sie ihnen doch leidtut. Haben sie das Leid des anderen nicht gesehen, nicht gespürt? War es ihnen in dem Moment gleichgültig oder wollten sie es gar hervorbringen? Haben sie die Folgen der Tat nicht bedacht? Wollten sie sich rächen oder denken sie, die anderen hätten es verdient? Bemerkenswert ist, dass besonders Christentum und Islam in den zentralen Schriften fürchterliche Strafen für ein Leben benennen, in dem – insbesondere auf Kosten anderer – verantwortungslos gehandelt und sich an anderen versündigt wurde. Das Fürchterliche der Strafen liegt nicht nur in der zu erwartenden Situation, etwa des Feuers, in die jemand nach dem Gericht hineingelangen kann, sondern dass diese Situation unverändert und ewig sein wird. Diese Dimension der Ewigkeit kennen nur die genannten Religionen. Das Bild wird damit so schrecklich, dass es jede Person hindern müsste, einer anderen überhaupt in irgendeiner Weise zu schaden. Deswegen mahnt Jesus in den Evangelien, sich besser das Auge auszureißen, Hand und Fuß abzuschlagen, als sich zur bösen Tat verführen zu lassen. Umgekehrt aber ist der Gewinn des guten Tuns ebenso

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unermesslich, das Paradies, die Speisegemeinschaft, ewige Freude in der Gegenwart des Herrn.

10.

Vergebung

Eigentlich sollte in der Schöpfung Gottes das Leben so gelebt werden, dass keine Vergebung nötig ist und damit auch keine Versöhnung zu geschehen braucht. Gott müsste den Menschen nicht vergeben, wenn sie seine Weisungen, seine Rechtleitungen befolgten. Soweit sie allerdings dazu nicht imstande sind, weil sie aus Versehen die Ordnungen übertreten, kann ihnen am Jom Kippur von Gott vergeben werden. Es war dann eher ein Fehler, ein Versehen oder ein Irrtum als eine Schuld. Wenn Menschen aber aus Selbstsucht, Gier oder anderem verfehlen, dann wäre es die primäre Aufgabe, das Böse wieder gut zu machen – und zwar innerweltlich, bevor es überweltliche Konsequenzen hat. Auch das gnadenlose An- und Aufrechnen der Schuld anderer kann selbst zu einer Schuld werden. Vergebung wäre hier angesagt. Auch die Möglichkeit zur Versöhnung kann unterlassen werden und wäre damit eine Schuld der Unterlassung, sowie das Verwerfen einer neuen Chance – wenn das Verhältnis dadurch wirklich neu geworden wäre. Aber setzt nicht Vergebung ein Abtragen der Schuld voraus, oder macht unter Umständen die neu gewonnene Freiheit von einer Schuldenlast erst einen Ausgleich möglich? Was aber wird, wenn der Ausgleich nicht folgt? Dann war Vergebung und dennoch bleibt Schuld. Die Gleichnisse Jesu sprechen beispielsweise von diesen Themen.

11.

Resümee und Ausblick

An dieser Stelle sollen die religionswissenschaftlichen Überlegungen beendet werden. Der Blick auf die abrahamitischen Religionen zeigt ein Bild von Ordnung, bei der Schuld, Vergebung und Versöhnung in Verbindung mit der göttlichen Weisung, der Rechtleitung, oder auch dem Evangelium stehen, das sich sehr der Ernsthaftigkeit von zwischenmenschlichem Vergehen bewusst ist. Im Gegenüber etwa zu einer säkularen Position tritt jedoch der Faktor hinzu, der in der folgenden Synagogeninschrift sehr klar zum Ausdruck gebracht wird: „Wisse, vor wem du stehst!“ Die säkulare Weltanschauung kennt eine solche, für Juden, Christen und Muslime zentrale Vorstellung beständig gegenüber dem einen Gott als Schöpfer und Richter zu stehen und ihm gegenüber verantwortlich zu sein, nicht und dementsprechend hat sie für sie keine Bedeutung. Im säkularen Denkansatz wird ethisches Handeln und Sein in das Zwischenmenschliche verlagert und muss allein dort ausgehandelt

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werden. Zugleich aber fällt damit auch die Dimension der Ewigkeit weg, die in den genannten Religionen den zeitlich unbegrenzten Raum der Folge des Tuns bildet. Auch die Folgen des Tuns bleiben allein innerweltlich und auf die Zeit und den Raum dieser Welt begrenzt, während sie in den genannten Religionen darüber hinaus noch in Bezug zur Transzendenz gesehen werden und in die Ewigkeit hineinreichend sind, ohne dort noch aktiv verändert werden zu können. Ein anderes religiöses Bild wiederum bietet die indische Vorstellung des Karmas, in dem die Folgen des Tuns die Person selbst treffen, wobei die Handlung die Person gestaltet wie auch die Person ihre Handlungen beständig neu vollbringt und sich in einer weiteren Existenz wiederum neu formt, in der dann auch Handeln wieder möglich ist. Ebenso zeigt auch die chinesische Vorstellung der Harmonie und des ewigen Weges (Dao) ein eigenes Bild von Handeln und Werden. Wieder anders zeigen sich diese Fragen von Ordnung, Übertretung und Ausgleich in so genannten ethnischen Religionen. So unterschiedlich diese Ansätze jeweils auch sein mögen, wir leben in einer globalen Welt, in der wir um Vergehen und Übertretungen wissen. Es hilft sehr, um die unterschiedlichen religiösen und nicht-religiösen Konzepte zu wissen, in denen jeweils das Verständnis von Übertretung gegründet und begründet ist. Dennoch bleibt letztlich und gerade angesichts der Vielfalt dieser Konzepte, deren Richtigkeit innerweltlich nicht entschieden werden kann, sich des Faktums von zwischenmenschlicher Übertretung allgemein bewusst zu werden, diese zu artikulieren, gegen sie zu opponieren und nach einem Ausgleich zu suchen. Dieser Ausgleich wiederum ist ein integraler Bestandteil der Versöhnung. Er sollte soweit wie möglich vor der Versöhnung stattfinden und soweit wie dann noch nötig, nach der Versöhnung. Denn zwischenmenschlich kann und muss dieser Ausgleich auch nach den Verständnissen aller unterschiedlichen Religionen, wie auch a-religiösen Vorstellungen innerweltlich, hier und jetzt stattfinden. Ein menschliches wirkungsvolles Handeln dieser Art wäre außerhalb dieser Welt nicht mehr möglich, selbst in Judentum, Christentum und Islam nicht. Die Folgen sind verhängnisvoll, sei es – so wie in westlichen Religionen gelehrt wird – durch ein göttliches Gericht, oder sei es durch die geschädigten Personen selbst, die dann nach hinduistisch-buddhistischer Lehre als Pretas in diese Welt hineinwirken, selbst leiden und bei denen, die ihr Leid verursacht haben nun ihrerseits Leid hervorbringen, oder sei es schließlich durch Ahnen oder Wesen weiterer, hier nicht ausgeführter religiöser Vorstellungen. Die Weite des JCRS liegt darin, sich dieser unterschiedlichen Konzepte von Sünde und Versöhnung, von Wiedergutmachung und Ausgleich in den jeweiligen Religionen und auch der säkularen Welt durchaus bewusst zu sein. Dennoch sollen in dieser Komplexität von Vorstellungen die Prozesse von Konflikten und Versöhnung beschrieben, analysiert, diskutiert und mehr noch katalysatorisch auf die Versöhnung hin betrieben werden. Denn als das Verbindende bei all den genannten

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Unterschieden hat sich bei dieser religionsvergleichenden Überlegung gezeigt, dass – auch trotz aller religiös begründeten transzendenten Dimensionen – ein Ausgleich auf die Versöhnung hin hier in dieser Welt, in diesem Raum und in dieser Zeit stattfinden muss. Sei es, dass diese immanente Versöhnung die Folgen des Vergehens und der Schuld in dieser Welt ausgleichen muss, weil diese Welt praktisch alles ist, oder weil in der transzendenten Welt die Folgen in die Ewigkeit hineinreichen. Aus diesem Grund ist das JCRS ebenso säkular wie interreligiös ausgerichtet, agiert fachlich interdisziplinär und auf die Konflikte und deren intendierte Versöhnung bezogen global.

Gerd Theißen

Die Jesusbewegung Was war neu in dieser Erneuerungsbewegung?1 Die Jesusbewegung war eine innerjüdische Erneuerungsbewegung, die durch den historischen Jesus hervorgerufen worden war und nach seinem Tod mehr Anhänger außerhalb des Judentums fand als in ihm. Der Bezeichnung ‚Jesusbewegung‘ deutet an, dass sie vom historischen Jesus geprägt ist. Doch muss man nicht im Einzelnen nachweisen, welche Überlieferungen tatsächlich auf Jesus zurückgehen. Für die Jesusbewegung können wir als Quelle die ganze Jesusüberlieferung heranziehen.2 Die Quellenbasis ist hier breiter, als wenn man nach dem historischen Jesus fragt. Eine „Erneuerungsbewegung“ muss etwas „Neues“ in die Geschichte bringen und sei es nur, dass sie Altes wieder zur Geltung bringen will. Wie kann man dies „Neue“ bestimmen? Hier bietet sich der Vergleich mit anderen Bewegungen an. Wenn man einzelne Traditionen betrachtet, ist das Neue oft nur eine kleine Variation des Alten. Die Erwartung eines zukünftigen Reich Gottes teilten damals z. B. viele im Judentum.3 Neu ist in der Jesusbewegung die Überzeugung, dass es schon in der Gegenwart hier und jetzt beginnt: mitten unter uns (Lk 17,20f.). Für eine Verbindung von gegenwärtiger und zukünftiger Herrschaft Gottes gab es freilich ein Modell: Im Synagogengottesdienst verband man den Lobpreis Gottes als des gegenwärtig im Himmel herrschenden Königs mit der Bitte um das Kommen seines zukünftigen Königreichs. Im liturgischen Raum war schon Gegenwart, was in der Zeit von der Zukunft erwartet wurde.4 In der Jesusbewegung begegnet

1 Mit diesem Aufsatz grüße ich Martin Leiner zu seinem 60. Geburtstag. Versöhnung zwischen verfeindeten Gruppen wurde eines seiner Lebensthemen. Der Begriff ‚Versöhnung‘ begegnet uns im Neuen Testament erst bei Paulus. Dieser Aufsatz zeigt, dass er der Sache nach in der Jesusbewegung angelegt ist. Die Überwindung von Grenzen zwischen Binnengruppen und Fremden sowie zwischen Ober- und Unterschicht ist das „Neue“ in der Jesusbewegung, aber es hat Vorläufer im Judentum. 2 Man kann dabei Überlieferungen, die sich als Anpassung an nicht-jüdische Milieus, Übernahme von Vorstellungen der heidnischen Umwelt oder Niederschlag späterer urchristlicher Entwicklungen erklären lassen, zunächst zurückstellen. Sie könnten sekundär zum Traditionsgut der Jesusbewegung geworden sein. 3 Aus der Literatur zur „Königsherrschaft Gottes“ seien genannt: Camponovo 1984; Evans, Johnston 2017; Schröter 2006, 188–213; Wolter 2019, 95–123. 4 Gottes Königtum begegnet einerseits im Kult in präsentischen Aussagen, wenn alttestamentliche Psalme davon singen, dass Gott König geworden ist (Ps 47,93,96–99) oder die Sabbatlieder von Qumran sein Königtum loben. Sein Königtum begegnet in der (späten) Prophetie von Deuterojesaja bis zu Tritosacharja dagegen als zukünftige Erwartung. Später werden Zukunft und Gegenwart im

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im Vaterunser eine solche Verbindung von Zukunft und Gegenwart in einem Gebet, das überall gesprochen werden konnte.5 Wenn wir einzelne Elemente der Verkündigung der Jesusbewegung betrachten, können wir das Neue oft als Variation des Alten erkennen. Sehr viel ungewöhnlicher ist schon die Kombination verschiedener Traditionen. Wenn wir z. B. folgenden Steckbrief für die Antike ausschrieben: Gesucht wird jemand, der glaubte, dass das Reich Gottes schon jetzt beginnt, für Feindesliebe eintrat und als Verbrecher hingerichtet wurde, so wäre diese Kombination von nur drei Elementen singulär. Hier kommt nur Jesus von Nazareth in Frage! Jedes einzelne dieser Elemente lässt sich im damaligen Judentum wiederfinden: Viele sprachen damals vom Reich Gottes, Feindesliebe ist eine Radikalisierung der Liebe zum Fremden (Lev 19,33f.), Kreuzigung war eine römische Todesstrafe für Sklaven und Rebellen. Viele Juden mussten sie erleiden.6 Nehmen wir nun über solche Kombinationen von Elementen hinaus auch noch die Wirkungsgeschichte dieser Traditionen hinzu, so erhöht sich die Singularität der Jesusbewegung noch einmal. Denn es gab im damaligen Judentum zwar viele Erneuerungsbewegungen, aber nur die Jesusbewegung breitete sich auch außerhalb des Judentums aus und wurde der Anfang einer neuen Religion. Aus unseren methodischen Überlegungen folgt: Um das Neue der Jesusbewegung genauer zu bestimmen, müssen Vergleiche durchgeführt werden. In einem ersten Teil wird die Auswahl der Bewegungen, die für solch einen Vergleich in Frage kommen, begründet. In einem zweiten Teil werden aufgrund von Vergleichen neue Elemente in der Jesusbewegung zusammengestellt. Im dritten Teil wird eine zusammenfassende Deutung versucht.

1.

Vergleichbare Bewegungen und Gruppen

Es können prinzipiell zwei Formen von Vergleichen unterschieden werden: Sie vergleichen entweder intrakulturell die Jesusbewegung mit anderen jüdischen Gruppen in der damaligen Zeit oder interkulturell mit verwandten Erneuerungsbewegungen in anderen Gesellschaften. Beides geschieht im Folgenden nur in Auswahl. Die

Gebet und Bekenntnis verbunden: Um das Kommen des zukünftigen Königtums Gottes bittet sowohl das Schemone Esre (das 18-Bitten-Gebet) als auch das Kaddischgebet. Das Zitieren des Schemas gilt dagegen als Bekenntnis zu seiner präsentischen Herrschaft; denn mit ihm nimmt man das „Joch der Königsherrschaft Gottes“ auf sich. 5 Nach Grappe 2001 tritt bei Jesus die Gottesherrschaft an die Stelle des Tempels. Jesus überträgt m. E. in der Tat im Vaterunser ein Gottesbild aus dem liturgischen Raum ins Leben. Das Vaterunser wurde freilich bald selbst Teil einer neuen Liturgie. Das ist schon in der Didache erkennbar (Didache 8,2). 6 Vgl. AJ 11,261.266.267; 17,295; 20,102.129.161; Ders.,Bell 5,449–451 sowie (vgl. Hengel 1977).

Die Jesusbewegung

vorliegende Auslese orientiert sich daran, wo der Vergleich etwas Neues erkennen lässt. 1.1

Intrakulturelle Vergleiche

In der Zeit des Hellenismus gab es zwei Wellen von Erneuerungsbewegungen innerhalb des Judentums. Die älteren Erneuerungsbewegungen sind Reaktionen auf das Vordringen der Griechen, die jüngeren Reaktionen auf das Vordringen der Römer im Orient gewesen.7 Viele Kulturen im Orient wurden durch sie aufgesogen und verschwanden. Die Juden aber bewahrten ihre Identität, weil sie in Reaktion auf das Vordringen der griechischen und römischen Kultur ihre eigene Religion und Kultur erneuerten. Die älteren Erneuerungsgruppen waren Reaktionen auf die griechischhellenistische Kultur, nachdem Alexander der Große den Orient ab 334 v. Chr. erobert hatte und die griechische Bevölkerung in ihm ihre hochstehende Kultur verbreiten konnte. Für eine Gesamtdarstellung dieser Hellenisierung der damaligen Welt mit dem englischen Titel Age of Conquests (Chaniotis 2018) wählte die deutsche Übersetzung den harmloseren Titel Die Öffnung der Welt (Chaniotis 2019). Beides ist richtig. Die meisten Juden haben das Vordringen des Hellenismus damals als Eroberung erlebt, eine kleine Oberschicht aber auch als Öffnung. Sie gründete Anfang des 2. Jahrhundert, im Jahr 175 v. Chr., Jerusalem als griechische Stadt mit einem Tempel, der Zeus gewidmet sein sollte, und öffnete das Judentum für Nichtjuden bzw. Reformjuden. Sie wollten mit Unterstützung durch den hellenistischen Herrscher ihre Reform freilich auch mit Gewalt durchsetzen. Gegen sie wandten sich verschiedene alternative Erneuerungsbewegungen, die wir unter dem Namen der Pharisäer, Essener und Sadduzäer kennen. Sie alle wollten die jüdische Kultur bewahren. Sie haben sich auch durch militärischen Widerstand unter Führung der Makkabäer durchgesetzt. Kurze Zeit gab es von 141 bis 63 v. Chr. einen selbständigen jüdischen Staat.8 Zum Vergleich mit der Jesusbewegung wählen wir vor allem die hellenistischen Reformjuden der Oberschicht. Denn die Jesusbewegung hat ein vergleichbares Anliegen: Sie öffnet sich für die Fremden und will sie durch ein erneuertes Judentum für sich gewinnen. Dadurch unterschied sie sich von anderen Erneuerungsbewegungen. Ein Vergleich zwischen der Jesusbewegung und diesen Reformjuden 150 Jahre vorher wurde bisher kaum durchgeführt, was auch dadurch bedingt ist, dass die Quellenbasis für die hellenistischen Reformer in Jerusalem sehr schmal ist: Wir kennen sie fast nur

7 Horsley 2011 gibt einen Überblick über alle Protest- und Erneuerungsbewegungen, in dem er seine Forschungen zusammenfasst. 8 Zur seleukidischen Herrschaft und zum Makkabäeraufstand vgl. Tiwald 2016, 59–68.

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aus polemischen und abwertenden Berichten ihrer Gegner. Historisch-kritische Methodik aber bewährt sich gerade darin, solche Berichte kritisch zu lesen und dadurch Menschen der Vergangenheit gerecht zu werden. Die jüngeren Erneuerungsbewegungen reagieren auf das Vordringen der Römer in den Osten, die seit 63 v. Chr. Palästina unterworfen hatten und durch Vasallenkönige regieren ließen. Der tüchtigste Vasallenkönig war Herodes I. (34–4 v. Chr.). Er wollte die Integration der Juden in das Römische Reich klüger vorantreiben als die Jerusalemer Oberschicht 150 Jahre vorher ihre Integration in das syrische Reich betrieben hatte: Er erbaute den Jerusalemer Tempel neu. Das Judentum sollte demonstrativ bewahrt und zugleich in das Römische Reich integriert werden. Denn gleichzeitig errichtete er auch Tempel für den Kaiserkult. Gegen seine Integrationspolitik wandten sich nach seinem Tod verschiedene Erneuerungsbewegungen, unter denen man zwei Typen unterscheiden kann: Am Anfang handelte es sich um zwei militante Erneuerungsbewegungen, die zum Widerstand gegen die Römer aufriefen, wobei die erste Bewegung direkt zu den Waffen griff, die zweite dagegen „nur“ einen Steuerboykott propagierte. Ihnen folgten später zwei friedliche Bewegungen, die vor allem eine innere Erneuerung des Judentums anstrebten: ihre Anführer waren Johannes der Täufer und sein Schüler Jesus von Nazareth. Bei den militanten Erneuerungsbewegungen können wir nach dem Tod des Herodes zwei Phasen unterscheiden, in denen sie in verschiedener Weise Widerstand gegen die übermächtige fremde Herrschaft und Kultur übten. Unmittelbar nach seinem Tod gab es bewaffnete Aufstände unter mehreren messianischen Führern in allen Landesteilen. Man wollte endlich wieder eigene Könige haben, die die eigene Kultur und Religion gegen die Fremden verteidigten.9 In Galiläa trat damals ein Judas auf, von dem eine Überlieferung sagt, er habe nicht seine eigene Herrschaft, sondern die Herrschaft Gottes durchsetzen wollen.10 Das Land wurde nach Niederschlagung dieser Aufstände im sog. „Räuberkrieg“ unter drei Söhnen des Herodes aufgeteilt. Im größten Teil, in Judäa und Samarien, regierte der Herodessohn Archelaos.

9 Vgl. den Kommentar des Josephus zum Auftreten eines dieser Aufstandsführer mit Namen Simon: „So große Unvernunft bemächtigte sich des Volkes, weil sie keinen einheimischen König hatten, der die Menge durch Tüchtigkeit zurückhalten konnte ...“ (AJ 17,277). 10 Die Überlieferung von ihm ist widersprüchlich. In AJ 17,272 unterstellt Josephus Judas ein Streben nach Königsherrschaft, in Bell 2,56 schreibt er dagegen, er habe die angegriffen, die nach Herrschaft strebten. Da Josephus die Aufstandsbewegung in den Antiquitates als Bewegung von Königsprätendenten beschreibt – „sobald jemand genug Mitrebellen hatte, trat er als König an ihre Spitze“ (AJ 17,285), könnte er hier Judas wie die anderen Aufstandsführern als Königsprätendenten dargestellt haben, obwohl er es nicht war. Dafür spricht, dass er von Judas nur sagt, er habe nach der Königswürde „gestrebt“ (AJ 17,272), von Simon und Athronges aber, sie hätten sich ein Diadem aufgesetzt (AJ 17,273f.; 17,280).

Die Jesusbewegung

Nach zehn Jahren gab es eine zweite Welle des Widerstands, nachdem die Römer 6 n. Chr. Archelaos abgesetzt und in Judäa und Samarien direkt die Herrschaft übernommen hatten. Von jetzt ab mussten die Juden in Judäa ihre Steuern nicht mehr an einen jüdischen König zahlen, sondern direkt an die Römer. Das rief eine Steuerverweigerungskampagne unter Judas Galilaios hervor. Er könnte mit dem Judas, der zehn Jahre vorher in Galiläa den Widerstand organisiert hatte, identisch sein, könnte aber auch ein gleichnamiger anderer Judas sein. Sein Protest wirkt auf den ersten Blick weit friedlicher als der Aufstand nach dem Tod Herodes I., denn Judas Galilaios sagte: Wenn ihr Gott als euren einzigen König ernst nehmt, dürft ihr keine Steuern an den Kaiser zahlen. In Wirklichkeit war das ein Aufruf zum Krieg: Verweigerte Steuerzahlung war Tributverweigerung und kam einer Kriegserklärung an die Römer gleich. Dennoch ist wichtig: Im Zentrum seiner Botschaft stand eine religiöse Erneuerung. Die Loyalität gegenüber Gott war wichtiger als die gegenüber dem Kaiser.11 Vergleicht man die beiden Phasen des Widerstands, erkennt man eine Verschiebung von direkter militärischer Aktion zur religiösen Lehre. Diese Entwicklung wird fortgesetzt in den friedlichen Erneuerungsbewegungen ca. 15–20 Jahre später. Wir beobachten wiederum zwei Wellen. Die entscheidende Wende vom militärischen Widerstand zu einer friedlichen Erneuerung geschah mit Johannes dem Täufer.12 Seine Lehre war: Ihr müsst nicht die Römer überwinden, sondern an erster Stelle euch selbst, d. h. zu Gott umkehren und das Gesetz halten – anders als die eigene Oberschicht, die wie Herodes Antipas die jüdischen Ehegesetze verletzte, als er die Frau seines Bruders noch zu dessen Lebzeiten heiratete.13 Johannes der Täufer prangerte aber nicht nur Fehlverhalten der Oberschicht an, sondern rief unterschiedslos alle Juden zur Umkehr auf. Falls sie die Umkehr verweigerten, drohe Gott mit einem Strafgericht. Johannes der Täufer aber hatte dabei für jeden eine Heilsbotschaft: Jeder kann dem Strafgericht entkommen, der umkehrt und sich taufen lässt. Die Bedeutung Johannes des Täufers für die Wende von militanten zu friedlichen Erneuerungsbewegungen wird meist unterschätzt. Johannes der Täufer stand in dieser Hinsicht allzu sehr im Schatten seines großen Schülers. 11 Von Judas Galilaios heißt es: „Er schmähte (sc. die Bewohner der Provinz Judäa), wenn sie es ertrügen, den Römern Steuern zu zahlen und nach Gott sterbliche Herren ertrügen“ (Josephus, Bell, 2,118). Seine Anhänger haben eine „unbesiegbare Liebe zur Freiheit, da sie als einzigen Führer und Herrn Gott anerkennen“ (Josephus, Ant, 18,23). Wer so gegen jede menschliche Herrschaft polemisiert, kann nicht gleichzeitig messianische Herrschaft für sich beanspruchen. Dafür spricht auch, dass er neben sich einen zweiten Lehrer hat, den Pharisäer Zadduk (Josephus, Ant, 18,4). Solch ein Doppelgespann weist nicht auf monarchische Ambitionen. 12 Zu Johannes dem Täufer und Jesus (vgl. Theißen 2017a). 13 Auch Josephus tadelt die Ehepolitik der Herodäer: Herodias habe bewusst die väterlichen Normen erschüttern wollen, als sie noch zu Lebzeiten ihres (ehemaligen) Mannes dessen Bruder heiratete (AJ 18,136).

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Der zweite Schub bei dieser friedlichen Erneuerungsbewegung ist mit dem Namen seines Schülers Jesus von Nazareth verbunden. Er setzte die Botschaft des Täufers fort, wich aber deutlich von vorhergehenden Erneuerungsbewegungen ab. Einige neue Züge seiner Botschaft lassen sich im Vergleich zu diesen Bewegungen sofort erkennen: (1) Beim Vergleich mit der Täuferbewegung fällt ins Auge: Jesus verlangt keine Taufe zur Vergebung der Sünden, sondern nur ein Gebet. Er sagt: Gott vergibt allen, die ihn aufrichtig darum bitten. Das ist die Botschaft des Vaterunsers (Mt 6,9–13; Lk 11,2–4).14 (2) Der Vergleich mit den militanten Erneuerungsbewegungen zeigt einen deutlichen Kontrast: Jesus predigt keinen Aufstand, sondern Feindesliebe. Ausdrücklich sagt er: Ihr sollt dem Kaiser Steuern zahlen; das widerspricht nicht dem Glauben an Gott (Mk 12,13–17). (3) Der Vergleich mit den hellenistischen Reformjuden 150 Jahre vorher zeigt: Auch Jesus wollte den Tempel erneuern (Theißen 2009). Auch wenn wir nicht genau wissen, welches Zukunftsbild er für den Tempel entwickelt hat, zeigt die weitere Geschichte der Jesusbewegung: Sie strebte eine Öffnung des Tempels für NichtJuden an und nahm insofern ein Anliegen des hellenistischen Reformversuchs 200 Jahre vorher auf. Eine umfassende historische Darstellung müsste darüber hinaus noch weitere Vergleiche anstellen, vor allem auch Bewegungen nach Jesu Tod einbeziehen, aber für unsere Suche nach dem „Neuen“ ist ein Vergleich mit den genannten Bewegungen ergiebig genug. 1.2

Interkultureller Vergleich

Ein kurzer Blick auf vergleichbare Erneuerungsbewegungen in anderen Kulturen, also der interkulturelle Vergleich, ist hilfreich. Wenn eine dominierende Kultur andere Kulturen unterwirft, kommt es in den unterworfenen Kulturen oft zu nativistischen Erneuerungsbewegungen. Nativismus ist das betonte Festhalten an Elementen der eigenen Kultur angesichts der Bedrohung durch eine überlegene fremde Kultur. Als Gegenreaktion auf den europäischen Kolonialismus finden wir in vielen Kolonien nativistische Erneuerungsbewegungen, die sich um einheimische Propheten und Anführer scharen. Ethnologen haben sie oft unter dem Etikett „millenaris-

14 Es ist kein Zufall, dass nach dem Lukasevangelium Jesus das Vaterunser als Entsprechung zu einem Gebet lehrt, das Johannes der Täufer seinen Jüngern gelehrt hat (Lk 11,1). Das Vaterunser unterscheidet die Jesusanhänger von den Täuferanhängern – gerade dadurch, dass die Vergebung nicht an die Taufe, sondern an Gebet und Vergebungsbereitschaft gebunden wird.

Die Jesusbewegung

tische Bewegung“ erforscht.15 Vergleicht man sie mit der Jesusbewegung, fallen zwei Besonderheiten auf. Erstens ist es keiner dieser Widerstands- und Erneuerungsbewegungen in den Kolonien gelungen, in die überlegene europäische Kultur einzudringen. Die Jesusbewegung hat dagegen im Laufe von ca. drei Jahrhunderten das Römische Reich von innen „erobert“. Zweitens verbindet die Jesusbewegung mit der Erneuerung der jüdischen Religion keine Aggression gegen Nicht-Juden. Im Gegenteil, sie ist demonstrativ gewaltfrei und öffnet sich für Heiden. Schon in diesem kurzen Überblick über Parallelen zur Jesusbewegung im Judentum und in anderen Kulturen haben wir einige Besonderheiten der Jesusbewegung registriert, die mit vier Stichworten noch einmal genannt seien: Feindesliebe statt militärischem Widerstand; Gebet statt Taufe; Tempelöffnung statt Abschirmung; Verbreitung in der Fremdkultur statt Beschränkung auf die eigene Kultur. Wir konzentrieren uns im Folgenden ganz auf den Vergleich mit innerjüdischen Erneuerungsbewegungen.

2.

Die Jesusbewegung als jüdische Erneuerungsbewegung

Eine für uns erkennbare Modernisierungsbewegung setzte im Judentum erst 150 Jahre nach der Eroberung des Ostens durch Alexander den Großen ein. Wir können ihren Anlass noch erkennen. Alexanders Reich zerfiel nach seinem Tod in mehrere Reiche. Über Palästina herrschten zuerst die Ptolemäer in Ägypten, seit 198 v. Chr. aber die Seleukiden in Syrien. Im Zusammenhang mit diesem Herrschaftswechsel spaltete sich die jüdische Oberschicht. Wenn man etwas vereinfachen darf, kann man sagen: Ein Teil sympathisierte mit den alten Herrschern, ein anderer mit den neuen. Wer mit den alten Herrschern sympathisierte, war eher gegen die Modernisierung, wer mit den neuen Herrschern selbst zur Macht kommen wollte, war für die Modernisierung. 2.1

Vergleich zwischen den hellenistischen Reformern und der Jesusbewegung

Worin bestand die Modernisierung der hellenistischen Reformjuden in Jerusalem? Sie gründeten 175 v. Chr. eine hellenistische Polis, identifizierten den jüdischen Gott JHWH mit dem griechischen Gott Zeus und wollten jüdische Besonderheiten wie Beschneidung und Speisegebote abschaffen, welche die sozialen Beziehungen 15 Vgl. die Definition von Giddens 1999, 452: „A millenarian group is one that anticipates immediate, collective salvation for believers, either because of some cataclysmic change in the present or through a recovery of a golden age supposed to have existed in the past“. Der Vergleich mit der Jesusbewegung wurde zum ersten Mal durchgeführt von Gager 1975, vgl. ferner Allison 1998 sowie Theißen 2003e.

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zu Nichtjuden oft erschwerten. Als ihre Reform auf Widerstand stieß, haben sie ihre Ziele auch mit Hilfe des syrischen Königs Antiochos IV. Epiphanes mit Gewalt durchzusetzen versucht. Wir wissen nur wenig von diesen hellenistischen Reformern. Sie verstanden sich selbst als eine jüdische Umkehrbewegung. Denn ihre Öffnung für die anderen Völker begründeten sie mit der Parole: „Seitdem wir uns von ihnen (den anderen Völkern) abgesondert haben, traf uns viel Unheil“ (1 Makk 1,11). Ihr Programm könnte in der Schilderung des Judentums bei einem paganen Schriftsteller Strabo ein Echo gefunden haben. Danach habe Mose in Frieden mit den benachbarten Völkern gelebt und eine reine, bilderlose Gottesverehrung gelehrt, erst seine Nachfolger hätten sich durch rituelle Gesetze von anderen Völkern getrennt (Strabo, Geographica, XVI, 2,35–38). Wahrscheinlich haben die Reformer an der Überlegenheit ihres bilderlosen Monotheismus festgehalten. Nirgendwo hören wir, dass man ihnen Polytheismus, Bilderdienst oder eine Aufhebung des Sabbats vorwirft. Die zehn Gebote wurden von ihnen prinzipiell nicht in Frage gestellt. Sie waren Reformjuden.16 Nicht Assimilation, sondern Akkulturation unter Bewahrung der eigenen Identität war ihr Ziel. Das sahen ihre Gegner natürlich anders. Vor allem machten diese Reformjuden einen gravierenden Fehler: Sie wollten sich mit Gewalt und mit Hilfe des Fremdherrschers gegen ihre Gegner durchsetzen. Ihr Reformversuch 175 v. Chr. rief oppositionelle Erneuerungsbewegungen hervor. Die Jerusalemer Oberschicht selbst war gespalten, der Widerstand gegen sie war aber vor allem in den Unterschichten auf dem Land verwurzelt. Das Land rebellierte gegen die Stadt und setzte sich gegen sie durch. Die hellenistischen Reformer haben sich zwar relativ lange (bis 141 v. Chr.) in der Stadt Jerusalem selbst gehalten. Dann verschwanden sie aus der Geschichte. Ein Vergleich dieser hellenistischen Reformjuden mit der Jesusbewegung ca. 170 Jahre später ist aufschlussreich. Jesus hat nämlich eine Gemeinsamkeit mit diesen Reformjuden: Er wollte das Judentum für Fremde öffnen. Er verkündigt ein Gottesreich, in das von allen Himmelsrichtungen Nichtjuden hineinströmen werden (Mt 8,11f.). Aber es gab auch einen wichtigen Unterschied: Die Jesusbewegung betrieb eine Öffnung des Judentums von unten her – nicht als Oberschicht von oben, die sich der internationalen Bildung geöffnet hatte. Die Jesusbewegung war eine Bewegung kleiner Leute, von Fischern und Bauern. Ein wichtiger Unterschied ist ferner: Sie verzichtete demonstrativ auf Gewalt. Dennoch liegt ein Vergleich mit

16 Dass diese Reformjuden den in Jerusalem verehrten Gott „Zeus“ nannten, ist m. E. kein Indiz für eine Abwendung vom jüdischen Glauben. Im Brief des Aristeas § 16 werden Unterschiede in der Bezeichnung Gottes relativiert, wenn es über die Juden heißt: „Als Bewahrer und Schöpfer des Alls verehren sie nämlich Gott, und den (verehren) alle Menschen: wir nennen ihn nur anders „Zeus““. Der Aristeasbrief entstand wahrscheinlich im 2. Jahrhundert v. Chr., vielleicht kurz nach der Zeit, in der die Reformjuden Jerusalem ca. 175–140 geprägt hatten.

Die Jesusbewegung

dieser Oberschichtbewegung nahe. Denn Jesusworte formulierten viele Werte, die eigentlich in der Oberschicht beheimatet sind, in einer Weise um, dass sie auch für kleine Leute zugänglich wurden (Theißen 2003f, sowie Theißen 2004b, u. a. 248–268). Das kann man anhand von Worten zum Umgang mit Macht, Besitz und Bildung zeigen. Ein Beispiel zum Umgang mit Macht ist die Feindesliebe. Sie ist in der Antike als Großzügigkeit des Königs gegenüber seinen Gegnern belegt. Bekannt ist die clementia Caesaris, die Milde des Cäsars, der seine Gegner im Bürgerkrieg begnadigte (darunter auch einen seiner späteren Mörder). Jesus sagt: Jeder soll so großzügig gegenüber seinen Gegnern sein wie Könige. Das ist Feindesliebe (Mt 5,43–48) (Theißen 1983). Ein Beispiel zum Umgang mit Reichtum ist die Freigebigkeit: Die Oberschicht hat genug Mittel, um freigebig zu sein und sich dadurch eine Klientel zu sichern. Jesus sagt: Ihr sollt alle so freigebig sein wie die Oberschicht, selbst, wenn ihr arm seid. Die arme Witwe, die nur zwei Groschen spendet, ist mehr wert als die Reichen (Mk 12,41–44) (Theißen 2003a). Ein Beispiel zum Umgang mit Bildung ist der Ruf an die Mühseligen und Beladenen: Nur die Oberschicht hatte Zugang zur Bildung oder zur „Weisheit“, wie man damals die Bildung nannte. Jesus aber wendet sich an die, die schuften und belastet sind, und sagt ihnen: Ich will euch Ruhe geben. Lernt von mir. Seine Weisheit ist eine Weisheit für die kleinen Leute (Mt 11,28–30) (Theißen 2004a, 49–66). In der Geschichte wird immer gerungen um die Verteilung von Macht, Besitz und Bildung. Jesus setzt sich dafür ein, dass die bisher Unterprivilegierten Verhaltensweisen lernen, die wir sonst vor allem in der Oberschicht finden. In der Jesusbewegung geschieht daher ein „Abwärtstransfer von Oberschichtwerten“. Er verbindet sich mit einem „Aufwärtstransfer von Unterschichtwerten“, durch den Grenzen zwischen oben und unten sowie Grenzen zwischen Nahe- und Fernstehenden überwunden werden. Die Hierarchie von oben und unten wird in der Jesusbewegung auf den Kopf gestellt. Allgemein gilt: Kleine Leute müssen dienstbereit niedrige Rollen übernehmen. Jesus aber sagt: Alle sollen dazu bereit sein. Wer groß ist, soll die Rolle dessen übernehmen, der der Kleinste ist (Mk 10,41–45). Das ist Demut. Aber diese Demut soll nicht die Tugend kleiner Leute sein, die ohnehin dienen müssen, sondern die Haltung von Menschen, die ganz oben sitzen. Bei der Abgrenzung zwischen Nahe- und Fernstehenden gilt im Allgemeinen: Kleine Leute unterstützen ihre unmittelbaren Nachbarn als ihre „Nächsten“.17 Hoch17 Jüdische Oberschichtmitglieder, die stolz auf das jüdische Ethos waren, vermieden es, von „Nächstenliebe“ zu sprechen. Auffällig ist, dass Philo und Josephus den Begriff „Nächstenliebe“ vermeiden, sondern von Menschenliebe bzw. „Philanthropie“ sprechen. Die „Nächstenliebe“ begegnet bei Philo nur einmal beim Gebot, dem zusammengebrochenen Esel des Feindes zu helfen (Philo, De virtutibus

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stehende Leute haben Freunde und Unterstützer in der ganzen Welt. Jesus predigte Nächstenliebe, aber sagte gleichzeitig: Jeder kann dein Nächster werden, auch der Fremde. So wie der Samariter für den von Räubern Misshandelte der Nächste wurde. Man ist also nicht Nächster aufgrund vorgegebener Kriterien, man wird es in dem Augenblick, in dem man helfen kann (Theißen 1990). In der Jesusbewegung wird also die Dienstbereitschaft und Nachbarschaftshilfe der kleinen Leute „geadelt“. Sie wird auch von den Reichen und Mächtigen verlangt. Das ist ein „Aufwärtstransfer von Unterschichtwerten“. Die hellenistischen Reformjuden am Anfang des 2. Jahrhundert v. Chr. und die Jesusbewegung sind entfernt verwandt. Beide Bewegungen sind universalistisch. Beide scheiterten. Die Öffnung für die internationale Kultur des Hellenismus scheiterte freilich nur in Jerusalem, nicht aber in der Diaspora. In Alexandrien entstand ein hellenistisches Judentum mit einem Höhepunkt in der Philosophie Philos. Und die Jesusbewegung hatte außerhalb des Judentums weit mehr Erfolg – vor allem durch die Missionstätigkeit des Paulus. Die Unterschiede zwischen ihnen erklären sich durch ihren schichtspezifischen Sitz im sozialen Leben. Die hellenistische Reformbewegung hatte nur eine schmale Oberschicht in der Stadt erfasst, die Jesusbewegung war eine Bewegung im Volk auf dem Land. Auch die politischen Utopien waren verschieden. Die Reformer wollten eine hellenistische Polis errichten mit Ratsversammlung, Gymnasium, Wettkämpfen. Die Jesusbewegung träumte von einer Erneuerung der zwölf Stämme Israels. Die zwölf Jünger sollten diese Stämme regieren. Damit griff Jesus auf eine lange verschwundene Größe zurück: die zwölf Stämme. Beide Bewegungen strebten politische Strukturen in Opposition zu den bestehenden Machtstrukturen an. Die Reformer wollten einige rituelle Traditionen abschaffen, besonders die Beschneidung, um sich der allgemeinen hellenistischen Kultur zu öffnen. Die Jesusbewegung war konservativer. Sie liberalisierte aber die Sabbat- und Reinheitsgebote. Erst Paulus hat den Verzicht auf die Beschneidung für Nichtjuden durchgesetzt. Beide Bewegungen wollten sich einem allgemeinen Ethos anschließen. Jedoch können wir nur postulieren, dass die Reformjuden ein universales griechisches Ethos übernehmen wollten. Wer ein Gymnasium in Jerusalem gründet, will gewiss auch griechische Bildung und Moral verbreiten. In der Jesusbewegung werden

103f. vgl. Ex 23,5). Josephus lobt die Menschenliebe der Juden: „Ich meine nämlich, es ist offensichtlich, dass wir im Hinblick auf Frömmigkeit und Gemeinschaft untereinander und die allgemeine Philanthropie [...] die bestgeeigneten Gesetze haben“ (Josephus, Contra Apionem 2,126). Fürchteten Philo und Josephus, durch Betonung der Nächstenliebe das antijüdische Vorurteil zu bestätigen, dass es unter Juden untereinander „unerschütterlich treuen Zusammenhalt und hilfsbereites Mitleid“ gebe, gegenüber anderen aber „feindseligen Hass“ (adversus omnes alios hostile odium) (Tacitus, Historiae V,5,1)?

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zwei universale Gebote ins Zentrum gestellt: das Doppelgebot der Liebe und die Goldene Regel. Unser erstes Fazit ist: Man kann die Jesusbewegung mit der hellenistischen Öffnungsbewegung in der Oberschicht vergleichen, die ca. 175 v. Chr. das Judentum reformieren wollte. Aber die Jesusbewegung ist eine Erneuerungsbewegung „von unten“. Sie verzichtet auf Macht und Gewalt. Dieser Gewaltverzicht wird noch deutlicher, wenn wir die Jesusbewegung mit den jüdischen Erneuerungsbewegungen der römischen Zeit vergleichen. 2.2

Vergleich mit Erneuerungsbewegungen der römischen Zeit

Pompeius hat 63 v. Chr. Palästina erobert und in das Römische Reich integriert. Zunächst konnten die traditionellen Herrscher weiter regieren, wurden aber bald durch die Herodäer ersetzt, die forciert die Eingliederung des Judentums in das römische Reich betrieben. Herodes erneuerte den jüdischen Tempel bewusst in einem hellenistischen Stil. Er brachte einen Adler, Symbol der römischen Herrschaft, über dem Eingang zum Tempel an. Fromme Juden, Schüler eines Schriftgelehrten, demontierten ihn gegen Ende seiner Herrschaft.18 In Opposition zu römischen Klientelfürsten wie Herodes entstand nach seinem Tod eine Welle von Erneuerungsund Widerstandsbewegungen. Dabei kann man einen militanten und einen religiösen Flügel unterscheiden. 2.2.1 Militante Erneuerungsbewegungen

Nach dem Tod Herodes I. (4 v. Chr.) kam es überall im Land zu Aufständen. Zwei von den drei Aufstandsführern traten als Königsprätendenten im Süden des Landes auf. In Galiläa wirkte dagegen ein Judas als Aufstandsführer, der dezidiert kein König sein wollte. Er vertrat (wahrscheinlich) die Überzeugung: Gott selbst solle regieren. Der Aufstand wurde von Quintilius Varus niedergeschlagen, der später in Germanien in der Schlacht am Teutoburger Wald sein Leben verlor. Zehn Jahre nach dem Auftritt des Rebellen Judas in Galiläa tritt entweder derselbe Judas oder ein anderer Judas mit einer etwas abgewandelten Botschaft auf. Jetzt lautete seine These, man leugne die Alleinherrschaft Gottes, wenn man Steuern bezahlt. Denn seit der Absetzung des jüdischen Fürsten Archelaos in Judäa mussten die Juden in seinem Gebiet ihre Steuern direkt an die Römer zahlen. Judas Galilaios hat wahrscheinlich aus dem Scheitern des militärischen Aufstandes zehn Jahre zuvor gelernt. Er verankerte den Widerstand im Zentrum des jüdischen Glaubens,

18 Zwei „Sophisten“, Judas und Matthias, riefen gegen Ende der Regierungszeit des Herodes I. zur Zerstörung des goldenen Adlers am Tempel auf (Josephus, De bello judaico, 1,648ff).

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im ersten Gebot, das sagt, man solle keine anderen Götter neben dem einen und einzigen Gott haben. Judas war nicht harmlos. Sein Aufruf zur Steuerverweigerung war eine Kriegserklärung. Durch die Apostelgeschichte wissen wir, dass er gewaltsam ums Leben kam (Apg 5,37). Ein Vergleich mit der Jesusbewegung ist aufschlussreich. Auch sie hatte ihren Ursprung in Galiläa. Auch sie hatte die Erwartung: Gott allein soll herrschen. Jesu Erwartung des Reiches Gottes hatte aber drei Besonderheiten. Erstens kommt das Reich Gottes ohne militärischen Sieg. Jesus verkündigt die Überwindung der Feinde durch demonstrative Gewaltlosigkeit (Mt 5,38–42). Jesus hat den Glauben an Gott entmilitarisiert. Zweitens kommt das Reich Gottes nach Jesus nicht nur in der Zukunft, sondern ist in der Gegenwart schon präsent: Es wächst schon jetzt, wie der Samen zur Pflanze wird (Mk 4,26–29). Es kann daher mit dem römischen Reich koexistieren. Drittens öffnet sich das Reich Gottes nach außen hin für fremde Völker. Alle werden (vielleicht zusammen mit den in der Diaspora verstreuten Juden) hineinströmen und zusammen mit den Vätern Israels leben (Mt 8,11f). Die Jesusbewegung führt damit Friedensvisionen des Alten Testaments fort. Aber sie musste sich deswegen von anderen Tendenzen im damaligen Judentum wie der Bewegung des Judas Galilaios abgrenzen, auch deswegen, weil ihre Botschaft in einem Punkte ähnlich war: Gott soll allein herrschen. Aber Jesus folgerte daraus nicht, dass man keine Steuern zahlen durfte, sondern sprach sich für Steuerzahlungen aus (Mk 12,13–17). Wenn er seine Jünger in die Dörfer schickt, schickt er sie ausdrücklich als Boten des Friedens (Mt 10,11–15). Die Aufstandsbewegung des Judas Galilaios wurde in der Jesusbewegung durch eine eindeutig „pazifistische“ Bewegung abgelöst und korrigiert. Die entscheidende Wende von den militanten Bewegungen nach dem Tod Herodes I. zu einer betont friedlichen prophetischen Bewegung war freilich nicht erst das Werk Jesu von Nazareth, sondern Johannes des Täufers. Historisch gesehen muss man beide zusammen als Begründer einer neuen innerjüdischen Erneuerungsbewegung mit den vorhergehenden Führern rebellischer Bewegungen kontrastieren. Dadurch rücken Johannes der Täufer und Jesus näher zusammen. Das entspricht Jesusworten, die von einer großen Wertschätzung des Täufers zeugen. 2.2.2 Prophetische Erneuerungsbewegungen

Schon die beiden ersten Aufstandsbewegungen in der römischen Zeit zeigen im Vergleich eine Akzentverschiebung hin zum religiösen Glauben. Das gilt erst recht von den friedlichen prophetischen Erneuerungsbewegungen des Täufers und seines Nachfolgers Jesus. Als Johannes der Täufer in den 20er Jahren auftrat, waren die militanten Bewegungen gescheitert. Daraus dürfte der Täufer gelernt haben. Er wendet sich nicht

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mehr nach außen gegen die Römer, sondern nach innen, indem er Juden zur Umkehr aufruft. Dabei übt er in zwei Richtungen Kritik, Kritik am Volk, weil es sich von Gott abgewandt hatte, Kritik speziell an der Oberschicht, die (in der Ehepolitik des Herodes Antipas) gegen jüdische Gesetze verstieß. Die innere Erneuerung des Volkes war sein Ziel. Wenn er die Taufe als Weg zur Sündenvergebung anbot, war das indirekt auch ein Misstrauensvotum gegen den Tempel, dessen Riten Sündenvergebung vermitteln sollten. Explizit hat der Täufer den Tempel nicht kritisiert. Die durch ihn herbeigeführte Wende von militanten Widerstandsbewegungen zu einer friedlichen Erneuerungsbewegung lässt sich in vier Punkten zusammenfassen: (1) Kritik am Reinheitsdenken: Für Juden waren Heiden mit Unreinheit behaftet. Der Täufer aber sagt: Auch alle Juden sind unrein. Nur dann macht seine Forderung Sinn, dass sie sich alle taufen lassen müssen.19 Die Taufe ist eine Waschung, symbolisch eine Befreiung von Sünde. Dass der Täufer sie nicht magisch deutet, als würde Wasser die Sünde abwaschen, geht schon daraus hervor, dass er vor der Taufe ein öffentliches Sündenbekenntnis verlangt. Nur in Verbindung mit diesem Sündenbekenntnis wirkt die Taufe. Immer ist also eine innere Umkehr vorausgesetzt. Hinzu kommt die Symbolik des Ortes. Johannes tauft im Jordan – also an der Grenze, die einmal bei der Landnahme Israels überschritten wurde. Implizit ist darin die Botschaft enthalten, dass sich ganz Israel erneuern muss. (2) Kritik am Ethnozentrismus: Der Täufer kritisiert den Stolz der Juden auf ihren Status als Kinder Abrahams. Gott hat die Freiheit, auch Steine durch seine schöpferische Kraft zu seinen Kindern zu machen (Mt 3,9). Diese schöpferische Kraft aktiviert der Täufer durch sein Ritual: Die Taufe verleiht einen neuen Status. Vergleichbare Besprengungen wie die Taufe finden wir bei der Einsetzung von Priestern im Alten Testament.20 Daher ist die Taufe des Johannes nicht nur eine symbolische Reinigung, sondern auch ein Ernennungsritual, das den Getauften einen neuen Status verleiht. Wenn die Christen später von der Taufe Jesu als einer Einsetzung in die Rolle des Gottessohnes sprechen (Mk 1,9–11), haben sie diese

19 “In the area of purity, we have seen signs of an influential expansionist trend towards the end of the Second Temple period” (vgl. Kazen 2002, 343). 20 Eine Besprengung durch eine andere Person finden wir bei der Einsetzung von Priestern und Leviten. Mose erhält den Auftrag: „Du sollst Aaron und seine Söhne vor die Tür der Stiftshütte treten lassen und sie mit Wasser waschen“ (Lev 29,4). Der Waschung folgten als Zeichen des neuen Status die Bekleidung mit einem neuen Gewand und eine Salbung (Lev 29,5–9). Die Besprengung dient bei der Levitenweihe auch zur Befreiung von Sünden: „So sollst du aber mit ihnen tun, wenn du sie reinigst: Du sollst Wasser zur Entsündigung auf sie sprengen und sie sollen alle ihre Haare ganz abscheren und ihre Kleider waschen und sich so reinigen“ (Num 8,7). In der Johannestaufe erhielten alle Israeliten einen neuen Status. Da der Täufer das Volk davor gewarnt hatte, dass man sich auf seinen Status als Nachfahre Abrahams nicht verlassen könne, ist die Verleihung eines neuen Status sinnvoll. Wenn Jesus bei der Taufe den Status eines „Sohn Gottes“ erhält, so entspricht dies der damaligen Ritualsprache (vgl. dazu Theißen 2017b, 232).

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Bedeutung der Taufe ausgewertet: Die Taufe verleiht einen Status, der den Status als Abrahamskinder ersetzt. Wenn der Täufer sagt, Gott könne dem Abraham aus Steinen „Kinder“ erwecken (Mt 3,9), können wir daraus schließen: Die Getauften werden Kinder Gottes. (3) Kritik an militanter Gesinnung: Die sogenannte „Standespredigt des Täufers“ (Lk 3,10–11) wendet sich an Zöllner und Soldaten. Zöllner sollen nicht mehr verlangen, als ihnen zusteht, Soldaten sollen sich mit ihrem Sold begnügen. Der Täufer sagt damit: Er akzeptiert den Staat, der indirekt über Zollpächter Abgaben eintreibt und direkt durch Soldaten seine Ordnung durchsetzt. Diese Einstellung zum Staat widerspricht in seiner Grundhaltung prinzipiell der Steuerverweigerungskampagne des Judas Galilaios. Wenn man bedenkt, dass zum Täufer nicht nur Juden aus dem Herrschaftsbereich des Herodes Antipas kamen, sondern auch aus dem direkt von Römern verwalteten Judäa mit Jerusalem als Hauptstadt (vgl. Mk 1,5), so impliziert das eine Absage an Aufruhr gegen die Römer. (4) Kritik am Messianismus: Nach dem Tod Herodes I. waren vor allem im Süden des Landes Messiasprätendenten aufgetreten, die für sich die Herrschaft beanspruchten. Der Täufer musste damit rechnen, dass auch an ihn die damals neu aufgelebte Erwartung herangetragen wird, ob er vielleicht der verheißene Messias sei (vgl. Lk 3,15; Joh 1,19–23). Doch der Täufer weist solche Erwartungen indirekt dadurch zurück – indirekt auch dadurch, dass er sich selbst als Vorläufer eines „Stärkeren“ stark relativiert: Er ist nicht der Messias, der den großen Umschwung herbeiführt, sondern nur ein Vorläufer. Der „Stärkere“ wird im Unterschied zu ihm mit „Geist und Feuer“ taufen (Mt 3,11), d. h. mit Leben schaffendem Geist und tötendem Feuer. Der Täufer begnügt sich mit einer „Taufe“. Waschungen sind in Ritualsystemen auch sonst meist nur vorbereitende Riten, die dem zentralen Ritus vorhergehen. Damit signalisiert der Täufer: Meine Sendung besteht darin, Israel auf eine direkte Konfrontation mit Gott vorzubereiten. Mit dem Täufer verwandelte sich die soziale „Energie“, die bisher oft als Aggression gegen die Römer nach außen gelenkt wurde, in einen Willen zur inneren Erneuerung des Volkes. Mit dem Täufer entstand eine Erneuerungsbewegung, die den Frieden wollte. Dagegen könnte man einwenden: Wurde der Täufer nicht hingerichtet? War in seinem Wirken vielleicht doch ein rebellisches Unruhepotenzial? Wir können noch die Gründe seiner Hinrichtung erkennen. Der Täufer hatte die neue Ehe des Herodes Antipas mit der Frau seines Bruders als Verstoß gegen die Ehegesetze kritisiert. Nur aus Josephus wissen wir: Herodes Antipas hatte seine nabatäische Frau auf Verlangen seiner neuen Frau Herodias verstoßen. Durch die Verstoßung seiner ersten Frau wurde sein ehemaliger Schwiegervater, der Nabatäerkönig im Süden seines Landes, zu seinem Feind. Wenn in dieser Situation Johannes der Täufer das Kommen Gottes aus der Wüste prophezeite, konnte das so verstanden werden, als erhoffte er, dass Gott mit Hilfe der Nabatäer in der Wüste Herodes Antipas bestraft. Als Herodes Antipas später tatsächlich von seinem nabatäischen

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ehemaligen Schwiegervater vernichtend geschlagen wird, sagt man im Volk: Das war die Strafe für die Hinrichtung des Täufers (Josephus, Ant 18,116–119). Wahrscheinlich sah er einen direkten Zusammenhang zwischen der Verstoßung der nabatäischen Frau des Herodes Antipas und seiner Niederlage im Krieg gegen die Nabatäer. Ferner kursierte im Land eine Weissagung, dass die Regierungszeit der Söhne des Herodes kürzer als die ihres Vaters Herodes sein werde (AssMos 6,7). Sein Sohn Archelaos wurde schon 6 n. Chr. abgesetzt. Das verlieh dieser Weissagung Plausibilität. Archelaos hatte nur zehn Jahre regiert, sein Vater Herodes dagegen mehr als 30 Jahre. Mussten dann nicht auch die beiden anderen Söhne des Herodes bald ihre Herrschaft verlieren? Aber die beiden übriggebliebenen Herodessöhne, Antipas und Philippus, regierten sogar noch länger als ihr Vater.21 Etwa 29–30 n. Chr. übertrafen sie die Regierungszeit ihres Vaters! Jetzt mussten einige denken: Bald ist mit ihrer Regierung Schluss! Genau in dieser Zeit trat der Täufer auf und drohte Herodes Antipas mit dem Zorn Gottes. Solche Erwartungen waren destabilisierend.22 Herodes Antipas hatte allen Grund, den Täufer zu fürchten.23 Johannes der Täufer war sein Kritiker. Er kritisierte die eigene politische Elite, nicht die Römer.

21 Herodes hatte 33 bzw. 36 Jahre regiert, je nachdem, ob man den Anfang seiner Regierungszeit mit der Ernennung durch den römischen Senat (40 v. Chr.) oder seinen Regierungsantritt in Palästina (37 v. Chr.) ansetzt. Seine Söhne regierten 41 bzw. 37 Jahre. 22 Nach Mk 6,14 sieht Herodes Antipas in Jesus den wieder auferstandenen Johannes den Täufer – mit der merkwürdigen Begründung, deswegen würden Wunder durch ihn geschehen. Dieses Echo muss sehr alt sein. Es setzt voraus, dass Antipas über Jesus nichts weiß. Jeder, der wusste, dass Jesus aus Nazareth stammte und gleichzeitig mit dem Täufer wirkte, konnte in ihm unmöglich den Täufer redivivus sehen. Die Feindschaft zwischen Antipas und dem Täufer wurde in der Tat auf Jesus als Nachfolger des Täufers übertragen. Nach Lk 13,31 warnten ihn Pharisäer davor, dass Antipas ihn töten will. 23 Josephus schreibt über den Täufer in Josephus, Ant, 18,116–119: „Einige der Juden aber glaubten, das Heer des Herodes sei von Gott vernichtet worden, womit er ihn höchst gerechterweise büßen ließ und Rache nahm für Johannes, den so genannten Täufer . Diesen nämlich tötete Herodes, obwohl er ein Mann von guter Gesinnung war und die Juden dazu aufforderte, (zunächst) Tugend zu üben und Gerechtigkeit gegeneinander und Frömmigkeit gegenüber Gott zu praktizieren und (dann) zur Taufe zu kommen. Denn so schien ihm die Taufe [Gott] wirklich angenehm zu sein, wenn sie sie nicht zur Abbitte für irgendwelche Sünden, sondern zur Reinigung des Leibes ausübten, zumal ja auch die Seele durch (ein Leben in) Gerechtigkeit vorher bereits gereinigt sei. Weil aber die anderen zusammenströmten und weil sie vom Hören der Worte aufs höchste erregt wurden, fürchtete Herodes, sein [Johannes’] übergroßer Einfluss auf die Menschen könnte zu einer Art Aufstand führen (denn sie schienen alles seinem Rat gemäß zu tun) und hielt es darum für viel besser, ihn, bevor Neuerungen durch ihn entstünden, vorgreifend aus dem Weg zu räumen, als nach geschehenem Umsturz in eine schwierige Lage zu geraten und (sein Zögern) zu bereuen. Auf den Verdacht des Herodes hin wurde er [Johannes] gefesselt nach Machärus – die bereits erwähnte Festung – geschickt und dort hingerichtet. Bei den Juden aber herrschte die Ansicht, dass als Rache für jenen der Untergang über das Heer kam, weil Gott Herodes Schaden zufügen wollte (vgl. Theißen/Merz 1996, 176f.).

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Wenn alle unsere Beobachtungen richtig sind, hätte vor allem Johannes der Täufer und nicht erst Jesus die Wende vom Widerstand zu einer friedlichen inneren Erneuerung bewirkt. Jesus war in dieser Hinsicht sein Nachfolger. Was aber ist trotzdem das „Neue“ bei Jesus – auch über den Täufer hinaus? Am auffälligsten ist ein äußerer Unterschied: Johannes der Täufer ruft das Volk zu Umkehr und Taufe, Jesus aber tauft nicht. Gründe dafür könnten in einem anderen Verständnis von Raum, Zeit, Heil und Mittlerperson liegen. (1) Unterschiede in der Raumsymbolik: Johannes taufte im Jordan in der Wüste. Er ließ die Menschen zu sich kommen. Er versetzte sie in eine Situation, in der sie individuell und kollektiv ihr Leben neu beginnen mussten, individuell durch Umkehr, kollektiv durch eine neue „Landnahme“, einen Aufbruch aus der Wüste und Treue zum Gesetz. Jesus wanderte anders als der Täufer im besiedelten Land und suchte die Menschen dort auf, wo sie lebten. Er entfernte sich dadurch vom Jordan, an den die Taufe gebunden war. Die enge Verbindung der Taufe mit dem Jordan dürfte ein (Neben)-Motiv dafür gewesen sein, dass Jesus nicht taufte. Es fehlte schlicht das Wasser des Jordans. Die Wüstensymbolik des Täufers weist zudem auf einen radikalen Neuanfang, als müsse Israel noch einmal von vorn anfangen. Das Wirken Jesu im bewohnten Land wirkt dagegen wie eine Abschwächung der radikalen Opposition des Täufers. (2) Unterschiede im Zeiterleben: Der Täufer glaubte an das unmittelbar bevorstehende Weltende und Gericht. Die Axt war schon an die Wurzel der Bäume gelegt (Mt 3,10). Es blieb keine Zeit, um die eigene Umkehr durch gute Handlungen unter Beweis zu stellen. In dieser Situation machte Johannes ein Angebot der Gnade. Er sagte: Gott gibt sich auch mit einer Symbolhandlung wie der Taufe zufrieden, vorausgesetzt, dass sie mit einem öffentlichen Sündenbekenntnis verbunden ist. Gott akzeptiert die aufrichtige Bereitschaft zur Umkehr. Jesus muss noch erlebt haben, dass die Naherwartung seines Lehrers enttäuscht wurde. Nach dessen Hinrichtung hatte das Volk erwartet, Gott würde jetzt zur Strafe eingreifen. Aber die Welt ging nicht unter. Jesus hat daraus gelernt: Wenn das Gericht nicht kommt, obwohl es eigentlich alle verdient haben, dann ist das ein Zeichen der Güte Gottes, der den Menschen noch eine Chance gibt – auch eine Chance, ihre Umkehr durch gute Taten zu beweisen (Lk 13,6–9). Dann aber entfiel die Notwendigkeit der Taufe, wenn man sie als eine symbolische Handlung deutet, die kurz vor dem Weltende die Ernsthaftigkeit der Umkehr unter Beweis stellen soll, obwohl keine Zeit mehr blieb, um diese Umkehr durch Taten zu belegen. (3) Unterschiede im Heilsverständnis: Im Zentrum der prophetischen Botschaft des Täufers stand die Erwartung des Gerichts. Aber er war nicht nur ein Gerichtsprediger, denn seine zentrale Botschaft war: Alle können dem Gericht entkommen, wenn sie umkehren und sich taufen lassen. Seine Botschaft war also eine Heilsbotschaft auf dem Hintergrund des Gerichts. Bei Jesus war es umgekehrt: Er verkündigte an erster Stelle eine Heilsbotschaft und drohte denen mit dem Gericht,

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die seine Botschaft ablehnen. Doch war das eher ein Akzentunterschied als ein Gegensatz.24 (4) Unterschiede der Vermittlergestalt: Der Täufer erwartet einen „Stärkeren“, den er mit anthropomorphen Bildern beschreibt. Er sei es nicht wert, ihm die Schuhe zu tragen (Mt, 3,11). Es ist unwahrscheinlich, dass er mit diesen Bildern Gott selbst meint. Er denkt eher an eine messianische Gestalt, ohne dass er sie „Messias“ nennt. In dieser Weise fängt er messianische Erwartungen auf und lenkt sie auf einen „Kommenden“. Jesus folgt ihm darin, bezeichnet aber diese kommende Gestalt als „Menschensohn“. Was so viel heißt wie „Mensch“. Er betont einmal, dass der „Menschensohn“ nur ein heimatloser Mensch ist (Mt 8,20). Dieser „Mensch“ tritt als Zeuge im Gericht auf – wie die Menschen von Ninive und die Königin des Südens (Mt 12,38–42). Vor allem impliziert seine Rolle als Zeuge: Er ist nicht der Richter selbst (Mt 12,32f.). Hatte der Täufer in seiner Verkündigung den Unterschied zwischen ihm und dem „Stärkeren“ betont, so wird durch die Rede vom „Menschensohn“ betont, dass der gegenwärtig wirkende „Mensch“ und der kommende „Mensch“ gleich sind.

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Zusammenfassender Vergleich. Die Jesusbewegung als universalistische Bewegung

Im Folgenden versuchen wir eine Bündelung unserer Beobachtungen, indem wir das Neue in der Jesusbewegung aus einem Zentrum heraus zu erklären versuchen. Die Jesusbewegung betonte, was Menschen verbindet, und relativierte das, wodurch sich Menschen sichtbar unterscheiden. Was Menschen verbindet, ist Mitmenschlichkeit und Liebe. Was sie demonstrativ trennt, sind Rituale. Rituelle Normen sind Zeichen von Gruppenzugehörigkeit. Für das Judentum waren Beschneidung, Speisegebote und der Sabbat identity marker. An ihnen erkannte man die Zugehörigkeit eines Menschen zum Judentum. Die Jesusbewegung liberalisierte rituelle Speisegebote. Sie überlieferte das Jesuswort: „Es gibt nichts, was von außen in den Menschen hineingeht, das ihn unrein machen könnte; sondern was aus dem Menschen herauskommt, das ist’s, was den Menschen unrein macht“ (Mk 7,15).25 Ähnlich relativierte sie den Sabbat: „Der Sabbat ist für den

24 Vgl. „Für Johannes ist das Gericht die erste Aussicht und die Verschonung die geschenkte Ausnahme, für Jesus ist das Heil das zuerst Geschenkte und das Gericht die letzte Aussicht für die, die es verweigern“ (Backhaus 2017, 251). 25 In Theißen 2003b plädiere ich für die Authentizität von Mk 7,15. Gegen sie wird geltend gemacht, dass Paulus das Reinheitslogion nicht im antiochenischen Streit (Gal 2,11–14) benutzt, um sich gegen Petrus durchzusetzen, obwohl er solch ein Logion in Röm 14,14 vorauszusetzen scheint. Doch in Galatien war nur die Beschneidung umstritten. Die Gegner in Galatien haben wahrscheinlich

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Menschen da, nicht der Mensch für den Sabbat“ (Mk 2,27). Sie lehnte Rituelles deswegen nicht grundsätzlich ab, aber lockerte Ritualgebote, wenn sie in Konflikt mit Mitmenschlichkeit gerieten. Umgekehrt betont die Jesusbewegung allgemein verbindende ethische Normen. Sie formuliert das Doppelgebot der Liebe als jüdische Analogiebildung zum antiken Kanon der zwei Tugenden.26 Als die zwei wichtigsten Tugenden galten unter den Griechen nach diesem Kanon die „Frömmigkeit“ gegenüber Gott und die „Gerechtigkeit“ gegenüber Menschen. Die Jesusbewegung stellte in Entsprechung zum Kanon der zwei Tugenden die beiden wichtigsten Gebote der eigenen Tradition (in Fortsetzung jüdischer Traditionen) zusammen, nämlich das Gebot, Gott zu lieben, und das Gebot der Nächstenliebe.27 Dabei erweiterte die Jesusüberlieferung die Gottesliebe an einem wichtigen Punkt: Der Mensch soll Gott nicht nur mit ganzem Herzen, ganzer Seele und allen Kräften lieben – nur von diesen drei Instanzen im Menschen war im Alten Testament die Rede (Dtn 6,4). In der Jesusüberlieferung kommt hinzu: Der Mensch soll Gott auch mit dem Verstand lieben (mit diánoia oder sýnesis). Das muss sich gegen eine unvernünftige Art, Gott zu lieben, richten. Die Gleichstellung des ersten Gebots mit der Nächstenliebe schließt in der Tat jede fanatische Berufung auf den Monotheismus aus. Meine Vermutung ist: Die Jesusbewegung könnte sich mit diesem doppelten Liebesgebot u. a. gegen die Interpretation des ersten Gebots durch Judas Galilaios gewandt haben. Der sagte: Wenn man Gott ernst nimmt, muss man die Römer bekämpfen. Die Jesusbewegung betonte dagegen: Wenn man Gott liebt, muss man seinen Nächsten lieben. Und zu dieser Nächstenliebe gehört auch die Liebe zu Sündern, Fremden und Feinden. Jesus betont: Vernünftig ist es, die Liebe zum Nächsten und zu Gott gleichzustellen, damit entsprach er dem Kanon der zwei Tugenden. Weitere Jesusüberlieferungen passen gut zu diesem zentralen Gebot, vor allem die „Goldene Regel“ (Mt 7,12 / Lk 6,31).28 Sie begegnet in der Antike in positiver Form als Regel für bestimmte menschliche Beziehungen: für Eltern und Kinder, Ehegatten,

versichert, dass ihre Übernahme nicht dazu verpflichtet, alle Gebote zu übernehmen (Gal 5,3). Paulus aktivierte aus dem antiochenischen Konflikt nur das, was er in Galatien brauchte. 26 Der Kanon der zwei Tugenden war im damaligen Judentum bekannt. Philo fasst mit ihm den Dekalog zusammen (Philo, De specibus legibus 2,63). Er begegnet im Aristeasbrief 131 und in der Darstellung des Täufers bei AJ 18,117. Justin führt das Doppelgebot der Liebe als Kanon der zwei Tugenden ein: „Darin scheint mir unser Herr und Heiland Jesus Christus recht zu haben, der gesagt hat, dass alle Forderungen der Gerechtigkeit und Frömmigkeit mit der Beachtung zweier Gebote erfüllt werden. Dieselben lauten aber: Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben aus deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Kraft und den Nächsten wie dich selbst“ (Justin, Dialogus vom Tryphone, 93,2) (Dihle 1968). 27 In Theißen 2003c bringe ich einige Argumente dafür, dass das Doppelgebot der Liebe vielleicht schon vom Täufer formuliert wurde. 28 Vgl. Luz 2002. Über den Sitz im Leben ihrer positiven und negativen Form, siehe Theißen 2003d.

Die Jesusbewegung

Fürst und Gefolgsleute. Nur in ihrer negativen Form wird sie universal für alle Menschen formuliert. Denn es ist möglich, das Böse gegenüber allen Menschen zu unterlassen, aber fast unmöglich, allen Menschen das Gute zu tun, das man gerne von ihnen für sich wünscht. Jesus bringt als Einziger die positive Form als universale Regel für alle Menschen und gegenüber allen Menschen. Diese vorher nicht nachweisbare radikale Fassung der Goldenen Regel spricht dafür, dass Jesus sie selbst in dieser Weise zugespitzt hat. Solche universalistischen Weisheitstraditionen verband die Jesusbewegung mit einer auf die Gottesherrschaft konzentrierten Enderwartung, die sich für Fremde öffnet. Sie nimmt sich die Bewohner von Ninive als Vorbild, weil diese Heiden auf die Predigt des Jona hin umkehrten. Sie lobt die Königin von Saba als Vorbild, weil sie die Weisheit Salomos anerkannte (Mt 12,38–42). Sie erwartet, dass Heiden aus allen Himmelsrichtungen in die Gottesherrschaft hineinströmen (Mt 8,10f.) und mit Abraham, Isaak und Jakob zu Tische liegen werden – Nichtjuden und Juden zusammen. Keine Speisegebote trennen sie. Die Gottesherrschaft ist für Jesus kein Gottesdienst mit Chören, keine Akademie mit thorastudierenden Gelehrten. Sie ist ein Familienfest, bei dem Fremde zugelassen sind. Von dieser Gottesherrschaft glaubte Jesus, dass sie verborgen in der Gegenwart beginnt. Man muss nicht auf eine neue Welt warten, in der man zusammen mit den Fremden und Außenseitern isst, das kann man schon jetzt in der Gegenwart. Wenn sich die Jesusbewegung für die Fremden öffnen will, so ist das zweifellos etwas Neues. Aber unsere Untersuchung hat gezeigt, auch dieses Neue hat Vorläufer. Ein Vorläufer sind die hellenistischen Reformjuden in Jerusalem, die die Absonderung der Juden von den anderen Völkern aufheben wollten. Ein zweiter Vorläufer ist die Täuferbewegung. Schon mit ihr begann die Wende von nativistischen Erneuerungsbewegungen, die sich gegen die Fremden oft mit Gewalt auflehnten, zu einer friedlichen Erneuerungsbewegung. Die Jesusbewegung führte diese Entwicklung auf einen Höhepunkt. Sie erlebte dabei auch, dass sie als eine Friedensbewegung gleichzeitig Konflikte hervorrief. Das zeigt das rätselhafte Wort: „Ihr sollt nicht meinen, dass ich gekommen bin, Frieden zu bringen auf die Erde. Ich bin nicht gekommen, Frieden zu bringen, sondern das Schwert. Denn ich bin gekommen, den Menschen zu entzweien mit seinem Vater und die Tochter mit ihrer Mutter und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter. Und des Menschen Feinde werden seine eigenen Hausgenossen sein.“ (Mt 10,34). Wichtig ist hier: Dieses Wort setzt die Erwartung voraus, Jesus bringe Frieden. Sie wird korrigiert: Er bringt keinen Frieden – aber das bezieht sich auf Konflikte in der Familie, nicht zwischen Völkern. Diese Erfahrung machen alle Friedensbewegungen: Sie wollen durch Frieden alte Konflikte nach außen hin überwinden, geraten aber dadurch in heftige Konflikte im Innern ihrer eigenen Gesellschaft und Gruppe. Abschließend kann gefragt werden: Ist das heute noch relevant? Wir erleben heute in vielen Völkern das Aufleben eines ethnozentrischen Nationalpopulismus

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mit Tendenzen zu autoritärer Herrschaft. Diese autoritären Herrscher leben nicht nach der Devise: Wer der erste sein will, soll bereit sein, Diener aller zu werden. Wir erleben heute eine Zunahme von Gewaltbereitschaft unter Menschen, verdeckt auch zwischen Staaten in asymmetrischen Kriegen. Diese Kriege lösen zusammen mit den negativen Folgen des Klimawandels riesige Flüchtlingswellen aus. Wir müssen an einer Friedensordnung arbeiten. Wir erleben verschärfte Verteilungskonflikte innerhalb unserer Gesellschaft. Bald werden wir diskutieren müssen: Wie verteilen wir die Kosten der Coronakrise? Gelingt uns hier ein fairer Ausgleich? Immerhin zeigt die Coronakrise: Das Leben ist auch bei uns mehr wert als wirtschaftliche Interessen. Aber wahr ist auch, dass wir ohne Wirtschaft auf Dauer nicht leben können. Wenn sie nicht mehr dem Leben dient, wird sie zum Mammon und Götzen.

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Gerd Theißen

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Manuel Vogel

Vom Blut im Boden Ein jüdisch-christlicher Motivzusammenhang zu Sühne und Gewalt

1.

Die Eingangsfrage nach der notwendigen Unterscheidung von Tätern und Opfern

Versöhnung1 zwischen Menschen hat mit Unrecht und Gewalt zu tun, mit Tätern und Opfern, damit, dass Opfer eine Stimme haben oder erhalten sollen, und dass ihre Stimmen gehört werden. Es geht um eine unabdingbare Konfrontation der Täter mit ihren Taten und mit den Opfern, die unter ihren Taten gelitten haben oder noch leiden. Dann ist, vielleicht, Versöhnung möglich. Versöhnung zwischen Menschen ist zunächst etwas, das Menschen mit einander aushandeln. Es braucht dafür nicht notwendigerweise Religion. Aber auch dort, wo Gott eine Rolle spielt, kann die zwischenmenschliche Ebene bestimmend sein, etwa in der Vaterunser-Bitte um Vergebung der Schuld, die diese an die Bedingung der erfolgten gegenseitigen Vergebung bindet. Wer immer das Vaterunser betet, unterschreibt im Kleingedruckten einen Vertrag, der ihn oder sie dazu verpflichtet, dem oder der Nächsten das von ihm oder ihr erlittene Unrecht zu vergeben. Auch in der Androhung des unbarmherzigen Gerichts über die, die nicht Barmherzigkeit üben, verbunden mit dem Hinweis, dass Barmherzigkeit über das Gericht triumphiert (Jak 2,13), wird gewissermaßen mit Zuckerbrot und Peitsche in menschliche Sozialbeziehungen regulierend und normierend eingegriffen, nun mit Gott als maßgeblichem Akteur, der seine eigene Weise des Urteilens von der Weise des Urteilens derjenigen abhängig macht, über die er als Richter dereinst urteilen wird. Barmherzigkeit wird hier als menschliche Möglichkeit ansichtig,

1 Dieser Aufsatz, den ich meinem Kollegen Martin Leiner herzlich zueigne, geht auf einen Vortrag zurück, den ich beim Studientag der Theologischen Fakultät der Universität Jena zum Thema „Versöhnung“ im Januar 2018 gehalten habe. In einer erweiterten Fassung lag er einem Vortrag an der Katholisch-Theologischen Fakultät der Universität Erfurt im Dezember 2018 zugrunde. Das Thema des Jenaer Studientages verdankte sich einer Anregung Martin Leiners, der die internationale Versöhnungsforschung seit vielen Jahren maßgeblich formt und voranbringt, und der mit dem von ihm gegründeten Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS) zur weltweiten Vernetzung der Universität Jena einen wichtigen Beitrag leistet, unverdrossen, in immer neuen Anläufen und den Schwierigkeiten zum Trotz, die einem Propheten üblicherweise aus dem Unverstand der eigenen Stadt erwachsen.

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die übrigens ebenso wenig wie die konditionierte Vergebungsbitte des Vaterunser christologisch begründet wird. Bei der Versöhnung zwischen Mensch und Gott liegen die Dinge anders. Dass hier der „Mensch“ in Übereinstimmung mit unseren theologischen Sprachgewohnheiten auf einmal im Singular steht, deutet bereits eine erhebliche Verschiebung an: Es geht nun nicht mehr darum, was Menschen einander angetan haben, sondern wie es um den Menschen als solchen steht, dessen Verhältnis zu Gott gestört ist. Gott ist nun derjenige, mit dem der Mensch klarkommen und ins Reine kommen muss. Mir scheint, dass beide Redeweisen von Versöhnung, diejenige zwischen Menschen und diejenige zwischen Gott und Mensch, häufig verhältnislos neben einander stehen. Dass Gott so sehr die Welt geliebt hat, dass er seinen Sohn dahingab (Joh 3,16), scheint für das viele Leid, das die Menschen in dieser Welt einander antun, nichts zu unterscheiden und mithin auch nichts auszutragen. „Gott war in Christus und versöhnte die Welt mich sich und rechnete ihnen ihre Sünden nicht zu“ (2. Kor 5,19). Aber ist dann die Versöhnung das große Gleichmachen, das Täter und Opfer nicht mehr unterscheidet? Meine Frage lautet, wie das eine zum anderen ins Verhältnis gesetzt werden kann, oder besser noch, wie das eine mit dem anderen tatsächlich zusammenhängt. Die bereits genannte Vergebungsbitte des Vaterunser weist eine Richtung, sofern sie die göttliche Vergebung an die Bedingung der zwischenmenschlichen bindet, mit allen schwerwiegenden Anschlussfragen, die sich daraus ergeben, wie Heike Springhart in einem Aufsatz von 2016 gezeigt hat (Springhart 2016).2

2.

Warum hat Blut eine Stimme?

Meine eigenen Überlegungen bewegen sich auf der Ebene eines jüdisch-christlichen Motivzusammenhangs und haben, wie der Titel dieses Aufsatzes bereits verrät, etwas mit Blut zu tun. Neutestamentlich denken wir sofort an das Bundesblut der Abendmahlstradition oder an das Sühneblut Jesu, das etwa in Röm 3,25 zur Sprache kommt. Es gibt aber in der biblisch-jüdischen und dementsprechend auch in der frühchristlichen Tradition außerdem auch noch das gewaltsam vergossene Blut

2 Sollten denn die Opfer schließlich doppelt gefordert sein, erst mit der erfahrenen Gewalt und dann mit dem Quantum des zu Vergebenden, um selbst der göttlichen Vergebung teilhaftig zu werden? Für Springhart ist dieses Problem nur theologisch zu lösen, nämlich so, wie es in der Vergebungsbitte Jesu am Kreuz in Lk 23,34 „Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun“ exemplarisch formuliert wird: Dadurch, dass Jesus die Vergebungsbitte für diejenigen, die selber gar nicht um Vergebung gebeten haben, an Gott delegiert, wird die „Endlichkeit menschlicher Vergebungsfähigkeit“ gewürdigt und „angesichts schwerer Schuld (bleibt) die Unmöglichkeit oder zumindest die Schwierigkeit der Vergebung durch die Opfer im Blick“ (Springhart 2016, 121).

Vom Blut im Boden

von Menschen. Blut steht dann für Mord entsprechend der auch im Deutschen geläufigen Wendung „Blutvergießen“ für Töten. Die biblische Urszene gewaltsam vergossenen Blutes ist der Brudermord in Gen 4 mit dem berühmten Dialog zwischen Gott und Kain sowie Kains ziemlich patziger Gegenfrage, ob er wohl seines Bruders Hüter sein solle (Gen 4,9–11): Da sprach der Herr zu Kain: Wo ist dein Bruder Abel? Er sprach: Ich weiß nicht; soll ich meines Bruders Hüter sein? Er aber sprach: Was hast du getan? Die Stimme des Blutes (‫ )דמי‬deines Bruders schreit zu mir von der Erde. Und nun: Verflucht seist du auf der Erde, die ihr Maul hat aufgetan und deines Bruders Blut (‫ )דמי‬von deinen Händen empfangen.

Da eingangs von der Stimme der Opfer die Rede war, ist es bemerkenswert, dass nach Gen 4,10 das vergossene Blut Abels ebenfalls eine Stimme hat, und zwar eine Stimme, die so kräftig ist, dass sie an Gottes Ohr dringt. Die Redewendung vom „himmelschreienden Unrecht“ dürfte hier ihren biblischen Haftpunkt haben. Wie es sein kann, dass Blut eine Stimme hat, erklärt sich durch den anthropologischen Zusammenhang von Blut, Seele und Leben (vgl. hierzu den materialreichen Artikel von Waszink 1954). Das alttestamentlich-jüdische Bluttabu rührt daher, dass das Blut Trägersubstanz der Seele (‫נפש‬, ψυχή) ist, mithin für die Lebendigkeit eines Lebewesens steht (Genesis 9,3f.): „Alles, was sich regt und lebt, das sei eure Speise; wie das grüne Kraut habe ich’s euch alles gegeben. Allein das Fleisch mit seinem Leben, seinem Blut (‫בשר בנפש דמו‬, κρέας ἐν αἵματι ψυχῆς), esst nicht!“ Das Essen von ungeschächtetem Fleisch, das noch Blut enthält, gilt hier als Einverleiben fremder Lebenskraft und ist als solches ein Vergehen. Wohnt nun aber dem Blut das Leben bzw. die Seele eines Lebewesens inne, dann nimmt der Erdboden, in welchen das Blut eines Gemordeten einsickert, mit dem Blut auch seine Seele, seine Lebendigkeit auf, und wenn gilt, dass Lebendigkeit sich durch Stimme äußert, ist es nicht abwegig, dass auch das Blut „schreien“ kann.

3.

Abel im äthiopischen Henochbuch

Verlautet in Gen 4 zum Schrei von Abels Blut bzw. dem Schrei seiner Seele nichts Näheres, so wird dieser Schrei im 22. Kapitel des äthiopischen Henochbuches konkretisiert als Anklage wider den Mörder und die Forderung nach Rache. Henoch schaut die Kammern der Unterwelt und sieht den Geist eines Menschenkindes, das verstorben war, und seine Stimme drang bis zum Himmel und klagte. Da fragte ich Rufael, den Engel, der bei mir war, und sprach zu ihm: Wessen Geist ist das, dessen Stimme so heraufdringt und klagt? Und er antwortete mir

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und sprach zu mir, indem er sagte: Dieser Geist ist der, der von Abel ausging, den sein Bruder Kain tötete; und er klagt gegen ihn, bis seine ganze Nachkommenschaft von der Erdoberfläche vertilgt sein wird und aus der Nachkommenschaft der Menschen seine Nachkommenschaft vernichtet sein wird (äthHen 22,5–7 in Uhlig 1984).

Dass der Geist Abels vom Himmel die Vernichtung der gesamten Nachkommenschaft Kains fordert, erscheint insofern verhältnismäßig, als ein Mörder mit dem Gemordeten zugleich auch dessen gesamte Nachkommenschaft auslöscht, die er hätte haben können, ein Gedanke, der in der Mischna, Traktat Sanhedrin IV 5b–c mit ausdrücklichem Bezug auf Kain und Abel formuliert wird: Wissen sollt ihr, dass nicht wie bei Geldsachen die Kapitalsachen sind. Bei Geldsachen [ist es so:] Der Mensch gibt Geld, und es wird ihm [die Sünde] verziehen; bei Kapitalsachen jedoch: Sein Blut und das Blut seiner [möglichen] Nachkommenschaft haftet an ihm bis ans Welten-Ende. Denn also finden wir es bei Kain, der seinen Bruder erschlagen hat, denn es heißt: „Die Stimme der Blutspuren (‫ )דמי‬deines Bruders“; er sagt nicht: „Blut deines Bruders“, sondern „Blutspuren (‫ )דמי‬deines Bruders, [d.i.] sein Blut und das Blut seiner [möglichen] Nachkommenschaft“.

Hervorzuheben ist hier zweierlei: Erstens die eschatologische Perspektive „bis ans Welten-Ende“, die zwar nicht explizit auf das Endgericht rekurriert, aber mit der Markierung der Endlichkeit dieser Welt und der darin anklingenden Erwartung der kommenden Welt auf das durch innerweltliche Gerichtsbarkeit Unabgeltbare eines gewaltsamen Todes abhebt, und zweitens die ethische Indifferenz des Rekurses auf Abel. Es geht hier einzig um die rechtliche Würdigung der dem Gemordeten vorenthaltenen Lebenszeit und Nachkommenschaft, nicht um eine bestimmte ethische Qualität der Lebensführung Abels. Auch im äthHen 22,5–7 geht es nur um die Klage über den begangenen Mord; über Abel als „Gerechten“ wird nichts verlautet. Marie-Theres Wacker (Wacker 1982, 181–183) hat sich m. E. zu Recht dagegen ausgesprochen, das äthHen 22,5–7 von der Tradition Abels als eines Gerechten oder gar eines Proto-Märtyrers her zu verstehen. Das Problem ist deshalb kompliziert, weil im literarischen Zusammenhang des Kapitels äthHen 22 undeutlich bleibt, wie der „Geist, der von Abel ausging“, einer von drei bzw. vier Kategorien von Toten zuzuteilen ist, die nach den Ausführungen dieses Kapitels je eigene Räume in der Scheol bewohnen. Während qua Raumzuteilung klar zwischen Sündern und Gerechten unterschieden wird, ist unklar, wie der Passus 22,5–7 hier unterzubringen ist. Auch die in Stichwortverbindung zu 22,5–7 formulierte Stelle 22,12 „Und ebenso wurde (ein Raum) geschaffen für die Seelen derer, die klagen, die Einblick geben in die Vernichtung, als sie in den Tagen der Frevler getötet wurden“, hilft

Vom Blut im Boden

nicht weiter, denn die Angabe „in den Tagen der Frevler“ lässt nicht den Schluss zu, dass die Getöteten keine Frevler, mithin Gerechte waren, sondern charakterisiert lediglich eine bestimmte Epoche, die innerhalb des Buches der Wächter (äthHen 1–36) in derjenigen Zeit eine enge Sachparallele hat, da die Riesen der Vorzeit die Menschen verführt und die Menschheit mit Vernichtung überzogen (äthHen 6–11). Auch im äthHen 6–11 findet sich vereinzelt das Motiv von den Klagen der Gemordeten, die zum Himmel steigen und Gottes Gericht herbeirufen, und auch hier bleiben die Gewaltopfer ethisch indifferent. Entscheidend ist in der Perspektive des Wächterbuches nur dies eine, dass sie eines gewaltsamen Todes gestorben sind. Religionsgeschichtlich erklärt Wacker die Sonderstellung der Klagenden in 22,5–7,12 mit dem Umstand, dass gewaltsam zu Tode Gekommene und Unbestattete solange als Totengeister ihr Unwesen zu treiben verdammt waren, bis die an ihnen begangene Gewalttat gerächt war (Wacker 1982, 184–188). Hierfür gibt es altbabylonische und griechische Vergleichstexte. Die von Erwin Rohde beigebrachten griechischen Belege lassen den Übergang von archaischen Regularien der zwischen Clans ausgetragenen Blutrache zu den rechtlich verfassten Poleis erkennen. Der archaischen Auffassung, dass der Geist des Gemordeten von seinem eigenen Clan Rache fordert, wurde durch die Polis-Verfassungen entsprochen, jedoch mit verpflichtender Bindung an die geltende Rechtsprechung, die eine differenzierte Schuldfeststellung vorsah und damit das ethisch indifferente Kriterium der Clanzugehörigkeit aufbrach (Rohde 1898, 263–265).

4.

Wandlungen der Figur Abels: Vom Gewaltopfer zum Gerechten

Literaturkritisch und religionsgeschichtlich liegen die Dinge, weitere Probleme betreffend, im äthHen 22 überaus kompliziert, worauf hier nicht näher einzugehen ist. Forschungsgeschichtlich interessant sind aber die von Wacker diskutierten Interpretationsprobleme, die sich sofort ergeben, wenn man den Passus 22,5–7 in der ethischen Systematik von Sündern und Gerechten unterbringen will. Der religionsgeschichtliche Befund der verhinderten Totenruhe von Opfern von Gewalt zeigt, wie auch das System der Blutrache zwischen Clans, dass eine in der Entgegensetzung von Sündern und Gerechten gedachte ethische Engführung des ganzen Zusammenhangs möglicherweise zu kurz greift. Bereits für Gen 4 gilt, dass Abel lediglich in der Rolle des passiven Mordopfers erscheint, ohne dass die ethische Qualität seines Handelns reflektiert würde, sieht man von der Notiz ab, dass Gott das Opfer Abels wohlgefällig angesehen habe. Erst spätere Ausleger haben hieran Spekulationen geknüpft über in der Person Abels liegenden Gründe für die Annahme seines Opfers durch Gott.

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Und erst aus christlicher Zeit kennen wir die Zeichnung Abels als eines Gerechten, der schuldlos Opfer von Gewalt geworden ist. Mt 23,35 nennt Abel ausdrücklich einen Gerechten, der am Anfang einer langen Reihe von unschuldig Gemordeten steht. Den in Mt 23 adressierten Jerusalemer Autoritäten wird angekündigt, „dass über euch komme all das gerechte Blut, das vergossen ist auf Erden, vom Blut Abels, des Gerechten, bis zum Blut Secharjas, des Sohnes Berechjas, den ihr getötet habt zwischen Tempel und Altar“ (Mt 23,35). Hier wird zunächst die Verwerflichkeit des Mordes gesteigert, weil er sich gegen jemanden richtet, der in der Sache selbst unschuldig ist (αἷμα δίκαιον), und darüber hinaus überhaupt ein integrer Charakter (Abel als δίκαιος).

5.

Auch Jesus war ein Gerechter

Innerhalb des Matthäusevangeliums erfährt damit auch die Passion Jesu vorgreifend eine Deutung. Das reuevolle Wort des Judas in 27,4, er habe „unschuldiges Blut“ verraten (ἥμαρτον παραδοὺς αἷμα ἀθῷον), nimmt aus 23,35 das Stichwort „Blut“ auf und qualifiziert dieses als „unschuldig“ (ἀθῷον). Die Warnung der Frau des Pilatus an ihren Mann in 27,19, die ihn mit einer Eilmeldung erreicht, als er bereits auf dem Amtssessel sitzt, er solle nichts zu schaffen haben, „mit jenem Gerechten“ (τῷ δικαίῳ ἐκείνῳ), ergänzt das Stichwort δίκαιος, und die Erklärung des Pilatus in 27,24, er sei „unschuldig am Blut dieses Gerechten“ (ἀθῷός εἰμι ἀπὸ τοῦ αἵματος τούτου [τοῦ δικαίου v.l. als frühe Ergänzung, die von der Mehrzahl der wichtigsten Zeugen geboten wird]) verbindet beides zum Wortfeld „Blut“, „unschuldig“ und „gerecht“. Auch das Geschick Jesu selbst reiht sich also ein in die Geschichte der Gewalt gegen das „Blut unschuldiger Gerechter“. Im christologischen Deutungszusammenhang der Passionsgeschichte wird damit der Aufweis von Schuld und Unschuld erbracht. Dass Jesus als „Gerechter“, mithin „unschuldig“ gestorben ist, verlautet aus dem Munde des Pilatus gewissermaßen höchstrichterlich, zusätzlich autorisiert durch den Traum der Frau des Pilatus. Bereits aus den Kindheitserzählungen des Evangeliums wissen die Lesenden, dass Träume bei Matthäus Offenbarungsmedium sein können (hierzu Vogel 2009). Dass Jesus als Unschuldiger verurteilt und hingerichtet wurde, ist das anfängliche christologische Interpretament schlechthin, das weitergehende Deutungen des Todes Jesu als „stellvertretend“ bzw. „sühnend“ überhaupt erst möglich machte.

Vom Blut im Boden

6.

Auferweckung als Unschuldsbeweis (I): Apostelgeschichte und Markusevangelium

Auch die Rede von der Auferweckung Jesu durch Gott kann ganz im Dienst dieses Aufweises und der binären Zuweisung von Unschuld und Schuld jeweils an Jesus und seine Richter stehen. Diese Figur begegnet prägnant im sog. lukanischen „Kontrastschema“. Ob dieses ein frühes Reflexionsstadium darstellt oder als lukanische Bildung anzusehen ist (vgl. Karrer 1998, 100f.), ist sachlogisch gar nicht anders als im ersteren Sinne zu beantworten. Nur das Leiden des Gerechten kann stellvertretend oder sühnewirkend sein, und bevor von diesem die Rede sein konnte, musste jenes geklärt sein. Belege für das Kontrastschema finden sich ausnahmslos in den Reden der Apostelgeschichte (Apostelgeschichte 2,23f.; 3,14f.; 4,8–10; 5,30; 10,39f.; 13,28.30). Es liegt deshalb nahe, das Kontrastschema der lukanischen Redaktion zuzuschreiben, aber es muss einem Redaktor ja auch unbenommen sein, frühe und früheste Tradition redaktionell zu verarbeiten. Auch in den mk. Leidensweissagungen Mk 8,31; 9,33; 10,43 ist die Auferstehung Jesu dasjenige, was ihn gegen die erlittene Misshandlung und Gewalt ins Recht setzt. Martin Karrer bemerkt hierzu: Die kurze aktive Aussage „er wird aufstehen“ in Markus 8,31; 9,31;10,34 verzichtet auf die Explikation „aus den Toten“. Sie bezieht sich daher zuerst auf den jeweiligen Vordersatz. Jesu Auferstehen nimmt sein handlungsmächtiges Aufstehen gegen die Entehrung, Auslieferung und Misshandlung, die er in der Passion erfuhr, in sich auf. Zu den vorösterlichen Vorgaben des Auferstehungsglaubens gehört […] das schreckliche Geschick Jesu, das zum Widerstand ruft (Karrer 1998, 42).

Nicht der Tod Jesu wird also mit der Auferweckung Jesu revoziert, sondern die mit seinem Tod endende Erfahrung von Verachtung und Gewalt.

7.

Auferweckung als Unschuldsbeweis (II): Weisheit Salomos

Wir werfen an dieser Stelle einen Blick auf die Weisheit Salomos, eine hellenistischjüdische Schrift, mutmaßlich zu Beginn des 1. Jahrhunderts in Alexandrien entstanden, die das Motiv vom leidenden Gerechten und seinem gewaltsamen Geschick in mehreren Szenarien entwickelt. Im nachfolgend zitierten Abschnitt geht es nicht um ein irgendwie geartetes stellvertretendes Leiden der Gerechten, sondern um ihre schließlich auch für die Ungerechten sichtbare Erhöhung zu Gott als unbezweifelbaren Beweis ihrer Gerechtigkeit (5,1–5):

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(1) Dann wird auftreten in großer Freimütigkeit der Gerechte im Angesicht derer, die ihn bedrängt, und derer, die seine Mühen für nichts erachtet haben. (2) Wenn sie ihn sehen, werden sie von schlimmer Furcht erschüttert werden und außer sich geraten über seine Rettung wider jede Erwartung; (3) sie werden bei sich sprechen, umdenkend, und aufgrund der Not ihres Geistes werden sie seufzen und sagen: (4) „Dieser war es, den wir einst für einen Gegenstand des Gelächters hielten und für ein Sinnbild des Spotts – wir Toren; sein Leben erachteten wir als Wahnsinn und sein Ende als ehrlos. (5) Wie nur wurde er unter die Söhne Gottes gerechnet!“ (Sapientia Salomonis 2015).

Was im lukanisches Kontrastschema formelhaft den Autoritäten, die das Unrechtsurteil gegen Jesus gefällt und vollstreckt haben, in der Jetztzeit der Erzählung auf den Kopf zugesagt wird, wird in SapSal 5 in einer eschatologischen Szene ausgeführt, die mit der Konfrontation zwischen Tätern und Opfern ein verbreitetes Motiv jüdischer wie christlicher Endgerichtsszenarien aufgreift. Ein weiteres Stück aus der Weisheit Salomos hat derart frappierende Anklänge an die neutestamentlichen Passionsüberlieferungen, dass Folker Siegert es als frühe jüdische Reaktion auf frühchristliche Bekenntnisbildung verstehen will (Siegert 2016, 545; vgl. auch Seeley 1990). In SapSal 2,10–20 erklären die Ungerechten in einer programmatischen Rede, dass der Gerechte als personifizierte Anklage gegen ihren rücksichtslosen Lebenswandel durch seine schiere Existenz eine Provokation für sie darstellt, die beseitigt werden muss: (10) Wir wollen unterdrücken den gerechten Armen, wir wollen nicht verschonen die Witwe und auch nicht uns scheren um den Greis, der seit vielen Jahren ergraut ist; (11) sondern es sei unsere Kraft das Gesetz der Gerechtigkeit: das Schwache entlarvt sich ja als unnütz. (12) Wir wollen dem Gerechten auflauern, denn er ist unbequem für uns und widersetzt sich unseren Werken und wirft uns Verfehlungen gegen das Gesetz vor und hält uns Verfehlungen gegen unsere Tradition vor; (13) er behauptet, Erkenntnis Gottes zu besitzen, und nennt sich selbst ein Kind des Herrn; (14), er ist uns zur (lebendigen) Widerlegung unserer Vorstellungen geworden, lästig ist er uns schon dadurch, dass wir ihn anblicken müssen, (15) denn unähnlich den anderen ist sein Leben, und völlig anders seine Wege; (16) als falsche Münze werden wir von ihm betrachtet, und er hält sich von unseren Wegen fern wie von Verunreinigungen; selig preist er die letzten Dinge der Gerechten und prahlt, sein Vater sei Gott. (17) Lasst uns sehen, ob seine Worte wahr sind, und erproben, wie es mit ihm ausgeht; (18) wenn der Gerechte ja ein Sohn Gottes ist, wird er sich seiner annehmen und ihn retten aus der Hand derer, die gegen ihn stehen. (19) Mit Misshandlung und Folter wollen wir ihn prüfen, um seine Tugendhaftigkeit zu erkennen und seine Ausdauer im Leiden zu erproben; (20) zu einem schändlichen Tod wollen wir ihn verurteilen, es wird ja für ihn Heimsuchung geben nach seinen Worten.

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Während manche Stellen tatsächlich christlicher Passionstradition sehr nahe kommen, v. a. der Sohn-Gottes-Titel in 2,20 in Verbindung mit seinem Tod als Erprobung dieses Anspruchs, ist aber von jedweder Heilsbedeutung des Todes des Gerechten, die hier als Teil des paraphrasierten Selbstanspruchs des Gerechten durchaus Platz hätte, nicht die Rede, ebenso wenig, wie seine Erhöhung zu Gott im zuvor zitierten Passus 5,1–5 eine soteriologische Ausdeutung erkennen lässt. Wie sich bereits anhand des lukanischen Kontrastschemas zeigte, bleibt aber der Aufweis der Unschuld des Gerechten auch in christlichen Deutungszusammenhängen ein wichtiges, eigenständiges Interpretament. Bemerkenswert ist an SapSal 2,10–20 sodann, dass die Gerechten in der Programmrede der Sünder eine Repräsentationsfunktion für Arme und Schwache haben. Der in Armut lebende Gerechte steht Seite an Seite mit der Witwe und dem Greis und überhaupt mit allen Schwachen, die wie er unter der willkürlichen und selbstherrlichen Gewalt der Sünder zu leiden haben.

8.

Das gewaltsame Geschick der Propheten

Zugleich rücken ihn der Selbstanspruch der Gottesnähe und seine von den Sündern zur todeswürdig erklärte moralische Vorbildfunktion in die Nähe der jüdisch wie frühchristlich breit bezeugten Tradition vom gewaltsamen Geschick der Propheten (Steck 1967). Ein Kerngedanke dieser Tradition ist, dass ein Prophet als Umkehrprediger früher oder später scheitern und verfolgt oder getötet werden muss. In den einschlägigen Texten findet er Anwendung auf die Nachfolger Jesu wie auch auf Jesus selbst. In Mt 5,12 wird die in 5,11 ausgesprochene Seligpreisung der um Jesu willen Verfolgten damit begründet oder zumindest erläutert, dass „sie ebenso die Propheten verfolgt haben, die vor euch gewesen sind“. Lk 6,23 formuliert mit Blick auf die Verfolger: „Ebenso taten ihre Väter den Propheten“, und in Lk 6,26 wird als komplementärer Wehruf formuliert: „Wehe, wenn alle Menschen gut von euch reden, denn so haben es ihre Väter mit den falschen Propheten gemacht“. Demnach ist die Verfolgung geradezu ein Erkennungsmerkmal für den wahren Propheten. Ob man ein wahrer oder ein falscher Prophet ist, kann man, etwas weiter gedacht, sogar auch selbst erst dann wissen, wenn man verfolgt wird. Einschlägig ist auch die Paränese des Jakobusbriefes in Jak 5,10: „Liebe Brüder, nehmt euch ein Beispiel am Leiden und an der Geduld der Propheten, die im Namen des Herrn gesprochen haben“. Die Gläubigen werden hier zwar ebenso wenig wie in Mt 5 und Lk 6 explizit selbst als Propheten angesprochen, aber die Propheten sind doch Identifikationsfiguren im Blick auf die mit dem Einstehen für Wahrheit verbundene notwendige oder zumindest erfahrungsgemäß unausweichliche Gewalterfahrung.

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Aus dem Munde Jesu ohne expliziten Selbstbezug begegnet die Tradition in der Wehklage über Jerusalem Mt 23,37 par „Jerusalem, Jerusalem, das die Propheten steinigt …“, das eigene Geschick deutend in Lk 13,33 „Doch heute und morgen und am folgenden Tag muss ich weiterziehen, denn es geht nicht an, dass ein Prophet außerhalb von Jerusalem umkommt“. Von hier aus wären diejenigen EvangelienStellen in den Blick zu nehmen, als Volksmeinung wiedergebend, Jesus sei „der Prophet“ oder „einer der Propheten“ gewesen. Diese populäre Propheten-Christologie wird zwar in der frühchristlichen Theologiegeschichte nicht weiter entwickelt, spielt aber hie und da über Lk 13,33 hinaus neutestamentlich eine Rolle. 1. Ths 2,16 ist hier zu nennen: „Diese haben den Herrn Jesus getötet und die Propheten, sie haben uns verfolgt, sie missfallen Gott und sind allen Menschen feind“. So sehr aus unserer Sicht zu beanstanden ist, dass Paulus hier vom antiken Heterostereotyp jüdischer Misanthropie Gebrauch macht, so erhellend ist doch der erste Teil der Aussage, der das Leiden Jesu, der Propheten und der Christusverkündiger auf denselben Gedankenfaden reiht3 . Elaboriert und gemessen an seiner Kürze von kunstvoller Sinndichte ist die Formulierung aus der Stephanusrede (Apg 7,52): „Welchen der Propheten haben eure Väter nicht verfolgt? Und sie haben getötet, die zuvor verkündigten das Kommen des Gerechten, dessen Verräter und Mörder ihr nun geworden seid“. Die Propheten sind hier Protomärtyrer als diejenigen, die das Kommen Jesu, der ausdrücklich als Gerechter bezeichnet wird, verkündigt haben. Was die Propheten mit Jesus gemeinsam haben, ist das gewaltsame Todesgeschick. In diese Linie reiht sich zuletzt auch Stephanus selbst ein, der als Dank für seine Rede vom Hohen Rat gesteinigt wird. Die Trias aus 1. Ths 2,16 „Jesus – Propheten – Christusverkündiger“ ist hier narrativ umgesetzt und in eine heilsgeschichtliche Gesamtsicht eingezeichnet. In den zuletzt genannten Texten geht es nicht um das heilvolle Sterben Jesu für die Menschen, sondern um die Geschicksgemeinschaft derjenigen Menschen mit Jesus, die wie er eines gewaltsamen Todes gestorben sind.

3 Dass der Skopos der Stelle dezidiert nicht antijüdisch ist, ist hier gegen die exegetische Mehrheitsmeinung zu betonen. In 1. Ths 2,14–16 „geht es um die Inszenierung einer in gemeinsamer Leidensteilhabe begründeten engen Gemeinschaft zwischen Menschen [...] in Überbrückung [...] der räumlichen und kulturellen Distanz zwischen Christusgemeinden in Judäa und Thessalonike. Dass an beiden Orten Christusgläubige unter denselben Ausgrenzungen und Repressionen leiden, schließt sie zu einer Gemeinschaft zusammen, die zugleich die Leidenserfahrungen der nichtjüdischen Gläubigen im Deutungshorizont einer biblisch-jüdischen Geschichte der Verfolgung der Gottesboten beheimatet. Signifikant ist, dass diese Beheimatung nicht rein diskursiv erfolgt, sondern im Medium einer neuen Gruppenzugehörigkeit über das geteilte Leid, dem Paulus die Kraft zutraut, eine enge Beziehung zwischen einander Fernstehenden zu stiften“ (vgl. hierzu Vogel 2020a).

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9.

Jesus ist der auferweckte Täufer: Leibliche Wiederkehr des Opfers zum Entsetzen des Täters

Dass übrigens Jesus ein Gerechter war, wie namentlich das Matthäus- und das Lukasevangelium wiederholt betonen und implizit auch die in den Redestücken der Apostelgeschichte verwendete Kontrastformel, ist abseits jeder Sühnetodtheologie auch insofern von Bedeutung, als mit der Auferweckung Jesu durch Gott, die ihn gegenüber seinen Richtern zweifelsfrei ins Recht und diese ins Unrecht setzt, auch sein irdisches Wirken über jeden Zweifel erhaben ist. Zum ersten Wahrheitsbeweis dieses Wirkens, der darin besteht, dass Jesus wie schon die Propheten von den Machthabern verfolgt und getötet wurde, kommt der überlegene zweite, dass Gott selbst sich in diesem Konflikt positioniert und diesen Gerechten von den Toten, wohin ihn seine Gegner meinten entsorgen zu können, auferweckt hat, und zwar zunächst in jenes irdische Leben, das ihm zu Unrecht genommen wurde. Nicht zufällig ist es die Kontrastformel, die in ihrer konfrontativen Zuspitzung als Anrede an die Gegner Jesu auf der Auferweckung insistiert. Dass aus Sicht der in der Kontrastformel inkriminierten Unrechtsjustiz ein Unterschied zwischen der Entrückung eines Pneuma zu Gott und der leibhaftigen Auferweckung eines Menschen besteht, illustriert anschaulich die Befürchtung des Herodes Antipas in Mk 6,14–16, in Jesus trete ihm der von den Toten auferweckte Johannes entgegen (ein geradewegs in den Himmel auferwecktes Pneuma hätte ihm gewiss keinen Schrecken eingejagt): Auch der König Herodes hörte von ihm, denn sein Name war bekannt geworden, und es hieß, Johannes der Täufer sei von den Toten auferweckt worden, darum wirkten solche Kräfte in ihm. Andere aber sagten: Er ist Elia, wieder andere sagten: Er ist ein Prophet wie einer der Propheten. Als Herodes das hörte, sagte er: Johannes, den ich enthaupten ließ, der ist auferweckt worden.

10.

Gesteigertes historisches Interesse: Auferweckung als Beglaubigung des irdischen Wirkens

Aber dies ist nur ein Nebengedanke innerhalb eines Nebengedankens. Der eigentliche Nebengedanke besteht darin, dass die Beglaubigung des Wirkens des Irdischen durch die Auferweckung des Getöteten auch deshalb wichtig ist, weil der Auferweckung Jesu – präziser: dem Kerygma von der Auferweckung Jesu – nicht selten der von der Aufklärungsexegese in die Welt gesetzte zweifelhafte Ruf zuteil wird, zwischen dem historischen Jesus und dem geglaubten Christus einen Graben aufge-

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rissen zu haben, mit der Folge, dass man das Vorösterliche und das Nachösterliche trefflich gegen einander ausspielen kann, je nach eigener theologischer Fasson. Wir wissen fast nichts über die mündliche Frühphase der Jesusüberlieferung, trotz des Notbehelfs der Quelle Q, die freilich aktuell sehr gründlich auf dem Prüfstand steht (vgl. Watson 2019, sowie die Kontroverse zwischen Kahl 2019 und Tiwald 2019 – im selben Heft – sowie, zum aktuellen Stand der Diskussion, auch Vogel 2018a; Müller, Omerzu 2018). Aber ein „unchristologisches“ Sammeln von Jesuslogien abseits von Ostern dürfte es zu keiner Zeit gegeben haben. Vielmehr gilt: Die Auferweckung Jesu evozierte ein gesteigertes Interesse auch und gerade an dem, was Jesus in der Zeit seines irdischen Wirkens gesagt und getan hat, denn nun war dieses Wirken hinsichtlich seiner Wahrheit und Bedeutung ja durch Gott selbst verbürgt.

11.

Das Martyrium des Täufers als Steigerung seiner Autorität

Dies gilt übrigens, um diesem Nebengedanken noch einen zweiten hinzuzufügen, auch von Johannes dem Täufer. Dass der Tod des Täufers das Ende der Täuferbewegung war, ist eine so verbreitete wie höchstwahrscheinlich unzutreffende Annahme (anders neuerdings Marcus 2018). Plausibler ist, dass die Anhänger der Täuferbewegung den gewaltsamen Tod des Meisters von der Hand der Machthaber ebenso als Wahrheitsbeweis für sein Wirken und die Integrität seiner Person ansahen, wie die frühe Jesusbewegung auch, die ihrerseits im Tod Jesu den Tod eines Gerechten sah. Bis hierher liegen Täuferbewegung und Jesusbewegung sozusagen gleichauf, und in beider, Johannes’ und Jesu gewaltsamem Tod war etwas gegeben, was weder die eine Seite der anderen streitig machen konnte, noch möglicherweise überhaupt wollte, denn die Weise des Todes Jesu und des Täufers stellte eine Geschicksgemeinschaft dar, die gewissermaßen selbsterklärend war und ein Mindestmaß an gegenseitigem Respekt abnötigte (vgl. Vogel 2020b). Von hier aus wäre das landläufige Bild eines von der Jesusbewegung verchristlichten und christlich verfälschten Täufers zumindest durch die Beobachtung zu relativieren, dass es immerhin im Neuen Testament nirgends eine handfeste Täuferpolemik gibt und alle Anstalten der – wenn man es denn so nennen will – Vereinnahmung einen freundlichen Grundton vernehmen lassen (vgl. Vogel 2015). Dass die Auferweckung Jesu ein christliches Prae setzte, ist unbenommen, aber selbst dieses Prae ist nicht so eindeutig, wie es zu sein scheint, nämlich unter der Bedingung der Kombination der Rede von der Auferweckung Jesu mit der zumindest hypothetisch in Mk 6 formulierten Auffassung, dass Jesus der auferweckte Täufer war. Zwar bestätigt der Evangelist nicht die Auffassung von Jesus als dem auferweckten Täufer, aber er widerspricht ihr auch nicht, und die Idee hat es, wenn an dieser Stelle extratextuell spekuliert werden darf, augenscheinlich gegeben, und

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möglichweise ja auch in frühen Disputen zwischen Jesus- und Täuferbewegung. Im Markusevanglium bleibt sie unwidersprochen, zumal im Blick auf mögliche Kombinationsmöglichkeiten mit hoheits-titularen Eigenschaftszuschreibungen: Wenn man der Überzeugung war, in Jesus sei der Täufer „auferweckt“ worden, und zusätzlich zu der Überzeugung gelangte, dass Gott Jesus „auferweckt“ hatte – wie denn anders, möchte man sagen, da doch nicht nur Johannes, sondern auch Jesus als Gerechter von den Mächtigen getötet worden war – dann konnte man als Täuferanhänger zur Jesusbewegung hinzustoßen, ohne seine Täuferverehrung verleugnen zu müssen. Möglicherweise hat es das Markusevangelium in Mk 6,14–16 hierauf angelegt. Aber kommen wir von diesen etwas gewundenen Seitenpfaden auf den Spuren des Todes des Gerechten und des gewaltsamen Geschicks der Propheten zurück zu Abel.

12.

Das schreiende Blut Abels im Hebräerbrief

Im Hebräerbrief begegnet uns Abel in der langen Reihe derjenigen, die der Verfasser als exempla für „Glauben“ anführt, wiederum an erster Stelle wie in Mt 23,35, und er wird auch hier ausdrücklich als Gerechter bezeichnet (Hbr 11,4): Durch den Glauben hat Abel Gott ein besseres Opfer dargebracht als Kain; durch den Glauben wurde ihm bezeugt, dass er gerecht sei, da Gott selbst es über seinen Gaben bezeugte; und durch den Glauben redet er noch, obwohl er gestorben ist (καὶ δι’ αὐτῆς ἀποθανὼν ἔτι λαλεῖ).

Das fortdauernde Reden Abels als Gestorbener ist eine Anspielung auf das schreiende Blut Abels aus Gen 4, das in Hbf 11,4 sogar als auch in der Gegenwart noch hörbar gedacht wird. Da das Blut Abels in Gen 4 nach Rache schreit, Abel in Hbf 11 aber Glaube und Gerechtigkeit bescheinigt werden, stellt sich die Frage, ob es theologisch denn durchgehen soll, dass der Schrei eines Glaubenden nach Rache in der bis heute hörbaren Stimme seines Blutes sozusagen verstetigt wird. Da „Blut“ in Hbf 11,4 gar nicht vorkommt, besteht ein in den Kommentaren häufig gewählter Ausweg darin, dieses Motiv und damit auch den Schrei nach Rache ganz außen vor zu lassen und die Interpretation allein auf den „Glauben“ Abels zu fokussieren. Das Medium, durch das Abel bis heute redet, ist dann nicht sein Blut, sondern die Schrift, und er redet auch nicht der Rache bzw. dem Gericht das Wort, sondern durch das auch heute vernehmbare Schriftwort dem Glauben. Die anstößige Vorstellung vom Racheschrei eines Glaubenden ist dann vom Tisch, wie denn Abel in Hbf 11 ja auch nicht schreit, sondern „redet“.

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Für Knut Backhaus etwa geht es zwar in Hbf 11,4 um Abels gewaltsamen Tod, aber doch so, dass „das erste Mordopfer der Bibel […] zum ersten Glaubenszeugen [wird]“ (Backhaus 2009, 385): „Nicht nach Vergeltung schreit dieser Tod […], sondern er spricht aus dem Leben in Gott […] vom Glauben an Gott, der den Gerechten Gerechtigkeit schaffen wird“ (Backhaus 2009, 386). Die erlittene Gewalttat verschwindet hier ganz hinter einem recht blassen und abstrakten Glaubenszeugnis von Gott, der den Gerechten Gerechtigkeit schafft. Dagegen versteht Adolf Schlatter Hbf 11,4 so, dass „[Abels] Blut durch seinen Glauben die Macht bekam zu sprechen und Gott als den Richter und Rächer seines Todes herbeizurufen“. Das präsentisch gedachte Sprechen des Blutes Abels heißt dann, „dass fort und fort von ihm der Appell an Gottes Gerechtigkeit [ergeht], bis im vollendeten Reiche Gottes Abel den vollen Ersatz für seinen unschuldigen Tod erlangt haben wird (Schlatter 1982, 530)“.4 Während Backhaus die Figur Abels reduktionistisch auf den Glaubensbegriff zusammenstreicht, verfährt Schlatter umgekehrt explikativ und verleiht der Rede vom Glauben durch die in Hbf 11 gesammelten biblischen exempla Kontur und Farbe. Dieses, nicht jenes Verfahren scheint mir Hbf 11 kongenial zu sein. Denn dass Abel nach Hbf 11,4 „durch den Glauben“ noch immer redet, heißt ja nicht, dass der Glaube sozusagen in selbstreferentieller Endlosschleife auch Inhalt seiner Rede sein muss.5 Schlatters Deutung scheint von Offb 6,9f. her inspiriert, eine Stelle, der wir uns kurz zuwenden. Wir befinden uns hier innerhalb der Siegelvision 6,1–8,5: Und als es [das Lamm] das fünfte Siegel auftat, sah ich unten am Altar die Seelen derer, die umgebracht worden waren um des Wortes Gottes und um ihres Zeugnisses willen. Und sie schrien mit großer Stimme: Herr, du Heiliger und Wahrhaftiger, wie lange richtest du nicht und rächst nicht (οὐ κρίνεις καὶ ἐκδικεῖς) unser Blut an denen, die auf der Erde wohnen?

4 Auf dieser Linie liegt die Richterfunktion Abels, die im Testament Abrahams Rez. A 13 als erster Teil des dreistufigen Endgerichts (Richter ist in erster Instanz Abel, in zweiter die zwölf Stämme Israels und in dritter Gott selbst) angesprochen wird: „Siehst du, frommer Abraham, den furchterregenden Mann auf dem Thron sitzen? Dies ist der Sohn des erstgeschaffenen Adam, der Abel genannt wird, den der böse Kain getötet hat. Er sitzt hier, die ganze Schöpfung zu richten, und untersucht Gerechte und Sünder. Deswegen sagt Gott: „Ich richte euch nicht, sondern jeder Mensch wird vom Menschen gerichtet“ [...]. Deswegen übergab ich ihm das Gericht, die Welt bis zu seiner großen und herrlichen Wiederkunft zu richten.“ (in Übers. Janssen 1980). 5 Das gilt auch für Paulus als maßgebliche neutestamentliche Stimme zum „Glauben“: In Röm 12,19 wird das Rachebedürfnis der Gläubigen anerkannt, der Vollzug der Rache soll aber an Gott delegiert werden. Der Zusammenhang von „Glaube“ und „Rache“ wird hier noch zugespitzt, denn nun geht es nicht um die Rache der durch Glauben Gerechtfertigten, sondern um den rechtfertigenden Gott selbst, der als Rächer erlittenen Unrechts auftritt.

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Hier finden wir den Zusammenhang von Seele und Blut, von Stimme und Racheschrei wieder, nun aber ausdrücklich aus dem Mund von Christusgläubigen, nämlich den Märtyrern (vgl. auch Weigel u. a. 2002).6 Dass sie als Wahrheitszeugen gestorben sind, adelt zwar gewissermaßen ihr Sterben. Dieser Umstand macht aber das Gewaltsame und Unrechtmäßige ihres Todes nicht zur Nebensache noch auch zu einer Sache der Vergangenheit, sondern im Gegenteil zur Sache einer dringlich und drängend erwarteten und herbeigesehnten Zukunft. Dass Gott so viel Zeit hingehen lässt, bis das Blut der Märtyrer gerächt wird, ist den Seelen der Märtyrer ein unerträglicher Zustand, der nach baldiger Abhilfe ruft. Ihr Aufenthaltsrecht zu Füßen des Altars im himmlischen Heiligtum, d. h. in größtmöglicher Gottesnähe, tröstet sie allem Anschein nach also nicht über ihr gewaltsames Todesgeschick hinweg. Von hier aus wenden wir uns wieder dem Hebräerbrief zu, nämlich der Stelle Hbf 12,23f., wo nach Hbf 11,4 nochmals von Abel die Rede ist, hier nun ausdrücklich mit Bezug auf Blut, allerdings nicht dasjenige Abels, sondern das Blut Christi, das hier „Blut der Besprengung“ (αἷμα ῥαντισμοῦ) heißt: „ihr seid gekommen […] zu Gott, dem Richter über alle, und zu den Geistern der vollendeten Gerechten, und zu dem Mittler des neuen Bundes, Jesus, und zu dem Blut der Besprengung, das besser redet als Abel[s Blut]“. Nun hat also auch das Blut Christi eine Stimme, sogar eine bessere als das Blut Abels. Es fragt sich nur, was sie denn von sich gibt. Das alles entscheidende exegetische Detailproblem lautet: Was heißt „besser“? Quantitativ steigernd, dann ist gemeint: „Lauter“. Das Blut der Besprengung redet lauter als Abels Blut, was dann wohl so zu verstehen ist, dass das unschuldig vergossene Blut Jesu den Schrei nach Rache noch verstärkt. Oder aber qualitativ überbietend, dann redet Jesu Blut deshalb „besser“, weil es den Schrei nach Rache ersetzt durch den Ruf zur Versöhnung. Diese Sicht wird u. a. von Christian Eberhart vertreten, jene von Kurt Erlemann. Zunächst Eberhart:

6 Weitere Texte sind Hab 2,11 („Ja, der Stein in der Mauer schreit, und der Balken im Holzwerk antwortet ihm“ mit Bezug auf die „zumeist von Kriegsgefangenen und Sklaven in rücksichtsloser Ausbeutung erstellten Bauwerke“ Nebukadnezars, so Deissler 1989, 96); Jak 5,4–6 („Siehe, der Lohn der Arbeiter, die euer Land abgeerntet haben, den ihr ihnen vorenthalten habt, der schreit, und das Rufen der Schnitter ist gekommen vor die Ohren des Herrn Zebaoth. Ihr habt geschlemmt auf Erden und geprasst und eure Herzen gemästet am Schlachttag. Ihr habt den Gerechten verurteilt und getötet, und er hat euch nicht widerstanden“. Der Ausgebeutete steht hier Seite an Seite mit dem Gerechten, in dessen Tötung die Ausbeutung der Armen kulminiert) und Lk 19,40 („Wenn diese schweigen werden, so werden die Steine schreien“, hier mit Bezug auf den pharisäischen Protest gegen die messianische Akklamation Jesu durch seine Nachfolger). In einem weit gespannten Bogen ist auch Erich Kästners Gedicht Stimmen aus dem Massengrab zu nennen (Vgl. auch Weigel u. a. 2002).

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[D]as Blut Abels bewirkt Rache und damit Unheil. Jesu Blut ist jedoch in der Konzeption des Hebräerbriefes in Analogie zum Blut von Opfertieren verstanden, welches durch Besprengung Sühne und damit Heil bewirkt. Deshalb ist das heilbringende Blut Jesu „besser“ (κρείττων) als das unheilbringende Blut des Märtyrers. Dieser Vergleich impliziert, dass der Autor des Hebräerbriefes Jesu Tod nicht im Rahmen der martyrologischen Tradition als ungerechtfertigte Exekution oder als Mord an einem Unschuldigen mit entsprechender Unheilswirkung deutet, sondern – losgelöst von den geschichtlichen Fakten – nach anderen, nämlich heilsgeschichtlichen Kategorien (Eberhart 2013, 154f.).

Anders Kurt Erlemann: Die Lautstärke, mit der das Blut Abels und das Blut Jesu Christi gen Himmel schreien, wird in Hebräerbrief 12,24 verglichen. Demnach ist mit dem „αἷμα ῥαντισμοῦ“ Jesu eine neue Qualität erreicht: der Ruf nach Rache bzw. nach dem Recht schaffenden Eingreifen Gottes, der seit Abel ertönt, ist mit dem Opfertod Jesu deutlich kraftvoller und dringender geworden. Vor dem Hintergrund der Vorstellung, das Blut der Märtyrer und der Ruf der Seelen nach Rache könne das Eingreifen Gottes beschleunigen, stellt der Kreuzestod Jesu eine Zäsur dar, die einen neuen, letzten Abschnitt der Geschichte einleitet, in dem jederzeit mit dem Eingreifen Gottes zu rechnen ist (Erlemann 1995, 221).

Für unsere Fragstellung tragen beide Deutungen etwas aus: Folgen wir Erlemann, ertönen der Ruf der Versöhnung und der Schrei nach Rache sozusagen aus einem Munde und mit einer Stimme, folgen wir Eberhart, in einer dissonanten Sprechmotette zu zwei Stimmen. Gegen Eberhart ist auf jeden Fall auf der Gleichzeitigkeit beider Stimmen zu beharren, denn dass Abel „auch jetzt noch“ spricht, und zwar als glaubender Gerechter, ist in Hbf 12,23f. angedeutet und durch Hbf 11,4 gesichert. Das heißt dann immerhin, dass von Versöhnung nicht in Absehung begangener und erlittener Gewalt die Rede sein kann, so wenig die Stimme des Blutes Christi vernehmbar ist unter Ausblendung der Stimme Abels, dass vielmehr christlich weder von dem einen noch von dem anderen zugunsten des jeweils anderen abgesehen werden darf. Das Blut Abels und die Seelen der Märtyrer haben in der christlichen Eschatologie einen bescheidenen aber unverzichtbaren Platz.

13.

Drei Schlussgedanken

Die Frage nach der notwendigen Ungleichheit der Täter und Opfer vor Gott wurde in diesem Beitrag mit dem Hinweis auf die Figur Abels beantwortet, also nicht auf den ausgetretenen Pfaden paulinischer oder johanneischer Theologie, sondern im Blick auf eine biblische Randfigur und ihre Rezeptionsgeschichte v. a. in außerbi-

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blischen Texten. Es hat sich aber gezeigt, dass Abel auch im Neuen Testament ein gewichtiges Wort mitredet und die neutestamentliche Rede von Jesus Christus um wichtige Aspekte bereichert. Der Beitrag schließt mit drei kurzen Überlegungen: 13.1 Religion und Ethik: Die Propheten als Repräsentanten aller Gewaltopfer Zur Eschatologisierung Abels und der Märtyrer kommt die Universalisierung: Die Offb 18,24 ist in Babylon lokalisiert, d. h. in der Stadt Rom, die der Seher Johannes bereits verdientermaßen in Trümmern liegen sieht (vgl. hierzu Vogel 2018b), „das Blut der Propheten und der Heiligen und das Blut aller derer, die auf Erden umgebracht worden sind“. Es gibt hier nicht zwei Klassen von Umgebrachten, sondern die Propheten und Heiligen haben eine Art Repräsentationsfunktion für die Gewaltopfer aller Zeiten und Orte. Auf dieser Linie liegt eine Notiz Johann Albrecht Bengels zu Hbf 12,24: „Das beim ersten Mord vergossene Blut Abels wird statt alles auf Erden vergossenen gen Himmel schreienden Blutes gesetzt“ (Bengel 1960, 704). An dieser Stelle ist auch nochmals auf SapSal 2,10f. zurück zu blicken, wo der Gerechte in seiner materiellen Armut Arme und Schwache überhaupt repräsentiert und diejenige Verachtung auf sich zieht, die auch ihnen gilt (vgl. auch Anm. 6 zu Jak 5,4–6). Wir stoßen an diesen Stellen auf eine Entgrenzung des Religiösen ins Ethische, die das biblische Narrativ öffnet für das Einstehen jüdisch-christlich gedeuteter Gewalterfahrung für Gewalterfahrung überhaupt. Das Besondere jüdisch-christlicher Weltdeutung versteht sich dann als Sachwalter eines Menschlich-Allgemeinen, ohne dieses Allgemeine religiös überformen zu wollen. Vielmehr verhält es sich einfach so, dass, wie Wilhelm Vischer im Blick auf Gen 4 formulierte, mit der Frage „Wo ist dein Bruder“, sich „[d]ie Gottesfrage [...] als die soziale Frage [stellt] (Vischer 1929, 45)“.7 13.2 Eucharistische Bezüge Auf dieser Linie liegt zweitens ein Gedanke zur Eucharistie: In der synoptischpaulinischen Abendmahlstradition und entsprechend in den Einsetzungsworten

7 Mit der Frage „Wo ist dein Bruder“ entscheidet sich, so Vischer, „die Möglichkeit oder Unmöglichkeit seiner [d.i. Kains] Existenz vor Gott“, und vom schreienden Blut Abels gilt in ethischer Verallgemeinerung: „So schreit das Blut der Ungezählten, im Konkurrenzkampf Erwürgten, die im Leben keine Stimme hatten, von der Erde. Und es ist ein Ohr, das dieses Schreien hört, und es ist ein Mund, der den Mördern das Urteil spricht“ (Vischer 1929, 45). Unschwer hört man in diesen Worten die Hoffnung der späten Weimarer Republik auf sozial(istisch)e Gerechtigkeit. Bereits zehn Jahre vor Vischers Notiz hatte sich Paul Tillich in einem Essay zum Sozialismus als Kirchenfrage geäußert.

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der Abendmahlsliturgie ist vom „vergossenen Blut“ Jesu die Rede. Da im biblischen Hebräisch wie auch im Griechischen „Blutvergießen“ für gewaltsamen Tod steht, klingt der martyrologische Aspekt auch im eucharistischen Kontext an, der theologisch wohl zu allererst zu entdecken wäre: Dessen Blut „für uns“ vergossen wurde, wurde gewaltsam zu Tode gebracht und ist damit wie die Märtyrer in Offb 18 Repräsentant aller Gewaltopfer (vgl. auch Cavanaugh 1998). 13.3 Zur martyrologischen Symbolik des katholischen Sakralraumes Auf derselben Linie liegt drittens die Ausstattung römisch-katholischer Kirchen mit einer Reliquie. Nach geltendem Kirchenrecht ist „die alte Tradition, unter einem feststehenden Altar Reliquien von Märtyrern oder anderen Heiligen beizusetzen, [...] nach den überlieferten Normen der liturgischen Bücher beizubehalten“ (Corpus Iuris Canonici 1237.2). Hierbei handelt es sich um eine Regelung, die direkt auf Offb 6,9 (Seelen unter dem himmlischen Altar) zurückgeht. In der Frühzeit war es sogar üblich, Altäre direkt auf Mäytrergräbern zu errichten, bis man in der Karolingerzeit dazu überging, Reliquien an den Ort der auszustattenden Kirche zu überführen. Wichtig ist in unserem Zusammenhang die martyrologische Bedeutung des katholischen Sakralraums und namentlich des Altars, also des Ortes der eucharistischen Wandlung. Das Sühnopfer Christi steht in einem engen symbolischen und zugleich stofflich-realen Sinn- und Geschehenszusammenhang mit den Stimmen der Gewaltopfer. Hierin liegt ein erhebliches liturgisches Sinnpotenzial, das auf seine Weise einen Beitrag dazu leisten könnte, die Semantik christlicher Sprache in einem weiten Sinn politisch zu rekontextualisieren. Im Blick auf die in Offb 6,9 imaginierte Szenerie des himmlischen Gottesdienstes ist gut vorstellbar, dass das Geschrei der Gewaltopfer unterhalb des Altars die himmlische Liturgie geradezu stört und sich die Schreie der Märtyrer mit dem Gesang der Engel mischen. Diese Störung wäre dann himmlisch gewollt8 , weil Gott nicht gelobt werden darf unter Absehung von seinen gequälten Geschöpfen.

Literaturverzeichnis Backhaus, K. 2009, Der Hebräerbrief, Regensburg. Bengel, J.A. 1960, Gnomon. Auslegungen des Neuen Testaments in fortlaufenden Anmerkungen. Bd. II/2, Stuttgart–Berlin.

8 Störungen an irdischen Altären werden dagegen nicht nur nicht hingenommen, sondern mitunter hart bestraft, wie das Beispiel des Punk-Gebets von Pussy Riot in einer Moskauer Kirche im Jahr 2012 zeigt. Die dissonante Störung der himmlischen Liturgie in Offb 6,9f. ist dagegen Teil der liturgischen Normalform.

Vom Blut im Boden

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Michael Wermke

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770 Chancen und Diskrepanzen des christlich-jüdischen Dialogs

Nathan: Sultan, ich bin ein Jud’. Saladin: Und ich ein Muselmann. Der Christ ist zwischen uns. – Von diesen drei Religionen kann doch eine nur Die wahre sein. – Ein Mann, wie du, bleibt da Nicht stehen, wo der Zufall der Geburt Ihn hingeworfen. oder wenn er bleibt, bleibt er aus Einsicht, Gründen, Wahl des Bessern. Wohlan! so teile deine Einsicht mir Dann mit. (G. E. Lessing, Nathan der Weise, 1779, III.5)

Vor 250 Jahren, am 4. September 1769, sandte der junge Schweizer Diakon Johann Caspar Lavater (1741–1801) aus Zürich an den in Berlin lebenden Weltweisen und Menschenfreund Moses Mendelssohn (1729–1786) ein Buch mit einem kurzen Begleitschreiben und löste damit eine Kontroverse aus, die, wie der MendelssohnBiograph Julius H. Schoeps feststellte, ein „Novum in der Geschichte der jüdischchristlichen Auseinandersetzungen von exemplarischer Bedeutung“ markiert, weil hier „zum ersten Male mit dem Pathos des guten und noch ungetäuschten Glaubens von „Toleranz“, von „Verstehen“ und von „gegenseitiger Anerkenntnis“ die Rede“ ist (Schoeps 1989, 95f.). Der bedeutende jüdische Philosoph und Historiker Gershom Scholem schätzte die christlich-jüdischen Religionsgespräche, und damit ja auch die Kontroverse zwischen Lavater und Mendelssohn, völlig anders ein. In seinem Essay Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen „Gespräch“ bestritt Scholem ganz energisch, dass es ein „deutsch-jüdisches Gespräch in irgendeinem echten Sinn als historisches Phänomen je gegeben hat“ (Scholem 1987, 7). Die Deutschen seien nie bereit gewesen, die Juden als Gesprächspartner wahrzunehmen und ihnen zuzuhören. Nichts könne daher irreführender sein, „als solchen Begriff [des Gesprächs] auf die Auseinandersetzung zwischen Deutschen und Juden in den letzten 200 Jahren anzuwenden“. „Dieses Gespräch erstarb“, so urteilte Scholem, „in den ersten Anfängen und ist nie zustande gekommen“ (Scholem 1987, 8). Bevor wir uns nun fragen, ob wir die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1769 tatsächlich als den Beginn des Dialogs zwischen Christen und Juden in Deutschland oder bereits als dessen Absage betrachten können, sollten wir uns zunächst den

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beiden Gesprächspartnern zuwenden und uns die Chronologie der Ereignisse verdeutlichen.

1.

Auf der Suche nach dem Gespräch

Johann Caspar Lavater stammte aus einer Zürcher Patrizierfamilie und ließ sich nach seiner einjährigen Reise durch Deutschland (Februar–März 1763 bis März 1764) zunächst als Diakon und später als Prediger in seiner Heimatstadt nieder. Größere Bekanntheit gewann Lavater erst durch seine Physiognomischen Fragmente zur Beförderung der Menschenkenntnis und Menschenliebe (1775–1778), in denen er einen Zusammenhang zwischen dem äußeren Erscheinungsbild des Menschen, insbesondere der Gesichtsbildung, und den inneren Charaktereigenschaften zu ergründen versuchte. Lavater lernte Mendelssohn bereits im März 1763 während eines fünfwöchigen Aufenthalts in Berlin, dem Zentrum der Haskala, der jüdischen Aufklärungsbewegung, kennen.1 Der zweiundzwanzigjährige Lavater war von Mendelssohns Persönlichkeit und Bildung zutiefst beeindruckt. Über sein erstes Treffen mit dem jüdischen Philosophen, der seinen Lebensunterhalt als Geschäftsführer einer Seidenmanufaktur verdienen musste, schrieb Lavater am 18. April 1763 an den Schriftsteller und seinen ehemaligen Lehrer Johann Jacob Breitinger in Zürich: Den Juden Moses, den Verfasser der philosophischen Gespräche und Briefe über die Empfindungen, fanden wir in einem Comptoir mit Seide beschäftigt. [...] Ein Mann von scharfen Einsichten, feinem Geschmack und ausgebreiteter Wissenschaft. Vertraulich und offenherzig im Umgange; bescheidener in seinen Reden als in seinen Schriften und beim Lobe unverändert, ungezwungen in seinen Gebärden, entfernt von ruhmbegierigen Kunstgriffen niederträchtiger Seelen, freigiebig und dienstfertig. Ein Bruder seiner Brüder, der Juden, gefällig und ehrerbietig gegen sie, auch von ihnen geliebt und geehrt. Und wie wenig entsprechen seine äußeren Umstände seinen Talenten (Geßner 1802, 191–192, zitiert nach Mendelssohn 1971a, XII).2

1 Nach Geßner traf Lavater am 27. März 1763 in Berlin ein; gegen Guinaudeau, der annimmt, dass Lavater Mendelssohn bereits am 7. und 18. März aufgesucht hat, s. Mendelssohn 1971a, XII. Zu Lavater, s. TRE 1990, 506–511. 2 Vgl. die Beschreibung des Besuchs von Christian Gottfried Schütz (1747–1832), s. Mendelssohn 1971a, XII. Zum weiteren s. auch Meyer 1994, 33f.

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770

2.

Eine fiktive Szene und ihr historischer Gehalt

Die fiktive Zusammenkunft der drei Gelehrten Lavater, Mendelssohn und Lessing hat Moritz Daniel Oppenheims (1800–1882) 1856 in einem großformatigen Ölbild dargestellt.3 Diese Konstellation der drei so unterschiedlichen Geister in einer idyllisierten Harmonie entsprach dem Zeitgeschmack des assimilierten jüdischen Bildungsbürgertums des 19. Jahrhunderts. Nach diesem Gemälde entstanden in den folgenden Jahrzehnten einige Kupferstiche, die zu einer großen Bekanntheit des Motivs beitrugen. Zu ihnen gehört auch der Stich eines anonymen Künstlers, das dem Gemälde von Oppenheim recht nahekommt. Von der Decke hängt eine Messinglampe, mit einem Kronleuchter und einer rituellen Öllampe für den Schabbat. Im rechten Bildhintergrund taucht Mendelssohns Ehefrau Fromet (1737–1812) auf, die Mendelssohn im Sommer 1762 geheiratet hatte. Auf dem oberen Türrahmen, den sie durchschreitet, steht ein hebräischer Segensspruch (Gesegnet wirst du sein, wenn du eingehst, gesegnet, wenn du ausgehst. 5. Dtn 28,6). An der linken Rückwand hängt unter einem Gemälde Friedrich II. ein gerahmtes Mizrach (hebräisches Wort für Osten), das die Gebetsrichtung anzeigt. Auch wenn die Szene – wie noch zu zeigen ist – sich so keinesfalls zugetragen haben kann, lohnt es sich trotzdem, sie auf ihren geschichtlichen Gehalt hin zu befragen. Lavater besuchte während seiner einjährigen Bildungsreise durch Deutschland Mendelssohn insgesamt dreimal in Berlin: am 7. und 18. April 1763 und – auf der Rückreise nach Zürich – am 27. Februar 1764 abends in seiner Wohnung in der Spandauerstraße 68. Da der oben zitierte Brief von Lavaters Besuch in Mendelssohns Comptoir berichtet, beziehen sich Oppenheims Bild bzw. der Stich vermutlich auf dessen letzten Besuch im Februar 1764. Begleitet worden ist er hierbei von seinem Schweizer Gefährten Johann Felix Heß und dem Berliner Prediger Johann Samuel Diterich.4 Während Oppenheim auf die Darstellung der beiden Begleiter Lavaters verzichtet, nimmt er Lessing mit auf, der bei diesem Treffen nicht zugegen gewesen sein konnte, da sich dieser zwischen 1760 und 1765 als Gouvernementssekretär des Generals Friedrich Bogislav von Tauentzien in Breslau aufhielt. Im Gegensatz zu Lessing und Mendelssohn, damals beide 34 Jahre alt, wird der eigentlich erst 22-jährige Theologiestudent Lavater wesentlich älter dargestellt, offenbar um ihm eine gewisse Ebenbürtigkeit zu verleihen.

3 Das Gemälde hängt heute in der Magnes Collection of Jewish Art and Life in Berkeley/Kalifornien. Zu Oppenheim s. JL 1930, 585–586. 4 Lavater wurde durch den Schweizer Ästhetiker Johann Georg Sulzer (1720–1779) bei Mendelssohn eingeführt, s. hierzu Engel 1994, 54. Zu Lavaters Veranlassung, mit Johann Felix Heß und Johann Heinrich Füßli Zürich im März 1763 zu verlassen, s. Weigelt 1991, 8–11.

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Abb. 1 „Lavater und Lessing bei Moses Mendelssohn“ © Stiftung Jüdisches Museum Berlin 2002.

Lavater scheint mit seinem Besuch eine Schachpartie zwischen Mendelssohn und Lessing unterbrochen zu haben. Das auf der von Lavater verschobenen Tischdecke stehende Schachbrett weist darauf hin. Mit der rechten Hand Mendelssohns Ärmel berührend, schlägt Lavater, in einer energischen, etwas aufdringlich wirkenden

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770

Pose sitzend, mit der linken Hand ein aufgeschlagenes Buch zu und scheint, mit einem weltabgewandten Blick, auf Mendelssohn einzureden. Während Lessing eher in die Weite, in die Zukunft schaut, ist Mendelssohns Blick gedankenvoll auf Lavater gerichtet, wobei der Eindruck erweckt wird, dass Mendelssohn eher über Lavater selbst als über dessen Ausführungen sinniert.5

3.

Lavaters Traum von der Bekehrung der Juden

Schon bei dem Berliner Treffen im Frühjahr 1764 hatte Lavater die Gespräche – gegen Mendelssohns Willen – wiederholt auf die Beziehungen zwischen der christlichen und jüdischen Religion bringen wollen. Mendelssohn musste für den schwärmerisch veranlagten Lavater eine stete Herausforderung an die eigenen Glaubensprinzipien gewesen sein: Ein hochintelligenter Mensch, der in vielen Wissenschaftsgebieten bewandert ist, zu den führenden Aufklärern zählt und dennoch streng an den traditionellen Zeremonialgesetzen des jüdischen Glaubens festhält. Nach Lavaters tiefer religiöser Überzeugung konnte nur der Christ der wahre, ganze Mensch, der vollkommene Gottes-Mensch sein. Den Beweis für die Richtigkeit seiner religiösen Überzeugungen fand Lavater in dem 1769 erschienen Buch des Schweizer Philosophen und Naturwissenschaftlers Charles Bonnet (1720–1793) Palingénésie philosophique, ou Idées sur l’Etat passé et sur l’Etat futur des êtres vivants. In dieser Schrift verteidigte Bonnet das Christentum als Offenbarungsreligion, deren Keim bereits in der Schöpfung gelegt war und in Jesus Christus offenbart wurde. Lavater machte sich sofort an die Übersetzung der wesentlichen Kapitel des Buches ins Deutsche, fügte eine an Mendelssohn gerichtete „Zuschrift“ bei, dem er das Buch auch widmete, und veröffentlichte dieses in Zürich unter dem Titel Herrn Carl Bonnets, verschiedene Akademien Mitglieds, philosophische Untersuchung der Beweise für das Christentum. Diese Veröffentlichung ist nun ganz offenbar das Buch, das Lavater auf dem Gemälde Oppenheims Mendelssohn zuschiebt. In der gedruckten „Zuschrift“, die das Datum vom 25. August 1769 trägt, ehrt Lavater Mendelssohn zunächst auf ’s Höchste. Er schreibt: Ich weiß die Hochachtung, die mir ihre fürtreflichen Schriften und Ihr noch fürtreflicherer Charakter, eines Israeliten, in welchem kein Falsch ist, gegen Sie eingeflößt haben, nicht besser auszudrücken, und das Vergnügen, das ich vor einigen Jahren in Ihrem

5 Auffallend die Ähnlichkeit zwischen Oppenheims Darstellung und dem Porträt Lessings von Anton Graff, 1770. Die „Verachtung in dem Blick, mit dem der aufrechte Lessing auf Lavater herabschaut“, vermag der Verfasser nicht zu erkennen, so Altmann 1979, 11.

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liebenswürdigen Umgange genossen, nicht besser zu vergelten, als wenn ich Ihnen die beste philosophische Untersuchung der Beweise für das Christenthum, die mir bekannt ist, zueigne (Mendelssohn 1971a, 3; vgl. Lavater 1770, 7f.).

Doch im zweiten Satz heißt es: Ich kenne Ihre tiefen Einsichten, Ihre standhafte Wahrheitsliebe, Ihre unbestechliche Unpartheilichkeit, Ihre zärtliche Achtung für die Philosophie überhaupt, und die Bonnetischen Schriften besonders: Und unvergeßlich ist mir jene sanfte Bescheidenheit, mit welcher Sie, bey aller ihrer Entferntheit von dem Christenthum, dasselbe beurtheilen; und die philosophische Achtung, die Sie in einer der glücklichsten Stunden meines Lebens über den moralischen Charakter seines Stifters bezeugt haben; so unvergeßlich und dabey so wichtig, daß ich es wagen darf, Sie zu bitten, Sie vor dem Gotte der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Vater zu bitten und zu beschwören: Nicht, diese Schrift mit philosophischer Unpartheylichkeit zu lesen; denn das werden Sie gewiß, ohne mein Bitten, sonst thun: Sondern dieselbe öffentlich zu widerlegen, wofern Sie die wesentlichen Argumentationen, womit die Thatsachen des Christentums unterstützt sind, nicht richtig finden: Dafern Sie aber dieselben richtig finden, zu thun, was Klugheit, Wahrheitsliebe, Redlichkeit Sie thun heissen; – was Sokrates gethan hätte, wenn er diese Schrift gelesen, und unwiderleglich gefunden hätte (Mendelssohn 1971a, 3).

4.

Lavaters Schritt vom Wege

Es wäre falsch, dieser höflich formulierten, jedoch eindeutigen Aufforderung an Mendelssohn, entweder Bonnets Beweise zu widerlegen oder aber zum Christentum zu konvertieren, inquisitorische Absichten zu unterstellen. Lavater handelte viel zu sehr aus einem naiven christlichen Enthusiasmus heraus und hielt es für sicher, dass man sich der „vernünftigen“ Argumentation Bonnets für das Christentum schlicht nicht entziehen konnte. Lavater bedient sich der Sprache der Aufklärung, verhält sich aber im höchsten Maße unbedarft. Er forderte Mendelssohn auf, so wie Sokrates Vernunft walten zu lassen, allerdings konnte es ihm an einem ernsthaften Disput um die Wahrheitsfrage gar nicht gelegen sein. Für ihn hat es von vornherein festgestanden, was Mendelssohn zu beweisen übriggeblieben wäre, dass lediglich der christliche Glaube die Wahrheit besitzt. Aus seiner Sicht hat es für Mendelssohn wie für alle anderen Juden auch demnach nur noch eine Konsequenz geben können: die Taufe. Lavaters vermeintlich lautere Absicht bestand letztlich darin, aus einer übereifrigen Menschenliebe heraus die Seele des Juden Mendelssohns für die Ewigkeit

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770

zu erretten. Noch bevor die Schrift in den Buchhandel gelangt, schickte der junge Mann Mendelssohn ein ungebundenes Exemplar zu.

5.

Mendelssohn in der Zwickmühle

Durch Lavaters Ansinnen wurde Mendelssohn, der für seine philosophischen Schriften bereits höchste Anerkennung in den Aufklärerkreisen erfuhr, in große Schwierigkeiten gebracht, auf die er mit großem rhetorischen Geschick zu reagieren verstand. Mendelssohn hatte es bislang vermieden, in Religionsfragen öffentlich Stellung zu nehmen. Allein schon sein Toleranzverständnis verbot ihm einen Streit um den Wahrheitsanspruch in religiösen Angelegenheiten zu führen. Ganz im Sinne der Aufklärung betrachtete er die Fragen nach der Religionszugehörigkeit als Privatangelegenheit und erwartete eine Einsicht und Duldung der Glaubensvorstellungen und Religiosität anderer Konfessionen.6 Aber auch seine politische Vorsicht riet ihm davon ab, gegen das Christentum, das für ihn nur eine Religion unter anderen war, ein persönliches Urteil abzulegen – schließlich war die rechtliche Stellung der Juden höchst ungesichert, und auch er hatte erst wenige Jahre zuvor, 1762, nur unter Schwierigkeiten das Niederlassungsrecht für Berlin erlangen können. Andererseits konnte sich Mendelssohn Lavaters öffentlicher Aufforderung nicht entziehen. Ein Schweigen hätte als Eingeständnis in die Richtigkeit der Bonnetschen Beweisführung gedeutet werden können. Mendelssohn musste daher eindeutig Stellung beziehen. Eine zu deutliche Zurückweisung der Aufforderung hätte jedoch als Angriff auf die christliche Religion gewertet werden können. Mendelssohns Antwort ließ daher fast vier Monate auf sich warten.

6 Am 25. Januar 1770 schrieb Mendelssohn an den Erbprinzen von Braunschweig-Wolfenbüttel, der Mendelssohn in Berlin besucht hatte und nun von ihm wissen wollte, warum dieser die Göttlichkeit des Judentums bekräftigen, die des Christentums dagegen verwerfen konnte. In dem Brief, den Mendelssohn zu vernichten bat, stellte er „ein Kriterium auf für jede religiöse Wahrheit, dass der Prinz, ein Schüler des Aufklärungstheologen J. F. W. Jerusalem, nicht verwerfen konnte: Übereinstimmung mit der Vernunft“ (Meyer 1994, 41). Alles, was offensichtlich „mit der Vernunft widerstreitet“, könne nicht von Gott kommen. Die Aussagen der Hebräischen Bibel würden den Vernunftgrundsätzen zumindest nicht widersprechen. Im Gegensatz dazu würden ihm zentrale christliche Glaubensaussagen – Mendelssohn nennt hier die Trinitätsvorstellung, die Menschwerdung Gottes, das Leiden und Sterben Christi als Sohn Gottes – „den ersten Gründen der menschlichen Erkenntniß schnurstracks zu widersprechen scheinen“. An anderer Stelle des Briefes heißt es: „Ich kann es nicht genug wiederholen, es kommt Alles auf die logische Wahrheit der Lehre, nicht auf die historische Wahrheit der Gesandschaft [d.i. die historische Existenz Jesu] an“ (Mendelssohn 1971a, 302f.). Interessant sind Mendelssohns theologische Überlegungen zur Gültigkeit des Gesetzes für jüdische Proselyten.

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Am 12. Dezember 1769 sandte Moses Mendelssohns seinen Antwortbrief, der Anfang 1770 bei Friedrich Nicolai in Berlin gedruckt erschien, zu Lavater nach Zürich ab. Das Schreiben, ein Meisterstück der Briefliteratur, ist in einem äußerst konzilianten und zurücknehmenden Stil gehalten; es weist jedoch in der Sache mit aller Schärfe Lavaters Anliegen zurück. Mendelssohn teilt dem „verehrungswürdigen Menschenfreund“ seine völlige Überzeugung mit und räumt ein, „daß Ihre Handlungen aus einer reinen Quelle fließen, und kann Ihnen keine andere als liebreiche Absicht zuschreiben“; er will jedoch nicht leugnen: „dieser Schritt (einer öffentlichen Aufforderung) von Ihrer Seite hat mich außerordentlich befremdet“ (Mendelssohn 1971a, 7).7 Ebenso wie Lavater erinnert Mendelssohn an das Treffen von 1763, aber auch an die Abmachung, dass von den Gesprächen über „Religionssachen“, von denen Mendelssohn immer wieder abzulenken versuchte, „niemals öffentlich Gebrauch gemacht werden sollte“. Nach einem Gedankenstrich fährt Mendelssohn fort: „Jedoch ich will mich lieber irren, als Ihnen eine Uebertretung dieses Versprechens schuld geben“ (Mendelssohn 1971a, 8). Lavater hätte aus Mendelssohns Versuchen, im privaten Gespräch einer Erklärung auszuweichen, leicht für sich erkennen können, dass „eine öffentliche meiner Gemüthsart äusserst zuwider seyn würde“ (Mendelssohn 1971a, 8). Ohne einen direkten Vorwurf gegen Lavater zu erheben, lässt Mendelssohn ihn deutlich sein Missfallen spüren. Zum Abschluss der Einleitung fragt Mendelssohn schließlich: „Was hat Sie also bewegen können, mich wider meine Neigung, die Ihnen bekannt war, aus dem Haufen hervorziehen und auf einen öffentlichen Kampfplatz zu führen, den ich so sehr gewünscht nie betreten zu dürfen“ (Mendelssohn 1971a, 8)?

6.

„Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht und Partey ergriffen“

Mendelssohns Zurückhaltung hinsichtlich religiöser Auseinandersetzungen sei „nie Furcht oder Blödigkeit“ gewesen (Mendelssohn 1971a, 8). Er habe schon von früher Jugend an seine Handlungen und Meinungen überprüft und sich seine Entscheidung auch gerade angesichts der gesellschaftlichen Stellung der Juden nicht leicht gemacht. Allein schon die Tatsache, dass er nach wie vor Jude ist, so hält Mendelssohn Lavater vor, ist für seine religiöse Überzeugung schon Beweis genug. „Wäre nach diesem vieljährigen Forschen die Entscheidung nicht völlig zum Vortheile meiner Religion ausgefallen; so hätte sie nothwendig durch eine öffentliche

7 Die Darstellung der vernunftgegründeten Vorstellungen Mendelssohns zur „Verbesserung“ der Religion, „daran Christen und Juden gleichen Antheil“ zu nehmen vermöchten, würde den gesetzten Rahmen sprengen.

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770

Handlung bekannt werden müssen“ (Mendelssohn 1971a, 9). Für Mendelssohn stand es außerhalb jeden Zweifels, dass das Judentum die einzige von Gott offenbarte Religion ist und dass kein Teil der Thora aufgehoben werden könne, außer durch einen neuen Offenbarungsakt. Und so ergänzt er: Wäre nach diesem vieljährigen Forschen die Entscheidung nicht völlig zum Vorteile meiner Religion ausgefallen, so hätte sie notwendig durch eine öffentliche Handlung (der Konversion) bekannt werden müssen. Ich begreife nicht, was mich an eine dem Ansehen nach so überstrenge, so allgemein verachtete Religion fesseln könnte, wenn ich nicht im Herzen von ihrer Wahrheit überzeugt wäre. Das Resultat meiner Untersuchungen mochte sein, welches man wollte, sobald ich die Religion meiner Väter nicht für die wahre erkannte, so mußte ich sie verlassen (Mendelssohn 1971a, 8).

Aus dieser Überzeugung erklärt sich auch Mendelssohn Festhalten an der eigenen konservativ-religiösen Lebensführung. Folglich stand für ihn die Frage nach der Wahrheit der eigenen bzw. die Unwahrheit der anderen Religion überhaupt nicht zur Diskussion, auch wenn er einschränkt, „daß ich bey meiner Religion menschliche Zusätze und Misbräuche wahrgenommen, die leider ihren Glanz nur zu sehr verdunkeln“, aber welcher „Freund der Wahrheit kann sich rühmen, seine Religion von schädlichen Menschensatzungen frey gefunden zu haben?“ (Mendelssohn 1971a, 9f.) Er antwortet seinem christlichen Herausforderer: In jeder Religion könne man „diesen vergifteten Hauch der Heuchelei, und des Aberglaubens“ erkennen. So bezeugt Mendelssohn gegenüber Lavater: Allein von dem Wesentlichen meiner Religion bin ich so fest, so unwiderleglich versichert, als Sie oder Herr Bonnet nur immer von der Ihrigen sein können, und ich bezeuge hiermit vor dem Gott der Wahrheit, Ihrem und meinem Schöpfer und Erhalter, bei dem Sie mich in Ihrer Zuschrift beschworen haben, daß ich bei meinen Grundsätzen bleiben werde, so lange meine ganze Seele nicht eine andere Natur annimmt (Mendelssohn 1971a, 9f.).

Für Mendelssohn ist die Frage nach der Wahrheit seiner Religion längst abgeschlossen: „Ich habe gelesen, verglichen, nachgedacht und Partey ergriffen“ (Mendelssohn 1971a, 10). Jedoch sah er, festhaltend an der jüdischen Tradition, allein die Juden dazu verpflichtet, die ihn von Gott offenbarten schriftlichen und mündlichen Gesetze einzuhalten. „Alle unsere Rabbinen lehren einmütig, daß die schriftlichen und mündlichen Gesetze, in welchem unsere geoffenbarte Religion stehet, nur für unsere Nation verbindlich seien. Mose hat uns das Gesetz geboten, es ist ein Erbteil der Gemeinde Jakob“ (Mendelssohn 1971a, 10f.).

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Von daher verbietet es sich für Mendelssohn, jemandem, der „nicht nach unserem Gesetze geboren ist, zu bekehren suchen“ (Mendelssohn 1971a, 11). An anderer Stelle führt er aus: Die Religion meiner Väter will also nicht ausgebreitet sein. Wir wollen nicht Missionen nach beiden Indien oder nach Grönland senden um diesen entfernten Völkern unsere Religion zu predigen. […] Wer nach unserem Gesetze nicht geboren ist, darf auch nicht nach unserem Gesetze leben. Uns allein halten wir für verbunden, diese Gesetze zu beobachten, und dieses kann unseren Nebenmenschen kein Ärgernis geben (Mendelssohn 1971a, 11).

Das jüdische Bekehrungsverbot kann für Mendelssohn allerdings nicht bedeuten, dass ein Nicht-Jude ohne Übertritt zum Judentum von der Erlösung ausgeschlossen bleiben müsse. 1773 stellte Mendelssohn gegenüber der anerkannten rabbinischen Autorität Rabbi Jacob Hirschel Emden (1696–1776) aus Altona fest: Sollen etwa die Bewohner der Erde, vom Aufgang der Sonne bis zu ihrem Untergang, außer uns selbst, in den Abgrund versinken und ein Abscheu allen Fleisches werden, nur weil sie nicht an die Thora glauben, die doch das Erbe nur der Gemeinde Jakobs gegeben ist? (Mendelssohn 1971b, 262).

Unter Verweis auf Maimonides Äußerung „die Gerechten aller Völker haben Teil an der kommenden Welt“, konnte Mendelssohn formulieren: Alle übrigen Völker der Erde, glauben wir, seien von Gott angewiesen worden, sich an das Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten. Die ihren Lebenswandel nach den Gesetzen dieser Religion der Natur und der Vernunft einrichten, werden tugendhafte Männer von anderen Nationen genennet, und diese sind Kinder der ewigen Seligkeit (Mendelssohn 1971a, 11).

Jeder Versuch, das Judentum zu widerlegen, hätte ihn daher nicht zu dem mindesten Widerspruch provoziert. „Die verächtliche Meinung, die man von einem Juden hat, wünschte ich durch Tugend, und nicht durch Streitschriften widerlegen zu können“ (Mendelssohn 1971a, 10). Folglich ist es ihm auch völlig verständlich, dass es nach den Grundsätzen der jüdischen Religion untersagt ist, jemanden bekehren zu wollen, „der nicht nach unserm Gesetze geboren ist“. Aus jüdischer Sicht sind die Nicht-Juden durch Gott angewiesen, „sich an das (vernünftige) Gesetz der Natur und an die Religion der Patriarchen zu halten“ (Mendelssohn 1971a, 11). Und somit können alle Völker des ewigen Lebens teilhaftig werden, wenn sie die Religion der Patriarchen, gemeint sind die sieben Hauptgebote der Noachiden, die

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nach jüdischem Verständnis im Einklang mit dem Naturrecht stehen, befolgen. Durch ihre eigene natürliche Erkenntnis, also ohne göttliche Offenbarung, ist es den Völkern gegeben, zu einer tugendhaften, d. h. vernünftigen Lebensführung zu kommen und demnach die Noachidischen Grundgebote einhalten zu können. Die nach Vernunftsgrundsätzen ausgestaltete Lebensführung führt zur Seligkeit. Damit ist den Nicht-Juden ein zweiter Heilsweg eingeräumt. So antwortet Mendelssohn auf die Bemühungen Lavaters um sein Heil: Wenn unter meinen Zeitgenossen ein Konfuzius oder Solon lebte, so könnte ich, nach den Grundsätzen meiner Religion, den großen Mann lieben und bewundern, ohne auf den lächerlichen Gedanken zu kommen, einen Konfuzius oder Solon bekehren zu wollen. Bekehren? Wozu? Da er nicht zu der Gemeine Jakobs gehöret, so verbinden ihn meine Religionsgesetze nicht, und über die Lehren wollten wir uns bald einverstehen. Ob ich glaubte, daß er selig werden könnte? – Oh! mich dünkt, wer in diesem Leben die Menschen zur Tugend anführet, kann in jenem nicht verdammt werden“ (Mendelssohn 1971a, 12).

Folglich ist es für ihn selbstredend, dass, „wer in diesem Leben die Menschen zur Tugend anführet“, selbstverständlich auch der ewigen Seligkeit teilhaftig wird (Mendelssohn 1971a, 12). Mendelssohn räumt ein, dass es zwar die Bestimmung eines jeden Sterblichen sei, „Erkenntnis und Tugend unter seinen Nebenmenschen auszubreiten und die Vorurtheile und Irrthümer derselben nach Vermögen zu vertilgen“, doch seien nicht alle Vorurteile von gleicher Schädlichkeit (Mendelssohn 1971a, 13). Insbesondere jene höheren theoretischen Grundsätze, die zwar aus jüdischer Sicht Irrtümer sind, aber die Grundlage ausmachen, „auf welchem das Volk, welches sie heget, das System seiner Sittenlehre und Geselligkeit aufgeführt hat, und sind also zufälligerweise diesem Theile des menschlichen Geschlechts von großer Wichtigkeit geworden“, öffentlich zu kritisieren, hieße, „ohne das Gebäude zu unterstützen, den Grund durchwühlen, um zu untersuchen, ob er fest und sicher ist“ (Mendelssohn 1971a, 13f.). Ein aufgeklärter Mensch würde sich gerade daher in seiner Kritik äußerst zurücknehmen, „um nicht ein ihm verdächtiges Principium der Sittlichkeit umzustossen, bevor seine Nebenmenschen das Wahre angenommen, das er an die Stelle setzen will“ (Mendelssohn 1971a, 14). Ob Lavater diese feine Kritik seines Vorgehens wahrgenommen hat? Für Mendelssohn verbietet es sich geradezu, gegen „Nationalvorurteil und irrige Religionsmeinungen“ seiner Mitbürger Stellung zu beziehen, „wenn diese Irrtümer weder die natürliche Religion noch das natürliche Gesetz zugrunde richten und vielmehr zufälligerweise mit der Beförderung des Guten verknüpft sind“ (Mendelssohn 1971a, 14). Konsequenterweise müsse solch ein Vorurteil „einem jeden Freunde der Tugend beynahe heilig seyn“ (Mendelssohn 1971a, 14), solange von der breiten Masse der Irrtum nicht erkannt und die

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Wahrheit nicht erfasst worden ist. Zudem müsse man umso bescheidener sein, „wenn die Nation, welche nach unserer Meinung dergleichen Irrthümer heget, sich übrigens durch Tugend und Weisheit verehrenswerth gemacht hat und eine Menge großer Männer unter sich zählet, die Wohlthäter des menschlichen Geschlechts genennet zu werden verdienen“ (Mendelssohn 1971a, 14). Somit stellt Mendelssohn klar, warum er die theologische Auseinandersetzung mit Lavater vermeiden und nicht gegen die christliche Religion polemisieren will. Hierbei sind es nicht nur taktische Erwägungen, die ihn von einer direkten Auseinandersetzung abhalten. Lavater weiß sehr wohl, dass die jeweilige Wahrheit, an der das Herz hängt, sich der Diskussion entzieht, gleichwohl ist Mendelssohn bereit, „in öffentlichen Schriften [...] von denen Wahrheiten zu sprechen, die allen Religionen gleich wichtig sein müssen“ (Mendelssohn 1971a, 10). Für ihn sind zwar viele christliche Glaubenssätze mit der Vernunft nicht vereinbar, wie Mendelssohn andeutet. Auch hält er die Annahme einer Messianität Jesu für grundverkehrt, räumt jedoch eine „Hochachtung für den moralischen Charakter des Stifters“ des Christentums ein“ (Mendelssohn 1971a, 10). Auch hält er das Judentum aufgrund des – intoleranten – christlichen Missionsauftrags dem Christentum moralisch überlegen. „Niemals, so ruft Mendelssohn aus, „hat mir mein Herz heimlich zugerufen: Schade für die schöne Seele! Wer da glaubet, daß außerhalb seiner Kirche keine Seligkeit zu finden sei, dem müssen dergleichen Seufzer gar oft in der Brust aufsteigen“ (Mendelssohn 1971a, 13). Aber sein politischer Instinkt und nicht zuletzt sein Toleranzverständnis gebieten ihm, diese Schwächen und Irrtümer dem Christentum nachzusehen, weil sie – so Mendelssohn – trotz allem zur Beförderung des Guten dienlich sind. Auf die gesellschaftliche Situation der Juden bezogen, erklärt Mendelssohn, dass sich seine Glaubensgenossen „Freiheyten, die jedem anderen Menschenkinde nachgelassen werden, versagen“ und zufrieden sind, „wenn sie geduldet und geschützt werden“ (Mendelssohn 1971a, 15). An Lavater gewandt, stellt Mendelssohn fest: „Ist es doch nach den Gesetzen Ihrer Vaterstadt, Ihrem beschnittenen Freunde nicht einmal vergönnt, Sie in Zürich zu besuchen?“ (Mendelssohn 1971a, 15). Von daher sei es nur zu verständlich, dass von den Juden allein schon aus Erkenntlichkeit gegenüber der herrschenden Nation, die den Juden einen gewissen Schutz garantiere, nicht zu erwarten sei, „ihre Beschützer von der Seite anzufallen, die tugendhaften Menschen die empfindlichste seyn muß“ (Mendelssohn 1971a, 15). Mendelssohn kann es sich jedoch nicht versagen, im letzten Teil des Briefes doch noch kurz auf Bonnets Beweise einzugehen, die für ihn unübersehbare Schwächen haben. Als eine Schrift zur Verteidigung der christlichen Religion erkennt er in den angeblichen Beweisen nur einen geringeren Wert und deutet an, dass „die mehresten philosophischen Hypothesen dieses Schriftstellers auf deutschem Grund und Boden gewachsen“ (Mendelssohn 1971a, 16) sind. Zudem erscheinen ihm Bonnets Ausführungen so oberflächlich und allgemeingültig, „daß ich mich

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770

getrauen wollte, welche Religion man will, mit denselben Gründen zu verteidigen“ (Mendelssohn 1971a, 16). Mendelssohn nimmt sich nun Lavater mit deutlichen Worten vor: „Aber auf Sie, mein Herr! fällt billig meine Verwunderung, daß Sie diese Schrift für hinlänglich halten“, und fährt kurz danach fort: „glauben Sie dennoch, daß ein Sokrates selbst die Beweisgründe des Hr. Bonnet unwiderleglich finden müsse, so ist einer von uns sicherlich ein merkwürdiges Beispiel von der Gewalt der Vorurteile und der Erziehung, selbst über solche, die mit aufrichtigem Herzen die Wahrheit suchen“ (Mendelssohn 1971a, 16). Mendelssohn schließt den Brief an Lavater mit dem Wunsch, dass er aus den dargelegten Gründen nicht mehr dazu gedrängt werde, zu Religionssachen allgemein und zu Bonnets Schrift im speziellen Stellung zu nehmen, und hofft, „daß Sie mich dieses unangenehmen Schrittes überheben und lieber zugeben werden, daß ich in die friedsame Lage zurückkehre, die mir so natürlich ist“ (Mendelssohn 1971a, 17). Ansonsten, so gibt er Lavater unumwunden zu verstehen, möchte er nicht gerne in Versuchung kommen; „aus den Schranken zu treten, die ich mir mit so gutem Vorbedacht selbst gesetzt habe“ (Mendelssohn 1971a, 17).

7.

Die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse 1770 und die Anstöße für einen christlich-jüdischen Dialog heute

Die Ausgangsfrage, ob die Lavater-Mendelssohn-Kontroverse als Beginn eines christlich-jüdischen Gesprächs gewertet werden kann, ist im Sinne von Gershom Scholem wohl deutlich zu verneinen. Lavater lag es nicht an einem echten Austausch mit der Absicht einer gegenseitigen Verständigung. Auch wenn Lavater sich in späteren Schreiben an Mendelssohn für sein Vorgehen entschuldigte, hatte er seine Bekehrungsabsichten weder aufgegeben noch sich gar auf das Toleranzverständnis Mendelssohns einlassen können. Aus der Sicht des missionarischen Eiferers Lavater muss Toleranz als Gleichgültigkeit, Relativismus und Schwäche auch gerade gegenüber dem eigenen Anliegen angesehen werden. Anders bei Mendelssohn: Sein Eintreten für Toleranz gerade auch angesichts der Wahrheitsfrage zeigt, dass Toleranz nicht unbedingt Indifferenz zur Folge haben muss. Im Gegenteil: Für Mendelssohn verbindet sich im Begriff Toleranz ein größtmögliches Maß an Selbstvergewisserung mit einer großen Bereitschaft, Andersgläubige in ihrem Anderssein zu akzeptieren. Und hier lässt sich auch die Grenze von Toleranz bestimmen: Sie liegt dort, wo die Grundlagen der Humanität angetastet werden. Andererseits ist Julius H. Schoeps positive Bewertung der Kontroverse zuzustimmen, wenn auch allein der Position Mendelssohns die positiven Ansätze für ein ausgleichendes Gespräch zwischen Juden und Christen zuzuschreiben sind. In der Zeit der Aufklärung wird zum ersten Mal die Frage nach der Pluralität der über-

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lieferten Religionen und ihrem jeweiligen Anteil an der Wahrheit ernsthaft zum Problem. Aus der Sicht Mendelssohns werden in den Angehörigen einer anderen Religion nicht mehr die von der Wahrheit Abgeirrten gesehen. Es wird prinzipiell für möglich gehalten, dass neben der eigenen auch die anderen Religionen „ein Stück Wahrheit repräsentieren“ (Schoeps 1961, 116) könnten. In diesem Zusammenhang bedeutet Toleranz für Mendelssohn den Verzicht auf den Versuch, den Andersgläubigen zu bekehren, und gleichzeitig das Zugeständnis, dass die Gottesfürchtigen und Gerechten aus allen Völkern Anteil an einer zukünftigen Welt haben werden. Neu in dieser Fassung der Toleranz ist die Tendenz zu einem „erst durch die Aufklärung möglich gewordenen ethisch-religiösen Universalismus“ (Schoeps 1961, 123). Die Bezüge zwischen Mendelssohn und Lessings Toleranzbegriff, wie er in der Ringparabel formuliert wird, sind unverkennbar. Mendelssohn definiert das Judentum als eine Religion striktester Toleranz, die auch für alle anderen Menschen Wege zur zeitlichen und ewigen Seligkeit anerkennt, sofern sich diese Wege nach dem Naturgesetz und der Religion der Patriarchen ausrichten. Seine Toleranz ruht weder auf einer religiösen Indifferenz noch auf der Annahme, dass Judentum und Christentum gemeinsame Wurzeln haben. Der wahre Grund seiner Philosophie der Toleranz ist „sein tiefer Glaube an die gemeinsame Menschlichkeit aller Menschen“ (Katz 1979, 12). Diese Toleranz musste sich zwar in einer christlichen Gesellschaft im Kontakt mit Christen bewähren „aber die Tatsache, daß es Christen waren, war nur zufällig – sie war nicht Grund seiner Toleranz“ (Katz 1979, 12). Diese Position des Judentums hat sich im Grunde bis zum gegenwärtigen Dialog von Juden und Christen nicht verändert. Der Heilsanspruch des Christentums ist für das Judentum solange kein Problem, solange das Christentum nicht die Heilszusagen Gottes für sich allein okkupiert. Aber selbst wenn das Christentum sich dazu bekennt, dass es durch den Glauben an Jesus Christus zum Bund Israels mit Gott hinzugenommen und damit die besondere Erwählung Israels nicht bestreitet, ist es aus christlicher Sicht problematisch, dass das Judentum diese besondere Qualität Jesus Christus als dem Messias der Völker nicht zuspricht. Anders formuliert: Wenigstens in der Konsequenz der Aussagen Mendelssohns scheint es so zu sein, dass für das Heil der „Heiden“ der Glaube an Jesus Christus keine zwingende Notwendigkeit besitzt. Hier besteht zumindest aus christlicher Sicht ein Dialogbedarf – ein Dialog, der allerdings dadurch seine Stärke gewinnt, dass aus der jeweiligen Position heraus dem anderen die Heilsgewissheit positiv zugesprochen wird.

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Literaturverzeichnis Altmann, A. 1979, „Zum Titelbild: Mendelssohn, Lavater und Lessing“, in: Lessing 79. Mitteilungen aus dem Lessingjahr 1979, hg. M. Lichtwitz, P. Raabe, Herzog AugustBibliothek, Wolfenbüttel 1979, S. 11. Engel, E. J. 1994, „Lessing, Mendelssohn, Friedrich II. Das Jahr 1771“, in: Moses Mendelssohn in Potsdam am 30. September 1771, hg. J. Schoeps, H. Simon, Berlin, S. 47–84. Katz, J. 1979, „Aufklärung und Toleranz“, in: Toleranz heute, 250 Jahre nach Mendelssohn und Lessing, hg. Peter von der Osten-Sacken, Deutscher Evangelischer Kirchentag, Berlin. Mendelssohn, M. 1971a, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. VII, Stuttgart. Mendelssohn, M. 1971b, Gesammelte Schriften. Jubiläumsausgabe. Bd. IV, Stuttgart. Meyer, M. 1994, Von Moses Mendelssohn zu Leopold Zunz. Jüdische Identitäten in Deutschland 1749–1824, München. Schoeps, J. H. 1989, Moses Mendelssohn, Frankfurt am Main. Schoeps, J. H. 1961, Israel und die Christenheit. Jüdisch-christliches Religionsgespräch in 19 Jahrhunderten, München–Frankfurt am Main. Scholem, G. 1987, „Wider den Mythos vom deutsch-jüdischen ‚Gespräch‘“, in: Ders., Judaica 2, Frankfurt am Main. Weigelt, H. 1991, Lavater. Leben, Werk und Wirkung, Göttingen.

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Politik der Versöhnung: Ernst Troeltsch und die Begründung der Weimarer Demokratie1

1. „Das alte System ist dahin wie nach der Schlacht von Jena“ schrieb Ernst Troeltsch am 14. Oktober 1918 seiner ehemaligen Studentin, der Baronesse Gertrud von Le Fort; deswegen wird „eine starke Umbesinnung u[nd] ein völliger Neubau […] nötig sein“ (Troeltsch 2018, 497).

Am 3. Oktober war der als liberal geltende Prinz Max von Baden Reichskanzler geworden. Ihm oblag es, auf Antrag der bis zu diesem Datum fast diktatorisch regierenden Dritten Obersten Heeresleitung mit den Alliierten einen Waffenstillstand auszuhandeln, nachdem die deutsche Front im August 1918 zusammengebrochen war. Ihm oblag es aber auch und vor allem, die längst überfälligen innenpolitischen Reformen des Deutschen Reichs durchzuführen, die bis zum Herbst 1918 von der Heeresleitung verhindert worden waren: die Demokratisierung des preußischen Wahlrechts, die Parlamentarisierung der Reichsregierung sowie die Einbeziehung der Sozialdemokraten in die politische Regierungsverantwortung. An der Konzeption dieser Reformen war Ernst Troeltsch maßgeblich beteiligt. Der ehemalige Professor der Systematischen Theologie an der badischen Karl-RuprechtUniversität zu Heidelberg gehörte seit Jahren zu den engeren Beratern des Prinzen Max von Baden. Die fast denkschriftartigen Briefe von Troeltsch, der seit 1915 an der Berliner Friedrich-Wilhelm-Universität Philosophie lehrte und bis in die Regierungskreise hinein bestens vernetzt war, informierten den Prinzen über die politischen Entwicklungen in der Hauptstadt. Spätestens seit 1917 mahnten sie aber auch die unumgänglichen demokratischen Reformen des Reiches an, in denen 1 Leicht überarbeiteter und verkürzter Text eines in der Theologischen Fakultät der Friedrich-SchillerUniversität zu Jena im November 2019 auf Einladung von Miriam Rose und Martin Leiner gehaltenen Vortrages. Seither erschienene Literatur konnte nicht eingearbeitet werden. Es sei aber auf zwei für das Thema des Aufsatzes wichtige Neuerscheinungen ausdrücklich hingewiesen: Robert E. Norton, The Crucible of German Democracy. Ernst Troeltsch and the First World War (Beiträge zur historischen Theologie 197), Tübingen, 2021; Friedrich Wilhelm Graf, Ernst Troeltsch. Theologe im Welthorizont, München, 2022. Letzteres Werk enthält wichtige zusätzliche Informationen über das politische Engagment von Troeltsch im Ersten Weltkrieg sowie in den ersten Jahren der Weimarer Republik. Die Vortragsform ist weitgehend beibehalten worden.

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Troeltsch nicht ohne Opportunismus die einzige Möglichkeit sah, mit den Alliierten erfolgreich verhandeln zu können (Troeltsch 2018, 325f.).2 Max von Baden blieb aber nicht genug Zeit, diese Reformen durchzuführen. Am 9. November dankte auf sein Drängen hin der Kaiser ab und fuhr ins Exil, während der Sozialdemokrat Philipp Scheidemann vom Reichstagsgebäude aus die „Deutsche Republik“ ausrief, woraufhin Max von Baden die Regierungsverantwortung in die Hände des Sozialdemokraten Friedrich Ebert abgab, der 1919 zum ersten Reichspräsidenten gewählt werden wird. Am 14. Oktober 1918 waren allerdings diese Ereignisse noch nicht vorhersehbar. Für Troeltsch wie für seine Mitstreiter stand zu diesem Zeitpunkt die Abschaffung der Monarchie gar nicht zur Debatte. Was sie vorhatten, war der Übergang zu einer Form von konstitutionell-parlamentarischer Monarchie nach englischem Vorbild. Insofern war der Hinweis auf Jena auch eine Anspielung auf die durch die Doppelniederlage von Jena und Auerstedt notwendig und möglich gewordenen preußischen Reformen (Troeltsch 2015, 141; Troeltsch 1916a, 39). Sowohl vor als auch nach dem 9. November 1918 stellte Troeltsch die wiederum durch eine militärische Niederlage notwendig und möglich gewordenen demokratischen Reformen des Deutschen Reiches in die Tradition der preußischen Reformen, d. h. in die Tradition eines spezifisch deutschen Liberalismus, der auch mit dem Namen Schleiermachers verbunden ist.

2. Damit sind wir schon im Zentrum unseres Themas: „Ernst Troeltsch und die Begründung der Weimarer Demokratie. Es heißt mit Bedacht nicht: „Ernst Troeltsch und die Gründung der Weimarer Republik“, auch wenn sich im Falle von Ernst Troeltsch die systematische Frage nach der Begründung der Weimarer Demokratie nicht ganz von der historischen Frage nach der Gründung der Weimarer Republik trennen lässt. Ohne zu übertreiben kann man nämlich behaupten, dass in Deutschland kein anderer evangelischer Theologe in den Jahren 1917 bis 1922 eine so herausragende politische Rolle zugunsten der Demokratie gespielt hat wie Ernst Troeltsch. Einleitend muss einiges über die Rolle Troeltschs in den letzten Jahren des Ersten Weltkrieges und in der Gründungsphase der Weimarer Republik erwähnt werden,

2  Zur Haltung Troeltschs zur Demokratie in diesen Briefen, vgl. insbesondere folgende Sätze: „Ich habe hier persönlich keine Neigungen und Theorien, ich habe hier nur eine nüchterne sachliche Rechnung“ (Troeltsch 2018, 325). „Wäre unsere militärische Lage besser, d. h. zur Entscheidung befähigter, so wäre all das nicht nötig. Aber so ist die Benützung der Parole des demokratischen Friedens als Brücke zum Frieden m. E. das einzig Mögliche.“ (Troeltsch 2018, 327).

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jedoch mit einem doppelten Vorbehalt: Zum einen ist der Verfasser kein historischer Fachmann. Zum anderen sind gerade für diese letzten Lebensjahre von Troeltsch (er starb kurz vor seinem 58. Geburtstag am 1. Februar 1923) wichtige Quellen noch nicht in der Kritischen Gesamtausgabe erschienen. Dazu zählen die Briefe ab dem 9. November 1918 sowie die amtlichen Schreiben, aber auch die Kriegspublizistik.3 Diese Veröffentlichungslücken sind gravierend und mahnen bei der Deutung des politischen Wirkens von Troeltsch zur Vorsicht. Das heißt aber nicht, dass wir gar nichts wüssten oder wissen können (vgl. Ruddies 1984; Drescher 1991; Ruddies 2000; Hübinger 2000). In den ersten Kriegsmonaten hatte sich Troeltsch, damals noch in Heidelberg, an der gelehrten Kriegsdeutung mit einer Reihe von patriotischen Reden und Aufsätzen beteiligt. Entgegen einer verbreiteten Meinung lassen sich in diesen Texten die Grundzüge seiner späteren Kriegspublizistik schon deutlich erkennen (vgl. Tétaz 2014). Einerseits sieht Troeltsch in dem Krieg nüchtern einen imperialistischen Konflikt um Wirtschaftsressourcen; andererseits erkennt er, dass zum Zweck der inneren Mobilmachung die neue Wirklichkeit des Volkskrieges dem Konflikt unvermeidlich die Züge eines Kulturkrieges verleihen muss. Das macht es notwendig, die Eigenart der deutschen Kultur in ihrem Unterschied zur westlichen Kultur herauszuarbeiten. Durch seine kulturhistorischen Arbeiten zum Protestantismus und zur Aufklärung war Troeltsch hierfür natürlich besonders befähigt. Eine Pointe schon dieser frühen Kriegstexte wird man in der kulturhistorisch begründeten Ablehnung eines Annexionskrieges sehen: die kulturelle Andersartigkeit der europäischen Völker verurteilt jegliche Annexionspolitik von vornherein zum Scheitern. Die einzige Perspektive für eine zukünftige europäische Ordnung besteht in einer gegenseitigen Anerkennung der Differenzen und einer Form von internationaler Zusammenarbeit, die diese Differenzen respektiert. Die ethische Legitimität des Krieges beruht auf dem Willen zur kulturellen Selbstbehauptung Deutschlands, sie darf nicht mit dem Versuch, andere Völker zu unterwerfen, verspielt werden. Das heißt aber nicht, dass Troeltsch jegliche Annexion oder wirtschaftliche Ausbeutung grundsätzlich ausgeschlossen hätte. Er war im Gegenteil durchaus einer Politik zugeneigt, die darauf abzielte, Deutschland ein „Übergewicht auf dem Kontinent“ zu verschaffen, und konnte sich vorstellen, in diesem Rahmen einen Teil von Belgien sowie die Bergbaugebiete im Norden Frankreichs unter deutsche Verwaltung zu stellen (Brief an Hermann Schumacher, 22.09.1917, in Troeltsch

3 Nach Fertigstellung der Druckfassung ist der letzte Band der Briefe Troeltschs (Briefe V [1918–1923], KGA 22, Berlin-Boston 2020) erschienen. Der Band enthält u. a. wichtige Materialien zur Tätigkeit von Troeltsch als parlamentarischem Unterstaatssekretär (dann: Staatssekretär), aber auch zu den politischen Ereignissen, den Lebensumständen der Familie Troeltsch und nicht zuletzt zu Troeltschs Verhältnis zu Max Weber.

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2018, 359–363). Auch die Mitteleuropapläne seines Freundes Friedrich Naumann unterstützte er (vgl. Ruddies 1993). Darin wird man allerdings kaum eine Position erblicken dürfen, die Troeltsch in den folgenden Jahren grundsätzlich revidiert hätte. Noch Ende November oder Anfang Dezember 1918 in seiner Rede „Demokratie“ vor dem „Demokratischen Studentenbund“ in Berlin wird Troeltsch den durch die militärische Niederlage erzwungenen Verzicht auf eine „weltpolitische Machtstellung“ Deutschlands sowie auf eine „selbständige Sicherung von Absatzund Rohstoffgebieten“ bedauern (Troeltsch 2002, 216). Solche dauerhaften Ambivalenzen sind für die Position Troeltschs charakteristisch und dürfen nicht durch eine vorschnelle Periodisierung weggedeutet werden. Troeltsch zog im Frühjahr 1915 nach Berlin und bezog eine standesgemäße 350 Quadratmeter große Wohnung am Reichskanzlerplatz im Berliner Westend, dem heutigen Theodor-Heuss-Platz. Rasch gewann er Beziehungen in die einflussreichen Kommunikationsnetze aus Politik, Wissenschaft und Wirtschaft. Er beteiligte sich aktiv an einer Vielzahl von Abendgesellschaften und Intellektuellenvereinen. Diese erfolgreiche Vernetzung wurde noch durch die Rolle Troeltschs als gefragten Festredner unterstützt. Alle diese Kreise waren im liberal-konservativen Spektrum angesiedelt (Hübinger 2002, 5f.). Sie unterstützten die moderate Politik des Reichskanzlers von Bethmann Hollweg und machten Front gegen die annexionistische Politik der „Alldeutschen“, die nach einem „Siegfrieden“ weitgehende Annexionen von „Brest bis Brest-Litovsk“ verlangten (Müller 2009). Troeltsch wurde so zu einem der bestinformierten Gelehrtenpolitiker der Reichshauptstadt. Aber auch publizistisch war Troeltsch sehr aktiv. Für die linksliberale Neue Rundschau schrieb er eine Vielzahl von weit beachteten und großzügig honorierten Beiträgen. Darüber hinaus beteiligte er sich an verschiedenen mehr oder weniger offiziellen Veröffentlichungen, die dem Ziel dienten, vor allem im neutralen Ausland (und bis zum 6. April 1917 gehörten ja auch noch die USA dazu) die Wahrnehmung Deutschlands und der deutschen Kultur positiv zu beeinflussen. Dadurch unterhielt Troeltsch enge Beziehungen zu hohen Ministerialbeamten sowie zu Parteipolitikern und Gewerkschaftlern (Graf 2018, 8–16). Diese dichte Vernetzung erklärt die zunehmend wichtiger werdende Rolle, die Troeltsch ab 1917, dem Entscheidungsjahr des Ersten Weltkrieges, politisch spielte. In der „Deutschen Vaterlandspartei“ versammelten sich im September 1917 die „Verfechter des Siegfriedens und die Annexionisten“ (Hübinger 2002, 5) unter der Leitung des Großadmirals Tirpitz (der Erfinder des unbeschränkten UBoot-Krieges) und des hohen Beamten Wolfgang Kapp (der spätere Putschist). Gegen diese Massenbewegung wurde der „Volksbund für Freiheit und Vaterland“ gegründet, eine überparteiliche Sammelbewegung von Gewerkschaftsvertretern, Publizisten und Gelehrtenpolitikern, die für einen Verständigungsfrieden mit den Alliierten und für innenpolitische Reformen (Demokratisierung, Parlamentarisierung, Einbeziehung der Sozialdemokratie) eintrat. Bei dessen Gründung spielte

Politik der Versöhnung: Ernst Troeltsch und die Begründung der Weimarer Demokratie

Troeltsch eine maßgebliche Rolle. Ihm oblag es, die neue Bewegung in der Presse vorzustellen; ihm wurde auch bei der Gründungsversammlung die Grundsatzrede anvertraut, in der er „den inneren Zusammenhang der politischen Forderungen“ darstellte (Troeltsch 1918a). In diesem überaus wichtigen Text findet sich schon in Grundzügen das politische Programm der „Weimarer Koalition“ aus Sozialdemokraten, Zentrum-Politikern und Linksliberalen wieder, die ab Januar 1919 die Weimarer Verfassung konzipieren sollten (vgl. insgesamt Sösemann 1984). Damit hatte Troeltsch schon 1917 öffentlich für die Demokratisierung des Reichs Stellung bezogen. Eine Woche nach der Proklamation der Republik gründete er dann zusammen mit Walter Rathenau einen „Demokratischen Volksbund“, dessen Programm „ein Grundrecht auf Arbeit und Bildung, Begrenzung von Vermögen, Einkommen und Erbschaft, staatliche Regie in bestehenden Syndikaten und die Verstaatlichung geeigneter Betriebe“ vorsah (vgl. Rede in der Versammlung zur Schaffung eines Demokratischen Volksbundes [16.11.1918] in Rathenau 1986, 385–391). Dieses Programm trug deutlich die „Handschrift von Walter Rathenau“. Erst Ende November 1918 entschieden sich Troeltsch und Rathenau für den Beitritt zur Deutschen Demokratischen Partei, die etwa zwei Wochen zuvor unter Federführung von Theodor Wolff, dem Chefredakteur des Berliner Tagblattes, und von Alfred Weber, dem Bruder von Max Weber, gegründet worden war (vgl. Hübinger 2002, 6f.). Bei den Wahlen zur Preußischen Nationalversammlung im Januar 1919 wurde Troeltsch für die DDP zum Spitzenkandidaten gekürt und beteiligte sich aktiv an zahlreichen Wahlkampfveranstaltungen. Anschließend bekleidete er vom 26. März 1919 bis zum 21. April 1921 das Amt eines Parlamentarischen Unterstaatsekretärs (ab März 1920 mit der Amtsbezeichnung „parlamentarischer Staatssekretär“) im preußischen Kultusministerium.4 In dieser Eigenschaft war er insbesondere mit der Neuregelung des Staatskirchenrechtes befasst, die durch den Wegfall des königlichen Summepiskopats und des landesherrlichen Kirchenregimentes nötig geworden war (Wright 1984). Das innerparteiliche Engagement von Troeltsch war hingegen eher mäßig; lediglich ein einziges Mal trat er in der Parteiöffentlichkeit auf: Bei dem außerordentlichen Programmparteitag vom 14. bis zum 15. Dezember 1919 in Leipzig hielt er die mit großem Beifall begrüßte Grundsatzrede zur Kulturpolitik (Troeltsch 2002, 301–354; vgl. Hübinger 2002, 11–16). Die wohl wichtigste Rolle Troeltschs in der Gründungsphase der Weimarer Republik war seine Tätigkeit als kritischer Kommentator der politischen Ereignisse in den sogenannten „Spectator-Briefen“, einer Reihe von 56 Chroniken, die Troeltsch von November 1918 bis November 1922, zuerst unter dem Pseudonym Spectator, in der reformbürgerlichen Zeitschrift Der Kunstwart veröffentlichte (Troeltsch

4 Das präzise Datum des Rücktrittes von Troeltsch nach der Einleitung von Graf zu KGA 22, S. 11.

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2015). Der Kunstwart, mit dem Dürerbund eng verbunden, wurde vom Poeten Ferdinand Avenarius herausgebracht und vom gemäßigten Sozialdemokraten Wolfgang Schumann redigiert. Mit einer Auflage von über 10.000 Exemplaren gewährte die Zeitschrift den kritischen Analysen Troeltschs eine starke Wahrnehmung bei genau dem bürgerlichen Publikum, das Troeltsch für eine aktive Unterstützung der Demokratie gewinnen wollte (vom Bruch 2003; Hübinger 2015).

3. Damit sind wir über die Rolle Troeltschs in der Gründungsphase der Weimarer Republik bei der Frage nach seinem Beitrag zur Begründung der Weimarer Demokratie angelangt. Im Dezember 1918 (der Text wurde wohl schon Mitte November verfasst) stellte Troeltsch in einem „Das Ende des Militarismus“ betitelten Aufsatz fest: Es gibt eine Rettung nur durch die Grundsätze der reinen Demokratie, nachdem eine Reform und Fortbildung des bestehenden Rechtes und der Institutionen zuerst von der herrschenden Klasse verweigert und dann von der Revolution unmöglich gemacht worden ist. Nur das Majoritätsprinzip der reinen Demokratie kann uns mit Hilfe einer Nationalversammlung, die uns erst den Überblick über die wirkliche Kräfteverteilung gibt und neben der Diktatur des Proletariats die übrigen Gruppen wieder zum Vorschein bringt, wieder aus dem Provisorium und aus der Gefahr des Chaos retten (Troeltsch 1918b, 176).

Diese Festlegung drückt den Grundtenor der Stellungnahmen Troeltschs zur Demokratie aus: In der Lage, in der sich das Deutsche Reich im Spätherbst 1918 befindet, ist die Demokratie alternativlos. Insofern erübrigt sich die Diskussion über ihre Vor- und Nachteile. Das heißt aber nicht, dass Troeltsch die Demokratie nur als ein notwendiges Übel verteidigt hätte. Im Unterschied zu seinem Freund Friedrich Meinecke war Troeltsch kein bloßer Vernunftrepublikaner, sondern ein überzeugter Verteidiger der Demokratie und der Republik: In einem Resolutionsentwurf für die Berliner Universität sprach Troeltsch ausdrücklich von einem „Gutheißen“ der Revolution, was den Widerspruch von Meinecke hervorrief. Gangolf Hübinger, der wohl beste Kenner der Geschichte der Intellektuellen in Deutschland, hat für die politischen Intentionen Troeltschs die Formel „Gebildeten-Republikanismus“ vorgeschlagen (Hübinger 2015, 25). Sie trifft in der Tat den Kern der Position Troeltschs. Die Leser von Troeltschs Kriegspublizistik dürften trotzdem überrascht gewesen sein. Denn in den Kriegsjahren hatte Troeltsch in einer Reihe von Stellungnahmen

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den deutsch-preußischen Militarismus als eine historische Notwendigkeit in Schutz genommen und darin einen spezifischen Zug des deutschen Staatsgedankens gesehen. In seinem oft zitierten Essay Die deutsche Idee von der Freiheit hatte er darüber hinaus die Verfassungsordnung des bismarckschen Reiches vehement verteidigt als „eine der großen Lösungen des politischen Organisationsproblems überhaupt, in der die persönliche Freiheit und Selbständigkeit des einzelnen und die Mitwirkung an der Bildung des Regierungswillens ehrlich und aufrichtig zur Geltung kommen kann“ (Troeltsch 1916a, 28). Diese dezidierte Stellungnahme ist keine der propagandistischen Zielrichtung des Textes geschuldete Entgleisung; sie entspricht vielmehr Troeltschs tiefer Überzeugung von der Notwendigkeit, Demokratie und Konservatismus in Einklang zu bringen. Diese Überzeugung hatte Troeltsch schon 1904 vor dem Evangelisch-Sozialen Kongress in seinem Vortrag Politische Ethik und Christentum zum Ausdruck gebracht: „Das politisch-ethische Ideal selbst aber fordert die Vereinigung des liberal-demokratischen und des konservativen Gedankens. Und dieses Ideal wird länger dauern als die Parteien. Auf ihm wird Gesundheit und Versöhnung beruhen“ (Troeltsch 1904, 179; vgl. Drescher 1986). Wie diese Versöhnung in jedem konkreten Fall auszusehen hat, läßt sich nicht theoretisch am Reißbrett entwerfen. Oder, in den Formulierungen des Vortrages zur deutschen Idee von der Freiheit: Es ist „keine wissenschaftlich notwendige Vernunftwahrheit“; es handelt sich vielmehr um eine „Folge der ökonomisch-sozialen Entwickelung“ (Troeltsch 1916a, 22). Deswegen lassen sich die verschiedenen institutionellen Lösungen nur historisch verstehen und historisch beurteilen. In dieser Perspektive erscheint Troeltsch die politische Organisation des Deutschen Reiches als das Ergebnis einer spezifisch deutschen Geschichte. Die dabei wirksamen Faktoren fasst er in drei Grundzügen zusammen: die „Zurückgebliebenheit unserer politischen Entwicklung und Erziehung hinter dem Westen“, die historischen und geographischen Zwänge und schließlich eine andere Auffassung der Freiheitsidee, für die Troeltsch die Kurzformel „Staatsozialismus und Bildungsindividualismus“ vorschlägt (Troeltsch 1916a, 17). Die westlichen Demokratien Englands, Amerikas und Frankreichs erscheinen in dieser Perspektive als drei jeweils anders geartete Versuche, das Problem der Versöhnung von Demokratie und Konservatismus einer der jeweiligen historischen Lage dieser Länder angemessenen institutionellen Lösung zuzuführen. Insbesondere die englische und die amerikanische Demokratie gelten Troeltsch als klassische Beispiele von „konservativer Demokratie“ (Troeltsch 1916a, 34 u. 37). Solange ein institutionelles Arrangement funktional zu sein scheint, gibt es keinen Grund, es durch eine andere Lösung zu ersetzen. Und offenkundig erschien Troeltsch das institutionelle Arrangement des Deutschen Reiches 1915 noch funktional. Darin liegt wohl einer der grundlegenden Unterschiede zu Max Weber, der seit der Jahrhundertwende zu einem immer unerbittlicheren Kritiker des wilhelminischen Reiches wurde (vgl. Mommsen 1974, 147f.). Aber gerade, weil die

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„Maßstäbe zur Beurteilung historischer Dinge“ immer zuerst ihrem „eigenen Wesen und Ideal“ entnommen werden müssen (Troeltsch 2008, 365), stellt der praktische Erweis der Dysfunktionalität eines institutionellen Arrangements das beste Argument gegen dieses Arrangement dar. Und die Ereignisse, die zur Niederlage und zur Revolution von 1918 führten, haben unwiderlegbar bewiesen, dass die Verfassungsstrukturen, die Bismarck dem Deutschen Reich verpasst hatte, in der Krisensituation des Weltkriegs nicht mehr in der Lage waren, die „Aufeinanderstimmung von Regierung und Volkswillen“ zu gewährleisten. Entgegen der Hoffnungen Troeltschs 1915 konnten die „Reste des Klassen- und Standesregiments“ (Troeltsch 1916a, 27) nicht überwunden werden, sondern blockierten jegliche Reformen und ermöglichten so die Quasi-Diktatur der Obersten Heeresleitung. Aufgrund derselben grundsätzlichen Position konnte also Troeltsch 1915 die strukturelle Verfassung des Deutschen Reiches verteidigen und 1918 die Demokratie ohne Einschränkung gutheißen. Dass Troeltschs Verteidigung der schwer unausgewogenen Verfassung des Reiches, die schon unter Bismarck zu regelmäßigen Verfassungskonflikten geführt hatte, politisch reichlich naiv war, und dass Max Weber mit seiner vehementen Kritik im Recht war, ist wohl inzwischen unstrittig (vgl. Mommsen 1990, 39–65 u. 287–315). Die Gründe, weswegen Troeltsch nach der Revolution von November 1918 für die Demokratie eintrat, sind strukturell identisch mit den Gründen, die ihn 1915 zur Verteidigung der Verfassungsstrukturen des Deutschen Reiches motiviert hatten: Die Demokratie ist das unumkehrbare Ergebnis der historischen Entwicklung, und dies in einem doppelten Sinne. Zunächst ist sie „die natürliche Konsequenz der modernen Bevölkerungsdichtigkeit, verbunden mit der zu ihrer Ernährung notwendigen Volksbildung, Industrialisierung, Mobilisierung, Wehrhaftmachung und Politisierung“ (Troeltsch 2002, 211); in einer modernen Massengesellschaft ist die Demokratie die einzige mögliche Organisationsform des Staates. Zum anderen ist aber 1918 die Demokratie das unabwendbare Ergebnis einer spezifisch deutschen Entwicklung: Die sich überstürzenden Ereignisse im November 1918 ließen schlicht keine andere Möglichkeit übrig. „[D]ie kommende deutsche Demokratie [ist] kein Ergebnis der Doktrin, sondern ein Ausdruck der wirklichen gesellschaftlichen, durch Krieg und Niederlage klar aufgedeckten und wirksam gewordenen Sachlage“ (Troeltsch 2002, 219). Kurzum, die Demokratie war nunmehr „eine rein praktische Notwendigkeit geworden“ (Troeltsch 2002, 218). Vor dem Parteitag der DDP in Leipzig stellte Troeltsch im Dezember 1919 rückblickend fest: Deutschland ist endgültig zur Demokratie geworden. Das große Endergebnis der europäischen, politische und soziale Entwicklung bildenden Bewegung der modernen Demokratie, die alle westlichen Staaten ergriffen hat, hat sich nach den ersten verfehlten Versuchen von 1813 und 1848 auch endgültig bei uns durchgesetzt (Troeltsch 2002, 321).

Politik der Versöhnung: Ernst Troeltsch und die Begründung der Weimarer Demokratie

Für die inhaltliche Zustimmung Ernst Troeltschs zur Demokratie war entscheidend, dass eine konservative Demokratie den der neuen Sachlage am besten angepassten Ausgleich zwischen Demokratie und Konservatismus zu gestalten ermöglichte. Das ist der zweite Grundzug in allen Plädoyers Troeltschs zugunsten der Demokratie. In seinen verschiedenen Beiträgen zur Verteidigung der Demokratie betont Troeltsch immer wieder, dass „die deutsche Demokratie ein konservatives Rettungsmittel“ gegen die „Diktatur des Proletariats“ sei bzw. gewesen sei (Troeltsch 2002, 407). Schon im November 1918 hatte Troeltsch in einem Vortrag vor dem „Demokratischen Studentenbund“ in Berlin unterstrichen, dass die Demokratie „das einzige Mittel [sei], die umgekehrte Klassenherrschaft, die Herrschaft des Proletariats, in die Bahnen einer gesunden und gerechten Staatsbildung hineinzuführen und den gesunden Kern eines staatserhaltenden Sozialismus zu retten“ (Troeltsch 2002, 215). Noch in seinem Wahlaufruf zur preußischen Landtagswahl 1921, „Wahlpflicht der Intellektuellen“, betont Troeltsch, dass „ein starkes, sich selbst vertrauendes und erneuerndes, dem Ausland gegenüber verhandlungsfähiges und vertrauenswürdiges, Spartakismus und Bolschewismus überwindendes Deutschland […] praktisch nur auf demokratisch-politischer Basis möglich“ gewesen sei (Troeltsch 2002, 424). Und regelmäßig verwies er zustimmend auf „die größte und gesundeste Demokratie der Welt, Nordamerika“, wo „die Demokratie konservativ und ohne jedes verewigte Revolutionsdogma“ (Troeltsch 2002, 221) sei. Das beweise, dass es „an sich […] sehr wohl eine konservative Demokratie“ geben kann (Troeltsch 2002, 495). Damit vertrat Troeltsch allerdings deutlich eine Minderheitslinie unter den Gründern der DDP. In Troeltschs Konzeption einer deutschen Form von konservativer Demokratie sind drei Punkte hervorzuheben: 1. Ihr erster und wohl grundlegender Zug ist das, was Troeltsch „die demokratische Idee“ nennt: „die Idee der gleichen und gerechten Beteiligung aller Volksgruppen an der Lenkung und Gestaltung des […] Staates“ (Troeltsch 2002, 270). Die demokratische Idee tritt also jeder Form von Klassenherrschaft entgegen, sei es die Herrschaft der alten Aristokratie oder die Diktatur des Proletariats, die der Spartakusaufstand von Januar 1919 zu etablieren versuchte. Ein Grundzug der politischen Publizistik Troeltschs in den frühen Jahren der Weimarer Republik bestand entsprechend darin, immer wieder vor den Gefahren von links und von rechts zu warnen, die die Demokratie bedrohten (Troeltsch 2002, 270). Allerdings war er hellsichtig genug, recht schnell die Gefahren von rechts deutlich höher einzustufen. Der Kapp-Putsch im März 1920 (Troeltsch 2015, 255–264), die Ermordung des Zentrumpolitikers Matthias Erzberger am 26. August 1921 (Troeltsch

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2015, 444–448)5 und des Reichsaußenministers Walter Rathenau am 24. Juni 1922 (Troeltsch 2002, 457–476) gaben ihm auf tragische Weise recht. Die gleichberechtigte Beteiligung aller an der politischen Macht findet ihren Ausdruck darin, dass jede und jeder (die Weimarer Verfassung erkannte zum ersten Mal in Deutschland auch den Frauen das passive und aktive Wahlrecht zu) in gleicher Weise an den „bürgerlichen und staatlichen Rechte[n]“ zu beteiligen und mit demselben Respekt zu behandeln ist. Aufmerksamkeit verdient die Begründung Troeltschs: Die Rechtsgleichheit aller beruhe auf „der gegenseitigen Anerkennung der Möglichkeit eines jeden zur vollen Menschenwürde und zu brauchbarer sozialer Kraft zu erwachsen“ (Troeltsch 2002, 276f.). Durch Teilhabe an der Bildung solle sich jede und jeder zur vollen Humanität bilden können. Es wird wohl kaum übertrieben sein, darin ein Erbe der Romantik zu sehen. 2. Die gleiche Menschenwürde aller, die sich in Rechtsgleichheit und im Anspruch auf gleichen Respekt niederschlägt, ist aber nicht mit einer radikalen ökonomischen Gleichheit zu verwechseln. „Die soziale und ökonomische Gerechtigkeit kann niemals in der Gleichheit, sondern nur in der Verhinderung allzu großer Differenzen und in der Sicherstellung des Existenzminiums und der Arbeitsmöglichkeit gesucht werden“ (Troeltsch 2002, 277). Denn „Gleichheit kann es auf dem Gebiet des Rechtlich-Formalen, aber nicht des Wirtschaftlich-Inhaltlichen geben“ (Troeltsch 2002, 362). Auch wenn die rechtliche Gleichheit keine wirtschaftliche Gleichheit impliziert, „muß die deutsche Demokratie sozialistisch sein“, und zwar aus zwei Gründen: „aus Gründen der wirtschaftlichen Not“, in der Deutschland sich nach dem verlorenen Krieg befindet, aber auch „aus Gründen der sozialen Machtverhältnisse“ (Troeltsch 2002, 358); sie verlangen, die Erwartungen der politisch und gewerkschaftlich organisierten Arbeiterschaft mit in die Rechnung einzubeziehen. Der Sozialismus, den Troeltsch vor Augen hat, ist nicht der marxistische Sozialismus, sondern eine Form von Staatssozialismus. In diesem Sinne bedeutet Sozialismus eine „aus der Vorordnung des Ganzen vor die Einzelnen entspringende Denkweise und Gesellschaftsorganisation“ (Troeltsch 2002, 363). In einem solchen Sozialismus hat der Staat die Verantwortung, eine „soziale Arbeits- und Güterordnung“ zu organisieren, die weder Armut noch Anhäufung unproduktiven Reichtums zulässt. Soziale Unterschiede bleiben zwar bestehen, stehen aber im Dienst des Ganzen (Troeltsch 2002, 365). Diese stark von Walter Rathenau beeinflusste Konzeption (vgl. Die neue Gesellschaft [September 1919] in Rathenau 1986, 278–358) fand eine partielle Verwirklichung im fünften Abschnitt der Weimarer Reichsverfassung, der das „Wirtschaftsleben“ organisiert (Art. 151–165).

5 Im selben Text berichtet Troeltsch, der seinen Urlaub bei seiner Familie in Bayern verbracht hatte, von den Umtrieben im Umkreis der frühen NSDAP.

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3. Diese Absage an eine ökonomisch gedeutete Gleichheit geht mit einem Plädoyer für eine neue Aristokratie einher. Troeltsch ist sich des unvermeidlichen Widerspruchs, der der Demokratie innewohnt, bewusst: Die Gleichheit der Rechte, die gleiche Beteiligung aller „an der Lenkung und Gestaltung des Staates“, stehen in einer inneren Spannung zur Unentbehrlichkeit von Herrschaft. Demokratie muss „Herrschaft sein, und zwar starke Herrschaft“, betont er (Troeltsch 2002, 274). Demokratisch legitimiert kann eine starke Herrschaft jedoch nur sein, wenn die Auslese der Führer und die Ausübung der Herrschaft nach Prinzipien erfolgen, die mit einer demokratischen Ordnung kompatibel sind. Troeltsch plädiert hier für eine republikanische Meritokratie: „[A]n Stelle einer Aristokratie des Standes und der Privilegien hat eine Aristokratie der Leistung und des persönlichen Wertes zu treten“ (Troeltsch 2002, 280). In einer solchen Demokratie sollen die Führer nach Begabung und Verdiensten ausgewählt werden. Und sie üben die Macht nur auf Zeit aus, solange sie das Vertrauen der Wähler genießen. Deswegen ist Herrschaft kein Selbstzweck, sondern „verantwortliches Führertum“. Und dies setzt ein „selbständiges Ideal der Kultur“ voraus, „einen lebendigen Glauben an Zukunft und Schaffenskraft und ein allgemeines nationales Bildungsideal“ (Troeltsch 2002, 281). Fasst man diesen Entwurf einer „konservativen Demokratie“ deutscher Prägung zusammen, so kommt man fast unweigerlich auf die Formel, die Troeltsch 1915 für seine Auffassung der „deutschen Idee von der Freiheit“ vorgeschlagen hatte: „Staatssozialismus und Bildungsindividualismus“. 1915 wie 1920 geht das Staatsverständnis Troeltschs von einer Vorordnung des Staates vor die Individuen aus und lehnt entsprechend eine kontraktualistische Staatsauffassung ab. Und 1915 wie 1920 weist Troeltsch jegliche rein formale Staatstheorie zurück. Jede Staatsform ist „ein Erzeugnis der Geschichte“, heißt es 1915 (Troeltsch 1916a, 56). Das galt für das Kaiserreich von Bismarck und Wilhelm II. Das gilt auch für die Weimarer Republik. Man darf aber diese Auffassung nicht dahingehend missverstehen, als wäre deswegen jegliche kritische Beurteilung ausgeschlossen. Sowohl Troeltschs kritische Rückblicke auf das Kaiserreich als auch seine programmatischen Vorausblicke auf eine noch im Aufbau befindliche Demokratie beweisen, dass eine Kritik für ihn sowohl möglich als auch nötig ist. Aber diese Kritik kann nur in begrenztem Maße auf überhistorische Maßstäbe zurückgreifen.

4. Für Troeltsch ist die Demokratie wie das militärisch-obrigkeitliche Bismarckreich bloß eine „politische Lebensform“ (Troeltsch 2002, 221; 273; 334). Jede politische Lebensform hat ihre spezifischen Vor- und Nachteile, weswegen Troeltsch sie einmal mit Stiefeln verglich, die immer irgendwo drücken (Troeltsch 2002, 334). Die politische Kunst besteht darin, durch geschickte institutionelle Lösungen diese

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Nachteile so gut es geht zu korrigieren, ohne ihre Vorteile dabei zu verspielen. Das ist eine der Grundfunktionen von Verfassungen. Politische Lebensformen haben aber nur eine begrenzte Reichweite, sie regeln das politische Zusammenwirken in einer Gesellschaft, dürfen aber nicht den Anspruch erheben, das gesamte soziale und individuelle Leben zu bestimmen. In seiner programmatischen Grundsatzrede zur Kulturpolitik tritt Troeltsch daher dezidiert für eine beschränkte Kompetenz des Staates in Kulturfragen ein. Damit stellt er sich in die Tradition des Liberalismus eines Wilhelm von Humboldt und dessen Versuches, „die Grenzen der Wirksamkeit des Staates zu bestimmen“ (Humboldt 2015). Eine politische Lebensform basiert auf ideellen Ressourcen, die sie selbst nicht produzieren kann, sondern aus der Geschichte gewinnen muss, um sie nach ihren Bedürfnissen umzubilden. Deswegen verlangt die Demokratie wie jede politische Lebensform nach einer ihr entsprechenden „geistigen Einstellung auf Staat und Gesellschaft“, nach einer „geistigen Zusammenfassung und Durchbildung“ (Troeltsch 2002, 216; 334). In seinem schon mehrmals erwähnten Vortrag vor dem „Demokratischen Studentenbund“ im November 1918 formuliert Troeltsch diesen Sachverhalt so: Überall muß sich aus dem Wesen der Sache heraus eine Idee der Gemeinschaft und Einheit wie eine Idee der persönlichen Würde und Verantwortung bilden, und diese Ideen werden stets den Zusammenhang mit dem jeweils das ganze beherrschenden kulturellen Gesamtgeist suchen und finden (Troeltsch 2002, 221).

1. Die gegenwärtige Kultursynthese hat zum Ziel, in der Vergangenheit die Sinnquellen zu identifizieren, die fähig sind, das Handeln der Gegenwart auf die Zukunftsgestaltung hin auszurichten. Sie hat also eine praktische Zielrichtung. Das Handeln, um das es ihr geht, ist in erster Linie das soziale Handeln. Die gegenwärtige Kultursynthese soll der Demokratie eine werttheoretische Begründung zur Verfügung stellen, die der deutschen Demokratie im Horizont der europäischen Kulturgeschichte ihren Ort bestimmt und so vor allem im Bildungsbürgertum zu ihrer Akzeptanz beiträgt. Troeltschs späte Geschichtsphilosophie bildet also die theoretische Grundlage seiner tagespolitischen Tätigkeit als Fürsprecher der Demokratie, als kulturpolitischer Aktor und als kritischer Kommentator der ersten Jahre der Weimarer Republik. 2. Für diese Zielsetzung sind auch die theoretischen Grundoptionen Troeltschs von entscheidender Bedeutung. Der Historismus und seine Probleme liest sich auf weite Strecken wie ein Plädoyer für eine hermeneutisch-konstruktivistische Geschichtsphilosophie, die ihre methodische Orientierung in der deutschen Tradition des Historismus findet. Insofern sind die Spannungen zwischen einer an Dilthey orientierten Betonung von Intuition und Anschauung und einer eher neukantia-

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nisch anmutenden Hervorhebung des Logischen und Konstruktiven für Troeltschs Ansatz konstitutiv. Auch methodisch stellt die Geschichtsphilosophie Troeltschs eine versöhnende Kultursynthese dar. Damit bleibt sein Programm einer gegenwärtigen Kultursynthese an die von ihm hochgehaltene deutsche Bildungstradition anschlussfähig. Dies ließe sich mit einer Reihe von Stellungnahmen Troeltschs zum Problem des Geschichtsunterrichtes näher belegen (Troeltsch 2002, 161–206; vgl. auch Troeltsch 2018, 251; 257–259; 444). Hier sollen zwei Zitate ausreichen. In seinem Aufsatz „Deutsche Bildung“, der auf einen Vortrag in der Görlitzer Volkshochschule vom 28. September 1918 zurückgeht, schreibt Troeltsch: Es handelt sich überhaupt um nichts Rückwärts-Sehendes, sondern um Vorschauen und Hineinbauen in die Zukunft, um Leben in der Gegenwart, aber eben doch, wie es einem Bildungszeitalter unvermeidlich ist, um ein Schöpfen aus der historischen Lebensfülle, innerhalb deren erst das Neue und Eigene erwächst. […] Wir sind Enkel vieler Zeitalter, deren Erwerb in uns bewußt fortlebt und in seiner Kontinuität und Vielfältigkeit zugleich mindestens dämmernd und umrißhaft allen vor Augen steht (Troeltsch 2002, 177).

Und im Schlussteil desselben Aufsatzes liest man: „Denn es ist gar nicht daran gedacht, von da aus die modernen politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse reaktionär zu bestimmen. Diese Bildung ist anwendbar auf eine deutsche Demokratie“ (Troeltsch 2002, 199). 3. Die gegenwärtige Kultursynthese setzt voraus, dass die geistigen Inhalte sich von „ihren ursprünglichen Situationen“ ablösen lassen (Troeltsch 2008, 1095). Erst dadurch werden sie für andere Zeiten und vor allem für neue soziologische Formen verfügbar. Konkret heißt es: Wenn die Kulturgehalte aus der Vergangenheit den demokratischen Gemeingeist sollen mitbestimmen können, dann müssen sie sich von den spezifischen politischen Lebensformen, in denen sie entstanden sind, loslösen und verselbständigen können. Erst durch diese Verselbständigung können sie so umgeformt werden, dass sie Bestandteil eines modernen demokratischen Ethos werden können. Dies hat Troeltsch vor allem an zwei religiösen Gehalten beispielhaft umrissen: An dem Ethos der hebräischen Propheten und an der Figur von Luther. Im ersten Fall hat Troeltsch gezeigt, dass das ursprüngliche Ethos der Propheten an die konkreten Gegebenheiten des alten Israel gebunden ist und deswegen nicht, wie von Hermann Cohen und seinen Schülern behauptet, einen moralischen Universalismus darstellte. Erst durch die Ablösung von seiner ursprünglichen Gebundenheit hat der Prophetismus allmählich diese Bedeutung angenommen. Die Prophetendeutung von Cohen ist insofern das Ergebnis einer langwierigen, aber von ihm ausgeblendeten Entwicklung. Erst dadurch könne der Prophetismus Bestandteil einer gegenwärtigen Kultursynthese werden (vgl. insgesamt Otto 2005).

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In Troeltschs späterer Deutung Luthers und der Reformation lassen sich ähnliche Beobachtungen machen. In seinem für Die neue Rundschau geschriebenen Aufsatz „Luther und der Protestantismus“ hat Troeltsch einerseits die These wiederholt, dass sozialphilosophisch der Protestantismus, und vor allem das „protestantische Kirchentum“ (Troeltsch 1917b, 1300), noch dem Mittelalter angehören. Gleichzeitig macht er sich aber die These Richard Rothes zu eigen, dass der Protestantismus den „Anfang der Auflösung der kirchlichen Religion überhaupt und des Übergangs der christlichen Lebenswelt zu einer das Weltleben erfüllenden religiösen Innerlichkeit“ darstellt. Insofern ist für Troeltsch der Protestantismus „noch heute“, also fünfzig Jahre nach Rothes Tod (Rothe starb am 20. August 1867 in Heidelberg), „ein Mittel des Übergangs […] von kirchlicher Christlichkeit zu freier Religiosität und von dieser wieder rückwärts zur historischen Kultgemeinschaft mit allen ihren großen Erinnerungen und ihren Gemeinschaftskräften“ (Troeltsch 1917b, 1309f.). Dass diese Auffassung genau dem kulturprotestantischen und kirchenpraktischen Programm Troeltschs entspricht, sei en passant erwähnt, ohne dass hier näher darauf eingegangen werden kann.6 Dieser vorwärtsweisende Zug im reformatorischen Protestantismus wird von Troeltsch vor allem in der „Doppelheit“ von Luthers religiösem „Erlebnis“ identifiziert, das die Form einer „bewußte[n] Paradoxie des Glaubens“ annimmt und in einer „letzte[n] und tiefste[n] Polarität im Gottesbegriff “ begründet ist (Troeltsch 1917b, 1318; 1322). Damit gelingt Troeltsch das Kunststück, das Moderne und für die Gegenwart Relevante von Luther ausgerechnet in dessen vielleicht am wenigsten modernen Schrift, dem De servo arbitrio, festzumachen. Darin dürfte sich der Widerstreit der Moderne widerspiegeln, der gerade dem Unmodernen eine besondere Modernität verleiht. Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass Troeltschs großangelegte Geschichtsphilosophie auf eine gegenwärtige Kultursynthese zielt. Diese Kultursynthese soll durch Rückkoppelung an eine bildungspolitische Programmatik, die ihre Quellen in der hermeneutischen Tradition der Romantik hat, die werttheoretische Grundlegung einer konservativen deutschen Demokratie gewährleisten, indem sie diese Demokratie in eine europäische Kulturgeschichte einschreibt. Die Bestandteile dieser Synthese hat Troeltsch mehrmals aufgelistet, und zwar sowohl im Schlussteil seines Historismusbandes als auch in bildungs- und kulturpolitischen Beiträgen: der hebräische Prophetismus, das klassische Griechentum, die römisch-hellenistische Monarchie samt der antiken Kirche, die von Troeltsch als „die letzte Lebensform der Antike“ betrachtet wird, das abendländische Mittelalter oder, wie Troeltsch vor allem in seinen Kriegsschriften gern sagt, der „gothische

6 Vgl. den Vortrag Die Bedeutung der Geschichtlichkeit Jesu für den Glauben [1911] in Troeltsch 2014, 809–851.

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Mensch“. Das sind die „vier Urgewalten“, die „noch die moderne Welt tragen und durchwirken“ (Troeltsch 2008, 1093). Aber diese „Urgewalten“ sind in der Moderne nur durch den Bruch der Aufklärung und die mit ihr entstandene Geschichtsphilosophie noch wirksam. Dadurch sind sie weiterhin für Umformungen und Umdeutungen zugänglich. Das ist die Bedingung ihrer Fortwirkung. Dieser Epochenbruch der Aufklärung ist vor allem ein soziologischer Bruch: Mit der Moderne entstehen neue Formen der Vergesellschaftung und neue soziale Ideale (vgl. Troeltsch 2004, 367f.). Gerade diese neuen Formen der Vergesellschaftung haben die alten geistigen Gehalte freigesetzt und deren Neuformung in eine Kultursynthese erst ermöglicht. Mit dem demokratischen Staat ist ein „neuer soziologischer Leib“ entstanden, dessen Wirklichkeit, wir haben es gesehen, alternativlos ist. Seine Stabilisierung und innere Akzeptanz bedarf aber eines „ideologischen Gehalt[es]“, der nur durch eine „neue […] Zusammenfassung, Anpassung und Umbildung der großen historischen Gehalte“ entstehen kann (Troeltsch 2008, 1098). Das durchzuführen ist die Aufgabe einer materiellen Geschichtsphilosophie. Die Schlusspointe dieser materiellen Geschichtsphilosophie ist uns in ihren Grundzügen durch zwei späte Texte Troeltschs zugänglich, die schon erwähnt worden sind: Der Vortrag Naturrecht und Humanität in der Weltpolitik (Troeltsch 2002, 477–512) und die dreigliedrige Vorlesung Ethik und Geschichtsphilosophie, die Troeltsch für die Londoner Universität geschrieben, aber nicht mehr gehalten hatte (Troeltsch 2006, 68–104). Auf den ersten Text soll abschließend kurz eingegangen werden. Der Vortrag ist ein Plädoyer für eine „Rückkehr zu universalgeschichtlichem Denken und Lebensgefühl“, die „ohne jede prinzipielle Verleugnung der deutschen Ideen“ möglich ist (Troeltsch 2002, 508f.). Troeltsch macht dies besonders an der Frage der Menschenrechte fest. Er zeigt, dass die Menschenrechte ein spätes Produkt des modernen profanen Naturrechtes sind (Troeltsch 2002, 498; s. auch Troeltsch 2014, 711–773). Diese Idee der Menschenrechte ist mit dem „Ideal der autonomen Persönlichkeit“ keineswegs unvereinbar (Troeltsch 2002, 506). Sie stellt im Gegenteil eine „Forderung des europäischen Ethos“ dar, die in das deutsche Ideal der Autonomie der Persönlichkeit eingearbeitet werden kann und auf diese Weise dem Staat und „aller Gesellschaft […] als ideale Voraussetzung dienen“ soll (Troeltsch 2002, 510). Ähnliches macht Troeltsch für die Idee der Gemeinschaft geltend, d. h. für das Modell, das dem Individuum den Staat vorordnet. Auch hier geht es darum, die spezifisch deutsche Tradition in einen weiteren Horizont einzurücken: [Sie] darf nicht die übrigen Staaten, Völker und Gemeinschaften und ein geordnetes Verhältnis zu ihnen aus den Augen verlieren. Der Horizont des Weltbürgertums und der Menschheitsgemeinschaft muß alles das umschließen als moralische Forderung und Voraussetzung […]. In all den Ideen von Völkerbund, Menschheitsorganisation, Ein-

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schränkung der Zerstörungskräfte und Egoismen steckt ein unverlierbarer moralischer Kern, den man nicht grundsätzlich preisgeben darf (Troeltsch 2002, 510).

In dieser praktischen Kultursynthese geht es Troeltsch um eine Art von Selbsttherapie, „um Ordnung und Klarheit im eigenen Haus“ (Troeltsch 2002, 507), d. h., um die Selbsteinordnung der deutschen konservativen Demokratie in den universalistischen Kern des Europäismus als Bedingung einer auch geistigen Versöhnung zwischen den einstigen Kriegsgegnern (vgl. Leonhard 2006). Die Polarität zwischen deutscher Individualität und europäischem Universalismus ist durch die beiden Termini „Naturrecht“ und „Humanität“ im Titel des Vortrags angezeigt. „Naturrecht“ steht für die universalistische Tradition des Europäismus, zu der Deutschland bis zum 18. Jahrhundert selbstverständlich gehörte, „Humanität“ für die spezifisch deutsche Entwicklung in Klassik und Romantik, für die Weimar und Jena stehen. Beide Stichwörter sind Chiffren für jeweils spezifische Formungen des Universalismus. Troeltsch tritt dafür ein, diese spezifischen Formungen des Universalismus durch hermeneutische Subtilität für ihre gemeinsame Zielrichtung sensibel und durchsichtig zu machen. So wird die Demokratie mit ihren Forderungen nach Anerkennung der Menschenrechte und Kosmopolitismus auch in Deutschland nicht mehr als Selbstverleugnung der spezifisch deutschen Tradition verstanden werden können, sondern als eine Selbstaufklärung und Selbstkorrektur dieser Tradition. 1915 führte Troeltsch die spezifische Form, in der sich die deutsche Idee von der Freiheit staatlich organisiert hatte, auf die „Zurückgebliebenheit unserer politischen Entwickelung und Erziehung hinter der des Westens“ zurück (Troeltsch 1916a, 14). 1922 haben Weltkrieg und Revolution die Deutschen gezwungen, diese Verspätung aufzuholen. Insofern könnte man in Abwandlung einer Formulierung von Jürgen Habermas die Revolution von November 1918 als eine „nachholende Revolution“ bezeichnen (vgl. Habermas 1990). Für Troeltsch wird (aber) diese Revolution erst dann wirklich zu ihrem Ende gekommen sein, wenn der neue soziologische Leib der Demokratie mit „einer neuen und frischen Geistigkeit“ beseelt ist (Troeltsch 2008, 1098). Diese neue Geistigkeit soll ihren umfassenden Sinnhorizont in der Ellipse finden, deren Brennpunkte durch die Stichworte „Naturrecht“ und „Humanität“ markiert sind. Kein geringerer als Thomas Mann hat die außerordentliche Bedeutung des Vortrags von Troeltsch für die damalige deutsche Diskussion und Gefühlswelt sowie dessen Nähe zu seinen eigenen Überlegungen erkannt: am 13. Oktober 1922, neun Tage vor dem Vortrag von Troeltsch in Berlin, hatte Thomas Mann in Bonn seine Verteidigungsrede der Republik Von deutscher Republik vorgetragen. Nicht weniger als dreimal kam er in den folgenden Jahren auf den Vortrag von Troeltsch zu sprechen. Neben einer begeisterten Rezension 1923 in der Weihnachtsausgabe

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der Frankfurter Zeitung (Mann 1986, 428–431), in der Thomas Mann die Parallele zwischen der therapeutischen Absicht von Troeltschs Vortrag und seinem eigenen Gedankenweg von den Bekenntnissen eines Unpolitischen zum Zauberberg hervorhebt, geht er auf den Text von Troeltsch in dem vierten seiner für das amerikanische Publikum verfassten „Briefe aus Deutschland“ (Mann 1986, 423–425) sowie zwei Jahre später in einem für das französische Publikum geschriebenen Essay Deutschland und die Demokratie. Die Notwendigkeit der Verständigung mit dem Westen (Mann 1986, 615–625) ein. Klarer als viele andere hat Thomas Mann den Zusammenhang zwischen der Notwendigkeit einer Selbsttherapie des deutschen Geistes und der Möglichkeit einer europäischen Versöhnung gesehen. „Dienst am Leben aber“, schreibt Thomas Mann an die Adresse seiner französischen Leserschaft, zu dem wir Deutschen immer wahrhaft bereit waren, ist heute Dienst an der Demokratie, ohne die Europa des Todes ist, und die Expansionsfähigkeit der deutschen Seele über das Nichts-als-Deutsche hinaus, dies Vermächtnis großen Deutschtums, das immer ein Überdeutschtum war, wird uns zu solchem Dienste geschickt machen (Mann 1986, 624).

Er fügt hinzu, Troeltschs Grundthese durchaus präzise zusammenfassend: „Demokratie aber ist der moderne politische Name für den älteren, klassizistischen Begriff der Humanität – dieser Hochbegriff, der zwei Welten, die antike und die christliche, zugleich überwölbt“ (Mann 1986, 624). Geschichtsphilosophie als versöhnende Demokratiebegründung: Wie Thomas Mann es hellsichtig erkannt hat, war dies die leitende Absicht von Troeltschs intellektueller Arbeit in den Anfangsjahren der Weimarer Republik.

Literaturverzeichnis Drescher, H. G. 1991, Ernst Troeltsch. Leben und Werk, Göttingen. Drescher, H. G. 1986, „Demokratie, Konservatismus und Christentum. Ernst Troeltschs theologisches Konzept zum Umgang mit politischer Ethik auf dem Evangelisch-sozialen Kongreß 1904“, in: Zeitschrift für evangelische Ethik, 30, S. 84–98. Graf, F. W. 2018, „Einleitung“ in: E. Troeltsch, Briefe IV (1915–1918), hg. F. W. Graf, H. Haury, Berlin–Boston 2018, S. 1–43. Habermas, J. 1990, Die nachholende Revolution, Frankfurt am Main. Hübinger, G. 2015, „Einleitung“, in: E. Troeltsch, Spectator-Briefe und Berliner-Briefe (1919–1922), hg. G. Hübinger, Berlin–Boston 2015, S. 1–40. Hübinger, G. 2002, „Einleitung“, in: E. Troeltsch, Schriften zur Politik und zur Kulturphilosophie, hg. G. Hübinger, J. Mikuteit, Berlin–New York 2002, S. 1–36.

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Nikolaus Knoepffler

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene? Überlegungen zu einer rahnerschen These vor dem Hintergrund der Kritik Ratzingers/Benedikt XVI.

Einführung Ein, vielleicht das Herzensanliegen Martin Leiners liegt darin, „Versöhnung inmitten des Konflikts“ zu verwirklichen. Nicht nur das große, von der DFG über fast ein Jahrzehnt geförderte Projekt „Hearts of Flesh, not Stone“, belegt sein Engagement, sondern auch die Gründung des Jenaers Zentrums für Versöhnungsforschung und der Internationalen Gesellschaft für Versöhnungsforschung. So bringt Martin Leiner Forschende von Kolumbien bis Südafrika, von Ruanda bis Südkorea, von Israel und Palästina bis Irland in einen regen Austausch. Bei all diesen Projekten ist auch das ökumenische Interesse von Martin Leiner, wie ich selbst in persönlichen Gesprächen erfahren durfte, nie verloren gegangen. Diesem Anliegen widmet sich der folgende Beitrag. In ihm geht es um die Frage, wie Versöhnung zwischen den getrennten Kirchen so gelingen kann, dass ihre Einigung zu einer realen Möglichkeit wird. Zu diesem Zweck untersuche ich die These der erkenntnistheoretischen Toleranz, die der Jesuit Karl Rahner in seinem mit Heinrich Fries veröffentlichten Werk Einigung der Kirchen – reale Möglichkeit aufgestellt hat.1 Im ersten Schritt analysiere ich diese These. Anschließend lege ich Rahners theologische Grundüberzeugung offen, die dieser These zugrunde liegt. In einem dritten Schritt stelle ich die Kritik des damaligen Präfekten der Glaubenskongregation und späteren Papstes Benedikt XVI. an dieser These dar und zeige, wie bereits das Werk Ratzingers/Benedikt XVI. an wesentlichen Punkten Rahners These bestätigt, sogar noch radikalisiert und in welcher Weise diese Form der Bestätigung bereits vor knapp 200 Jahren durch Adam Möhler systematisch theologisch formaliter begründet wurde. Abschließend problematisiere ich am Beispiel der altkatholischen Kirchen und ihrer Kommuniongemeinschaft mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft, ob es überhaupt

1 Rahner gilt als einer der einflussreichsten und bedeutendsten Theologen des 20. Jahrhunderts. In einem Glasfenster der anglikanischen Grace Cathedral in San Francisco ist er neben den protestantischen Theologen Barth und Tillich als Kirchenlehrer des 20. Jahrhunderts abgebildet.

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materialiter möglich sein kann, der erkenntnistheoretischen Toleranz Grenzen zu ziehen und ob von daher das rahnersche Projekt nicht im Kern angefragt ist.2

1.

Karl Rahners zentrale These einer erkenntnistheoretischen Toleranz

Rahner und Fries sind überzeugt, dass bereits eine Einheit der Kirchen in der Anerkenntnis der christlichen Grundwahrheiten, „wie sie sich im grundlegenden Bekenntnis zum Glauben von Nikaia und Konstantinopel darstellt“3 , gegeben ist und dass die Anerkenntnis dieser Grundwahrheiten der Ausgangspunkt aller folgenden Überlegungen zu sein hat, so die Grundannahme der ersten These. Anschließend formulieren sie als zweite These: Darüber hinaus gelte ein realistisches Glaubensprinzip: in keiner Teilkirche darf dezidiert und bekenntnismäßig ein Satz verworfen werden, der in einer anderen Teilkirche ein verpflichtendes Dogma ist. Im Übrigen ist aber über die These I hinaus kein ausdrückliches und positives Bekenntnis in einer Teilkirche zu einem Dogma einer anderen Teilkirche verpflichtend gefordert, sondern einem weitergehenden Konsens der Zukunft überlassen. Das gilt erst recht von authentischen, aber nicht definierten Lehrerklärungen der römischen Kirche. Das ist besonders bei ethischen Fragen zu beachten. Bei diesem Prinzip würde nur das getan, was jede Kirche heute schon ihren eigenen Angehörigen gegenüber praktiziert (Fries/Rahner 2002, 303).

Diese These fasst Rahner in seinem Kommentar begrifflich auch als „erkenntnistheoretische Toleranz“.4 Darunter versteht er eine Toleranz, bei der „ein Freiheitsraum für das noch nicht positiv Vereinbarte, aber in Hoffnung als vereinbart Anerkannte gewährt wird“.5 Fachterminologisch könnte man sagen: Rahner gebraucht den Begriff der Toleranz im Sinne einer Respekt-, nicht einer Duldungstoleranz.6 Diese Toleranz ist nötig, weil es seit Nikaia und Konstantinopel eine unterschiedlich verlaufende Dogmenentwicklung in den verschiedenen, heute noch existierenden Kirchen gegeben hat. Die katholische Kirche in Gemeinschaft mit dem Bischof von Rom hat sich in einem langen Entfremdungsprozess von den orthodox-katholischen Kirchen entfernt, insbesondere dogmatisch durch Ersetzen

2 Vgl. im Folgenden auch meine zusammen mit Martin O’Malley verwandten Überlegungen zu diesem Beitrag (Knoepffler/O’Malley 2019). 3 Fries/Rahner 2002, 303. 4 Ebd., 314. 5 Ebd., 314. 6 Vgl. ausführlicher zu den Unterscheidungen des Toleranzbegriffs Knoepffler 2009.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

des „durch den Sohn“ mit „und den Sohn“ im Glaubensbekenntnis und die Entwicklung der Lehre von der Oberhoheit des Papstes über alle Teilkirchen im Sinne eines Jurisdiktions- und Lehrprimats. Dadurch kam es im 11. Jahrhundert zum bis heute nicht geheilten, endgültigen Bruch der Kirchengemeinschaft. Die Abspaltung der protestantischen Kirchen im 16. Jahrhundert von der katholischen Kirche in Gemeinschaft mit dem Papst, kurz der katholischen Kirche, war ebenfalls eine Folge päpstlicher Machtansprüche, entwickelte sich jedoch darüber hinaus zu einer sehr unterschiedlichen lehrmäßigen Entwicklung mit der Folge, dass die katholische Kirche die protestantischen Kirchen bis heute nicht als Kirchen anerkennt, sondern nur als „kirchliche Gemeinschaften“7 bezeichnet. Nach Rahner lässt sich jedoch dieser Prozess der Nichtanerkenntnis umkehren, wenn dem Umstand Rechnung getragen wird, dass das Verständnis von Dogmen sich wandeln kann, dass bereits das Vorverständnis der am Dialog zwischen den Konfessionen Beteiligten so verschieden, die Sprache oft so uneindeutig, das jeweilige Wissen begrenzt ist. Dadurch sind Missverständnisse vorprogrammiert und es kommt zu nicht mehr miteinander zu vereinbarenden Sprachspielen, ohne dass in der Sache überhaupt ein Dissens gegeben sein muss. Wie wird diese erkenntnistheoretische Toleranz konkret? Nach Rahners Vorstellung sollte sie lebenspraktisch ausgestaltet sein. So wie von den einzelnen Kirchenmitgliedern der römisch-katholischen Kirche nicht verlangt wird, dass sie dezidiert jede authentische Aussage des Lehramts bejahen, sondern nur, dass sie diesen nicht ausdrücklich widersprechen sollen, so sollte auch bei einer ökumenischen Einigung der Kirchen den einzelnen Teilkirchen über die Affirmation der Grundwahrheiten hinaus nicht abverlangt werden, alle als authentisch proklamierten Aussagen der jeweiligen geeinten Kirchen explizit bejahen zu müssen. Dahinter steht die Überzeugung: Wenn ein Mensch sich eines zustimmenden Urteils über einen (sicher oder möglicherweise) wahren Satz enthält, irrt er nicht. Diese Selbstverständlichkeit gilt nicht nur, wenn der Betreffende diesen Satz gar nicht kennt oder ihn nicht versteht; er kann auch reflex vor

7 In offiziellen lehramtlichen Dokumenten der katholischen Kirche wird den protestantischen Kirchen das Kirchesein nicht zuerkannt, sondern diese werden im 2. Vatikanischen Konzil „wegen des Mangels des Weihesakraments [sacramenti Ordinis defectum]“ (UR 22) und auch späteren Dokumenten wie der Erklärung Dominus Jesus nur als „kirchliche Gemeinschaften“ bezeichnet. Dies schließt sogar die Kirchen der anglikanischen Kirchengemeinschaft mit ein, deren Weihesakrament Leo XIII 1896 in seiner Bulle Apostolicae Curae ausdrücklich wegen Form- und Intentionsmangels als ungültig bezeichnete, was Johannes Paul II. 1998 in Ad tuendam fidem nochmals ausdrücklich als verbindliche katholische Lehre bestätigte. Im Folgenden wird dagegen das jeweils eigene Verständnis der Konfessionen berücksichtigt, weswegen diese unterschiedslos als Kirchen benannt werden.

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diesem Satz gestellt sein, seinen Sinn einigermaßen verstehen und doch sittlich berechtigte Gründe haben, sich einer Zustimmung zu ihm zu enthalten (Fries/Rahner 2002, 309).

Diese Überzeugung entspricht weitgehend dem, was das Lehramt im römischkatholischen Kirchenrecht von den eigenen Gläubigen einfordert: Nicht Glaubensgehorsam, wohl aber religiöser Verstandes- und Willensgehorsam ist einer Lehre entgegenzubringen, die der Papst oder das Bischofskollegium in Glaubens- oder Sittenfragen verkündigen, wann immer sie ihr authentisches Lehramt ausüben, auch wenn sie diese Lehre nicht definitiv als verpflichtend zu verkünden beabsichtigen; die Gläubigen müssen sorgsam meiden, was ihr nicht entspricht (Canon Iuris Canonici, can. 752).

Dabei wird dieser Glaubens- und Willensgehorsam genau im Sinne von Rahner ausgedeutet, weil das Lehramt ausdrücklich zulässt, dass der Einzelne sich eines zustimmenden Urteils enthalten darf, wenn er die als authentisch proklamierten Sätze des Lehramts in Frage stellt: Es kann ferner vorkommen, dass die Schwierigkeit nach Abschluss einer ernsthaften Prüfung in der Bereitschaft, ohne inneren Widerstand gegen den Spruch des Lehramtes zu hören, bestehen bleibt, weil dem Theologen [bzw. anderen Gläubigen] die Gegengründe zu überwiegen scheinen. Er muss dann angesichts einer Zustimmung, die er nicht geben kann, bereit bleiben, die Frage gründlicher zu studieren. Für eine loyale Einstellung, hinter der die Liebe zur Kirche steht, kann eine solche Situation gewiss eine schwere Prüfung bedeuten. Sie kann ein Aufruf zu schweigendem und betendem Leiden in der Gewissheit sein, dass, wenn es wirklich um die Wahrheit geht, diese sich notwendig am Ende durchsetzt (Kongregation für die Glaubenslehre 1990, 31).

Dieses Schweigen ist jedoch keinesfalls mit Opportunismus oder der Preisgabe eigener Überzeugungen zu verwechseln, sondern zeigt die grundlegende Bereitschaft zur Unterordnung unter das Lehramt. Es wird also von Gläubigen, auf die der Fall zutrifft, nicht erwartet, dass sie öffentlich gegen ihre eigenen Überzeugungen reden, also unredlich werden. Vielmehr sollen sie zu den Fragestellungen schweigen, bei denen sie nicht mit dem Lehramt übereinstimmen. Rahner zufolge hätte dies folgende Auswirkungen für die Einigung der Kirchen: Vom dogmatischen Standpunkt und in Bezug auf den Glauben der Kirche wäre eine Einheit der jetzt noch getrennten Groß-Kirchen denkbar, wenn keine Kirche erklärt, ein von einer anderen Kirche als für sie absolut verbindlicher Satz sei positiv und absolut mit dem eigenen Glaubensverständnis unvereinbar (Fries/Rahner 2002, 312).

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

Konkret hieße das dann, so die der These II folgenden weiteren Thesen: In der einen Kirche Jesu Christi, die aus vielen Teilkirchen gebildet wird, haben die Grundwahrheiten des Christentums, wie sie beispielsweise im Apostolischen Glaubensbekenntnis ausgedrückt sind, für alle Teilkirchen verpflichtenden Charakter. Dabei sollten alle Teilkirchen Bischöfe an ihrer Spitze haben und damit an der Lehrautorität teilhaben. Diese Thesen erinnern sehr an das Chicago-Lambeth Quadrilateral der anglikanischen Kirchengemeinschaft (1886/88), in der zuerst in Chicago die Bischöfe der Episcopal Church und zwei Jahre später die in Lambeth versammelten anglikanischen Bischöfe vier Grundsätze darüber aufstellten, auf welcher Grundlage eine Einheit der Kirchen möglich wäre: 1. The Holy Scriptures, as containing all things necessary to salvation; 2. The creeds (specifically, the Apostles’ and Nicene Creeds), as the sufficient statement of Christian faith; 3. The dominical sacraments of baptism and Holy Communion; 4. The historic episcopate, locally adapted (The Book of Common Prayer 1979, 877). Zudem, so verlangt Rahner, bestreitet keine Teilkirche Dogmen einer anderen Teilkirche. Alle Teilkirchen erkennen den Papst als konkreten Garanten der Einheit der Kirche an, der jedoch von seiner Lehrautorität nur in ausdrücklicher Übereinstimmung mit dem Gesamtepiskopat Gebrauch macht. Doch wie kommt Rahner zu einer so weitreichenden Einschätzung? Scheint es doch evident zu sein, dass zwischen einer Affirmation eines Satzes, dem Verzicht auf eine derartige Zustimmung, aus welchen Gründen auch immer, und einer grundsätzlich agnostischen Einstellung bezüglich eines solchen Satzes logisch und performativ zentrale Unterschiede bestehen.8 Darüber hinaus lässt sich mit Herms bestreiten, dass es, wie Rahner annimmt, bereits eine Einheit der Kirchen in der Anerkenntnis der christlichen Grundwahrheiten, nach den Konzilien von Nikaia und Konstantinopel, gibt.9 Ein guter Beleg für Herms‘ These könnte sein, dass die orthodoxen Kirchen bis heute die Einführung des „filioque“ ins Glaubensbekenntnis von Konstantinopel nicht als legitime dogmatische Entwicklung anerkennen. Rahners (und Fries’) Lösungsangebot gebraucht hier bereits vorwegnehmend die erkenntnistheoretische Toleranz von These II, die Herms gerade in Frage stellt: Im Übrigen kann vom Filioque diejenige Einheit in Freiheit gelten, über die in unserer These II gehandelt wird. Wenn das lateinische Filioque von den Ostkirchen nicht als

8 Vgl. Herms 1984. 9 Vgl. Ebd., 136–138.

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häretisch verworfen wird [...], dann braucht umgekehrt die lateinische Kirche von den Ostkirchen auch kein ausdrücklich formuliertes Bekenntnis des Filioque in ihren Bekenntnisschriften und Glaubensbekenntnissen in der Liturgie zu verlangen (Fries/Rahner 2002, 300).

Auch hält Herms es für nicht möglich, dass sich die reformatorischen Kirchen eines Urteils enthalten könnten, wenn es um die Frage eines unfehlbaren päpstlichen Lehramts10 , aber auch um die der katholischen Ekklesiologie (sowie Gnaden- und Offenbarungslehre) insgesamt gehen würde, da hier die Differenzen zu gravierend sind.11 Daraus folgt auch die Ablehnung einer Unterordnung unter eine, wie auch immer gestaltete, kirchliche Einheitsgesamtautorität in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof.12 Unter der Annahme, dass Rahner um derartige Einwände gewusst haben dürfte, lässt sich fragen: Welche theologische Grundüberzeugung ermöglicht es ihm dennoch, diesen Weg einer erkenntnistheoretischen Toleranz zu beschreiten?

2.

Rahners theologische Grundüberzeugung

Rahner versteht Dogmatik nicht als ein festes System von Sätzen, sondern als eine Denkbewegung, die immer wieder die theologische Wahrheit auszulegen versucht.13 Damit wird es möglich, einen eigenen Sprachstil und einen eigenen Zugang zu wählen, der in seiner Entwicklungsdynamik erlaubt, dass die Großkirchen nach und nach in der satzhaften Aussage der dahinterstehenden Glaubensüberzeugungen zu einer Konvergenz kommen können. Theologisch ist Rahner dabei von der Überzeugung getragen, dass die in der Geschichte ergangene Offenbarung nicht etwas Fremdes ist, das man in kindlichem Gehorsam anzunehmen hat, sondern dass die Offenbarung unserem menschlichen Sein entspricht. Gott ist nach Rahner nämlich die tätige Bedingung der Möglichkeit aller Erkenntnis im menschlichen Subjekt. Er versteht den Menschen als Ereignis der Selbstmitteilung Gottes. Diese Wirklichkeit Gottes im Menschen nennt Rahner auch das übernatürliche Existential jedes Menschen, da sich Gott dem Menschen in dieser Weise transzendental offenbart und sich selbst als tragenden Grund und ersehntes Ziel mitteilt. In jedem Erkenntnis- und Freiheitsakt greift der Mensch, getragen von Gott, zugleich auf das absolute Sein, also Gott vor. So ist es Gottes

10 11 12 13

Vgl. Herms 1984, 139–144. Vgl. Ebd., 144–149. Vgl. Ebd., 149f. Vgl. dazu sein Hauptwerk (Rahner 1999).

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

Geist als ungeschaffene Gnade selbst, die verbürgt, dass der Mensch dynamisch auf die göttliche Wirklichkeit verwiesen ist. Gott ist insofern das Wovonher und Woraufhin allen menschlichen Erkennens und Handelns. Im Unterschied zu Heideggers Verständnis des Menschen als Dasein, kann man sagen, dass der Mensch bei Rahner als Da-Gott gedeutet wird. Doch warum ist dann überhaupt noch eine geschichtliche, von Rahner „kategorial“ genannte Offenbarung nötig? Rahners Antwort hierauf ist sehr präzise: Da der Mensch ein geschichtliches Wesen ist, also in Raum und Zeit existiert, erreicht er mit dem Tod das Ende seiner irdischen Geschichte. Wir Menschen greifen in unserem Erkennen und Wollen aber über diese Grenze hinaus und sehnen uns danach, dass der Tod nicht das endgültige Ende ist. Im Auferweckungsereignis erweist Gott in der Geschichte Jesus als den Christus und sich selbst als einen Gott der Lebenden, nicht der Toten.14 Noch ein Weiteres erweist nach Rahner die Bedeutsamkeit des geschichtlichen Christusereignisses und damit der kategorialen Offenbarung: Wir erfahren unsere Geschichte als ambivalent, da wir schuldig werden können. Wenn wir unsere Selbstverwirklichung im Sinne der Verwirklichung dessen, was wir von Gott her sind, verfehlen, so erzeugen wir einen Raum der Sünde. Das Christusereignis ist hierauf die befreiende Antwort: Christus schafft, indem er das Menschsein auf sein eigentliches Ziel hin transzendiert, einen Heilszusammenhang, den keine Schuld eines Einzelnen zerstören kann. Seine Erlösungstat ist radikalster Vollzug des sich selbst transzendierenden menschlichen Wesens, wenn diese so verstandene Natur des Menschen, so sich weggebend an das Geheimnis der Fülle sich so enteignet, dass sie Gottes selbst wird; wie es geschieht, wenn wir sagen: der ewige Logos Gottes selber hat eine menschliche Natur angenommen. Die Menschwerdung Gottes ist von daher gesehen der einmalig höchste Fall des Wesensvollzugs der menschlichen Wirklichkeit, der darin besteht, dass der Mensch ist, indem er sich weggibt in das absolute Geheimnis hinein (Rahner 1999, 209f.).

Christus ist so die einmalige Zusage Gottes für uns. Von daher erschließt sich, warum der Gottmensch Höhepunkt aller Offenbarung ist: Nur Jesu Geschichte ist die vollkommene Geschichte Gottes; nur Jesus ist Gottes eindeutiger Logos. Rahner spricht von Jesus Christus als dem Realsymbol Gottes, d. h. er drückt Gottes Wirklichkeit selbst in der Geschichte in der Weise aus, dass er mit Gottes Wirklichkeit identisch ist. Auch wenn alle Menschen dazu berufen sind, Logoi Gottes zu sein, Theo-logoi zu sein, sind sie es aber nur deshalb, weil das Christusereignis „die Finalursache der Geistmitteilung an die Welt ist“.15 In diesen rahnerschen Gedanken

14 Vgl. Rahner 1999, 253–287. 15 Ebd., 302.

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schwingt Teilhard de Chardins Überzeugung mit, dass die gesamte Evolution auf den Gottmenschen als ihr Ziel hin ausgerichtet ist. Das Christusereignis ist die eigentliche Finalursache der gesamten Schöpfung. Vor diesem Hintergrund wird auch verständlich, was Rahner meint, wenn er vom anonymen Christen spricht: Durch das Christusereignis teilt sich Gott jedem Menschen als übernatürliches Existential mit und bietet ihm die Geschichte mit ihm an, selbst wenn ein Mensch dies nicht ausdrücklich weiß. Ob der Einzelne dieses Angebot freilich annimmt, bleibt seine freie Entscheidung. Vor diesem Hintergrund ist verständlich, warum Rahner Christus als das Ursakrament bezeichnet. Der Begriff „anonymer Christ“ hat aber noch eine weitere Bedeutung: Rahner nennt nämlich auch denjenigen einen anonymen Christen, der durch sein Tun implizit zeigt, dass er sich für andere hingibt. Selbst wer sich also nicht explizit zu Christus bekennt, aber ein derartiges Bekenntnis in seinem Handeln als Nächstenliebe realisiert, wie in Mt 25,31–46 beschrieben, ist bereits anonymer Christ. Die Kirche als Gemeinschaft der Heiligen und als Grundsakrament umfasst daher nicht nur diejenigen, die ihr durch das Sakrament der Taufe angehören, sondern alle Menschen, die in ihrem Handeln eine anonyme Sehnsucht nach dieser Gemeinschaft erweisen.16 Klassisch hatte man dafür in der Dogmatik den Begriff des „votum ecclesiae“ verwendet und so den Grundsatz des „extra ecclesiam nulla salus“ („außerhalb der Kirche kein Heil“) abgemildert: Wer in seinem Handeln praktisch tut, was die Kirche von einem Menschen guten Willens fordert, kann gerettet werden, selbst wenn er der Kirche nicht als Mitglied angehört. Bereits Pius XII hatte diese Überzeugung in seiner Enzyklika Mystici Corporis (1943) in gewisser Weise vorweggenommen, als er davon sprach, dass „diejenigen, die nicht zum sichtbaren Gefüge der katholischen Kirche gehören, [...] durch ein unbewusstes Sehnen und Verlangen auf den mystischen Leib des Erlösers ausgerichtet sind.“17 Damit hat Pius eine entscheidende Neudeutung der Bulle Unam Sanctam von Papst Bonifaz VIII. (1302) vorgenommen: In dieser hatte Bonifaz nämlich das später in der Formulierung „extra ecclesiam nulla salus“ zusammengefasste Dogma definiert: „Wir erklären, sagen und definieren nun aber, dass es für jedes menschliche Geschöpf unbedingt notwendig zum Heil ist, dem Römischen Bischof unterworfen zu sein“.18

16 Vgl. Rahner 2005. 17 Denzinger/Hünermann 2017, 3821. Im Original: „Qui ad spectabilem non pertinent Catholicae Ecclesiae compagem [...] inscio quodam desiderio ac voto ad mysticum Redeptoris Corpus ordinentur.“ 18 Denzinger/Hünermann 2017, 875. Im Original: „Porro subesse Romano Pontifici omni humanae creaturae declaramus, dicimus, difinimus omnino esse de necessitate salutis“.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

Wenn dogmatische Sätze und mit ihnen verbundene Konsequenzen für das konkrete Handeln in einer Weise deutungsoffen sind, dass sogar die explizite Mitgliedschaft zur katholischen Kirche in Gemeinschaft mit dem römischen Bischof nach Pius XII. nicht mehr heilsnotwendig ist, obwohl sie dies satzhaft nach Bonifaz VIII. wäre, dann belegt dies Rahners These erkenntnistheoretischer Toleranz zumindest mit Blick auf die katholische Kirche. Noch deutlicher wird dies, wenn man die bereits kurz nach der Konstantinischen Wende im vierten Jahrhundert beginnende gewaltsame Unterdrückung der Religionsfreiheit Andersdenkender durch die katholische Kirche berücksichtigt, die mit dieser Überzeugung verbunden war. Dahinter stand folgende Überzeugung: Wer den einen wahren Glauben nicht anerkennt, verliert grundlegende Rechte, u. a. das Recht auf Leben, denn das Grundrecht auf Religionsfreiheit kann es nicht geben, weil es nur die eine wahre Religion gibt und diese mit der Vernunft erkannt werden kann. Wer sich nicht um die einsehbare Wahrheit bemüht, ist darum schwer schuldig. Die Päpste bis hin zu Pius XII. hatten ausdrücklich die Religions- und Gewissensfreiheit abgelehnt. So übte Pius VII. (1742–1823) in seinem Apostolischen Brief (1814) an den Bischof von Troyes heftige Kritik an der französischen Verfassung nach der Restauration des Königtums, weil sie die Rechte auf Religions- und Gewissensfreiheit beinhalte: Dadurch nämlich, dass unterschiedslos die Freiheit aller Religionen erklärt wird, wird zwangsläufig die Wahrheit mit dem Irrtum verwechselt, und die Kirche, die heilige und unbefleckte Braut Christi, außer der es kein Heil geben kann, auf die gleiche Stufe gestellt mit den Sekten der Irrgläubigen und mit dem jüdischen Unglauben (Reuter 1978, 407).

In ähnlicher Weise äußerten sich auch Gregor XVI. (1765–1846) und Pius IX. (1792–1878), der in seiner Enzyklika Quanta Cura (1864), Gregor XVI. zitierend, ausdrücklich bestritt, „dass die Gewissens- und Religionsfreiheit ein jedem Menschen eigentümliches Recht sei“ (Pius IX. 1864) und in seinem Syllabus aus dem gleichen Jahr folgenden Satz als Irrtum verurteilte: „Es steht jedem Menschen frei, diejenige Religion anzunehmen und zu bekennen, die man, vom Lichte der Vernunft geführt, für wahr erachtet“ (Denzinger/Hünermann 2017, 2915). Selbst Pius XII., der das „extra ecclesiam nulla salus“ bereits anders als die vorausgehende Tradition gedeutet hatte, lehnte die Religionsfreiheit noch ab, „weil eine derartige Toleranz in sich unmoralisch sei [...]. Was der Wahrheit und moralischen Norm nicht entspricht, hat objektiv kein Recht, weder auf Existenz noch auf Propaganda noch auf Handlung [...]“ (Pius XII. 1953, 799). Erst in der bezeichnenderweise den Titel Dignitatis Humanae Personae (Würde der menschlichen Person) tragenden Erklärung über die Religionsfreiheit hat am 7. Dezember 1965 das Zweite Vatikanische Konzil ausdrücklich die Religions-

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freiheit anerkannt.19 Zu Recht wird darum die Erklärung zur Religionsfreiheit als „kopernikanische Wende“20 der kirchlichen Lehre zur Religions-, Gewissensund Meinungsfreiheit bezeichnet, weil erstmals seit dem vierten Jahrhundert auch Menschen, die subjektiv im Irrtum sind, nicht der Religionsfreiheit beraubt werden dürfen. Darüber hinaus hatte das Konzil einen weiteren entscheidenden Schritt gewagt, als es von einer „Hierarchie der Wahrheiten“21 sprach, deren „Zusammenhang mit dem Fundament des christlichen Glaubens verschieden ist“.22 Dies ist ein wesentlicher Grund, warum Rahner die These I als gemeinsames, unhinterfragbares Band aller Großkirchen annimmt, während er für die weniger bedeutenden Wahrheiten eine erkenntnistheoretische Toleranz für möglich hält: Es ist darum möglich, dass auch ein Katholik in der Kirche lebt, ihre fundamentalen Lehren glaubend bejaht und dennoch noch nicht zu einer expliziten und positiven Bejahung der formalen Lehrautorität der Kirche in ihren Amtsträgern gekommen ist, wie diese Lehrautorität von der Kirche selber verbindlich verstanden wird (Fries/Rahner 2002, 310).

Was aber von einem Katholiken nicht verlangt wird, sollte, so Rahners Überzeugung, auch nicht von Mitgliedern anderer Konfessionen gefordert werden. Dennoch wurde diese Annahme im Zuge der rahnerschen Forderung nach erkenntnistheoretischer Toleranz explizit kritisiert.

19 Vgl. Decretum Dignitatis humanae, 2, hier zitiert nach Denzinger/Hünermann 2017, 4240: „Dieses Vatikanische Konzil erklärt, dass die menschliche Person das Recht auf religiöse Freiheit hat. Diese Freiheit besteht darin, dass alle Menschen frei sein müssen von Zwang sowohl von Seiten einzelner wie gesellschaftlicher Gruppen und jeglicher menschlichen Gewalt, und zwar so, dass im religiösen Bereich niemand gezwungen wird, gegen sein Gewissen zu handeln, noch daran gehindert wird, privat und öffentlich, als einzelner oder in Verbindung mit anderen innerhalb der gebührenden Grenzen nach seinem Gewissen zu handeln. Ferner erklärt das Konzil, das Recht auf religiöse Freiheit sei in Wahrheit in der Würde der menschlichen Person selbst gegründet, so wie sie durch das geoffenbarte Wort Gottes und durch die Vernunft selbst erkannt wird. Dieses Recht der menschlichen Person auf religiöse Freiheit muss in der rechtlichen Ordnung der Gesellschaft so anerkannt werden, dass es zum bürgerlichen Recht wird“. 20 So beispielsweise Böckenförde 2007, 461. 21 Decretum Unitatis Reintegratio, hier zitiert nach DH 4192. 22 Ebd.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

3.

Joseph Ratzingers/Benedikt XVI. explizite Kritik und implizite Bestätigung

Joseph Ratzinger, der spätere Papst Benedikt XVI., war beim Erscheinen dieses Buchs von Fries und Rahner Präfekt der Glaubenskongregation. Seine damalige Kritik hat von daher einen besonderen Stellenwert. Zugleich jedoch zeigt das theologische Werk Ratzingers, warum Rahners These erkenntnistheoretischer Toleranz von größter theologischer Bedeutung ist. 3.1

Explizite Kritik

Ratzinger nimmt die Kritik von Herms teilweise auf und präzisiert diese.23 So lässt sich bereits im Verständnis des Glaubens der ersten fünf Jahrhunderte der von Rahner (und Fries) unterstellte gemeinsame Glaube zwischen den Kirchen der Reformation und der katholischen Kirche nicht so einfach aussagen. Dafür spricht, dass namhafte protestantische Theologen, selbst Bischöfinnen und Bischöfe, beispielsweise das Bekenntnis der Jungfrauengeburt nicht mehr wörtlich verstehen und davon ausgehen, dass Jesus einen irdischen Vater hatte. Selbst das Auferweckungsereignis wird in einer Weise gedeutet, dass Gott ein Gott der Lebenden, nicht der Toten ist, ohne dass hierfür das Grab Jesu hätte leer sein müssen. Ratzinger kritisiert bereits an Rahners Grundkurs des Glaubens, dass dieser sich nicht klar zum Auferstehungsereignis bekennt: Dass ein als leer festgestelltes Grab [...] als solches nie den Sinn und die Existenz einer Auferstehung bezeugt (262), ist ein truism, den man nicht immer wiederholen sollte. Die Frage ist doch nicht, ob das Grab die Auferstehung beweist, was kein Mensch behauptet, sondern ob die Auferstehung die gleichzeitige Verwesung des Auferstandenen zulässt (Ratzinger 1978, 186).

Verlangt also These I von Rahner (und Fries) ein klares Bekenntnis zur Auferstehung im Sinne eines Wunders, wonach ein am Kreuz Gestorbener, bei dem nach heutiger medizinischer Kenntnis unmittelbar die Verwesung hätte einsetzen müssen, von den Toten auferstanden und eben nicht im Grab verwest ist, sodass – zumindest in der Theorie – seine Auferstehung also hätte gefilmt oder fotografiert werden können? Oder genügen Erfahrungen, wie sie Paulus bei seinem Bekehrungserlebnis beschreibt, also Erfahrungen, die nicht fotografiert oder gefilmt hätten werden können? Oder hätte der Gekreuzigte nur scheintot gewesen sein müssen, so dass die Erlebnisse mit ihm Begegnungen mit dem Gekreuzigten als einem, der

23 Für das Folgende vgl. Ratzinger 2010a.

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die Kreuzigung überlebt hatte, waren?24 Nach klassischer katholischer Dogmatik kommt nur die erste Möglichkeit in Frage, also dass die Auferstehung weder eine Verwesung des Leichnams Jesu zulässt noch eine Scheintotannahme. Auch für die Jungfrauengeburt gilt nach klassischer Dogmatik, dass Jesus keinen irdischen Vater hatte. So ist nach Ratzinger bereits die erste These als der Ausgangspunkt der rahnerschen (und friesschen) Überlegungen fragwürdig. Zudem kritisiert Ratzinger die Annahme, dass eine reale Einheit der Kirchen dadurch möglich wird, dass die Kirchenleitungen der getrennten Großkirchen sich einigen, weil sich nach Rahner die jeweiligen Gemeindemitglieder fügen würden.25 Hier wirft Ratzinger Rahner ein falsches Verständnis von kirchlicher Autorität vor. Das kirchliche Amt hat Autorität, weil es sakramental ist. Sakrament ist seinem Wesen nach Ausschaltung der Willkür, des Selbermachens. [...] Praktisch heißt dies: Glaubensaussagen, die auf dem Konzil ‚beschlossen‘ werden, sind keine ‚Beschlüsse‘ im üblichen Sinn. Die moralische Einstimmigkeit, die für sie notwendig ist, ist für die Kirche Ausdruck dafür, dass sich hier der gemeinsame Glaube der Kirche aussagt (Ratzinger 2010a, 963).

Ratzinger schlussfolgert, dass die erkenntnistheoretische Toleranz darum zu einer „Einheit ohne deutliche Inhalte“ (Ratzinger 2010a, 965) führt: „Die so konzipierte Einheit ist auf die gemeinsame Skepsis, nicht auf die gemeinsame Erkenntnis gegründet“ (Ratzinger 2010a, 965). Allerdings besteht die Herausforderung darin, dass der gemeinsame Glaube der Kirche, wie bereits das Beispiel der unterschiedlichen Deutung von „extra ecclesiam nulla salus“ gezeigt hat, sehr wandelbar sein kann. Ein Beispiel hierfür ist Ratzingers erkenntnistheoretische Toleranz mit eigenen theologischen Aussagen. 3.2

Überbietung Rahners in Ratzingers/Benedikts theologischem Werk

Was These I angeht, so hat Ratzinger 1968 in seiner Einführung in das Christentum mit Blick auf die Jungfrauengeburt ausdrücklich festgehalten: Die Gottessohnschaft Jesu beruht nach dem kirchlichen Glauben nicht darauf, dass Jesus keinen menschlichen Vater hatte; die Lehre vom Gottsein Jesu würde nicht angetastet, wenn Jesus aus einer normalen menschlichen Ehe hervorgegangen wäre. Denn die Gottessohnschaft, von der der Glaube spricht, ist kein biologisches, sondern ein ontologisches Faktum; kein Vorgang in der Zeit, sondern in Gottes Ewigkeit. [...] Selbstverständ-

24 So neuerdings beispielsweise Fried 2019. 25 Vgl. Ratzinger 2010a, 962.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

lich ist das Sein-von-Gott, das mit dem Wort ,physisch‘ angedeutet werden soll, nicht biologisch-generativ, sondern auf der Ebene des göttlichen Seins und seiner Ewigkeit gemeint (Ratzinger 2014, 252f.).

Ausdrücklich wird von Ratzinger hier betont, dass die Gottessohnschaft kein biologisches Faktum darstellt, wodurch diese auch nicht biologisch-generativ zu interpretieren ist. Und mit Blick auf die Auferstehung schreibt er: Es ist zunächst völlig klar, dass Christus bei der Auferstehung nicht wieder in sein voriges irdisches Leben zurückgekehrt ist, wie solches etwa vom Jüngling zu Naim und von Lazarus gesagt wird. [...] Darum sind die Begegnungen mit ihm ,Erscheinungen‘; [...] Nur wo er das Sehen gibt, wird er gesehen (Ratzinger 2014, 280).

Explizit schreibt er, dass der Auferstandene „allein im Bereich des Glaubens entdeckt“ (Ratzinger 2014, 281) wird. Allerdings lehnt Ratzinger zugleich damit den „Versuch ab, der sich einerseits den Glauben an das Mysterium des mächtigen Handelns Gottes in dieser Welt sparen will und doch gleichzeitig die Genugtuung haben möchte, auf dem Boden der biblischen Botschaft zu bleiben“ (Ratzinger 2014, 282). Dennoch klingen diese Überlegungen viel offener als folgende Aussage aus seiner Zeit als Papst: Karl Barth hat darauf aufmerksam gemacht, dass es in der Geschichte Jesu zwei Punkte gibt, an denen Gottes Wirken unmittelbar in die materielle Welt eingreift: die Geburt aus der Jungfrau und die Auferstehung aus dem Grab, in dem Jesus nicht geblieben und nicht verwest ist (Ratzinger 2012, 64f.).

Während seine Aussagen aus dem Jahr 1968 eine weite Deutungsmöglichkeit zulassen, kehrt Ratzinger als Papst 2012 zu klassischen dogmatischen Sätzen zurück. Dennoch publiziert er zwei Jahre später seinen Text aus dem Jahr 1968. Bedeutet dies, dass er seine Aussagen aus dem Jahr 1968 nur im Sinne von 2012 verstanden wissen möchte, obwohl er sich 1968 entschieden gegen jede biologische Deutung gewehrt hat? Wenn aber auch die Aussagen von 2012 nicht biologisch zu verstehen sind, was heißt dann, dass Gott in die materielle Welt in dieser Weise eingreift? Wenn Jesus wahrer Mensch ist, muss er einen menschlichen Chromosomensatz haben. Die Väter der Konzilien von Nikaia und Konstantinopel wussten nichts von der Existenz weiblicher Eizellen. Die medizinischen Vorstellungen der damaligen Zeit waren unzureichend. Heute aber müssen wir fragen: Woher aber kommt dann der menschliche Chromosomensatz des wahren Menschen Jesus? Da wir heute bereits künstlich aus männlichen erwachsenen Zellen Samen- und Eizellen herstellen können und die synthetische Biologie voranschreitet, lassen sich viele

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Szenarien vorstellen, wie ein vollständiger Chromosomensatz realisiert werden kann, ohne dass es einen irdischen Vater im strengen Sinn geben muss. Somit müsste selbst eine weibliche Eizelle Mariens nicht notwendig involviert sein. Aber ist es das, was Ratzinger möchte? Oder will er sich auf ein geheimnisvolles, nicht begreifbares Eingreifen Gottes in die materielle Welt zurückziehen? Dann ist es jedoch genauso möglich, dass Gott geheimnisvoll eingegriffen hat, um durch seinen Erzengel Gabriel Mohammed den Koran zur Kenntnis zu bringen? Auch Annahmen anderer Weltreligionen können mit Berufung auf ein geheimnisvolles Eingreifen schwerlich widerlegt werden. Auf jeden Fall zeigt Ratzinger/Benedikt XVI. eindeutig eine erkenntnistheoretische Toleranz im Feld der Trinitätslehre und dem Sakramentenverständnis, die in großer Nähe zu dem steht, was Rahner in seiner These II anspricht, zumindest mit Blick auf die orthodoxen Kirchen. So veröffentlicht er 2010 als Papst erneut seinen Beitrag aus dem Jahr 1974, in dem er explizit so weit geht zu schreiben: „Rom muss vom Osten nicht mehr an Primatslehre fordern, als auch im ersten Jahrtausend formuliert und gelebt wurde“ (Ratzinger 2010b, 724). Er geht sogar so weit zu behaupten: Die Kircheneinheit zwischen Ost und West ist theologisch grundsätzlich möglich, aber spirituell noch nicht genügend vorbereitet und daher praktisch noch nicht reif. Wenn ich sage: theologisch grundsätzlich möglich, so schließt dies ein, dass bei näherem Zusehen sich in der theologischen Möglichkeit noch eine Menge von Widerhaken findet, vom Filioque bis zur Frage der Unauflöslichkeit der Ehe. Aber bei den Widerständen, die sich hier unterschiedlich einmal stärker vom Osten, einmal stärker vom Westen her auftun, muss gelernt werden, dass Einheit ihrerseits eine christliche Wahrheit, ein christlich Wesentliches ist und dass sie in der Rangordnung so hoch steht, dass sie nur um des Grundlegenden willen geopfert werden darf, nicht aber, wo Formulierungen oder Praktiken im Wege sind, die noch so bedeutend sein mögen, aber die Gemeinschaft im Glauben der Väter und in seiner kirchlichen Grundgestalt nicht aufheben (Ratzinger 2010b, 725).

Hier geht Ratzinger sogar noch einen Schritt weiter als Rahner. Während die erkenntnistheoretische Toleranz nämlich nur einfordert, nicht explizit einem Dogma der anderen Kirchen zu widersprechen, lässt Ratzinger zu, dass die Kirchen sogar unterschiedliche trinitarische Glaubensformulierungen („filioque“ als nicht verbindlich für die Orthodoxie) und Sakramentenverständnisse zulassen, was bezüglich des Ehesakraments sehr deutlich gezeigt werden kann. Dies ist umso bemerkenswerter, als Ratzinger 1972 noch ein der Orthodoxie sehr nahestehendes Eheverständnis vertreten hatte, also hier noch keine erkenntnistheoretische Toleranz bezüglich des Ehesakraments nötig schien:

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

IV. Schlussfolgerungen […] Wenn in einer zweiten Ehe moralische Verpflichtungen gegenüber den Kindern, gegenüber der Familie und so auch gegenüber der Frau entstanden sind und keine gleichartigen Verpflichtungen aus der ersten Ehe existieren; wenn also aus moralischen Gründen das Aufgeben der zweiten Ehe unstatthaft ist und andererseits praktische Enthaltsamkeit keine reale Möglichkeit darstellt (magnorum est, sagt Gregor II.), scheint die Eröffnung der Kommuniongemeinschaft nach einer Zeit der Bewährung nicht weniger als gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung zu sein (Ratzinger 1972, 55).

Als er diesen Beitrag 2014 in seinen Gesammelten Werken veröffentlicht, sind die Schlussfolgerungen durch Verweise auf den CIC und andere Dokumente deutlich ausführlicher geworden, doch die gerade zitierte Passage ist gestrichen worden. Stattdessen bekennt sich Ratzinger nun ausdrücklich zur Unauflöslichkeit der Ehe mit der Konsequenz das wiederverheiratet Geschiedene, deren erste Ehe sakramental war, solange vom Kommunionsempfang ausgeschlossen bleiben, solange der Ehepartner der ersten Ehe noch lebt. IV. Schlussfolgerungen [...] Die Kirche kennt keine Ehescheidung. Aber sie kann die Möglichkeit nichtiger Ehen [...] nicht ausschließen. [...] Aus dem Gesagten ist deutlich geworden, dass die Kirche des Westens – die katholische Kirche – unter der Führung des Nachfolger Petri einerseits sich streng gebunden weiß an das Herrenwort von der Unauflöslichkeit der Ehe, andererseits aber auch die Grenzen dieser Weisung zu erkennen versucht hat, um den Menschen nicht mehr als unbedingt nötig aufzuerlegen. [...] Die Unmöglichkeit, die heilige Eucharistie zu empfangen, wird nicht zuletzt auch deswegen als so verletzend empfunden, weil gegenwärtig praktisch meist alle in der Messe Anwesenden auch zum Tisch des Herrn hinzutreten (Ratzinger 2014, 620f.).

Obwohl bei diesen Schlussfolgerungen von 2014 die im Haupttext erwähnte ostkirchliche Praxis der Oikonomia, die 1972 noch als „nicht weniger als gerecht und voll auf der Linie der kirchlichen Überlieferung“ (Ratzinger 1972, 55) bezeichnet wurde, bleibt Ratzinger/Benedikt XVI. aber dennoch bei seiner Einschätzung, eine Kircheneinheit sei mit der Orthodoxie möglich. Noch bemerkenswerter jedoch ist, dass Ratzinger/Benedikt XVI. aus denselben Prämissen konträre Schlussfolgerungen zieht, nämlich aus denselben Prämissen 1972 die Zulassung wiederverheiratet Geschiedener zum Kommunionempfang, 2014 dagegen den Ausschluss vom Kommunionempfang ableitet. Damit geht er weit über das hinaus, was Rahner unter einer erkenntnistheoretischen Toleranz versteht. Gerade vor dem Hintergrund seiner Hochachtung orthodoxer Lehre und Praxis bleibt unbegreiflich, wie er einen derartigen Ausschluss mit der Aussage zu begleiten wagt, „den Menschen nicht mehr als unbedingt nötig aufzuerlegen“

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(Ratzinger 2014, 620f.). Schreibt er doch selbst noch 2014 (textidentisch mit 1972), dass die ostkirchliche Praxis die zweite Ehe als „tolerierte Ehe“ (Ratzinger 2014, 609) akzeptiert und den „Sakramentenempfang [...] auf dem Weg der Toleranz gewährt“ (Ratzinger 2014, 609). Einerseits verlässt Ratzinger selbst hier jeden Weg der Toleranz, zumindest mit Blick auf geschiedene Menschen einer sakramentalen Ehe, die in einer zweiten Ehe leben, und zeigt vor dem Hintergrund seiner angeblichen Toleranz gegenüber der Ostkirche, dass er letztlich keinen Fußbreit entgegenkommen will. Andererseits zeigt er jedoch im Schreiben des Beitrags gegenüber seinen eigenen Positionen eine solche erkenntnistheoretisch weite Toleranz, dass es ihm möglich ist, aus denselben Prämissen einen konträren Schluss zu ziehen. 3.3

Überbietung von Rahners erkenntnistheoretischer Toleranz als Präfekt der Glaubenskongregation

In ähnlicher Weise verhält es sich mit seiner Akzeptanz einer neuen, mit einer zweitausend Jahre alten Tradition brechenden, biblischen Aussagen direkt widersprechenden Äußerung von Johannes Paul II., die Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation in keiner Weise moniert, sondern mitträgt. Noch Pius XI. formulierte 1930 in der Enzyklika Casti Connubii im Sinne einer (auch zu seiner Zeit ökumenischen) Tradition, die bis zur Bibel zurückreicht: Ist die häusliche Gemeinschaft schließlich durch das Band dieser Liebe gestärkt, so muss in ihr jene von Augustinus so genannte Ordnung der Liebe erblühen. Diese Ordnung umfasst nämlich sowohl den Vorrang des Mannes gegenüber der Gattin und den Kindern als auch die freiwillige und nicht widerwillige Unterwerfung und Folgsamkeit der Gattin, die der Apostel mit folgenden Worten empfiehlt: ,Die Frauen seien ihren Männern untertan wie dem Herrn; denn der Mann ist das Haupt der Frau, so wie Christus das Haupt der Kirche ist‘ [Eph 5,22f] (DH 3708).

Dagegen deutet Johannes Paul II. in Mulieris Dignitatem (1988) diese Textstelle, die er bezeichnenderweise als „tief in der Sitte und religiösen Tradition der Zeit verwurzelt“ (Johannes Paul II. 1988, 81) ausweist und die bis zu Pius XI. wörtlich genommen wurde, in einer mit der kirchlichen, fast zwei Jahrtausende geltenden Tradition brechenden Weise, wenn er schreibt: Der Verfasser des Epheserbriefes sieht keinen Widerspruch zwischen einer so formulierten Aufforderung und der Feststellung, dass sich die Frauen ihren Männern unterordnen sollen wie dem Herrn (Christus); denn der Mann ist das Haupt der Frau‘ (vgl. Eph 5,22–23). Der Verfasser weiß, dass diese Auflage, die so tief in der Sitte und religiösen Tradition

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der Zeit verwurzelt ist, in neuer Weise verstanden und verwirklicht werden muss: als ein ‚gegenseitiges Sich-Unterordnen in der gemeinsamen Ehrfurcht vor Christus‘ [vgl. Eph 5,25] (Johannes Paul II. 1988, 81).

Was Johannes Paul II. hier schreibt, ist nicht weniger als ein Bruch mit einer auf biblischen Stellen, sowohl alttestamentlich als auch neutestamentlich, gegründeten kirchlichen Lehre, die klar den Mann als Haupt der Frau auswies. Diese biblische Sicht hatte weitreichende Folgen selbst im säkularen Recht der alten Bundesrepublik, in der noch in den Fünfzigerjahren des letzten Jahrhunderts Ehemänner in der Familie in finanziellen Dingen das Sagen hatten, für ihre Ehefrauen deren Arbeitsverhältnis kündigen konnten und auch sonst „Chef “ in der Familie waren. Wenn Johannes Paul II. in demselben Apostolischen Schreiben einerseits die Gleichheit von Mann und Frau betont und von daher die Bibelstellen als zeitbedingt völlig neu interpretiert, andererseits aber einem Priestertum der Frau mit Rückgriff auf die Tradition die Absage erteilt, so zeigt sich hier ein zwar nicht in gleicher Weise offensichtlicher Widerspruch wie bei Ratzingers Aussagen zum Kommunionempfang wiederverheiratet Geschiedener, aber dennoch die erhebliche Schwierigkeit, nach welchem Maßstab bestimmte Bibelstellen zeitbedingt, andere jedoch überzeitlich zu deuten sind. Das in der Sache gravierendste Problem, das Ratzinger als Präfekt der Glaubenskongregation ignoriert, ist von zentraler dogmatischer Qualität. Im zu seiner Zeit als Präfekt der Glaubenskongregation neu verfassten Codex Iuris Canonici wird Thomas von Aquin als der dogmatische Lehrer vorgestellt.26 Wie aber ist es möglich, jemanden weiterhin für heilig zu halten und zudem als dogmatischen Lehrer zu empfehlen, der ein katholisches Dogma, nämlich das der unbefleckten Empfängnis Mariens, in seiner Theologie bestritten hat? Die theologische Dogmatik ist nämlich gerade im Unterschied zum Recht nicht etwas, was durch eine neue Verordnung einfach geschaffen oder beseitigt werden kann, sondern stellt eine Einheit dar, die aus der Offenbarung und ihrer Auslegung durch die Kirche hervorgeht. Thomas kann nicht einmal erkenntnistheoretische Toleranz für sich in Anspruch nehmen, denn er hat diesem Dogma explizit widersprochen und die unbefleckte Empfängnis Mariens im Unterschied zu Duns Scotus als theologische Wahrheit abgelehnt. Dies ist kein Anachronismus, wie man meinen könnte, da man weiß, dass die unbefleckte Empfängnis Mariens erst 1854 dogmatisiert wurde, denn der Glauben bildet eine Einheit und es wäre der

26 Vgl. Canon Iuris Canonici 252 § 3: „Es sind Vorlesungen in dogmatischer Theologie zu halten [...]; mit deren Hilfe sollen die Alumnen die Heilsgeheimnisse, vor allem unter Anleitung des hl. Thomas als Lehrer, tiefer zu durchdringen lernen“.

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obige Widerspruch, wenn der biblische Befund in seiner kirchlichen Gestalt es ermöglicht, logisch gesprochen, A und Nicht-A für wahr zu halten. Solange man wie die Redakteure der hebräischen Bibel am Anfang zwei sich widersprechende Schöpfungserzählungen in gleicher Gültigkeit nebeneinanderstehen lässt, sodass die Gläubigen erkennen, dass die Reihenfolge der Erschaffung von Menschen und Tieren nicht entscheidend ist,27 gibt es keine Probleme. Wenn aber A bzw. die unbefleckte Empfängnis wahr ist, dann kann das Bestreiten von A nicht ebenfalls wahr sein. Also hat Thomas eine Glaubensinterpretation, von der rechtgläubige Katholiken heute wissen, dass diese ein Dogma bestritten hat. Zu Recht stellt der Kirchenhistoriker Wolf fest, dass dieses Dogma von 1854 „ohne Schriftbeleg und gegen die Tradition, sogar ausdrücklich gegen die Aussagen des heiligen Thomas von Aquin definiert“ (Wolf 2020, 6) wurde. Das aber führt zur zentralen Frage, bis wohin eine erkenntnistheoretische Toleranz zulässig und ab wann der „status confessionis“ erreicht ist, also die Toleranz ein Ende haben muss, wenn der eigene Glaube nicht unkenntlich werden soll und sich damit auflöst. Für die katholische Kirche hat Johann Adam Möhler darauf bereits in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch vor der Dogmatisierung der Unfehlbarkeit des Papstes eine faszinierende Lösung angeboten.

4.

Die Lösung des Problems erkenntnistheoretischer Toleranz nach Adam Möhler

Möhler beantwortet unser Problem nämlich in einer frappierend ähnlichen Weise, wie es Rahners Überlegungen nahelegen: Was ist wohl auffallender als die Erscheinung, dass es je ein späterer besonderer kirchlicher Verein nicht in Abrede stellt, dass die katholische Kirche den früher von ihr abgerissenen Parteien gegenüber im Materiellen das Recht auf ihrer Seite habe und sogar die dogmatischen Bestimmungen der Kirche in diesen Fällen anerkennt, ihre formellen Prinzipien aber bestreitet? ... Mit Freude erkennt der Arianer an, was durch die Kirche den Gnostikern gegenüber festgehalten ward, aber wie es dabei zuging, fasst er nicht ins Auge und will nicht erwägen, dass die Kirche gar nicht die zwischen ihm und ihr unbestrittenen Dogmen aufzuweisen und bis auf seine Zeit gerettet hätte, wenn sie nach den formellen Prinzipien verfahren wäre, welche er ihr zumutet und auf welche er sich stützt. Der Pelagianer und Nestorianer umfasst mit dem zweifellosesten Glauben auch die Entscheidungen der Kirche gegen die Arianer; sobald aber die Reihe an ihn kommt,

27 In der ersten Erzählung (Gen 1,1–2,4a) werden erst die Tiere, dann die Menschen geschaffen, in der zweiten Erzählung (Gen 2,4b–3,24) zuerst Adam und danach die Tiere.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

ist er wie verblüfft und so gedankenlos, einen eigentümlich-christlichen Stoff ohne die eigentümlich kirchliche Form gewinnen zu wollen, [...] Nicht anders verhält es sich mit Luther und Calvin [...] Hiernach lautet der Grundsatz der Katholiken: Du wirst dich der vollen und ungeteilten christlichen Religion nur in Verbindung mit ihrer wesentlichen Form, welche da ist die Kirche, bemächtigen. Schaue die Schrift im kirchlichen Geiste an, und sie wirft ein Bild, das ihr vollkommen gleicht, in dich; betrachte Christum in und mit seiner Schöpfung, der Kirche, der allein zureichenden, ihn vertretenden Autorität, und du prägst ihn dir wahrhaft ein (Möhler 1958, 424–426).

Hierbei ist der Blick des kirchlichen Lehramts von entscheidender Bedeutung: Erkenntnistheoretische Toleranz endet dort, wo das katholische Lehramt ihr eine Grenze setzt. Indem sich die Kirchen dem Papst unterstellen, haben sie sich auf dieses Modell eingelassen. Dann setzt der Papst in Gemeinschaft mit den Bischöfen all dieser Großkirchen, die sich hier vereinigt haben, die Grenzen der erkenntnistheoretischen Toleranz fest. Allerdings hat diese möhlersche Interpretation eine entscheidende Schwäche, die bereits das Erste Vatikanische Konzil selbst indirekt angedeutet hat: Es verweist nämlich ausdrücklich in seiner Konstitution auf das Unionskonzil von Florenz und damit auf ein Konzil, das bereits die Lehre der päpstlichen Vollmacht gebilligt habe. Interessanterweise wurde nun aber gerade dieses Konzil von der griechischen Kirche nicht rezipiert, obwohl sowohl der Kaiser als auch alle Bischöfe mit Ausnahme des Bischofs von Ephesus zugestimmt hatten. Die orthodoxe Kirche als solche, also die Gesamtheit der Gläubigen, fand sich in der Gestalt der katholischen Kirche nicht wieder, wie sie das Konzil beschrieben hatte. Die Unionsbeschlüsse wurden nicht rezipiert und nach der Eroberung Konstantinopels versagten auch der Patriarch und die Bischöfe die Rezeption. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil waren die orthodoxen Kirchen nicht anwesend; sie haben die Beschlüsse auch nicht nachträglich rezipiert. Wenn nun eine Kirche, deren apostolische Herkunft unbestritten ist, sich in der Gestalt von Kirche, wie sie von einer anderen Kirche apostolischen Ursprungs, nämlich der römischen Kirche, vorgestellt wird, nicht wiederfindet, dann lässt sich zumindest bezweifeln, ob die möhlersche Lösung wirklich trägt. Leider bedeutet dies aber auch, dass Rahners Lösung erkenntnistheoretischer Toleranz für die orthodoxen Kirchen nicht tragbar sein dürfte. Dieses Problem lässt sich noch klarer herausarbeiten, wenn man die orthodoxe Kritik an der Kommuniongemeinschaft zwischen altkatholischen Kirchen, konkretisiert am Beispiel der christkatholischen Kirche der Schweiz, der Anglikanischen Kirchengemeinschaft und der evangelisch-lutherischen Kirche Schwedens untersucht.

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5.

Zur Frage der Grenzen erkenntnistheoretischer Toleranz

5.1

Konsequenzen dieses Selbstverständnisses

Es gehört wesentlich zur Integrität der christkatholischen Kirche als eine Erscheinungsform und Gestalt der katholischen Kirche verstanden zu werden, die Gemeinschaft, Koinonia, mit den anderen Ortskirchen, in denen sie sich wiederfindet, hält; denn wie könnte sie sonst vollgültige Repräsentation der einen und ganzen Kirche sein?28 Wie ist nun diese Koinonia möglich? Die Ortskirchen identifizieren sich als wahre Kirchen dadurch, dass sie sich gegenseitig als ihr Ebenbild erkennen und anerkennen, indem sie sich, wie bereits der erste Bischof der christkatholischen Kirche, Eduard Herzog festhielt, in Amt, Bekenntnis und Gottesdienst als katholisch identifizieren.29 Das Amt impliziert aufgrund der Annahme apostolischer Sukzession das Bischofsamt, das Bekenntnis wird als Bekenntnis der alten Kirche verstanden, freilich nicht im Sinne einer museal geschützten, „als Reliquie“ behandelten Größe,30 und im Zentrum ihres gottesdienstlichen Handelns steht das eucharistische Geheimnis. Um zu verdeutlichen, dass ein Sich-als-wahre-Kirchen-Identifizieren nicht bedeutet, dass zwei Ortskirchen in allem übereinstimmen müssen, möchte ich zwei Beispiele geben: Selbst sehr unterschiedliche Christusdarstellungen werden in der Orthodoxie als Ikonen anerkannt, wenn sie nach bestimmten Regeln und gemäß den Konventionen des Glaubens gemalt sind. Umgekehrt ist die maschinelle Reproduktion einer Ikone keine Ikone, obwohl nur der Fachmann den Unterschied bemerken mag. In der Genetik gehören Lebewesen zur selben Gattung, obwohl ihr Erbgut nicht identisch ist, beispielsweise, wenn ein Mensch und ein anderer Mensch verschiedene Gensequenzen auf einem Gen tragen. Umgekehrt bedeutet eine genetische Übereinstimmung von mehr als 98 Prozent noch nicht, dass zwei Lebewesen sich als Lebewesen derselben Gattung anerkennen. Beispielsweise ist die genetische Übereinstimmung zwischen Schimpansen und Mensch höher als diese 98 Prozent. Wie geschieht nun der Identifikationsvorgang? Nach christkatholischem Selbstverständnis finden beispielsweise Treffen von Bischöfen von Ortskirchen statt. Wenn bei einem solchen Treffen festgestellt wird, dass man sich gegenseitig als Repräsentationen der einen und ganzen Kirche erkennt und anerkennt, dann 28 Vgl. Aldenhoven 1980, 412. 29 Vgl. die Äußerung Herzogs, des ersten christkatholischen Bischofs, aus dem Jahr 1881 in seinem Hirtenbrief über die kirchliche Gemeinschaft mit der anglo-amerikanischen Kirche, hier zitiert nach Küry 1968, 13f. 30 Vgl. Arx 1997, 198.

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

kommt es zur Koinonia dieser Kirchen. Die christkatholische Kirche erkennt in diesem Sinn andere Kirchen, nämlich die altkatholischen Mitgliedskirchen der Utrechter Union, die Kirchen der Anglikanischen Kirchengemeinschaft und die (evangelisch-lutherische) Kirche Schwedens, im Wesentlichen als ihr Ebenbild in Amt, Bekenntnis und Gottesdienst an. Mit diesen Kirchen besteht folglich Kirchengemeinschaft (full communion). Wenn Entscheidungen anstehen, die die Gestalt der Kirche berühren, wenn also zu klären ist, ob bestimmte Änderungen legitime Entfaltungen des katholischen Glaubens sind oder nicht, wirken die Kirchen, die sich als wahre Kirchen Jesu Christi identifiziert haben, zusammen, insbesondere auf Synoden und Konzilien, so zumindest die Theorie. In der Praxis, so hat die Einführung des Frauenpriestertums gezeigt, gelang dies den altkatholischen Kirchen der Utrechter Union nicht einmal untereinander, was zur Beendigung der Kommuniongemeinschaft zwischen den altkatholischen Kirchen in Europa und der altkatholischen Polish National Catholic Church (PNCC) in den USA führte. 2003 verließ diese die Utrechter Union, nachdem die westeuropäischen altkatholischen Kirchen ohne Zustimmung der Internationalen Bischofskonferenz der Utrechter Union, also ohne die Zustimmung der PNCC, die Priesterweihe für Frauen eingeführt hatte. Die Einführung des Frauenpriestertums führte auch dazu, dass die 1987 erreichte weitgehende Übereinstimmung in Glaubensfragen mit den orthodoxen Kirchen eine volle Kirchengemeinschaft wieder in weite Ferne rücken ließ. Jedoch liegt das eigentliche Problem erkenntnistheoretischer Toleranz tiefer. 5.2

Die materialiter ungeklärte erkenntnistheoretische Toleranz

Was ist das Hauptproblem der erkenntnistheoretischen Toleranz nach Ansicht des orthodox-altkatholischen Dialogs für die orthodoxe Seite? Die III. Vorkonziliare Panorthodoxe Konferenz [...] ist der Meinung, dass für eine umfassendere Auswertung der Dialogergebnisse zwei wesentliche Aspekte nicht außer Acht gelassen werden dürfen: a) die Aufrechterhaltung der alten Interkommunionspraxis der Altkatholischen Kirche mit der Anglikanischen Kirche sowie neuere Tendenzen zu einer ähnlichen Praxis mit der Evangelischen Kirche in Deutschland. Diese Tendenzen schwächen die Bedeutung der gemeinsam unterzeichneten ekklesiologischen Texte ab; b) die Schwierigkeiten, die die Altkatholische Kirche hat, die Theologie der gemeinsam unterzeichneten Lehrtexte voll in ihr Leben einzuführen und in die Praxis umzusetzen (Una Sancta 42/1987; 9f.; Arx 1997, 190).

Fasst man b) als Explikation von a) auf, so könnte man von einer Anfrage ausgehen, die in diesem Text enthalten ist. Diese Anfrage ließe sich, frei formuliert, etwa

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so ausdrücken: Kann die christkatholische Kirche überhaupt katholisch sein, also als die dem Ganzen gemäße Kirche subsistieren, wenn sie bestimmte Kirchen als dem Ganzen gemäß anerkennt, die wiederum Kirchen als dem Ganzen gemäß anerkennen, die in Bekenntnis, Amt und Gottesdienst ein Selbstverständnis haben, das die christkatholische Kirche nicht als katholisch im vollen Sinn akzeptieren kann? Man könnte das Problem mit Hilfe einer einfachen logischen Überlegung klarmachen: Wenn A B impliziert, B C impliziert und C D impliziert, dann impliziert A D. Das heißt konkret: Wenn das ekklesiologische Selbstverständnis der christkatholischen Kirche die Anerkenntnis des ekklesiologischen Selbstverständnisses der anglikanischen Kirchen und der lutherischen Kirche Schwedens impliziert und das ekklesiologische Selbstverständnis der schwedischen Kirche die Anerkenntnis der Mitgliedskirchen der Leuenberger Konkordie, dann müsste rein logisch das ekklesiologische Selbstverständnis der christkatholischen Kirche die Anerkenntnis des ekklesiologischen Selbstverständnisses der Mitgliedskirchen der Leuenberger Konkordie implizieren, also auch der reformatorischen Kirchen der Schweiz. Dies ist jedoch nicht der Fall, da zwischen Reformierten und Christkatholiken in der Schweiz keine Kirchengemeinschaft besteht. Eine Antwort auf die orthodoxe Anfrage könnte darin bestehen, den Terminus „full communion“ mit der anglikanischen Kirchengemeinschaft neu zu definieren. Vor dem Hintergrund der Vereinbarung zwischen der deutschen altkatholischen Kirche und der evangelischen Kirche in Deutschland könnte man eucharistische Mahlgemeinschaft nicht mehr im Sinne eines Ausdrucks einer bestehenden Koinonia verstehen, sondern als einen wesentlichen Schritt hin zum Aufbau dieser Koinonia. Dann könnte man auch die full communion mit den Anglikanern nicht mehr als Resultat einer Übereinstimmung im Wesentlichen des Glaubens verstehen, sondern aufgrund der weitgehenden neueren Entwicklungen vorsichtiger als eine so weitgehende Übereinstimmung im Wesentlichen des Glaubens interpretieren (also nicht mehr in allem), dass sie eucharistische Koinonia rechtfertigt. Man hätte also aus der Übereinstimmung im Wesentlichen des Glaubens eine weitgehende Übereinstimmung gemacht. Allerdings wird damit die Koinonia im Wesentlichen des Glaubens „verwässert“. Sie würde gegenüber den Anglikanern und schwedischen Lutheranern hinter ein bereits erreichtes Resultat zurückgehen – dies könnte freilich sogar ein spätes Eingeständnis sein, dass es ein Fehler war, dieses Wesentliche nicht ausführlich auszusagen, sondern aufgrund erkenntnistheoretischer Toleranz in der Schwebe zu lassen. Es scheint derzeit keine schlüssige Antwort auf die orthodoxe Anfrage zu

„Erkenntnistheoretische Toleranz“ als Grundlage heutiger Ökumene?

geben. Die Diskussion der dogmatischen These, dass die katholische Kirche in der christkatholischen Kirche subsistiert, hat darum auf eine bleibende Schwierigkeit aufmerksam gemacht, die man etwas flapsig die „Full-Communion-Kaskade“ oder in rahnerscher Terminologie eine Kaskade erkenntnistheoretischer Toleranz nennen könnte. Von daher bleibt es eine wichtige Aufgabe aller ökumenischen Gespräche, gemeinsam das Wesentliche des Glaubens und damit auch des eigenen Selbstverständnisses klarzulegen, also herauszuarbeiten, worin die Grenzen der jeweiligen erkenntnistheoretischen Toleranz bestehen. Dann müsste auch gemeinsam untersucht werden, wie die einzelnen Kirchen ihre Vereinbarungen mit anderen Kirchen vor dem Hintergrund ihres Selbstverständnisses begründen und ob die Großkirchen ein solches Selbstverständnis als kompatibel mit dem eigenen ekklesiologischen Selbstverständnis erkennen und anerkennen können. Nur dann wird die Einheit zur realen Möglichkeit. Es macht einen fundamentalen Unterschied, ob jemand einen Anspruch – er mag materialiter aussehen, wie er möchte – erhebt, der sich auf alle bezieht, und diesen Anspruch diesen anderen zur Anerkenntnis vorlegt, oder ob er den Anspruch den anderen aufzwingen will, indem er sie gar nicht in den Entscheidungsfindungsprozess mit einbindet. Anders formuliert: Wenn eine sich als katholisch verstehende Kirche das Selbstverständnis von Kirche ändern möchte, diese Änderung aber als legitime Entfaltung dieses Selbstverständnisses ansieht, dann kann sie dies nur in Koinonia mit den anderen Ortskirchen tun; dies gilt auch für unter einem Patriarchat vereinigte Ortskirchen. Wenn diese Gemeinschaft von Kirchen ihr Selbstverständnis entfalten möchte, so hat sie die anderen Gemeinschaften von Ortskirchen an diesem Prozess zu beteiligen. Kommt dieser Prozess nicht zustande, dann hat sie um der Gemeinschaft willen auf diese Form der Entfaltung zu verzichten. Allerdings hat sich bereits die alte Kirche nicht danach gerichtet und beispielsweise das Konzil von Chalkedon als ökumenisches Konzil verstanden, obwohl es von der apostolischen Kirche von Alexandrien nicht rezipiert wurde. Erst in den letzten Jahren haben Orthodoxie und vorchalkedonische Ostkirchen sich in ihrem christologischen Glauben wieder als Ebenbilder anerkannt. Ein möglicher Weg zu einer realen Einheit müsste nochmals unterscheiden zwischen einer Änderung des Selbstverständnisses, das direkt die Zuordnung, die Über- bzw. Unterordnung von Kirchen betrifft, und einer Entscheidung über andere Glaubensfragen. Eine Änderung des Selbstverständnisses, das zu einer neuen Zuordnung der einzelnen Kirchen der Koinonia führt, würde dann neben der Anerkenntnis durch die große Mehrheit der Ortskirchen die einstimmige Zustimmung aller apostolischen Kirchen erfordern. Vor diesem Hintergrund wäre dann einerseits berechtigt, dass Rom die Rezeption des Kanon 28 des Konzils von Chalkedon verweigert, in dem Konstantinopel auf dieselbe Stufe mit Rom gestellt

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wurde, andererseits aber auch die orthodoxe Ablehnung der römischen Ansprüche rechtfertigt, die im Ersten Vatikanischen Konzil ihren Höhepunkt fanden. Allerdings scheint der Jurisdiktionsprimat Roms nötig zu sein, um die kirchliche Einheit zu garantieren, und das Charisma der Unfehlbarkeit wichtig zu bleiben, um einen Rezeptionsprozess definitiv abzuschließen. Ohne den päpstlichen Primat in diesem Sinne, so die Überzeugung, wird die kirchliche Koinonia mit der Zeit handlungsunfähig bzw. ist von Spaltungen bedroht. Rom könnte konkret auf die derzeitige Entwicklung der Utrechter Union anspielen. So hatten die Mitgliedskirchen in der Utrechter Vereinbarung in der Fassung von 1974 ausdrücklich in Art. 10 formuliert: „1. Die Bischöfe gehen anderen Kirchen gegenüber keine Verpflichtung ein, ohne dass dies vorher in gemeinschaftlicher Beratung besprochen und von der Internationalen Bischofskonferenz gebilligt worden ist“ (Una Sancta 42/1987, 9f.; Arx 1997, 190). Dennoch ging die altkatholische Kirche Deutschlands mit der Evangelischen Kirche in Deutschland eine Vereinbarung zur gegenseitigen Einladung zur Eucharistie ein. Damit geht eine Kirche, die die christkatholische Kirche als Repräsentation der katholischen Kirche anerkennt, einen Schritt, den sie nicht hätte gehen dürfen – ganz zu schweigen davon, dass sie eine Vereinbarung bricht. Ähnliches wiederholte sich in der Frage der Frauenordination. In beiden Fällen stellt die Entscheidung einer altkatholischen Ortskirche eine Entfaltung des Selbstverständnisses dar, das eigentlich einer Rückversicherung bei der Koinonia der Ortskirchen bedurft hätte. Die PNCC hat die Kommuniongemeinschaft mit jeder Kirche aufgehoben, die sich zur Weihe von Priesterinnen entschlossen hat, wodurch die Union der altkatholischen Kirchen zerbrochen ist. Nur nebenbei gesagt: Allein dieser Schritt macht deutlich, dass die Behauptung, die Entscheidung, Frauen zu Priesterinnen zu weihen, sei nur die Angelegenheit der Ortskirche, schlicht falsch ist – zumindest, wenn das obige Selbstverständnis von katholischer Kirche und den daraus sich ergebenden Konsequenzen korrekt ist. Auch in der Orthodoxie zeigt die einseitige Aufkündigung der Eucharistiegemeinschaft durch die russische Kirche gegenüber dem ökumenischen Patriarchat von Konstantinopel und der griechisch-orthodoxen Kirche, weil Bartholomaios der ukrainischen Kirche Anfang 2019 den Tomos überreichte, sie also als autokephal anerkannte, und die griechische Kirche dies mittrug, wie problematisch es ist, wenn keine letzte Entscheidungsinstanz vorhanden ist, die einen „Jurisdiktionsprimat“ hat. Von daher stellt sich die Frage, welche Form eines päpstlichen Primats einerseits die reale Einheit der Großkirchen gewährleisten kann und andererseits von allen diesen Kirchen als legitim anerkannt wird. Dass sich Rahner dieser Problematik in seinem letzten großen Werk zusammen mit Fries gestellt hat, verdeutlicht nochmals die Bedeutsamkeit seiner Theologie, die eine ganz besondere Form versöhnender Theologie ist. Sein Vorschlag erkenntnistheoretischer Toleranz verdient von da-

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her trotz der unübersehbaren Schwierigkeiten einer Grenzziehung, worin das zu bekennende Wesentliche besteht, weiterer Reflexion.

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Hans-Martin Rieger

Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens Eine ethische Perspektive Versöhnung setzt eine Transformation des Herzens voraus. Sie erfordert eine Veränderung des affektiven Resonanzraums und des emotionalen Bedeutungshorizonts. Diese noch näher zu entfaltende These soll als Gelegenheit genommen werden, über eine Revision des herkömmlichen Verständnisses von Ethik nachzudenken. Eine solche Ethik ist in der Regel auf rationale Begründungen von moralischen Urteilen bzw. Handlungen aus und verbannt Emotionen bzw. Wünsche ins Gebiet der arationalen Komponenten des Handelns. Im besseren Fall werden sie den motivierenden Impulsen zugewiesen. Eine solche Ethik macht konsequent von einer Trennung von Vernunft auf der einen Seite und Gefühl bzw. Emotion auf der anderen Seite Gebrauch. Diese Trennung wiederum entspricht dem klassisch gewordenen belief-desire-Modell von David Hume, demzufolge nur Überzeugungen wahrheitsfähig sein können. Denn nur diese vermitteln angeblich kognitive Repräsentationen. Affekte bzw. Gefühle hingegen besäßen keinen kognitiven Gehalt, seien darum nicht wahrheitsfähig und entzögen sich der rationalen Kritisierbarkeit. Dieses klassisch gewordene Modell präferiert eine desengagierte Beschreibungsperspektive. Die ethische Relevanz einer engagiert-emotionalen Wirklichkeitserschließung, in welcher Affekte und Emotionen eine fundamentale Rolle spielen und welche auch kognitiv und rational alles andere als unerheblich ist, kommt so nicht in den Blick. Genau für eine solche engagiert-emotionale Wirklichkeitserschließung steht aber das Herz. Bereits die biblische Metapher verweist auf einen Resonanz- und Orientierungsorgan des Menschen (Janowski 2015, 17). Als solches kann ihm – das wird zu zeigen sein – sowohl eine motivierende als auch eine rational machende Funktion zugeschrieben werden. Das bedeutet beispielsweise: Phänomene wie Mitgefühl entstehen im Herzen oder sie entstehen überhaupt nicht. Aber auch, dass sich an der Ausrichtung des Herzens (seinem „Hören“) entscheidet, was für einen Menschen affektiv und evaluativ bedeutsam wird, auf was er anspricht, was ihn „berührt“, was ihm wertvoll erscheint. Aufgrund seiner physiologischen Naturalisierung in der neueren Wissensgeschichte fiel das Herz zur Explikation einer bedeutungsvernehmenden und wertschätzenden Wahrnehmung weitgehend aus. Die Rezeptionslinie des biblischaugustinischen Verständnisses führt über Blaise Pascal und Friedrich Heinrich Jacobi und findet in Max Scheler ihren letzten großen Exponenten. Danach verlager-

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te sich letztlich derselbe Sachverhalt auf den schon bei Pascal parallel gebrauchten Begriff des Gefühls. Gerade Scheler kann – wenn er überhaupt in den Blick kommt – als herausragender Vertreter einer Ethik des Gefühls betrachtet werden. Sein durchgehendes Bemühen war es, den Grundausrichtungen der menschlichen Lebensorientierung in leiblich-affektiven Vollzugsakten des Fühlens und Wollens eine fundamentale Relevanz für alles menschliche Wahrnehmen und Handeln zuzuerkennen – jedoch so, dass diese Vollzugsakte nicht der Irrationalität preisgegeben werden. Wegweisend war ihm die Grundeinsicht Pascals: „Das Herz hat seine Gründe, welche die Vernunft nicht kennt“.1 Ich werde im Folgenden die Linie über Max Scheler bis zur neueren Emotionsphilosophie etwas nachzeichnen. Was das Ergebnis sein wird, lässt sich am Gleichnis des barmherzigen Samariters (Lk 10, 25–37) vorab und in einer ersten Näherung illustrieren: Der Samariter nimmt den Verletzten und also seine Mitwelt nicht rein kognitiv wahr, um auf der Grundlage dieser Wahrnehmung eine an seiner Pflicht, am Guten, an seiner Verantwortung etc. orientierte Bewertung unterschiedlicher Handlungsoptionen vorzunehmen. Vielmehr erfasst er emotional das situativ Bedeutsame, das sich ihm aufdrängt. Ein solches emotionales Erfassen ist wiederum von einem Bedeutsamkeitshorizont abhängig. Man könnte auch sagen: von einer affektiven Hintergrundorientierung darüber, was einem am Herzen liegt oder nicht, darüber, was Resonanz oder Ablehnung findet. Scheler wird mit Pascal an dieser Stelle eine „Ordnung des Herzens“ stark machen, Heidegger wird von Befindlichkeiten und Stimmungen reden, Robert C. Roberts von „concerns“ (Roberts 2003, 79f.), Hartmut Rosa von moralischen Landkarten, die den Resonanzbeziehungen vorausliegen (Rosa 2016, 225f.). So gesehen führen der Samariter und der vorbeigehende Levit schlicht unterschiedliche affektiv-evaluative Bedeutsamkeitswelten mit sich; sie sind anders in-die-Welt-gestellt. Eine „Herzenswandlung“ entspricht daher einer Wandlung des Bedeutsamkeitshorizonts. Sie lässt anders empfinden und sie macht auch andere Handlungen rational. Damit ist auch der Bogen gespannt zum Titel eines von der DFG geförderten transdisziplinären Forschungsprojekts, das Martin Leiner initiiert hat. Es trägt den Titel: „Hearts of Flesh – Not Stone“. Das Projekt fragt nach den Voraussetzungen der Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern und konzentriert sich dabei auf die Fähigkeit des Mitleidens. Der Titel erinnert an ein Wort aus Ez 36,26, in dem die Herzenswandlung im Sinne einer Veränderung hin zu einem lebendigen und affizierbaren Herzen als Fundament für eine moralische Erneuerung des Volkes angekündigt wird. Meine These impliziert also, dass es sich hier keinesfalls nur um

1 PLa 423 (Hervorheb. von H.-M. R.). Die Abkürzung verweist auf die Nummerierung der Pensées von Lafuma, Pascal 1963.

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eine mehr oder weniger einfallsreiche Metaphernsprache handelt. Hier geht es vielmehr um philosophisch-ethische und theologisch-ethische Grundentscheidungen, die für eine Ethik der Versöhnung und für die Ethik im Allgemeinen zu bedenken sind.

1.

Das emotionale Leben und die Schlamperei der Ethik

Die Renaissance der Emotionen in der Gegenwart prägt nicht nur die Psychologie und die Neurowissenschaften, sie hat auch zu einer breitgefächerten Philosophie der Emotionen geführt. Eine Rezeption des Werks von Max Scheler wird man dabei nicht häufig finden. Obwohl sich dieser bereits vor hundert Jahren um eine Rehabilitation des Gefühls in der Erkenntnislehre und Anthropologie bemüht und dabei auch eine wegweisende Studie zum Mitgefühl und der Sympathie vorgelegt hatte. Zu einer Rezeption von Scheler kommt es am ehesten in den neueren Konzepten, die Emotionen intentional auf Werte beziehen. Gerade hier lauert allerdings zugleich eines der größten Rezeptionshindernisse – sieht man einmal davon ab, dass es mehrere biographische Gründe für Schelers fehlende Bekanntheit gibt.2 Seine Wertethik wurde aufgrund ihres Wertrealismus – schon von dem ihm nahestehenden Heidegger – pauschal einer Wertphilosophie im Sinne von Rudolph Hermann Lotze oder Nicolai Hartmann zugeordnet und ob einer angeblichen Ontologisierung der Werte kritisiert. Diese Auseinandersetzung ist hier nicht weiterzuführen.3 Nachdem Scheler in den 1920er Jahren gerade durch seine Studien zum emotionalen Leben und seine kritische Aufarbeitung des Erbes von Immanuel Kant und der Phänomenologie Edmund Husserls als ein wichtiger und einflussreicher Philosoph galt, schien er nach dem Zweiten Weltkrieg als „Philosoph der Werte“ in Ungnade gefallen zu sein. – Im Folgenden werde ich mich ihm als einem Exponenten einer „Phänomenologie des emotionalen Lebens“ und als Vertreter einer „emotionalen Ethik“ zuwenden.4

2 Zu denken ist an die schleppende Neuherausgabe der Werke nach 1945; zuvor konnte er als „jüdischer Geist“ nur anonym zitiert werden. Zu denken ist aber ebenso an seinen anstößigen und unsteten Lebenswandel (vgl. Sander 2001, 9–12). 3 Angemerkt sei lediglich: Werte werden von Scheler als qualitative Eigenschaften aufgefasst. Es „gibt“ sie nicht an sich in einem unabhängig bestehenden Wertehimmel, sondern nur im Umgang, im Akt. Im Vollzug des Fühlens kommt die Werthaftigkeit der Welt zur Gegebenheit (Scheler 2001, 21; 265). Objektivität wird für die Vollzugsgesetze der emotionalen Akte des Vorziehens und Nachsetzens behauptet. 4 Auch die Selbstbezeichnungen „Wertphänomenologie“, „emotionaler Intuitivismus“ oder „materialer Apriorismus“ (vgl. Scheler 2001, 14; 83).

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Scheler sieht es als „allgemeine Schlamperei in Dingen des Gefühls, in Dingen von Liebe und Haß“ an, „das gesamte emotionale Leben als stumme, subjektive menschliche Tatsache“ anzusehen (Scheler 1991, 18). Es komme so nicht in den Blick, dass das emotionale Leben eine „sinnvolle Zeichensprache“ mit eigener Rationalität darstelle, die Bedeutungszusammenhänge des Lebens zu enthüllen vermag. Dementsprechend sei ein Hören auf das, was ein Fühlen sagen könne, „dem modernen Menschen geradezu konstitutiv abhanden gekommen“ (Scheler 2001, 20). Das Mittelalter hingegen habe noch eine „Kultur des Herzens“ gekannt und dem Gefühl bzw. der Intuition eine intentionale Beziehung auf die gegenständliche Welt nicht abgesprochen. Genau darum geht es Scheler: Würde man sich dessen gewahr, dass im (intentionalen) Fühlen sich uns die Welt unmittelbar – also nicht vermittelt durch kognitive Vorstellungen – in ihrer Bedeutsamkeit (oder: von ihrer Werteseite her) erschließt, käme auch die ethische Relevanz dessen, was ein Hören auf ein Fühlen mitteilt, wieder in den Blick (Scheler 2000, 265). Und dann würde man nach der Struktur und Ordnung dieses Fühlens auch wieder philosophisch fragen. Am zweckrationalen Handeln orientiert, habe die philosophische Ethik aber das gesamte Feld des emotionalen Lebens der Psychologie zur Erforschung überlassen (Scheler 1991, 21). Diese Arbeitsteilung sieht Scheler als verhängnisvoll an. Denn die Beschreibungsperspektive der Psychologie richtet sich auf Zustände des Gefühls im Individuum (auf feelings), sie fragt nach der Ursache dieser Gefühle in der äußeren Gegenstandswelt oder der inneren Körpererfahrung, gegebenenfalls vermittelt durch gewisse Selbst- und Weltkonstruktionen. Diese Betrachtung ist für das, was in Akten des Fühlens geschieht, insensitiv. Es ist aber ein erheblicher Unterschied, ob ein Liebender sein Gegenüber in Liebe erfasst und in dieser Bewegung sich dem geliebten Gegenüber hingibt – oder ob er auf die Empfindungszustände und Gefühle, auf sein Sehnen etc. selbst hinblickt, die vom geliebten Gegenüber bewirkt werden (Scheler 1991, 20). Für die Philosophie war diese Arbeitsteilung verhängnisvoll, weil sie ungestört weiter ihrer Voraussetzung folgen konnte, dass die unmittelbare Beziehung auf die Gegenstandswelt nur dem Wahrnehmungs- und Denkakt zukomme. Jede andere Beziehung (wie eben auch die emotionale) komme erst durch eine vermittelnde Leistung des Denkakts zustande. Diesem wird zugeschrieben, einen inneren (Gefühls-)Zustand auf Gegenstände zu beziehen. Damit sei verkannt, dass wir „mit der Fülle unseres Geistes zunächst in den Dingen, in der Welt“ leben und in allen Vollzugsarten Erfahrungen machen, „die mit der Erfahrung dessen, was sich während des Aktvollzugs in uns vollzieht, gar nichts zu tun haben“ (Scheler 1991, 22). Diese Vorstellung deutet nun auch schon Schelers eigenen Wirklichkeitszugang an. Die Grundstruktur einer teilnehmenden Wirklichkeitserschließung ist vorgezeichnet. Letztlich ist bereits der Weg zu Heideggers Ausgangspunkt gebahnt, dass eine praktisch-partizipative Weltbeziehung (des Vertrautseins, des Liebens

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– und vor allem: des Sorgens) das In-der-Welt-Sein des Menschen bestimmt und allem Erkennen und Handeln vorausliegt. Die Hauptthese Schelers besteht also darin, dass das Fühlen einen Weltbezug sui generis darstellt: Im Fühlen erschließt sich die Welt in ihrer Werthaftigkeit, in ihrer Bedeutsamkeit. Im Unterschied zu Gefühlszuständen, welche gleichsam „Echos der Welterfahrung“ sind, die ein Mensch in der Begegnung mit der Welt macht, stellt das Fühlen eine emotional-aktive Funktion dar, die keiner Vermittlung durch eine Vorstellung bedarf (Scheler 2000, 264f.). Beim Fühlen handelt es sich selbst um einen „objektivierende[n] Akt“, der die Welt – in ihrer Werthaftigkeit bzw. Bedeutsamkeit – erfahren lässt. Die Akte der Wertschätzung, Scheler nennt sie Akte des Vorziehens und Nachsetzens, sind davon noch einmal zu unterscheiden. Diese bilden ein „höheres Stockwerk“ des emotionalen Lebens – über den leiblichen Affekten, den seelischen Leidenschaften, den zuständlichen Gefühlen und dem wertintentionalen Fühlen (Scheler 2000, 265).5 Sie stellen nicht nur antwortende Akte auf Werthaftes dar, sie steuern vielmehr grundlegend die Ordnung dessen, was überhaupt Bedeutsamkeit und Wert erlangen kann, was bejaht, zurückgesetzt oder abgewiesen wird. Sie bilden die Rangordnung dessen ab, was uns mehr oder weniger am Herzen liegt. Scheler führt die emotionalen Akte des Vorziehens und Nachsetzens auf die beiden Grundakte des Liebens und Hassens zurück. Wichtig ist ihm dabei, dass Liebe nicht auf gefühlte Bedeutsamkeit bzw. Werthaftigkeit antwortet, sondern selbst einen Bedeutsamkeits- und Werthorizont eröffnet bzw. entdecken lässt (Scheler 2000, 266; vgl. Scheler 2000, 87). Liebe macht also nicht blind, sie macht sehend (Scheler 2015, 182). Als positives Interessenehmen bestimmt sie, welch anderes Seiendes wir gemäß des ihm eigenen Werts bejahen können, anstatt es beispielsweise funktionalistisch zu beherrschen (Scheler 1991, 12).

2.

Die Umwelt der Wertschätzung und der „ordo amoris“

Eine wichtige Gelenkstelle von Schelers Konzeption ist in dessen Rückgang auf ein „Ethos des Subjekts“ zu sehen. Es ist dies ein Rückgang auf dessen Struktur, besser: dessen Ordnung der Wertschätzung (Scheler 1991, 3). Scheler nennt diese Ordnung der Wertschätzung „ordo amoris“ und sieht sie in einer faktischen und einer idealen Form gegeben. Er behauptet:

5 Zur Übersicht der Terminologie aus der Sicht eines heutigen Vertreters einer Philosophie der Emotionen vgl. Mulligan 2012.

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Wer den ordo amoris eines Menschen hat, hat den Menschen. Er hat für ihn als moralisches Subjekt das, was die Kristallformel für den Kristall ist. Er durchschaut den Menschen so weit, wie man einen Menschen durchschauen kann. Er sieht vor sich die hinter aller empirischen Mannigfaltigkeit und Kompliziertheit stets einfach verlaufenden Grundlinien seines Gemütes, welches mehr den Kern des Menschen als Geistwesen zu heißen verdient als Erkennen und Wollen“ (Scheler 1991, 4).

Der faktische ordo amoris bestimmt die Regeln und die Struktur des individuellen Wertvorziehens, er ist die Ordnung dessen, was uns liebenswert erscheint und hat entscheidenden Einfluss auf die anderen Schichten des emotionalen Lebens, also beispielsweise für die Regungen der Leidenschaften. Kurz: Er bestimmt die Welt, die für uns Bedeutsamkeit und Werthaftigkeit bekommt. An dieser Stelle bestehen für Scheler Anknüpfungspunkte an Neukonzeptualisierungen der damaligen Biologie und Psychologie. Um die Jahrhundertwende war Jakob von Uexküll dazu angetreten, die Subjekthaftigkeit des Lebens auch in der Biologie einzufordern. Er tat dies mit seinem Organismus-Umwelt-Konzept. Eine zentrale Einsicht dieses Konzepts besteht darin, dass sich weder ein lebender Organismus bzw. ein lebendes Individuum noch seine Umgebung je für sich beschreiben lassen – Ersteres etwa als physiologische Einheit, Letzteres etwa als physikalisch-chemisch analysierbare Außenwelt. Organismus und Umwelt lassen sich vielmehr erst aufgrund der Beziehungen beschreiben, die zwischen ihnen bestehen. Dabei handelt es sich um einen kreisförmigen Prozess, den Jakob von Uexküll als „Funktionskreis“ bezeichnete (von Uexküll 1928).6 Die zentrale Einsicht lässt sich positiv folgendermaßen zusammenfassen: Ein lebendiger Organismus bzw. ein lebendes Individuum besitzt die Fähigkeit, sich eine zu seinen Bedürfnissen und seinen Verhaltensmöglichkeiten passende Umwelt zu konstruieren. „Umwelt“ ist also derjenige Ausschnitt aus der Welt, der für einen Organismus bzw. für ein lebendes Individuum von Bedeutsamkeit ist bzw. werden kann. Ein Lebewesen erfährt seine Umgebung nicht als objektiver Zusammenhang von Gegenständlichkeiten, sondern als subjektive „Umwelt“. Sie umgibt es wie eine „Wohnhülle“. Eine Waldzecke beispielsweise nimmt ihre Welt nicht über Sehen und Hören wahr, sondern nur über ein Geruchsorgan, das auf Buttersäure, die im Schweiß der Warmblüter vorkommt, reagiert. Auf diese Welt ist sie eingestellt, sie ist die für ihre Bedürfnisse passende „Umwelt“. Die „Innenwelt“ eines lebenden Individuums wiederum besitzt eigene Strukturen und Ordnungen, welche die 6 Aufgenommen als „Situationskreis“ von seinem Sohn Thure von Uexküll und zur Grundlage eines bis heute rezipierten hochstufigen Verständnisses von psychosomatischer Medizin genommen, während Viktor von Weizsäcker mit seinem „Gestaltkreis“ eine verwandte und doch eigenständige Grundlegung anstrebte (vgl. von Uexküll und Wesiack 1998, 157). Scheler stellt Grundgedanken der Umwelttheorie Uexkülls dar (Scheler 2000, 157).

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Interpretation, die Bedeutsamkeit und die Auseinandersetzung jener „Umwelt“ steuern.7 Auf dem Hintergrund dieser Umwelttheorie erhellt sich nun nicht nur der Grundsatz Schelers, dass ein Mensch seine „Umwelt“ immer schon als bedeutsame und wertbehaftete praktisch wahrnimmt, es erschließt sich auch sein Verständnis dessen, was er mit dem Begriff „ordo amoris“ und dem ihm zugeordneten soziologischen Terminus „Milieu“ meint. Etwas vereinfacht formuliert: So wie die Zecke in ihrer Welt wohnt und sie wie eine Wohnhülle mit sich führt, so besitzt der Mensch seine Welt der Bedeutsamkeit und Werthaftigkeit, seine „praktisch als wirksam erlebte Wertewelt“, im soziologischen Begriff: sein „Milieu“ (vgl. Scheler 2000, 154; 156f.). Bei allem äußeren Wechsel der Umgebung bleibt die Struktur dieser Welt weitgehend konstant, sie lenkt die aktive und passive Aufmerksamkeit eines Menschen. Ein Jäger befindet sich in einem anderen „Milieu“ als der Spaziergänger im Wald, beide erleben ihn anders, bemerken anderes etc. (Scheler 2000, 157). Das „Milieu“ gleicht darum auch einer „festen Wand“ unserer Weltwahrnehmung. Seine jeweilige Ausprägung verdankt sie letztlich nicht leiblichen Gewohnheiten (Mensch als leibliches Wesen), sondern den Strukturen des faktischen „ordo amoris“ (Mensch als geistiges Wesen). Ich zitiere die wichtige Passage etwas ausführlicher: In der je besonderen Rangordnung der einfachsten […] Werte und Wertqualitäten, welche die objektive Seite seines ordo amoris darstellen, schreitet der Mensch einher wie in einem Gehäuse, das er überallhin mit sich führt; dem er nicht zu entrinnen vermag, wie schnell er auch liefe. Er gewahrt durch die Fenster dieses Gehäuses die Welt und sich selbst – nicht mehr von der Welt und sich selbst und nichts anderes als das, was ihm diese Fenster nach Lage, Größe, Farbe zeigen. Denn die Umweltstruktur jedes Menschen – in ihrem Gesamtinhalt schließlich gegliedert nach ihrer Wert-Struktur – wandert und verändert sich nicht, wenn der Mensch immer weiter wandert im Raume (Scheler 1991, 4).8

Dieser sein faktischer „ordo amoris“ prägt also die praktische Welterfahrung des Menschen. Sie ist der Horizont, innerhalb dessen Einzelerfahrungen gemacht werden können. Es handelt sich um sein „faktisches Ethos“, das die Regeln des Wertvorziehens und -nachsetzens enthüllt und die weitere Struktur und den weiteren Gehalt seiner Weltanschauung, seiner Welterkenntnis und auch seiner Hingabeund Herrschaftstendenzen bestimmt (Scheler 1991, 13). Die Metapher des Herzens steht bei Scheler daher nicht nur für eine Fähigkeit des wertschätzenden Beziehens

7 Die menschliche Psyche stellt für von Uexküll und Wesiack (1998, 195) dann die Fähigkeit dar, eine Innenwelt der Phantasie aufzubauen, in welcher die Auseinandersetzung mit Objekten der Umwelt in der Vorstellung durchgespielt werden kann. 8 Hervorhebung gestrichen.

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auf die Welt, sondern – seiner Ansicht nach die wichtigste Erkenntnis, die er Pascal verdankt – für eine vorausliegende Struktur bzw. Orientierung der Wertschätzung, eben für einen „ordre du cœur“ (Scheler 1991, 10). Nach ihr ist unsere jeweilige „Umwelt“ als bedeutsame Wertewelt aufgebaut. Ich breche die Skizze des Gedankengangs von Scheler an dieser Stelle einmal ab und konzentriere mich im Folgenden darauf, einige wichtige konzeptuelle Fragen einer weiterführenden Diskussion zugänglich zu machen: Der eben skizzierte Gedankengang beschränkte sich weitgehend auf den faktischen „ordo amoris“. Scheler ist allerdings der Ansicht, davon einen idealen normativen „ordo amoris“ unterscheiden zu können. Darauf zielt auch seine Rezeption des „ordre du cœur“ von Pascal. Damit wird dieser Gedanke Pascals aus seinem ursprünglichen Entstehungskontext der Auseinandersetzung mit der Erkenntnistheorie René Descartes und der Skepsis Michel de Montaignes heraus- und in Schelers Kontext der Auseinandersetzung mit der Transzendentalphilosophie Immanuel Kants hineingenommen. Er verändert sich dadurch selbst. Er wird zum Grundbaustein von Schelers „materiale[m] Apriorismus“ und seinem Kampf gegen den „haltlosen Relativismus“ seiner Zeit (Scheler 2000, 15). Im Grunde transzendentalisiert Scheler den Gedanken von Pascal, indem er den „ordre du cœur“ nicht nur im Sinne einer kontingenten Wertschätzungsstruktur, sondern vor allem als Beleg für eine „ewige und absolute Gesetzmäßigkeit des Fühlens, Liebens und Hassens“ auffasst (Scheler 2000, 260).9 Weiterführend für gegenwärtigen Diskussionen in der Philosophie der Emotionen wie auch für eine Soziologie der Weltbeziehung erscheint eher eine detranszendentalisierte (vgl. Habermas 2013, 27–83) Lesart Schelers. Ihr entspricht die Vermutung, dass, was die Daseinsverwobenheit der (evaluativen) Weltbeziehung betrifft, die Rezeptionsspuren von Pascal mindestens ebenso zu Heidegger führen (vgl. Raffelt 2007, 189–205). Lässt man also Schelers Überschritt bzw. Vertiefung zu einem apriorisch-idealen „ordo amoris“ einmal außen vor, so bietet bereits sein Rekurs auf den faktischen „ordo amoris“ und das „Milieu“ ein weites Diskussionsfeld. Offensichtlich ist zunächst, dass sich ohne eine apriorisch-ideale Absicherung die Frage nach der Geltung und der Rationalität der behaupteten geistig-personalen Schemata bzw. Strukturen neu stellt. Davon weitgehend unabhängig steht die Frage nach ihrer Bildung zur Debatte. Beide Fragen spielen, wie noch zu sehen sein wird, in der gegenwärtigen Philosophie der Emotionen eine wichtige Rolle. Ich greife an dieser Stelle lediglich die zuletzt genannte Frage nach der Bildung auf, weil sich gerade hier im Vorgriff auf gegenwärtige Diskussionen bei Scheler

9 Pascal hatte nicht einmal die Mathematik von einer kontingenten Grundlage ausgenommen. Dazu und zu seinem Konzept der situierten Vernunft, vgl. Rieger 2010, 198–211.

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interessante Antworten finden lassen. Nahe liegt zunächst, die Bildung jener wertschätzenden personalen Strukturen und des mit ihnen verbundenen Milieus in der kindlichen Entwicklung zu verorten – etwa als Prägungen durch das nähere Beziehungsumfeld. Tatsächlich beschreitet auch Scheler diesen Weg. Das Problem besteht dann darin (und wird von Scheler auch auf unterschiedliche Weise bearbeitet), dass der faktische „ordo amoris“ in der Ausprägung eines bestimmten Milieus den Menschen gewissermaßen einsperrt und seine mögliche Weltwahrnehmung determiniert. Offensichtlich besteht nämlich ein Zirkel: Die persönliche Wahrnehmungsstruktur der Wertschätzung bildet sich durch Erfahrungen, die von dieser Wahrnehmungsstruktur selbst aber schon abhängig sind. Eine Erfahrung, die aus dieser Struktur ausbrechen und zu einer tiefgreifenden Wandlung der Wahrnehmungsstruktur selbst führen könnte, ist schwer denkbar. An dieser Stelle scheint Scheler der Liebe eine neuschöpferische Kraft zuzuschreiben. Erweckt zu werden vermag sie durch die Gestalt eines Vorbilds, das ausserhalb der eigenen Wertewelt und des eigenen Milieuraums stehend eine andersartige Wertschätzungsstruktur („ordo amoris“) erfahrbar werden lässt (Scheler 2000, 558f.). Angeblich allgemeine Sollensnormen vermögen viel weniger sittliche Veränderung bzw. Erneuerung zu bewirken als ein solches Vorbild. Erstere setzt die Person als individuelles Wertwesen nämlich außer Kraft, Letzteres nicht. Scheler bezeichnet das Vorbildsprinzip als „das primäre Vehikel aller Veränderungen in der sittlichen Welt“ (Scheler 2000, 561).10 In seiner Sympathieschrift taucht dasselbe Problem im Rahmen der Frage auf, wie die Wertschätzungsstruktur eines Egozentrismus aufgebrochen werden könne. Unter Egozentrismus versteht Scheler die Illusion, die eigene ‚Umwelt‘ für die Welt schlechthin zu halten (Scheler 2015, 67). Andere Menschen werden dann nur in Bezug auf die eigene Selbst- und Wertschätzung wahrgenommen, ohne dass diese Wahrnehmungsstruktur irgendwie infrage gestellt werden könnte. Einzelne Akte des Nachfühlens oder Mitfühlens genügen hier nicht, zumal sie ja ohnehin von der bestehenden Struktur des Wertvorziehens abhängig sind. Notwendig ist ein prototypischer Akt des Mitfühlens, der das Realitätsbewusstsein zu wandeln vermag und den Anderen im selben Realitätsraum wahrnimmt, den man selbst bewohnt. 10 In seiner Abhandlung Vorbilder und Führer zeichnen sich Vorbilder durch die Verbindung von einem empirischen und einem apriorischen Moment, von Bild- und Wertkomponente aus. Das Vorbild sei eine „personal geformte Wert-gestalt“, in die man seelisch hineinwachse bzw. sich hineinbilde. Dieser Gedanke wird der „heute einseitig bevorzugte[n] Führerfrage“ kritisch gegenübergestellt (Scheler 1986, 262, 267). Mit Schelers Vorbildprinzip wäre der für Dietrich Bonhoeffers Ethik zentrale Gedanke einer „Gestaltwerdung“ zu vergleichen, (vgl. Bonhoeffer 1992, 80f.). Bonhoeffer redet von einem „Hineingezogenwerden in die Gestalt Christi“ und versteht dies näherhin als ein Sich-Prägen-Lassen und ein Sich-Bestimmen-Lassen, in welchem die in Christus realisierte Gestalt auf menschliche Interaktionsvollzüge gestaltbildend wirkt. Damit sei zugleich eine Pluralität der individuellen „Gestaltungsweisen“ freigegeben.

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Die Realität des Anderen wandert sozusagen herüber zum eigenen Ich. An dieser Stelle spricht Scheler metaphorisch davon, dass der Egoismus in seiner Unfähigkeit, das Fremdleiden in seinem Realitäts- und Wertgehalt emotional zu erfassen, Folge eines „in sich selbst verschlossenen Herzens“ darstelle (Scheler 2015, 70). Zu einer „Herzenswandlung“ kann es dann kommen, wenn ein an sich einzelner Fall des Mitgefühls als Beispiel aufgefasst – anders gesagt: zum Prototyp – wird, an dem nun das Wesen des Mitleidens überhaupt „ideierend“ erfasst werden und sodann die weitere Wahrnehmungs- und Verhaltensstruktur zu bestimmen vermag (Scheler 2015, 70).11 Wie gleich zu sehen sein wird, nimmt Scheler damit einen Gedanken vorweg, der in der gegenwärtigen Philosophie der Emotionen unter dem Begriff „Schlüsselszenarien“ diskutiert wird.

3.

Bedeutsamkeitswelten und Schlüsselszenarien

Gefühle sind nicht auf Begleitphänomene des Erkennens und Wollens oder auf innerpsychische Zustände zu reduzieren. Gefühle bzw. Fühlen sind vielmehr als primärer Modus einer engagiert-teilnehmenden Welterschließung zu würdigen, welche dem Menschen seine Welt als Welt von (praktischen) Bedeutsamkeiten erschließt. Sie besitzen deshalb eine fundamentale Rolle für das vernünftige Erkennen und Handeln. Damit ist die Grundeinsicht formuliert, in der Scheler und Heidegger übereinstimmen. Sie liegt auch den meisten Ansätzen der gegenwärtigen Philosophie der Gefühle zugrunde. Scheler und Heidegger gehen in der Frage auseinander, welcher Art des Fühlens bzw. des Gefühls eine solche fundamentale Rolle bei der Erschließung des In-der-Welt-Seins zuzumessen ist. Heidegger rekurriert hier auf die Befindlichkeit der Angst und der Sorge, Scheler auf die Resonanzfähigkeit der Liebe. Diese Differenz hat nicht nur mit ihrem jeweiligen problemgeschichtlichen Kontext zu tun, sondern mit tieferliegenden philosophisch-anthropologischen Grundentscheidungen.12 In der gegenwärtigen Philosophie spielt dieser Unterschied gegenüber der beiden gemeinsamen Grundeinsicht weniger eine Rolle. Robert C. Roberts

11 Zur Unterscheidung von maßnehmenden und ektypischen Erfahrungen auf der einen Seite und maßgebenden und prototypischen Erfahrungen auf der anderen Seite (vgl. Waldenfels 1994, 140f.). 12 Scheler selbst hat sich im Jahr vor seinem Tod noch intensiv mit Heidegger auseinandergesetzt und konzentriert diese Auseinandersetzung auch auf den Sorge- und Angstbegriff (vgl. Scheler 1976, 272; 274). Allerdings steht eine tiefere Differenz zur Debatte: Heideggers existentiales In-der-Welt-Sein trifft bei Scheler auf ein anthropologisches Schichtenmodell (sinnlich – seelisch – geistig), was Gefühle unterschiedlichen Schichten zuordnen lässt. Liebe gehört zu den geistigen Akten, Angst lediglich zu den vital-seelischen (vgl. weiter Gabas 2003).

Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens

definiert Emotionen als concern-based construals: Sie sind aspekthafte Wahrnehmungen der Welt, die von einem engagierten Weltverhältnis des Sorgens und des Liebens, von dem, was einem am Herzen liegt, abhängig sind (vgl. Roberts 2003, 79f.). Er gibt dafür ein schönes Beispiel: Der Tomatengärtner nimmt den in den Wettervorhersagen angekündigten Sturm als bedrohlich wahr, weil ihm seine frisch gepflanzten Tomatensetzlinge am Herzen liegen. Der Unterschied zwischen Scheler und Heidegger zeigte sich in den neueren philosophischen Gefühlstheorien allerdings in verschiedenen Fokussierungen, die zu einem Ausgleich gebracht werden mussten: die Fokussierung auf intentionale (gerichtete) Wahrnehmungsakte – die Fokussierung auf (ungerichtete) strukturierende, affektiv-evaluative Hintergrundorientierungen. Die Renaissance der Gefühle präsentierte sich zunächst als Gegenbewegung zu Theorien des Gefühls, wie sie prominent von William James und neuerdings vom Neurowissenschaftler Antonio Damasio vertreten werden. Diesen Theorien zufolge bestehen Emotionen in Gefühlen – und zwar in Empfindungen körperlicher Zustände und Veränderungen (feelings) (Pugmire 2009). Kognitive Theorien heben demgegenüber als zentralen Aspekt hervor, dass Emotionen ein evaluativer Weltbezug eigen ist; sie haben Wahrnehmungs- oder Urteilscharakter. Diese Gegenbewegung verdankt sich dem Interesse der analytischen Philosophie und dem Anliegen, non-kognitivistischen Positionen des Emotivismus und des Intuitivismus in der Ethik entgegenzutreten. Indirekt nehmen sie damit eine Grundausrichtung des Ansatzes von Scheler auf. Entscheidend werden der Weltbezug bzw. das intentionale Objekt, weniger der Selbstbezug bzw. das subjektive Empfinden. Bei der Furcht vor einer Schlange käme es also auf das Furchtbare, nämlich die gefährliche Schlange an, weniger darauf, wie sich diese Furcht anfühlt oder welche leiblichen Erregungen sie mit sich bringt. Der kognitive Aspekt zeigt sich darin, dass die Furcht vor einer Schlange durch eine kognitive-repräsentationale Vorstellung ihre rationale Rechtfertigung auch verlieren kann – etwa dann, wenn die Schlage sich als Blindschleiche erweist. Allerdings führt die Parallelisierung mit kognitiven Akten (Überzeugungen/Urteilen) auch relativ schnell an Grenzen. Beispiele hierfür wären die sog. „emotionale Trägheit“ und das Auftreten irrationaler Emotionen. Ein vielzitierter Fall wird bereits von Michel de Montaigne geschildert: Ein Philosoph befindet sich in einem Käfig, der in großer Höhe an einem der Türme von Notre-Dame in Paris hängt. Er wird Furcht empfinden, obwohl ihm sein rationales Urteil nahelegt, gut gesichert zu sein (Montaigne 1998, 296).13 Dass sich innerhalb der philosophischen Gefühls- und Emotionstheorien der Schwerpunkt von Theorien des Gefühls zu kognitiven Theorien des Wahrnehmens

13 Zur Diskussion über diesen Fall vgl. Tappolet 2000.

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und Urteilens hin verschob, ist zunächst also im Kontext des Interesses zu sehen, Emotionen aus der Ecke dubioser arationaler Empfindungen und epiphänomenaler Gefühle herauszuholen und ihre kognitiv-rationale Funktion zu demonstrieren. Und zwar so, dass klar wird: Ohne Gefühle gibt es keine Welt der Bedeutsamkeit. Als Nachteil dieser an sich begrüßenswerten Entwicklung kann es gesehen werden, dass der Aspekt des leiblichen Fühlens – und damit die Erlebnisperspektive der Ersten Person – vernachlässigt wird. Gegenwärtige Emotionstheorien versuchen zwischen den Gegensätzen zu vermitteln, also Welt- und Objektbezug auf der einen Seite (die Schlange als gefährlich wahrnehmen) und Selbst- bzw. Erlebnisbezug auf der anderen Seite (das Fühlen bzw. Erleben der Furcht vor der Schlange) zusammen zu halten.14 Selbst Vertreter stark kognitiver Urteilstheorien, die darauf insistieren, dass Emotionen von etwas in der Welt handeln, versuchen mittlerweile dem Moment der subjektiv gefühlten Beteiligung Rechnung zu tragen. Ein Beispiel hierfür liefert die Position von Robert C. Solomon: Emotionen werden als ein Modus eines teilnehmenden Weltverhältnisses gesehen, als „gefühlte körperliche Beteiligung an der Welt“ (Solomon 2009, 167). Gefühle sind Akte der primären Welterschließung – und somit Akte des Bedeutung-Fühlens. Was im Folgenden dann größere Aufmerksamkeit finden konnte und ebenfalls zu einem konzeptionellen Element Schelers zurückführt, war zum einen die Frage nach dem situativen Bedeutsamkeitshorizont und zum anderen die Frage nach der motivationalen und rationalen Funktion der Gefühle. Es liegt auf der Hand: Etwas als ärgerlich, liebenswert, ekelhaft oder traurig zu empfinden, verdankt sich nicht nur einer an sich feststehenden Verbindung zwischen intentionalem Objekt der Emotionen und dazugehöriger Fühlensqualität. Entscheidend für die Zuordnung ist das „als“: Ich nehme eine Schlange als gefährlich wahr. In diesem Fall geht die Zuordnung auf erlernte und mitunter leiblich habitualisierte Bedeutungsmuster zurück. Sie stehen im Zusammenhang damit, dass wir letztlich – mit Heidegger gesprochen – um unser eigenes gefährdetes Dasein besorgt sind. In anderen Fällen kann es sich um soziokulturelle Bedeutungsmuster mit weniger existentieller Bedeutungstiefe handeln: Im Unterschied zu gewissen Ureinwohnern erscheint uns das Essen von Würmern als ekelhaft. Bei all diesen Fällen handelt es sich aber um gefühlte Bewertungen, die zu bestimmten Handlungen motivieren und diese auch rational machen. Hier etwa ein Zurückschrecken und sämtliche Handlungen des Vermeidens. Sämtlichen erschließenden Wahrnehmungs- und Bewertungsakten liegen also Orientierungsmuster einer affektiv-evaluativen Welt- und Selbstbeziehung bereits zugrunde. Sie bestimmen unser Anteilnehmen an der Welt, sie bestimmen, wie

14 Mit Nachdruck auch Vendrell Ferran 2008.

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wir in die Welt gestellt sind; sie regeln, was wir als bedeutsam und wertvoll empfinden und was nicht, was wir fürchten und was wir begehren. Man kann von Horizonten der Bedeutsamkeit und der Werthaftigkeit reden. In Anlehnung an die Atmosphären-Theorie von Herrmann Schmitz spricht Jan Slaby von Möglichkeitsräumen bzw. einem Möglichkeitssinn (Slaby 2011).15 Eine Definition, welche die skizzierten konzeptionellen Momente zusammenführt, bietet die bereits erwähnte prägnante Formel Robert C. Roberts von Gefühlen als concern-based-construals. Insbesondere das Moment des affektiv-evaluativen Bedeutsamkeitshorizonts erhält Gewicht: Es sind Anliegen (concerns), es sind Verhältnisse des Sorgens, Wünschens und Liebens, die unserer emotionalen Weltwahrnehmung zugrunde liegen. Damit beeinflussen sie aber die Weltwahrnehmung überhaupt. Anders gesagt: Emotionen sind Modi, die Welt in einer engagierten Beteiligtenperspektive, d. h. unter den Bedingungen von bestimmten Bedeutsamkeiten und Anliegen (concerns) wahrzunehmen und sie daher unter einem bestimmten Aspekt zu sehen (construals).16 Erhellend für eine theologisch-ethische Perspektive ist nun, dass Roberts auch religiöse Emotionen auf diese Weise als emotionale Wahrnehmungen auffassen kann: Glaubende sind anders in die Welt gestellt; sie vermögen Dankbarkeit, aber auch Mitgefühl oder Trauer zu empfinden, wie andere es in derselben Situation nicht tun würden. Dies geschieht durchaus in der Analogie zu jenem Tomatengärtner, der von einer Hagelankündigung in der Wettervorhersage anders berührt wird als ein Büroangestellter. Ersterer hat eben andere Bedeutsamkeiten in seinem Leben, ihm liegt anderes am Herzen. Roberts meint, um religiöse Emotionen zu verstehen, müsse man auf religiöse Passionen, gleichsam als Dispositionen der Wahrnehmung, zurückgehen. Diese seien geformt von habitualisierten Konzeptualisierungen und letztlich von religiösen Narrationen (Roberts 2007, 29–31). Die Grundstruktur, dass Akte des evaluativen Wahrnehmens und des BedeutungFühlens einen bereits etablierten Bedeutsamkeitshorizont voraussetzen, führt noch

15 Vgl. auch Slaby 2013, 26: „Eine Person muss überhaupt erst grundlegend affektiv orientiert sein, über einen Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn verfügen, ehe für sie konkrete innerweltliche Begebenheiten bedeutsam sein können“. 16 Die Analogie zum Aspekt-Sehen zeigt sich vor allem an Stellen, an denen Roberts im Sinne Wittgensteins auf gestaltpsychologische Kippbilder zurückgreift. Er vermag damit den Wechsel von Emotionen als Wahrnehmungswechsel zu explizieren. Die Analogie wird allerdings gesprengt, insofern mit der emotionalen Wahrnehmung ein leibliches Empfinden einhergeht. Roberts will mit seiner Anknüpfung zuvörderst zeigen, dass Emotionen nicht in einer solchen Weise unserem Willen unterliegen, wie Urteile es tun. Sein Beispiel: Ich stehe auf einer Leiter, beurteile die Situation eigentlich als nicht gefährlich. Trotzdem habe ich Angst, weil ich sie als gefährlich für mein Wohlergehen wahrnehme (konstruiere). Die Angst wird aber mindestens gedämpft, wenn ich die Situation unter einem anderen Fokus wahrnehme, etwa als eine solche, die darin besteht, mein Kind aus dem dritten Stock eines brennenden Hauses zu retten (vgl. Roberts 2003, 70, 102f.).

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einmal zur bereits erwähnten Doppelheit der Herzmetapher zurück, wie sie bei Pascal und dann bei Scheler zu finden ist: Einerseits würde „Herz“ für Akte des Bedeutung-Fühlens und des Wertschätzens stehen, andererseits würde die „Ordnung des Herzens“ eine etablierte affektiv-evaluative Hintergrundorientierung bezeichnen, welcher Grundmuster der Bedeutsamkeit eingeschrieben sind. Diese Doppelheit scheint für emotionstheoretische Überlegungen grundlegend zu sein. Sie entspricht, um es in Anlehnung an Bernd Janowskis Rede vom Herzen als „Resonanz- und Beziehungsorgan“ zu sagen, der Doppelheit von Resonanzakt bzw. Resonanzfähigkeit auf der einen Seite und Resonanzboden bzw. Resonanzraum auf der anderen Seite. Die Medialität der teilnehmenden Weltbeziehung, welche in den mehr oder weniger soziokulturell imprägnierten Bedeutungshorizonten zum Ausdruck kommt, wäre weiterer Diskussion bedürftig. Zu berücksichtigen wäre, dass sich häufig mehrere Bedeutungshorizonte überlagern, sie im Konflikt miteinander stehen oder einzelne ein erhebliches Gefährdungspotential in sich bergen.17 Die Medialität der teilnehmenden Weltbeziehung zu beachten, bedeutet jedenfalls Abschied zu nehmen von der Ansicht, Gefühle würden die Welt unmittelbar erschließen. Sie sind vielmehr abhängig von Bedeutsamkeitshorizonten, in die Empfindungs- und Begehrensmuster eingegangen sind. Sie bestimmen mit über Resonanz und Relevanz im Wahrnehmungs- und Erkenntnisprozess. Und dagegen kommt auch das rationale Vernunfturteil häufig nicht an. Es ruht selbst auf jener affektiv-evaluativen Weltbeziehung auf, die ihr Medium letztlich im Leib selbst hat. An dieser Stelle ist auf die auch von Scheler bearbeitete Frage nach der Bildung dieser Bedeutungshorizonte zurückzukommen. Ronald de Sousa hat hierfür den Begriff der „Schlüsselszenarien“ geprägt. Er beruft sich darauf, dass Menschen im Laufe der kindlichen Entwicklung und der weiteren Sozialisierung mit einem emotionalen Repertoire vertraut gemacht werden, das auf basale Erfahrungsmuster zurückgeht. Als Schlüsselszenarien legen sie die weiteren evaluativen Wahrnehmungsund Bedeutungsmuster fest, sie werden Teil einer leiblich habitualisierten Lebenspraxis. Sie prägen unsere Emotionen und den Zugang zu derjenigen Welt, die Bedeutsamkeit für uns hat (Sousa 1997, 302). Narrationen, welche emotionale Bedeutungsmuster prototypisch erleben lassen, können ebenfalls zu Schlüsselszenarien werden (vgl. Ammann 2007, 204f.; vgl. Klein 2007, 28f.). Ich verfolge diesen interessanten Gedanken an späterer Stelle weiter.

17 Diesem Problem widmet sich Rosa 2016, 225–231 und 279–316.

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4.

Resonanz des Herzens und Mitleiden

Schelers Rückgriff auf die Herzensvorstellung bei Pascal folgt, wie bereits erwähnt, einem eigenen Interesse. Was Pascal selbst betrifft, so steht dessen Rezeption der augustinischen Konzeption wiederum ebenfalls in einem zeitgeschichtlichen Problemzusammenhang. Dazu kommt, dass sich bei ihm die Bedeutung von „Herz“ in Abhängigkeit von unterschiedlichen Gebrauchskontexten verschiebt.18 Grundsätzlich steht er zwar in einer augustinischen Tradition (etwa hinsichtlich des Bezugs von „Herz“ auf Grundausrichtungen der „Liebe“), die starke Gegenüberstellung von Vernunft und Herz ist aber durch den Jansenismus vermittelt (vgl. Flasche 1949/50). Kurzum: Die Geschichte der Herzmetapher ließe sich als Geschichte problemorientierter und zugleich kreativer Aneignungen und Weiterführungen darstellen (vgl. Biesterfeld 1974; Brunner 1988; vgl. Berkemer und Rappe 1995; vgl. Hermann 1961). Im Folgenden soll aus theologischem Interesse lediglich die Frage nach den Anknüpfungsmöglichkeiten in den biblischen Schriften des Alten Testaments weiterverfolgt werden. Von da aus wage ich noch einmal einen Seitenblick auf Scheler – und zwar auf dessen Begriffsdifferenzierung zwischen Nachfühlen und Mitleid. Das hebräische Wort „leb“ kann sich zwar in seltenen Fällen auf das biologische Organ des Körpers beziehen, hauptsächlich bezeichnet es aber die innere Orientierungsinstanz des Menschen, die seiner teilnehmenden Weltbeziehung vorausliegt und sie steuert. Der deutsche Gebrauch mag dazu verführen, das Herz mit dem zentralen Sitz der Emotionen, des Empfindens und insbesondere des Mitgefühls vorschnell gleichzusetzen. Dem ist entgegenzuhalten, dass der hebräische Gebrauch kognitive, emotionale und voluntative Aspekte vereint, je nach Gebrauchskontext aber auch nebeneinanderstehen lässt. In der hebräischen Sprachwelt ist ein Mensch, der kein Herz hat, nicht unbedingt jemand, dem es an Mitgefühl fehlt, sondern in vielen Fällen ein Tor, dem es an lebenspraktischem Wissen – häufig an Weisheit – mangelt (vgl. Krüger 2003, 104; Frevel und Wischmeyer 2003).19

18 Mindestens vier Bedeutungsebenen lassen sich unterscheiden: 1. eine augustinisch-biblische, die das Herz als Grundausrichtung der Lebensorientierung beschreibt, 2. eine dualistisch-cartesische, die im Herzen eine der Vernunft gegenüberstehende Willensinstanz erblickt, 3. eine alle Erkenntnis fundamentierende und stützende Vermittlungsinstanz, 4. eine Fähigkeit zu intuitiver Wirklichkeitserfassung („esprit de finesse“). Auf der zweiten Bedeutungsebene besteht eine Verständigungsebene mit Descartes, auf der vierten besteht der tiefe Dissens (vgl. Rieger 2010 202–206). 19 Grundlegend immer noch Wolff 2010. Das begriffstheoretische Problem der exegetischen Diskussion besteht darin, dass das semantische Feld mit vorgefassten Begrifflichkeiten von kognitiv, emotional, voluntativ etc. strukturiert wird, aber erstens die semantischen Konfigurationen von „Herz“ solchen Zuordnungen schwerlich eingepasst werden können und sie zweitens auch nicht der gegenwärtigen Gesprächslage der Emotionstheorien entsprechen (Beispiel: Kognition versus Emotion). Vgl. dazu die Hinweise bei Janowski 2015, 12 und vgl. Wagner 2006.

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Auszugehen ist von der formalen Bestimmung des Herzens als eines zentralen Orientierungs- und Vermittlungsorgans an der Schnittstelle zwischen innen und außen: In der mittleren Königszeit wurde, parallel zu Entwicklungen in Ägypten, der „innere Mensch“ entdeckt (Assmann 1993). Mehr und mehr entwickelte sich die Vorstellung einer Innensteuerung, deren Zentralinstanz nicht wie heute im Gehirn, sondern im Herzen erblickt wurde. Das Herz stellte, gleichsam in der Mitte der leiblich-seelischen Existenz verortet und sowohl leibliche wie geistig-seelische Bedeutungskomponenten vereinend, nunmehr das entscheidende Orientierungsvermögen dar. Es umfasste, um vorläufig einmal die gebräuchliche anthropologische Terminologie zu verwenden, rational-kognitive Funktionen wie Verstehen und Urteilen, aber auch emotionale und voluntative Funktionen: Es wurde als Organ des Strebens und Planens verstanden. Als verborgenes inneres Zentrum stellt das Herz so den Kern der Person dar.20 Was sich in ihm niedergeschlagen hat, was es bewegt, an was es sich orientiert und auf was es sich ausrichtet, hat den Charakter eines Geheimnisses, welches Gott und allenfalls noch einem tieferen Personverstehen zugänglich ist.21 Im Sinne eines teilnehmenden Weltverhältnisses steht es in einem resonanten, einem abgrenzenden oder auch einem paradox-gegenläufigen Verhältnis zu einem „Außen“: Ins Herz vermag einzugehen, was einem Menschen widerfährt, was er vernimmt, was er sich „zu Herzen nimmt“. Das Herz kann so einerseits zum Sitz von Affektionen, Gefühlen und Stimmungen werden.22 Stellvertretend für den ganzen Menschen kann das Herz frohlocken23 , es kann klagen und schreien24 , es kann beben und flattern25 , es kann mutlos oder gelassen sein.26 Der Übergang zum pathischen Wünschen und Begehren ist dabei fließend.27 Aber auch ein paradox-gegenläufiges Verhältnis kann sich einstellen: Äußerlich mag es einem armen Menschen schlecht gehen, in seinem Herzen kann er mitunter dennoch fröhlich sein.28

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Vgl. 1 Sam 16,6f.; Jer 17,9f. Richter 16,15. 17; Ps 44,22; Sprüche 14,10 u. 20,5. Ps 25,17; Sprüche 15,13; Jer 4,9. 1 Sam 2,1. Jes, 15,5. Ps 38,11 u. 55,5. Ps 40,13; Sprüche 14,30. Ps 21,3; Sprüche 13,12. Das Bedeutungsfeld von ‚Herz‘ kann sich deshalb auch mit dem Bedeutungsfeld der bedürftigen „Seele“ (næfæsch) überschneiden. Zu den psychosomatischen Zusammenhängen von leiblichen Affektionen und dem Herz (vgl. Frevel und Wischmeyer 2003, 33). 28 Sprüche 15,15. Die Spruchzusammenstellung von Sprüche 15,13–15 ist schon deshalb erhellend, weil Aspekte des Emotionalen und Aspekte des Verstehens und Erkennens zwar unverbunden nebeneinanderstehen, aber gleichermaßen dem Herzen zugeschrieben werden.

Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens

Was ins Herz des Menschen gelangt, vermag sich andererseits nicht nur in leiblichen Affekten oder im Gefühl niederzuschlagen, sondern vor allem auch im Verstehen, Erkennen und Urteilen. Dieser wichtige Aspekt einer gewissermaßen vernehmenden Vernunfttätigkeit lässt sich kaum besser ausdrücken als mit der Metapher „hörendes Herz“ (1 Kön 3,9–12). Sie verweist auf eine rezeptive Erkenntnisbeziehung zwischen innen und außen. Erhellend ist auch die Verbindung mit der Präposition „al“: „auf das Herz legen“: Es entspricht dem deutschen „zuHerzen-Nehmen“ und meint zunächst ein verstehendes Zur-Kenntnis-Nehmen.29 Die Präposition findet sich im zentralen Text des jüdischen Glaubens, dem „Schema Israel“: Die Gebote sind auf dem Herz der Israeliten wie auf einer Tafel eingeschrieben.30 Dieser Sachverhalt findet seinen Ausdruck, seine Vergegenwärtigung und seinen Halt in einem „Außen“: Die Worte Gottes sind ebenso auf der Hand und an den Türpfosten anzubringen. Auch hier sind die Übergänge zwischen erkennender und emotionaler Beziehung mitunter fließend: Die Gebote vermitteln die richtige („gerade“) Lebensordnung und erfreuen das Herz.31 Die rezeptiv-vernehmende Erkenntnisbeziehung wird im weisheitlichen Kontext zum „hörenden Herzen“ verdichtet, um das König Salomo bittet. Der innengeleitete Mensch ist der herzgeleitete Mensch – und zwar als ein Mensch, der die Weisheit ins Herz aufgenommen hat.32 Die Verbindung mit „Hören“ verweist deutlich auf die vernehmende Erkenntnisbeziehung, wobei im Hebräischen immer ein handelndes „Gehorchen“ mitschwingt. Interessant ist nun, was die solchermaßen ausgerichtete innere Orientierungsinstanz des Herzens dadurch zu leisten imstande ist und was sie letztlich für eine teilnehmende Weltbeziehung bedeutet. Vor dem Hintergrund der bisher skizzierten emotionstheoretischen Einsichten sind zwei Aspekte besonders hervorzuheben: Mit dem „hörenden Herzen“ bekommt Salomo zum einen eine ‚Weite‘ des Herzens, die ihm die Welt der Schöpfung und die Welt der kulturellen Leistungen der Menschen als Welt der Bedeutsamkeit erschließt.33 Zum anderen führt die orientierende Funktion der Weisheit in seinem Herzen zu einer ethischen Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit, welcher eine emotionale Wahrnehmungs- und Urteilsfähigkeit vorausliegt. Die berühmtgewordene Erzählung von Salomos Urteil lässt zwei Frauen vor den König treten. Sie bringen ein totes und ein lebendes Kind, beanspruchen jedoch beide, die Mutter des lebenden Kindes zu sein.34 Auf die Anordnung Salo-

29 Jes 47,7; 57,1. 11; Jer 12,11. 30 Dtn 6,6; vgl. Sprüche 7,3. 31 Ps 19,9 „Richtig“ heißt: gerade Wege zu führen im Gegensatz zu krummen Wegen: Sprüche 23,19. Der „Richtige“, sprich: der „Gerade“ des Herzens, ist der Auf-richtige: Ps 36,11; 64,11; 94, 15; 97, 11. 32 Sprüche 14,33. 33 1 Kön 5,9–14: dazu Janowski 2015, 17. Er rekurriert an dieser Stelle auf eine Resonanzfähigkeit. 34 1 Kön 3,16–28.

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mos, das Kind mit dem Schwert zu zerteilen, verzichtet die eine Frau im „Erbarmen“ (rahamim) auf ihren Anspruch. Dieses emotional bestimmte Verhalten35 wird von Salomo aufgrund seines „hörenden Herzens“ richtig beurteilt: Diese Frau ist die wahre Mutter.36 Das Herz, das als inneres Orientierungsorgan, die Weisheit in sich aufgenommen hat, steht also einerseits in einer vernehmenden Beziehung zur Welt und andererseits gleichzeitig in einer Beziehung des praktischen Zur-Welt-Verhaltens. Letzteres äußert sich im praktischen Urteil und in der praktischen Einsicht37 , aber ebenso in der Lenkung der Aufmerksamkeit. Die Redewendung „sein Herz stellen/legen auf “ kann heißen, sein Herz auf etwas richten – etwa im Sinn einer Absicht, „gerade“ Wege zu gehen38 oder auch im Sinn eines Sich-Sorgens.39 Strukturell betrachtet, könnte man sagen, der Mensch stehe durch das Herz als seinem inneren Orientierungsorgan in einer Input- und Output-Beziehung zum „Außen“ seiner Welt: in einem Vernehmen-von und einem Verhalten-zu. Damit ließe sich auch der emotionalen Bandbreite dieses teilnehmendes Weltverhältnisses Rechnung tragen: Ersteres kann ein pathisches Widerfahren und Affiziertwerden einschließen, Letzteres das sorgende oder strebende Ausgerichtetsein.40 Man bewegt sich dann im Bedeutungsfeld dessen, was die deutsche Redewendung „am Herz liegen“ meint. Das drängende Problem, das insbesondere in Ps 51 und bei den Propheten Jer und Ez sichtbar wird, besteht darin, dass das vernehmende Herz der Israeliten nicht nur einfach schwerhörig werden kann, sondern anderen Orientierungen folgt. Die

35 Der Begriff des emotional bestimmten Verhaltens ist im Unterschied zum Handlungsbegriff für Fischer der eigentliche Grundbegriff der Ethik (Fischer 2015, 191–205). 36 Auf eine andere Auslegung durch den jüdischen Philosophen Maimonides hat mich Wiedebach 2007, 2f. aufmerksam gemacht. In seiner Kommentierung der Erzählung des salomonischen Urteils im Kodex Mischna Tora, Hilchot Sanhedrin 21,9 macht Maimonides das Urteil Salomos nicht erst am inszenierten Schwerturteil fest. In seinem Herzen (!) habe er es schon gefällt, als er die Aussagen der beiden Frauen vernommen hatte. Deshalb habe er deren Aussage auch bewusst wiederholt (1 Kön 3,23): „Diese sagt, das ist mein Sohn, der lebende; dein Sohn ist der tote. Und jene sagt: Nein, dein Sohn ist der tote und mein Sohn ist der lebende“. Salomos Urteil beruht Maimonides zufolge darauf, dass er bereits die emotionalen Nuancen in den Aussagen heraushört. Diese zeigen sich darin, dass jede Frau zuerst von ihrem Kind redet. Das bereits zeigt: Die erste Frau ist die richtige Mutter. Die Androhung des Schwerturteils bildet ein experimentum crucis, um im öffentlichen Raum der Gründe das Urteil für alle einsichtig zu machen und damit zu rechtfertigen. Antizipiert hat es dieser Auslegung zufolge Salomo bereits vorher. 37 Dass diese Einsicht nicht nur als intuitive, sondern auch als diskursive Vernunftfähigkeit zu fassen ist, zeigen etwa Sprüche 15,28. 38 Hag 1,5; 2,15. 18; vgl. Sprüche 23,19. 26. 39 1 Sam 9,20. 40 Im Blick auf das neutestamentliche Verständnis des Herzens ist das zuletzt Genannte für Bultmann zentral (Bultmann 1984, 222–226).

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Selbstbezogenheit und Selbstverbohrtheit vermögen sich nämlich ebenfalls dauerhaft im Herzen einzuprägen und Bindungen zu hinterlassen, die dem Vernehmen entgegenstehen.41 Damit kommt letztlich das schon erwähnte Zirkelproblem in den Blick: Das Herz ist nicht mehr in der Lage, die Gebote Gottes bzw. die Weisheit aufzunehmen, weil eine vorhandene andere Orientiertheit bereits die Aufmerksamkeit selektiert und so immunisierend wirkt. In Ps 51,12 und in Ez 36,36f. wird deshalb eine grundlegende Erneuerung dieses inneren Orientierungsorgans selbst erwartet: Und ich gebe euch ein neues Herz, und einen neuen Geist gebe ich in euer Inneres. Und ich nehme das Herz von Stein aus eurem Fleisch weg und gebe euch ein Herz von Fleisch. Und ich gebe meinen Geist in euer Inneres, und ich mache, dass ihr in meinen Ordnungen lebt und meine Rechtsbestimmungen bewahrt und tut (Ps 51,12; Ez 36,36f.).

Die Transformation des Menschen hebt also in seinem Innersten, seinem Herzen, an. Gott befreit dieses vernehmende Vermögen von seinen Verhärtungen. Die Resonanzfähigkeit von Gottes Willen (Tora) und menschlichem Willen (Herz), von außen und innen, wird dadurch erneuert, dass wie Gottes Geist so auch sein Wille ins Herz gegeben wird.42 Man könnte sagen: Ziel ist eine neue Orientiertheit des Menschen, deren Bestimmungsgrund nicht mehr außen (heteronom), sondern in einer inneren Willigkeit zur Gottestreue, eben in einem gottgeleiteten Herzen (theonom), gesucht wird. Dieser grobe Überblick zeigt, dass, wie erwähnt, das Herz anders als im deutschen Sprachgebrauch nicht auf ein Organ des Empfindens und insbesondere des Mitgefühls zusammengezogen werden kann. Zugleich lässt sich ersehen, dass ihm als einem inneren Orientierungsorgan die Fähigkeit einer bedeutungsvernehmenden Wahrnehmung zugeschrieben wird. Im Horizont der gegenwärtigen philosophischen Diskussionslage, welche Emotionen nicht mehr von Kognition und Urteil abtrennt, handelt es sich um eine emotionale Wahrnehmung. Im Fall des Urteils Salomos ist es ein Erfassen bzw. ein Verstehen der Bedeutsamkeit eines emotional bestimmten Verhaltens, an das sich ein rationales Urteil anschließt.43 Ein solches Verstehen braucht noch kein Mitgefühl zu implizieren. Das ist ein bedenkenswerter Punkt der Herz-Semantik, auf den noch aufmerksam zu machen ist. Die bedeutungsvernehmende Funktion des Herzens ist vom eigenen Mitfühlen 41 Jer 17,1; vgl. die „Herzensverbohrtheit“ in 3,17; 7,24; 11,8. Weiter zum Motiv der „Herzensverstockung“ vgl. Stolz 1994, 865f. 42 Jer 31,33. 43 Auch mit der im Neuen Testament auftauchenden Metapher „Augen des Herzens“ (Eph 1,18) wird dem Herzen eine kognitive Funktion eines bedeutungsvernehmenden Wahrnehmens und Verstehens zugeschrieben. Sie verdankt sich hier einer Erleuchtung durch den göttlichen Geist.

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zu unterscheiden. Gleichwohl lassen sich auch diesbezüglich fließende Übergänge feststellen: In anderen Zusammenhängen kann das Herz so etwas wie ein Gewissen darstellen, das sich schlagend bemerkbar zu machen vermag.44 In Hos 11,8 tritt die Komponente des Wahrnehmens und Verstehens ganz zugunsten der Gefühlsbewegung des Mitleids zurück. Gewichtiger ist allerdings dann die Beobachtung, dass bei leiblichen Gefühlen auf andere Organe des Inneren ausgegriffen wird.45 Beim Schmerz und auch beim Gewissen sind es die Nieren, beim Mitleid ist es die Gebärmutter oder besser (weil als Gefühl geschlechtsneutral verwendet) der Unterleib. Hier handelt es sich um eine intensive innere Gefühlsregung des Erbarmens, welche ein Motiv zum Verhalten bzw. zum Handeln bereits in sich trägt.46 Vor einem solchen Hintergrund scheint es nicht abwegig zu sein, zwischen einem emotionalen Wahrnehmen und Verstehen sowie unterschiedlich tiefen Partizipationsgraden des Fühlens zu unterscheiden. Das gilt gerade dann, wenn man den Möglichkeiten der Übergänge bis hin zu affektiv-leiblichen Gefühlsregungen Rechnung tragen will.

5.

Herz und Vernunft

Die Frage nach der Rationalität und nach der Rechtfertigung einer auf intuitivteilnehmender Welterschließung beruhenden Erkenntnis des Herzens ist vielfach diskutiert worden. Im Folgenden kann nur eine äußerst grobe Skizze geboten werden. Sie soll dazu verhelfen, den Anschluss an erkenntnistheoretische und ethische Fragestellungen zu ermöglichen und etwaige Antwortversuche verorten zu können. Im Grunde genommen konnte sich die erwähnte Frage erst stellen, nachdem in der hellenistischen Anthropologie das geistig-intellektuelle Erkenntnisvermögen des nous in seiner Eigenständigkeit hervortrat. In den anthropologischen Texten der hebräischen Bibel wurde es im Herzen selbst gesucht. Im Horizont der Weisheit war die Antwort klar: Das angemessene Verhalten ergab sich aus der Wahrnehmung einer bedeutungsvollen Welt – einer Wahrnehmung, die sich an einer stabilen Ordnung der Schöpfung und des Lebens orientieren konnte.47 Von Thomas von Aquin über die Renaissance bis zur Aufklärung bildet die Unterscheidung von intellectus (als eines intuitiven Erkenntnisvermögens) und

44 1 Sam 24,6; 2 Sam 24,10. 45 Im Hintergrund steht die Zuordnung von Emotionen zu Körperregionen. 46 Deutlich in der konsekutiven Verbindung von „Erbarmen (verspüren)“ und „Erbarmen erweisen“, Jer 31,20; vgl. 1 Kön 8,50; Jer 42,12; auch Jes 49,15. 47 Vgl. Sprüche 24,32.

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ratio (als eines diskursiven Erkenntnisvermögens) die Grundlage der erkenntnistheoretischen Erörterungen. Das Herz wird nun dem zuerst genannten intuitiven Erkenntnisvermögen zugeordnet. In der Auseinandersetzung mit Descartes rekurriert Pascal auf das Herz, um die Vormachtstellung der diskursiven ratio zu brechen und festhalten zu können, dass die menschliche Vernunft auf intuitiv Gegebenes angewiesen ist.48 Aus der Gegenüberstellung zweier heterogener Wahrnehmungs- und Erkenntnisvermögen wird ein Fundierungsverhältnis. Die diskursive Vernunfttätigkeit erscheint als eine solche, die auf einer intuitiv-teilnehmenden Welterschließung beruht und die von Bezugnahmen der Wertschätzungen (der Liebe) abhängig ist. Scheler kann an dieses Zuordnungsmodell anknüpfen. Er steht dabei nicht allein. Charles Sanders Peirce folgt mit seinem Rekurs auf eine instinktive Vernunft ebenfalls diesem Modell. Neuerdings macht sich Ulrich Pothast dafür stark; er sieht eine „spürende Stützung“ aller diskursiven Vernunfttätigkeit vorausliegen (Pothast 1998, 79–81; 116; 126). Die Herausforderung, die Pascal bereits deutlich gesehen hat, besteht darin, zu klären, ob und wie die intuitiv-teilnehmende Welterschließung selbst dem kritischen Vernunfturteil ausgesetzt werden kann. Das gilt vor allem dann, wenn dem solchermaßen Erschlossenen eine eigene Ordnung bzw. eine eigene Rationalität zugesprochen wird. Mit dem Aufkommen der Phänomenologie an der Schwelle zum 20. Jahrhundert und vor allem mit dem Aufkommen einer Philosophie der Gefühle kam es zu einer Neujustierung der Diskussionslage. Diese vollzog sich und vollzieht sich bis heute unter dem Einfluss der analytischen Philosophie und der von ihr forcierten Begründungsfragen. Das heißt: Gegenüber einem desengagierten szientistischen Erkenntnisideal findet nun zwar die fundamentale Rolle der Gefühle bei der Wirklichkeitserschließung breite Anerkennung, umso mehr gerät aber die Frage nach ihrer Rationalität und auch die Frage nach ihrer moralischen Bedeutung in den Fokus. In diesem Zusammenhang lassen sich vier Grundprobleme benennen, die auch als Bezugspunkte der gegenwärtigen Diskussion gelten können. 1. Die Frage der Angemessenheit bzw. der „externen“ Rationalität: Um rational gerechtfertigt zu sein, setzt die Furcht vor einer Schlange voraus, dass das Objekt, worauf sich die Furcht bezieht, also die Schlange, gefährlich ist. Oder, um ein ethisches Beispiel zu nehmen: Um rational gerechtfertigt zu sein, setzt der Hass auf einen bestimmten Menschen voraus, dass der Mensch, worauf sich der Hass bezieht, hassenswert ist. Die Emotion bzw. die emotionale Reaktion steht also in Verbindung mit einer der deskriptiven Wahrnehmung zugänglichen Eigenschaft des Objekts. Diese Verbindung ist durch „Schlüsselszenarien“ bzw. erlernte

48 PLa 110 (Pascal 1963). Vgl. Anmerkung zu S. 208. In der Gegenüberstellung von esprit de finesse und esprit de géométrie entspricht Ersteres weitgehend der Bedeutung von Herz bzw. Gefühl, lässt sich aber nicht mit diesen gleichsetzen.

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Bedeutsamkeitsmuster festgelegt. Darauf ist im Zusammenhang der „internen“ Rationalität gleich zurückzukommen. Aufmerksam zu machen ist zunächst darauf, dass die Furcht vor einer Schlange nicht notwendig eine begriffliche Überzeugung oder ein Urteil über die Gefährlichkeit voraussetzt. Es kann sich um eine isolierte intuitive Wahrnehmung handeln. Mehr noch: Diese kann im Konflikt stehen zu meinen anderen Überzeugungen. Auf diesen Sachverhalt verweist das schon erwähnte Beispiel jenes Philosophen im Käfig, dessen Furcht bestehen bleibt, obwohl ihm seine sonstigen rationalen Überzeugungen nahelegen, gut gesichert zu sein. Bei der Zuschreibung einer bestimmten Werteigenschaft kommt man so nur zu einer Prima-facie-Rechtfertigung, die gilt, solange keine Gründe dagegensprechen. Aber immerhin: Auch eine solche Rechtfertigung ist bereits mit Handlungsgründen (hier: des Vermeidens) ausgestattet. Erwähnenswert sind Versuche, die Frage der Angemessenheit nicht vom Objekt her, sondern von der emotionalen Reaktion her anzugehen. Nicht das gefährliche Objekt rechtfertigt die Furcht, sondern umgekehrt: Ein Objekt ist dann gefährlich, wenn Furcht die angemessene Reaktion ist (Steinfath 2002, 112–115). Man kann von einer Konstitutionsthese sprechen, weil der emotionale Antwortakt konstitutiv für die Bewertung wird. Diese Auffassung scheint im Blick auf das Kriterium der Angemessenheit allerdings relativistische Konsequenzen zu haben.49 Dem ließe sich entgegnen, dass unsere teilnehmende Weltbeziehung aus vielen ähnlichen emotionalen Wahrnehmungsfasern besteht, die eine wechselseitige Anpassung bzw. Korrektur von Emotionen bzw. Wertzuschreibungen ermöglichen könnten: Warum empfinde ich gegenüber dem einen Kind Mitleid und gegenüber dem anderen nicht? Solche Fragen führen einerseits in angeeignete soziokulturelle Bedeutungsmuster hinein, sie führen aber auch in den diskursiven Raum der Gründe hinaus. 2. Die Frage der „internen“ Rationalität: Die Rechtfertigung der emotionalen Reaktion lässt sich am bereits erwähnten Bedeutsamkeitshorizont festmachen. Dieser bringt bereits Festlegungen mit sich, was der Aufmerksamkeit und des Handelns wert ist: Der Tomatengärtner ist darauf festgelegt, besorgt zu sein, wenn er eine Hagelankündigung vernimmt, und erleichtert zu sein, wenn die dunklen Wolken vorübergezogen sind. Es liegt am Bedeutsamkeitshorizont (dem, was einem „am Herzen liegt“), dass bestimmte Handlungen gerechtfertigt erscheinen und andere nicht (vgl. Helm 2009, 407–412). An dieser Stelle gilt es allerdings zu unterscheiden: Gerechtfertigt sind die Emotion und die Motivation zu einer Handlung, nicht unbedingt die Verhaltensreaktion

49 „Konstitution“ muss noch nicht „Konstruktion“ bedeuten. Etwas weniger problematisch ließe sich von einer „Vollzugsabhängigkeit“ reden, wonach die Abhängigkeit vom emotionalen Antwortakt nicht gegen die Behauptung einer objektiven Werteigenschaft spricht; diese „verdient“ jenen gleichsam. Solche Diskussionen um den Wertrealismus bzw. moralischen Moralismus beziehen sich neuerdings weniger auf Scheler, sondern vor allem auf McDowell (McDowell 2002, 222–225).

Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens

bzw. die Handlung selbst. Sousa spricht deshalb von einer „minimalen Rationalität“. Sein Beispiel: Überrascht jemand seine Geliebte beim Fremdgehen, so erscheint aufgrund eines soziokulturell einverleibten ‚Schlüsselszenarios‘ Eifersucht und Wut als angemessene Emotion. Die weitergehende Reaktion einer Ermordung des Liebhabers mag zwar eine minimale Rationalität besitzen, moralisch gerechtfertigt ist der Mord dadurch aber noch nicht (de Sousa 1997, 304). Solche Beispiele machen auf die Möglichkeiten des Konflikts zwischen Gefühl und Vernunft aufmerksam: Durch „Schlüsselszenarien“ bzw. durch einverleibte soziokulturelle Bedeutsamkeitsmuster festgelegt, kann mich meine emotionalbedeutungsvernehmende Wahrnehmung gegenüber einem Menschen Hass empfinden lassen. Zugleich vermag ich als Angehöriger einer moral community, für die Respekt ein hohes Gut darstellt, oder auch nur als Beobachter anderer Bedeutsamkeitsmuster zur Einsicht zu gelangen, dass eine Handlung aus Hass nicht gerechtfertigt ist. In einem solchen Fall müsste ich gegen mein eigenes Gefühl handeln. Unter Umständen hieße das: Ich müsste im Namen eines Gefühls handeln, dass ich selbst (noch) nicht habe. 3. Das ethische Problem der Möglichkeiten des Konflikts zwischen Gefühl und Vernunft lässt sich nicht mehr umgehen, wenn man beide als heterogene Erkenntnis- und Orientierungsinstanzen ernst nimmt. Ich empfinde Hass, obwohl mir mein moralisches Urteil sagt, dass dieser Hass und eine vollends durch ihn motivierte Handlung nicht gerechtfertigt ist. Eine erste Antwort auf diesen Konflikt könnte darin bestehen, es der Vernunft zuzuweisen, die Vorstellung des Objekts, auf das sich der Hass bezieht, auf ihre Angemessenheit zu prüfen. In manchen Fällen kann so der Konflikt gelöst werden. Ein Beispiel hierfür wäre das Mitgefühl für einen Bettler, das sofort erlischt, wenn ich zum Urteil gelange, einen Simulanten vor mir zu haben. Das Problem der emotionalen Trägheit, wie es im Beispiel des in der Luft hängenden Philosophen mehrfach angesprochen wurde, führt allerdings andere Fälle vor Augen, in denen sich die Vernunft als machtlos erweist. Der Hass lässt sich durch keine Vernunfteinsicht beseitigen, obwohl ich ihn selbst als irrational beurteile. An dieser Stelle führte Scheler den Gedanken der „Herzenswandlung“ ein (vgl. Spader 2003, 114–116). Eine erkenntnistheoretische Explikation könnte darauf verweisen, dass in Situationen, in denen der Vernunft eine direkte Beeinflussung verwehrt ist, eine Selbstbeeinflussung bzw. eine Selbstkultivierung rational sein kann (dazu Pies und Leschke 2008). Das vernunftgeleitete Urteil führt mich dazu, mich dorthin zu begeben, wo andere Bedeutsamkeitsmuster wirksam sind. Ich entscheide mich letztlich dazu, in eine andere Lebenspraxis hineinzuwachsen. Vielleicht werde ich Menschen, die ich aufgrund meiner bisherigen Bedeutungsmuster hasse, zunächst nur so behandeln können, als ob sie liebenswürdig wären. Mit der Zeit entsteht so

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eine neue Realität: Ich werde sie tatsächlich für liebenswürdig halten (vgl. Elster 1984).50 4. Das Problem der Grenzen des Mitfühlens: Moral muss weiter reichen als das Feld, das mir durch eine bedeutungsresonante emotionale Wahrnehmung erschlossen und durch emotionale Beziehungen strukturiert ist. Respekt ist auch gegenüber Menschen gefordert, die mir, weil außerhalb dieses Feldes stehend, (noch) nicht als liebenswürdig erscheinen. Die ethische Frage lautet dann: Wie kommt es von der Liebe im Nahhorizont meiner emotionalen Welterschließung zu Respekt und Achtung im Fernhorizont aller Menschen? Diese Frage ist ebenfalls komplex, lediglich auf einen wichtigen Zusammenhang sei hingewiesen. Die Herausforderung ließe sich so fassen, dass die Realitätsunterstellung des Mitgefühls über die eigene Interessensphäre hinaus auf alle Menschen ausgedehnt wird. Das könnte etwa heißen: In einer emotionalen Realisierung wird mir bewusst, dass ein fremdes Flüchtlingskind genauso Freude und Leid empfindet wie mein eigenes Kind. Stärker an Schelers Terminologie angelehnt: Die „Fremdrealität“ des Anderen wird gegenüber der „Eigenrealität“ in der eigenen Interessensphäre nicht abgewertet, sondern in seiner Gleichwertigkeit erfasst (Scheler 2015, 69f.).51 Man könnte den Zusammenhang auch in einer anderen Richtung denken: Ich sehe das fremde Kind in derselben Bedeutsamkeitswelt wohnen, die ich und meine nächsten Mitmenschen bewohnen. Und man könnte solches einer moralischen Vorstellungskraft (moral imagination) zuschreiben (vgl. Ammann 2007, 299–192). Das Handeln im Fernhorizont aus moralischen Gründen des Respekts oder aus Pflicht bedarf, um mit Bedeutung und Sinn gefüllt zu sein, einer im Nahhorizont einzuübenden emotionalen Sensibilität des Mitgefühls und der Liebe. Um Scheler etwas frei zu paraphrasieren: formale Respektethik und materiale Liebesethik stützen sich gegenseitig (Fischer 2007, 64).

6.

Zusammenschau: Prototypen und Narrationen

Was das Herz erschließt, führt nicht in jedem Fall zu Mitgefühl und Empathie. Was das bedeutungsvernehmende Herz erschließt, ist aber die Grundlage des Mitgefühls und der Empathie. Auf je unterschiedliche Weise legen sowohl der skizzierte Gebrauch der Herzmetapher in der hebräischen Bibel, die phänomenologische Ethik des emotionalen

50 Vgl. dazu die Explikation des religionspsychologischen Modells von W. James bei Schulz 2001, 418–426. 51 Breyer 2015, 215 spricht vom Ausgreifen auf eine „Du-Intentionalität“.

Die bedeutungsresonante Wahrnehmung des Herzens

Lebens bei Scheler als auch die neuere Emotionsphilosophie und Empathieforschung ein mehrstufiges Konzept von Mitgefühl nahe. Die bedeutungsvernehmende und wertschätzende Wahrnehmung des Herzens ist auf einer anderen Ebene zu verorten als die der zuständlichen Gefühle, die in den hebräischen Schriften der Bibel auch noch ganz andere Organe der Tiefenperson betreffen. Ebenso wie die leiblichen Affekte sind auch die zuständlichen Gefühle für Scheler „wertblinde“ Echos der Welterfahrung, denen eine intuitiv-teilnehmende Weltbeziehung (Aktebene von Lieben und Hassen) vorausliegt. Auf dieser zuletzt genannten Ebene, also nicht auf der Ebene der zuständlichen Gefühle, verortet Scheler seinen Gebrauch der Herzmetapher und dann vor allem seine Rede von einer Ordnung des Herzens („ordo amoris“). Diese Ordnung strukturiert seine Umwelt, seine Welt der Bedeutsamkeit; sie selektiert seine Aufmerksamkeit. Solches steht durchaus in einer Nähe zur hebräischen Vorstellung einer „Weisheit des Herzens“, welche ebenfalls nicht auf Gefühlszustände zusammengezogen werden kann, sondern eine bedeutungsresonante Welt- und Selbstwahrnehmung strukturiert. Die Frage, in welcher Weise die Mehrstufigkeit von Empathie bzw. Mitgefühl zu fassen ist, hat zu vielen Modellen geführt. Scheler unterschied die Stufen: Einfühlen – Nachfühlen – Mitgefühl – Menschenliebe. Peter Goldie unterschied ähnlich: Gefühlsansteckung – unmittelbares Miteinanderfühlen – echtes Sympathiegefühl – emotionale Identifikation (Goldie 2000, 176ff.). Thiemo Breyer unterscheidet neuerdings: leibliche Resonanz – Ausdrucksverstehen – explizites Fremdverstehen (Breyer 2015, 47ff.). Unabhängig von der genaueren Fassung der Mehrstufigkeit sind einige wichtige Einsichten bedenkenswert. Sie bedürften weiterer Erörterung, sollen aber um ihrer Wichtigkeit willen kurz skizziert werden: 1. Alle höheren Stufen des Mitgefühls bzw. der Empathie setzen eine elementare Resonanzfähigkeit mit allem Lebendigen voraus. Bei ihr fungiert der Leib selbst als Resonanzboden. Allem bewusst-intentionalen (Fremd-) Verstehen liegt im intersubjektiven Begegnungsraum eine von anderen mitgestaltete ‚Stimmung‘ (Heidegger) sowie eine eigene Fähigkeit des Sich-Einschwingens und Sichaffizieren-Lassens voraus.52 2. Fühlen von Werten und Bedeutsamkeiten muss nicht mit eigenem Gefühl einhergehen. Nachfühlen und Mitgefühl sind daher zu unterscheiden. Ich kann die Traurigkeit eines anderen Menschen spüren, ohne dass die Traurigkeit auf mich übergeht. Deshalb kann es auch hier Spannungen geben: Ich selbst verspüre nicht diejenige Traurigkeit, die ein von mir verspürter „Wert“ eines traurigen Ereignisses, etwa der Tod einer geliebten Person, verdienen würde. Bedeutungsvernehmende emotionale Wahrnehmung und viele Formen des

52 Vgl. Scheler 2015, 112: „Einsfühlung fundiert Nachfühlung“; vgl. Breyer 2015, 48–51.

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Fremdverstehens sind also möglich, ohne dass ein zuständliches Gefühl in mir entsteht.53 3. Zum Nachfühlen ist weder eine Simulation bzw. Nachahmung noch ein Hineinversetzen in die Perspektive des Anderen in jedem Fall notwendig: Im leiblichen Ausdruck des Errötens nehmen wir Scham, im Lachen nehmen wir Freude wahr. Ein mehrstufiges Modell vermag daher auch zu zeigen, dass Simulationstheorien, etwa in der Form der populärwissenschaftlich verbreiteten Theorie der Spiegelneuronen, allenfalls eine begrenzte Stufe (hier: eine nicht-intentionale und vorpersonale) im Blick haben. 4. Schließlich lassen sich durch ein mehrstufiges Modell auch wechselseitige Abhängigkeiten veranschaulichen: Selbst wenn wir mit einem Menschen Mitgefühl haben können, ohne ihn zu lieben, so bestimmt die wertschätzende Liebe zugleich doch im Grundsätzlichen über die Reichweite der Sphäre mit, in der uns ein Mitgefühl möglich ist, welches über Nachfühlen und Fremdverstehen hinausreicht (Scheler 2015, 166f.). Entscheidend ist hier der Bedeutsamkeitshorizont der wertschätzenden Liebe, nicht so sehr ihr konkreter Bezugspunkt bzw. ihr Gegenstand. Das besondere Gewicht des Bedeutsamkeitshorizonts der Liebe für alles Nachfühlen und Mitfühlen ist also noch einmal herauszustellen. Als Horizont dessen, was einem Menschen „am Herzen liegt“, ist er auch grundlegend für eine theologische Ethik. Die spannende Frage nach dem Entstehen neuer Bedeutsamkeitshorizonte verlangte Aufmerksamkeit: Das Hineinwachsen in eine andere Lebenspraxis gestaltet sich als Hineinwachsen in Narrationen. Narrationen lassen andere Bedeutsamkeitswelten sehen, sie ermöglichen Distanzierung von der eigenen emotionalen Perspektive und zugleich neue Identifikationsmöglichkeiten (vgl. Meuter 2007). Häufig geschieht dies durch die Präsentation eines moralisch exemplarischen Verhaltens, das zu einem Prototyp des eigenen werden kann. Die Protagonisten einer Geschichte verkörpern in ihrem Verhalten bestimmte Bedeutsamkeitsordnungen und lassen diese anschaulich werden. Sie zeigen die Möglichkeit zu einem eigenen Verhalten. Das gilt unbeschadet dessen, dass zu seiner Verwirklichung eine „Herzenswandlung“ erforderlich ist und diese häufig nicht anders als mit einem „Verhalten-als-ob“ anhebt. Zuletzt sei noch einmal darauf verwiesen: Was das Herz erschließt, steht jenseits der Moral als eines Verständigungsdiskurses, der Handlungen im Raum der Gründe bewertet. Zugleich bliebe eine Moral ohne vormoralische Erschließung und Orientierung des Herzens leer und unwirksam. Einer solchen Moral käme beides

53 Ausführlich wird diese These Schelers diskutiert bei Vendrell Ferran 2008, 200–210.

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abhanden: die innengeleiteten Menschen und eine Welt, die für Menschen überhaupt von Bedeutung sein könnte.

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„… wie dich selbst“ Ist die Liebe zu sich selbst geboten? Liebe Dich selbst! – diese Forderung scheint selbstverständlich. Soll ein Mensch denn gleichgültig gegenüber sich selbst sein oder sich etwa hassen? Man denke an die allgegenwärtigen Ratschläge der Psychologie, sich selbst in seinen Schwächen und Stärken anzunehmen. Nur wer mit sich selbst versöhnt ist, kann ein glücklicher Mensch werden oder sein. Doch zugleich stellt sich ein skeptisches Gefühl ein, wenn man die Liebe zu sich selbst propagiert. Ist Selbstliebe nicht das Kennzeichen des Egoisten und Narzissten? Es war Erich Fromm, der in der jüngeren Zeit den Gedanken einer Selbstliebe populär gemacht hat und sie mit religiösen Vorstellungen verband. In seinem viel gelesenen und immer wieder aufgelegten Buch The Art of Loving hat Fromm für ein positives Verständnis der Selbstliebe geworben (Fromm 1956). Auf dem Hintergrund mystischer Vorstellungen ist für Fromm Liebe im Sinne einer aktiven Vereinigung zu verstehen, die letztlich auf alles ausgreift. Sie ist umfassend und schließt einen selbst ein. Die Liebe zu sich selbst ist nicht als Selbstsucht zu verurteilen, sie ist vielmehr das Gegenteil. Ein Mensch, der sich selbst in seiner Liebesfähigkeit nicht zu lieben vermag, weil sie in ihm verkümmert ist, und nur Leere und Enttäuschung in sich fühlt, wird selbstsüchtig alles an sich reißen wollen (Fromm 1956, 60f.).1 Wer hingegen sich selbst liebt, wird aus der Fülle der eigenen Kraft schenken und geben – und darin sich selbst und den Anderen lieben. Paul Tillich hat an Fromms Entwurf die Frage gestellt, ob Selbstannahme nicht die angemessenere Bezeichnung für ein gesundes Selbstverhältnis ist als Selbstliebe.2 So wie ich einen anderen Menschen akzeptiere oder mich mit ihm versöhne, ohne mit ihm eine Beziehung der Liebe zu eröffnen, könnte auch im Selbstverhältnis

1 Dieser Gedanke hat auch in die heutige evangelische Theologie Eingang gefunden. „Selbstsucht ist nicht der Ausdruck von Selbstliebe, sondern viel eher Ausdruck fehlender Selbstliebe, deren Mangel, wie bei jeder Sucht, auf eine Weise auszufüllen versucht wird, die ihn nicht stillen kann“ (Härle 2011, 185). 2 Paul Tillich hat in seiner Besprechung von Fromms Buch The Sane Society dessen Liebesverständnis als große Leistung gewürdigt, aber meint zum Begriff der Selbstliebe: „Is it not better to drop the ambiguous term ‘self-love’ completely und replace it by ‘selfishness’ if it is meant in a negative sense, and by natural ‘self-affirmation’ and paradoxical ‘self–acceptance’ if it is meant in a positive sense?” (Tillich 1955, 14). Fromm verweist in seinem Buch über die Kunst des Liebens auf die Besprechung Tillichs (Fromm 1956, 57).

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eine Selbstakzeptanz der passende Ausdruck dafür sein, sich selbst und seiner Liebesfähigkeit in adäquater Weise bewusst zu sein. Besitzt eine Selbstliebe nicht doch eine Neigung zum Narzissmus? Aus der Zwiespältigkeit, die der Begriff der Selbstliebe mit sich führt, scheint die christliche Religion, die sich als Religion der Liebe gibt, auch keinen eindeutigen Ausweg zu weisen. Ist in der Selbstliebe eine höhere Form der Selbstannahme zu sehen, bei der man sich nicht nur akzeptiert, sondern eine innige wohlwollende Beziehung mit sich eingeht? Man könnte das Christentum als eine Religion verstehen, die über die reine Annahme und Versöhnung hinausgeht und die Erfüllung jeder Beziehung, auch der zu sich selbst, in der Liebe sieht. Oder ist die Selbstliebe nicht doch das Gegenteil einer Nächstenliebe? Wer ernst macht mit der Liebe zu sich selbst, wird der um seiner selbst willen noch einen Blick für den Anderen haben? Wenn im Folgenden die Frage nach der Selbstliebe gestellt wird, so ist einerseits ein Blick auf die christliche Theologie zu werfen und von dorther eine Orientierung zu gewinnen. Andererseits soll in einer anthropologisch-phänomenologisch ausgerichteten Analyse die Möglichkeit einer Selbstliebe ausgelotet werden. In einem weiteren Schritt ist dann die besondere Ausprägung des modernen Selbstverständnisses in die Untersuchung aufzunehmen, um zu einem angemessenen Urteil über Sinn und Möglichkeit einer Selbstliebe für uns heute zu kommen. Die Verbindung zwischen einer Selbstliebe und dem christlichen Liebesgedanken im Horizont eines modernen Selbstseins ist vor allem durch Søren Kierkegaard schon in der Mitte des 19. Jahrhunderts geleistet worden. Daran werden die eigenen abschließenden Überlegungen anknüpfen.

1.

Die Ablehnung der Selbstliebe bei Karl Barth und Martin Luther

1.1

„… eine glatte Illusion“

Was hat unsere moderne Gesellschaft aus der Liebe gemacht? Die sie kennzeichnende Verkümmerung der Selbstliebe und deren Gleichsetzung mit der Selbstsucht sind für Fromm auch ein Erbe der Reformation, wie er mit einem harschen Zitat aus Calvins Institutio zu belegen sucht.3 Man muss aber nicht bis zu Calvin zurückgehen, sondern kann einen anderen berühmten reformierten Theologen aufrufen, der knapp zwanzig Jahre vor Fromm die Vorstellung einer berechtigten

3 Calvin spreche von der Selbstliebe als „a pest“ (Fromm 1956, 57). Der Ausdruck stammt aus dem 4. Abschnitt des 7. Kapitels im 3. Buch der Institutio. Dort geißelt Calvin die Selbstliebe und sieht „kein anderes Heilmittel, als daß die furchtbar schädliche Pestilenz der Ehrsucht und Selbsthilfe aus dem tiefsten Innern herausgerissen werde“ (Calvin 2008, 378).

„… wie dich selbst“

oder sogar gebotenen Selbstliebe radikal ablehnte. Karl Barth verwirft die augustinische Tradition der christlichen Selbstliebe und schließt sich in seinem Urteil Calvin und Luther an. Seine Gründe für das Verdikt scheinen in einer theologisch vertieften phänomenologischen Betrachtung der Liebe zu liegen. „Zur Liebe gehört ein Gegenüber, ein Gegenstand. Dass wir uns selber Gegenstand der Liebe sein oder werden könnten, ist aber eine glatte Illusion“ (Barth 1938, 427).4 Liebe ist nur zu einem Anderen möglich und wirklich. Das für eine Liebesbeziehung konstitutive Anderssein oder Ein-Anderer-Sein sieht Barth in Jesus Christus gegründet, in dem der Mensch sich selbst erkennt. Der Mensch erkennt sich in dem einen Anderen, Jesus Christus, und von daher zur Liebe zu Gott, dem Anderen, und dem anderen Nächsten gerufen. Liebe ist nur da, wo sie dem Anderen gilt. Es ist die Gefahr der Liebe, dass jemand in seiner Liebe doch nicht den Anderen, sondern nur sich selbst meint und die Liebe selbst verfehlt. Ist für Fromm die Selbstliebe unauflösbar mit der Liebe zum Anderen verbunden, so kann Barth aus dezidiert theologischer Sicht im Gegensatz dazu sagen: „Sich selbst liebend, liebt der Mensch noch nicht oder nicht mehr im Sinn der Kinder Gottes“ (Barth 1938, 427). Barths Auffassung kommt der Auslegung Luthers nahe, die ebenfalls ein negatives Urteil über jegliche Selbstliebe fällt. Das Gebot „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ (Lev 19,18b; Mt 19,19; 22,39; Mk 12,31; Lk 10,27; Römer 13,9; Gal 5,14; Jakobus 2,8) redet für Luther in der Formulierung „wie dich selbst“ von einer verkehrten Liebe, die den Nächsten vergisst und in der man nur das Seine sucht.5 Das Postulat einer positiven Selbstliebe ist aus diesem Gebot nicht zu erheben, weil die – verwerfliche – Selbstliebe schon in allen Menschen ist und das Bibelwort bei einem positiven Votum hätte heißen müssen: „Du sollst dich lieben und deinen Nächsten als dich selbst“ (Luther 1966: Galaterbriefauslegung 1519, WA 2, 580, 32). Luther hat seine Kritik an einem positiven Verständnis der Selbstliebe mit dem Vorbehalt versehen, dass es sich hier nur um seine Meinung handle. Nach eigenem Bezeugen hat der Reformator längere Überlegungen im Vorfeld angestellt, bis er zu seiner Auffassung gelangt ist. Die Autorität „einiger Väter“, nach denen die geordnete Liebe bei sich selbst anfängt (Luther 1966: WA 2, 580, 24f.), hat Luther umgetrieben und lässt ihn in seiner Verurteilung jeglicher Selbstliebe zurückhaltend sein, wenn er seine Ausführungen als unüberlegtes Urteil (temeritas) kennzeichnet (Luther 1966: WA 2, 581,4f.).

4 Zur Selbstliebe bei Barth siehe auch Käfer 2011, 191f. 5 Man kann im Hebräischen (Lev 19,18b) „wie dich selbst“ adverbiell auf das Lieben beziehen und somit als Aufforderung zur Selbstliebe verstehen, aber auch attributiv im Sinne von „wie du“ übersetzen und im Sinne der Gleichheit aller Menschen, ihrer Gottebenbildlichkeit, deuten. Der größere Gebotskontext, aber auch Vergleiche zur Umwelt geben den Ausschlag für die attributive Lesart (Bauks 2019, 153f.).

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Der Reformator sieht die Selbstliebe dem Menschen geradezu leiblich eingeschrieben, wenn dieser in Gefahr mit den Füßen seinen übrigen Leib, mit der Hand seinen Kopf schützt. Unter einer solchen „natürlichen“ Selbstliebe könnte sich ein Eigennutzen verbergen, der nicht im Sinne Christi ist. Luther denkt offenbar an die Regeln der Bergpredigt, etwa das Hinhalten der anderen Wange, die durch das Votum für eine Selbstliebe außer Kraft gesetzt würden. Aber könnte dieses Problem nicht durch eine Ordnung der Selbstliebe gelöst werden, die den verschiedenen Formen der Selbstliebe Rechnung trägt? Wenn nun durchaus zugegeben werden muss, dass die Selbstliebe hier zuerst geordnet werde, werde ich wenigstens höher steigen und sagen, dass eine solche Liebe nie das rechte Maß halte, weil sie nur in sich selbst sei, und nicht gut sei, wenn sie nicht außerhalb ihrer selbst in Gott sei. Das bedeutet, dass ich in meinem Eigenwillen und meiner Selbstliebe ganz und gar gestorben nichts suche außer dass der vollkommen reine Wille Gottes in mir geschehe, bereit zum Tod, zum Leben, zu jeder Form, die mein Töpfer mir zukommen lässt. Das ist schwierig, überaus beschwerlich und der Natur nicht möglich. Denn hier liebe ich mich nicht in mir selbst, sondern in Gott, nicht in meinem Eigenwillen, sondern im Willen Gottes (Luther 1966: WA 2, 581, 12–19).

Luther sieht die natürliche Selbstliebe so vom sündigen Eigenwillen durchwirkt, dass sie von ihm gar nicht abzugrenzen ist. Eine natürliche, von der Sünde des Menschen unberührte Liebe wird ähnlich wie bei Barth zu einer bloßen Illusion. Deshalb ist die menschliche Selbstliebe in ihrem Eigenwillen nicht mit der göttlichen reinen Liebe verbunden, sondern kann nur durch Gottes Wille und Liebe abgelöst werden. 1.2

Die Verschmelzung von Gottes- und Nächstenliebe

Worin liegt das Lutherische Verdikt über die Selbstliebe genauer begründet? Dass die Liebe nur dort, wo sie „in Gott“ ist, uneingeschränkt gutzuheißen ist, dagegen eine in sich selbst – also im Geschöpf – bleibende Liebe dahinter zurückbleibt, ist schon bei Augustin ein tragender Gedanke: Nicht als ob die Schöpfung nicht zu lieben sei, aber wenn diese Liebe auf den Schöpfer bezogen wird, dann ist sie nicht mehr Begehrlichkeit, sondern reine Liebe. Begehrlichkeit ist es nämlich dann, wenn das Geschöpf um seinetwillen geliebt wird. Dann hilft es nicht dem, der es gebraucht, sondern verdirbt den, der genießt […] Wie du nämlich dich selbst genießen darfst, aber nicht in dir, sondern in jenem, der dich schuf, so auch denjenigen, den du liebst wie dich selbst (Augustinus 2001: De trinitate, IX/8, 71).

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Die wahre Selbstliebe kann von der Gottesliebe nicht getrennt werden. Nur soweit der Mensch „in Gott“ ist, an ihm als den Ursprung des Guten Anteil hat, ist er in der Lage, sich selbst wahrhaft zu lieben. Dieser Gedanke findet bei Thomas seine Fortsetzung: Gott wird […] geliebt als Ursprung des Guten, worauf die Liebe (dilectio) der Gottesliebe (caritas) gründet. Der Mensch aber liebt sich selbst kraft der Gottesliebe nach Maßgabe dessen, dass er des besagten Gutes teilhaftig ist (Thomas 1959: Summa theologica II–II, q. 26 a. 4).

Auch wenn die traditionelle Unterscheidung zwischen einer natürlichen Selbstliebe und einer in Gott entspringenden Liebe sich bei Luther ebenfalls wiederfindet, so setzt der Reformator doch beide in ein grundsätzlich anderes Verhältnis. Augustin und Thomas gehen von einer in der Natur des Menschen befindlichen Möglichkeit der Gottesliebe aus, die von Gott in sie hineingelegt wurde. Sie ist das systematisch bedeutsame Verbindungsglied in der Beziehung zwischen Mensch und Gott, durch das die Selbstliebe des Menschen ihre Reinheit empfängt. Durch seine Gottesliebe ist dem Menschen eine angemessene Selbstliebe möglich. Bei Luther findet sich eine solche „unverdorbene“ natürliche Möglichkeit menschlicher Gottesliebe nicht. Menschlicher Eigenwille und göttlicher Liebeswille stehen scharf gegeneinander und werden allein durch die göttliche Initiative in Jesus Christus in ihrem Gegensatz überwunden. Aus der göttlichen Versöhnung folgt keine Möglichkeit angemessener Selbstliebe des Menschen, sondern im Gottesverhältnis tritt an die Stelle des Gott feindlichen Eigenwillens eine Gott im Glauben dargebrachte Passivität des Menschen. Luther depotenziert die Natur des glaubenden Menschen zu einer pura materia, die durch Gott nach seinem Willen zu einem Gefäß seiner Liebe geformt wird (Luther 1964a: Disputatio de homine, These 35, WA 39/I, 177, 3). Sich selbst dahingehend zu formen ist der menschlichen Natur unmöglich. In der Neuwerdung des Menschen durch Gott wird aus Luthers Sicht der Mensch nicht zur bloßen Marionette einer göttlichen Liebe, sondern neu zu Gottes Ebenbild gestaltet.6 Die Gestaltwerdung wird im Glauben vollzogen. Nicht ein natürliches Vermögen oder eine inhärierende Seele lässt den Menschen ein Gegenüber Gottes sein, sondern es ist der Glaube, durch den der Mensch von Gott sich empfängt und nimmt. In diesem Vollzug ist er Gottes Gegenüber. Zugleich eröffnet der Glaube eine neue Beziehung zum Anderen, weil der Glaubende nun dem Anderen zu einem wahren – freien – Gegenüber wird, das nicht auf dessen Gegenliebe angewiesen ist.

6 Luther vergleicht in seiner Disputation über den Menschen das Werden im Glauben mit dem Werden des Menschen am Anfang der Schöpfung (Luther 1964: Thesen 35–38, WA 39/1, 177, 3–10).

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Durch die Glaubensbindung an Gott erfährt der Mensch die göttliche Liebe, die ihn selbst den Anderen lieben lässt. Diese Wendung von sich weg hin zum Nächsten bedeutet zugleich, dass dem Menschen im Glauben die Augen geöffnet werden, Gott im Nächsten zu sehen. Der Nächstenliebe ist die reine Gottesliebe nicht mehr übergeordnet, wie in einem breiten Strom mittelalterlicher Theologie, sondern beide sind miteinander verschmolzen. Das Gebot der Gottesliebe und der Nächstenliebe werden identisch, im Anderen begegnet mir Gott in Jesus Christus: Also schmelzet Gott die beiden Gebote [sc. Gott zu lieben und den Nächsten zu lieben] ineinander, dass es gleich ein Werk, eine Liebe ist, was wir dem Nächsten tun mit Predigen, Lehren, Kleiden, Speisen, ist alles Christo selbst geschehen […] Also ist die Welt voll, voll Gottes. In allen Gassen, vor deiner Tür findest du Christum (Luther 1964b: Predigten des Jahres 1526, WA 20, 514,21–23.27f.).

Könnte man aus diesem Gedanken eine Gottes- bzw. Christusbegegnung nicht nur im Anderen, sondern auch in der Rückwendung auf sich selbst ableiten, da man selbst ebenfalls der Nächste für den Anderen ist, so ist eine solche Konsequenz durch die radikal relationale Ausrichtung des Lutherischen Denkens verneint. In der Rückwendung auf sich selbst wird der Mensch sich nur als Lieb-loser, als Sünder ansehen können, während der andere Christ in ihm Gott in Christus entdeckt. Die reformatorische Grundformel des extra me leitet auch Luthers Kritik an der Selbstliebe. Die Beziehung der Nächstenliebe ist von Gottes Handeln und Präsenz durchzogen. In der Liebe zum Nächsten gibt der Liebende Gottes Liebe weiter, lässt sie durch sich hindurch zum Anderen fließen. Er ist nicht darauf angewiesen, dass er etwas Liebenswertes am Anderen entdeckt, was seine Liebe entzündet, sondern im Nächsten sieht er Christus, der sich des Geringen und Lieblosen angenommen hat. So ist dem Liebenden sein eigenes Handeln extra se, und auch derjenige, dem seine Liebe gilt, ist extra se gegründet. 1.3

Die Selbstliebe muss „außer sich selbst sein“

Angesichts dieses Befundes bei Luther wird eine evangelische Theologie, die sich dem Erbe der Reformation verpflichtet weiß, ein mögliches Votum für eine Selbstliebe sorgsam abwägen müssen:7 Luthers persönlicher Vorbehalt, mit dem er sein negatives Urteil über die Selbstliebe versehen hat, war dem Respekt vor den „Vätern“ und noch mehr vor dem Bibeltext geschuldet, der eine Selbstliebe nahelegen könnte.

7 Zu einer heutigen Begründung der Selbstliebe aus katholischer Sicht im Anschluss an die augustinische und thomasische Theologie siehe Hoffmann 2002.

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Es zeigt sich aber bei einer genaueren Analyse, dass Luthers Kritik der Selbstliebe tief in seinen reformatorischen Grundentscheidungen verankert ist, mit denen er das Verhältnis von Gott, Mensch und seinem Nächsten bestimmt hat. Luthers Ablehnung einer „unverderbten“ Natur des Menschen nimmt dem traditionellen Gedanken der Selbstliebe seine Grundlage. An die Stelle eines sich in seiner von Gott geschenkten menschlichen Natur liebenden Menschen tritt zum einen der in sich verkrümmte Mensch, dessen Selbstliebe einer versuchten Gründung in sich selbst gleichkommt, und zum anderen der auf Gott neu ausgerichtete Mensch des Glaubens, dessen von Sünde gezeichnete Natur Gott neu zu seinem Ebenbild umformt. Geht Luther noch mit der augustinischen Tradition in dem Gedanken zusammen, dass die Liebe zum Geschöpf – und damit nach Augustin auch zu sich selbst – nur dort rein ist, wo sie nicht um des Geschöpfes, sondern um Gottes Willen erfolgt, so trennt er sich von der Tradition, wenn ihm der liebende Mensch in die liebende Beziehung aufgeht, in Selbstlosigkeit in sie eingeht. Die Selbstliebe muss „außer sich selbst sein“, eine Liebe sein, in der aller Selbstbezug ausgelöscht ist und nur dem Willen Gottes ergeben. Eine solche Liebe wird nur im Glauben und in ihrer einzigen Gestalt als Nächstenliebe nicht mehr einer vorgeschalteten Selbstliebe wie bei Augustin bedürfen, sondern von Gott direkt durch den Liebenden hindurch zum Nächsten fließen.

2.

Das eigene Selbst und die Liebe

2.1

Die Selbstverborgenheit des Menschen

Ob die Selbstliebe Anfang und Teil der wahren Liebe oder ihr Ende und ihre Negation ist, lässt sich nicht empirisch entscheiden. Ob mein Verhältnis zu mir selbst ein Liebesverhältnis ist, kann zwar in einem Selbsterleben seinen Anhalt finden. Aber verdient ein bestimmtes Selbsterleben Liebe genannt zu werden? Kann schon die Gewissheit darüber, ob ich einen anderen Menschen liebe, schwierig zu erlangen sein, wird die Bestimmung einer möglichen Liebe zu mir selbst mit nicht weniger Schwierigkeiten zu kämpfen haben. Wir sind uns nicht „Objekte“ unserer Gefühle und Einstellungen, sondern uns selbst Subjekt. Wenn wir uns in Gedanken oder Gefühlen uns selbst gegenüberstellen oder -stehen, dann ist dieses „andere Selbst“ nur in eingeschränkter Weise wir selbst. Unser Selbstsein umfasst unsere ganze Beziehung zu uns selbst und nicht nur eine vermeintliche Objektivität, in der wir uns zu haben meinen. Wir haben uns nicht selbst. Diese Beschränkung der Selbsterkenntnis ist in der philosophischen Tradition auf verschiedene Weise bedacht worden. Wir wissen nicht, wer wir für uns selbst sind, sondern

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als Objekt der inneren empirischen Anschauung, d.i., sofern ich innerlich von Empfindungen in der Zeit, sowie sie zugleich oder nacheinander sind, affiziert werde, erkenne ich mich doch nur, wie ich mir selbst erscheine, nicht als Ding an sich selbst (Kant 1983a: Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, § 7, BA 27f.).

Die an die Zeit gebundenen Empfindungen verweisen auf die Geschichtlichkeit des menschlichen Daseins, die jeder Selbsterkenntnis nur einen Ausschnitt des eigenen Selbstseins bietet: Die Verborgenheit des Menschen für sich selbst wie für seine Mitmenschen – homo absconditus – ist die Nachtseite seiner Weltoffenheit. Er kann sich nie ganz in seinen Taten erkennen – nur seinen Schatten, der ihm vorausläuft und hinter ihm zurückbleibt, einen Abdruck, einen Fingerzeig auf sich selbst. Deshalb hat er Geschichte. Er macht sie, und sie macht ihn (Plessner 1976, 144).

Unsere Selbsterkenntnis ist durch die Konstitution des menschlichen Daseins eingeschränkt. In unserer Vorstellung von uns selbst fließen Vergangenes und Gewünschtes, Erlebtes und Geträumtes, Erkanntes und Illusionäres zusammen, ohne dass wir dies unmittelbar unterscheiden könnten. Nun kann kein Zweifel bestehen, dass ich mir darin nichts anderes als eben mich in diesen Brechungen vorstelle. Eine reflektierte Selbstbeziehung könnte darauf aus sein, diese Brechungen und Unterscheidungen in der eigenen Selbstvorstellung transparent zu machen. Der Mensch ist darauf aus, sein wahrhaftes Selbst zu lieben und nicht nur eine – gewünschte – Vorstellung seiner selbst. Man könnte zu bedenken geben, dass dieses Problem sich auch in der Liebe zu einem anderen Menschen stelle, in dessen Vorstellung meinerseits auch Projektionen und Täuschungen einfließen. Aber ist durch das Anderssein des Anderen eine Möglichkeit der Korrektur meiner Vorstellungen gegeben, die mir im Hinblick auf meine Selbsterkenntnis fehlt? Und auf mich zurückgewendet: Vermag die eine vermeintlich intime Kenntnis seiner selbst suggerierende Nähe eines Selbstverhältnisses nicht eher einer Täuschung unterliegen als die Erkenntnis seiner selbst durch einen vertrauten Anderen? Kann ein ehrliches „Erkenne dich selbst!“ erst durch ein vom Anderen erbetenes „Sag mir, wer ich bin!“ gelingen? Nur auf dem Umweg der Hinwendung zum Anderen könnte eine Hinwendung zu mir selbst erfolgreich sein. Dieser Umweg ist nicht bloß in einer intellektuell beschränkten Weise zu verstehen, als wäre ich dazu aufgerufen, das Urteil des Anderen als Identifizierung meiner selbst zu verstehen. Es liegt schon in dem Vorgang einer Hinwendung zum Anderen und ebenso in dessen Hinwendung zu mir ein Transparent-Werden meiner selbst. Mein Selbstsein liegt nicht wie ein Ich-Kern in mir verborgen, an den ich mich in

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einer Selbsterkenntnis oder -liebe herantaste, sondern ist zugleich nach innen und außen gerichtet. 2.2

Das leiblich verfasste Selbst

Unsere leibliche Verfassung ist gekennzeichnet durch eine Doppelseitigkeit von innen und außen. „Einen Leib haben bedeutet, gesehen werden (es bedeutet nicht nur das), es heißt, sichtbar sein“ (Merleau-Ponty 1986, 244; siehe dazu Waldenfels 2000, 121f.). Wir spüren unmittelbar uns selbst nicht nur, wenn wir uns von außen berühren, sondern bisweilen noch weit intensiver, wenn ein Anderer uns berührt. Im Spüren des Anderen machen wir zugleich eine Erfahrung mit uns selbst. Ein Reiz-Reaktionsschema mag äußerlich-biologische Abläufe einfangen können, aber schöpft den Bedeutungshorizont einer Leiberfahrung nicht aus. Mit unserem Leib verleiben wir uns Impulse von außen ein, indem wir uns in unserer Leiblichkeit dem Anderen öffnen, wir verwandeln sie unmittelbar in etwas Eigenes. Das ist kein Automatismus. Wir können uns auch in unserer Leiblichkeit zurücknehmen und verschließen. Wir nehmen dann nur Impulse von außen wahr und reagieren auf das Äußere, aber „verleiblichen“ es nicht. Eine intensive Umarmung unterscheidet sich von einer beliebigen Berührung nicht dadurch, dass wir ersterer eine andere Bedeutung geben, sie bloß kognitiv anders deuten. Vielmehr kann eine intensive Umarmung ein unmittelbares „leibliches Wissen“ auslösen, das jeder nachträglichen Deutung vorausgeht, ihr erst ihre Gewissheit gibt. Der „Ort“ dieses unmittelbaren Wissens liegt nicht in irgendwelchen Sinneszellen in meinem Körper, sondern in der Berührung selbst, in dem Übergang von dem Anderen zu mir. Der Mensch ist in seiner Leiblichkeit nicht mit seiner „Körpermaterie“ gleichzusetzen. Leiblichkeit schließt das dem Körper Äußere ein, das dem Leib „Grenzerfahrungen“ beschert. Die Liebe – und nicht nur die „körperliche Liebe“ – gehört zu den tiefsten leiblichen Erfahrungen, die Menschen machen, wenn sie einander mit ihren Sinnen wahrnehmen. Die Leiberfahrung durch einen Anderen beinhaltet eine Dimension, die einer möglichen Selbstliebe offensichtlich nicht angehört. Zwar ist es unbestreitbar, dass in eine für die Selbstliebe notwendige Selbstvorstellung auch Leibgefühle mit einfließen. Die Zurückwendung auf mich selbst wird auch leiblich vollzogen. Man nimmt sich selbst wahr. Man spürt sich. Aber entspricht dies in seiner Struktur der Wahrnehmung eines Anderen? Für die Leiberfahrung eines Anderen ist die Grenzerfahrung konstitutiv, in der die leibliche Erfahrung des Anderen zugleich Selbsterfahrung ist. Am Anderen gewinnt das Selbst seine Kontur. Diese Form der Leiblichkeit zum Anderen ist zu sich selbst nicht gegeben. Man stößt in der Introspektion auf keine Grenze zum eigenen Selbst. Die Introspektion dient in den meisten Fällen der Überwindung des „Anderen“, das sich an das

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eigene Selbst geheftet und es mir selbst entfremdet hat. Es geht um ein wieder zu gewinnendes Selbstvertrauen, bei dem das fremd Erscheinende als Eigenes angenommen oder als Fremdes distanziert wird. 2.3

„Anderes“ und „Eigenes“ des Bewusstseins

Man könnte annehmen, dass der Mensch in seiner natürlichen Selbststruktur eine Beziehung sei, die zwischen der Reflexion seiner selbst und dem unmittelbaren Selbstsein hin- und herpendelt. Der Mensch sieht sich in seiner Freude – darin liebt er sich – und kann infolgedessen sich selbst noch mehr freuen. Dieses nimmt er dann wieder in seiner Reflexion wahr – was seine unmittelbare Freude weiter vergrößert. Aber entspricht das unserer Selbsterfahrung? Wenn wir uns freuen und unsere Freude reflektieren, stellen wir uns in der Reflexion als reflektierendes Subjekt die Freude nicht gleichsam als Gegenstand gegenüber, um dann unsere Freude zu lieben, sondern wir machen uns unsere Freude bewusst. Was mir vorher gar nicht oder nur rudimentär bewusst war, wird ganz in das Bewusstsein gehoben. Ein solcher Akt ist von einem zwischenmenschlichen Akt verschieden, weil „das Andere“ meines Selbst, mein zu reflektierendes Selbstsein, in Wahrheit nichts anderes ist, sondern das mir Eigene. Sein Anderssein besteht wesentlich in seinem Nicht-bewusst-sein und wird mit seiner Bewusstwerdung aufgelöst. Dagegen wird der andere Mensch, mit dem ich in Begegnung komme, durch meine Bewusstwerdung seiner selbst mir in seinem Anderssein bewusst. Man könnte dieser Kritik an einer selbstbezogenen Liebe entgegenhalten, dass man aus einem liebenden Wohlwollen zu sich selbst diesen Weg der Introspektion beschreitet. Es geht nicht darum, das einem unbekannte Sich-selbst-sein zu entdecken und dann zu lieben, sondern man durchdringt sein eigenes Bewusstsein mit Liebe. Ein Mensch liebt sich in seinen Lebensäußerungen vom Herzschlag bis zum Fingerspitzengefühl, von seinem Sympathiegefühl bis zu den Phantasievorstellungen, die seine Gedanken durchziehen. Das Bewusstsein all dessen wird von Liebe gefärbt. Man gewinnt ein liebendes Selbstbewusstsein. Aber liegt es nicht nahe, die all diesen Lebensäußerungen innewohnende Finalität nach außen, ihren Außenbezug als das entscheidende „Objekt“ der Liebe zu sehen? Es handelt sich um Lebensäußerungen, die in ihrem Nach-außen-sein und damit um ihrer Verinnerlichung des Äußeren willen geliebt werden. Nicht das abstrakte Vermögen der Phantasie wird geliebt, sondern das mir fremde Phantastische oder schon das Übergehen der Gedanken in die Phantasie, in das mir Fremde. Es ist der Übergang vom Eigenen ins Andere, der einen seine auf das Spüren vom Anderen ausseienden Fingerspitzen lieben lässt, der einen das Sympathiegefühl als Sympathie für den Anderen lieben lässt. Selbst der Herzschlag ist darin zu lieben, dass er mich leben lässt – und Leben geschieht nicht durch den Menschen selbst, so wie das Herz

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auch unwillkürlich schlägt, sondern ist etwas ihm Zukommendes. Der Mensch ist im Leben.

3.

Eigenes und anderes Selbstsein in der Liebe

3.1

„Sich in einem anderen Selbst vergessen“

Der Bezug zum Anderen scheint für jegliche Liebe unverzichtbar zu sein. Das macht den Gedanken der Selbstliebe nicht obsolet, sondern sie könnte in der Liebe zum Anderen in tieferem Sinn aufgehoben sein. Die Selbstliebe zeigt sich als ein Reflex der Liebe zum Anderen. Der Mensch liebt sich selbst im Anderen. Hegel hat diese Dialektik zwischen dem Selbst und dem Anderen für die Liebe prägnant formuliert: „Das wahrhafte Wesen der Liebe besteht darin, das Bewusstsein seiner selbst aufzugeben, sich in einem anderen Selbst zu vergessen, doch in diesem Vergehen und Vergessen sich erst selber zu haben und zu besitzen“ (Hegel 1986, 155). Wenn Hegel die Aufgabe des eigenen Selbstbewusstseins an den Anfang der „Liebesbewegung“ stellt, so ist damit die Möglichkeit einer Selbstliebe in abstrakter Trennung von dem Anderen abgestritten. Der bisherige phänomenologische Befund wird dem Recht geben. Er weist darauf hin, dass bei der „wahren“ Liebe das eigene Bewusstsein nicht den Anderen in seinem Anderssein integriert, sondern man vielmehr ein anderes Bewusstsein erhält, sich in einem Anderen vergisst, wie Hegel formuliert. Die Intensität der Liebe geht nicht bloß mit einem gesteigerten Selbstbewusstsein, sondern darin – mit dem gesteigerten Bewusstsein des Anderen – einher. Dass man seinen Herzschlag, seine eigene ganze Leiblichkeit liebt, wäre nur der Anfang einer Liebe, das Aufscheinen eines Anderen an mir selbst. Erst wenn man den Anderen als Anderen liebt, erscheint die Liebe in ihrem Wesen. Der liebende Mensch weiß nicht um sich selbst, sondern nur noch um den Anderen. Weil der Mensch sich aber im Anderen nicht nur verliert, sondern auch findet, ist er selbst so von dem Anderen durchdrungen, dass er nun in tieferer, durch den Anderen vertieften Weise sich selbst liebt. Er weiß sich in seiner eigenen Leiblichkeit geliebt und kann sie als vom Anderen geliebte selbst lieben. Das Bewusstsein des Anderen durchzieht das Bewusstsein seiner selbst und gibt den Grund – in doppeltem Sinne – sich selbst zu lieben. Selbstsein ist somit anderem Selbstsein vermittelt, dass es schwerlich allein zu thematisieren ist. Man ist man selbst in Abgrenzung zum Anderen und überschreitet diese Grenze in der Liebe, wenn man sich so mit dem Anderen identifiziert, dass man sich das eigene Selbstsein ohne das des Anderen nicht vorstellen kann. Freilich ist aber Liebe mehr als eine Vorstellungsverbindung. Sie geht ins Gefühl

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ein oder kommt von ihm her in die Vorstellung und beschreibt eine Beziehung, bei der man bei sich selbst immer auch schon beim Anderen und beim Anderen immer schon bei sich selbst ist. Dass es sich hierbei um Liebe handelt und nicht etwa um Hass, bei dem eine solche Beziehung im Negativen besteht, impliziert eine Freiheit des Sich-selbst-loslassens, in der man nicht gegen den Andern, sondern für ihn ist. 3.2

Die Freiheit des Sich-selbst-loslassens

Die Vorstellung eines Sich-selbst-loslassens hat etwas Paradoxes an sich, weil sie keine Selbstaufgabe in dem Sinn meint, dass man nicht mehr man selbst ist, sich selbst auflöst, sondern man selbst von einem Anderen her ist, sich von ihm als man selbst bestimmen lässt. Weil diese Fremdbestimmung in meiner Freiheit zugleich eine Selbstbestimmung ist, weil ich sie zulasse, bin ich nicht ein bloßes Anhängsel des Anderen, sondern selbst – für ihn. Es zeigt sich hier der Beziehungscharakter des Selbstseins, das da an Gewicht und Stärke gewinnt, wo es in Bezug zu dem Anderen steht. Menschen erleben Liebe nicht als einen Verlust, sondern als einen Gewinn an Selbstsein. Für einen anderen Menschen da zu sein, verstärkt das eigene In-Beziehung-sein, darin das Selbstsein seinen Grund hat. Auch könnte in diesem Sich-selbst-loslassen eine der Liebe eigentümliche Erfahrung liegen. Geschieht das Sich-selbst-loslassen in der Liebe aus freiem, spontanem Entschluss oder aufgrund der unwiderstehlichen Attraktion durch den Anderen? Man wird das schwerlich eindeutig entscheiden können – das Sich-selbst-loslassen hat seinen Grund in der Beziehung selbst. Darin ereignet es sich als freies Geschehen, bei dem meine Freiheit die Freiheit von mir selbst beinhaltet. Diese den Menschen entgrenzende Freiheit kann sich darin widerspiegeln, was man als Unendlichkeit der Liebe fühlt oder versteht. In der Beziehung besteht eine gewisse Grenzenlosigkeit, weil ich in ihr nicht auf mich begrenzt bin und den Anderen auch nicht begrenzen kann, weil ich mich auf ihn als den Anderen hin loslasse. Diese Grenzenlosigkeit lässt den liebenden Menschen seine eigene Endlichkeit weniger spüren. Von dieser Analyse her scheint sich die Möglichkeit einer eigenständigen Selbstliebe neben der Nächstenliebe zu erübrigen. Die Liebe zu sich selbst ist zugleich eine Liebe zum Anderen und nur in ihr zu verwirklichen. „Liebe Deinen Nächsten wie dich selbst” ist nicht als Maßnehmen der Nächstenliebe an der Selbstliebe zu verstehen, sondern: Nur wo Du Deinen Nächsten liebst, liebst Du Dich selbst. Liebe ist an die Beziehung zu einem Anderen hin gebunden, so wie das Selbst erst am Anderen entsteht. Erst in dieser Beziehung geschieht Selbstliebe, weil das eigene Selbst nun vom Anderen her durchdrungen ist. Ist die Selbstliebe so gereinigt von allem Egoismus?

„… wie dich selbst“

3.3

Das Projekt seiner selbst in der modernen Gesellschaft

Die romantische Grundierung solcher vom Idealismus Hegels gespeisten Vorstellungen und Formulierungen mag in einer modernen Gesellschaft zwiespältig erscheinen, die noch weit mehr als zur Zeit der Romantik die Autonomie des Einzelnen, seine individuelle Freiheit zu entfalten sucht:8 Ein solcher Begriff von Liebe, wie er dargestellt wurde, erscheint dann eher als eine Form der gegenseitigen Abhängigkeit, die mit einem wechselseitigen Selbstverlust und nicht -gewinn verbunden ist. Ein Zusammengehen des eigenen Selbstseins mit dem des Anderen wird eher einem Gefühlszustand von Verliebtsein oder einer besonderen sexuellen Erfahrung zugeordnet, aber nicht als „mündige“ und alltagstaugliche Liebe angesehen. Überhaupt erscheinen solche metaphysischen Konzepte als Erklärung von Liebe nutzlos und entbehrlich. Die mit der Moderne sich ausprägende Hinwendung zu den empirischen Wissenschaften, insbesondere den Naturwissenschaften, setzt „rein“ philosophische Vorstellungen zu Gedankenspielen herab. Liebe wird als ein Gefühl begriffen, das Glücksgefühle auslöst oder glücklich macht. Für diesen evidenten, naturwissenschaftlich bestätigten Zusammenhang bedarf es keiner Ausflüge in die Metaphysik. Dennoch wird auch der moderne Mensch solche Gefühle in einen größeren Zusammenhang stellen. Sie belaufen sich nicht bloß auf eine schöne Empfindung, sondern werden als etwas „Tieferes“ verstanden, das einen „erfüllt“. Liebe zu erfahren wird als etwas zutiefst Sinnvolles verstanden, das über das aktuell erlebte Gefühl hinausgeht. Liebe geht auf das Ganze des Lebens, wenn Liebe das Leben erst lebenswert macht. Aber was soll das Ganze des Lebens sein? So ist die metaphysische Dimension der Erfahrung auch für den modernen Menschen nicht zu entbehren, wenn man die Liebe und das eigene Leben zu verstehen sucht. Das Ganze des Lebens spiegelt sich im Verständnis des Selbstseins wider, das zu einer Chiffre des modernen Lebens geworden ist. Selbstsein fungiert als Inbegriff eigener Freiheit. Die Bestimmung seiner selbst durch sich selbst, wie sie auch dem Autonomiebegriff zu Grunde liegt, gestaltet einen selbst im Sinne eigener Freiheit. Wie man geworden ist, was man aktuell tut und was man werden wird, soll ein Produkt eigener Freiheit sein, mit dem Bewusstsein seiner selbst durchzogen. Man wird selbst durch sich selbst. Die Selbstwerdung wird als ein lebenslanger Prozess begriffen. Man ist sich selbst aufgegeben. Dieses Selbst-Verständnis ist mit der Moderne gewachsen. Das eigene Verständnis speist sich nicht mehr aus einer gesellschaftlichen Ordnung wie in früheren Zeiten, die einen festen Rahmen für die Entfaltung der eigenen Existenz vorgibt,

8 Zum geschichtlichen Wandel des Liebesbegriffes und zu dessen Bedeutung als Kommunikationscode siehe Luhmann 1982.

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sondern aus einer Freiheit, die von dem Menschen eine Selbstgestaltung seiner Existenz fordert. Diese gesellschaftliche Veränderung bedeutet eine Vertiefung menschlichen Selbstseins, weil alles Äußerliche möglichst innerlich verantwortet – selbst-verantwortet – sein soll. Die Spannung innerhalb des eigenen Selbstseins, sein projekthafter Charakter, verstärkt die Reflexion auf sich selbst, macht aus dem Selbstsein ein letztlich nicht abschließbares Noch-nicht-sein. Die Spannung bringt nicht nur den Genuss der Freiheit, das Gefühl des Erfolges, sondern auch Unsicherheit, Orientierungslosigkeit und Scheitern mit sich. Menschen entwickeln nur unklare Vorstellungen von sich selbst, übernehmen schnell die Selbstbilder, die ihnen ihr Umfeld vorhält, und verlieren sich in Formen der Selbstentfremdung. 3.4

Selbstliebe als Heilmittel des modernen Selbstseins?

Dem modernen Menschen wird immer wieder die Selbstliebe empfohlen. Trotz der schon erwähnten Schwierigkeiten, die Selbstliebe für sich genommen phänomenologisch zu erhellen, scheint sie als die stärkste vereinigende Kraft geeignet zu sein, die Spannung in sich selbst zu verringern, die Kluft zu sich selbst zu schließen. Soll man also sich selbst lieben, wie man ist, egal ob man sich selbst zu verwirklichen oder an seinem Selbstentwurf zu scheitern meint? Es kann der Verdacht aufkommen, dass die empfohlene Selbstliebe wiederum ein Selbstentwurf ist, den man zu verwirklichen sucht. Hier könnten die Hürden auch weitaus höher als bei Zielen der Selbstverwirklichung liegen, die man möglicherweise aus eigener Willensanstrengung erreichen kann, während Liebe schwerlich allein durch einen Willensakt zu generieren ist. Die als Entlastung seiner selbst fungierende Selbstliebe bleibt eine zwiespältige Empfehlung, weil sie auch eine Liebe zu den eigenen Unzulänglichkeiten, Schwächen und Fehlern beinhalten müsste. Liebe ich das vielleicht bisher nicht beachtete Potential, das in ihnen liegt – aus Fehlern lernt man! –, oder geht es um eine wahrhafte Liebe zur Schwäche, die in ihrer Negativität geliebt werden soll? Man gewinnt bisweilen den Eindruck, dass die von Ratgebern propagierte Selbstliebe eher ein Optimierungsprogramm ist und es bei der empfohlenen vorbehaltlosen Selbstannahme nicht um Liebe, sondern um Verbesserung geht. Ein verändertes Verhältnis zu sich selbst kann sicher hilfreich sein. Die Erarbeitung eines neuen – positiven – Selbstbildes hilft falsche Sichtweisen abzubauen und trägt zu einer neuen Lebensqualität bei. Aber lässt sich eine solche Selbstveränderung als Selbstliebe bezeichnen? Der Mensch verurteilt sich nicht mehr selbst und geht behutsamer und aufmerksamer mit sich um. Eine belastende Spannung zu sich selbst wird in eine positive Spannung verwandelt, in der einem das neue Bild von sich selbst liebenswert erscheint. Dieses neue Selbstbewusstsein kann geliebt werden, aber soll vielmehr meine neue Identität sein, bei der das spaltende Verhältnis zu einem mir entfremdeten eigenen Selbstsein überwunden ist. Ich

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könnte auch ein Selbstbild von mir lieben, das mir nicht entspricht. Man soll das angestrebte Selbstbewusstsein nicht bloß lieben, sondern es haben. Man soll in neuer Weise selbstbewusst sein. Das Wissen, selbst liebenswert zu sein, ist schon auf den Anderen hin orientiert, dessen möglicher Liebe ich meiner wert weiß. Das Bewusstsein, liebenswert zu sein, integriert den Blick des Anderen auf sich. Man könnte schon in der allgemein empfohlenen Einübung einer Selbstliebe eine solche Integration der Liebe des Anderen zu mir vermuten. Weil mir von anderen Menschen oder medialen Ratgebern gesagt wird, dass ich liebenswert sei, übe ich mich in der Selbstliebe. Die Liebe zu mir selbst enthält die Stimme eines Anderen, aufgrund dessen Autorität ich glaube, dass ich mich lieben kann und darf.

4.

Kierkegaards Konzept der Selbstliebe im Kontext der modernen Gesellschaft

4.1

Wahre Selbstliebe durch „Selbstverdoppelung“

Der dänische Schriftsteller, Philosoph und Theologe Søren Kierkegaard hat schon Mitte des vorletzten Jahrhunderts in seinem Buch über die Taten der Liebe ein Verständnis der Selbstliebe und des christlichen Liebesgebotes vorgelegt, das die Spannung im Selbstsein des modernen Menschen aufnimmt und theologisch deutet. Dass sich jeder Mensch selbst liebt, bildet die Voraussetzung des Gedankengangs (Kierkegaard 1966, 21). Diese Liebe zu sich selbst ist aber für Kierkegaard noch keine wahre Selbstliebe, die erst dort entstehen kann, wo der Mensch durch die Konfrontation mit dem christlichen Liebesgebot eine entscheidende Veränderung erfährt. Der Mensch ist durch das Liebesgebot nicht bloß aufgefordert, von sich selbst wegzusehen und den Anderen im Blick zu haben. Dass der Nächste „wie sich selbst“ zu lieben ist, verschärft vielmehr den Eigenbezug auf den Nächsten hin. Der Nächste wird als „Verdoppelung“ (Kierkegaard 1966, 25) des eigenen Selbst gedeutet. Nur so wird der Begriff des Nächsten im christlichen Sinn verstanden: „Christus redet nämlich nicht vom Kennen des Nächsten, sondern davon, dass man selbst der Nächste wird, dass man sich als der Nächste erweist“ (Kierkegaard 1966, 26). Das Selbstsein des Menschen wird durch den Anderen nicht an seine Grenze geführt, sondern zu seiner Erfüllung gebracht, weil er als „sich selbst“ geliebt wird. Es geschieht eine Veränderung im Selbstsein, das nun mit allen anderen Menschen verbunden ist. „‚[D]er Nächste‘ bedeutet ‚alle Menschen‘“ (Kierkegaard 1966, 25). Durch die Selbstverdoppelung entsteht eine Selbstliebe, die alles Selbstische ablegt, das der falschen Selbstliebe anhaftet. Das Selbstische besteht in einer Vorliebe, die man für bestimmte Menschen hat und zu einer Abhängigkeit in der Liebe

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führt. Man ist in dieser Vorliebe darauf angewiesen, dass der Andere die eigene Liebe nicht zurückweist oder man wiederum durch den Anderen geliebt wird. Die christliche Liebe hingegen ist nicht von Bedingungen abhängig, die außerhalb ihrer liegen, sondern durch ein Selbstverhältnis geprägt, das die Liebe nicht an äußere Gegebenheiten bindet. Wahre Liebe ist eine in sich unabhängige, freie Bewegung. 4.2

Liebe und Achtung

Kierkegaard nimmt in seiner Konzeption ein Verständnis des modernen Menschen auf, das uns heute selbstverständlich geworden ist. Jeder Mensch ist qua seines Menschseins zu achten. Die Würde eines Menschen ist nicht an bestimmte äußere Voraussetzungen, an Stand, Herkunft oder Einkommen gebunden, sondern kommt ihm von ihm selbst her zu. Jedem Menschen ist „[d]ie Menschheit in seiner Person […] das Objekt der Achtung, die er von jedem andern Menschen fordern kann“ (Kant 1983b: Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, Ethische Elementarlehre, I. Buch, § 11). Kants Sittengesetz und seine Folgerungen für das Selbstverständnis des Menschen haben in Kierkegaards Liebesschrift auf vielfältige Weise ihren Niederschlag gefunden. Kierkegaards christlicher Liebesbegriff korrespondiert in seiner von empirischen Bedingungen „gereinigten“ Form mit dem Kantischen Sittengesetz. Auch seine Auffassung des christlichen Liebesgebotes im Sinne einer Pflicht schließt sich an Kants Sittenlehre an. Doch ist der Unterschied unübersehbar. Für Kant ist eine Pflicht, zu lieben, ein Unding, während hingegen einem Anderen wohlzutun eine Pflicht ist, ob man ihn liebt oder nicht (Kant 1983b: Die Metaphysik der Sitten, Zweiter Teil, Einleitung XIIc). Die Unterscheidung zwischen einer Achtung vor jedem Anderen, die mit entsprechenden Pflichten verbunden ist, und einer Liebe zu einem Anderen, die in ihrem Wesen keine Pflicht enthält, sondern ganz der Neigung zu überlassen ist, strukturiert die Beziehungen innerhalb unserer Gesellschaft. Die Liebe gehört in einen privaten Rahmen, während die Achtung jedes Menschen zugleich das öffentliche Handeln prägen soll. Konnte Kant der Achtung vor dem Sittengesetz bekanntlich eine innere Erhebung abgewinnen, welche die Bestimmung des eigenen Daseins ins Unendliche gehen lässt (Kant 1983c: Kritik der praktischen Vernunft, Beschluss), so ist es heute die Liebe, der viele Menschen die höchste Bedeutung in ihrem Leben zusprechen. Die Liebe ist die Macht, die das eigene Selbst zur Erfüllung bringen kann. Selbst zu lieben und selbst geliebt zu werden ist nicht nur das Höchste der Gefühle, sondern lässt einen zu sich selbst kommen. Es ist ein Identifizierungsgeschehen, in dem man sich von dem Anderen als erkannt erkennt. Der Andere erkennt einen selbst als liebenswert an – nicht zuerst in irgendwelchen äußeren Eigenschaften, sondern eben in seinem Selbstsein.

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Ist in der heutigen Moderne die romantische Vorstellung der Selbstvergessenheit im Anderen durch den herrschenden Autonomiegedanken in den Hintergrund getreten, so hat sich die ebenfalls romantisch gespeiste Vorstellung einer Selbsthaftigkeit, welche die wahre Liebesbeziehung kennzeichnet, verstärkt. Liebe zielt auf das eigene und das andere Selbst. Es ist das letztlich nicht aussagbare Andersseins des anderen Selbst, das die Liebe in ihrem Fokus hat. Alles Äußere tritt in den Dienst dieses Selbstseins. Die Eigenschaften, die Besonderheit des Anderen sind liebenswert, weil sie von dem anderen Selbst durchzogen sind. Die eigene Authentizität und die des Anderen sind konstitutiv für die Liebe. In der Liebe tritt man in ein Selbstverhältnis zwischen sich und einem anderen Menschen. Auch wenn diese unmittelbare Begegnung zwischen zwei sich liebenden Menschen wie ein Ideal erscheint, so bildet sie doch einen realen Horizont in vielen Liebesvorstellungen unserer Zeit. Wo man sich in seiner Liebe verfehlt und die eine oder der andere sich selbst nicht verstanden und wertgeschätzt fühlt, steht die Wahrheit der Liebe auf dem Prüfstand. Diese historisch gewachsene Liebes- und Selbstvorstellung, die einem Menschen nicht mehr erlaubt, sich in seiner Liebe auf seinen Stand oder sein Ansehen zu berufen, sondern ihn selbst mit dem Anderen gleichstellt, birgt in sich eine große Spannung. In der Liebe zum Anderen geht es nicht nur um ein Selbstverhältnis mit dem Anderen, sondern das neuzeitliche Selbstsein versteht sich auch intern als spannungsvolles Selbstverhältnis, wie es sich in der versuchten Selbstliebe ausdrückt. 4.3

Die paradoxe Leidenschaft der Selbstliebe

Kierkegaard hat das interne Selbstverhältnis der Selbstliebe mit der Liebe zum Selbst des Anderen vermittelt. Seine Darstellung schließt sich an die schon beschriebene Hegelsche Liebesdialektik an. Kierkegaard skizziert in seinen Philosophischen Bissen zur Erläuterung des Paradoxes, das die christliche Erlösungslehre kennzeichnet, das Verhältnis der Liebe. In diesem Verhältnis der Liebe werden die Selbstliebe und die Liebe zu einem Anderen vermittelt: Die Selbstliebe liegt bei der Liebe zugrunde, aber ihre paradoxe Leidenschaft will auf dem Höhepunkt gerade ihren eigenen Untergang. Das will die Liebe ebenfalls, und so sind diese beiden Gewalten in der Leidenschaft des Augenblicks miteinander im Einverständnis, und diese Leidenschaft ist gerade die Liebe (Kierkegaard 1989, 47).

Kierkegaard sieht als Ausgangspunkt der Liebe die Selbstliebe, die aber im eigentlichen Sinne keine Liebe ist. Sie ist in ihrer den Anderen in sich einschließenden Selbstbezogenheit „selbstisch“. Der Selbstliebende will den Anderen nur für sich und nicht für den Anderen er selbst sein. Doch wohnt der Selbstliebe zugleich

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eine Leidenschaft inne, eine Leidenschaft der Liebe, die den sich selbst Liebenden um seinen Verstand, um seine Vorstellung von sich selbst bringen kann. In seiner Selbstliebe wird sich wohl der Mensch gegen die Liebe sträuben, weil er das paradoxe Bestreben der Selbstliebe „weder fassen kann noch sich daran wagen mag, da es ja sein Untergang ist“ (Kierkegaard 1989, 47). Aber in der Leidenschaft kommt die gegen die Selbstliebe stehende, aber in ihr wohnende wahre Liebe hervor und tritt wie eine Gewalt neben die Gewalt des „Selbstischen“. Es ist für Kierkegaard ein Augenblick, in dem die Liebe siegt, weil sie den tiefsten Wunsch der Selbstliebe, ihren eigenen Untergang, hervorbringt. Es ist eine paradoxe Leidenschaft, die sich hier Raum schafft, ohne die keine Liebe stattfindet. Kierkegaard wäre missverstanden, wenn man seine Beschreibung als den Sieg einer sinnlichen Ekstase über den Verstand deutete. Es handelt sich um eine Leidenschaft des eigenen Selbstseins, die auch den Verstand einschließt. Das Verhältnis zu sich selbst wird in der Leidenschaft der Liebe aufgekündigt, man verhält sich nicht mehr zu sich selbst – im selbstischen Sinne –, sondern man verhält sich gleichsam zu nichts, man will nichts mehr von sich wissen, man will den eigenen Untergang. Diese Haltung ist nur in der Leidenschaft der Liebe möglich, in der der Andere, auf den die Liebe zielt, zum „neuen“ Selbst seiner selbst wird. Doch Kierkegaard will keinen idealen Zustand malen und fügt einschränkend hinzu, dass „[z]war […] die Selbstliebe zugrundegegangen [ist], aber dessen ungeachtet ist sie nicht vernichtet, sondern gefangengenommen, als spolia opima der Liebe, aber sie kann wieder aufleben, und auf diese Weise entsteht die Anfechtung der Liebe“ (Kierkegaard 1989, 47). Bei Kierkegaard wird wieder der schon bei Hegel konstitutive Gedanke der Selbstvergessenheit aufgegriffen, die sich hier nur in der Leidenschaft des Augenblicks einstellt. Kierkegaard thematisiert einen Grundkonflikt moderner Liebe, der zwischen der Selbstbezogenheit des Menschen, die sich in dem Bestreben der Selbstliebe und Autonomie widerspiegelt, und der Liebe zum Anderen besteht, die nicht ohne Selbstvergessenheit und -aufgabe ist. Für den modernen Menschen kann es sich bei der Selbstaufgabe nur um einen temporären Zustand handeln, um eine „Gefangennahme“ seiner Selbstliebe, nicht ihren dauernden Untergang – zu sehr ist der Mensch in seinem Selbstverständnis auf sich bezogen und daran gebunden. Wie kann der Mensch dann zu einer bleibenden Liebe finden? Es bedarf einer dauerhaften Wandlung, wenn ein Mensch wahrhaft in der Liebe leben soll. In Kierkegaards Taten der Liebe ist dies nur möglich, wenn noch ein Anderer in das Verhältnis der Liebe tritt: Gott. Nur durch ihn ist ein bleibender oder sich immer wieder neu vollziehender Übergang von einer auf sich fixierenden Selbstliebe zu einer sich aufgebenden Selbstliebe möglich. Kierkegaard hat in seiner Krankheit zum Tode eindrucksvoll beschrieben, wie der in sich verzweifelte, weil in seiner Verzweiflung an sich hängende Mensch im Glauben die Verzweiflung

„… wie dich selbst“

überwindet und zu einem ewig bleibenden nicht „selbstischen“ Selbstverhältnis in der Gottesbeziehung gelangt.

5.

Selbstliebe jenseits seiner selbst

5.1

Das Kreuz als Offenbarungsort göttlicher Liebe

Im Anschluss an Kierkegaard ist zu fragen, wie der Mensch durch Gott zu einer Selbstliebe gebracht wird, die seinem Selbstsein entspricht. Der Schlüssel ist die Liebe Gottes zu ihm. Gottes Liebe ist der Ermöglichungsgrund für den Menschen, sich in seinem Liebesbemühen nicht auf sich zu fixieren, sondern auf die Liebe Gottes hin als Empfangender von Liebe zu verstehen. Darin kommt der Mensch in seiner eigenen Lieblosigkeit zum Vorschein, als ein Mensch, der liebt, weil er selbst auf Liebe aus ist. Aber zu lieben, um selbst Liebe zu erfahren, um selbst geliebt zu werden, ist zum Scheitern oder zum bloßen Moment verurteilt, weil man dann in Gedanken und Gefühlen den Anderen nicht „für sich“, sondern für sich, den Liebe Suchenden, versteht und liebt. Gott kann man in seiner Liebe auch nicht für sich selbst haben, aber Gottes Liebe ist darin umfassend und schöpferisch, dass sie dieses der wahren Liebe unangemessene Für-sich-Lieben erträgt und verwandelt. Der Ort der offenbaren göttlichen Liebe ist im Christentum das Kreuz, an dem Gott seine Liebe zu dem Menschen auf eine Weise zeigt, die in ihrer Gestalt keine unmittelbare Liebe ausstrahlt. Um die göttliche Liebe zu erfahren, ihrer in seinem Leben gewiss zu werden, bleibt dem Menschen kein anderer Weg als Gottes Liebe in diesem historisch fernen und fremden Ereignis zu glauben. Es ist ein dem eigenen Selbstsein fremder und äußerlicher Ort, nicht nur, weil man damals nicht dabei war, sondern weil er mit einem Ereignis konfrontiert, das von einem selbst schlechthin nicht zu integrieren ist – dem Tod. Vielmehr scheint jedes Selbst von Anfang an dem Tod verfallen zu sein und seiner Auflösung entgegenzugehen. Der Bezug seiner selbst zu dem Kreuzesereignis bliebe nur äußerlich, wenn der sich dort manifestierende Tod nicht zugleich mit dem Gegensatz, dem ewigen Leben, wie es in der Auferstehung Jesu Christi zur Erscheinung kam, verbunden wäre. Der Auferstandene ist der Inbegriff personalen selbsthaften Lebens, weil ihm nicht mehr der Tod gegenübersteht. Er wird in den biblischen Berichten als Beziehungsereignis beschrieben, das andere Menschen durch den Bezug zu sich am ewigen Leben teilhaben lässt. Es handelt sich um ein in die Leiblichkeit des Menschen hineinwirkendes göttliches Geistgeschehen, das den Menschen in Beziehung zum Auferstandenen hält. Diese Eigenart des Gekreuzigten und Auferstandenen ist für den modernen Selbstbegriff entscheidend, wenn man ihn im christlichen Sinn verstehen will. Jesus

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Christus wird schon dem Apostel Paulus gleichsam zum eigenen Selbst, wenn nicht er, sondern Christus in ihm lebt (Gal 2,20). So ist auch das moderne Selbst von dem ihm neuen Selbstsein in Christus zu verstehen. Der interne Selbstbezug ist dem Christen der Bezug auf Jesus Christus. Der im Glauben als Selbstverhältnis implementierte Christusbezug ist kein bloß erinnerter Bezug zu einer historischen Gestalt, weil Jesus Christus in seiner göttlichen Präsenz als der Schöpfer und darin Grund jedes Selbstseins geglaubt wird. Das menschliche Selbst ist im Gottesbezug „ganz“ es selbst. Jeder Mensch weiß um sich, sonst könnte er nicht „Ich“ sagen. Aber wer er ist, wer er als „Träger“ der Eigenschaften ist, die er sich selbst zurechnet, ist ihm nicht gewiss. Er könnte eine bloße “Schnittstelle” dieser Eigenschaften sein, ein “logisches” Ich, aber er könnte in seiner Selbstbeziehung auch eine “personale Tiefe” besitzen, die ihm eine inkommensurable Würde jenseits seiner Eigenschaften verleiht. Dass jeder Mensch im Grund seines Wesens Person ist, liegt aus christlicher Sicht in Gott begründet:9 Der Mensch steht in der Tiefe seines Daseins in einer ihm wesenhaften Beziehung zu Gott, der sich in Jesus Christus als konkrete Person offenbart hat. 5.2

Die von sich selbst abgewandte Selbstliebe

Dass dem Menschen die Gottesbeziehung als Grund seines Daseins nicht evident ist, sondern er mit einem nicht auslotbaren Horizont oder Abgrund in sich konfrontiert ist, weist auf die Gebrochenheit des Gott-Mensch-Verhältnisses hin. Die versuchte Liebe zu sich selbst kann als Versuch verstanden werden, sich selbst – in Liebe – zu umfassen und Grund in sich zu gewinnen. In diesem Bemühen liegt ein Wissen darum, dass allein Liebe den Menschen in seiner Selbstbeziehung versöhnen kann. Aber in der Abgründigkeit des eigenen Selbstseins ist der Selbstliebe ihr „Objekt“ weitgehend entzogen. Man kommt nicht weiter als Eigenschaften von sich oder eine Selbstvorstellung zu lieben. Trotz eines bedeutsamen Stroms der christlichen Tradition, der die Rückwendung des Menschen auf sich selbst als Weg empfiehlt, um sich der eigenen Gottesbeziehung zu versichern und darin auch des christlichen Heilsereignisses gewiss zu werden, wird in der reformatorisch ausgerichteten evangelischen Theologie statt des vertieften Selbstbezuges die direkte Hinwendung zum Gekreuzigten und Auferstandenen als Heilsweg zu Gott angesehen. Ist dies Ereignis einerseits in seiner historischen Dimension dem Menschen fern, so ist es ihm andererseits nahe, weil der Auferstandene nicht in den Himmel entschwunden ist, sondern seine 9 In unserer Gesellschaft wird das Personsein jedes Menschen auch jenseits einer christlichen Deutung – aber von ihr beeinflusst – behauptet und durch verschiedene philosophische Ansätze begründet. Das hat aus christlicher Perspektive seinen guten Sinn, auch wenn christlicher und säkularer Personbegriff immer wieder in Spannung treten. Zum Personbegriff siehe Boomgaarden 2009.

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Gegenwart zu allen Zeiten und in allen Räumen geglaubt wird. Durch ihn ist jeder Mensch mit Leben und Tod in einer entscheidenden Weise berührt, wie sie durch Ereignisse in seinem Leben wohl immer wieder aufscheint, aber ihm in ihrem Sinn verborgen bleibt. Erst im Wort vom Gekreuzigten und Auferstandenen wird das jedem Menschen eigene Selbstsein aufgetan. Durch die Botschaft des Evangeliums versteht der Mensch aber nicht nur, was es mit ihm selbst in der Spannung zwischen Leben und Tod auf sich hat, sondern er wird mit dem Andersseins seiner selbst konfrontiert und verbunden. Dass er Gottes Liebe zu sich in dem ihm äußerlichen Ereignis von Kreuz und Auferstehung nur glauben kann, ist die eine Seite des Glaubens. Die andere Seite des Glaubens besteht in einer Selbstfindung des Menschen in dem ihm fremden Ereignis. Leben und Sterben seiner selbst, das eigene Selbstsein in seiner ganzen Tiefe ist in dem Sterben und Auferstehen Christi vollzogen und zum ewigen Leben gebracht. Der Glaube gibt dem Selbstsein in dem fremden Ereignis eine Innerlichkeit und Erfüllung, die in anderen Ereignissen des Lebens nicht gefunden werden kann. Die Liebe zu sich selbst wird in dem fremden Ereignis ganz von sich selbst abgewandt und kommt doch in diesem zu ihrer Wahrheit. Die Liebe zu sich selbst wird durch eine Liebe Gottes zu einem selbst überblendet, die in der Person Jesu Christi ihr geschichtliches und gegenwärtiges Zentrum hat. Im Vertrauen auf Gott, das dann auch die Liebe mit sich führt, aber angesichts der im Kreuzes- und Auferstehungsereignis so fremd erscheinenden Liebe Gottes zuerst „nur“ Vertrauen sein kann, ereignet sich eine Selbsterschließung und in gewisser Weise auch eine Selbstentfremdung. Der Mensch erschließt sein Selbstsein in der Christusgestalt, aber nicht so, dass er nun sagen könnte, er selbst sei Christus, sondern Christus ist der Grund seiner selbst. Nur als der Andere ist Christus die Identität des Menschen. Der Mensch wird so von sich selbst abgewendet, sich selbst entfremdet, um zu sich zu kommen. Sich selbst zu lieben, wendet sich zu den Anderen lieben. 5.3

Glaube und Liebe

Die Glaubensbeziehung zu Christus ist ein ständig neues Zur–Existenz–Kommen, das sich einer simplen Identifizierung mit sich selbst sperrt. Dem Glauben ist es eigentümlich, dass er nicht nur mit der Unansehnlichkeit des Gottesereignisses in Christus zu kämpfen hat, sondern auch mit der in Christus offenbarten eigenen Gestalt. Dass man vor Gott sich als ein Anderer erschließt, als man zu sein glaubt – im positiven, wie im negativen Sinne –, und einem im Leben Ereignisse widerfahren und sich Entwicklungen ergeben, die gar nicht zu einem selbst zu passen scheinen, bricht die selbstgemachte Verfestigung der eigenen Selbstgestalt immer wieder auf und bringt den auf Gott vertrauenden Menschen dazu, die Ungewissheit über sich selbst stets neu in die Gewissheit seines Glaubens zu legen.

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Glauben ist mit der Gewissheit einer zutiefst sinnvollen eigenen Existenz, des eigenen Selbstseins verbunden. Diese liegt nicht in einer abstrakten Glücks- oder Seligkeitsvorstellung, sondern meint die konkrete alltägliche Existenz, das tägliche Ringen mit sich selbst. Dort man selbst zu sein, ist im evangelischen Glauben als steter Übergang von einem eigenmächtigen Selbstverständnis zu einem Gott anvertrauten Sinngehalt seiner selbst gestaltet. Der Mensch gewinnt die Gewissheit über sich selbst nicht aus sich selbst oder den ihm begegnenden Ereignissen seines Lebens, sondern aus einer Abwendung von seiner konkreten Existenz, die sich im Glauben zu einer Zuwendung zu dieser konkreten Existenz durch Gott umkehrt. Es ist die gleiche Existenz, doch von Gott getragen, durchwirkt von seiner Gegenwart und darin verwandelt. So empfängt der Mensch im Glauben seine konkrete Existenz, sein Selbstsein durch Gott und darin die Gewissheit seiner selbst, die er sich nicht zu geben vermag. In dieser Dynamik ist die Liebe zu sich selbst nicht als unmittelbarer Rückbezug auf sich selbst verstanden, in dessen Tiefe man auf das göttliche Gegenüber zu treffen hofft, sondern als Abkehr von seinem unmittelbaren Selbstbezug hin zu Gott. Diese Glaubensbewegung schließt immer wieder Selbstzweifel und tiefste Ungewissheit ein, aber ebenso Selbstgewinn und Selbstgewissheit. Nur in einer solchen Bewegung wird die Selbstgewissheit zugleich zur Gottesgewissheit und die Selbsterkenntnis mit der Gotteserkenntnis verschmolzen. Der Mensch erfährt sich so in Gott geborgen, ohne von seiner konkreten Existenz dabei absehen zu müssen. Die eigentümliche Bewegung im Glauben zu Gott, die immer wieder danach ruft, sich an dem fremden Kreuzesereignis festzumachen und hier Gott zu finden, findet ihre Fortsetzung in der Begegnung mit anderen Menschen. Doch ist es hier nicht der Glaube, der die Brücke schlägt, sondern die Liebe. Weil der Mensch mit der Fremdheit Gottes im Kreuz schon vertraut ist, kann er nun auch die Fremdheit des Anderen nicht bloß ertragen, sondern immer wieder zur Nächstenliebe durchdringen. Durch die vielleicht unattraktive Fremdheit des Andern begegnet ihm Gott mit seiner Liebe. Der Mensch wird sich im Anderen durchaus auch selbst sehen, in ihm zu sich stehen. Doch während er in Jesus Christus zu Gott, dem Anderen, findet und darin auch zu sich selbst, ist der Nächste als solcher nur wie er selbst. Weil der Mensch sich selbst in Gott geborgen weiß, kann er den Anderen als den wirklich Anderen sehen, ohne die Begegnung mit Projektionen seiner selbst zu belasten. Darin, dass der Mensch sich von Gott geliebt weiß, dass Gott ihn liebt, ist jede Selbstliebe aufgehoben. Gottes Liebe ist eine solche Erfüllung seiner selbst, dass es keiner besonderen Selbstliebe mehr bedarf, sondern der so geliebte Mensch direkt auf den Nächsten verwiesen ist. Die Liebe Gottes zu uns ist die eigentliche Selbstliebe.

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Jürgen Boomgaarden

Tillich, P. 1955, “Erich Fromm’s The Sane Society”, in: Pastoral Psychology, 6, S. 13–16. Waldenfels, B. 2000, Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankfurt am Main.

Markus Mühling

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“ Luthers Theologie des Abenteuers

Einleitung Gegenwärtig genießt der Abenteuerbegriff weitgehend positive Konnotationen. Das legt nahe, ihn theologisch zu nutzen, wie es z. B. in der theologischen Ethik und Poimenik geschieht. Das erscheint zunächst ungewohnt; die Tradition ignoriert ihn weitgehend, auch scheint er auf den ersten Blick nicht biblisch zu sein. Deutlich ist auch, dass man sich begründet dem Verdacht entziehen muss, einfach nur einen populären Begriff okkupieren zu wollen. Der Vorschlag zu einer ethischen Nutzung geht auf Stanley Hauerwas zurück. Er verwendet ihn im Rahmen der Beschreibung des christlichen Lebens, also im Bereich der Heiligung. Für ihn dient der Begriff des Abenteuers zur Ausbildung eines angemessenen Selbstverständnisses. Hauerwas fasst mehrere Sachverhalte zusammen: – In der Christwerdung geht es darum, persönlich fate als destiny verstehen zu können (vgl. Hauerwas 1981, 10). – Dabei ist der Christ in die Gemeinschaft der Kirche eingebunden. Dies hat eine narrative Dimension, die sich auch ethisch auswirkt: eben an einem Abenteuer zu partizipieren (vgl. Hauerwas 1981, 13). Diese Partizipation zu leisten, ist dann auch die Aufgabe der kirchlichen Gemeinschaft. – Die Wirkungen im einzelnen Christen sind ein verändertes Selbstbewusstsein, Selbstrespekt und Würde, indem die Charaktertugenden des Mutes, der Hoffnung und der Geduld ausgebildet werden (vgl. Hauerwas 1981, 115; 127). – Dabei schließt die Beschreibung der christlichen Persönlichkeit an allgemeinanthropologische Sachverhalte an, da ein Selbst immer, zumindest rudimentär, auf ein Abenteuer bezogen ist (vgl. Hauerwas 1981, 148). – Beeinflusst ist Hauerwas hier, wie vermutlich so oft, von Alasdair MacIntyre und dessen Grundgedanken der narrativen Suche als Grundaufgabe der Selbstbildung (Rommel 2003, 32–34). – Menschen sind nach Hauerwas mit MacIntyre grundsätzlich storied people, d. h. sie sind kommunitär und geschichtlich konstituiert. Sie bedürfen dabei einer wahren story, und dies eben ist die christliche Geschichte, die sich somit als Abenteuergeschichte erweist. Dabei sind Menschen (als imagines dei) storied people in Entsprechung zum narrativen Sein Gottes:

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Markus Mühling

We are “storied people” because the God that sustains us is a “storied God”, whom we come to know only by having our character formed appropriate to God’s character. The formation of such a character is not an isolated event but requires the existence of a corresponding society – a “storied society” (Hauerwas 1981, 91).

Wie so häufig ist Hauerwas hier zwar inspirierend, es fehlt aber eine genaue Explikation des Abenteuerbegriffs und genauere Antworten, warum und wie er sich auf die Heiligung anwenden lässt. Dies findet sich dann zumindest ansatzweise in Verena Schlarbs Rezeption des Hauerwas’schen Abenteuerbegriffs für die Seelsorge im Allgemeinen und für die Altenseelsorge im Besonderen. Einerseits betrachtet Schlarb den Hauerwas’schen Abenteuerbegriff zwar kritisch, indem sie notwendige Korrekturen anbringt (vgl. Schlarb 2015, 98f.; 179–181), andererseits macht sie ihn aber auch fruchtbar für die Haltungsbildung des Seelsorgers im Altenpflegeheim: Wer sich und die Seelsorgepartner als an einem Abenteuer partizipierend sieht, wird die üblichen Fehler wie Defizitorientierung oder distanziertes Mitleid erst gar nicht aufkommen lassen (vgl. Schlarb 2015, 275–260). Hier ist nun nicht der Ort, Schlarbs Seelsorgekonzeption vorzustellen. Interessant ist allerdings, dass Schlarb ihr narratives Seelsorgekonzept an narrative Gotteslehren, wie die Robert Jensons oder Christoph Schwöbels rückbindet und so von vornherein theologisch erdet (vgl. Schlarb 2015, 100–116; 177f.). Die Motivation, auf der dieser Beitrag beruht, besteht darin, Hauerwas und Schlarb als wertvolle Anregungen zu betrachten für ein größeres Unternehmen: Wenn das christliche Leben von beiden sowohl als storied und als Abenteuer beschrieben wird, und wenn bei beiden der narrative Charakter menschlichen Lebens mit dem narrativen Charakter göttlichen Lebens begründet wird, gilt das dann auch für das Abenteuer? Gilt es, mit anderen Worten, den Abenteuerbegriff zuallererst im transzendentalnarrativen Werden1 Gottes zu verorten, wenn er überhaupt für menschliche Charakterbildung unter der Heiligung oder für die Seelsorge fruchtbar gemacht werden soll? Von Hauerwas und Schlarb herkommend, legt sich also die Frage nach Gott als Abenteuer nahe: Ist Gott wesentlich Abenteuer, so wie er Liebe ist? Indessen bildet diese systematisch-theologische Frage zwar die Motivation für diesen Beitrag, allerdings geht es hier nicht um seine systematisch-theologische Beantwortung. Dazu bedarf es weitergehender Forschung. Um diese aber leisten zu können, wird man mehrere Schritte zu leisten haben: systematisch-theologische, philosophische, historische und begriffsgeschichtliche. Nur um die letzteren soll

1 Zur Ersetzung des Seins- durch den Werdensbegriff, vgl. Mühling 2020, 461–548. Zum Begriff des transzendentalnarrativen Werdens vgl. Mühling 2020, 554f.

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es hier gehen. Es soll gezeigt werden, dass der Abenteuerbegriff auch vor dem 20. Jahrhundert eine theologische Tradition besitzt, und zwar dort, wo man es vielleicht gar nicht erwarten würde: am Beispiel Luthers. Denn dieser kennt tatsächlich eine Theologie des Abenteuers. Um dies zeigen zu können, ist ein Doppeltes nötig. Erstens ist in aller Kürze auf die Begriffsgeschichte des Abenteuers einzugehen, zweitens ist Luthers Theologie des Abenteuers nachzuzeichnen.

1.

Eine sehr kurze Begriffsgeschichte des Abenteuers

Der Begriff des Abenteuers ist kein einfacher Begriff; er hat eine beachtliche Begriffsgeschichte hinter sich – einschließlich der Entwicklung unterschiedlicher Gehalte und zahlreicher Umwertungen. Diese Geschichte gilt es, wenigstens in ihren Grundzügen nachzuzeichnen. Trotz gegenwärtiger inflationärer Benutzung des Begriffs gibt es bis heute keine einheitliche Rekonstruktion seiner philosophischen Begriffsgeschichte. Schon Herder forderte, eine solche sei unbedingt zu schreiben (vgl. Best 1980, 102), aber bis in die Gegenwart ist diese Aufgabe eigentlich nicht geleistet. Zwar gibt es Ansätze dazu, auf die wir uns im Folgenden auch stützen können, aber sie alle kranken an Einseitigkeiten, die wir zu vermeiden suchen werden. Ein Abenteuer ist in keinem Falle ein Epos. Die Odyssee beschreibt keine Abenteuer, denn was immer Odysseus erlebt, ist vorherbestimmt, folgt einem zwar nicht für die beteiligten Menschen, aber doch in der Welt grundgelegtem Plan (vgl. Best 1980, 22). Das gilt wohl für die Literatur der ganzen hellenistischen Antike. Sie kennt keine Abenteuer, wie Sein kein basales Werden, sondern nur ein basales Sein kennt. Das Abenteuer hingegen verbindet sich zunächst mit dem Mittelalter. Es hat christliche Wurzeln. Sowohl der deutsche Begriff des Abenteuers, bzw. der âventiure als auch der englische des adventures und der französische des aventure gehen auf advenire und den adventus zurück (vgl. Grimm 1854–1961): Sie sind an eine Zukunft gebunden, die nicht bekannt ist und nicht bekannt sein kann, auf eine Zukunft, die überraschend, und zwar stets retrospektiv überraschend geschieht. Es ist eine Zukunft, in die man nicht schreiten kann und die man nicht gestalten kann, sondern die auf einen zukommt und die einem passiv widerfährt (vgl. Best 1980, 24). Damit partizipiert das Abenteuer von vornherein an der eschatischen Zukunft des Kommens des Sohnes. Diese christlichen Wurzeln reichen weit zurück, bis in die wegorientierte Linie der Beschreibung menschlichen Seins durch die biblische und spätere christliche Tradition, vom Reisen Abrahams mit unbestimmtem Ziel

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bis zur Pilgertradition, zumindest dann, wenn die Wegorientierung beibehalten ist.2 Kennzeichnend für alle Abenteuergeschichten und Abenteuerromane ist die nicht kalkulierbare Zukunft für alle seine Stadien und Sequenzen: Auf jedem seiner Sequenzen bleibt die kommende Sequenz unvorhersehbar, für den Abenteurer wie für den Leser. Das bedeutet, dass der Abenteuerroman „keine Lebenstotalität zu begründen vermag“, sondern „bloß Episoden addiert“ (Best 1980, 25). Dennoch bedeutet dies gerade nicht, dass das Abenteuer von vornherein sinnlos wäre. Vielmehr ergibt sich der Sinn aus der jeweils kommenden Sequenz. Es gibt allerdings keine Schlusssequenz, der nicht noch eine weitere Episode folgen könnte. 1. Deutlich wird dies im 12. Jahrhundert, in dem sich das Abenteuer eigentlich formiert. Hier wird, in der höfischen Literatur, etwa bei Chretien de Troyes, das Epos ins Abenteuer überführt. Âventiuren sind keine individualistischen Angelegenheiten, sondern kommunitäre: An Stelle des wandernden und wartenden Gottesvolkes, das den Advent des Herren erhofft, tritt nun die ritterliche Gesellschaft. Ihre Partizipanten sind auf der realen Suche; und die unvorhersehbaren Ereignisse konstituieren deren Antwort, als Sinn, Glück, Unglück und Gnadengeschenk in der Hoffnung, dadurch Ritterlichkeit als Verbindung von Heldentum und Liebe verwirklicht zu bekommen – für den Organismus der ritterlichen Gesellschaft, nicht für den Einzelnen, wiewohl der Ritter auch einzeln unterwegs sein kann. Diese Verwirklichung geschieht durch die kommenden Ereignisse, durch das, was „vor Augen“ tritt (was sich „eräugnet“), so dass sich ein vermeintliches Wagnis3 als wunderbares Ereignis erweist (vgl. Best 1980, 26f.). Der Held muss sich in diesen Ereignissen nicht beweisen, sondern bewähren. Die Entstehung der âventiuren und des in ihr ausgedrückten Ethos spiegelt möglicherweise eine Neudefinition einer im Hochmittelalter weitgehend überflüssig gewordenen Kriegerkaste und deren Transformation in das fahrende Rittertum (vgl. Best 1980, 28). Die konkreten Ziele der Suche – der Gral oder der Artushof – bleiben konsequenterweise merkwürdig unterbestimmt: Sie sind unbekannt und werden sich erst in der Zukunft erweisen. Das Versprechen, am Artushof zu partizipieren, besteht gerade nicht darin, hier eine dauerhafte Heimat zu finden, sondern seine „Verheißung ist Aufforderung zur Ausfahrt, zum Abenteuer“ (Best 1980, 31). Der in die âventiure Verstrickte wird zum ritterlichen Leben gnadenhaft berufen; er kann es nicht aktiv wählen. 2. Mit dem Ende der Stauferzeit gerät schließlich auch die höfische Lebensform des Rittertums in eine Krise. Städtische Ordnungen beginnen die ritterliche abzulösen. Damit findet eine erste, wichtige Bedeutungsveränderung der âventiure 2 Zur Unterscheidung von wegorientiertem Denken von ortsorientiertem Denken, vgl. Mühling 2020, 124–132. 3 Die Grundbedeutung von „Wagnis“ ist „wägen“, das seinerseits von „in Bewegung geraten“, „sich auf den Weg machen“ stammt. Vgl. Best, 1980,16.

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statt: Wie das Rittertum nun als das gerade aus der neuen Ordnung Fallende erscheint, so wird nun auch der Ordnungsaspekt des dynamischen Werdens aus der âventiure getilgt: Sie beschreibt nicht mehr das sich Ereignen gnadenhafter aber unvorhersehbarer Ereignisse, sondern nur noch Ereignisse des blinden und ungewissen Zufalls (vgl. Best 1980, 35–37). Damit verbindet sich auch gleichzeitig eine Umwertung: Das Abenteuer beschreibt nun nicht mehr etwas Erhabenes, sondern als das aus der Ordnung Fallende gerade etwas Pejoratives. Das unvernünftige Risiko, das Seltsame und Nichtgesicherte, verbindet sich nun mit dem Begriff. Aus dem göttlichen Gnadengeschenk wird der Zufall des Glücksspiels (vgl. Best 1980, 41). Im 15. und 16. Jahrhundert spiegelt sich das in der Kaufmannssprache wieder, in der ein Abenteuer jetzt Unternehmungen und Handelsgut bezeichnet, das ungesichert ist, das zweifelhafter Herkunft ist, oder das außerhalb regulärer Märkte betrügerisch gehandelt wird. Als Abenteuergut wird es dem Kaufmannsgut entgegengestellt. Der Abenteurer ist schließlich derjenige, dessen Ausgaben höher als dessen Einnahmen sind, also desjenigen, der verschwenderisch lebt (vgl. Best 1980, 43f.). Im 17. Jahrhundert wird gerade dieser wirtschaftliche Aspekt weiter betont, indem in der Seefahrtswirtschaft das außerhalb regulärer Häfen Gehandelte zum Abenteuergut wird. Ist der Abenteurer des 15. oder 16. Jahrhunderts ein Betrüger oder dessen williges Opfer, so wird er nun zum Seeräuber oder dessen Komplizen. Ist der Stapler der reguläre britische Wollhändler, so bezeichnet der Abenteurer nun den Hochstapler als denjenigen, der auf unseriöse und riskante Geschäfte setzt. Aus dem adventure des adventus wird so to venture, das Eingehen des Risikos von Leib und Leben um eines zweifelhaften Gewinns willen (vgl. Best 1980, 45–53). Auch der Alchimist, der Gold als Ausdruck materiellen Gewinnes mithilfe zweifelhafter Verfahren, dem Außerordentlichen, vielleicht gerade dem Schwarzkünstigen als dem Widergöttlichen, Ketzerischen erreichen will, ist in der frühen Neuzeit Träger des Abenteuers (vgl. Best 1980, 54–58). Von hier aus, dem Alchimistentum, zieht der Abenteuerbegriff nun auch den Begriff des Projektmachers und Erfinders an. Damit verliert er ein weiteres seiner ursprünglichen Elemente: Der Abenteurer ist nicht mehr derjenige, dem die Gnade Gottes passiv widerfährt, sondern derjenige, der sich aktiv, mit Schläue, durch Risiko Gewinn erhofft (vgl. Best 1980, 59–63). Das Abenteuer wird, so kann man Predigten entnehmen, nun zum Ungeheuren, zu dem, was nicht geheuer und vertraut ist und auch kein Vertrauen verdient (Best 1980, 63). War der ritterliche Abenteurer einst vom christlichen Pilger abgeleitet, so verkehrt sich dies nun ins Gegenteil: „So ist der Abenteurer der mutwillig, ziellos Wandernde – außerhalb von Ordnung und Gesetz. Er steht als Weltmensch, der sich dem Spiel des veränderlichen Glücks ausliefert und von Alternativen träumt, für die […] „negative Form des Wanderns“ […]. Ihm entgegengesetzt ist der christliche Wanderer: das Symbol des gottsuchenden Menschen“ (Best 1980, 64). Aus dem christlichen Ritter ist so der Glücksritter geworden.

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Die Bedeutungsverschiebung in Relation zum christlichen Pilger ist dabei wechselseitig: Es gibt zwei Wegschemata, die das biblische und spätere christliche Verständnis des Wanderns als anthropologische Grundkonstante prägen: Es kann ortsorientiert, als bloßes Mittel zum Ziel, oder aber wegorientiert gestaltet werden, in dem das Auf-dem-Weg-Gehen auf Dauer gestellt ist. Gleichzeitig sahen wir dort, dass im Laufe der Zeit, auch in der Wallfahrts- und Pilgerpraxis, der wegorientierte Charakter des Pilgerns zurücktritt und der ortsorientierte Charakter prädominant wird (vgl. Mühling 2020, 128–132). Es ist gerade der ursprüngliche, wegorientierte christliche Pilger, der die Blaupause für den ritterlichen Abenteurer im ursprünglichen Sinne bildet. Nun erscheinen beide entgegengesetzt: Der Abenteurer erscheint dem Bürgerlichen zwar noch als wegorientiert, aber diese Wegorientierung wird nicht mehr verstanden. Sie steht nicht mehr in einer dynamischen Ordnung, sondern in gar keiner Ordnung, im Chaos. Der Pilger aber verhält sich gerade nicht mehr wegorientiert, sondern ortsorientiert: Die liturgische Praxis am Wallfahrtsort als Ziel ist das Entscheidende geworden; wie dieser Ort erreicht wird, medial Nebensächliches. Wir brechen hier, in der frühen Neuzeit, die Geschichte des Abenteuerbegriffs ab. Noch hat sie kaum begonnen, noch gibt es keine eigentliche „Abenteuerliteratur“. Und erst hier würden sich weitere Wendungen entfalten, die im gegenwärtigen Abenteuerbegriff münden. Langsam, im 18. und 19. Jahrhundert, in der Romantik, erfährt der Abenteuerbegriff wieder eine Umwertung ins Positive. Wir können sie hier nicht nachzeichnen, da sie als Hintergrund für das Verständnis von Luthers Abenteuerbegriff nichts austrägt. Lediglich vom Ende der Geschichte, von der Verwendung des Abenteuerbegriffs in der Gegenwart, wollten wir noch kurz erzählen. Nun, im 20. Jahrhundert, wird der Abenteuerbegriff ins scheinbar Grenzenlose ausgeweitet und dabei auch verflacht. Nahezu alles kann nun als Abenteuer bezeichnet werden: Hunderte und Aberhunderte von Büchern sind im Katalog der „Library of Congress“ verzeichnet, deren Titel „Abenteuer“ verheißen. Vom Abenteuer des Kochens und Bastelns über das Abenteuer der Bibellektüre und des Geographiestudiums reicht die Skala bis zu dem, was Abenteuer wirklich ausmacht: Aufbruch und Reise – Ausfahrt in die Weite (Best 1980, 9).

Man wird weniger an die klassische Literatur, sondern vor allem an den medialen Wandel und die Unterhaltungsmedien denken müssen, wenn man diese letzte Wende beschreiben will. Verkürzt gesagt, besteht sie darin, dass der Abenteuerbegriff, seit dem 19. Jahrhundert wieder ins Positive gewendet, nun seiner Inhalte beraubt wird. Was bleibt, ist eine sequenzhafte Geschichte, die endlos Episoden verbinden kann, das Außerordentliche, Zufall, Kontingenz und Überraschung –

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oder wenigstens die Sehnsucht danach – inkorporiert, und das Ganze mit einem happy ending garniert (vgl. Schlarb 2015, 180): Abenteuergeschichten enden zwar nicht eigentlich, sondern brechen ab, aber sie brechen stets in einem happy ending ab; sie beschreiben einen Prozess des gelingenden Zufalls oder Glücks, ohne dass sie in der Lage wären, dafür innere Gründe angeben zu können. Das happy ending kann mehr oder weniger willkürlich, durch den Helden oder durch einen deus ex machina als Stilfigur herbeigeführt werden. Man kann diesen gegenwärtigen Abenteuerbegriff als Verflachung betrachten. Das hieße aber, ihm Unrecht zu tun. Denn auch er ist in einer neuen Lebenswelt angesiedelt und spiegelt diese sehr gut wieder: Die Lebenswelt des späten 20. und 21. Jahrhunderts ist durch eine exponentiell gesteigerte Inversion von wayfaring in transport gekennzeichnet (vgl. Mühling 2020, 133–142). Nahezu alle Prozesse der Lebenswelt mindestens der nordwestlichen Gesellschaften sind hiervon betroffen, so dass für Abenteuer kein Platz mehr zu sein scheint. Der zeitgenössische Abenteuerbegriff, der ausschließlich positiv besetzt ist, spiegelt die Sehnsucht des Ausbruchs aus dem Netzwerk des transport wieder; ohne freilich auf die scheinbare, aber vielleicht doch trügerische Verheißung des transport verzichten zu wollen: der Verheißung der Sicherheit, der Bequemlichkeit oder doch des guten Ausgangs. Während das Netzwerk des transports diese Sicherheit mechanistisch begründet, verheißt das Abenteuer – ohne dafür Gründe nennen zu können, dass das wayfaring des Gewebes nicht nur der Wirklichkeit angemessener ist, sondern auch gut ausgeht. Damit aber ist auch im zeitgenössischen Abenteuerbegriff ein Element kennzeichnend, dass den ursprünglichen âventiuren genauso zu eigen ist, wie dem Abenteuerbegriff nach der zweiten Wende (nicht aber dem pejorativen Abenteuerbegriff nach der ersten Wende): das eigentliche Wesen der unverdienten, nicht verzweckbaren Gnade. Und so gilt auch für den gegenwärtigen Abenteuerbegriff, was Jacques Rivière einst formuliert hat: „Das Abenteuer ist, was einem widerfährt, das heißt, was hinzukommt, was als Dreingabe geschieht, worauf man nicht gefaßt war, was man hätte entbehren können“ (zit. n. Best 1980, 8). Kurz zusammengefasst: Der Abenteuerbegriff entsteht, indem unter Einfluss des christlichen adventus die wegorientierte Variante der Pilgerfahrt auf den höfischen, ritterlichen Bereich übertragen wird. Drei Zäsuren und entsprechend vier unterschiedliche Abenteuerbegriffe lassen sich in der Begriffsgeschichte identifizieren, – der höfische Abenteuerbegriff, – der Abenteuerbegriff des Spätmittelalters und der Renaissance, – der romantische Abenteuerbegriff des 19. und frühen 20. Jahrhunderts, – sowie der gegenwärtige Abenteuerbegriff des späten 20. und frühen 21. Jahrhunderts. Alle Begriffe haben gemeinsam, dass ein Abenteuer folgende Kennzeichen hat:

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1. Es handelt sich um eine episodische Verknüpfung, durch die eine Reise oder ein Weg beschrieben wird, die im Prinzip endlos fortgesetzt werden könnte; daher schließen alle Abenteuerbegriffe unvorhersehbare Überraschung und zumindest im Prinzip Novität ein. 2. Ein Moment der Kontingenz oder des Zufalls ist stets enthalten, wird aber unterschiedlich gewertet. Ein Abenteuer ist daher kein Epos, sondern hat dramatischen Charakter. Der höfische, der romantische und der gegenwärtige Abenteuerbegriff haben darüber hinaus noch gemeinsam: 3. Das Moment der Kontingenz und des Zufalls wird positiv gewertet. 4. Das Abenteuer wird durch passive Widerfahrnisse inauguriert. 5. Der oder die Protagonisten müssen sich anhand eines je unterschiedlichen Ethos angesichts dieser Widerfahrnisse in ihren Charaktertugenden bewähren. Dies ist im Falle des höfischen Ethos die Koinzidenz von höfischer Liebe und Ritterlichkeit, im Falle des romantischen Abenteuerbegriffs eine Entwicklung der Bildung entweder des Protagonisten oder derer, mit denen er es zu tun hat, und im Falle des gegenwärtigen Abenteuerbegriffs vermutlich unterschiedliche, pluralisierte ethe (pl. von ethos). Der gegenwärtige Abenteuerbegriff unterscheidet sich von dem höfischen und dem romantischen noch durch: 6. In konsequenter Weise wird ein happy ending eingeführt, so dass Zufall und glücklicher Ausgang stets koinzidieren, ohne dass dies auf einen verborgenen Mechanismus zurückgeführt werden könnte. Interessanterweise teilt der Abenteuerbegriff der Renaissance nur die ersten beiden genannten Kennzeichen. Die restlichen Kennzeichen erscheinen hier meist in einer invertierten, umgewerteten Form: 3*. Der Moment der Kontingenz und des Zufalls wird pejorativ gewertet. 4*. Der Abenteurer sucht als Glücksritter bewußt und aktiv das Abenteuer. 5*. Der Abenteurer zeigt durch sein Verhalten die Lasterhaftigkeit seines Charakters. Es ist dieser Abenteuerbegriff, der den Hintergrund von Luthers Theologie des Abenteuers bildet.

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2.

Luthers Theologie des Abenteuers

Scheinbar ist der pejorative Abenteuerbegriff der Renaissance am wenigsten für die theologische Modellbildung geeignet. Gerade daher ist es überraschend, dass ausgerechnet dieser Abenteuerbegriff theologisch fruchtbar gemacht wurde. Es mag noch mehr überraschen, dass dies gerade bei Luther geschah. Bei Luther findet sich eine in sich sehr kohärente und strukturierte Theologie des Abenteuers! Das hat bisher meines Wissens noch niemand entdeckt. Vermutlich hätte Luther selbst es nicht gewusst, denn es mag nicht seiner bewußten intentio auctoris entsprochen haben. Es entspricht aber ganz klar der intentio operis. Dies wird deutlich, wenn man wirklich alle Stellen, an denen Luther den Abenteuerbegriff untersucht, strukturiert im Zusammenhang liest. Jedes einzelne Vorkommnis des Abenteuerbegriffs bei Luther könnte man noch als – der damaligen Umgangssprache geschuldete – rein illustrative Rede deuten – und die Editoren der Weimarer Ausgabe (WA) haben dies größtenteils getan, wenn man ihre Kommentare zu den Stellen betrachtet. Im Zusammenhang ist diese Marginalisierung aber nicht mehr möglich. Denn dann erscheint tatsächlich Luthers strukturierte Theologie des Abenteuers. Wir betrachten dies im Folgenden in extenso. Dabei zeigen sich mindestens neun unterschiedliche Verwendungen des Abenteuerbegriffs: 2.1 Der pejorative Gebrauch im üblichen Rahmen der Renaissance 2.2 Das Töten Christi als Abenteuer 2.3 Abenteuer als Bewährung im schlimmsten Fall 2.4 Abenteuer als das Wideralltagsvernünftige 2.5 Abenteuer als das Überraschende 2.6 Die abenteuerliche Gerechtigkeit Gottes 2.7 Das abenteuerliche Leben Christi 2.8 Das abenteuerliche Leben der Christen 2.9 „Gott ist abenteuerlich in den Höhen“ 2.1

Der pejorative Gebrauch im üblichen Rahmen der Renaissance

Normalerweise ist auch bei Luther der Abenteuerbegriff negativ konnotiert. Er kennzeichnet Unternehmungen, die nicht nur ungewiss sind, sondern die höchstwahrscheinlich negativ ausgehen. So kann Luther Magier als Leute bezeichnen, die „ebentheur treyben“ (Luther, WA 10I, 559, 15), auch wirtschaftlich unsichere, spekulative Unternehmungen sind ein Abenteuer (vgl. Luther, WA 15, 308, 3). Kriegspläne gegen die Türken können als Abenteuer bezeichnet werden (vgl. Luther, WA 30II, 129, 24 und WA 29,615,18), ebenso wie eine Haltung, die sich nicht dem Kaiser und seiner Ordnung unterwerfen will (vgl. Luther, WA 30II, 145, 2). Die im Spätmittelalter übliche Praxis des heimlichen, d. h. nicht öffentlichen und daher nicht ordentlichen Verlöbnisses wird von Luther als abenteuerlich be-

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zeichnet (vgl. Luther, WA 30III, 224, 29f.). Auch wer guten Ratschlägen nicht folgt, handelt letztlich abenteuerlich (vgl. Luther, WA 30III, 206, 28). Hier folgt Luther dem Gebrauch des Abenteuerbegriffs samt seiner pejorativen Konnotation, wie er in der Renaissance üblich war. Abenteuer ist das Gegenteil von Gewissheit: So argumentiert Luther gegen die Täufer, dass sie „auff ebentheur“ taufen, wenn sie die Taufe vom Glauben abhängig machen, weil keiner wissen kann, ob der Glaube tatsächlich da ist (vgl. Luther, WA 26, 154, 12). Die Taufe erscheint als das Gegenteil eines Abenteuers.4 Wer sich nicht der Gebetserhörung gewiss ist und dieses durch das „Amen“ am Ende bekräftigt, „wagt es auff ebentewer“ (Luther, WA 2, 127, 8; vgl. WA 2, 176,2; WA 10I.2, 185,4; WA 4, 264, 21; WA 20, 794, 3; WA 30I, 96, 14; WA 30I, 195,8; WA 30I, 211, 20; WA 30II, 118, 28; WA 32, 416, 13; WA 46, 79, 17), so dass das ganze Gebet nichtig ist. Dabei ist deutlich, dass die mit dem Abenteuer gegebene Ungewissheit präzise besteht, weil sie auf Zufall gebaut ist (Luther, WA 4, 624, 20). Menschen die ohne die Schrift und Gottes Gebote leben, handeln ohne Orientierung hinsichtlich des Guten und des Schlechten, und daher steht ihr Wandel „auff ebenteur“ (Luther, WA 10II, 82, 22–24). Schon signifikanter ist Luthers Bezeichnung des Sich-Verlassens auf gute Werke aus eigener Kraft als abenteuerlich.5 Der Umgang der Schwärmer bzw. der Reformierten mit dem Abendmahl kann als „Abenteuern“ im Sinne von „Gaukeln“ bezeichnet werden.6 Jakobs Wunsch nach vier Frauen entlarvt ihn als hurerischen Abenteurer.7 Auch wer sich mit dem Teufel einlässt, wie Mohammed, wird als ein Abenteurer bezeichnet.8

4 Luther, WA 26, 165, 31–33: „Aber die tauffe ist darumb nicht unrecht odder ungewis, stehet auch nicht auff eventuro, das ist auff ebentheur, sondern auff dem gewissen Gottes wort und gebot“. 5 Luther, WA 21, 518, 26–39: „Gehen doch gleichwol jmer in blindem wahn und dunckel auff ebentewr dahin, bis so lang Gott mit der offenbarung des Gesetzes das hertz trifft, das sie erschreckt, muessen erkennen, das sie on Gottes erkentnis gelebt und nichts von seinem willen gewust und keinen rat“. Vgl. WA 32, 329, 22. 6 Luther, WA 23, 85, 13–16: „Was ists nu wunder, das leichtfertige schwermer mit den worten des abendmals nach yhrem dunckel gauckeln und ebentheuren, weil an diesem stuecklin sie uberzeuget werden, das sie Gotts wort und sachen geringe achten und unter menschliche liebe setzen, gerade als solte Gott menschen weichen muessen“. 7 Luther, WA 24, 526, 16: „Was woellen wir aber dennoch dazu sagen, das Jacob vier weiber nympt zuhauffe? zwo schwestern und zwo megde, ist es nicht ein huerischer ebentewrer, das yhm nicht genuegt an zweyen, sondern noch zwo dazu haben mus?“ 8 Luther, WA 53, 389, 16–25: „Wo dem nu so were, So muesten die Tuercken oder Mahmetisten solche Leute sein, die sich mit dem Teuffel verbinden, verpflichten und verschreiben, das er jnen solle bey stehen, helffen und raten, was sie gerne hetten, Wie der selben allezeit gewest und noch sind, auch grosse Fuersten und Herrn. Denn die selbigen duerffen auch niemand jr verdamnis schuld geben on jnen selbs, Der Teuffel ist hierin unschueldig, Sie wollens so haben. Und ist gleichwol zu sehen aus diesem Buechlin Richardi, das der Mahmet sampt seinen Gesellen auch ein solcher ebentheurer

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2.2

Das Töten Christi als Abenteuer

Theologisch wird diese pejorative Verwendung verwendet, wenn Luther über den Tod angesichts Christi als des Todes Tod schreibt. Der Tod lässt sich auf ein Abenteuer ein, das zum Scheitern verurteilt ist, wenn er Christus töten will.9 Was für den Tod gilt, gilt letztlich auch für den Teufel, dessen Verführungsversuche als abenteuerlich bezeichnet werden.10 2.3

Abenteuer als Bewährung im schlimmsten Fall

Dieser negative Abenteuerbegriff von 2.1 und 2.2 kann sich aber auch auf etwas Positives beziehen: Da das Abenteuer ja den eigentlich schlimmsten, jedenfalls außerordentlichen Fall einer Verlaufsgeschichte bedeutet, kann die Wendung „auf Abenteuer“ auch im Sinne von „auf alle Fälle“, „im schlimmsten Falle“ gebraucht werden. Dabei ist sie mit dem Bewährungsgedanken verknüpft. Entsprechend benutzt Luther die Phrase „auff alle ebentheur“ (Luther, WA 30III, 290, 36) im Sinne von „auf alle Fälle“, „unter allen Umständen“, oder „komme, was wolle“. Konsequent ist dann auch, dass „sein Abenteuer bestehen“ als Bewährungsausdruck schlechthin verwandt werden kann. Wer gute und begründete Ratschläge ablehnt, dem kann man nur noch wünschen, „er stehe sein abentheur“ (Luther, WA 41, 398, 13); eine Formulierung, die auch für die Zweifler gebraucht wird, die nicht dem durch Christi Blut bezeugten Wort Gottes Glauben schenken (vgl. Luther, WA 45, 392, 5). 2.4

Abenteuer als das Wideralltagsvernünftige

Noch positiver und theologisch stets so verwandt, wird der Abenteuerbegriff in einem anderen Sinne bei Luther, der zwar noch nicht der theologisch signifikanteste ist, aber diesen späteren Sinn vorbereitet. Das Abenteuer bezeichnet ja das der Ordnung Widersprechende. Ist dies die logische Ordnung, ist das Abenteuer die Paradoxie, die Antinomie, das Seltsame oder Rätselhafte, scheinbar oder tatsächlich Unverstehbare (vgl. Luther, WA 31I, 349, 2). Und in diesem Sinne wird der Abenteuerbegriff bei Luther am häufigsten verwandt und stets auch positiv eingesetzt.

gewest sey, wie denn bey den Arabern, seinen Landsleuten, solche schwartz kunst alle zeit gewest und noch heutiges tages ist“. 9 Luther, WA 17, 189, 27–30: „Darumb ringens hie unnd kommen auff ainander, der zeytlich tod greyfft in an, will in fressen, verschlickt in, findt aber an im nit ain zeytlich, sonder ain ewige person, die nit sterben kan, darumb versicht er sich der abentheür, dann in Christo ist ain krafft des lebens verborgen, die fryßt den tod“. 10 Luther, WA 30II, 80, 21–23: „Er schlefft nicht, Er sucht und treibt ebenteurliche griffe, den glauben und damit die rechte kirche zu sturtzen und zustoren“.

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So kann Christi Eingreifen mit der Faust in der Perikope der Tempelreinigung mehrfach als „abenteurisch“ bezeichnet werden, u. a. wegen des vermeintlichen Widerspruchs von Sanftmut und Zorn, der hier erscheint.11 Auch theologisch Gehaltvolleres, wie die biblische Rede von der Sündlosigkeit Christi erscheint dann als abenteuerlich.12 Im gleichen Sinne ist die paulinische Rede vom Tod als der Sünde Sold (Röm 6,23) abenteuerlich.13 Auch das, was man später „simul iustus et peccator“ genannt hat, wird von Luther als abenteuerlich bezeichnet.14 In Ps 22,7 heißt es „Ich bin ein Wurm und kein Mensch“. Für Luther sind dies Worte des in der ersten Person sprechenden Christus, und zwar abenteuerliche.15 Die Rede in Joh 6,27, dass Gott der Vater denjenigen versiegelt hat, der ewige Speise genommen hat, wird als abenteuerlich bezeichnet.16 Es verwundert nicht, dass auch in demselben Sinne Wunder als abenteuerlich erscheinen.17 Luther bezeichnet die Verheißung Gabriels an Marien, dass ihr Sohn groß sein und Davidssohn heißen werde (Lk 1,31), als abenteuerlich.18 Nach Mt 23, 8–12 soll sich keiner

11 Luther, WA 47, 376, 40–377, 3: „Christus fraget nach ihnen auch nicht, weyl sie nicht, Gehet dahin zum Tempel als ein Herr des Tempels. Er greifft aber mit der faust drein. Es laut abenteurisch, das der man, der sonst so freundlich, gutig und barmhertzig gewest ist, alhier so gahr sein selbst vergessen hat, dan sich auch seine Junger selbst daruber entsetzen.“ WA 22, 191, 2–5: „Und ist wol ein ebentheurliche Historia, das der jtzt aus grossem mitleiden und erbarmung geweinet, so bald sich wandelt und mit grossem zorn daher feret“ Vgl. WA 47, 376, 33. 12 Luther, WA 28, 287, 1–3: „Sic dixi das wort es laut ebenteuerlich, gleich als hoffertig und stoltz, et tamen impossibile, quia ‚peccatum non fecit nec‘“. 13 Luther, WA 22,114, 25–28: „Das ist wol ebenteurlich geredt, das man denen, so boeses thun, sol noch sold geben, als hetten sie recht gehandlet und sich wol verdienet, Denn das wort Sold deutet etwas guts, so man denen gibt, die sich redlich halten und ritterlich streiten“. Vgl. WA 40II, 379, 1. 14 Luther, WA 32, 164, 11–14: „Si enim sol remissio peccatorum warhafftig sein, so mus auch die suende rechtschaffen sein. Ideo ista verba sind ebenteurlich gesetzt: Peccatum adest et tamen est remissum. Die vergebung frisset die sunde hin weg et econtra die sunde die vergebung“. 15 Luther, WA 31I, 355, 28–34: „‚Ego autem sum vermis et non homo, opprobrium hominum.‘ Das sind abentewrliche, seltzame wort. Christus mus in mundo sein nicht ein mensch, id est, omnes homines quo magis sunt impii, eo sunt sapientiores, potentiores et iustiores. Christus aber und die seinen mussen nicht menschen sein, man helt sie schlecht fur umbras hominum. Wie man einen regenwurm zutritt, so zutritt man yhn auch. (Ego vermis.) Also heist man unsers herr Gotts werck, sone und kind, es hat gar kein ansehen fur der welt“. 16 Luther, WA 33, 17, 7–9: „‚Den denselbigen hat gott der vater versiegelt.‘ Das ist auch ebentheurlich geredet“. 17 Luther, WA 33, 41, 14–19: „Do gab ihnen Gott Manna umb Moisis gebets willen, das ein iglicher teglich mochte Manna samlen, so viel ehr einen tag uber bedurffte, welchs ein gros ebentheurlich wunderwerck war“. WA 37, 199, 13f.: „hin aus mit allen, ‚non est mortua puella, sed dormit‘. Die wort sol man mercken, Es ist ebentheurlich geredt […]“. Vgl. auch WA 36, 125,6; WA 37, 508, 6; WA 37, 510, 34; WA 40I, 206, 5. 18 Luther, WA 34I 175, 8–10: „Er sol gros sein, da sthen die wort aber einmal aberteurlich, Er sol sedem David et postea totum regnare Israel“.

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“

der Christen Meister oder Vater nennen. Auch das wird als abenteuerlich, weil widervernünftig, bezeichnet.19 Das, was widervernünftig ist oder zu sein scheint, kann als abenteuerlich bezeichnet werden, parallel zur Narretei, etwa, wenn der Tod als Schlaf bezeichnet wird.20 Pauli Rede in Röm 8,22, dass sich alle Creatur ängstigt und sich sehnt, befreit zu werden, wird als abenteuerlich bezeichnet (vgl. Luther, WA 41, 316, 37). Unser Gestorbensein der Sünde durch die Taufe Christi als süßer Tod kann abenteuerlich genannt werden.21 Pauli Rede im 2. Kor 3,4 von den fleischernen Tafeln des Herzens und vom Vertrauen in Gott durch Christus können als abenteuerliche Worte bezeichnet werden.22 In Bezug auf den 1. Kor 15,23 wird die Strafe des ganzen Geschlechts mit dem Tod durch Gott wegen des einen Menschen als abenteuerlich bezeichnet.23 Auch das Wort „Dreifaltigkeit“ kann als abenteuerlich bezeichnet werden; Luther erklärt es als „Gedritt“.24 19 Luther, WA 47, 447, 29–448, 2: „‚Aber ir solt euch nit Rabbi nennen lassen, dan Einer ist euer Meister, Christus, ir aber seit alle Bruder, und solt Niemand Vater heissen auff Erden, den Einer ist euer Vater, der im Himel ist, und ir solt euch nicht lassen Meister nennen, den einer ist euer Meister, Christus. Der groste unter euch sol ewer diener sein, den wer sich selbst erhoehet, der wird erniddriget, und wer sich selbst erniddrigt, der wird erhohet.‘ Das lautt auch ebenteurlich, das er die Phariseer strafft, drumb das sie sich liessen Rabbi nennen, und alhier auch verbeut, das sie sich lassen Veter, Herrn und meister heissen, so doch das vierde gebot befilcht, das man vater und mutter ehren und ihnen gehorsam sein solle. Aber hie thut er das widderspiel. Jtem so wil er alhier auch nicht Doctores, Meister, pfarherr, prediger noch Hausveter haben, den es sej ein meister, Christus“. 20 Luther, WA 52, 541, 6–21: „Dise wort solten wir fleyssig mercken, das der Herr hie spricht: ‚Das Meydlin ist nit tod, sonder es schlefft‘, Denn es sind abenteurliche wort, da wir, wo es zukauffen moeglich, gern alles solten drumb geben, das wirs behalten, verstehen und glauben koendten, wie ers meinete. Denn wer es koente, wenn er einen todten menschen sihet da ligen, und jn so ansehen, als laege er auff eim bett und schlieffe, Wer sein gesicht so verkeren und den todt für einen schlaff ansehen koendte, der moechte sich wol rhuemen, er koendte die beste kunst. Aber wir erfaren und sehen es an uns und andern menschen, ye hoeher die vernunfft bey eim menschen ist, ye weniger ers glaubt und ye mer ers lachet. Wie man hie sihet, das sie des Herrn spotten und gedencken: Solt diser todten lebendig machen? Jst er denn toll und thoricht? Also gehet es, Denn Gottes weyßheyt ist so hoch, das die vernunfft für lautter narrheyt helt. Denn dencke du, so dir ein kind wer gestorben, und ich sagte zu dir: Ey, es ist nicht gestorben, sihest nit, das es nur schlefft und mit eim finger auff zu wecken ist? Da wuerdest du gedencken, ich spottete nur dein inn deinem ellend, unnd sagen, Jch solte dich zu friden lassen, Eben also haben dise hie dem Herrn Christo auch thun“. 21 Luther, WA 41, 373, 3–5: „sus, liblich sterben ab infidelitate &c.. Das heist ebenteurlich gepredigt, quod ab lassen a peccatis heisse sterben“. 22 Luther, WA 41, 412, 22: „am sequitur Epistola, quae iam lecta, mit ebentheurlichen worten“. 23 Luther, WA 36, 555, 19–23: „Es ist praedicatio ridicula und lest sich ansehen fur ein grosse, starcke lugen apud sapientiam humanam, quod totum genus humanum sol sterben propter alienum peccatum, ut hic dicit &c. das unser herr Gott das spil so lecherlich angreifft und stelt sich so ebenteuerlich, ja thorlich, quod uno morsu Adam sol so viel ausrichten“. 24 Luther, WA 46, 436, 5–17: „Ideo sollen wir bleiben auff dem rechten, alten glauben, quod in deitate eterna sit pater, filius, spiritus sanctus, qui est der hochste und erste artickel. Dreyf|altigkeit ist ein

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2.5

Abenteuer als das Überraschende

Das Paradoxe, das der Ordnung Widersprechende ist aber auch das unerwartet Überraschende, Verblüffende. Auch in diesem Sinne kann der Abenteuerbegriff von Luther verwandt werden, und auch hier wieder positiv. Die überraschende Antwort auf die Frage bei der Samaritanerperikope, dass der Nächste derjenige ist, der die Wohltat tut, nicht der, der sie empfängt, wird daher als abenteuerlich bezeichnet.25 2.6

Die abenteuerliche Gerechtigkeit Gottes

Verbindet man die letzten beiden Bedeutungen des Abenteuers als des Paradoxen und des Überraschenden, erhält man für den Abenteurer die Eigenschaft der Kühnheit, des Mutes oder Wagemutes, der zwischen dem zu bewundernden und abzulehnenden changiert. In diesem Sinne gebraucht Luther den Abenteuerbegriff nahezu ausnahmslos positiv, als Eigenschaft des Verhaltens Christi und als Eigenschaft göttlichen Selbsthandelns mit und inmitten der Welt. Man beachte hier, dass es nicht der gegenwärtige, positive Abenteuerbegriff, sondern eben der an sich negativ konnotierte der Renaissance ist, der hier verwandt wird: Aus Sicht der welthaft gefallenen Vernunft kann die göttliche Selbstgabe und das Handeln Christi nicht anders als abenteuerlich erscheinen: In diesem Sinne erscheint Christus als abenteuerlicher Mann, etwa, wenn er die göttliche Gerechtigkeit verkündet. Dies ist nun ein Zentralthema lutherischer Theologie, und diese Abenteuerlichkeit ist nach Luther „mit Fleiß“ zu merken.26

recht bos deudsch. Jnn der Gottheit ist summa concordia. Quidam vocant dreyheit, laut spottisch. Augustinus conqueritur etiam se non habere idoneum vocabulum. Non solum est pater, sed etiam &c. Non possum dicere: sunt 3 homines, angeli, dei, kein praedicat. Das gedrits. Sind person, non 3 dii, herrn, schepffer, sed ein Gott &c. ein einig gottlich wesen. Nenne es ein gedritts. Jch kan im keinen namen geben. Laut ebenteurlich 3faltigkeit. Ibi hodie praedicandum, quod nostra fides Christiana foddert, ut confiteamur, quod deus, qui creavit celum et terram, sit unus, et tamen, quod filius non pater &c. et tamen idem deus. Qui filium adorat, item spiritum sanctum, rufft kein frembden gott an, sed quam personam er nennet, hat er den rechten Gott &c“. 25 Luther, WA 22, 249, 28–31: „Und lautet wol ebentheurlich, das der Nehester sol heissen, der da dem andern wol thuet und liebet, da man sonst (auch nach der Schrifft und dieses gebots weise zu reden) den Nehesten heist, der da der wolthat bedarff […]“. 26 Luther, WA 21, 364, 5–30: „ALSO ist nu hiemit auff ein mal auffgehaben und abgeschnitten, was alle Welt suechet, disputirt und fragt on ende, wie man doch fur Gott moege from werden, Da ein jeder etwas sonders sagt, Der leret dis, der ander jenes thun, Und doch keiner nimer dazu komen ist, wenn sie gleich alle lere vom Gesetz und guten wercken gehoeret, gelernet und geuebt haben, Das man billich auch diesen Meister Christum fragen und fro werden solt zu hoeren, was er doch dazu saget (wie denn ein jeder wuendschen wurde, wo diese Predigt nicht fur handen were, und

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“

Bei der Verhandlung vor Pilatus bezeichnet Luther Christi Bekenntnis als abenteuerlich.27 Ebenso wird die Kritik Jesu an den Schriftgelehrten, und die Luthers selbst am Papsttum als abenteuerlich benannt: „Es ist ebenteurlich gewagt“ (Luther, WA 33, 401, 41). Die Nachfolge Jesu, die sich allen Gefahren des Teufels aussetzt, bis hin zum Martyrium wird als abenteuerlich bezeichnet.28 Ebenso wird die Verdammung des Pharisäers und das Gerechtsprechen des Zöllners durch Christus als abenteuerlich benannt.29 Auch dies betrifft wieder das Herzstück der Theologie Luthers, die abenteuerliche Gerechtigkeit Gottes. 2.7

Das abenteuerliche Leben Christi

Grundgelegt und erschlossen ist dieses Verhalten Jesu schon in der Grundtatsache, die Jesu Werden bestimmt, in der Inkarnation, der Fleischwerdung des ewigen Wortes nach Joh 1,14, die abenteuerlich, wenn nicht ein Abenteuer ist.30

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gerne bis an der Welt ende darnach lauffen), Denn freilich jderman hoffet, er werde auch etwas dazu sagen, das man thun solle, und viel hohers und bessers, denn alle andere geleret haben. Was sagt er aber? Kein wort von unserm thun und leben, Sondern dagegen spricht er: Das ist noch alles nicht die Gerechtigkeit, die fur Gott gilt, Wiltu aber fur Gott from und gerecht sein, so mustu ein anders haben, nemlich, das nicht du noch alle Menschen sind und vermuegen, Sondern das, das ich zum Vater gehe, Das es also heisse: Niemand wird fur Gott gerecht denn dadurch und umb des willen, das ich sterbe und aufferstehe, Der Gang ists und thuts allein, das Gott den Menschen zu gnaden nimpt und fur gerecht helt, so er mit dem Glauben an Christo hanget. Darumb sind diese wort mit vleis zu mercken, wie Christus ist so ein ebentheurlicher Man mit reden wider aller Menschen, sonderlich der weisen und heiligen, verstand und gedancken, Welche alle miteinander, wenn man davon sol reden, was da heisse from oder gerecht sein, nichts anders wissen zu sagen denn von dem, das sie heissen Justiciam formalem, das ist, solche tugent, die in uns selbs ist, oder die wir selbs thuen, oder unser werck und gehorsam heisst“. Luther, WA 28, 310, 38–311, 11: „Es ist aber eine ebentewrlich und fehrliche Bekentnis, das er saget, er sey nicht der Jueden Koenig und doch bekennet, er habe ein Koenigreich: das ist so viel, er bekennet, er wolle eine grosse Auffrhur erregen in der welt und sey doch kein Auffrhuerer wider den Keiser“. Luther, WA 33, 649, 15: „Es seindt jhr viel, die darob haltenn, jhr blut vergiessenn, setzens hinan unnd wagens ebentheurlich. Dasselbige sindt die rechten Junger“. Luther, WA 22, 196, 35–36: „Und noch viel wuenderlicher, dazu auch ergerlich, das er so ebentheurliche urteil spricht, den Phariseer gantz verdampt und den Zoelner gerecht spricht“. Luther, WA 36, 407, 4–5: „quod non gewont der grossen sachen, lauts ebenteurlich, [Joh. 1, 14] quod Iohannes sic loquitur de verbo, quod caro factum“. Luther, WA 36, 409, 28–410,5: „‚In principio‘. Postea concludit: ‚Et verbum caro et vidimus‘, i. e. maiestatem. Die text sthen da, ratio sagt Nein dazu, quia non comprehendit, prehendit, sed hic textus ist war. Das fleisch laut ebenteurlich coram oculis nostris, sed latinisch und Ebreisch nicht. Apud nos: Gott ist mensch worden, Iohannes: wort

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Was für die Inkarnation gilt, gilt dann auch für das Kreuz, und zwar spezifisch darin, dass es ein Heilsereignis uns zugute und daher das eigentliche Opfer ist. Als solches ist es ein Abenteuer.31 Wenn aber Inkarnation und Kreuz abenteuerlich erscheinen, dann ist es nur konsequent, dies nach Joh 1 auch von der Präexistenz Christi auszusagen, zumindest insofern diese eine Zumutung für die Vernunft ist.32 Sind aber Präexistenz, Inkarnation und soteriologisches Kreuz Wirkungen eines Abenteuers, dann ist deutlich, dass der ganze Weg des inkarnierten Sohnes auf Erden ein Abenteuer ist, spezifisch indem er Weg, Wahrheit und Leben ist.33 2.8

Das abenteuerliche Leben der Christen

Wenn aber das Leben als Weg des inkarnierten Sohnes uns zugute als Abenteuer bezeichnet wird, und wenn Christsein eben bedeutend, passiv in die conformitas Christi gestaltet zu werden, dann verwundert es nicht, dass Luther auch folgerichtig das christliche Leben und den christlichen Weg als Abenteuer beschreibt: Schon das Predigen der Gnade kann als abenteuerlich bezeichnet werden (vgl. Luther, WA 34II, 94, 15), genauso wie der christliche Glaube selbst, der schwer und darin abenteuerlich ist.34

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ist fleisch. Quare sic vocat et mirabile nomen, quod dicere debeo unsers herr Gotts wort et totum hominem fleisch heissen, sed textus dat potenter, quod idem verbum et filius dei“. Luther, WA 49, 89, 28f.: „Credo in Sacerdotem, qui gereuchert und gesprenget sein blut gegen Got, ut habeam remissionem peccatorum. Der letzte zusatz hat gleichwol ein ebentewerlich ansehen […]“. Luther, WA 46, 644, 25–39: „‚Johannes zeugete von jm, ruffet und spricht.‘ Diese folgenden Predigten lauten ebentheuerlich und seltzam und sind der Vernunfft eben so wol unbekant als die vorigen, davon jr bisher gehoeret habet, und werden auch in keinen Buechern der Weltweisen, sie heissen Philosophi, Juristen, Sophisten oder Papisten, gefunden, werden also von der Menschlichen vernunfft nicht verstanden, allein die Christen lernen an dieser kunst, bleiben aber A. B. C. Schueler, studiren darinnen jr lebenlang, wenn sie auch hundert jar erreichten. Einen Weltklugen Man duencket diese rede (als, das Joannes der Teuffer spricht: ‚Er ist vor mir gewesen‘,jtem: ‚von seiner fuelle haben wir genomen gnade umb gnade‘) seltzame und ungewoenliche rede und Wort sein, ja, es lautet ungereimet, ungeschickt und toerlich, aber es verstehets niemand denn die Christen. ‚Nach mir wird komen, der fur mir gewesen ist, denn er war ehe denn ich, und von seiner fuelle haben wir alle genomen gnade umb gnad‘“. Luther, WA 45, 489, 1–10: „‚Jhesus spricht zu jm: Jch bin der Weg und die Warheit und das Leben.‘ Sie hatten gehoert, die lieben juenger, das er wolt hin gehen und jnen die Wonungen bestellen, und nicht allein das, sondern das sie auch schon selbs den weg wusten, wo er hingehen und bleiben wuerde, und sie jm auch dahin folgen solten, das er nicht viel predigen duerffte, und sie sich deste weniger bekoemern und erschrecken solten, das er jtzt von jnen scheiden muste, Darauff fehet S. Thomas an zu wundern, und ist jm ebentheurlich geredt, das er sagt, Sie wissen, wo er hin wolle, und wissen dazu den weg, so er jnen doch nichts davon gesagt habe, wo hin oder welches wegs er von jnen gehen wolt […]“. Luther, WA 34II, 148, 11–13: „Das ist uns von noten, quia nos Christiani habemus ein schweren und ebenteuerlichen glauben“.

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“

Die Abenteuerlichkeit des christlichen Lebens begegnet aber vor allem in der Gelassenheit der Christen, die Jesu Mahnung, sich nicht für das Tägliche zu sorgen, sondern hier dem Vater zu vertrauen, folgen. Die Weigerung, auf dieses Abenteuer zu setzen, und sich stattdessen auf transport-artige (vgl. Mühling 2020, 152–554) Berechnungen zu verlassen, erscheint hier geradezu als Signatur der Sündhaftigkeit der Welt.35 Ist aber schon Kreuz und Auferstehung Christi ein Abenteuer, dann auch unser Gleichgestaltetwerden mit Christus hierin, d. h. also, dass auch unsere Auferstehung nichts anderes als abenteuerlich ist.36 Unsere Auferstehung in der Zukunft hat aber bei Luther immer soteriologische Gegenwartswirkungen, die darin bestehen, dass sie Bewährung in der Anfechtung ermöglichen. Diese Bewährung setzt voraus, dass man Christi Sieg der Auferstehung ins Herz, ins Personenzentrum gebildet bekommt. Darin ist die Bewährung in der Anfechtung das Bestehen eines.37 Luther betrachtet dann konsequenterweise auch die Taufe als hilfreich zur Bewährung in den Anfechtungen, deren Erleben er als Abenteuer bezeichnen kann, dass der Glaube bestehen wird: „Er fechte Gott und sein gepot an, darauff ich getaufft bin, das ist mir gewis gnug, Mein glawbe und ich stehen unser ebentheur“ (Luther, WA 26, 165,30). Man muss sich klar machen, dass die negative Verwendung des Abenteuerbegriffs, die Luther in theologischen Dingen auch kennt, und die wir unter 2.1–2.2 aufgeführt haben, vor diesem theologischen Zusammenhang in einem neuen Licht erscheint: Nach der Ratio der Welt ist Gottes Weg mit den Menschen und der Menschen Weg im Glauben stets abenteuerlich in den genannten Sinndimensionen. Aus Sicht des Glaubens freilich erscheint es umgekehrt, so dass sich nun der unter 2.1–2.2 aufgeführte Begriffsgebrauch erklärt.

35 Luther, WA 22, 271, 35–39: „Das thut wol Fleisch und Blut auch wehe, und wird jnen auch schweer. Ja, es kan es niemand ertragen noch thun denn ein gleubiger Christen, Denn die Welt ist also gesinnet, das sie nich wil auff ebentheur sitzen, sondern der sachen gewis sein, zuvor bestellet und in bereitschafft haben, was sie bedarff, narung, friede, schutz und sicherheit, das sie koenne bleiben“. 36 Luther, WA 36, 558, 4–9: „Resurgam non propter me, sed Christum, und das sol so gewis et certius, quam beschart werde vel alius. Illud audio &c.. et cani: ‚Media vita‘, et tamen hoc gewisser&c.. Ideo heissts: gleubt. Rustici, cives spottens und lachens et habent pro narrenwerck, quod deus so ebenteuerlich, ut omnes wurge et Christus lebe“. 37 Luther, WA 32, 45,2–7: „Wer nu diesen sieg also yns hertz kan bilden, der ist schon selig. Denn es kome sunde, bose gewissen, hunger, pestilentz, krieg und des dings, was es sey, bistu ynn der aufferstehung Christi geubt und geruft, so wirstu bald sehen, das solche schreckliche bild nichts sind denn des Teuffels waffen, der nymmermehr kein ruge haben kan, wie es denn itzt auch sehr eim abenteurlich unter die augen gehet, solch seltzame maur und rustung furet der Teufel“.

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2.9

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“

Aber nicht nur Gottes Weg mit und inmitten Mensch und Welt und der Menschen Weg mit Gott inmitten der Welt können als Abenteuer beschrieben werden. Die Spitzenaussage Luthers ist, dass Gott selbst in sich als abenteuerlich beschrieben werden kann: Luther übersetzt Ps 93,4 mit „Gott ist abenteuerlich in den Höhen“. Es wäre eine interessante historische, aber wohl unbeantwortbare Frage, warum es diese Übersetzung nicht in die Lutherbibel geschafft hat: Hat Luther sich dies dann doch nicht getraut? Geht die Fassung der Lutherbibel letztlich gar nicht auf Luther zurück? Wir wissen es nicht. Klar ist aber, dass Luther Gott selbst für abenteuerlich in den Höhen hält. Im Kontext bezieht sich Luther allerdings auch hier auf das Handeln Gottes an der Welt, also auf den Gott, der für unsere Logik nicht einsehbar, sondern kontingent seine Gaben ex nihilo gibt und weltliche Reiche verderben oder blühen läßt. Der Gott, der nach de servo arbitrio „Leben und Tod und alles in allem wirkt“38 , ist ein abenteuerlicher Gott. Allerdings haben wir auch gesehen, dass beim inkarnierten Gott Christus nie die gnadenhaft soteriologische Pointe beim Abenteuerbegriff fehlt. Daraus können wir schließen: Der scheinbar verborgene Gott, der Leben und Tod und alles in allem wirkt, ist identisch mit dem Gott der präzisen Verborgenheit des Kreuzes, indem er ein Gott der abenteuerlichen Gnade ex nihilo ist. Die Bedingung der Möglichkeit des abenteuerlichen Umgangs Gottes mit der Welt ist, dass Gott selbst in den Höhen abenteuerlich ist: Widderumb lernt man, das auch kein Fuerst sol ynn seiner vmmacht odder schwacheit vnd vnwitze verzagen odder sich zu seer bekummern, Denn gleich wie ein Reich, nicht stehet, durch menschen krafft vnd witze, Also fellet es auch nicht durch menschen vnkrafft vnd vnwitze, wie man hie von viel exempel findet, das grosse mechtige Koenige, von geringem volck geschlagen, Vnd offt die aller klugesten sind zu schanden worden, Aber die blieben vnd gesiegt, da man widder krafft noch witze bey gesehen hat. Ich meine zu vnser zeit, solten die Venediger, Bapst, Franckreich schier dis alles helffen zeugen. Denn Gott ist ebenteurlich ynn den hohen (spricht der 93. Psalm) Er machts mit Koenigreichen wie er wil (spricht hie Daniel 6 vnd 4) nicht wie wir odder menschen gedencken, vnd gibt sie wem er wil, nicht wem wir wollen odder gedencken. Solchs haben die Heiden nicht gewust, vnd wissen noch alle vngleubigen vnd gotloesen nicht, Sie haben wol die oberkeit vnd herrschafft, Sie wissen aber nicht, das ein Donum et Creatura dei das ist, eine gabe vnd geschepffe Gottes sey, welchs er aus nichte macht, vnd aus nichte erhelt, vnd vmb sonst auch schenckt, vnd doch ynn seiner hand behelt, das ers regiere, Darumb konnen sich auch die Gotlosen nicht drein schicken, sondern es Aber wird yhn vnter handen gar zu eitel,

38 Luther WA18, 685, 23: „operatur uitam, mortem, et omnia in omnibus“.

„Gott ist abenteuerlich in den Höhen“

vnd haben viel muhe dauon, groesse sorge vnd viel vergeblicher anschlege, die sie nimer zur helffte bringen, vnd sind die vnseligsten (Luther, WA 385, 7–25).39

Wie können wir diese Bedingung der Möglichkeit in Gott selbst, „in den Höhen“ verstehen? Man kann abenteuerlich hier natürlich einfach mit „seltsam“ übersetzen. Das aber hieße, die Kontexte der lutherischen Verwendung des Abenteuerbegriffs zu unterschätzen. Man wird also ernst nehmen müssen, dass Gott in seinen Höhen abenteuerlich in seinem Welthandeln ist, indem es der creatio ex nihilo bzw. creatio ex negativo folgt. Diese Deutung ist im Zusammenhang der Verwendungen 2.7 und 2.8 sehr plausibel. Sie würde dann besagen, dass Gottes Handeln an der Welt stets abenteuerlich erfolgt, weil sie den innerweltlichen Erwartungen stets widerspricht. Aber das ist noch nicht alles. Wenn Luther hier mit dem Psalm spricht, dass Gott abenteuerlich in den Höhen ist, dann geht es nicht nur um Gottes Welthandeln, dessen scheinbar verborgene und widervernünftige Seite doch der präzisen Verborgenheit des Kreuzes entspricht. Es geht um mehr: Es geht darum, dass es sich dabei ja um eine Selbstgabe Gottes handelt und Gottes eigenes Werden seinem Handeln entspricht. Man wird den Satz „Gott ist abenteuerlich in den Höhen“ also auch auf das innere Werden Gottes selbst, auf Gottes Wesen beziehen müssen. Was aber bedeutet er dann? Luther schreibt darüber nichts. Kann man es so verstehen, dass Gott in sich selbst, auch wenn es die Welt nicht gäbe, im kommunikativen Werden zwischen Vater, Sohn und Geist, ein Abenteuer ist? Unmöglich ist dieses Verständnis nicht, bezeichnet Luther doch, wie wir gesehen haben, die Dreifaltigkeit selbst als „abenteuerlich“, wenn auch zunächst nur in dem Sinne, dass es sich um eine seltsame, fremde oder paradoxe Rede handelt (s. o.). Sollte aber nicht auch bei Luther hinter der epistemischen Abenteuerlichkeit Gottes für uns auch eine ontische Abenteuerlichkeit Gottes in Gott selbst stehen? Überraschenderweise verwendet Luther den an sich pejorativ konnotierten Abenteuerbegriff der Renaissance also sowohl im Einklang mit der seiner Zeit gewärtigen negativen Konnotation, als auch positiv konnotiert gegen die seiner Zeit gewärtige Konnotation, und zwar jeweils für theologisch zentrale Anliegen. Möglich ist dies, weil Luther den Abenteuerbegriff jeweils vor dem Hintergrund unterschiedlicher Rationalitäten verwendet: Vor dem Rationalitätshintergrund einer allgemeinen Vernunft erscheinen das christliche Leben, die sie ermöglichende Heilsökonomie und das kommunikative trinitarische Werden Gottes als Abenteuer im pejorativen Sinne der Renaissance, als unsicheres oder unverständliches Wagnis, wie es sich in den Abenteuerbegriffen 2.3–2.7 spiegelt. Wechselt man allerdings den Bezugsrahmen zur Rationalität des vertrauenden Glaubens, erscheint die Sache umgekehrt; dann lassen sich Tod, Teufel, Welt und Schwärmer auf vielfältige Abenteuer

39 Kursivierung vom Autor.

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als waghalsige Unternehmungen ein, die scheitern werden, was im Abenteuerbegriff 2.1 und 2.2 erscheint. Dennoch sind für Luther die beiden Verwendungen nicht einfach invers: Denn in den Abenteuerbegriffen 2.1–2.2 geht er dem Abenteuerbegriff der Renaissance entsprechend von Unternehmungen aus, die scheitern werden, während in den Abenteuerbegriffen 2.3–2.7 stets der Erfolg gegeben ist. Damit stellt sich theologisch die wichtige Frage, ob das Werden Gottes und das Werden der Welt als Schöpfung nur vor der blinden, nicht richtig orientierten und gefallenen Vernunft als Abenteuer erscheint, tatsächlich, unter dem Wahrwertnehmen des Evangeliums aber gar keines ist. Den pejorativen Abenteuerbegriff der Renaissance vorausgesetzt, könnte das bei Luther der Fall sein. Dann aber würde Luther nicht wirklich ernst nehmen, was er zu denken begonnen hätte: das Abenteuer wie die Liebe als das „Wesen“ Gottes zu verstehen. Und in diese Richtung wird man weiter arbeiten müssen. Dennoch ist damit der Abenteuerbegriff in der Theologie Luthers nicht wertlos, macht er doch klar, dass christliches Wahrwertnehmen tatsächlich eine noch viel radikalere Umwertung der Werte betrifft, als Nietzsche geahnt haben mag – eine Umwertung nicht nur der ethischen Werte, sondern zuallererst auch eine der Rationalitätsstandards und des Wahrwertnehmens selbst.

Literaturverzeichnis Best, O. 1980, Abenteuer. Wonnetraum aus Flucht und Ferne. Geschichte und Deutung, Frankfurt am Main. Grimm, J., Grimm, W. 1854–1961, „Abenteuer“, in: Dies., Deutsches Wörterbuch.16 Bände in 32 Teilbänden. https://woerterbuchnetz.de/?sigle=DWB&lemma=abenteuer#0, letzter Zugriff: 14.03.2013. Hauerwas, S. 1981, A Community of Character. Toward a Constructive Christian Social Ethic, Notre Dame. Luther, M. 1883–2009, D. Martin Luthers Werke (Weimarer Ausgabe WA), hg. U. Köpf u. a., Weimar. Mühling, M., 2020, Post-Systematische Theologie I. Denkwege – Eine theologische Philosophie, Leiden–Paderborn. Rommel, B. 2003, Ekklesiologie und Ethik bei Stanley Hauerwas. Von der Bedeutung der Kirche für die Rede von Gott, Münster. Schlarb, V. 2015, Narrative Freiheit. Freiheit und Erzählen im Zusammenhang der Altenseelsorge, Leipzig.

Anne Käfer

Wider den Ruf nach Werten Zum Wertediskurs in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften

An den Ufern der Havel lebte, um die Mitte des sechzehnten Jahrhunderts, ein Roßhändler, namens Michael Kohlhaas, Sohn eines Schulmeisters, einer der rechtschaffensten zugleich und entsetzlichsten Menschen seiner Zeit. – Dieser außerordentliche Mann würde, bis in sein dreißigstes Jahr für das Muster eines guten Staatsbürgers haben gelten können. Er besaß in einem Dorfe, das noch von ihm den Namen führt, einen Meierhof, auf welchem er sich durch sein Gewerbe ruhig ernährte; die Kinder, die ihm sein Weib schenkte, erzog er, in der Furcht Gottes, zur Arbeitsamkeit und Treue; nicht einer war unter seinen Nachbarn, der sich nicht seiner Wohltätigkeit, oder seiner Gerechtigkeit erfreut hätte; kurz, die Welt würde sein Andenken habe segnen müssen, wenn er in einer Tugend nicht ausgeschweift hätte. Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Räuber und Mörder (Kleist 1993, 9).

Heinrich von Kleist beginnt seine Novelle Michael Kohlhaas, indem er den gleichnamigen Roßhändler als überaus wertebewussten Menschen beschreibt. Kohlhaas kennt Gottesfurcht, Arbeitsamkeit und Treue, er lebt wohltätig und gerecht. Nur eines schätzt er im Übermaß, so dass er im Verlauf der Erzählung mehr und mehr zum Extremisten mutiert. Er pocht auf Rechtsverbindlichkeit um der Gerechtigkeit willen. Seine Pferde wurden misshandelt, sein Knecht mutwillig verprügelt und seine Frau zu Tode geschlagen, als sie versuchte für ihn beim Landesherrn Gehör zu erlangen. Deshalb sucht Kohlhaas Gerechtigkeit, nämlich die Wiedergutmachung seiner Verluste gemäß geltendem Recht. Da die Obrigkeit seinem Anliegen zunächst nicht nachkommt, sammelt er Männer um sich, mit denen er brandschatzend und mordend durch die Lande zieht, um seinem höchsten Wert zu dienen, um der Gerechtigkeit Genüge zu tun. Schließlich wird ihm die geforderte Rechtsprechung gewährt, die ihn dann sein Leben kostet. Der Ruf nach Werten und Grundwerten, die in Deutschland allgemeinverbindlich gelten sollen, wurde zuletzt 2015 sehr laut geäußert. Im Zuge der Flüchtlingszuwanderung wurde vor allem von rechten politischen Gruppierungen gefordert, nach Deutschland einwandernde Menschen auf bestimmte(,) angeblich deutsche Werte zu verpflichten.1 Doch was sind denn deutsche Werte? Gibt es sie tatsächlich?

1 S. dazu die kritischen Überlegungen von Schubarth 2015 und auch Schubarth 2018.

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Oder grundlegender gefragt: Welche Bedeutung haben Werte für das gesellschaftliche Zusammenleben und den Existenzvollzug des Einzelnen? Sollten sie Maßstab einer Gesellschaft und Kriterien guten Lebens sein?2 Um die Rede von den Werten und die Fragen, die sich damit verbinden, aufzuzeigen und von unterschiedlichen Seiten zu beleuchten, gehe ich in zwei Schritten vor. In einem ersten Abschnitt werde ich an politische und philosophisch-theologische Debatten über das Thema Werte erinnern. Dabei werden die Schwierigkeiten und auch Gefahren deutlich werden, die der schlichte Ruf nach Werten mit sich bringt. Im zweiten Abschnitt werden die Herausforderungen des gegenwärtigen (d.i. im Jahr 2020) Werterankings für freiheitlich-demokratische Gesellschaften thematisiert.

1.

Die Rede von den Werten. Politische, philosophische und theologische Aspekte

1.1

Politische Erinnerungen

Anders als 2015 und in den vergangenen fünf Jahren waren es in den 60er und dann vor allem in den 70er Jahren des letzten Jahrhunderts nicht rechte Gruppierungen, sondern die Volksparteien, die intensiv die Idee deutscher Grundwerte debattierten. Bereits im Godesberger Programm der SPD von 1959 werden „Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität“ als Grundwerte genannt. Zudem wird darauf hingewiesen, dass die Sozialdemokratische Partei eine Gemeinschaft von Menschen sei, „die aus verschiedenen Glaubens- und Denkrichtungen kommen. Ihre Übereinstimmung beruht auf gemeinsamen sittlichen Grundwerten und gleichen politischen Zielen“ (Godesberger Programm 1959, 3). Die religiösen respektive weltanschaulichen Überzeugungen der Parteimitglieder seien sehr verschiedene. Dennoch, so sagt es das Programm, bestehe Einigkeit über bestimmte Grundwerte. Zwar sollten deswegen die religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen nicht abgewertet werden. Gleichwohl sind sie für die politische Gruppierung gleichgültig, da zum einen keiner dieser Überzeugungen ein Vorzug gegeben werden solle und sie zum anderen im Blick auf die gemeinsamen Grundwerte für nebensächlich erachtet werden.

2 S. dazu Holzki 2018: „Schulkinder in Berlin lernen antisemitische Schimpfwörter. Sächsische Berufsschüler schmieren Hakenkreuze an die Wände der Schulgebäude. Immer mehr Wähler in ganz Deutschland geben ihre Stimme einer nationalistischen Partei. Angesichts dieser Entwicklungen sorgen sich viele um die gesellschaftlichen Werte. Wie kann gewährleistet werden, dass Kinder lernen, tolerant zu sein, Menschenrechte zu achten und Konflikte friedlich zu lösen? Wer muss sich darum kümmern? Und welche Werte sollten Priorität haben?“

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Unklar aber bleibt bei der bloßen Rede von Freiheit und Gerechtigkeit, was darunter zu verstehen sei und ob die jeweiligen Bedeutungen nicht wohl auf den fundamentalen Überzeugungen vom Sinn und Ziel des Lebens fußen. Dann aber könnte es sein, dass die höchst unterschiedlichen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen, die in einer Gesellschaft vertreten werden, zu sehr differenten Ansichten von dem führen, was Freiheit oder Gerechtigkeit sei. Und darum sollte bei gleicher Wortwahl auf die unterschiedlichen semantischen Gehalte der genannten Worte achtgegeben werden. Gleich wie das sozialdemokratische Programm so nennt auch das Grundsatzprogramm der CDU von 1978 die parteieigenen Grundwerte; diese sind ebenfalls „Freiheit, Solidarität und Gerechtigkeit“ (Grundsatzprogramm 1978). Und auch in den Freiburger Thesen der FDP von 1971 werden Freiheit, soziales Miteinander und Gerechtigkeit als Leitwerte beschrieben (Freiburger Thesen 1971, v. a. 8). Die drei Parteien nutzen dieselben Werte-Vokabeln, um damit, wie die weiteren Ausführungen der jeweiligen Programme lesen lassen, sehr unterschiedliche Verständnisse von Gerechtigkeit, Solidarität und Freiheit zum Ausdruck zu bringen. Dass in der bundesrepublikanischen Politik der 70er Jahre Werte und Grundwerte eine wichtige Rolle spielten, hängt wohl damit zusammen, dass in diesen Jahren unter anderem einige Gesetzesnovellen diskutiert und verabschiedet wurden, bei denen sehr diskrepante Verständnisse vom richtigen und gerechten Zusammenleben aufeinanderprallten.3 Es handelte sich um Gesetze, die althergebrachte sogenannte Wertvorstellungen in Frage stellten. Unter anderem wurden das Eheund das Ehescheidungsrecht reformiert, es wurde der Schwangerschaftsabbruch gesetzlich neu geregelt, und es wurden Reformen des Strafrechts durchgeführt (vgl. Beck 2016, 2964). Allein schon deshalb, weil dank der Gesetzesänderungen verheiratete Frauen nun selbständig über ihre Berufswahl entscheiden durften, gerieten ganze Weltbilder ins Wanken. Und so schien in der Politik ein deutliches Hinweisen auf unverbrüchliche Werte an der Zeit zu sein. Doch nicht nur in der Politik wurden Werte debattiert, auch im Bereich der Wissenschaft erhielt die Rede von den Werten neues Gewicht (vgl. Sommer 2016, 22). In diesen Diskurs gebe ich einen Einblick, weil auf diese Weise einige Aspekte, die die Frage nach den Werten betreffen, als ausgesprochen strittig deutlich werden. Es sind zum einen das Woher der Werte, zum Zweiten deren Geltung und zum Dritten deren mögliche Kollision mit der Würde des Menschen die durchgängigen Themen der Wertediskussion.

3 Zur Wertedebatte in den 70ern und zur gegenwärtigen Konjunktur des Begriffes „Wert“ s. auch Droste 2019, v. a. 9f.

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1.2

Die philosophische, rechtsphilosophische und theologische Debatte über die „Tyrannei der Werte“

Die Rede von Werten ist keineswegs überall gut gelitten. 1959 bereits äußert sich Carl Schmitt vehement gegen jegliche Wertung durch Werte, wie sie in die Bundesrepublik Einzug gehalten habe. Seine rechtsphilosophischen Überlegungen, die in zweiter Auflage 1979 in einem Band mit einem Beitrag des Theologen Eberhard Jüngel veröffentlicht wurden, weisen die Rede von den Werten entschieden zurück. Die Kritik an der Rede von den Werten, die Carl Schmitt vorbringt und die der Tübinger Theologe aus seiner Sicht unterstreicht, nimmt insbesondere Bezug auf eine Wert-Ethik, wie sie die Philosophen Max Scheler und Nicolai Hartmann vertreten. Deshalb werde ich die Werte-Kritik von Schmitt und Jüngel vorstellen, nachdem ich auf die Einsichten Hartmanns hingewiesen habe. 1.2.1

Hartmann wie Scheler suchten zu Beginn des vergangenen Jahrhunderts nach Grundlagen der Moral, die zugleich inhaltlich bestimmt und doch unabhängig von religiösen respektive weltanschaulichen Überzeugungen sein sollten. Eine Idee, von der ich vermute, dass sie so ähnlich von all denjenigen Menschen vertreten wird, die annehmen, dass eine Gruppe von Menschen bestimmte Werte zu teilen vermag, und zwar unabhängig von den unterschiedlichen religiösen respektive weltanschaulichen Überzeugungen der Einzelnen. Der Philosoph Hartmann äußerte sich überzeugt, dass Werte dem menschlichen Urteilen und Handeln vorgegebene Größen seien, an denen sich ein Mensch in seinem Leben und Handeln orientiere. Diese Werte seien keineswegs bloß formale Handlungsvorgaben, sondern material bestimmt. Als solche seien sie a priori vorhanden; sie durchzögen „unmittelbar, intuitiv, gefühlsmäßig unser praktisches Bewußtsein, unsere ganze Lebensauffassung“ (Hartmann 2010, 116). Für Hartmann ist ausgemacht, dass immer schon inhaltlich bestimmte Werte vorhanden seien, die auf alles, was in der Welt begegnet, angewendet würden, so dass alles, was begegnet, als höher- oder niederwertig oder gar als unwert erkannt werden könne. Was da vom Menschen mit Werturteilen versehen werde, das seien Güter wie Geld oder Arbeit, aber auch soziale oder geistige Güter wie Freundschaft und Freude und ebenso Tugenden wie Tapferkeit, Besonnenheit oder Gerechtigkeit sowie die Tugenden Nächstenliebe und „Fernstenliebe“ (Hartmann 2010, 607–612; 616). Ein Mensch, der in seinem eigenen Handeln und Leben den vorgegebenen allgemeinen Werten gerecht werden wolle, müsse sein Handeln in reflektierter und abwägender Weise an ihnen orientieren. Zwar sei das Leben, Entscheiden und Handeln eines jeden Menschen dadurch bedingt, dass er in einer bestimmten Le-

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bensweise existiere und in bestimmter individueller Weise beschaffen und verfasst sei. Doch habe er als Mensch die Aufgabe, sich gegebenenfalls gegen die gewohnte und übliche Lebensweise zu entscheiden, sollte das durch die eingesehenen Wertvorgaben gefordert sein. Dies sei nötig zu dem Zweck, dass er der Bestimmung seiner Persönlichkeit gerecht werde und sich um seinen „Persönlichkeitswert“ verdient mache (Hartmann 2010, 628). Ebenso wie er seine eigene Bestimmung durch die Wahl der wahren Werte und deren angemessene Gewichtung selbsttätig erfüllen könne, vermöge er sie aber auch zu verfehlen. Solche Verfehlung geschehe dann, „wenn er sich ganz in die Uniformität allgemeiner sittlicher Forderungen verliert, oder gar der ,Tyrannei‘ einzelner Werte verfällt“ (Hartmann 2010, 628).4 Die allgemeinen und angeblich objektiven Werte sind nach Hartmann weder allesamt gleichwertig und also als gleichgültig und einerlei zu bewerten noch dürfe unternommen werden, einzelne Werte in extremer Weise zu verwirklichen. Im ersten Fall ist kein Wert tatsächlich etwas wert. Im anderen Fall kommt es zur gefürchteten „Tyrannei der Werte“. Die verheerende Herrschaft eines einzelnen Wertes über das gesamte Handeln einer menschlichen Persönlichkeit beschreibt Hartmann als den Rigorismus der einzelnen Werte. Er kann sich bis zum Fanatismus steigern. Jeder Wert hat – wenn er einmal Macht gewonnen hat über eine Person – die Tendenz, sich zum alleinigen Tyrannen des ganzen menschlichen Ethos aufzuwerfen, und zwar auf Kosten anderer Werte, auch solcher, die ihm nicht material entgegengesetzt sind. Diese Tendenz lastet zwar nicht den Werten als solchen in ihrer idealen Seinssphäre an, wohl aber als bestimmenden (oder seligierenden) Mächten im menschlichen Wertgefühl; sie ist eine Tendenz der Verdrängung anderer Werte aus dem Wertgefühl. Solche Tyrannei der Werte zeigt sich schon deutlich in den einseitigen Typen der geltenden Moral, in der bekannten Unduldsamkeit des Menschen (auch des sonst nachgiebigen) gegen fremdartige Moral; noch mehr im individuellen Erfaßtsein einer Person von einem einzigen Wert. So gibt es einen Fanatismus der Gerechtigkeit (fiat justitia pereat mundus), der keineswegs bloß der Liebe, geschweige denn bloß der Nächstenliebe, ins Gesicht schlägt, sondern schlechterdings allen höheren Werten (Hartmann 2010, 576–577).

4 Zur Kritik an der Rede von der „Tyrannei der Werte“, s. Sommer 2016, 39: „Tyrannei zu konstatieren, wäre nur dann schlüssig, wenn eine Macht, ein Wert die Herrschaft über das Denken, Handeln und Fühlen an sich gerissen hätte. Die Pointe der ubiquitär gewordenen Wertrede ist aber, dass sie eine bestimmte Vielheit der Werte voraussetzt, die entweder friedlich koexistieren oder kriegerisch konkurrieren. Nimmt man keinen Überwert an, dann relativiert ein Wert den anderen. Tyrannei ist somit ausgeschlossen (nicht allerdings, dass jemand sich von einem ganz bestimmten Wert tyrannisieren lässt)“. Eben die Klammererwägung bedenkt Hartmann und weist auf ihre Gefährlichkeit hin, s. dazu im Folgenden.

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Zwei mögliche Tyranneien nennt Hartmann. Zum einen könne es sein, dass eigene Moralvorstellungen derart hochgehalten werden, dass sie jegliche Toleranz gegenüber fremdartiger Sittlichkeit und gegenüber den Wertgeltungen anderer Menschen verhindern. Zum anderen sei eine einseitige Verabsolutierung eines einzelnen Wertes möglich, der unnachgiebig über einen Menschen herrsche. Den „Fanatismus der Gerechtigkeit“ nennt Hartmann als ein extremes Beispiel. Wer nach dem Prinzip handele: „Es möge Gerechtigkeit werden, gehe auch die Welt daran zugrunde“, der werde nicht nur sich selbst verfehlen, sondern wertvolle Werte wie Nächsten- oder auch Feindesliebe mit Füßen treten. Michael Kohlhaas scheint von ebensolchem Gerechtigkeitsfanatismus getrieben zu sein, so dass er im Kampf gegen seine Widersacher das Wohl und Leben seiner Familie gefährdet und brandschatzend den Tod zahlloser Unbeteiligter verschuldet. Dieses zieht er vor, um der Gerechtigkeit oder dem, was er für Gerechtigkeit hält, ganz zu dienen. Als seine Frau im Sterben liegt und ein lutherischer Geistlicher sich anschickt, ihr ein Kapitel aus der Bibel vorzulesen, da sah sie ihn plötzlich, mit einem finstern Ausdruck, an, nahm ihm, als ob ihr daraus nichts vorzulesen wäre, die Bibel aus der Hand, blätterte und blätterte, und schien etwas darin zu suchen; und zeigte dem Kohlhaas, der an ihrem Bette saß, mit dem Zeigefinger, den Vers: ‚Vergib deinen Feinden; tue wohl auch denen, die dich hassen‘ (Kleist 1993, 30). 1.2.2

Die von Hartmann selbst verwandte Wendung „Tyrannei der Werte“ macht der Rechtsphilosoph Carl Schmitt zum Titel einer Schrift, in der er festhält, dass er eine derartige Tyrannei nicht nur für eine Verfehlung eines einzelnen Subjekts halte. Vielmehr sei eine Wertetyrannei bereits in der „Struktur des Wertdenkens“ als solchem angelegt und menschenverachtend (Schmitt 1979, 37). Wer sein Handeln im Sinne der Wert-Philosophie an Werten ausrichte, laufe immer Gefahr, auch Menschen mit Wert zu versehen, deren Leben und sogar deren Würde gegen andere Werte abzuwägen und diese gar als weniger gewichtig zu beurteilen. Man hat natürlich auch schon vor der Wert-Philosophie von Werten gesprochen, auch von einem Unwert. Doch machte man meistens eine Unterscheidung, indem man sagte: Sachen haben einen Wert, Personen haben eine Würde. Man hielt es für unwürdig, die Würde zu verwerten. Heute dagegen wird auch die Würde zu einem Wert. Das bedeutet eine auffällige Rang-Erhöhung des Wertes. Der Wert hat sich sozusagen aufgewertet (Schmitt 1979, 29).

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Um die Gefährlichkeit solcher Verwertung von Würde zu verdeutlichen, weist Schmitt zurück auf eine Schrift von 1920, die den Titel trägt Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens. Sie stamme von zwei Gelehrten, einem Mediziner und einem Juristen, beide „bester deutscher Bildungstradition“ (Schmitt 1979, 39). Beide waren liberale Menschen ihrer Zeit, beide von besten, humanen Absichten beseelt. Beide haben in einer geradezu rührenden Weise darüber nachgedacht, wie man einen Mißbrauch ihrer Vorschläge für die Vernichtung lebensunwerten Lebens durch Vorbehalte und Kautelen aller Art verhindern könnte. Es wäre nicht nur ungerecht, sondern niederträchtig den beiden deutschen Gelehrten ex post irgendeine Schuld oder Mitverantwortung für die schreckliche Praxis der Vernichtung lebensunwerten Lebens anzuhängen, die zwanzig Jahre später Wirklichkeit wurde (Schmitt 1979, 39).

Gleichwohl, so Schmitt, kann die Rede von den Werten und vor allem die Bewertung von Menschen durch Menschen eben zu katastrophaler Vernichtung und Missachtung von Leben und Würde führen. Grundsätzlich verwehre eine Verwertung und dadurch auch Ökonomisierung des Lebens und der Menschen ein soziales und würdebedachtes Zusammenleben. Dies sei vor allem deshalb der Fall, weil Werte, und wenn sie auch noch so vehement als objektiv behauptet würden, allein dann bedeutsam seien, wenn sie in Geltung stünden. Da ihnen kein konkretes Dasein eigne, sie vielmehr immer nur dann für jemanden eine bestimmte Bedeutung besäßen, wenn sie als geltend durchgesetzt seien, müsse ihre Geltung „fortwährend aktualisiert“ werden (Schmitt 1979, 33). Geltung müsse stets neu gegenüber anderen Geltungsansprüchen durchgesetzt werden, sodass eine Ausrichtung an Werten beständige Kämpfe um Wert, Unwert und die Höherwertigkeit von Werten und deren konkrete In-Geltung-Setzung hervorriefe. Schmitt fürchtet einen „ewigen Kampf der Werte und der Weltanschauungen“, im Vergleich mit dem der Krieg aller gegen alle idyllisch zu nennen sei (Schmitt 1979, 31). Da Schmitt sehr wohl weiß, dass trotz der Gefahr ihrer möglichen Unmenschlichkeit Werte das politische Zusammenleben bestimmen, verlangt er von Seiten der Legislative einen beschränkenden Umgang mit den Werten. Unmittelbare Wertdominanzen müssten durch gesetzliche Regelungen ausgeschlossen werden. Es sei nötig, dass das Zusammenleben nicht länger Wertkämpfen ausgeliefert sei. Entsprechende Gesetze, die das Zusammenleben verbindlich regeln, hält er für geboten, um „den Terror des unmittelbaren und automatischen Wertvollzugs zu verhindern“ (Schmitt 1979, 40). Als Abwehr gegen solchen Terror rät Schmitt zur

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autoritären und bindenden Gesetzgebung; im Hintergrund steht das hobbessche Diktum: Auctoritas non veritas facit legem.5 Um einem Rechtspositivismus zu entkommen, der in der Jurisdiktion während der Nazidiktatur vorherrschend war, ist nach Ansicht von Schmitt in den Nachkriegsjahren die juristische Bezugnahme auf Werte gleich wie auf naturrechtliche Vorgaben hochgehalten worden (Schmitt 1979, 19). Da jedoch über die Wertigkeit der Werte keine eindeutigen Entscheidungen vorliegen und in politischen Streitfragen ihre Geltung strittig ist, fordert Schmitt verbindlich verfügte, gesetzliche Regelungen, die die herausfordernde Bedeutung der Werte und den Streit um ihre Geltung minimierten oder besser unterbänden. Um Streitigkeiten um die Wertigkeit und Geltung von Werten zu unterbinden, empfiehlt Schmitt dezisionistische Verfügungen qua Autorität (s. dazu Rhonheimer 2000, v. a. 493–496). Doch worauf sollte solche Gesetzgebung gründen? Wird sie der Autorität eines Gesetzgebers überlassen, der sie auf dem Boden seiner Überzeugungen vom Guten und Richtigen in autoritärer Weise entscheidet, ist zwar der Streit um Werte und Weltanschauungen unterbunden, damit jedoch zugleich ein neuer Rechtspositivismus initiiert. Jegliche Verständigung über die unterschiedlichen basalen Überzeugungen, die in einer Gesellschaft vertreten werden und die in eine demokratische Gesetzgebung einfließen sollten, ist dann nicht vorgesehen.6 Diese Überzeugungen stehen allerdings für Eberhard Jüngel im Vordergrund, wenn das Zusammenleben von Menschen menschenfreundlich gelingen soll. 1.2.3

Aus evangelisch-theologischer Perspektive publizierte Eberhard Jüngel unter dem Titel Wertlose Wahrheit ein „Plädoyer“ für den vollkommenen Verzicht „auf den kategorialen Gebrauch des Begriffes Wert“, zumindest im Bereich der Theologie (Jüngel 1979, 51). Auch er weist auf die Gefahr der Verwertung des Menschen hin. Jedoch besteht nach Jüngel diese Gefahr nicht nur im Umgang der Menschen miteinander. Nicht nur machtdominierte Urteile, die das Leben, die Freiheit, die 5 S. hierzu Sontheimer 1985: „Schmitt denkt anders: Er will die Krise, die Machtprobe, die Dezision. Er ist ein Theoretiker des Umbruchs, der Zuspitzung der Verschärfung und Radikalisierung; sein politisches Ziel ist die Entfesselung der Macht aus ihrer liberalen Verstrickung in Normstreitigkeiten, parlamentarisches Palaver, Parteienkompromiß und Verbändepluralismus; sie soll von neuem fähig werden zur unangefochtenen Entscheidung, die keiner Diskussion bedarf. Auctoritas non veritas facit legem – es kommt auf die Macht an, nicht auf das Recht. Dieser Spruch von Thomas Hobbes war ihm und den Seinen teuer“. S. auch Utz 1999, 414. 6 Vgl. zur Kritik an Schmitt auch Zeller 2019, 8: „Den Pluralismus von Werten wie Carl Schmitt der ‚Tyrannei‘ zu bezichtigen, ist [...] ein Zeichen von Demokratiefeindlichkeit und des Wunsches nach einer erzwungenen ideellen Einheit, die sich im ‚starken‘, autoritären oder totalitären Staat zu vollenden hätte“.

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körperliche Unversehrtheit und überhaupt den ganzen Menschen bewerten, womöglich abwerten und geringschätzen, seien als unmenschlich zu verwerfen. Vor allem auch die Selbst-Beurteilung eines Menschen am Maßstab von Werten stehe im beißenden Gegensatz zur christlichen Überzeugung von der Zuwendung Gottes zum Menschen, die gänzlich unabhängig von einer Bewertung des Menschen erfolge. Keinesfalls sei der Mensch von Gott dazu bestimmt oder auch nur fähig, sich, wie es Hartmann annimmt, per Wertekanon selbst zu optimieren. Entsprechend mutet Jüngel die „respektable Diskussion der politischen Parteien“ über Grundwerte und darüber, wie diese zu verwirklichen seien, als „erzkatholisch“ an (Jüngel 1979, 51). Denn das evangelische Gottes- und Menschenverständnis zeichne es aus, dass der Mensch gerade nicht dazu befähigt sei, sich selbst durch eigene Verdienste einen Wert zu verschaffen, der die Realisation der eigenen von Gott vorgegebenen Bestimmung bedingt. Allein Gott vermöge diese Verwirklichung zu wirken, und zwar indem er einen Menschen seiner Gemeinschaft würdige. Solche Würdigung ereignet sich nach Jüngel, wenn sich Gott einem Menschen als die Wahrheit selbst zu erkennen gibt. Die mit Gott identische Wahrheit beschreibt Jüngel als wertlos, weil sie von jeglichen Werten unabhängig und so über alle Werte erhaben sei. Wem diese Wahrheit offenbar geworden sei, der werde in Liebe leben, nämlich in der Liebe, die nach Jüngel aus der Wahrheit kommt. „Nicht Werte leiten das Handeln des Christen, sondern allein die aus der Wahrheit kommende Liebe, die ebenso wenig wie Wahrheit einen Wert hat oder darstellt. Wahrheit und Liebe sind wertlos und jedweder Tyrannei der Werte abhold“ (Jüngel 1979, 68–69). Nach Jüngel sind christliches Leben und Handeln in Wahrheit gegründet und von Liebe motiviert. Da solches Leben und Handeln jedoch nicht verfügbar und aus menschlicher Kraft nicht zu bewerkstelligen ist, bedarf es ordnender Gesetze und bestimmter Regeln, um ein friedliches Zusammenleben zu gestalten. Doch wenn weder Werte das Handeln leiten sollen, noch autoritär vorgegebene Gesetze akzeptiert werden können, wie kann dann das Zusammenleben als sozial-gelingendes geordnet werden und das Tun und Handeln der Einzelnen möglichst sowohl dem Wohl des Individuums als auch dem Gemeinwohl genügen?

2.

Herausforderungen gegenwärtiger Werterankings in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften

Das Handeln eines Menschen kann in drei voneinander unterschiedene Hinsichten untergliedert werden, die allesamt einzeln bewertet werden können, so dass es schwerfällt, ein Werturteil über die Handlung eines Menschen zu fällen. Zum einen gehört zum Handeln das Gut oder Ziel der jeweiligen Handlung, das erreicht

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werden soll.7 Zum Zweiten sind bei der Beschreibung menschlichen Handelns die Weise und die Regeln zu beachten, denen der Handelnde folgt, um ein erstrebtes Ziel zu erreichen. Zum Dritten ist auch die Gesinnung des Handelnden zu berücksichtigen. Es können Tugenden wie Besonnenheit, Tapferkeit oder ein ausgeprägtes Gerechtigkeitsstreben sein, die sein Handeln motivieren.8 Jedes Urteil über Wert oder Unwert menschlichen Handelns kann Wert und Unwert des Handlungsziels, des Handlungswegs und der Handlungsabsicht betreffen. Dabei sind die Entscheidungen über die Wertigkeit bestimmter einzelner Güter und Handlungswege begründet in einer (mehr oder weniger reflektierten) Überzeugung von dem, woraufhin das Leben insgesamt ausgerichtet ist und was den eigenen Lebensvollzug grundlegend bestimmt (religiöse/weltanschauliche Überzeugungen).9 Für ein freiheitliches demokratisches Zusammenleben ist es deshalb meines Erachtens entscheidend, dass nicht einzelne Werte in tyrannischer Weise per Gesetz über das Leben der Einzelnen Verfügungsgewalt haben. Vielmehr sollte die Kommunikation über unterschiedliche Wertvorstellungen auf der Basis differenter Weltanschauungen beständig freigehalten und angeregt werden. Dabei sollte beachtet werden, dass unterschiedliche Wertvorstellungen der Einzelnen wie der Parteien (gleich ob sie dieselben Werte nennen oder nicht) nur dann in ihrer Relativität gesehen werden, wenn sie letztlich auf eine Größe bezogen sind, die über jeden Wert erhaben ist. Per Gesetz verfügte Wertmaßgaben sollten beständig daraufhin überprüft werden, ob sie der freiheitlichen Demokratie dienen. Nur dann, wenn sie die für demokratische Prozesse nötige Freiheit gewähren, können sie selbst

7 Für Michael Kohlhaas ist das erstrebte Ziel seines Handelns die Realisation von Rechtsdurchsetzung und Gerechtigkeit. Am Ende der Erzählung werden ihm die finanziellen und materiellen Verluste, die ihm unrechtmäßig zugefügt wurden, tatsächlich erstattet. Doch geschieht diese Wiedergutmachung an dem Tag, an dem er selbst, gemäß dem geltenden Recht, an das er appelliert hatte, enthauptet wird. „Der Kurfürst rief: ‚nun, Kohlhaas, der Roßhändler, du, dem solchergestalt Genugtuung geworden, mache dich bereit, kaiserlicher Majestät, deren Anwalt hier steht, wegen des Bruchs ihres Landfriedens, deinerseits Genugtuung zu geben!‘ Kohlhaas, indem er seinen Hut abnahm, und auf die Erde warf, sagte: daß er bereit dazu wäre! übergab die Kinder, nachdem er sie noch einmal vom Boden erhoben, und an seine Brust gedrückt hatte, dem Amtmann von Kohlhaasenbrück, und trat, während dieser sie unter stillen Tränen, vom Platz hinwegführte, an den Block“ (Kleist 1993, 102). Gerechtigkeit, so wie er sie versteht, hat Kohlhaas als Ziel seines Handelns vor Augen, und Gerechtigkeit, so wie er sie versteht, erlangt er tatsächlich. 8 Ein Gerechtigkeitsstreben, wie es Michael Kohlhaas antreibt, wird schon zu Beginn der Erzählung von seiner eigenen Frau als übermäßig bewertet. Sie wirft ihm vor, um seiner Gerechtigkeitsliebe willen die Liebe zu ihr und den eigenen Kindern zu entwerten. Und sie fleht ihn an: „Wenn du mich irgend, rief sie, mich und die Kinder, die ich dir geboren habe, in deinem Herzen trägst; wenn wir nicht im voraus schon, um welcher Ursach willen, weiß ich nicht, verstoßen sind: so sage mir, was diese entsetzlichen Anstalten zu bedeuten haben!“ (Kleist 1993, 27). 9 S. dazu schon den Hinweis auf das Parteiprogramm der SPD unter 1.1.

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wieder, und zwar als relative diskutiert werden. Die Freiheit fungiert hierbei nicht als höchster Wert, sondern als Voraussetzung für eine demokratische Wertediskussion, in der bestimmte Vorstellungen oder Sachen (ideelle oder materielle Größen) zeitweilig mit hohem Wert versehen werden. So mag unter anderem und aufgrund besonderer Umstände ein besonderer Schutz von Sicherheit und Gesundheit nötig werden. Wie die Bewertung dieser beiden Werte gegenwärtig das demokratische Zusammenleben herausfordert, soll exemplarisch an zwei Beispielen skizziert werden, die zeigen, dass ohne die Gewähr von Freiheit Werturteile autoritäre Vorgaben sind, die tyrannische Züge annehmen können. 2.1

Sicherheit versus Freiheit

Mit dem Fall „Snowden“ ist seit 2013 die Frage erneut und besonders laut geworden, inwieweit ein freiheitlich-demokratischer Staat die Gedanken, Überzeugungen und Daten überwachen darf, die Bürgerinnen und Bürger miteinander teilen und einander mitteilen, und in welchem Maße er seine Bürgerinnen und Bürger vor der Überwachung unter anderem durch Wirtschaftsunternehmen, soziale Netzwerke und künstlich intelligente Sprachassistentinnen schützen sollte (s. hierzu schon Käfer 2014). 2.1.1

Was die staatliche Überwachung von Bürgerinnen und Bürgern anbelangt, ist nicht nur diese selbst eine Wertentscheidung, einer solchen verdankt sich auch die Wahl der Kriterien, nach denen Informationen gesammelt und gefiltert werden. Hierbei können aufgrund der jeweiligen Kriterien auch völlig unzutreffende Verdächtigungen vorkommen, die zu massiven Eingriffen in das Leben eines angeblich das Gemeinwohl gefährdenden Menschen führen.10 Um zu verhindern, dass sich staatliche Behörden eine Wohlordnungskompetenz für das Zusammenleben in der Gesellschaft anmaßen, die damit zugleich der Gesellschaft selbst abgesprochen wird, ist es sicher von hohem Wert, „Gefahrenabwehr“ nur in streng begrenzten Ausnahmefällen zuzulassen.11

10 Zur Problematik der Datenauswertung s. die Äußerungen von Zeh 2011: „Der Staat [...] kann mir auf [...] sogar unmittelbar körperliche Weise schaden. Er kann mich mittels eines Datensatzes als verdächtig einstufen, oder, noch schlimmer, mich als Vorstufe eines konkreten Verdachtes als ‚Gefährder‘ betrachten – einfach aufgrund meiner Lebensweise, meines Bewegungsprofils, der Bücher, die ich lese usw.“ 11 Vgl. dazu das Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Erster Senat, zur „Vorratsdatenspeicherung“, vom 02.03.2010 (BVerfGE 125, 260), v. a. Rn. 231.

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Mit der Zunahme an Überwachungen und Abhörmaßnahmen kann nicht nur eine höhere Zahl an Verdächtigen prognostiziert werden, sondern auch die Furcht wachsen, verdächtigt zu werden. Dies hält das Bundesverfassungsgericht 2010 in seinem Urteil gegen die Vorratsdatenspeicherung ausdrücklich fest, und warnt vor der mit ihr einhergehenden Freiheitsbeschränkung. Befugnisse dieser Dienste [d.i. der Nachrichtendienste] zur Verwendung der vorsorglich flächendeckend gespeicherten Telekommunikationsverkehrsdaten befördern [...] das Gefühl des unkontrollierbaren Beobachtetwerdens in besonderer Weise und entfalten nachhaltige Einschüchterungseffekte auf die Freiheitswahrnehmung.12

Das Bundesverfassungsgericht legt dar, dass Bürgerinnen und Bürger, die die Überwachung ihrer privaten Daten fürchten müssten, für den sogenannten „Chilling Effect“ anfällig seien und nach dem Wirkungsprinzip des „Panoptismus“ versuchen würden, ihre Verhaltensweisen möglichst unauffällig zu gestalten.13 Es besteht dann wiederum die Gefahr, dass gerade die Kommunikation über Werte, deren Gewichtung je nach religiöser/weltanschaulicher Überzeugung variiert, eingeschränkt wird. 2.1.2

Was die Überwachung der Bürgerinnen und Bürger durch soziale Netzwerke und andere Wirtschaftsunternehmen sowie durch deren künstlich intelligente Sprachassistentinnen anbetrifft, sollte dem Staat daran gelegen sein, die Freiheit zu schützen,

12 Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Erster Senat, zur „Vorratsdatenspeicherung“, Rn. 233. Ähnlich wurde bereits im Volkszählungsurteil von 1983 argumentiert; s. Urteil des Bundesverfassungsgerichts, Erster Senat, zu „Volkszählung, Mikrozensus“, vom 15.12.1983 (BVerfGE 65, 1–71), Rn. 146: „Wer nicht mit hinreichender Sicherheit überschauen kann, welche ihn betreffenden Informationen in bestimmten Bereichen seiner sozialen Umwelt bekannt sind, und wer das Wissen möglicher Kommunikationspartner nicht einigermaßen abzuschätzen vermag, kann in seiner Freiheit wesentlich gehemmt werden, aus eigener Selbstbestimmung zu planen oder zu entscheiden. [...] Dies würde nicht nur die individuellen Entfaltungschancen des Einzelnen beeinträchtigen, sondern auch das Gemeinwohl, weil Selbstbestimmung eine elementare Funktionsbedingung eines auf Handlungsfähigkeit und Mitwirkungsfähigkeit seiner Bürger begründeten freiheitlichen demokratischen Gemeinwesens ist“. 13 Wie weitreichend die Wirkkraft des Panoptismus ist, führt der Philosoph Michel Foucault 1975 in seiner Veröffentlichung Surveiller et punir. La naissance de la prison aus. Er beschreibt das von Jeremy Bentham entwickelte „Panopticon“ und hält im Anschluss daran fest: „Derjenige, welcher der Sichtbarkeit unterworfen ist und dies weiß, übernimmt die Zwangsmittel der Macht und spielt sie gegen sich selber aus; er internalisiert das Machtverhältnis, in welchem er gleichzeitig beide Rollen spielt; er wird zum Prinzip seiner eigenen Unterwerfung“ (Foucault 2014, 260).

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die durch die Vermarktung von persönlichen Daten und Einkaufsvorlieben bedroht ist. Allerdings ist der Umgang mit den genannten Sprachassistenten deshalb besonders problematisch, da Nutzerinnen und Nutzer freiwillig und wissentlich zustimmen, von diesen Apparaten abgehört zu werden.14 Hier stehen sich nicht nur die Werte Sicherheit und Freiheit gegenüber, sondern der Wert der Freiheit kollidiert zudem mit einer gewissen Bequemlichkeit, einem Hang zur Arbeitserleichterung oder auch einer Vorliebe dafür, andere für sich arbeiten zu lassen. Auf diese Weise aber kommt es dazu, dass die Firmen, die gewisse Bequemlichkeiten gewähren, ihre Nutzerinnen und Nutzer für sich arbeiten lassen. Denn diese übermitteln den Firmen persönliche Daten, Meinungen und Vorlieben, so dass die Firmen entsprechende Güter und damit auch Werte zielgerichtet anbieten sowie sensible Daten an Dritte weiterverkaufen können, denen somit ebenfalls möglich ist, den Freiheitsgebrauch der Nutzerinnen und Nutzer zu bestimmen. Dass es in freiheitlich-demokratischen Gesellschaften immer wieder neu nötig ist, in aufgeklärten und freien Austausch über die Gestaltung des Zusammenlebens und die Bewertung von Werten zu treten, das macht in erheblichem Maße die aktuelle Corona-Krise deutlich. 2.2

Gesundheit versus Freiheit

Die gegenwärtige Corona-Krise macht bedrängend deutlich, dass nicht nur menschliche Gewalttaten das Leben von Menschen erheblich gefährden können, sondern auch eine Virus-Pandemie. Zudem offenbart die gegenwärtige Gesundheitsgefährdung, welch hohen und gar unübertreffbaren Wert (die eigene) Gesundheit für Menschen hat.15 Diese Hochschätzung der Gesundheit führt sogar dazu, dass zeitweilig Grundrechte der deutschen Verfassung außer Kraft gesetzt werden.16 Davon sind nicht nur Freiheiten wie Bewegungs- und Versammlungsfreiheit betroffen. Außerdem wird die Gesundheit derart hoch bewertet, dass auch in Deutschland die Überwachung der Bevölkerung zum Zweck der Gesundheitssicherung diskutiert wird.17 Es besteht jedoch die Gefahr, dass die einmal realisierten Möglichkeiten der Überwachung nach und nach in ihrem Umfang und ihrer Einflussnahme ausgeweitet werden könnten.

14 Gigerenzer 2019 beispielsweise bezeichnet solche KI-Sprachassistentinnen als „potentielle Heimspione“. Zu den Gefahren, die KI-Apparate mit sich bringen s. auch Schmalz 2020, v. a. 206f. 15 Vgl. hierzu die Kantar-Studie vom Februar dieses Jahres (d.i. 2020); Gesundheit ist im Februar 2020 als erster Wert im Ranking von Werten ermittelt worden (Kantar 2020). 16 S. dazu Wißmann 2020, s. v. a. den Schlusssatz: „Wir müssen nicht nur unsere Gesundheit, sondern auch unserer Freiheit verteidigen“. 17 S. hierzu die Überwachungs-App des Robert-Koch-Instituts, die mit Fitnessarmband oder Smartwatch verknüpft werden kann (RKI 2020).

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Yet if we are not careful, the epidemic might nevertheless mark an important watershed in the history of surveillance. Not only because it might normalise the deployment of mass surveillance tools in countries that have so far rejected them, but even more so because it signifies a dramatic transition from ‘over the skin’ to ‘under the skin’ surveillance (Harari 2020).

Nach Yuval Noah Harari birgt die Überwachung zu dem Zweck, den hohen und höchsten Wert Gesundheit zu schützen, das Risiko, dass zukünftig mehr und mehr biometrische Daten der Bevölkerung gemessen und bewertet werden könnten, und zwar mit der Absicht manipulativer Einflussnahme. The same technology that identifies coughs could also identify laughs. If corporations and governments start harvesting our biometric data en masse, they can get to know us far better than we know ourselves, and they can then not just predict our feelings but also manipulate our feelings and sell us anything they want — be it a product or a politician. Biometric monitoring would make Cambridge Analytica’s data hacking tactics look like something from the Stone Age (Harari 2020).

Es scheint, als würde derzeit der „Höchstwert Leben“ gegen jegliche Freiheit hier, heute und in Zukunft ausgespielt (Volkmann 2020). Ein solches Werteranking, das aus Angst vor (eigener) Erkrankung befürwortet wird, sollte nicht zur Verabsolutierung des „gesunden Lebens“ führen. Um eine „Gesundheitsdiktatur“ zu vermeiden, ist es nötig, dass die Kommunikation religiöser/weltanschaulicher Überzeugungen uneingeschränkt gewährt ist und betrieben wird, damit auf diesem Boden, politische Standpunkte beständig überdacht, der konkrete Inhalt der jeweils vertretenen Werte immer wieder vollständig dargelegt und die Werte selbst relativiert werden können.18 Alle Bewertung von Werten erfolgt relativ zur Bewertung oder Abwertung anderer vergleichbarer Gegenstände, Handlungen oder Ideen, und sie erfolgt auf dem Boden bestimmter weltanschaulicher Überzeugungen, die den Maßstab für die Bewertung vorgeben. Entsprechend sollten sämtliche Werte auch höchstens relative Bedeutung für den Menschen und das Zusammenleben der Menschen haben; sie sollten gerade nicht den Menschen tyrannisieren, vielmehr seinem Wohlergehen dienen. Damit die Geltungsansprüche von Werten nicht zur Tyrannei und zur Entwertung des Menschen führen, ist eine klare Unterscheidung von Wert und Würde nötig.

18 Gerade die protestantischen Kirchen sollten besonders engagiert für die Freiheit der Überzeugungskommunikation eintreten. S. dazu von Scheliha 2020.

Wider den Ruf nach Werten

2.3

Die wertfreie Würde des Menschen

Die Würde des Menschen ist „unantastbar“ (Art. 1 GG Abs. 1 Satz 1), weil sie so wenig wie Wahrheit und Liebe zur Verfügung steht.19 Vielmehr ist sie nach christlichem Verständnis der Wahrheit und Liebe Gottes verdankt und kann mit dem Geschaffensein des Menschen begründet werden, dessen der Mensch unabhängig von seinem Handeln und Tun durch den treu-liebenden Schöpfer gewürdigt ist (s. dazu Käfer 2018, 79–80). Gott als die wertlose und damit über allen Wert erhabene Wahrheit (s. hierzu auch Leiner 2008, 48) würdigt den Menschen als Geschöpf nicht deshalb, weil dieser sich durch ein bestimmtes Handeln und Tun als wertvoll erwiesen hätte. Vielmehr ist dem Menschen die Würde, Gottes Geschöpf zu sein, vor all seinem eigenen Handeln völlig wertfrei zuteilgeworden. Entsprechend kann sie ihm weder durch eigenes Handeln noch durch das Handeln anderer Geschöpfe genommen noch auch nur geschmälert werden. Seine Würde kann ihm nicht genommen, sie kann jedoch missachtet werden. Dies geschieht immer dann, wenn ein Mensch ausschließlich nach einem Wert beurteilt wird, den er entweder für sich selbst, ein anderes Individuum, eine Gruppe von Menschen oder die gesamte Gesellschaft hat, und er also dementsprechend als bloßes Mittel zu vermeintlich höheren Zwecken benutzt oder gar als lebensunwert beurteilt wird.20 Dass Menschen als lebensunwert beurteilt oder allein ihr Leben, nicht aber ihre Freiheit, für schützenswert gehalten wird, beides gründet in der Annahme, dass der Mensch zu bestimmten Zwecken vorhanden sei. Diesen Zwecken gemäß werden Werte hochgehalten, die in uneingeschränkter Dominanz die Würde des Menschen relativieren. Damit dies nicht geschieht und die der Würde gemäße Freiheit dauerhaft in Geltung bleibt, ist es meines Erachtens nötig, für die uneingeschränkte, überwachungsfreie und reflektiert betriebene Kommunikation religiöser/weltanschaulicher Überzeugungen vom Lebensvollzug, dessen Ziel, Sinn und Grund Sorge zu tragen. Nicht der Ruf nach Werten, sondern die Kommunikation von werteprägenden Überzeugungen tut Not. Aus christlicher Sicht könnte 19 S. zur Wertlosigkeit und damit zur unverfügbaren Absolutheit von Wahrheit die Ausführungen von Jüngel 1979 unter 1.2.c. 20 Zur Unterscheidung von Wert und Würde s. o. unter 1.2.b und v. a. bei Kant 1996, 68 (BA 77): „Im Reiche der Zwecke hat alles entweder einen Preis, oder eine Würde. Was einen Preis hat, an dessen Stelle kann auch etwas anderes, als Äquivalent, gesetzt werden; was dagegen über allen Preis erhaben ist, mithin kein Äquivalent verstattet, das hat eine Würde. Was sich auf die allgemeinen menschlichen Neigungen und Bedürfnisse bezieht, hat einen Marktpreis; das, was, auch ohne ein Bedürfnis vorauszusetzen, einem gewissen Geschmacke, d.i. einem Wohlgefallen am bloßen zwecklosen Spiel unserer Gemütskräfte, gemäß ist, einen Affektionspreis; das aber, was die Bedingung ausmacht, unter der allein etwas Zweck an sich selbst sein kann, hat nicht bloß einen relativen Wert, d.i. einen Preis, sondern einen innern Wert, d.i. Würde.“

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dabei deutlich werden, dass das eigene Geschaffensein weitaus mehr verlangt als die Achtung von Gesundheit und dass die Liebe, die der Schöpfer den menschlichen Geschöpfen weitergibt, in der Relativierung von Werten zum Ausdruck kommt, seien diese auch Gesundheit oder Gerechtigkeit.

Ausgang „Ungern befände man sich in einigen Wochen in einem Gemeinwesen wieder, das sich von einem demokratischen Rechtsstaat in kürzester Frist in einen faschistoidhysterischen Hygienestaat verwandelt hat“ (Heinig 2020). Ein solches Gemeinwesen hat Juli Zeh bereits 2009 in ihrem Roman Corpus delicti beschrieben. In diesem Gemeinwesen regiert die „Methode“, die mit autoritären Mitteln ein totalitäres Gesundheitssystem durchsetzt. Gefragt, wie es sein könne, dass solch eine Gesundheitsdiktatur von den Menschen des Gemeinwesens geduldet werde, antwortet Juli Zeh: Weil sie glauben, Gesundheit sei das höchste Gut, zu dessen Erhalt absolut jedes Mittel recht sein müsse. Weil ihr Sicherheitsbedürfnis so hoch ist, dass ihnen Freiheit als gefährliche Ausschweifung erscheint. Mit anderen Worten: Weil sie Angst haben. Nicht vor Infektionen allein, sondern vor der existenziellen Unkontrollierbarkeit des Lebens (Zeh 2020).

Anders als Michael Kohlhaas, der seinen Staat bei dessen Rechtsprechung behaftet um des Wertes der Gerechtigkeit willen, widersetzt sich Mia Holl, die Protagonistin in Corpus delicti, dem Staat, weil sie dessen Gewaltherrschaft und die Tyrannei der Gesundheit nicht duldet. Sie vollzieht ihren Widerstand nicht mit Waffengewalt, sondern indem sie der Gesellschaft ihr Vertrauen entzieht: Ich entziehe einer Gesellschaft das Vertrauen, die aus Menschen besteht und trotzdem auf der Angst vor dem Menschlichen gründet. [...] Ich entziehe einem Volk das Vertrauen, das glaubt, totale Durchleuchtung schade nur dem, der etwas zu verbergen hat. [...] Ich entziehe einem Staat das Vertrauen, der besser weiß, was gut für mich ist, als ich selbst. Ich entziehe jenem Idioten das Vertrauen, der das Schild am Eingang unserer Welt abmontiert hat, auf dem stand: ‚Vorsicht! Leben kann zum Tode führen‘ (Zeh 2010, 186–187).

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Ethik der Nähe – Ethik der Ferne Leitlinien für eine Ethik internationaler Beziehungen

1. Auch wenn Christinnen und Christen mit ihrem Handeln zunächst nicht auf die Veränderung der sie umgebenden Lebenswelt zielten, sondern mit ihm die Wirklichkeit Gottes zum Ausdruck und zur Darstellung bringen wollten, auch wenn im Zentrum des christlichen Ethos der Gottesdienst steht (vgl. Wolter 2018): Das Christentum gewinnt seine Anziehungskraft vor allem als soziale Praxis. Als eine solche ist das Christentum dann immer auch politisch – und gerade darum hat es auch stets nicht nur den Argwohn auf sich gezogen, sondern auch das Interesse derer, die politische Verantwortung tragen. Sie versuchten entweder, die Impulse der christlichen Botschaft für ein Zusammenleben in Frieden und Gerechtigkeit zu neutralisieren oder gar zu eliminieren, oder aber sie für die eigenen Ideale und Zielsetzungen fruchtbar zu machen oder auch zu instrumentalisieren. Je intensiver sich das Christentum und das Gemeinwesen verflochten, desto stärker musste es hier zu Spannungen kommen. Spätestens seit seinem Aufstieg zur Staatsreligion gab es dabei nicht nur Spannungen zwischen dem Christentum und der „Welt“, sondern innerhalb des Christentums selbst. Ernst Troeltsch hat diese Spannung bekanntlich zum Strukturprinzip seiner breit angelegten Darstellung der christlichen Soziallehren (Troeltsch 1912) gemacht, und es spricht vieles dafür, dass diese Spannungen auch heute noch im Hintergrund zahlreicher Kontroversen der politischen Ethik im Christentum stehen. Der Grund für diese Spannungen resultiert vor allem daraus, dass die christliche Ethik, wie sie sich in den Schriften des Neuen Testaments niedergeschlagen hat, den konkreten Nächsten vor Augen hat, wohingegen die Sphäre des Politischen auf den generalisierten Anderen gerichtet ist (vgl. Fischer 2019). Während die biblische Forderung nach Zuwendung und Fürsorge sich auf einen Menschen als Person richtet – und zwar unabhängig von seinen konkreten Eigenschaften wie Volkszugehörigkeit, Religion, Geschlecht oder politischer Orientierung, vor allem aber unabhängig von den Konsequenzen für das Gemeinwesen. Es geht primär um die Darstellung des Reiches Gottes, nicht um die Umgestaltung der Welt. Gerechtigkeit ist hier dementsprechend weniger durch die horizontale Verteilung von Gütern gekennzeichnet, sondern vertikal, vom Ausstrahlen der austeilenden Gerechtigkeit Gottes her bestimmt. Dagegen muss sich das Politische auf den Bürger bzw. für

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das vormoderne Christentum nicht anachronistisch gesprochen: auf den Untertan in genere richten; das Ansehen der Person, das wird am Beispiel der Justiz besonders deutlich, darf gerade keine ausschlaggebende Bedeutung für seinen Status gegenüber dem Recht oder auch der Politik haben. Es geht um das Abschätzen und das Abwägen von Konsequenzen, um zuteilende und ausgleichende Gerechtigkeit sowie um die Domestizierung von religiös induzierten Konflikten. Aus der Perspektive der theologischen Ethik ist es daher von entscheidender Bedeutung, zwischen dem unbedingten Impuls, dem Einzelnen als dem konkreten Nächsten zu helfen und dem politisch vermittelten Berücksichtigen des generalisierten Anderen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bedeutet nicht, jegliche Überschneidung zwischen den beiden Bereichen zu negieren. Vielmehr gehört es zu den gewachsenen Traditionen des Christentums, dass es einen breiten Überlappungsbereich zwischen der Ausrichtung am konkreten Nächsten und am generalisierten Anderen geben soll: Weder darf das Politische das Handeln am Nächsten ignorieren oder gar unmöglich machen, noch darf es, ausgerichtet am generalisierten Nächsten, zu Entscheidungen gelangen, die den Einzelnen über Gebühr belasten. Umgekehrt aber gilt auch, dass die Zuwendung zum konkreten Nächsten nicht außer Acht lassen darf, dass dieses Sichhinwenden möglicherweise in Widerspruch zu den Interessen und Bedürfnissen des generalisierten Anderen geraten kann. Wird dies nicht beachtet, ist nicht nur eine Moralisierung der Politik unvermeidlich, sondern auch die Sakralisierung der Moral und, verbunden mit dem Machtaspekt politischer Herrschaft, zudem die Verbindung von Gewalt und Moral.

2. Der Leitbegriff der Gerechtigkeit ist, gerade in seinem Grenzgängertum zwischen dem Politischen und dem Religiösen, in besonderer Weise anfällig für die eben geschilderte Problematik. Wenn gegen die Gerechtigkeit verstoßen wird, dann sorgt das nicht nur für Bekümmerung, sondern auch für Empörung. Eben darum birgt das Thema Gerechtigkeit auch ein enormes Mobilisierungspotenzial. Der Gerechtigkeit zum Durchbruch zu verhelfen, sehen gerade Christinnen und Christen, und bei Weitem nicht nur sie, als ihre vornehmste politische Verpflichtung an. Allein, was Gerechtigkeit genauer beinhaltet und wie Gerechtigkeit zusammengesetzt sein soll, wenn sie sich eben nicht auf einen konkreten Fall, sondern auf ein Geflecht von verschiedenen Situationen, Interessen und Handlungsoptionen bezieht, das hat noch niemals eine befriedigende Antwort finden können. Sobald versucht wird, den Gerechtigkeitsbegriff konkreter zu fassen und ihn vor allem an mehrdimensionale Problemlagen heranzuführen, wachsen die Uneindeutigkeiten, nehmen vor allem auch die Spannungen und Konfliktlagen, die dem Konzept innewohnen, zu.

Ethik der Nähe – Ethik der Ferne

Angesichts dieser Komplexität ist es kaum verwunderlich, dass das Gerechtigkeitsthema immer wieder religiöse Konnotationen auf sich gezogen hat – nicht zuletzt in der reformatorischen Ausdeutung der paulinischen Rede von der Gerechtigkeit Gottes, die unabhängig von allen irdischen Maßstäben, unabhängig von allen Abwägungen jedem Einzelnen gewährt wird, sofern er an das Versöhnungswerk Christi glaubt. Selbst der wohl prominenteste Entwurf der jüngeren Vergangenheit, John Rawls’ A Theory of Justice, nimmt trotz aller Beteuerungen, es handele sich um eine politische, nicht um eine metaphysische Theorie, doch Anleihen an der religiösen Semantik, wenn er den Urzustand als regulatives Gedankenexperiment einführt. In ähnlicher Weise ließe sich auch Martha Nussbaums Capability-Ansatz als eine Anleihe an religiösen Vorstellungen deuten, dann nämlich, wenn man die Grundbedürfnisse als Ausdruck der ursprünglichen, nicht positionell und interessengeleitet überformten Bedürfnisse des Menschen versteht. Dies vor Augen haltend, bedeutete es eine wichtige, aber auch eine folgenreiche Weichenstellung der neueren evangelischen Friedensethik, den Gerechtigkeitsbegriff nicht mehr mit dem Begriff des ‚Krieges‘, sondern mit dem des ‚Friedens‘ zu verbinden und so ‚Gerechtigkeit‘ und ‚Frieden‘ in ein gegenseitiges Auslegungsverhältnis zu bringen. An dieser Umarbeitung ist außerdem besonders, dass hier der Gerechtigkeitsbegriff mit einer Zielperspektive des Evangeliums verbunden wurde, und nicht allein mit einem Handeln auf der Grundlage des Gesetzes. Dementsprechend heißt es in der Friedensdenkschrift von 2007: „Friede erschöpft sich nicht in der Abwesenheit von Gewalt, sondern hat ein Zusammenleben in Gerechtigkeit zum Ziel“ (EKD 2007, 54). Wenn dann dieses Zusammenleben in Gerechtigkeit durch die vier Leitprinzipien „Schutz vor Gewalt“, „Förderung von Freiheit“, „Abbau von Not“ und „Anerkennung kultureller Verschiedenheit“ näher ausbuchstabiert wird (EKD 2007, 54–56), zeigen sich jedoch die Schwierigkeiten und Gefahren des Gerechtigkeitsbegriffs in detaillierter Art und Weise: Sie gründen in der Unschärfe des Begriffs, die sich nur dann überwinden lässt, wenn im Hintergrund eine gemeinsame Vorstellung des Guten steht. Denn nur dann lassen sich die inhärenten Spannungen im Gerechtigkeitsbegriff, nur dann lassen sich auch die Spannungen, die zwischen den vier Interpretationsgrundsätzen unverkennbar sind, in ein harmonisches – friedliches – Miteinander bringen. Nun aber ist es in aller Regel so, dass es gerade die Spannungen zwischen den verschiedenen Dimensionen sind, die den Ausgangspunkt für Konflikte bilden. Soll Freiheit, um nur ein Beispiel herauszugreifen, nach dem Muster liberal-westlicher, individueller Vorstellungen oder eher tribalistisch-kommunitär verstanden werden? Oder, um ein zweites Beispiel zu nennen, das sich hier direkt anschließt: Wie weit geht die Anerkennung kultureller Verschiedenheit? Erstreckt sie sich auch auf nicht-egalitäre Bürgerschaftsverhältnisse etwa im Blick auf Männer und Frauen, auf die Zugehörigkeit zu bestimmten Völkern oder Volksgruppen oder auf sexuelle Orientierungen? Oder sollen diese Anerkennungen ihre Grenze an der

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Freiheit finden – die ja aber doch selbst ein umstrittenes Modell darstellt? Schließlich bleibt auch unklar, wie genau die Abwesenheit von Gewalt zu interpretieren ist: Ist hier nur körperliche Gewalt im Fokus, oder auch etwa psychische oder kulturelle Gewaltausübung? Nur wenn man im Hintergrund eine bestimmte Vorstellung von den Leitprinzipien und dem Zusammenhang der einzelnen Dimensionen mitklingen lassen kann, ist eine operationalisierbare Gewichtung und Ausdeutung der einzelnen Dimensionen möglich. Die friedensethischen Konzepte, die in unserem, gerade eben auch im evangelischen Kontext vertreten werden, scheinen dabei mit einem gemäßigten westlich-aufklärerischen christlichen Ethnozentrismus zu operieren, der den Verhältnisbestimmungen folgt, wie sie sich in den deutschen friedensethischen Lernprozessen des 20. Jahrhunderts ergeben haben. Dessen universalisierende Tendenz stellt einen gewissen ethischen Imperialismus dar, der allerdings durch eine menschenrechtsorientierte, aufgeklärt-christliche Argumentation verschleiert ist. Wohlgemerkt: Die in den evangelischen friedensethischen Konzepten eingenommene Perspektive ist in meinen Augen als Angehöriger desselben Kulturkreises und derselben Prägung durchaus unterstützenswert, allerdings sollte man sich der Partikularität der eigenen Position und dem daraus möglicherweise resultierenden Konfliktpotenzial deutlich bewusst sein. Dieses Konfliktpotenzial wird umso größer, je absoluter und unverhandelbarer man die eigene Interpretation von ‚Gerechtigkeit‘ und damit auch des ‚Friedens‘ ansetzt. Im Gefolge einer bestimmten, lutherischen Staatsmetaphysik, die im Staat und seinem Handeln letztlich die ordnende, objektive und unparteiische Hand Gottes am Werk sah, tendiert die deutsche Tradition gerade im Kontext der Kirchen dazu, ihre Auslegung des Menschenrechtsdenkens in den Theorierahmen Hegels als „objektiven Geist“ zu profilieren und sich dabei selbst als Garantin des „absoluten Geistes“ zu präsentieren. Dass hinter all diesen Fragen keine theoretischen Debatten, sondern reale Konflikte stehen, zeigt sich, wenn man sich die Genese der Formel „Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung“ ansieht. Denn hier waren es die Kirchen des globalen Südens, die darauf beharrten, dass es keinen Frieden ohne Gerechtigkeit geben könne, eine Gerechtigkeit selbstverständlich, die nicht so umfassend gedacht war, wie das in der Friedensdenkschrift von 2007 formuliert wurde, sondern einen Austausch zwischen Nord und Süd, aber vor allem auf einen innerstaatlichen Ausgleich zwischen der reichen Oberschicht und den Verarmten zielte. Theologie der Revolution war das Konzept, das in diesem Kontext populär wurde und keineswegs bruchlos mit der Friedensorientierung der Nordkirchen kompatibel war. Dass sich die Nordkirchen schließlich durchsetzten und es in Vancouver 1983 im Rahmen des konziliaren Prozesses zum Aufruf für Frieden und Gerechtigkeit sowie der Bewahrung der Schöpfung kam, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass auch innerhalb der Kirchen massive Spannungen existieren. Verzeitlichungen und metaphorische Verunklarungen sollen über diese Frage hinwegtäuschen, sie können

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aber die zugrundeliegende Problematik nicht überdecken: Es gibt ökumenisch – und natürlich erst recht politisch – keinen Konsens über die Frage, was Gerechtigkeit darstellen soll und vor allem auch keinen Konsens darüber, wie Frieden und Gerechtigkeit zueinander ins Verhältnis gesetzt werden könnten. Charakteristisch sind zwei Formulierungen aus der Vollversammlung des Ökumenischen Rats der Kirchen in Busan (Korea) aus dem Jahr 2013. Hier heißt es aufschlussreich: Im Bewusstsein der Grenzen von Sprache und Verstehen schlagen wir vor, gerechten Frieden als einen kollektiven und dynamischen, doch zugleich fest verankerten Prozess zu verstehen, der darauf ausgerichtet ist, dass Menschen frei von Angst und Not leben können, dass sie Feindschaft, Diskriminierung und Unterdrückung überwinden und die Voraussetzungen schaffen können für gerechte Beziehungen, die den Erfahrungen der am stärksten Gefährdeten Vorrang einräumen und die Integrität der Schöpfung achten (Raiser und Schmitthenner 2013, 9).

Und fast noch deutlicher wird in einem anderen Dokument formuliert: Die Einheit der Kirche, die Einheit der menschlichen Gemeinschaft und die Einheit der ganzen Schöpfung sind miteinander verwoben. Christus, der uns eins macht, ruft uns auf, in Gerechtigkeit und Frieden zu leben, und spornt uns an, gemeinsam für Gerechtigkeit und Frieden in Gottes Welt einzutreten (ÖRK 2013).

Wenn man dann den Pilgerweg der Gerechtigkeit und des Friedens ausruft wird deutlich, dass es sich hier um offene Fragen handelt, die zunächst einmal prozessualisiert werden müssen. Aufschlussreich sind die sodann ins Auge gefassten Zielsetzungen: Der Pilgerweg soll sich konzentrieren auf „lebensbejahendes Wirtschaften, Klimawandel, gewaltfreie Schaffung von Frieden und Versöhnung, Menschenwürde“. Dabei ist offensichtlich: Diese Abfolge ist gegenüber derjenigen, die in unserem Kontext in der Regel bevorzugt würde, genau umgekehrt. Wenn hier aber eine Reflexion über die Differenz zwischen der Sphäre des Absoluten und der Sphäre des Politischen unterbleibt, dann kommt es fast unweigerlich zu dem Paradox, dass man meint, die eigenen Prinzipien auch unter Ausübung von Gewalt durchsetzen zu dürfen oder gar durchsetzen zu müssen. Das Ergebnis dieser Position ist, dass Gerechtigkeit in Kontrast zum Frieden geraten kann. Das gilt in gleichem Maße im Hinblick auf Bürgerkriege, mit denen inner- und auch interstaatliche Gerechtigkeit erreicht werden sollen, aber auch für Interventionskriege, in denen es um die Durchsetzung der Menschenrechte als Inbegriff politischer Gerechtigkeit geht. Die Interventionen in den Bürgerkriegsländern sind dafür ein gutes – nein besser und sachgerechter: ein warnendes Beispiel. Denn

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selbst wenn diese zum Schutz der Opfer erfolgen sollen, ist doch unverkennbar, dass sie selbst Opfer hervorrufen. Oder, noch präziser formuliert: Wir wurden und werden immer wieder Zeugen eines Prozesses, bei dem mit Verweis auf den Schutz der Menschenrechte erst die staatlichen Strukturen zerstört werden, die für die Befriedigung von Schutzinteressen notwendig sind. Das allein ist noch kein Grund, Interventionen grundsätzlich zu unterlassen. Es sollte aber ein Grund sein, darüber nachzudenken, ob die Kategorik der eigenen Forderungen, gerade auch die moralische Klarheit, mit der in der Regel gefordert wird, sich Menschenrechtsverletzungen entgegenzustellen, sich wirklich in letzter Konsequenz durchhalten lässt. Diese Schwierigkeit lässt sich auch noch einmal in der Unterscheidung des konkreten Nächsten und des generalisierten Anderen neu formulieren: Es kommt leicht zu einer Situation, in der der auf der Grundlage eigener Wertüberzeugungen und -hierarchien, aber auch auf der Grundlage visuell erzeugter Unmittelbarkeit präsente konkrete Nächste den Vorzug vor dem generalisierten Anderen erhält. An ihm muss sich das Handeln ausrichten, alle Relativierungen sind unzulässig. Aufgabe des Politischen muss es aber sein, sich an dem generalisierten Anderen zu orientieren und damit – gewissermaßen in einer Art ethischem Multilateralismus – zu überlegen, welche Einschränkungen auch der individuellen Rechte sowie der individuellen Hilfsbedürftigkeit hingenommen, ja ertragen werden müssen. Es ist an dieser Stelle wichtig, darauf hinzuweisen, dass es entgegen einem ersten Augenschein zu den großen Vorzügen demokratisch-repräsentativer Systeme gehört, gerade für den Einsatz eigener Soldaten in solchen diffusen politischen Situationen hohe Hürden aufzubauen. Denn, um das Leben eigener Soldatinnen und Soldaten zu riskieren, bedarf es sehr klarer Argumente und vor allem auch lückenloser Legitimationsketten – die nicht nur die autorisierenden Instanzen, sondern auch die zu erreichenden Ziele umfassen müssen. Die Kehrseite dieser Zurückhaltung besteht allerdings darin, dass solche Staaten immer wieder dazu verdammt sind, dem Unheil ins Auge sehen zu müssen, ohne doch etwas zur Überwindung des Unheils tun zu können. Und auf der anderen Seite werden sich solche Legitimationen nur finden lassen, wenn sie Zielen verpflichtet sind, die sich auch mit den Interessen der eigenen Bevölkerung in Einklang bringen lassen. Diese Schwierigkeit gilt im Übrigen in ihren Grundsätzen auch für zivile, der Friedenssicherung verbindliche Maßnahmen in Spannungsgebieten, sobald es sich nämlich um Einsätze handelt, bei denen Mitarbeitende verpflichtet werden und nicht nur aus eigener, freiwilliger Motivation heraus handeln.

Ethik der Nähe – Ethik der Ferne

3. In der jüngsten Zeit hat sich im Blick auf eine internationale Ethik das Problem des Umgangs mit autoritären Staaten, die sich nicht dem als fremdbestimmend empfundenen Diktat des internationalen Rechts, insbesondere nicht dem vermeintlichen Diktat einer in ihrer Sichtweise als westlich-individualistisch empfundenen Interpretation der Menschenrechte unterwerfen wollen, herauskristallisiert. Diese Problemlage verbindet sich mit der Frage, ob sich eine Ordnung des Multilateralismus aufrecht erhalten lässt, wenn es keine Instanz gibt, die über die Einhaltung dieser Ordnung so zu wachen in der Lage ist, dass sie Verstöße in letzter Konsequenz auch unter Ausübung von Gewalt zu ahnden bereit ist – und zwar im Sinne einer internationalen Rechtsordnung unter dem Mandat der Vereinten Nationen und Ausübung eines Gewaltmonopols. Beide Problemlagen leiten dazu an, das Gerechtigkeitskonzept der Friedensethik vorrangig als innerweltliche Gerechtigkeit zu konzipieren und dabei zugleich Abstand zu nehmen von einem Modell internationaler Beziehungen, die diese nach dem Vorbild einer rechtsbasierten „Weltinnenpolitik“ (Carl Friedrich v. Weizsäcker) (vgl. Bartosch 2017) modelliert. Stattdessen erscheint es weiterführender und angemessener, ‚Tauschgerechtigkeit‘ als Grundlage für internationale Beziehungen zu wählen. Vorbild dafür könnten die Prozesse sein, durch die die friedensethische Debatte in der Zeit der Ost-West-Konfrontation geprägt worden war: Im Rahmen des KSZE-Prozesses gelang es, Territoriale Integrität gegen die Anerkennung von Menschenrechten zu tauschen. Die Schlussakte von Helsinki stellte 1975 einen Meilenstein in der europäischen Friedensgeschichte dar. ‚Tauschgerechtigkeit‘ basierte hierbei auf einer Koalition der Interessen, nicht unbedingt auf Koalitionen geteilter Werte oder Rechtsinterpretationen.

4. Blickt man von den vorangegangenen Gedankenkreisen nun noch einmal auf die Methodik der Ethik im Horizont des Öffentlichen Protestantismus, dann zeigt sich, wie wichtig es ist, dass sich die drei aus der Dreigliedrigkeit des christlichen Glaubens und des christlichen Gottesgedankens ergebenden Perspektiven gegenseitig korrigieren und in der Balance halten. Zuvörderst gilt dies für den Respekt für die aus dem Schöpfungsglauben abgeleitete Weltlichkeit der Welt. Politische Urteilsbildung in evangelischer Perspektive muss sich stets vergewissern, nicht einer Sakralisierung einzelner Handlungsweisen und Perspektiven bewusst oder unbewusst das Wort zu reden. Zugleich bedeutet der Respekt vor der Weltlichkeit der Welt auch, sich auf die Bedingungen und Strukturen des irdischen Zusammenlebens einzustellen und einzulassen – ohne sich ihnen jedoch vollkommen auszuliefern.

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Denn der ethische Sinn von Versöhnung und Erlösung, Freiheit in der Gemeinschaft und die Zukunftsorientierung menschlichen Lebens stellen die Widerlager gegen eine Perspektive dar, die das Politische absolut setzt und die transformative Kraft des Evangeliums negiert. Daher muss eine evangelische Besinnung auf die Friedensethik stets von dem Bemühen getragen sein, zu einer Veränderung der herrschenden Verhältnisse und damit zu einer Überwindung von Gewalt und Krieg beizutragen. Die Vorordnung des Evangeliums vor das Gesetz und des Friedens vor den Krieg entsprechen der Überzeugung des evangelischen Christentums. Allerdings darf dabei ebenso wenig unter der Hand das Evangelium zum Gesetz werden wie die Abhängigkeiten und Strukturen dieser Welt einfach ausgeblendet werden können. Christliche Lebensführung vollzieht sich in der Auseinandersetzung mit der Welt, die als geschaffene und versöhnte Welt eine besondere Dignität besitzt, ohne dabei aber die von der Erlösung ausgehende Relativierung alles Irdischen zu negieren.

5. Im Blick auf die internationalen Beziehungen leitet das zuvor Erläuterte mit Nachdruck dazu an, zwischen einer Sphäre des Politischen und einer Sphäre des Religiösen zu unterscheiden und dabei zugleich die Eckdaten einer Ethik der Ferne mitzudenken. Gerade dies, eine Ethik der Ferne und damit eben nicht des Nächsten zu konzipieren, danach zu fragen, was unter politischen Bedingungen notwendig und vor allem auch realistisch ist, ohne letztlich in einen moralischen Imperialismus zu verfallen, der keine Individualität und Pluralität zulässt, scheint mir die entscheidende Herausforderung der Gegenwart zu sein. Nach wie vor wegweisend in diesem Zusammenhang ist offenbar Karl Barths Unterscheidung zwischen den Nahen und den Fernen, die sich durchaus mit der Abgrenzung zwischen dem konkreten Nächsten und dem generalisierten Anderen verbinden lässt. Barth geht in KD III/4 der Frage nach, ob es über die Beziehung zwischen Mann und Frau hinaus noch andere starke Bindungen gibt. Dabei unterscheidet er zunächst die „ihm von Natur, in und mit dem Faktum seiner Existenz […] Nahen, die ihm in ihrer ganzen menschlichen Art nach Bekannten und Vertrauten“ von den anderen, nämlich natürlich-geschichtlich anders begründete[n] Menschenzusammenhänge[n], denen er nicht angehört und verpflichtet ist, und die nun doch einzeln und ihr ihrer Gesamtheit den äußersten Kreis bilden, von dem mit seinem eigenen Volk auch er umschlossen ist, mit dem also mindestens indirekt, aber vielleicht auch sehr direkt auch er in einer Beziehung steht (Barth 1951, 321).

Ethik der Nähe – Ethik der Ferne

Diese Unterscheidung führt auf der einen Seite zu einer Identitätsbildung, auf der anderen Seite aber auch zu einer Abgrenzung, die nur als relative Abgrenzung in den Blick kommt. Noch einmal im Originaltext: Indem er Glied seines Volkes ist, ist er gemessen, mißt er sich auch unwillkürlich selbst an den menschlichen Eigentümlichkeiten, die ihm dort entgegentreten, und mißt er jene an denen, die ihm als die seines Volkes mehr oder weniger bewußt und vertraut sind. So anders, soweit weg von ihm sind jene, die da drüben, nun auch wieder nicht, daß sie ihn nichts angingen, daß er nicht – und wäre es auch nur in Form von stillschweigender Selbstbehauptung und Abwehr, vielleicht aber doch auch in Form eines positiven Interesses und Austauschs – auch von ihnen berührt und mit ihnen beschäftigt wäre (Barth 1951, 323).

Der Gewinn, den Barth aus dieser Abschichtung ziehen kann, ist klar: er kann hier zu einer ganz eigenen Form der Unterscheidung der zwei Reiche gelangen. Was das bedeutet und wie das funktioniert, zeigt sich, wenn man die Argumentation Barths weiterverfolgt. Das bislang Ausgeführte bezieht sich nämlich, so Barth, auf die Relationen der „unteren Ebene“, also auf den Bereich menschlicher Beziehungen. Auf der „oberen Ebene“ (das sind Barths eigene Worte) gilt: Gottes Gebot meint den Menschen sowohl in seiner Eigenschaft als Glied seines Volkes als auch als einen, der Glied des noch größeren Menschenvolks ist. In der konkreten Durchführung wird das dann so weiter ausgeführt, dass sich der Mensch dessen bewusst sein muss, dass er sich immer zunächst in seinem eigenen Kulturkreis bewegt, in dem er etwa durch die eigene und darin auch gemeinsame Sprache von Gott angesprochen wird, dass ihm das aber immer in einer Transparenz für die eigene Mitgliedschaft am Volk Gottes bewusst werden soll. Auf diese Weise kann Barth eine engere Bindung an Geschichte, Raum, Volk und Sprache mit einer Weite im Blick auf die Menschheit kombinieren. Dabei gilt: Unbeschadet jener primären Bindung an die eigene Kultur ist das Wort Gottes im Blick auf die Nahen und die Fernen kein anderes. Dessen grundlegende Bestimmungen gelten in derselben Weise für alle, schon deswegen, weil die Grenzen zwischen den Nahen und Fernen umkehrbar und fließend sind: Das Nahe ist aus einer anderen Perspektive das Ferne, und gleichzeitig handelt es sich immer um nicht scharf abgegrenzte, sondern um sich vielfältig überschneidende Übergänge. Ich möchte diese Unterscheidungen Barths aufnehmen und sie in einer bestimmten Perspektive weiterführen: Es ist legitim, die politische Ordnung stärker an den Nahen als an den Fernen auszurichten, wenn man dabei nicht vergisst, dass es auch den Fernen gegenüber entsprechende Verpflichtungen gibt. Eine solche Unterscheidung ist dabei auch gleichbedeutend mit einer Zurückweisung der Herrschaft der Moral in der Politik, insbesondere wenn diese Moral sich

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selbst als Äquivalent zum Gedanken des gebietenden Gottes versteht oder von der Religion als ein solches Äquivalent profiliert wird. Charles Taylor hat sich im Rahmen seiner groß angelegten Abhandlung Ein säkulares Zeitalter umfassend mit dem Zusammenhang von Religion und Gewalt auseinandergesetzt und dabei auf das hier geschilderte Paradox hingewiesen: Je deutlicher, je unbedingter die moralische Forderung wird, je stärker sie auch mit einem umfassenden, die Einzelperspektiven transzendierenden Guten begründet wird, umso stärker ist die Gefahr, dass die Orientierung an diesem Guten selbst umschlägt in Akte der „heiligen Tötung“, wie Taylor hier formuliert: Wir kämpfen gegen Ungerechtigkeiten, die zum Himmel stinken und Vergeltung verlangen. Was uns motiviert, ist flammende Empörung über diese Phänomene […]. Diese Empörung wird durch den Haß auf jene geschürt, die solche Ungerechtigkeiten stützen und ihnen Vorschub leisten, und sie zehrt wiederum von unserem Überlegenheitsgefühl, also dem Empfinden, daß wir nicht so sind wie diese Werkzeuge und Komplizen des Bösen. Schon bald sind wir blind für die Zerstörung, die wir um uns herum anrichten. Unser Weltbild hat alles Böse außerhalb angesiedelt, so daß wir in Sicherheit sind (Taylor 2009, 1157).

Gerade wenn es um Gerechtigkeit geht, besteht stets die Gefahr, dass es zu einer metaphysischen Überhöhung der eigenen Position kommt, zu einem Rigorismus, der sicherlich das Gute möchte, dabei aber die Verwerfungen und das konfliktgenerierende Potenzial des eigenen Handelns übersieht. Führt man sich dies vor Augen, so besteht die Aufgabe der theologischen Ethik – wie eingangs bereits angedeutet – darin, dem eben bereits angesprochenen metaphysischen Überschuss des Gerechtigkeitskonzepts entgegenzutreten. Ihr spezifischer Beitrag zur politischen Debatte und damit auch zur politischen Ethik besteht darin, den Raum des Politischen zu säkularisieren und – wo die Sprache der Moral mit einem letztlich sakralen Universalitätsanspruch auftritt, dem Anspruch nämlich, dass etwas ohne Einschränkungen nur deswegen zu tun ist, weil es von der Moral her geboten ist – auch zur Säkularisierung der Moral beizutragen. Eine solche Säkularisierung ist gleichbedeutend mit einer Politisierung von Konflikten; wir werden nicht umhinkommen, im Einzelfall Nutzen und Schaden in einer Güterabwägung nebeneinanderzustellen und dabei immer auch mit dem Problem leben müssen, dass es unvermeidbar ist, den im Moralischen unverrechenbaren Wert von Menschen einem politischen Kalkül anheimzustellen. Zu diesem Kalkül kann es dann auch gehören, sich auf das Nicht-Ausbreiten von Konflikten nach außen zu konzentrieren und die Binnenstrukturen eines Landes unangetastet zu lassen – bei aller Anfechtung, die das mit sich bringt. Wir werden uns damit abfinden müssen, dass Ungerechtigkeiten bleiben, auch wenn wir uns um ihre Überwindung bemühen.

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Die Aufgabe einer christlichen Ethik geht jedoch in dieser Säkularisierung nicht auf, sondern sie besteht zudem darin, die Botschaft von der Versöhnung weiterzugeben. Diese Botschaft bedeutet aber gerade nicht, davon auszugehen, dass die Versöhnungsbotschaft alle unterschiedlichen Sichtweisen und Vorstellungen nivelliert. Sie lässt die Unterschiede bestehen und erwartet gerade nicht, dass aus der Vielzahl unterschiedlicher Perspektiven und Interessen eine homogene Gemeinschaft wird. Denn jede Homogenisierung erzeugt ihrerseits die Konflikte, von denen bereits ausführlich die Rede war. Die Stärke gerade der lutherischen Position bestand und besteht darin, die tiefe Ambivalenz der Welt, auch der christlichen Kirche festzuhalten. In einem öffentlich-protestantischen Sinne die Versöhnungsbotschaft in den Raum des Politischen zu übertragen, heißt daher, für eine ethische Pluralität, für das Nebeneinander unterschiedlicher Sichtweisen einzutreten – und darauf zu vertrauen, dass der Abgleich dieser unterschiedlichen Perspektiven im Eschaton erfolgen wird. Es ist richtig – und gleichzeitig schwer zu ertragen: Erst am Ende der Zeit wird das Reich Gottes anbrechen. Dies einzuschärfen und damit pragmatische, im Einzelfall aber eben auch schmerzliche Abwägungen im Bereich des Politischen möglich zu machen – das ist die Aufgabe einer evangelischen Ethik des Politischen. Zu solchen Abwägungen kann dann auch der Krieg gehören, der nicht einfach das andere der Ethik ist, wohl aber das andere des Friedens, den Christen im Eschaton erhoffen. All dies aber wäre zynisch, würde es nicht umgriffen von einer Einsicht, die Ernst Troeltsch in die prägnante Formel gefasst hat: „Das Jenseits ist die Kraft des Diesseits“ (Troeltsch 1912, 972): Aus genau dieser Überzeugung entnehmen wir die Kraft, uns für die einzusetzen, die uns unmittelbar vor Augen stehen, für den konkreten Nächsten also. Dies tun wir um des Nächsten willen, nicht um eines moralischen oder politischen Prinzips wegen. Ein solches Engagement ist für den christlichen Glauben unverzichtbar – und gleichzeitig ist diese Haltung untauglich für die Gestaltung des Politischen.

Literaturverzeichnis Bartosch, U. 2017, „Friedensstrategie Weltinnenpolitik“, in: Handbuch Friedensethik, hg. I.-J. Werkner, K. Ebeling, Wiesbaden. Barth, K. 1951, Kirchliche Dogmatik III/4. Das Gebot Gottes des Schöpfers, Zollikon–Zürich. Evangelische Kirche in Deutschland (EKD) 2007, Aus Gottes Frieden Leben. Für gerechten Frieden sorgen, Gütersloh. Fischer, J. 2019, Der konkrete und der generalisierte Andere. Über das Verhältnis von Moral und Politik, in: Ders., Präsenz und Faktizität, Tübingen.

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Ökumenischer Rat der Kirchen (2013): Erklärung zur Einheit zur Einheit der Christen, angenommen am 8. November 2013 von der 10. ÖRK-Vollversammlung in Busan, https://www. oikoumene.org/de/resources/documents/unity-statement, letzter Zugriff: 10.02.2022. Raiser, K., Schmitthenner, U. (Hg.) 2013, Ein ökumenischer Aufruf zum Gerechten Frieden. Begleitdokument des Ökumenischen Rates der Kirchen. Mit Anhang, Münster, 2. Auflage. Taylor, C. 2009, Ein säkulares Zeitalter, Frankfurt am Main. Troeltsch, E. 1912, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen. Wolter, M. 2018, „Das neutestamentliche Christentum und sein Gottesdienst“, in: Marburger Jahrbuch Theologie, 30, S. 1–22.

Über die Herausgeber:innen

Dr. Susan Baumert ist wissenschaftliche Mitarbeiterin im Editionsprojekt „Buber Korrespondenzen Digital“ der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz sowie assoziierte Wissenschaftlerin des Jena Center for Reconciliation Studies. Von 2013 bis 2022 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin und Dozentin im Bereich Kulturgeschichte (Seminar: Volkskunde/Kulturgeschichte) an der Friedrich-SchillerUniversität Jena. Zu ihren Forschungs- und Interessenschwerpunkten gehören Themen wie Selbstzeugnisse und kulturelles Ich, Editionswissenschaft und Netzwerkforschung, Zeit-, Gedächtnis- und Erinnerungskulturen, aber auch Körperund Medizingeschichte sowie Fest- und Eventkulturen. Nach dem Transkribieren und Edieren der Briefe zwischen Stefan Zweig und Hans Rosenkranz (2020) umfasst ihre derzeitige Forschungsarbeit das digitale und kommentierende Edieren der Korrespondenzen zwischen Martin Buber und anderen wichtigen Persönlichkeiten der zionistischen Bewegung. Dr. Susan Baumert ist seit 2018 Vorstandsvorsitzende des „Lernort Weimar e. V.“. Neben der fortlaufenden Biographie-Recherche von NS-Opfern Weimars und deren Stolpersteinverlegung beschäftigt sich der Verein gegenwärtig mit dem Projekt „Beredtes Schweigen – NS-Eugenikverbrechen und ihre Folgen“. Gemeinsam mit der Universität Jena und dem Stellwerk-Theater Weimar sollen die NS-Eugenikverbrechen innerhalb Weimars und Umgebung auf unterschiedlichen Ebenen recherchiert, aufgearbeitet und so dem Vergessen entzogen werden. Dr. Francesco Ferrari ist Koordinator des Jena Center for Reconciliation Studies der Friedrich-Schiller-Universität Jena und wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Jüdische Religionsphilosophie und Geistesgeschichte an der GoetheUniversität Frankfurt. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in folgenden Themen: Versöhnungsbegriff nach Auschwitz in Bezug auf Autor:innen wie: Buber, Jankélévitch, Adorno, Améry und Arendt. Seine Veröffentlichungen umfassen u. a.: Einleitung und Herausgeberschaft: Martin Buber Werkausgabe. Vol. 11: Schriften zur politischen Philosophie und zur Sozialphilosophie, Gütersloh 2019, S. 15–100; Paper: Between Quest for a Heimat and Alienation. Jean Améry’s Journey after Auschwitz, in: Remembering the Holocaust in Germany, Austria, Italy and Israel, hg. Pinto, Leiden 2021, S. 89–98; Vladimir Jankélévitch’s “Diseases of Temporality” and Their Impact on Reconciliatory Processes, in: Contemporary Perspectives on Vladimir Jankélévitch, hg. M. La Caze, M. Zolkos, London 2019, S. 95–116.

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Über die Herausgeber:innen

Charalampos (Babis) Karpouchtsis ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für politische Theorie der Helmut-Schmidt-Universität/Universität der Bundeswehr Hamburg (HSU) und Doktorand am Jena Center for Reconciliation Studies (JCRS) an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Babis forscht in den Bereichen Außenpolitik, Versöhnungs- und Konfliktprozesse sowie Konflikttransformation im Programm Religion-Konflikt-Versöhnung des JCRS. Sein aktuelles Projekt lautet „Alte Wunden, neue Politik? Deutschland und die griechischen Märtyrergemeinden“. Zudem forscht er an der Schnittstelle zwischen Künstlicher Intelligenz und Regierungskommunikation an der HSU und ist dort inhaltlicher Koordinator des Projekts „Künstliche Intelligenz und öffentliche Kommunikation“ am Lehrstuhl für politische Theorie. Georg Schmolz studierte Volkswirtschaftslehre und Philosophie an der Universität Innsbruck und in Anápolis, Brasilien, sowie Mediation und Konfliktmanagement an der Europa-Universität Viadrina, Frankfurt/Oder. Nach seiner Journalistenausbildung in Brüssel war er für Rundfunkanstalten wie Antenne 2, den Bayerischen Rundfunk und den Mitteldeutschen Rundfunk tätig. Von 1998 bis 2000 war er ARTE-Chefredakteur. Als Leiter des ARD-Studios Prag berichtete er als Korrespondent aus Tschechien und der Slowakei. Als Dozent lehrte er u. a. am Institut zur Förderung publizistischen Nachwuchses. Derzeit steht Schmolz der Abteilung Barrierefreie Angebote des MDR vor.

Über die Autor:innen

Prof. Dr. Reiner Anselm, geb. 1965, ist seit 2014 Inhaber des Lehrstuhls für Systematische Theologie und Ethik an der Evangelisch-theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München. Zuvor war er nach dem Studium der Evangelischen Theologie in München, Heidelberg und Zürich von 1990 an wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Systematische Theologie in München, wo er 1993 promoviert wurde und sich, nach dem Vikariat und der Ordination zum Pfarrer der Evangelisch-lutherischen Kirche in Bayern 1998 habilitierte. Von 2000 bis 2001 war er Professor für Systematische Theologie und Ethik an der FriedrichSchiller-Universität Jena, von 2001 bis 2013 Professor für Theologische Ethik an der Universität Göttingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen im Bereich der Politischen Ethik und der Ethik in der Biomedizin. Er war von 2016 bis 2021 Vorsitzender der Kammer für Öffentliche Verantwortung der Evangelischen Kirche in Deutschland. Prof. Dr. Jürgen Boomgaarden ist seit 2008 Professor für Evangelische Theologie, Schwerpunkt Systematische Theologie an der Universität Koblenz-Landau. Er studierte Evangelische Theologie und Geschichte mit Abschluss Erstes Staatsexamen für das höhere Lehramt in Marburg und Erlangen. 1997 schloss er seine Promotion an der Universität Bern ab. Danach war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Systematische Theologie und Sozialethik an der Johannes-GutenbergUniversität Mainz. Von 2000 bis 2002 hatte er eine Anstellung am Lehrstuhl für Ethik in der Medizin in Tübingen und begann mit seinem Habilitationsprojekt bei Professor Leiner an der FSU Jena, das er 2004 erfolgreich abschließen konnte. Zwischenzeitlich hatte er für das Jahr 2003 eine Vertretungsprofessur an der Universität Koblenz-Landau inne. In den Jahren 2004 bis 2006 bekleidete er ein Referendariat an der Elisabethschule in Marburg und war dort bis 2008 Lehrer. Professor Boomgaardens Forschungsschwerpunkte betreffen das Verhältnis von Theologie und Philosophie (Hegel, Kierkegaard und Bonhoeffer) sowie systematische Grundfragen zur Anthropologie (Personalität, Sünde). Seine letzte Monographie erschien 2019 unter dem Titel Aus Gottes Hand. Der Status des menschlichen Embryos aus evangelischer Sicht. Matthias Gockel lehrt an der Universität Basel und ist Pfarrer der Evangelischmethodistischen Kirche Schweiz. Er studierte Evangelische Theologie, Philosophie und Musikwissenschaft. 2002 wurde er am Princeton Theological Seminary mit der Studie Barth and Schleiermacher on the Doctrine of Election (Oxford University Press, 2007) promoviert. 2004 bis 2009 wirkte er im Pfarrdienst. 2009 bis 2015

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Über die Autor:innen

arbeitete er als wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Friedrich-Schiller-Universität Jena bei Professor Martin Leiner, seit 2013 auch als Projektkoordinator am Jena Center for Reconciliation Studies. An der Universität Basel war er von 2016 bis 2018 als Oberassistent für Systematische Theologie tätig, 2018 bis 2022 war er Mitarbeiter in einem Projekt des Schweizerischen Nationalfonds (Vollkommenheit ohne Unveränderlichkeit? Erkundungen zur Lehre von Gottes Eigenschaften). Matthias Gockels Forschungsschwerpunkte und Veröffentlichungen liegen im Bereich der modernen Theologie- und Kulturgeschichte. Bischof i.R. Prof. Dr. Dr. h.c. Wolfgang Huber wurde 1942 in Straßburg geboren. Dem Studium der evangelischen Theologie in Heidelberg, Göttingen und Tübingen folgten Promotion sowie Vikariat und Pfarramt in Württemberg. Huber war Mitarbeiter und stellvertretender Leiter der Forschungsstätte der Evangelischen Studiengemeinschaft in Heidelberg und lehrte ab 1980 als ordentlicher Professor für Systematische Theologie / Ethik in Marburg, Heidelberg und Atlanta. Zudem war er 1983 bis 1985 Präsident des Deutschen Evangelischen Kirchentages. 1994 erfolgte die Ernennung zum Bischof der Evangelischen Kirche Berlin-Brandenburg (Schlesische Oberlausitz). Von 1998 bis 2001 gehörte er dem Zentral- und Exekutivausschuss des Ökumenischen Rates der Kirchen sowie von 1997 bis 2009 (ab 2003 als dessen Vorsitzender) dem Rat der Evangelischen Kirche in Deutschland an. 2001 bis 2003 und 2010 bis 2014 war er Mitglied des Nationalen bzw. Deutschen Ethikrats. Huber ist Honorarprofessor an der Humboldt-Universität zu Berlin, der Universität Heidelberg sowie der Universität Stellenbosch (Südafrika). Zuletzt erschienen: „Es geht vielmehr um eine Lebenshaltung“. Wolfgang Huber im wissenschaftsbiographischen Gespräch mit Christian Albrecht, Reiner Anselm und Hans Michael Heinig, Tübingen 2022 sowie: Menschen, Götter und Maschinen. Eine Ethik der Digitalisierung, München 2022. Prof. Dr. Anne Käfer ist Professorin für Systematische Theologie und Direktorin des Seminars für Reformierte Theologie an der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster. Sie studierte Evangelische Theologie in Tübingen, wo sie auch promovierte und sich habilitierte. Nach ihrem Vikariat in Stuttgart und ihrer Arbeit als Referentin und Oberkirchenrätin bei der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) übernahm sie Vertretungsprofessuren in Leipzig, Berlin und Bielefeld. Ihre Forschungsschwerpunkte liegen unter anderem auf den Gebieten der reformierten und lutherischen Dogmatik sowie der Schleiermacherforschung, aber auch im Bereich der Nachhaltigkeitsethik sowie der Tierethik. Prof. Dr. mult. Nikolaus Knoepffler wurde 1962 in Miltenberg geboren. Er ist Inhaber des Lehrstuhls für Angewandte Ethik, Leiter des Bereichs Ethik in den Wissenschaften der Fakultät für Sozial- und Verhaltenswissenschaften sowie kom-

Über die Autor:innen

missarischer Leiter des Instituts für Geschichte, Theorie und Ethik der Medizin in der medizinischen Fakultät an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Dort leitet er auch das überfakultäre Ethikzentrum. Knoepffler errang Lizenziate für Theologie und Philosophie sowie das Doktorat für Philosophie an der Päpstlichen Universität Gregoriana in Rom. In Bern wurde er in Theologie und in Lüneburg in Staatswissenschaften promoviert. Mit einer Arbeit zur Verantwortbarkeit der Embryonenforschung habilitierte er sich 1998 an der Ludwig-Maximilians-Universität in München. 2002 war er Gastprofessor an der Georgetown University in Washington, DC, 2006 am Uehiro Centre of Practical Ethics der Universität Oxford und 2016 und 2018 an der Universität Univille in Südbrasilien. Er ist Präsident des Global Applied Ethics Institute und der Deutschen Akademie für Organtransplantation. Von 2013 bis 2021 war er Sprecher – von Jenaer Seite – des DFG-Graduiertenkollegs zu Menschenwürde und Menschenrechten, danach mitverantwortlich für das trilaterale DFG-Projekt Hearts of Flesh – not Stone zwischen Israel, Palästina und Deutschland, das Martin Leiner federführend geleitet hat. Knoepfflers Forschungsschwerpunkte sind neben Grundfragen einer Begründung wissenschaftlicher Ethik mit Hilfe der Menschenwürde Konfliktfälle am Lebensanfang und -ende menschlicher Existenz. Dazu bleibt die moderne Philosophie- und Theologiegeschichte ein wichtiges Forschungsfeld, insbesondere Kant und Rahner. Prof. Dr. Markus Mühling wurde 1969 in Frankfurt am Main geboren. Er studierte Evangelische Theologie an der Christian-Albrechts-Universität in Kiel, promovierte dort 2000 mit einer Arbeit zu dem Thema Gott ist Liebe. Studien zum Verständnis der Liebe als – Modell trinitarischen Redens von Gott und habilitierte sich an der Universität Heidelberg im Jahre 2005 zum Thema Versöhnendes Handeln – Handeln in Versöhnung. Gottes Opfer an die Menschen. Nach seinem Vikariat (2004–2007) in der Evangelischen Landeskirche in Baden übernahm er von 2009 bis 2010 eine Gastprofessur am King‘s College (Aberdeen). Von 2011 bis 2018 war er Professor für Systematische Theologie und Wissenschaftskulturdialog an der Leuphana Universität Lüneburg. Seit Oktober 2018 ist er Professor für Systematische Theologie an der Kirchlichen Hochschule Wuppertal/Bethel. Überdies ist Markus Mühling seit 2013 Mitglied des Center of Theological Inquiry (CTI, Princeton). Seit 2014 ist er der Vorsitzende der Karl-Heim-Gesellschaft und Member des Center of Theological Inquiry, Princeton. In seinem dreibändigen Hauptwerk, Post-Systematische Theologie (2020) werden klassische Begriffe wie Zeit, Raum, Kausalität, dramatische Kohärenz, Wahrheit etc. narrativ fundiert und führen zu einem Begriff der Offenbarung als Wahrwertnehmen im Medium des Evangeliums. Kirchenrat Thomas Niederberger, geb. 1960, studierte in Tübingen und Heidelberg Evangelische Theologie. Er war Gemeindepfarrer in Frankenthal/Pfalz, Schulpfarrer in einem Gymnasium in Ludwigshafen und Leiter des Religionspädago-

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Über die Autor:innen

gischen Zentrums Ludwigshafen mit dem Schwerpunkt Lehrerfortbildung für Grundschulen. Seit 2010 arbeitet er als Kirchenrat im Landeskirchenrat der Evangelischen Kirche der Pfalz (Protestantische Landeskirche) in Speyer am Rhein als Beauftragter für den Religionsunterricht und Leiter des Amts für Religionsunterricht. Apl. Prof. Dr. Hans-Martin Rieger wurde 1966 in Mühlacker geboren. Er studierte Evangelische Theologie in Heidelberg, Jerusalem und Tübingen und erlangte 1999 die Doktorwürde an der LMU München. Im Anschluss war er als Vikariat tätig und bekleidete ein Pfarramt in der Württembergischen Landeskirche. Von 2002 bis 2010 war Rieger zunächst wissenschaftlicher Mitarbeiter und danach Akademischer Rat an der FSU Jena, wo er 2006 seine Habilitation erfolgreich abschloss und 2013 zum außerplanmäßigen Professor ernannt wurde. Seit 2015 ist er zudem Pfarrer in der Schweiz. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in den Bereichen der Rechtfertigungslehre und Kreuzestheologie, der Wissenschaftstheorie und Interdisziplinarität der Theologie sowie in der Religionsphilosophie Blaise Pascals, aber auch in der Gesundheits- und Altersethik sowie in der medizinischen und interdisziplinären Anthropologie. Zu seinen Veröffentlichungen zählen u. a. folgende Monographien: Leiblichkeit in theologischer Perspektive (2019) sowie Gesundheit – Erkundungen zu einem menschenangemessenen Konzept (2013), außerdem Menschlich denken – Glauben begründen. Blaise Pascal und religionsphilosophische Begründungsmodelle der Moderne (2010) und Altern anerkennen und gestalten. Ein Beitrag zu einer gerontologischen Ethik (2008). Bereits 2007 publizierte er seine Habilitationsschrift unter dem Titel Theologie als Funktion der Kirche. Eine systematisch-theologische Untersuchung um Verhältnis von Theologie und Kirche in der Moderne. 2023 wird Gesundheit als Wandlungsfähigkeit. Viktor von Weizsäckers Beitrag zu einer kritischen Medizintheorie erscheinen. Prof. Dr. Miriam Rose hat seit 2011 den Lehrstuhl für Systematische Theologie an der Friedrich-Schiller-Universität Jena. Die akademischen Stationen führten sie im Studium über Heidelberg, Jerusalem und Berlin nach München. Dort wurde sie promoviert mit einer Arbeit über die Summa Theologiae von Thomas von Aquin. Ihre Habilitation (2009) beschäftigte sich mit der Staatslehre von Friedrich Schleiermacher. An diese Münchner Zeit schloss Miriam Rose eine Lehrstuhlvertretung an der Universität Duisburg-Essen an. Eines ihrer Schwerpunkte liegt auf der Ökumenischen Theologie. Daher war und ist sie in diversen kirchlichen Gremien und Dialogprozessen tätig. Seit 2018 ist sie im Präsidium der GEKE (Gemeinschaft evangelischer Kirchen in Europa) wirksam. Ein weiterer Forschungsschwerpunkt bezieht sich auf Schleiermacher und die Romantik. Hierbei steht ihre Mitwirkung im DFG-Graduiertenkolleg „Modell Romantik“ seit 2015 im Fokus. Schließlich setzt sich Miriam Rose mit Grundfragen der Ethik und der politischen Philosophie

Über die Autor:innen

unter dem Stichwort „Ethik der Individualität“ wissenschaftlich auseinander. Gegenwärtig arbeitet sie an einem Buch mit dem Titel Für andere sprechen. Zur Ethik solidarischer Individualität. Über die akademische Tätigkeit hinaus hat Miriam Rose zwei berufsbegleitende Ausbildungen abgeschlossen: zur Schreib-Coach:in (2022) und zur Logotherapeutin (2003). Prof. Dr. Bertram Schmitz studierte von 1982–1987 Religionswissenschaft, Evangelische Theologie sowie Orientalistik (Indologie, Semitistik, Sinologie), Slawistik und Philosophie. 1990 promovierte er im Bereich der Religionsphilosophie/ Systematischen Theologie und 1994 in der Religionswissenschaft, worin er auch 2003 seine Habilitation erfolgreich abschließen konnte. In Osnabrück war Schmitz von 2004 bis 2006 als religionswissenschaftlicher Dozent für Islamischen Religionsunterricht tätig. Anschließend hatte er von 2006 bis 2011 mehrere ProfessurVertretungen an den Universitäten in Jena, Münster, Göttingen und Bielefeld inne. Seit 2012 ist Prof. Schmitz Lehrstuhlinhaber für Religionswissenschaft an der FSU Jena. Zudem ist er seit April 2022 neuer Universitätsprediger in Jena. Seine derzeitigen Forschungsgebiete betreffen das interreligiöse Verhältnis von Judentum und Christentum im Spiegel des Korans als Mittel der historisch kontextuellen Koraninterpretation sowie das Thema Kunst als Darstellung des Wirklichkeitsverständnisses in Religionen. Neben zahlreichen Publikationen widmet sich Bertram Schmitz in Ausstellungen, Vorträgen, Interviews und Performances dem Themenkomplex Erlebnis, Religion und Kunst. Dr. Jean-Marc Tétaz studierte von 1982 bis 1986 Evangelische Theologie sowie Philosophie an der Universität Lausanne. Danach wechselte er an die Georg-AugustUniversität in Göttingen, wo er von 1986 bis 1988 dem Studium der Evangelischen Theologie, Philosophie, Geschichte und Musikwissenschaft nachging. Ebendort absolvierte er von 1990 bis 1994 ein Postgraduiertes Studium in Evangelischer Theologie und Philosophie. Von 1996 bis 1997 war er Mitglied im Graduiertenkolleg Religion und Normativität an der Ruprecht-Karl-Universität in Heidelberg. An der École des Hautes Études en Sciences Sociales (Paris) promovierte Jean-Marc Tétaz von 1997 bis 2002 und erhielt 2003 seinen Doktortitel mit der höchsten Auszeichnung. Neben zahlreichen Einladungen als Gastprofessor an den Universitäten in Sofia, Paris und Moskau war Tétaz zudem auch mehrmals Lehrbeauftragter an der FSU Jena und an der Écoles des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris. Er ist dort Assoziiertes Mitglied im Centre de recherche sur les arts et le langage (CRAL). Im Zeitraum von 2019 bis 2020 übernahm er die Stellung einer Vertretungsprofessur am Lehrstuhl von Professor Martin Leiner, wo er vor allem Themen der Systematischen Theologie mit dem Schwerpunkt Ethik lehrte. An der Universität Erfurt war Dr. Jean-Marc Tétaz von 2020 bis 2021 Senior Fellow am dort angesiedelten Max-Weber-Kolleg. Seine derzeitigen Forschungsgebiete

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Über die Autor:innen

betreffen die theologische und philosophische Rezeption der Texthermeneutik Paul Ricœurs sowie das Problem der politischen Theologie bei Ricœur. Zudem ist Jean-Marc Tétaz ein ausgewiesener Troeltsch- und Schleiermacher-Experte, das in seinen zahlreichen thematischen Publikationen und Herausgeberschaften sowie Konferenzteilnahmen ersichtlich wird. Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Gerd Theißen, wurde 1943 in Mönchengladbach geboren. Er studierte Evangelische Theologie und Germanistik in Bonn. Dort promovierte er 1968 und habilitierte sich 1972. Von 1975 bis1978 unterrichte an Gymnasien, von 1978 bis 1980 als Professor an der Universität Kopenhagen, seitdem in Heidelberg. Seine Forschungsschwerpunkte sind: Historischer Jesus, Paulus sowie Soziologie, Psychologie und Theorie des Urchristentums. Er veröffentlichte Romane zu Jesus und Paulus, Predigten, eine Homiletik, eine Bibeldidaktik und einen Katechismus „Glaubenssätze“ in Form meditativer Texte. Zu seinen wissenschaftlichen Buchveröffentlichungen gehören u. a.: Soziologie der Jesusbewegung, 1977; Psychologische Aspekte paulinischer Theologie, 1983; mit A. Merz: Der historische Jesus, 1996; Die Religion der ersten Christen. Eine Theorie des Urchristentums, 2000; Erleben und Verhalten der ersten Christen. Eine Psychologie des Ur-Christentums, 2007; mit P. v. Gemünden: Der Römerbrief – Rechenschaft eines Reformators, 2016; Texttranszendenz. Beiträge zur polyphonen Hermeneutik, 2019; Religionskritik als Religionsdiskurs, 2020; Resonanztheologie, 2020; Botschaft in Bildern. Entmythologisierung als theologische Wahrheitssuche, 2021; Kirchenträume, 2022. Prof. Dr. Manuel Vogel, geboren 1964 in Frankfurt am Main, studierte Evangelische Theologie in Erlangen, Heidelberg und Frankfurt. 1997 bis 2003 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institutum Judaicum Delitzschianum an der Universität Münster, von 2006 bis 2008 Pfarrer im Hochschuldienst des Fachbereichs Evangelische Theologie der Universität Frankfurt und Lehrbeauftragter an der Evangelischen Fachhochschule in Darmstadt. 2008 wurde er auf die Professur für Neues Testament an der Theologischen Fakultät der Universität Jena berufen. Seine Forschungsschwerpunkte liegen derzeit auf dem Gebiet der Empire Studies und der Post-Colonial Studies. Er ist u. a. Mitglied der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie (WGTh) und der Studiorum Novi Testamenti Societas (SNTS). Vogel publizierte Bücher u. a. zu Themen der Bundestheologie, Flavius Josephus, den 2. Korintherbrief sowie den christlich-jüdischen Dialog. Prof. Dr. Michael Wermke studierte von 1978 bis 1984 Germanistik, Evangelische Theologie, Philosophie und Pädagogik in Berlin und Göttingen. Nach seinem Ersten und Zweiten Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien in den Fächern Deutsch und Evangelische Religion und zahlreichen Verpflichtungen als Lehrer, Dozent und Studienrat in Wolfsburg und Hildesheim promovierte er 1998 an

Über die Autor:innen

der Universität Hannover. 2003 bis 2010 wirkte er als Professor für Religionspädagogik an der Theologischen Fakultät der Friedrich-Schiller-Universität Jena und ist dort seit 2010 Inhaber des gleichnamigen Lehrstuhls. Seit 2011 ist Professor Wermke Direktor des interfakultären Forschungszentrums für Religion und Bildung an der FSU Jena. Die Untersuchung des spannungsreichen Zusammenspiels von Religion und Bildung stellt einen zentralen Kern seiner oftmals interdisziplinär angelegten Forschungsarbeiten dar. So hat Wermke zahlreiche Publikationen zur historischen und empirischen Religionspädagogik, zum Holocaust als Thema im Religionsunterricht sowie zur jüdischen Bildungsforschung vorgelegt. Zu seinen gegenwärtigen Publikationen zählen u. a.: Ein letztes Treffen im August 1941: Kurt Silberpfennig und die Praxis religiös-zionistischer Pädagogik (2020) und Warum religiöse Bildung?: Kultur- und religionssensible Praxis in Kindertagesstätten und Schulen (2018). Professor Michael Wermke ist Mitglied in zahlreichen Kommissionen und Gesellschaften, u. a. in der International Society for Empirical Research in Society (ISERT), der Wissenschaftlichen Gesellschaft für Theologie e.V. sowie dem Forschungszentrum für Religion und Bildung (FZRB), der Research Unit for Public Religion and Education (FAU Erlangen/Nürnberg) und im Direktorium des Zentrums für Rechtsextremismusforschung, Demokratiebildung und gesellschaftliche Integration (Komrex) der FSU Jena aktiv. Dr. Cesare Zucconi wurde 1962 in London geboren. Als Sohn eines italienischen Diplomaten verbrachte er seine Kindheit und Jugend in verschiedenen Ländern. Nach seinem Abschluss an der Germanischen Schule in Rom erwarb er an der Universität La Sapienza in Rom einen Abschluss in den Politikwissenschaften. Anschließend erhielt er ein Promotionsstipendium für die Geschichte der internationalen Beziehungen an derselben Universität und wurde mit einer Arbeit Über die Beziehungen zwischen dem Heiligen Stuhl und Polen in den Jahren 1918–1921 promoviert. Anschließend setzte er seine Arbeit als Forscher und Dozent an der gleichen Universität fort und arbeitete auch mit anderen italienischen und ausländischen Universitäten zusammen, darunter mit der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Seine Veröffentlichungen sind zahlreich. An dieser Stelle sind zwei Bücher zu erwähnen, die ebenfalls in deutscher Sprache erschienen sind und sich mit den „neuen Märtyrern“ befassen: Christus oder Hitler? Leben des seligen Franz Jägerstätter (2011) und Jerzy Popieluszko, 1947–1984. Das Martyrium eines Priesters im kommunistischen Polen (2020). Neben seinem politikwissenschaftlichen Abschluss hat Zucconi auch ein Diplom im Bereich Theologie. Seit 1979 ist er Mitglied der Gemeinschaft Sant’Egidio, deren Generalsekretär und Mitglied des internationalen Vorstands er seit 2008 ist. Er hat zahlreiche Schriften zu den Themen, die er mit der Gemeinschaft Sant’Egidio verfolgt, wie Frieden, interreligiöser Dialog und Entwicklungszusammenarbeit, publiziert.

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