Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht: Späte Schriften. Hrsg. von Markus Kotzur / Lothar Michael [1 ed.] 9783428525942, 9783428125944

Wie kein anderer steht der "europäische Jurist" Peter Häberle für die kulturwissenschaftlich angeleitete Verfa

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German Pages 344 Year 2009

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Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht: Späte Schriften. Hrsg. von Markus Kotzur / Lothar Michael [1 ed.]
 9783428525942, 9783428125944

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Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1127

PETER HÄBERLE

Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht Späte Schriften Herausgegeben von Markus Kotzur Lothar Michael

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

PETER HÄBERLE

Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht

Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1127

PETER HÄBERLE

Verfassungsvergleichung in europa- und weltbürgerlicher Absicht Späte Schriften

Herausgegeben von Markus Kotzur Lothar Michael

asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte vorbehalten # 2009 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 978-3-428-12594-4 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Wie kein anderer steht der „europäische Jurist“ Peter Håberle für die kulturwissenschaftlich angeleitete Verfassungsvergleichung in Europa und weit darüber hinaus. Sein Œuvre, heute in 18 Sprachen präsent, ist gewaltig und es nimmt kontinuierlich zu. Seit seinem 70. Geburtstag ist das Veröffentlichungsverzeichnis (der Stand von 2004 ist dokumentiert im Liber Amicorum für Peter Häberle, „Verfassung im Diskurs der Welt“, S. 875 – 914) um zahlreiche Titel, ganz abgesehen von den Neuauflagen und ausländischen Übersetzungen, angewachsen. Der Anhang dieses Sammelbandes gibt davon beredtes Zeugnis. Die Schaffenskraft des ehemaligen Bayreuther Ordinarius und 20 Jahre lang ständigen Gastprofessors an der Universität St. Gallen, der er als Ehrensenator und dank der von Seiten der Hochschule angeregten „Peter-Häberle-Stiftung für Staats- und Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ bei regelmäßigen Tagungen aktiv verbunden bleibt, ist ungebrochen. Jüngst erschienen sogar zwei weitere Monographien, nämlich über Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates (Duncker & Humblot, Berlin, 2007, dazu Paul Kirchhof im Rheinischen Merkur (Nr. 23 / 2008): „Klingendes Gemeinwohl“) und über Nationalflaggen als bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole (Duncker & Humblot, Berlin, 2008). Nicht nur die letztgenannten Schriften stehen für jene „weltbürgerliche“, heute auch „europabürgerliche Absicht“ im Sinne und in Fortschreibung von I. Kant, der sich der Wissenschaftler Peter Håberle in strikter Absage an alle positivistischen oder national-introvertierten Engführungen seit seiner wirkmächtigen Dissertation über die „Wesensgehaltgarantie“ (1962) verschrieben hat. Es war jene längst zum Klassiker avancierte, mehrfach übersetzte Grundlagenarbeit, die der heute weltweiten Rezeption der national-verfassungsstaatlich wie europäisch ausbuchstabierten und „menschheitlich“ konzipierten Verfassungslehre P. Håberles ihren Anstoß gab (dokumentiert etwa in der Sekundärliteratur über das Werk P. Håberles, dazu das Verzeichnis am Ende dieses Bandes). Weitere Ansätze, die mit dem Namen P. Håberle untrennbar verbunden bleiben, sind der Grundrechtsschutz durch Verfahren, insbesondere der „status activus processualis“ (1971), das „Religionsverfassungsrecht“ als Gegenkonzeption zum Staatskirchenrecht (1976) sowie die kulturelle Verfassungsvergleichung (1982), insbesondere die Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung (1983). P. Håberle wirkte oft begriffsprågend. Seine „Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“ ist heute in vieler Munde, der „kooperative Verfassungsstaat“ (1978) wurde der Sache nach häufig rezipiert, gleiches gilt für den „Parlamentsvorbehalt“ (1972), die „Grundrechtspolitik‘‘ (1971) oder das „nationale Europaverfassungsrecht“ (1995); die „Grundrechtskultur“ (1979) und die „Verfassungskultur“ (1982) sind fast schon

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Vorwort

„in Mode“. Von einer Forschergruppe um F. Balaguer CallejÕn in Granada ausgehend, hat sich in Spanien wie Ibero-Amerika eine Håberle-Schule etabliert (siehe dazu M. Garcia-Pechu—n, Die Wissenschaft vom Verfassungsrecht: Spanien, in: A. v. Bogdandy / P. Cruz Villalón / P. M. Huber, Hrsg., Handbuch Ius Publicum Europaeum, Bd. II, 2008, § 37, Rn. 22). Auch in Italien wächst das Echo ständig, man denke etwa an ein zweitägiges Seminar des Italienischen Verfassungsgerichtshofs in Rom (2005), das die Arbeiten P. Håberles in seinen Mittelpunkt stellte. In Brasilia widmet sich ein studentischer Club primär dem Studium seiner Schriften. In Brasilien insgesamt wirkt die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ als geflügeltes Wort mit Konsequenzen für das Verfassungsprozessrecht. So trägt die „weltbürgerliche Absicht“ nicht nur dem mit sieben Ehrendoktorwürden ausgezeichneten Forscher, sondern auch dem engagierten und inspirierenden akademischen Lehrer reiche Früchte ein. Dass ihn die Lehre nicht zuletzt konzeptionell interessiert hat, belegen auch Beiträge in diesem Band (zur Bewahrung der deutschen Universität und in der individuellen Form des pädagogischen Briefes). In keiner anderen Lehrform hat dieser Lehrer so prägend gewirkt wie in seinem nunmehr seit 40 Jahren bestehenden, in der Tradition eines R. Smend und K. Hesse geführten, ja „gelebten“ Seminar. Hier war und ist ihm Wissenschaft mehr denn je Lebensform, wie überhaupt das Diskursive sein Wissenschaftsverständnis bezeichnet. Die Diskussionsfreude P. Håberles bei den Jahrestagungen der Deutschen Staatsrechtslehrertagung – seit 1969 finden sich kontinuierlich Beiträge nahezu in allen Tagungsbänden, stets tiefgründig, mitunter auch cum grano salis – wird vielfach geschätzt. Sie ist auch deshalb in diesem Band mehrfach dokumentiert. P. Håberles Werk formt ein Kaleidoskop aus unterschiedlichen Themen, bezogen auf unterschiedliche Rechtsordnungen, ausgestaltet in den unterschiedlichsten Literaturgattungen. Und in jeder einzelnen Veröffentlichung schillern die für Håberle typischen Perspektivenwechsel sowie die aus deren Fülle gewonnenen Fortschreibungen seiner „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982): von der Monographie über den Grundlagenaufsatz bis hin zum wissenschaftlichen Interview oder zum konzeptionellen Entwurf von Studienordnungen (Budapest, 2000). So sind die Sammelbände von Schriften P. Håberles immer wieder dankbar angenommen worden und im Falle der „Verfassung als öffentlicher Prozess“ gar in 3. Auflage (1998) erschienen. Das hat Gründe nicht nur in dem summierten Wert der versammelten Einzelbeiträge. Auch geht es nicht allein darum, den Lesern durch die gebündelte Auswahl den Zugang zu erleichtern. Vielmehr liegt deren Mehrwert in der spezifischen Zusammenstellung, die ihrerseits Schwerpunkte setzen und Perspektivenwechsel verdeutlichen, kurz: die „europa- und weltbürgerliche Absicht“ facettenreich sichtbar machen kann. Um in der Tradition P. Håberles ein musikalisches Bild zu bemühen: In allen Sammelbänden seiner Schriften wird nicht nur ein Meister gerade auch der „Kleinform“ sichtbar – so in den 2002 von W. Graf Vitzthum ebenfalls bei Duncker und Humblot herausgegebenen „Kleinen Schriften“ –, sondern auch ein spezifischer Reiz der „zyklischen“ Präsentation, bei der „Haupt- und Nebenthemen“ und ihre „Variationen“ erst in ihrer ganzen Breite sichtbar werden. In der Hoffnung, dass auch der vorliegende Sammelband diesem

Vorwort

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Anliegen gerecht werden kann, sei er dem Lehrer zum 75. Geburtstag von seinen dankbaren Schülern überreicht. Die Laudatio bleibe einem Berufeneren vorbehalten: Wçrdigung aus Anlass der Ehrenpromotion von Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Peter Håberle durch die juristische Fakultåt der Universitåt Lissabon, vorgelegt von Prof. Dr. Dr. h.c. Jorge Miranda (08. November 2007): „Magnifizenz, Exzellenz, verehrte Gäste, liebe Professoren, Forscher, Dozenten, Studenten und Beamte, meine Damen und Herren, Professor Peter Håberle in ihr Professorenkollegium aufzunehmen, ist für die Universität Lissabon eine tiefe Ehre, denn Peter Håberle ist einer der großen Akademiker unserer Zeit, ein hervorragender Mann der Kultur und des Rechtes, ein hochkreativer und universaler Geist, der sich für neue Horizonte der Menschheit immer offen gezeigt hat. In Freiburg wurde er promoviert mit einer Dissertation unter Leitung von Konrad Hesse und begann dort seine akademische Laufbahn, wobei er sich an der dortigen Universität habilitierte. Seine Karriere führte ihn dann an verschiedene andere Hochschulen (wie es in seinem Land, sowie in vielen anderen Ländern, in einer begrüßenswerten Mobilität, die wir auch nachahmen sollten, üblich ist): Marburg, Augsburg, St. Gallen und Bayreuth. In dieser letzten Universität emeritierte er im Jahre 2002. Trotzdem leitet er weiterhin das Bayreuther Institut für Europäisches Recht und Rechtskultur und die Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht und bleibt tätig und am akademischen Leben interessiert; er kümmert sich weiterhin um seine Geschehnisse, wie z. B. den Bologna-Prozess, den er sehr kritisch beurteilt. Wie er, am 26. April des vorigen Jahres, hier in Lissabon, bei der internationalen Konferenz anlässlich der 30 Jahre der Portugiesischen Verfassung sagte, „bedroht (dieser Prozess), von einem nach Effizienz strebenden ökonomistischen Denken geführt, die Pluralität der europäischen Rechtswissenschaft (denn die von oben nach unten geleitete Europäisierung kann nicht erfolgreich sein)‘‘. Auf Grund seines großen Prestiges wurde er von vielen Hochschulen in Europa und in Amerika öfters eingeladen. Die Universitäten Thessaloniki, Granada und Brasilia sowie die Katholische Universität von Lima haben ihm den Ehrendoktortitel verliehen. Seine Werke wurden in 18 Sprachen, darunter Portugiesisch, übersetzt. Alles, um die Grundsätze des materiellen Rechtsstaates, des Staates der fundamentalen Rechte zu erläutern und zu verbreiten. Für Peter Häberle ist die Verfassung „nicht nur juristischer Text oder normatives Regelwerk, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen“. Eine lebende Verfassung, indem sie das Werk aller ihrer Interpreten in einer offenen Gesellschaft ist, zeigt durch ihre Form und ihren Inhalt die akkumulierten Kenntnisse, Erlebnisse und das Volkswissen. Deshalb muss man stets fragen, ob der Text der politischen Kultur eines Volkes entspricht und ob sich die Bürger mit dessen spezifisch verfassungsrechtlichen Teilen

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Vorwort

identifizieren. Ein Verfassungstext muss wörtlich kultiviert sein, wenn es eine Verfassung werden soll. Die Verfassung, die grundlegende Rechtsordnung des Staates sowie der Gesellschaft, muss als kulturelle Verwirklichung verstanden werden. Auf der anderen Seite, seiner berühmten Theorie der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten gemäß, ist der „Normadressat“ aktiv an dem hermeneutischen Prozess beteiligt. Auch wenn die Verfassungsjustiz das letzte Wort haben soll, ist die Verfassungsinterpretation nicht ein „exklusiver staatlicher Vorgang“. Alle Kräfte der politischen Gemeinschaft haben potentiell dazu Zugang: der Bürger, der sich an den Verfassungsgerichtshof wendet oder die politische Partei, welche eine Organklage einreicht oder gegen welche ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wird, sind alle Verfassungsinterpreten. Die Gestaltung der Verfassungswirklichkeit wird gleichfalls zu einem Stück der Verfassungsinterpretation. In einer offenen Gesellschaft entfaltet sich die Demokratie auch in den feineren mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses der täglichen Politik und Praxis, insbesondere in der Verwirklichung der Grundrechte; sie entfaltet sich in der Kontroverse über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit. „Volk“ ist nicht nur eine einheitliche Größe, die sich am Wahltag äußert. Volk ist auch eine pluralistische Größe, für die Interpretationen im Verfassungsverfahren präsent und legitimierend. Nicht weniger relevant sind andere Beiträge seiner Überlegungen, die ich aus absolutem Zeitmangel nur andeuten werde, wie z. B.: das Konzept eines status activus processualis als prozessuale teilnehmende Dimension der Grundrechte; die Relevanz des vergleichenden Elements in der Verfassungsinterpretation; das Verfassungsgericht als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag; das Minderheits- oder Sondervotum der Richter als alternative Rechtssprechung; kooperatives Staatsrecht; Kooperation zwischen Verfassungsrecht und Völkerrecht. Gleichgültig, ob man diesen und anderen Schwerpunkten seiner Lehre und Forschung zustimmt oder nicht, die Tatsache ist, dass ihre Wirkung enorm war und ist. Ohne aus dem Rahmen der vom Bonner Grundgesetz (viel mehr als von der Weimarer Verfassung) hervorgerufenen üppigen Dogmatik abzuweichen, ist diese Lehre über die Jahre eines der bedeutendsten Exponenten der Globalisierung der Verfassungsrechtswissenschaft geworden. Dies sind die Gründe, warum wir alle in diesem Saal, in diesem Augenblick, darüber jubeln, dass Peter Häberle, emeritierter Professor der Universität Bayreuth, von nun an zu dem Professorenkollegium der Universität Lissabon gehört.“ Im Namen der Schüler und Seminarmitglieder:

Markus Kotzur Lothar Michael

Inhalt Teil 1 Verfassung aus Kultur – Verfassung als Kultur – Verfassungskulturen „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ – ein kleines Sieben-Thesen-Papier . . . . . . . . .

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Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ – illustriert am Vorbild Italiens und am Beispiel Portugals sowie am 60jährigen deutschen Grundgesetz – eine Projektskizze . . . .

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„Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften . . .

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Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

46

Kultur in Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang . . . . . . . . . .

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Das Grundrecht der Gewissensfreiheit – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Bern am 2. und 3. Oktober 1969 . . . . . . . . . . .

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„Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Verfassungsvergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 Verantwortung im Verfassungsstaat – Kommentierung zu Art. 6 der Schweizerischen Bundesverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 136 Die Rechte der Tiere – ein Vorwort zu F. Rescigno . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 Föderalismus und föderative Freiheit – Interview am 12. März 2007 im Palazzo Chigi in Rom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 Der kooperative Verfassungsstaat – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Basel vom 5. bis 8. Oktober 1977 . . . . . . . . . . . . . . . 149 Teil 2 Verfassungsperspektiven für Europa Der Reformvertrag von Lissabon (2007) – im Blick auf den 1. Januar 2009 . . . . . . . . . . . . 153 Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175

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Inhalt

Versuch einer Begegnung Deutschland–Ungarn im Kontext Europas. Denkschrift vom 21. 11. 2000 für einen Studiengang „Europawissenschaft“ an der geplanten deutschsprachigen Universität in Budapest (Ungarn) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 188 „Die Causa Österreich“ – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202 Kritik an der Metapher vom sogenannten „Mehrebenenkonstitutionalismus“ – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Rostock vom 4. bis 7. Oktober 2006 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 Teil 3 Verfassungsdialoge im globalen Kontext Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – national-verfassungsstaatlich und regional-europäisch sowie die Frage: „Wer entwickelt das Völkerrecht“? . . . . . . . . . . . . 209 Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 Rechtskultur und Entwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 244 Menschenrechte und Globalisierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 Fragen an den Begriff der Globalisierung – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Freiburg i.Br. vom 3. bis 6. Oktober 2007 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 Interview mit Professor Botha (Juli 2001) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 263 Teil 4 Wissenschaft als Lebensform – Erkenntnisse, Bekenntnisse und kritische Monita eines europäischen Juristen (Rechts-)Wissenschaften als Lebensform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 275 Ein Jahr am Wissenschaftskolleg zu Berlin (1992 / 93) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 285 Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre – Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 291 Die deutsche Universität darf nicht sterben. Ein Thesenpapier aus der Provinz . . . . . . . . . . 306 Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen – Skizze eines Projekts . . . . . . 310 Recht und Literatur – Eine Präsentation von B. Schlink . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 Nachruf auf Konrad Hesse (1919 bis 2005) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 Bibliographisches (zweite Folge) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323

Teil 1

Verfassung aus Kultur – Verfassung als Kultur – Verfassungskulturen

„Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ – ein kleines Sieben-Thesen-Papier* 1. „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ ist ein Programm, das der Verf. seit seiner Monographie von 1982 (2. Aufl. 1998) verfolgt: in Anknüpfung an manche Traditionen und Stichworte aus der älteren (südwest-)deutschen Philosophie und an die Staatsrechtslehrer der Weimarer Zeit (R. Smend, H. Heller). Sie distanziert sich von allen Formen des Positivismus, des Dezisionismus und des Normativismus und hatte in der deutschen Staatsrechtslehre zunächst manche Kritik zu „ertragen“. Das „annus mirabilis“ 1989, die – kulturellen – Rezeptionsprozesse, die seitdem in Sachen Verfassungsstaat als Typus fast weltweit in Gang gekommen sind und das Bedürfnis junger Länder, vor allem in Lateinamerika, sich der eigenen Identität zu vergewissern und sie in ihren geschriebenen Verfassungstexten zum Ausdruck zu bringen, aber auch das Glück der deutschen Wiedervereinigung und die Konstitutionalisierungsprozesse in Europa haben dem kulturwissenschaftlichen Ansatz mittlerweile zu viel Echo verholfen (offen oder verdeckt). 2. „Verfassung“ wird nicht nur in ihren spezifisch „kulturverfassungsrechtlichen“ Teilen „als Kultur“ verstanden. So nahe es liegt, dass das deutsche sog. „Staatskirchenrecht“ (besser „Religionsverfassungsrecht“) die besonderen kulturellen Freiheiten wie Wissenschafts-, Kunst- und Religionsfreiheit und die vor allem in ostdeutschen Landesverfassungen getexteten allgemeinen und speziellen Kultur-Artikel die Sache Kultur sowie die seit Art. 148 WRV bekannten und einige neue (z. B. umweltbezogene) Erziehungs- bzw. Bildungsziele meinen: Die ganze Verfassung ist eine kulturelle Errungenschaft par excellence, nicht zuletzt dank der Klassikertexte von Aristoteles bis Rawls (zu Gerechtigkeitsfragen), von F. Schiller (zur Menschenwürde und Gedankenfreiheit) bis B. Brecht (zum Volk und seiner Regierung) gereift, aber auch dank der „Federalist Papers“ entwickelt. In ihren offenen Gesellschaften ist es die Kultur, die die unverzichtbare Grundierung leistet. A. Gehlens „Zurück zur Kultur“ wird einschlägig. Alle Freiheit ist m. E. in einem tieferen Sinne „kulturelle Freiheit“. Es gibt keine „natürliche Freiheit“, auch wenn das „frei geboren“ eine unverzichtbare verfassungsstaatliche Fiktion bleiben muss (Menschenwürde als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates, pluralistische Demokratie als organisatorische Konsequenz). 3. Unentbehrlich werden Differenzierungen. Zu unterscheiden ist „Hochkultur“ i.S. des Guten, Wahren und Schönen der Klassik, „Volkskultur“ und „Alltagskultur“, z. T. in neuen Schweizer Kantonsverfassungen getextet, sowie „Alternativ* Originalbeitrag, Dresden am 8. November 2007 (Tagung von Prof. Dr. Hans Vorländer).

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Teil 1: Verfassungskulturen

und Subkultur“. Übergreifend ist das „offene, pluralistische Kulturkonzept“ von 1979. Danach kann es zu Osmoseprozessen kommen: „Subkultur“ wird zur „Hochkultur“ (Beispiel: die Beatles). Hilfreich ist auch die Devise von J. Beuys: „Jeder Mensch ein Künstler“ (freilich ist nicht jedermann ein Beuys). 4. „Kultur“ ist das vom Menschen Geschaffene, „Gepflegte“ (afrikanische Baumgeister, in Bäumen gedacht, sind i.S. des Kulturgüterschutzes „Kultur“). Als Begriff von Cicero stammend, helfen manche Klassiktertexte zu weiteren Annäherungen, etwa die Einsicht von Goethe: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion. Wer diese beide nicht hat, habe Religion“. Auch das Gedicht „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden . . .“, wird aussagekräftig. „Kulturlandschaften“ werden in manchen neuen Verfassungstexten ausdrücklich als solche geschützt. 5. Methodisch bedurfte es einer großen Aufwertung der Kunst der Verfassungsvergleichung (im Privatrecht als Rechtsvergleich seit längerem praktiziert). Stichworte von 1979 bzw. 1982 lauten: „kulturelle Verfassungsvergleichung“, „Grundrechtsvergleichung als Kulturvergleichung“ sowie die Praxis der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989), jetzt ausdrücklich vom Staatsgerichtshof Liechtenstein übernommen. Die Produktions- und Rezeptionsvorgänge, die heute in Sachen Verfassungsstaat fast weltweit vor sich gehen und in der Trias von Verfassungstexten, Verfassungsjudikaten und Wissenschaft (Theorien) greifbar sind, können in kulturellen Horizonten begriffen und unterstützt werden. Der kulturelle Kontext, die Kontextthese von 1979 / 2001, bildet das einschlägige Stichwort. Hinzu kommt das Textstufenparadigma (1989): Spätere Verfassungen im selben Land oder in benachbarten Ländern bringen oft das formell auf Texte, was hier oder dort materiell zur Verfassungswirklichkeit geworden ist. Begriffe wie „Verfassungskultur“ (1982), „Grundrechtskultur“ (1979) sind heute fast schon ein „Gemeinplatz“. 6. Stück für Stück wurde das Programm einer Verfassungslehre als Kulturwissenschaft letztlich in „weltbürgerlicher“ vergleichender Absicht wissenschaftlich entfaltet: Schritte sind die „Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ (1987), der „Sonntag als Verfassungsprinzip“ (1988, 2. Aufl. 2006), das „Menschenbild im Verfassungsstaat“ (1988, 4. Aufl. 2007) und zuletzt die Schrift „Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates“ (2007). Der kulturwissenschaftliche Ansatz kann sich aber auch auf anderen Themenfeldern bewähren: bei den Verfassungspräambeln, die, Ouvertüren und Prologen vergleichbar, oft ein „Textereignis“ sind, sprachlich alle Bürger auf die Verfassung „einstimmen“ wollen und als Konzentrat der Verfassung zugleich die Zeitdimension (Verarbeitung von Geschichte und Entwürfen von Zukunft bis hin zu konkreten Utopien: z. B. deutsche Wiedervereinigung) erkennen lassen. Die Erziehungs- und Bildungsziele (jene beziehen sich auf Verhaltensweisen, diese auf Grundwerte) sind ebenfalls ein dankbares Thema. Schließlich fallen im Vergleich der neueren Verfassungen neben den Symbol-Artikeln in Sachen Feiertage, Sprache, Nationalhymnen und -flaggen sowie Hauptstadt die „kulturelles Erbe-Klau-

„Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“

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seln“ und Identitäts-Artikel auf. Speziell im Europäischen Verfassungsrecht sind die Normen zur „nationalen Identität“ und zur europäischen bekannt. Sie können in ihrer Unterscheidung wie in ihren Zusammenhängen nur als kulturelle „Identitäten“ verstanden werden. Es gibt eine „europäische Öffentlichkeit aus Kunst und Kultur“. Ganzheitliche Identitätsphilosophien sind freilich abzulehnen. 7. „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ und „Verfassung als Kultur“ will kein alles erklärender Theorieansatz sein. Auch er ist nur eine Teilwahrheit und bedarf des komplementären Rückgriffs auf einen Kanon von Verfassungsverständnissen, die die deutsche Staatsrechtslehre nach und nach entwickelt hat. Verfassung als „Anregung und Schranke“ (R. Smend), Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), Verfassung als „öffentlicher Prozess“ (1969). Darüber hinaus kann der kulturwissenschaftliche Ansatz Brücken zu anderen Disziplinen schlagen, etwa zur Kulturgeographie und einschlägigen Klassikertexten eines J. G. Herder (Sprache) hin, zur Kulturgeschichte und Kultursoziologie. Das eigenständig Normative, das „Proprium“ des Verfassungsrechts, sein „Selbststand“ sind dabei zu wahren. Der Dienst an der „normativen Kraft der Verfassung“ (K. Hesse) ist letztlich auch ihr Ziel. Literatur (Auswahl) Bogdandy von, A.: Europäische und nationale Identität: Integration durch Verfassungsrecht?, VVDStRL 62 (2003), S. 156 ff. Häberle, P.: Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980 – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998 – Das Problem des Kulturstaats im Prozess der deutschen Einigung, JöR 40 (1991 / 92), S. 291 ff. – Kulturhoheit im Bundesstaat, AöR 124 (1999), S. 549 ff. – Verfassung als Kultur, JöR 49 (2001), S. 125 ff. – Der Sinn von Verfassungen in kulturwissenschaftlicher Sicht, AöR 131 (2006), S. 421 ff. Sommermann, K.-P. u. a.: Kultur im Verfassungsstaat, VVDStRL 65 (2006) Vorländer, H. (Hrsg.): Zur Ästhetik der Demokratie, 2003 – Europas multiple Konstitutionalismen, ZSE 2007, S. 180 ff.

Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ – illustriert am Vorbild Italiens und am Beispiel Portugals sowie am 60jährigen deutschen Grundgesetz – eine Projektskizze* Einleitung Verfassung „aus Kultur“ und „als Kultur“ zu dokumentieren, ist ein vielleicht großes Programm. Es ergibt sich aus dem Konzept der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982). Im Folgenden sei es aus einer neuen Perspektive erschlossen. Begonnen sei im Kleinen mit dem Verfassungstag: „Verfassungstage“ sind Tage, an denen jährlich wiederkehrend festlich der geltenden Verfassung, ihrer Vorgeschichte, ihrer Inkraftsetzung und ihrer erhofften künftigen Entwicklung staatlich-politisch, gesellschaftlich-sozial und mitunter auch privat (Schweiz) in vielerlei Weise gedacht wird. Als Elemente einer höchst fragmentarischen Bestandsaufnahme seien vorweg einige weltweite Beispiele dargestellt. Es gibt Verfassungstage, die als Feiertage figurieren, z. B. der nationalen Unabhängigkeit oder Revolution wie der 4. Juli in den USA oder der 14. Juli in Frankreich sowie der 25. April in Italien (Tag der Befreiung vom Faschismus), der 25. Mai in Argentinien (Tag der Unabhängigkeit). Sie sind genau gesehen Tage vor der Verfassung, präkonstitutionell, und gehören gleichwohl geschrieben oder ungeschrieben zum Fundament des Selbstverständnisses eines politischen Gemeinwesens. Sie bilden eine Art Verfassung vor der Verfassung. Es gibt aber auch Beispiele dafür, dass Verfassungstage nur der Sache nach bzw. gesetzlich, nicht aber verfassungstextlich der Erinnerung an das Inkrafttreten einer Verfassung dienen und mehr oder weniger offiziell (z. B. durch Beflaggung öffentlicher Gebäude) begangen werden. Dies gilt etwa in Deutschland für den 23. Mai in Sachen Grundgesetz von 1949. Auf der EU-Ebene hat sich kürzlich Bemerkenswertes, im Grunde Törichtes ereignet. Hatte der Verfassungsvertrag von 2004 in seinem Symbol-Artikel 4 noch einen „Europatag“ vorgesehen (9. Mai), so wurde dieser im sogenannten Reformvertrag von Lissabon 2007 bewusst gestrichen. Gleichwohl ist zu vermuten, dass der Europatag ebenso wie die Europahymne und die Europaflagge materiell als Verfassungswirklichkeit weiterleben werden. Nach dem Nein Irlands am 13. Juni 2008 werden diese Symbole zum Überleben und Erleben Europas noch wichtiger. * Originalbeitrag.

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Eine Textstufenanalyse kann belegen, dass weltweit eine Reihe von Verfassungen verfassungsbezogene oder an die Unabhängigkeit erinnernde Feiertage „anordnen“, z. B. Art. 14 Abs. 5 Verf. Albanien (1998), auch als Tag der „Flagge“ bezeichnet, Art. 4 Abs. 5 Verf. Äquatorial-Guinea (1991), Art. 2 Abs. 10 Verf. Gabun (1994). Erinnert sei aber auch an den festlich begangenen Reichsgründungsfeiertag (18. Januar 1871) in Deutschland, an dem etwa kein Geringerer als R. Smend in den letzten Tagen der Weimarer Republik einen großen Festvortrag hielt, dessen Stichworte noch bis heute ausstrahlen: „Bürger und Bourgeois“. ( . . . ) .1 I. Das Vorbild Italien Eine – vorbildliche – Feier eines Verfassungstages war in Rom zu erleben. Er bezog sich auf 50 Jahre der italienischen Corte („Verfassungsgerichtsjahr“). In einem auch als Ausstellung präsentierten Prachtband2 wurde aus Anlass des 50-jährigen Bestehens der Corte die Verfassung von 1947 von Seiten und mit den Mitteln der Kultur, Kunst und Wissenschaft gefeiert. Die einzelnen Artikel der Verfassung von 1947 und die zugehörigen großen Judikate der Corte wurden zugleich im Kontext von Erläuterungen berühmter Verfassungsrichter illustriert. Große Dokumente, Gemälde und Zeichnungen aus der Kulturgeschichte Italiens bis hin zu Beispielen moderner Malerei, etwa im Blick auf das Arbeitermilieu und historische Schlachtengemälde sowie Allegorien über die Gerechtigkeit, wurden dokumentiert. Hier einige Beispiele aus diesem kulturwissenschaftlich-verfassungsjuristisch einzigartigen bibliophilen Werk, das eine Ausstellung dokumentiert hat: – zu Art. 4 (insbes. Recht auf Arbeit): Gemälde einer alten Seidenspinnerei, streikender Arbeiter, auf Reisfeldern tätiger Frauen, eines pflügenden Bauern, einer Baustelle: die Arbeit wird hier zwar traditionell, aber in ihrer ganzen Vielfalt dokumentiert, konsequent angesichts des Art. 1 Satz 1: „auf die Arbeit gegründete Republik“; – zu Art. 9, 33 und 34 (insbes. Umwelt, Kultur, Landschaft, Schule): Michelangelos Entwurf des Grabmals für Leo X. und Clemens VII., ein Frauenportrait aus der Renaissance, das Autograph N. Machiavellis zur Einleitung seiner „Discorsi“ (vor 1531), ein Portrait eines Humanisten, mehrerer Astronomen (beide 16. Jh.), das Autograph eines Manuskripts von G. Galilei (1616), eine Ansicht von Venedig (F. Guardi, 18. Jh.), Gemälde des Colloseums (18. Jh.), Olivengärten eines quasi-impressionistischen Malers, „Mein Syrakus“, ein Gemälde im eher modernen Stil, „Die Erzieherin“ (fast kubistisch); 1 Bürger und Bourgeois im Deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: R. Smend, Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl. 1968, S. 309 ff.; R. Poscher (Hrsg.), Der Verfassungstag, 1999. 2 1956 – 2006 – 50 anni di Corte Costituzionale: le immagini, le idee, Rom 2006, a cura di P. Boragina und G. Marcenaro.

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– zu Art. 29, 30 und 31 (insbes. Familie unter dem Gesamttitel ethisch-soziale Beziehungen): „Madonna mit Kind“ (ca. 1580), Familienbild im Stil der Renaissance, bürgerliches Familienbild, Familienbilder aus dem 20. Jahrhundert, mithin wird auch der Wandel des Familienbildes über die Zeit offenbar; – zu Art. 2 und 3 (insbes. Gleichheit, Vereinigungsfreiheit unter dem Gesamttitel Grundprinzipien, auch Religionsfreiheit): Renaissancegemälde einer Messe, antikisierende Darstellung der Predigt eines Apostels (18. Jh.), das Innere einer Synagoge (18. Jh.), Versammlung von Quäkern (18. Jh.), mithin also auch Darstellungen anderer Religionen als der eigenen, Gemälde verschiedener Versammlungen aus unterschiedlichen Zeitperioden (etwa Komödianten auf Märkten), Menschen in einer Straßenbahn (1923); – zu Art. 5 (insbes. lokale Autonomie): Phantasie-Städtebild, das die architektonischen Wahrzeichen vieler italienischer Kommunen vereinigt, etwa Roms, Mailands, Turins, Pisas, welches freilich nur exemplarisch bleiben kann; – zu Art. 11 (insbes. Verbot des Angriffskrieges): mehrere Schlachtenbilder in altem und neuen Stil, eine Allegorie des Friedens mit Lamm (18. Jh.); – zu Art. 24 und 25 (insbes. Gerechtigkeit und Justizgrundrechte): mehrere allegoriehafte Gemälde zur Gerechtigkeit aus dem 17. und 20. Jahrhundert, eine Erstausgabe des Werks C. Beccarias (1764); – zu Art. 10 (insbes. internationales Recht): Gemälde des Empfangs eines Botschafters (18. Jh.); hier fällt ein Defizit ins Auge: der in Italien so früh aufgenommene Gedanke der europäischen Einigung (Ventotene!) ist durch keine einzige Abbildung präsent; – zu Art. 32 (insbes. Gesundheit und Heilfürsorge): Gemälde der Armenfürsorge in Florenz (1514), Armenspeisung (17. Jh.); – zu Art. 41 und 47 (insbes. privatwirtschaftliche Initiative und Spartätigkeit): familiäre Stickerei im Adelsmilieu (18. Jh.), Portraits bekannter Kaufleute, alter handschriftlicher „Kontoauszug“ Michelangelos (1514).

Dem Verf. ist weltweit keine vergleichbare kulturwissenschaftlich-juristische Umsetzung einer gelebten Verfassung im Spiegel ihrer Teilgebiete von Religion, Wissenschaft und Kunst, politischem und sozialen Leben bekannt. Es ist gewiss kein Zufall, dass gerade Italien als das Kulturland Europas, ja der Welt, sich in Gestalt dieser Publikation feiert. Andere Länder bzw. verfassungsrechtliche Wissenschaftlergemeinden könnten sich in Kooperation mit (anderen) Kulturwissenschaftlern ein Beispiel an diesem Projekt nehmen. II. Das Beispiel Portugal 1. Aus der Verfassungswirklichkeit sei ein Beispiel aus Lissabon herausgegriffen. Der Verf. hat im Jahre 2006 (25. April) fast zufällig die politisch-soziale Wirklich-

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keit des in Lissabon gefeierten Verfassungstages Portugals erlebt. Gewiss, er war damals als Redner zu einer Festveranstaltung des portugiesischen Verfassungsgerichts und der juristischen Fakultät der alten Universität eingeladen, doch zuvor mischte er sich unter das Publikum, genauer die nationale Öffentlichkeit, die in ihrer Weise auf der Prachtstraße der Stadt, der Av. de Liberdade, die Verfassung von 1976 feierte. Man erlebte fast ein Volksfest, eine Art „Verfassung als öffentlicher Prozess“ mit vielen Bürgern und Gruppen als aktiven Interpreten. Im Einzelnen: Parteipolitische Gruppierungen, gesellschaftliche Verbände, Dorfabordnungen und Stadtteilvertretungen, aber auch Berufsgruppen aller Art zogen in einer Art Parade den großen Boulevard zum Meer hinunter. Alle Beteiligten und fast alle Zuschauer trugen symbolisch die seit 1974 berühmte rote Nelke („Nelkenrevolution“). Auf Transparenten, teils von den Menschen getragen, teils auf Fahrzeugen gezeigt, wurde ausdrücklich auf bestimmte Verfassungs-Artikel verwiesen, etwa in Sachen Arbeit, Familie oder Umwelt, auch Frieden. Teils wurden verfassungspolitische oder allgemein politische Forderungen vorgebracht und auf schmuck dekorierten Wagen illustriert. Spürbar war eine republikanische Stimmung, eine Artikulierung des Selbstverständnisses als verfasste Nation, bei allen Defiziten, die etwa in Sachen Arbeitslosigkeit angeprangert wurden. Als „teilnehmender Beobachter“ erlebte man ein in die Tat umgesetztes „constitutional law in public action“. Dem Verf. bleibt all dies unvergesslich; es war ihm auch im eher akademischen Milieu der eindrucksvollen wissenschaftlichen Tagung in der Gulbenkian-Stiftung stets gegenwärtig.3 2. Aus der Tiefe der Kulturgeschichte Portugals und ihrem „Humus“ seien in Anlehnung an den dokumentierten Band aus Rom jetzt folgende Bezüge zu Verfassungsbestimmungen von 1976 im Blick auf Vorkommnisse, Ereignisse, große Werke der Kunst und Kultur hergestellt: – das „Goldene Zeitalter“ (16. Jahrhundert), mit seinen großen Werken (dazu bei Art. 42); – die nationale Katastrophe des Erdbebens von 17554; – die Loslösung Brasiliens 1822; – zur inhaltsreichen Präambel: Erzählung der jüngsten Geschichte in Sachen portugiesischer Verfassungsstaat: 25. April 1974: Befreiung von der Diktatur und vom Kolonialismus, Wahrnehmung der Grundrechte, Bekenntnis zu Demokratie, Rechtsstaatlichkeit und „brüderlichem Lande“; Bilder von den Straßenfesten während der „Nelkenrevolution“, Dokumente der Verkündung der Verfassung durch die Verfassunggebende Versammlung (2. April 1976); – zu Art. 7 (Internationale Beziehungen): völkerrechtliche Dokumente, insbesondere zu den „freundschaftlichen Beziehungen mit den Ländern des portugiesi3 Der Vortrag ist veröffentlicht in EuGRZ 2006, S. 533 ff.: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus. 4 Abbildung von Lissabon in: Portugal, DuMont, 1987, S. 84.

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schen Sprachraums“ (Portugiesisch gilt als Muttersprache für 120 Millionen); ein Bild vom Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag; zum Friedensgebot als Gegendokument z. B. die Schlacht bei Aljubarrota5; – zu Art. 11 (nationale Symbole), insbesondere die Flagge: Die Flagge Portugals liest sich wie ein Geschichtsbuch; sie setzt die Staats- und Verfassungsgeschichte buchstäblich ins Bildliche um: die fünf blauen Schilde in Form eines Kreuzes repräsentieren die fünf maurischen Könige, die 1139 in einer Schlacht besiegt wurden; grün als Zeichen der Hoffnung war die Farbe Heinrich des Seefahrers6 (1394 bis 1460); das Wappen mit der Armillasphäre, einem alten Navigationsinstrument, spiegelt die große Rolle wider, die Portugal bei der Entdeckung der Welt außerhalb Europas spielte (überall trifft man auf Spuren der Weltentdecker: in Sagres, Porto, Batalha oder sogar in Lagos: Vasco da Gama entdeckte 1497 den Seeweg nach Indien); sodann das goldene Rad mit dem goldenen Bogen in der Flagge wurde im 13. Jahrhundert von König Alfons III. auf dem Schild hinzugefügt; die fünf weißen Punkte auf jedem Schild stehen für die Wunden Christi; das rote Feld wurde als Symbol der Revolution übernommen;7 die Rezeption des Symbols aus der Revolution vom 5. Oktober 1910 wäre durch ein Dokument dieser Tage zu illustrieren. Verfassungstheoretisch zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der Entstehung des Verfassungsstaates Portugal beschreibt, während die Nationalflagge die jahrhundertelange Entwicklung des Landes graphisch und farblich nachzeichnet; – zu Art. 12 f. (Grundrechte und Grundpflichten): große Judikate des Verfassungsgerichts in Lissabon und ihre Kommentierung durch die Wissenschaft; – zu Art. 15 (Ausländer, europäische Bürger): Heraushebung der Staatsbürger aus Ländern des portugiesischen Staatsraums; Dokumente der Länder wie Mosambik, Kap Verde, Angola, Guinea-Bissau; – zu Art. 41 (Freiheit des Gewissens und der Religionsausübung): Dokumente aus der Geschichte der Kirche einschließlich der Inquisition8; das Wunder von Fátima, „Land der Burgen und Abteien“9; – zu Art. 42 (Freiheit der kulturellen Entfaltung): Abbildungen aus der portugiesischen Kunst und Kultur, z. B. Manuelische Säulen im Kloster von Belém10, portugiesische Kachelkunst, Hieronymus-Kloster in Lissabon; aus der Lit.: L. de Abgebildet in Portugal, DuMont, 1987, S. 40. Sein Denkmal, abgebildet in: Portugal, Walter-Reiseführer 1986, S. 39; ebenfalls abgebildet in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, 1. Umschlagseite. 7 Abbildung zit. nach B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2005, S. 51. Allgemein zur Symbolfunktion von Nationalflaggen: P. Häberle, Nationalflaggen: kulturelle Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008. 8 Abbildung der Verbrennung von Inquisitionsopfern, in: Portugal, DuMont, 1987, S. 46. 9 Abbildungen in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 84 ff. 10 Abgebildet in: Portugal, DuMont, 1987, S. 63. Die weiteren Beispiele auf S. 67 ff. 5 6

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Camões (1524 – 1580, Epos „Die Lusiaden“); F. Pessoa (1888 – 1935); der Nobelpreisträger J. Saramago „Hoffnung in Altentejo“; aus der Musik: der Fado („Saudade“); – zur wissenschaftlichen Entfaltung: die Universitätsstadt Coimbra (Alte Universität, insbesondere die Universitätsbibliothek, von 1716 – 1732 errichtet11); die Gulbenkian-Stiftung in Lissabon; Tanzdarbietungen in Tracht12; erste Staatsrechtslehrer zur Verfassung von 1976 mit großen Lehrbüchern sind G. Canothilo und J. Miranda; als große Richter bzw. Präsidenten sind zu nennen: M. Cardoso da Costa; – zu Art. 66 (Umwelt- und Lebensqualität): Kulturlandschaften wie die Algarve, Albufeira und der Nationalpark von Buçaco, Costa do Sole, der Weinanbau im Douro-Tal, s. aber auch die „Afrikanischen Akzente“13; – zu Art. 78 (kulturelles Schaffen): Abbildungen von Objekten des nationalen Kulturgüterschutzes, z. B. der kunstvollen Fliesen („Azulejos“), des Emanuelstils (1490 – 1540); Unesco-Weltkulturerbe14: Porto, Tomár, Évora, Sintra; – zu Art. 79 (Körperkultur und Sport): als Kultur im weiteren Sinne zu verstehen: wohl auch der portugiesische Stierkampf; – zu Art. 150 (Versammlung der Republik): Parlamentsgebäude Saõ Bento15; – zu Art. 278 – 283 (Verfassungsgericht): Abbildung des Palastes, einer Plenarsitzung und Darstellung großer Judikate, insbesondere zu den Grundrechten.

III. Das kulturelle Verfassungs-Potential des „europäischen Spanien“ Spaniens Verfassungskultur ist für dieses Projekt aus vielen Gründen besonders ergiebig: auf allen Gebieten von Kunst und Kultur steht es in Europas Geschichte fast einzigartig dar: man denke an das „Goldene Zeitalter“ einerseits und an die modernen Klassiker wie A. Gaudí, P. Picasso, J. Miro16, S. Dali andererseits. Verfassungsjuristisch gibt es vor der europaweit vorbildlichen Verfassung von 1978 große Texte, vor allem in der Verfassung von Cádiz (1812)17 und der republikanischen Verfassung von 193118. Der kulturwissenschaftliche Ansatz kann sich in Abbildung in G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 75. Abbildung in G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 48. 13 Dokumentiert in: G. Faber / O. Kasper, Portugal, 1983, S. 142 ff. 14 Abbildungen in UNESCO-Weltkulturerbe, 2003, S. 214 – 223. 15 Abgebildet in: Portugal, DuMont, a. a. O., S. 96. 16 Vgl. den Bildband J. Miró, Ediciones Polígrafa, 1994. 17 Abbildung des Platzes von San Antonio, auf der die Verfassung von 1812 verkündet wurde, in: Bildband Cádiz, Editorial Escudo de Oro, 1997, S. 37. Zur Rolle des Textes von 1812: F. Balaguer, Der Beitrag Spaniens zur europäischen Rechtskultur, JöR 52 (2004), S. 11 (14); A. Timmermann, Die „Gemäßigte Monarchie“ in der Verf. von Cádiz (1812) . . ., 2007. 18 Vgl. den Band: J. de Esteban (Hrsg.), Las Constituciones de Espan ´ a, 2000. 11 12

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Spanien besonders bewähren. Im Folgenden sind jedoch nur einige Skizzen möglich. Auch sie orientieren sich an dem bereits analysierten Bildband der italienischen Ausstellung in Rom (2006). Aus der Nationalgeschichte: – die Reconquista, christliche Wiedereroberung 722 – 1492 (oft geschildert und gemalt); – Beginn der Inquisition 1478 (in vielen Gemälden präsent); – die Eroberung Granadas durch die katholischen Könige (1492) und die gleichzeitige Entdeckung Amerikas durch C. Kolumbus (das oft dargestellt am Bild des weinenden Boabdil beim Abschied von Granada); – Urkunde des Friedensvertrags zwischen Spanien und den Vereinigten Staaten (1795)19; – der erbarmungslose Krieg Napoleons in Spanien (1808 – 1814), „Der 3. Mai 1808 in Madrid: Die Erschießung der Aufständischen“ (F. de Goya, 1814)20; – 1814, der aus dem Exil zurückkehrende Ferdinand VII. hebt die 1812 von den Cortes in Cádiz beschlossene liberale Verfassung auf; – 1936 – 1939 Bürgerkrieg, Beteiligung der Internationalen Brigade gegen Franco, Intellektuelle wie E. Hemingway, G. Orwell, A. Koestler und A. Malraux, Ermordung von Künstlern wie G. Lorca21, „Guernica“ (P. Picasso, 1937)22; das FrancoRegime 1936 / 39 – 1975; – zu Präambel der Verfassung des Königreiches Spanien (1978)23: Bilddokumente zur Verfassunggebenden Versammlung, vor allem die Originalbände des Erstdrucks der Verfassung; A. Sanchez-Agesta als einer der Väter der Verfassung; – zu Art. 1 Abs. 3 (Parlamentarische bzw. republikanische Monarchie): Bilder des Königspalastes in Madrid24; – zu Art. 2 (Autonomie der Nationalitäten und Regionen): Bilder von Kulturlandschaften wie Katalonien, Andalusien und Galizien, auch Asturien und Valencia; – zu Art. 3 Abs. 3 (Reichtum der unterschiedlichen sprachlichen Gegebenheiten Spaniens als Kulturgut): Konflikte zwischen dem Spanischen und z. B. der katalonischen Sprache (Sprachgesetz von 1998: Gleichstellung des Katalanischen mit dem Spanischen als Staatssprache); Abgebildet in: The Majesty of Spain, 2001, S. 41. Abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 220. 21 Bemerkenswert: Lunwerg Editores, Manhattan . . . cita con Federico García Lorca, 2002. 22 Abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 225. 23 Zur Vorbildlichkeit der spanischen Verfassung von 1978 gleichnamig P. Häberle, JöR 51 (2003), S. 587 ff. 24 S. vor allem den Bildband: The Majesty of Spain, 2001, S. 18. 19 20

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– zu Art. 4 Abs. 1 (Nationalflagge): an ihr als z. T. vordemokratischem Symbol lässt sich die politische Geschichte und die Kulturgeschichte Spaniens ablesen25: Rot und Gelb finden sich seit dem 13. Jahrhundert auf der Fahne Kataloniens sowie Kastiliens und Aragóns; 1785 übernahm der König von Spanien zur Unterscheidung seiner Schiffe von anderen Nationen gerade diese Farben; die Republik Spanien von 1931 entschied sich für gleichmäßig rot-gelb-violette Streifen; Franco führte 1939 die Originalflagge wieder ein; seitdem findet sich das Wappen auf der Fahne; die Felder des Schildes stellen vier Provinzen dar: Kastilien, León, Aragón und Navarra; getragen wird das Schild von den Säulen des Herkules (Gibraltar!); erneut zeigt sich, dass die Präambel eine kurze Phase der verfassungspolitischen Entwicklung erzählt, während sich in der Nationalflagge lange Jahrhunderte der wechselvollen Geschichte wiederspiegeln; – zu Art. 4 Abs. 2 (Die Autonomen Gemeinschaften): sie haben gemäß ihren Statuten die Möglichkeit zu eigenen Flaggen und Emblemen; besonders schön ist die Flagge von Andalusien; die „Verfassungen“ der Gemeinschaften widmen sich durchweg eingehend diesem Thema; in der Praxis wird nicht immer das Gebot des Art. 4 Abs. 2 Satz 2 befolgt; in Granada etwa weht 2008 auf einem öffentlichen Platz nur die spanische Flagge!; – zu Art. 8 (Souveränität und Unabhängigkeit Spaniens): Bilder des Heeres und der Marine (Abzug spanischer Soldaten aus dem Irak); – zu Art. 11 Abs. 3 (Besondere Verbundenheit zwischen Spanien und Ibero-amerikanischen Ländern): hier werden Bilddokumente aus der großen und zugleich fragwürdigen Kolonialgeschichte Spaniens einschlägig, beginnend mit Kolumbus, freilich auch der Inquisition, des Raubes von Inka-Gold für Spaniens Kirchen; – zu Art. 18 Abs. 1 (Recht auf Ehre): der sprichwörtlich „stolze Spanier“; – zu Art. 20 Abs. 1 lit. b (Recht auf literarische, künstlerische, wissenschaftliche etc. Produktion und Schöpfung): Bilddokumente aus der spanischen Kunstgeschichte, etwa von P. Picasso26, S. Dali27, sowie aus dem „Goldenen Zeitalter“ Werke von Cervantes (1605: Don Quichotte), Lope de Vega, Caldéron, Velásquez28, El Greco und F. de Goya (insbes. seine Caprichos, 1797 – 1799, mit Blättern wie „Wider das allgemeine Wohl“29)30; der Volkstanz des „Flamenco“; Abbildung in: B. J. Barker, Weltatlas der Flaggen, 2004, S. 51. Vgl. den Bildband: D. Chevalier, Picasso blaue und rosa Periode, o. J., Südwest Verlag München. 27 Vgl. den Band: Surrealismus, hrsgg. von S. Wilson, 1975, Farbtafel 29 („Der Schlaf“); Farbtafel 30 („Vorahnung des Bürgerkriegs“), 1936. 28 Vgl. den Bildband sämtlicher Werke hrsg. von J. López-Rey, 1997, z. B. „Die Übergabe von Breda“, Bilder vom Hofleben in Madrid, etwa die (Reiter-)Porträts der königlichen Familie. 29 Abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 193. 30 Abbildungen in: The Majesty of Spain, a. a. O. 25 26

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Kompositionen von M. de Falla (Spanien ist Gegenstand vieler Opern und Musikstücke aus ganz Europa, z. B. von Mozart, Chabrier sowie M. Ravel); – zu Art. 27 Abs. 10 (Garantie der Autonomie der Universitäten): große Leistungen der jüngeren spanischen Staatsrechtslehre, derzeit die „neue Schule von Granada“; – zu Art. 46 (Erhaltung und Förderung des historischen, kulturellen und künstlerischen Erbes der Völker Spaniens); dieses Kulturerbe ist unerschöpflich31; man denke nur an die Schätze in Granada32, Barcelona33, Córdoba, Sevilla34 und Salamanca35 sowie Santiago de Compostela36 und Oviedo; erinnert sei auch an das Kloster El Escorial. Das maurische Erbe sei nicht vergessen37; eine Reise ins spanische Mittelalter, in dem sich Christliches und Maurisches verbinden, ist nicht minder ergiebig38; 1882 erklärte Spanien die keltiberisch-römischen Ruinen zum ersten geschützten Kulturgut des Landes; das Gesetz zum Schutz von Kulturschätzen (1985) verpflichtet dazu, Landschaften als „Ausdruck der Vielfalt ihres gemeinsamen Kultur- und Naturerbes und als Grundstein ihrer Identität“ rechtlich anzuerkennen; UNESCO-Weltkulturerbe: z. B. Palmenhain von Elche, Toledo, Burgos, Segovía; die Kanarischen Inseln sind eine eigene Naturund Kulturwelt39; – zu Art. 56 (Die Krone): Bewährung von Juan Carlos I. beim Niederschlagen eines Staatsstreiches im Jahre 1981; Verleihung großer Kulturpreise durch den König (z. B. des Cervantes-Preises), durch den Kronprinzen des Preises des Prinzen von Asturien (z. B. an H. M. Enzensberger); – zu Art. 59 – 165 (Einrichtung des Verfassungsgerichts in Madrid): via Domenico Scarlatti; große Judikate, auch Sondervoten (nach Art. 164 Abs. 1, z. B. von P. Cruz Villalón); Ermordung des großen Gerichtspräsidenten F. T. y Valiente40; – zu Art. 137 (Territoriale Gliederung): Gewährung von Autonomie auch an die Gemeinden; 31 Vgl. den Text- und Bildband „Spanien“, München 1991, etwa zu León, Galicien, Zentralspanien, Murcia. 32 Vgl. die Merian-Bildbände: Andalusien, 1958 sowie Andalusien, 1990 sowie den Band: Bucher’s Städtereisen, Granada, 1992 sowie der Bildband: En la Alhambra, 2006. 33 Vgl. den Bildband: A Stroll Through Modernista Barcelona, Ediciones Polígrafa, 1999. 34 Vgl. den Bildband: Bucher’s Städtereisen, Sevilla, 1992. 35 Vgl. nur Salamanca 2002, Ciudad Europea de la Cultura, 2002. 36 Vgl. den Bildband: Santiago de Compostela, Everest-Verlag, 1998. 37 Vgl. den Bildband: M. Barrucand / A. Bednorz, Maurische Architektur in Andalusien, 1992; J.-C. Spahni, L’Alpujarra, 1983. 38 Vgl. den Band: H. J. Leonardy / H. Kersten, Burgen in Spanien, 2002; s. auch H. Schomann, Kunstdenkmäler der iberischen Halbinsel, Teil III, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, 1998. 39 Vgl. das Bildmaterial in Merian-Heft 1964: Die Kanarischen Inseln. 40 Dazu das Richterbild von P. Cruz-Villalon, F.T. y Valiente, JöR 53 (2005), S. 359 ff.

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– zu Art. 143 (Autonome Gemeinschaften): Ringen von Katalonien und Andalusien41 um ein Höchstmaß an Autonomie; der Sonderfall des Baskenlandes (Ibarretxe-Plan), Konflikt mit König, Parlament und Verfassungsgericht um Loslösung durch einseitiges Referendum (dies wäre auch ein Verstoß gegen das „Europäische Verfassungsrecht“); Navarra42; – zu Art. 147 (Minimalelemente für die Autonomie-Statute, insbesondere das Gebot, der Name der Gemeinschaft müsse der historischen Identität am besten entsprechen): Erarbeitung der nach dem Selbstverständnis der Autonomen Gemeinschaften charakteristischen Elemente ihrer „historischen Identität“; weitere Merkmale der historischen Identität der 17 Gemeinschaften, Beispiele: Alhambra und neuerdings die Moschee in Granada, Gaudis43 „Sagrada Familia“ in Barcelona, die Kathedrale in Burgos und in Toledo, die Kathedrale in Santiago de Compostela, die Hauptfront der Universität in Salamanca44.

Sowohl angesichts der Kunstgeschichte als auch im Blick auf die heutige Verfassung ist das Wort vom „europäischen Spanien“ mehr als berechtigt.45 IV. Ein Projekt für Deutschland Ganz gewiss wären Deutschlands Grundgesetz und Portugals bzw. Spaniens Verfassung analog dem Band aus Rom (2006) aus der ganzen Tiefe ihrer nationalen und europäischen Kulturgeschichte in extenso darzustellen. Vier positive Beispiele für Deutschland gibt es schon, auch wenn sie mit dem besagten italienischen Gesamtkunstwerk aus Verfassungsrecht und Kultur nicht konkurrieren können: W. Fiedler (Hrsg.), Die erste deutsche Nationalversammlung 1848 / 49, Handschriftliche Selbstzeugnisse ihrer Mitglieder, 1980 – dieses „Parlaments-Album“ enthält große Texte über das Verfassungs- und Rechtsverständnis, auch Selbstverständnis der Abgeordneten; hinzuzunehmen ist das große Wandgemälde in der Frankfurter Paulskirche46 „Der Zug der Volksvertreter“, 1991, von J. Grützke –, sodann der Bildband B. Fait, Auf dem Weg zum Grundgesetz, Verfassungskonvent Herrenchiemsee 1948, 1998, auch J. Limbach u. a. (Hrsg.), Die deutschen Verfassungen (Reproduktion der Verfassungsoriginale von 1849, 1871, 1919 sowie des Grundgesetzes von 1949), 1999, sowie K. Hempel-Soos (Hrsg.), Unser Grundgesetz, Meine Verfassung, Ansichten von Schriftstellern (mit Fotografien), 200347. Opulente Bilder in: J. A. Núñez, Andalucía Abierta, 1995. Hierzu ein prächtiger Bildband: J.C. Baroja / J.A. Fernández, Navarra, 1990. 43 Vgl. den Bildband: L. Permanyer / M. Levick, Gaudí of Barcelona, 1997. 44 Abbildungen in: H. Buisman, Spanien, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1972, z. B. S. 274, 354, 470 f., 505. 45 Aus der Lit.: M. Azpitarte, Europäisches Spanien, JöR 56 (2008), S. 479 ff. 46 Abbildungen in: Die Frankfurter Nationalversammlung 1848 / 49, 1989: Abbildung des feierlichen Einzugs des Reichsverwesers in Frankfurt / M. am 11. 7. 1848, S. 3, Abbildung der Eröffnung der Nationalversammlung in der Paulskirche, S. 18. 41 42

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Zur Vorgeschichte des GG gehört: „Herrenchiemsee: Auf dem Weg zum Grundgesetz“48 (1947). Ihr Pionier-Artikel 1 lautet: „Der Staat ist um des Menschen willen da, nicht der Mensch um des Staates willen“49. Erste Pionierautoren zur deutschen Grundgesetz-Wissenschaft sind: G. Dürig, K. Hesse, G. Leibholz, E. R. Huber (zur Verfassungsgeschichte), E. Forsthoff (zum Verwaltungsrecht), indes: Selbst sie sind vielleicht (relative) „Zwerge“ auf den „Schultern von Riesen“ der Weimarer Klassiker der 20er Jahre, nämlich von H. Kelsen, der wohl R. Smend, C. Schmitt sowie E. Kaufmann „provoziert“ haben dürfte. Resümee: „Weimar über alles“? Jedenfalls genießt heute „Weimar“ im Rückblick europaweit höchstes Ansehen, sowohl die Texte der WRV als auch ihre Verfassungsjuristen; z. B. ist „Weimar“ in Italien viel diskutiert, ebenso in Spanien. Was waren die Gründe für den damaligen Reichtum an Theorieentwürfen? Die Krise, die Kultur der 20er Jahre in Wien und Berlin? Im Rückblick ist Weimar ein europäisches Ereignis der Verfassungsrechtswissenschaft geworden: bis heute. Für das – z. T. hier visuell gedachte, freilich seit 1949 viel zu oft geänderte (über fünfzig Mal!) – Grundgesetz50 etwa ist neben klassischen Bilddokumenten und Werken aus Kunst und Kultur und „ikonischen Momenten“ der deutschen Geschichte auch im Kontext von Leitentscheidungen des BVerfG sowie von Klassikerzitaten51 Folgendes darstellbar: – zur Präambel (Gottesbezug): z. B. Eidesleistung52 des (ersten) Bundespräsidenten im Bundestag (T. Heuss)53; Goethes Dictum „Gottes ist der Orient! / Gottes ist der Okzident! / Nord- und südliches Gelände / Ruht im Frieden seiner Hände“; F. Schiller: „Die Natur ist ein unendlich geteilter Gott“; „Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen anderen“ (M. Buber); als Gegentext: „Wenn ein Gott diese Welt gemacht hat, so möchte ich nicht der Gott sein.“ (A. Schopenhauer); 47 Eine Pionierleistung ist der Band Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, hrsgg. von W. Pleister / W. Schild, 1988. Er nimmt zwar nicht auf Verfassungen Bezug, ist aber einer illustrierten Rechtsphilosophie sehr nahe in den Kapiteln: „Der Mythos des Rechts“, „Gott als Richter“, „Gerechtigkeitsbilder, Menschenrecht, Tierfabel und Tierphysiognomik“, „Relativierung von Recht und Gerechtigkeit“, „Die Thematisierung des Verhältnisses von Recht und Herrschaft in der Kunst der Neuzeit“ und „Die Rückseite des Spiegels“. 48 Gleichnamig mit Abbildungen: Haus der bayerischen Geschichte, 1998. 49 Zit. nach JöR 1 (1951), S. 48. 50 Zur „Vorgeschichte der Bundesrepublik Deutschland“ gleichnamig J. Becker / T. Stammen / P. Waldmann (Hrsg.), 1979. Zu den Textstufen des GG: H. Dreier / F. Wittreck (Hrsg.), 2006, 3. Aufl. 2008. 51 Zur verfassungstheoretischen Einordnung: P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; s. auch ders., Das Grundgesetz der Literaten, 1983. 52 P. Prodi, Der Eid in der europäischen Verfassungsgeschichte, 1992. 53 H. Hamm-Brücher / H. Rudolph, Theodor Heuss, Eine Bildbiographie, 1983, S. 113 (erste Rede vor der Bundesversammlung).

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– zur Präambel (insbes. dem Wiedervereinigungsauftrag): Bilder vom Fall der Berliner Mauer54 (1989), Reststücke der Berliner Mauer in der Hauptstadt; BVerfGE 36, 1 (Wiedervereinigungsauftrag, Grundlagenvertrag), im Kontrast: Dokumente zur Berliner Luftbrücke 1948 / 4955, die Sprengung der Leipziger Pauliner-Kirche als „sozialistisches Exempel“ gegen das Bürgerliche (1968)56; – zur Präambel (Vereintes Europa): dazu unten bei Art. 23 n.F. GG; – zu Art. 1 Abs. 1 GG (Menschenwürde): der Autograph des Klassikertextes von I. Kant, als Kontrast ergänzt um Dokumente zu Folterszenen in Konzentrationslagern (Auschwitz)57 sowie zu „Flucht und Vertreibung“ (1945), Untergang der „Gustloff“ (Buch „Im Krebsgang“ von G. Grass 2002); – zu Art. 1 Abs. 2 GG: J.-J.-F. Le Barbier d. Ä., „Die Erklärung der Menschen und Bürgerrechte“ (1789)58; Goethe: „Und das heilige Menschenrecht | Gilt dem Herren wie dem Knecht.“; – zu Art. 2 Abs. 1 GG (Handlungsfreiheit): Klassikertexte: J. W. Goethe59: „Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, der täglich sie erobern muss.“ – Leitentscheidungen BVerfGE 6, 32 (Elfes); Klassikertexte R. Luxemburg: „Freiheit ist immer Freiheit der Andersdenkenden.“; „Hab Achtung vor dem Menschenbild60 | Und denke, dass, wie auch verborgen, | Darin für irgendeinen Morgen | Der Keim zu allem Höchsten schwillt.“ (F. Hebbel) ; sodann: „das Gesetz nur kann uns Freiheit geben“ (Goethe); „Freiheit? Ein schönes Wort, wers recht verstünde. Was wollen sie für Freiheit? Was ist des Freisten Freiheit? – Recht zu tun!“ (Goethe); G. Heinemann: „Das Kleid unserer Freiheit sind die Gesetze, die wir uns selber gegeben haben.“ Neuer Problembereich: Online-Durchsuchung; schon klassisch: Volkszählungsurteil: BVerfGE 65, 1; – zu Art. 3 Abs. 1 GG (Gleichheit, Willkürverbot): – Der Anti-Text C. Schmitt: „Die Juden und die deutsche Rechtswissenschaft“ und noch schlimmer: „Der Jude Stahl“, leider auch R. Wagner: „Das Judentum in der Musik“ ( . . . ). Dokumentation der Ermordung europäischer Juden durch die Nazis; – zu Art. 3 Abs. 2 S. 3 GG (Diskriminierungsverbot gegenüber Behinderten): Speziell BVerfGE 42, 263 (Contergan-Geschädigte); 54 Abbildungen der Mauer vor ihrem Fall, in: T. Köster. Die vermessene Mauer, FAZ vom 8. Mai 2008, S. R 10, Nr. 107. 55 Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 306. 56 Abgebildet in FAZ vom 30. Mai 2008, S. 3 und in Rheinischer Merkur Nr. 22 / 2008, S. 32. 57 Fotos der „Selektion“ in: J. H. Schoeps, Neues Lexikon des Judentums, 1992, S. 53 – 54. 58 Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 164. Siehe auch das suggestive Flugblatt von 1798, abgebildet in W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 216. 59 Bildnis Goethes in der Campagna, abgebildet z. B. in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 157. 60 Zum „Menschenbild im Verfassungsstaat“ gleichnamig P. Häberle, 1988, 4. Aufl. 2008.

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– Art. 4 GG (Religionsfreiheit): viele Dokumente beginnend mit M. Luther,61 die Deutschland als „Land der Reformation“ repräsentieren: „Hier stehe ich und kann nicht anders“62; T. Riemenschneider (Selbstbildnis aus dem Creglinger Altar)63; Friedrichs II. Toleranz: „Die Religionen müssen alle tolleriret werden“64; Lessings Ringparabel aus „Nathan der Weise“65; der übergreifende schönste Text stammt von Goethe: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion. Wer diese beiden nicht hat, der habe Religion.“ F. Schiller liefert zur Gewissensfreiheit des Art. 4 GG den großen Satz aus „Don Carlos“: „Sire, geben Sie Gedankenfreiheit!“ – Als Negativbild müssen die Reichspogromnacht (1938) und die Bücherverbrennungen66 (1934) erwähnt werden. – Leitentscheidungen des BVerfG sind: BVerfGE 24, 236 (Lumpensammlerfall); 52, 223 (Schulgebet); 93, 1 (Anti-Kruzifix); 104, 337 (Schächten). – Weitere Klassikertexte lauten: „Religion ist die Erkenntnis aller unserer Pflichten als göttliche Gebote“ (I. Kant); „Eine Religion, die der Vernunft unbedenklich den Krieg ankündigt, wird es auf die Dauer gegen sie nicht aushalten“ (I. Kant); „Die Naturwissenschaft ohne Religion ist lahm, die Religion ohne Naturwissenschaft ist blind“ (A. Einstein); „Religion ist Bejahung alles Seienden trotz alledem“ (G. Radbruch); – zu Art. 5 Abs. 1 und 2 GG (Meinungsfreiheit, Pressefreiheit): Erfindung des Buchdrucks durch Gutenberg67; G. C. Lichtenberg: „Mehr als das Gold hat das Blei in der Welt verändert. Und mehr als das Blei in der Flinte das im Setzkasten“; Dokumente und Bilder zur Spiegel-Affäre (1962). Freilich auch K. Kraus: „Feuilletonisten und Friseure haben gleich viel mit den Köpfen zu schaffen.“ – Leitenscheidungen BVerfGE 7, 198 (Lüth) – 2008 50 Jahre alt! –; 20, 162 (Spiegel); 93, 266 („Soldaten sind Mörder“), demgegenüber das glückliche Konzept des „Bürgers in Uniform“ für die Bundeswehr; – zu Art. 5 GG Abs. 1 (Informationsfreiheit): Negativerfahrung seit 1939 („Feind hört mit“); 61 Abbildung der 95 Thesen in: W. Venohr / F. Kabermann, Brennpunkte Deutscher Geschichte 1450 – 1850, 1978, S. 21; ebd. auch der Holzschnitt Luthers von L. Cranach d.Ä., S. 23. 62 Abbildung des handschriftlichen Entwurfs für seine Rede vor dem Wormser Reichstag 1521, in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 30. 63 Abbildung in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 43. 64 Abbildung seiner berühmten Randbemerkung in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 117. 65 Bilddokumente Lessings in: L.R. Santini (Hrsg.), Eine Reise der Aufklärung, Lessing in Italien 1775, 1993, insbes. S. 505 f. – Zu Wolfenbüttel, einer Wirkstätte von Lessing, der Bildband Wolfenbütteler Cimelien, Herzog August Bibliothek, 1989. 66 Dazu W. Treß, „Wider den undeutschen Geist!“, Bücherverbrennung 1933, 2008, mit zahlreichen Abbildungen. Verbrannt wurden etwa Werke von B. Brecht, K. Marx, H. Mann, Erich Kästner. 67 S. Füssel, Johannes Gutenberg, 2000, mit vielen Bilddokumenten. – Die Illustrationen von L. Cranach zur Lutherbibel (1522) sind abgebildet in: Cranach im Exil, Aschaffenburg um 1540, hrsgg. von G. Ermischer u. a., 2007.

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– zu Art. 5 Abs. 3 GG (Kunstfreiheit): z. B. Buchmalerei68, Nibelungenlied (um 1200); das berühmte Selbstportrait von A. Dürer69, Partituren von J. S. Bach70 und W. A. Mozart; L. v. Beethovens „Ode an die Freude“: seine Streichung der Widmung der Eroica an Napoleon (1804)71; Autographen von J. W. v. Goethe, H. Janssens Gemälde der drei Lebensalter von Goethe. – BVerfGE 30, 173 (Mephisto); BVerfG E 119,1 (Esra). – Klassikerzitate: „Die Kunst ist das Gewissen der Menschheit“ (F. Hebbel); „Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar“ (P. Klee); „Die Kunst gibt sich selbst Gesetze und gebietet der Zeit. Der Dilettantismus folgt der Neigung der Zeit.“ und „Jede Kunst verlangt den ganzen Menschen, der höchstmögliche Grad derselben die ganze Menschheit“ (Goethe); ders. „Man weicht der Welt nicht sicherer aus als durch die Kunst, und verknüpft sich nicht sicherer mit ihr, als durch die Kunst“; Novalis: „Wissenschaft ist nur eine Hälfte, Glauben ist die andere“; „Die Kunst gehört keinem Lande an, sie stammt vom Himmel“ (Michelangelo); „Wenn wir über das Kunstwerk den Künstler vergessen können, damit ist dieser am feinsten gelobt.“ (G. E. Lessing); Goethes Faust72; K. F. Schinkels Wirken in Berlin, z. B. Die neue Wache, 181673; Filmkunst; z. B. die Nibelungen (Stummfilm)74, in den 60er Jahren der neue deutsche Film75 (z. B. R. W. Fassbinder); – Erweiterung des Kunstbegriffs durch J. Beuys: „Jeder Mensch ist ein Künstler.“ Kommentar des Verf.: „Aber nicht jeder ist ein Beuys“; H. Heine: „Dort wo man Bücher verbrennt, verbrennt man am Ende auch Menschen“; F. Hölderlin: „Die Kunst ist der Übergang aus der Natur zur Bildung und aus der Bildung zur Natur“; s. aber auch A. Schmidt: „Farbenblindheit ist selten; Kunstblindheit die Regel“; – zu Art. 5 Abs. 3 GG (Wissenschaftsfreiheit): Die „Göttinger Sieben“ (1837, z. B. die Brüder Grimm oder auch F. C. Dahlmann);76 A. v. Humboldts Skizzen seiner Südamerikareisen77; die Erfindungen und Entdeckungen deutscher Wissen68 Abbildungen in: F. Walther / N. Wolf, Meisterwerke der Buchmalerei, 2005, S. 138 ff. (Evangilar Heinrichs des Löwen (1175 – 1188)). 69 Von ihm auch die „Madonna auf dem Halbmond“, um 1500, abgebildet in H. Leicht: Illustrierte Kunstgeschichte der Welt, o.J., S. 453. 70 W. Kolneder / K.-H. Jürgens (Hrsg.), Lebensbilder von J. S. Bach, 1984. 71 Abbildung in: Die Musik, Menschen, Instrumente und Ereignisse in Bildern und Dokumenten, 1979, S. 105. 72 Abbildungen der Titelseite in: J. Göres, Goethes Leben in Dokumenten, 1981, S. 238 f. sowie Lithographien von Einzelszenen z. B. S. 241 (im Kerker). 73 Abgebildet in: N. Pevsner u. a. (Hrsg.), Lexikon der Weltliteratur, 1971, S. 140; s. auch Schinkel-Museum, Friedrichsverdersche Kirche, 1987. 74 Abbildungen in: J. Brennicke / J. Hembus, Klassiker des Deutschen Stummfilms (1910 – 1930), 1983, S. 105 ff. 75 Vgl. dazu D. Krusche, Reclams Filmführer, 2000, z. B. der Eintrag zum Film Fassbinders „Angst essen Seele auf“, S. 49 f. 76 Abbildungen von J. und W. Grimm in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 232. 77 Die W. von Humboldt-Statue vor der Humboldt-Universität zu Berlin als Pendant, Abbildung in: K.-D. Gandert, Vom Prinzenpalais zur Humboldt-Universität, 3. Aufl. 1992, S. 4.

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schaftler (beispielsweise der chemischen Strukturformel des Benzols A. Kekulés (1865)). – „Die Wissenschaften gehen vorwärts nicht im Zirkel, aber in einer Spirallinie – dasselbe kommt wieder, aber höher und weiter“ (Goethe); „Das schönste Glück des denkenden Menschen ist, das Erforschliche erforscht zu haben und das Unerforschliche ruhig zu verehren“ (Goethe), derselbe aber auch kritisch: „Die Professoren und ihre mit Zitaten und Noten überfüllten Abhandlungen, wo sie rechts und links abschweifen und die Hauptsache vergessen machen, vergleiche ich mit Zughunden, die, wenn sie kaum ein paar Mal angezogen haben, auch schon wieder ein Bein zu allerlei bedenklichen Verrichtungen aufheben, so dass man mit den Bestien gar nicht vom Flecke kommt, sondern über Wegstunden tagelang zubringt“; – zu Art. 6 GG (Ehe und Familie): Bilder der deutschen Familie und ihres Wandels, etwa dokumentiert in dem Band von I. Weber-Kellermann78. Vgl. auch den Gleichstellungsauftrag in Bezug auf uneheliche Kinder in Art. 6 Abs. 5 GG: BVerfGE 25, 167 (Nichtehelichkeit); E 44, 1 (Nichtehelichen-Erbrecht); im Übrigen E 6, 55 (Zusammenveranlagung); E 105, 313 (Lebenspartnerschaftsgesetz); I. Kant, „Der Mensch ist das einzige Geschöpf, das erzogen werden muss“; – zu Art. 7 GG (Schulwesen): Leitentscheidungen: BVerfGE 52, 223 (Schulgebet); E 93, 1 (unseliger Anti-Kruzifixbeschluss); E 98, 218 (Farce „Rechtschreibreform“); 108, 282 (Kopftuch)79; „Wenn wir die Menschen nur nehmen wie sie sind, so machen wir sie schlechter; wenn wir sie behandeln, als wären sie, was sie sein sollten, so bringen wir sie dahin, wohin sie zu bringen sind.“ (Goethe); „wissenschaftlicher Optimismus“ im Verfassungsrecht als Eigenzitat des Verfassers: „Wenn man die Dinge so negativ sieht, wie sie zu sein scheinen, macht man sie schlechter, als sie sein können“ (Antithese zum „wissenschaftlichen Pessimismus“ eines H. Schelsky); – zu Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit): „Wir sind das Volk“ (aktualisierter Klassikertext von G. Büchner)80, Montagsdemonstrationen in Leipzig (1989). – Leitentscheidungen: BVerfGE 73, 206 (Sitzblockaden, Mutlangen: H. Böll, W. Jens); Demonstrationsfreiheit81: R. Dutschke mit R. Dahrendorf in Freiburg / Br. (1968); – zu Art. 9 GG (Vereinigungsfreiheit): Gewerkschaften, „Solidarnosc“ 1981, ihre europaweite Wirkung, insbes. auch im Blick auf den Mauerfall im deutschen Berlin (1989), der polnische Papst Johannes Paul II.; S. auch O. Krätz, A. von Humboldt, Wissenschaftler, Weltbürger, Revolutionär, 2. Aufl. 1997 (mit großen Zitaten, etwa zum Umweltschutz und gegen die Misshandlung von Sklaven). 78 I. Weber-Kellermann, Die deutsche Familie, 1996. 79 Vgl. auch P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 80 E. Kuhn, „Wir sind das Volk“, die friedliche Revolution in Leipzig, 9. Oktober 1989, 1992. 81 S. auch den Band F. Duve / H. Böll / K. Staeck (Hrsg.), Briefe zur Verteidigung der Republik, 1977.

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– zu Art. 10 GG: BVerfGE 109, 279 („großer Lauschangriff“); E 100, 313 (Rasterfahndung). Repräsentativ die Aufarbeitung der Thematik im Oscar-prämierten Film „Das Leben der Anderen“ (2006); – zu Art. 11 GG (Freizügigkeit): Gegenwirklichkeit: das Ausreiseverbot in der Ostzone; „Kopfgeld“ seitens der Honecker-DDR sowie im Rumänien Ceaucescus; – zu Art. 12 GG (Arbeit): BVerfGE 7, 377 (397): „[Die] Arbeit als „Beruf“ hat für alle gleichen Wert und gleiche Würde“; aus dem Theater: G. Hauptmanns Drama „Die Weber“ (1892). – Leitentscheidungen BVerfGE 7, 377 (Apothekenurteil); E 50, 290 (Mitbestimmung; Berichterstatter K. Hesse); Berufsverbot für E. Nolde (1937 – 1945: „ungemalte Bilder“); – zu Art. 13 GG (Wohnung): Wohnung als „räumliche Privatsphäre“ (BVerfGE 32, 54) zuletzt E 103, 142; – zu Art. 14 GG (Eigentum): „Eigentum ist Diebstahl“, aber auch „Eigentum ist Freiheit“, Eigentum verpflichtet (Abs. 2): Verantwortung: BVerfGE 58, 300 (Nassauskiesung); BVerfGE 100, 226 (Denkmalschutz). – Klassikerzitat Goethe: „Erwirb es, um es zu besitzen“; Schutz des geistigen Eigentums: BVerfGE 31, 229 (Schulbuchprivileg); E 36, 281 (Patentrechte); E 51, 193 (Marken); Bild eines deutschen Schrebergartens mit Nationalflagge; – zu Art. 15 GG (Sozialisierung): die „vergessene“ (?) Sozialisierung. Anti-Vorgang in der DDR: Zwangskollektivierung, Gründung der LPGs (ca. 1950 – 1960); – zu Art. 16a (Asylrecht): bekannte, nach 1933 Ausgewanderte (z. B. H. und T. Mann, B. Brecht, A. Döblin, L. Feuchtwanger, A. Grosser, P. Hindemith, R. Musil, E. M. Remarque, K. Tucholsky, K. Weill, S. Zweig); – zu Art. 17 GG (Petitionsrecht): Überreichung von Petitionsschriften; aus der Verfassungsgeschichte: 1849 Angebot der deutschen Kaiserkrone durch Frankfurter Abgeordnete an den preußischen König, der ablehnt (oft gemalt); – zu Art. 18 GG (wehrhafte Demokratie): zusammen mit Art. 21 Abs. 2 und 9 Abs. 2 ein Stück „Anti-Weimar“ im GG, Verbot der KPD; – zu Art. 19 Abs. 4 GG (effektiver Rechtsschutz): Horrorbild von G. Orwell „1984“, irreführend von der APO, Gewerkschaften und Teilen der linken Jugend verwendet beim Streit um die Notstandsverfassung (1968 / 69), die von der Großen Koalition (K. G. Kiesinger / W. Brandt) gegen Prominente wie H. M. Enzensberger, M. Walser, E. Bloch verabschiedet wurde; Judikatur des BVerfG als ständige Verfeinerung von Art. 19 Abs. 4 GG (z. B. E 116, 135 (149 f.)); – zu Art. 20 Abs. 1 GG (Demokratie): Vorgeschichte: Wartburgfest 1818, 184882; „Der Zug der Republikaner auf das Hambacher Schloss“ (1832)83; Frankfurter Paulskirche84 (die Aufbarung der März-Gefallenen vor der Neuen Kirche auf 82 83

Abbildung in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 216. Abbildung in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 234.

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dem Gendarmenmarkt in Berlin (1848))85; Weimarer Nationalversammlung (Nationaltheater); die Glaskuppel des Reichstages von Sir N. Foster86, Motto über dem Reichstag zu Berlin: „Dem Deutschen Volke“; – zu Art. 20 Abs. 1 GG (Bundesstaat): Bundesrat in Berlin (Wappen im Plenarsaal), kulturelle Vielfalt87, 16 unterschiedliche Länderflaggen bzw. -wappen, kulturelle Bundesstaatstheorie88; intensivierte Wahrnehmung der Verfassungsautonomie der Länder insbes. in den fünf „neuen“ Bundesländern; besondere Eigenstaatlichkeit Bayerns89 (evtl. suggestive Bildbände); Unverzichtbarkeit der Stadtstaaten; Kulturpolitik in den Ländern, z. B. der Wiederaufbau der Dresdener Frauenkirche90 oder die Pflege Dresdens als „Elbflorenz“; Föderalismusreform I, II und III; – zu Art. 20 Abs. 1 (Bundesrepublik): Ausrufung der Republik am 9. November 1918 (Balkonbild); – zu Art. 20 Abs. 1 GG (Sozialstaat): Klassikertext von H. Heller, BVerfGE91 1, 97 (Hinterbliebenenrente); E 82, 60 (steuerfreies Existenzminimum), aber auch Fotos der Suppenküchen in München und Berlin (2008); – zu Art. 20 Abs. 2 GG (Volkssouveränität): „Kultur ist der Geist, der ein ganzes Volk verbindet, eine Menschenmasse wird zu einem Volke nur durch den Besitz einer gemeinsamen Kultur“ (G. Radbruch); R. Dahrendorf: „Bürgerrechte sind Teilnahmechancen“; die poetische Provokation: B. Brecht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?“; – zu Art. 20 Abs. 3 GG (Rechtsstaatsprinzip, insbes. „Gesetz und Recht“): BVerfGE 95, 96 (Mauerschützenurteile), die Radbruch’sche Formel; J. W. v. Goethe: „Es erben sich Gesetz’ und Rechte wie eine ew’ge Krankheit fort.“; weitere Klassikerzitate von Goethe: „Im Auslegen seid frisch und munter | Legt ihrs nicht aus, so legt was unter.“ Sowie: „Gerechtigkeit: Eigenschaft und Phantom der Deutschen“; I. Kant: „Das Recht muss nie der Politik, wohl aber die Politik jederzeit dem Recht angepasst werden“; aus der bildenden Kunst 84 Abbildung des festlichen Aufzugs zur Eröffnung in W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 275. 85 Abgebildet in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 271. 86 Abgebildet in: Deutscher Bundestag, Einblicke, 2005, S. 5 und Umschlagseite. 87 Aus geschichtlicher Perspektive dokumentiert in: E. Steingräber (Hrsg.), Schatzkammern Europas, 1968, S. 45 ff.: Die Schatzkammer der Residenz München; S. 59 ff.: Das grüne Gewölbe, Dresden. 88 P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 10 ff., sowie in ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982, S. 68 f. 89 Dokumentiert etwa in: H. Fehn, Luftbildatlas Bayern, 1973. 90 Dokumentiert in: Stiftung Frauenkirche Dresden, Die Frauenkirche zu Dresden, 2005. 91 Später: P. Häberle, Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff.: „Grundrechtspflichten des Staates“, Grundrechtsschutz durch Verfahren („status activus processualis“).

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A. Dürer, „Christus als Sonne der Gerechtigkeit“ (1498 / 99)92; „Gerechtigkeitsbilder“: Schöner Brunnen in Nürnberg (1385 – 96)93; – zu Art. 20 Abs. 4 GG (Widerstandsrecht): im Rückblick: „Weiße Rose“ in München (1943); D. Bonhoeffer, 20. Juli 1944: Graf Stauffenberg; ziviler Ungehorsam in der freiheitlichen Demokratie (?), evtl. APO als Stichwort; filmische Bilddokumente der Straßenkämpfe in Frankfurt / M. mit J. Fischer; – zu Art. 20 a GG: C. D. Friedrich (Naturbilder, z. B. Rügen); sterbende Wildente am Strand nach einer Ölpest an der Nordsee; Gaia, Der Öko-Atlas unserer Erde, 1984; Weltkulturerbe der UNESCO, Beispiele in Deutschland94: Aachener Dom, klassisches Weimar, Museumsinsel in Berlin, Wartburg, Berlin-Potsdam, Dresdener Elbtal (Streit um die Waldschlösschenbrücke als Posse: Demokratie gegen Kultur), Dessau mit dem Bauhaus95, Quedlinburg, Lübeck, Lorsch, Bamberg, Kloster Maulbronn, Wörlitz, Stralsund / Wismar. – Klassikerzitate: „Wer die Natur als göttliches Organ leugnen will, der leugne nur gleich alle Offenbarung“ sowie „Die Natur verbirgt Gott! Aber nicht jedem!“ (Goethe); – zu Art. 21 GG (Parteien): Bilder zur (Wieder-)Gründung der Parteien nach 1945, ihre Programme; Leitentscheidungen: BVerfGE 5, 85 (KPD-Verbot); E 20, 56 (Parteienfinanzierung); BVerfGE 107, 339 (gescheitertes NPD-Verbotsverfahren). – Anti-Text von Wilhelm II.: „Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche“ (1914); Gegentext zu Art. 38 GG: O. v. Bismarck: „In der Fraktion verliert der Volksvertreter den Blick für das Allgemeine“; aber wichtig K. Jaspers: „Es darf keine Freiheit geben zur Zerstörung der Freiheit“; – zu Art. 22 GG (Hauptstadt, Bundesflagge96): H. Kohls Spatenstich zum Kanzleramt, Bilder vom Berlin-Umzug (1999), Kulturhauptstadt Berlin?; Europäische Kulturhauptstädte im Wechsel (Melina Mercouri); Bonn als Bundesstadt; – zu Art. 23 a.F. GG: Bilder des Beitritts der Noch-DDR, 1990 (Volkskammer); – zu Art. 23 n.F. GG (Europa): Bild- und Textband M.-L. v. Plessen (Hrsg.), Idee Europa, Entwürfe zum „Ewigen Frieden“, Ordnungen und Utopien für die Gestaltung Europas von der pax romana zur Europäischen Union, 2003, hier insbesondere die Reiterstatue Karls des Großen, „Die Seeschlacht bei Lepanto“ (J. Amman, 1571), Bilder von der Unterzeichnung der Römischen Verträge 92 Abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 49. 93 Abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 87. 94 Vgl. den Band Schätze der Menschheit, Kulturdenkmäler und Kulturparadiese unter dem Schutz der UNESCO, 7. Aufl. 2000. 95 Der Walter-Gropius-Bau in Dessau ist abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), a. a. O., S. 228. 96 Vgl. P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff., ders., Nationalflaggen bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008, mit der These vom „konstitutionalisierten Flaggen-Völkerrecht“. Das SRÜ der UNO ist eine Teilverfassung der Meere.

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(1957)97. – Leitentscheidungen BVerfGE 37, 271 (Solange I); E 73, 339 (Solange II); E 89, 155 (Maastricht). – Aus der „schönen Literatur“ der – im Blick auf das „europäische Deutschland“ (T. Mann) angebrachte – Satz von P. Valéry (1924): „Allmählich baut sich dieses Europa auf wie eine ungeheure Stadt“98; Goethe: „Ich sehe mich daher gerne bei fremden Nationen um und rate jedem es auch seinerseits zu tun . . . Die Epoche der Weltliteratur ist an der Zeit“; Goethe: „Weimar hat den Ruhm einer wissenschaftlichen und kunstreichen Bildung über Deutschland, ja über Europa verbreitet“; Goethe: „In dem Augenblick, da man (in Europa) überall beschäftigt ist, neue Vaterlande zu erschaffen, ist für den, unbefangen Denkenden, für den, der sich über seine Zeit erheben kann, das Vaterland nirgends und überall“; – zu Art. 24 GG (Völkerrecht, Frieden): das europaweit berühmte Bild von A. Lorenzetti in Siena (um 1338: „Die gute Regierung, von Tugenden umgeben“99), das Gemälde von G. Terborch: „Allegorie auf Hugo Grotius und den Westfälischen Frieden“ (Mitte 17. Jh.)100, der Friede von Münster und Osnabrück (1648)101; I. Kants Traktat Zum Ewigen Frieden (1795); – zu Art. 25 GG (Geltung des Völkerrechts): Negativergebnis: wohl keine spezifisch deutschen Bilddokumente, aber Schlachtengemälde ohne Zahl, z. B. Friedrich II. in der Schlacht bei Zorndorf (1782)102. – Klassikerzitate: G. Benn: „Geschichtsbildend sind nicht die Kriege, sondern die Kunst“; B. Brecht: „Das große Karthago führte drei Kriege. Es war noch mächtig nach dem ersten, noch bewohnbar nach dem zweiten. Es war nicht mehr auffindbar nach dem dritten.“ – Verfassungstheoretische Textbasis für eine „Verfassungslehre des Völkerrechts“ und das Verständnis des Völkerrechts als verfassungsstaatlichem Grundwert; – zu Art. 28 Abs. 2 GG (kommunale Selbstverwaltung):103 Kultur der Hansestädte; Bildnis des Freiherrn v. Stein104; Bild- und Textband L. Benevolo, Die Stadt in der europäischen Geschichte, 1993; R. Buchner, Deutsche Geschichte im Europäischen Rahmen, 1975; C. Meckseper, Kleine Kunstgeschichte der deutschen Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 325. Zit. nach Idee Europa, a. a. O., S. 223. 99 Abgebildet und kommentiert in: R. Starn, A. Lorenzetti, Palazzo Publico a Siena, 1996. Es wird auch verwendet als Titelbild des Kompendiums der Soziallehre der Kirche, Herder, 2004. 100 Abgebildet in: Idee Europa, a. a. O., S. 129. 101 Abbildungen in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 88 f.: der Friedenssaal in Münster, 1648. 102 Abgebildet in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 129. 103 Vgl. dazu P. Häberle, Die europäische Stadt – Das Beispiel Bayreuth, BayVBl. 2005, S. 161 ff.; zuvor ders., Kulturpolitik in der Stadt, 1979. Als Bildband ist vielfältig einschlägig: Merian Topographia Germaniae, Schwaben 1643, z. B. mit Graphiken von Augsburg und Tübingen (Neue Ausgabe 1960). 104 Abgebildet in: W. Venohr / F. Kabermann, a. a. O., S. 175. 97 98

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Stadt im Mittelalter, 1982, mit reicher Dokumentation, etwa die Marienkirche in Lübeck, S. T 104; – zu Art. 38 Abs. 1 GG (Abgeordnetenstatus): Leitentscheidungen: BVerfGE 40, 296 (Diätenurteil); E 80, 188 („Wüppesahl“); Bilder und Dokumente zur deutschen Parlamentarismusgeschichte (Paulskirche, Bismarck; Weimarer Verf.; Ermächtigungsgesetz (1933); Bonn, Berlin, Reichstag (Kuppel von N. Foster); – zu Art. 42 GG (Öffentlichkeit der Plenarsitzungen des Deutschen Bundestags): Bilddokumente vom Deutschen Bundestag – „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (J. Habermas, 1962), Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie“ (G. Heinemann); – zu Art. 62 GG (Bundesregierung): L. Börne: „Regierungen sind Segel, das Volk ist Wind, der Staat ist Schiff, die Zeit ist See“; – zu Art. 67 GG (konstruktives Misstrauensvotum): gescheitert 1972: R. Barzel gegen W. Brandt; geglückt 1982: Bilder des Glückwunsches von H. Schmidt an H. Kohl; Art. 67 GG als „Anti-Weimar“ (negative Erfahrungen aus der Geschichte!); – zu Art. 70 ff. GG (Gesetzgebung): Klassikerzitate von Goethe: „Wer ein Gesetz verfasst, betrachte den Sinn seiner Zeiten.“, „Alle Gesetze sind von Alten und Männern gemacht, Junge und Weiber wollen die Ausnahme, Alte die Regel“; – zu Art. 74 Ziff. 21 und Art. 87 Abs. 1 GG (Wasserstraßen): C. Magris, Donau – Biographie eines Flusses, 1988; das Gedicht: H. Heine, Die Loreley (am Rhein); L. Geiges, Der Hochrhein, 1984 (mit vielen Abbildungen); – Art. 92 GG (Gerichtsbarkeit): als Beispiel für den „Mythos des Rechts“ R. v. d. Weyden, Michael als Seelenwäger (1450)105; insbes. auch das BVerfG als „Bürgergericht“ (P. Häberle, JöR 45 (1997), S. 89 (112 ff.); „Richterbilder“ im JöR, z. B. E. Benda über K. Hesse (JöR 55 (2007), S. 509 ff.), zuvor erstmals T. Ritterspach über H. Höpker-Aschoff (JöR 32 (1983), S. 55 ff.)); der berüchtigte Gegentext: „Der Führer schützt das Recht“ (C. Schmitt aus Anlass der Ermordung der Beteiligten am Röhm-Putsch 1934 am Tegernsee); – zu Art. 103 GG (rechtliches Gehör): Goethe: „So üb ich nun des Richters erste Pflicht: Beschuldigte zu hören. Rede denn!“; – zu Art. 109 GG (Staatsverschuldung): „Schuldenberg“-Rede von F. J. Strauss (1978): „Dieser Berg übertrifft den höchsten deutschen Berg, die Zugspitze, erheblich, nämlich um das Vierfache der Höhe des Kölner Doms“106; – zu Art. 116 Abs. 1 GG (deutsche Staatsangehörigkeit): „Selbst im Fall einer Revolution würden die Deutschen sich nur Steuerfreiheit, nie Gedankenfreiheit zu erkämpfen suchen.“ (F. Hebbel) – widerlegt durch die friedliche Revolution 105 Abgebildet in: W. Pleister / W. Schild (Hrsg.), Recht und Gerechtigkeit im Spiegel der europäischen Kunst, 1988, S. 41. 106 Zit. nach FAZ vom 07. 10. 2005.

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in Ostdeutschland (1989); Deutsche als „Volk der Dichter und Denker“; A. Kiefer, „Wege der Weltweisheit“; zum 1. Sept. 2008: Deutschlandkunde-Test für Einwanderer; – zu Art. 140 GG: historische Vorstufe: „Thron und Altar“ in Deutschland, seit Weimar (1919) „hinkende Trennung“ zwischen Staat und Kirche, heute „Religionsverfassungsrecht“107 statt „Staatskirchenrecht“ („Es gibt keine Staatskirche“108 – ernst genommen); – zu Art. 139 WRV (rezipiert über Art. 140 GG, Sonn- und Feiertagsgarantien109): Dokumente zu Gewerkschaftsfeiern des 1. Mai, aber auch zu Krawallen in Hamburg und Berlin, 2008; die Instrumentalisierung des 1. Mai im NS-Deutschland, seit 1933110. – Demokrit: „Ein Leben ohne Feste ist eine weite Reise ohne Gasthaus“; – zu Art. 146 GG: gesamtdeutsche Verfassung in der Zukunft – eine „konkrete“? Utopie (die Alternative 1990: Art. 23 GG (Beitritt) oder Art. 146 GG (neue gesamtdeutsche Verfassung mit Volksentscheid)).

Deutschland hätte allen Grund, nicht ohne Stolz analog dem Vorbild Italiens die Leitsätze der genannten großen Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, etwa zu Art. 5, 6, 9, 13 und 14 GG, parallel abzudrucken und durch ehemalige BVerfG-Richter und große Staatsrechtslehrer kommentieren zu lassen. Ein noch reizvolleres Projekt wäre es, auf gemeineuropäischer Ebene die EU-Grundrechtecharta (2000 / 2007) kulturwissenschaftlich zu unterfüttern. Dann ließen sich auch Länder wie Griechenland, Spanien, Frankreich, die Niederlande, Polen, Dänemark, Österreich, Ungarn sowie Großbritannien (noch ohne geschriebene Verfassung) und die Baltenländer einbeziehen. Vergegenwärtigt man sich die UN-Menschenrechtspakte von 1966, so ist es nicht vermessen, nicht nur die erklärten Weltkulturerbe-Stätten, sondern auch bislang nur informelle Hervorbringungen („Ergebnisse“) des Kraftfelds der universalen Grundrechts-Artikel zu dokumentieren. Ausblick „Verfassung aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ wird jetzt als allgemeines Programm sichtbar. Was ist speziell der Sinn – gelebter – Verfassungstage? Sie DÖV 1976, S. 452 ff. Kunsthistorisch schon fast klassisch: H. Maier, Die Kirchen und die Künste, 2008. 109 P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1988, 2. Aufl. 2006; ders., Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. 110 Abbildung in: Süddeutsche Zeitung vom 26. / 27. April 2008, S. VI: Die Nazis etablierten den 1. Mai in Deutschland als staatlichen Feiertag und funktionierten ihn gleichzeitig zum völkischen Versöhnungsfest um. 107 108

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sollen die Inhalte und Funktionen der Verfassung vergegenwärtigen – bis hin zu ihrem „konstitutionellen Utopiequantum“ (seinerzeit in Deutschland die Wiedervereinigung gemäß der Präambel von 1949, 1990 zur Wirklichkeit geworden). Sie sollen die spezifischen Verfassungswerte in Erinnerung rufen und für die jungen Bürger die Verfassung „als Erziehungsziel“ wirken lassen111: darum z. B. die Überreichung eines Textes der bayerischen Verfassung von 1946 an die Schulabgänger (Art. 188 BV; ein älteres Beispiel, fast gleichlautend: Art. 108 S. 2 Verf. Danzig von 1930112). Das gemeinsame Feiern am Verfassungstag soll Stolz auf das Erreichte zum Ausdruck bringen, aber auch Wünsche und Hoffnungen für die Zukunft formulieren, etwa im Blick auf die europäische Einigung. Wie bei anderen Feiertagen, wie beim Beflaggen oder „Flagge zeigen“ entsteht ein Stück Vergemeinschaftung im Namen der Verfassung. Beteiligt sein sollen möglichst viele Bürger; doch darf, anders als in totalitären Staaten, niemand zur Teilnahme gezwungen werden. Vor allem soll pluralistische Öffentlichkeit hergestellt werden – etwa durch Straßenfeste, Umzüge, Ausstellungen, aber auch eher wissenschaftlich-akademisch durch Festveranstaltungen. Aufgabe der Wissenschaft ist es, zumal der Verfassungsrechtslehrer, Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit mit ihren Methoden und in kulturwissenschaftlicher Tiefendimension aufzubereiten. Freilich: Auch die ganze offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist gefordert. Im Ganzen: Viele Hervorbringungen von Kunst und Kultur lassen sich als „Kommentar“ zu den nationalen Verfassungsartikeln lesen. Umgekehrt verdanken sich viele Verfassungsnormen in der Tiefe letztlich der Kultur. Speziell das Grundgesetz wird in diesem Versuch durch Kultur illustriert: ein kultureller GG-Kommentar wird möglich – eine Variante zu den Hunderten von nur juristischen Kommentaren, die noch vergänglicher sind als alles Menschenwerk.

111 Vgl. dazu P. Häberle, Verfassungsprinzipien als Erziehungsziele, in: FS H. Huber, 1981, S. 11 ff. 112 Zit. nach F. Wittreck (Hrsg.), Weimarer Landesverfassungen, 2004, S. 851. S. auch Art. 50 Verf. Braunschweig von 1922: „Diese Verfassung ist Lehrgegenstand in den Schulen“, vgl. Wittreck, a. a. O., S. 162.

„Verfassungskultur“ als Kategorie und Forschungsfeld der Verfassungswissenschaften* Einleitung Dass mir das Hagener Institut heute freundlicherweise das Thema „Verfassungskultur“ anvertraut hat, ist wohl nicht ganz zufällig. Ich habe diesen Schlüsselbegriff seit 1982 erarbeitet, parallel zum Begriff „Grundrechtskultur“ (1979)1, und seitdem wurde er oft rezipiert, auch plagiiert; heute ist er schon fast ein „Gemeinplatz“: in Deutschland, später Polen2 und sogar in Amerika. Solche Begriffskarrieren in der Wissenschaft können auch misstrauisch machen. Sind sie nur eine „Mode“ oder vermitteln sie einen spezifischen Erkenntniswert? Auch muss man fragen, ob es klug ist, auf ein „Jugendthema“ zurückzukommen (sozusagen „Verfassungskultur revisited“). Vor allem aber darf man sich nicht selbst kommentieren (man fällt sonst immer unter sein Niveau, um ein fremdes bonmot zu paraphrasieren), allenfalls Ironisches ist erlaubt. Doch fasse ich Mut: Das Hagener Institut stellt die Kategorie „Verfassungskultur“ in das Kraftfeld der „Verfassungswissenschaften“, ja der Europäischen Verfassungswissenschaften. Damit ist viel Neues zu erarbeiten, es wird gewiss vor allem von den übrigen Referenten geleistet. Wohlweislich heißt es ja „Verfassungswissenschaften“, nicht Verfassungsrechtswissenschaften. Man fühlt sich an R. Smends „Verfassung und Verfassungsrecht“ erinnert (1928). Die Dimension des Verfassungsrechts ist von vorneherein im Blick auf sog. „Nachbarwissenschaften“ erweitert. Und deren Horizonte sind auch auf Europa bezogen (Smend arbeitete noch betont nationalstaatsbezogen). Wie aber sollen die Verfassungswissenschaften – im Plural – methodisch arbeiten? auch verfassungsgeschichtlich? verfassungssoziologisch, verfassungsökonomisch? M. E.: kulturwissenschaftlich! Damit werden Konsequenzen aus dem Ungenügen der „Sozialwissenschaften“ (ihnen fehlt die ideelle Dimension), aber auch der „Geisteswissenschaften“ gezogen (diesen fehlt das „Soziale“): all dies sei ohne Übermut und in offener Selbstbescheidung gesagt. Gleichwohl kann der kulturwissenschaftliche Ansatz, 1979 / 1982 (auch unter Rückgriff auf „Weimar“) begonnen und gegen anfänglich viele Kritiker schrittweise aufgebaut, helfen, die Propria der Ver* Originalbeitrag, die Veröffentlichung ist geplant in einem interdisziplinären Kompendium der Fernuniversität Hagen. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser im Sommer 2003 in Hagen gehalten hat. 1 Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1982; Kulturpolitik in der Stadt, 1979; Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979. 2 M. Wyrzykowski (ed.), Constitutional Cultures, 2000.

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fassung (auch in und für Europa) zu erkunden. Der ältere Begriff der „politischen Kultur“3 darf ermutigen, meint aber nicht dasselbe wie „Verfassungskultur“. Der ebenfalls schon 1982 ins Auge gefasste Begriff der „Verwaltungskultur“ hat später plötzlich Karriere gemacht4, und man muss sich fragen, warum der kulturwissenschaftliche Ansatz vor allem seit dem „annus mirabilis“ 1989 recht erfolgreich ist: wohl wegen des weltweiten Vordringens des Typus Verfassungsstaat, wegen der Hilfestellung, die er den sog. Entwicklungsländern und den Reformländern in Osteuropa und Asien auf der Suche nach sich selbst gibt; ihnen, die heute zu Recht die eurozentrische Selbstgefälligkeit ablehnen, weil „Kultur“ der Identität und Differenz, d. h. dem Typus Verfassungsstaat als solchem und den je nationalen Varianten Raum lässt. Und: weil er auch ermöglicht, Europa zu denken, zu bauen und zu gestalten. Schließlich setzt der kulturwissenschaftliche Ansatz einen bewussten Akzent gegen die um sich greifende fast totale Ökonomisierung aller Lebensverhältnisse. Doch sind Märkte nicht das Maß aller Dinge, sie sind nicht das Maß des Menschen, kein Selbstzweck, auch nicht in Europa, sondern instrumental in Bezug auf den Menschen und Bürger bzw. ihre Würde zu denken. Gegen die Epigonen eines C. Schmitt ist zu sagen: Mit ihm kann man weder die Schweiz erklären noch Europa bauen! Die Grenzen des Positivismus sind bekannt, so groß H. Kelsen bleibt; H. Heller ist aber nicht zufällig eine, ja die Referenzgröße in ganz Lateinamerika. 1989 habe ich auf einer Tagung in Madrid den eindrucksvollen L. Favoreu „elektrisiert“ mit der Veranschaulichung meines Begriffs „Grundrechtskultur“ am Fallbeispiel de Gaulle / Sartre: De Gaulle: „Einen Voltaire verhaftet man nicht“. Das ist klassische, französische Grundrechtskultur! Was aber bedeutet – nach dieser Ouvertüre – „Verfassungskultur“ im Kontext der nicht nur Hagener Verfassungswissenschaften? Dazu einige Überlegungen in drei Teilen, nicht ohne vorweg den anderen, 2001 erarbeiteten Schlüsselbegriff zu nennen: die Kontextthese.5 Kontext meint „Auslegen durch Hinzudenken“. Das ist hier und heute besonders notwendig, es verlangt viel Sensibilität.

3 B. Schwelling, Kulturwissenschaftliche Traditionslinien in der Politikwissenschaft: Erik Voegelin revisited, ZfP 2005, S. 3 ff. – S. auch den Band: Politische Kultur, Deutschland – Tschechien, hrsgg. von E. Trützschler, 2004. 4 Z. B. D. Cybulka, Verwaltungsreform und Verwaltungskultur, FS Knöpfle, 1996, S. 79 ff.; W. Thieme, Über Verwaltungskultur, in: Die Verwaltung 20 (1987), S. 277 ff. 5 P. Häberle, Verfassung „im Kontext“, in: D. Thürer u. a. (Hrsg.), Verfassungsrecht der Schweiz, 2001, S. 17 ff.

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Teil 1: Verfassungskulturen

I. Methoden und Inhalte kulturwissenschaftlichen Arbeitens: von Verfassung und Kultur zur Verfassung als Kultur: ein weiter, aber entscheidender Schritt, Umrisse des Theorierahmens Vorbemerkung Die Rede ist von „Methoden und Inhalten“. Beides lässt sich im Blick auf die Verfassung bzw. den Typus „Verfassungsstaat“ nicht trennen, das zeigt sich allgemein und speziell. Vor allem sei die Einsicht R. Smends vorweg zitiert, wonach es nur so viel Staat gibt, wie die Verfassung konstituiert. Das gilt national wie vor allem auch für die EU-Ebene. Die Bürger geben „sich“ seit den klassischen Texten der französischen Revolution eine Verfassung, nicht den Staat. Alle deutschen, bei uns so beliebten Staatsideologien „Staat vor Verfassung“ oder zugespitzt „Staat über alles“, kritisch als Stimme aus den USA gegen das Maastricht-Urteil des BVerfG (J. H. H. Weiler)6 formuliert, sind dadurch ad acta gelegt. Freilich fällt in den sog. Entwicklungsländern „nation building“ und „constitution making“ oft zusammen, aber die „Nation“ ist nicht der etatistische Staat, sondern gerade eine kulturwissenschaftliche Größe, die sich aus vergangenen, gegenwärtigen und künftigen Generationen zusammensetzt, wobei das Band durch Kultur gestiftet ist (z. B. schaffen sich heute Tadschikistan und Kirgistan durch Rückgriff auf uralte Kulturtraditionen neue nationale Identität). Vielleicht lebt gerade die „Nation“ den großen kulturellen Generationenvertrag, so wie wir im kleinen den kulturellen Generationenvertrag in der Wissenschaft pflegen: das Verhältnis zwischen Lehrern und Schülern (Zusatz: Der heutige Berliner Streit um den Werte-Unterricht in den Schulen hat verfassungskulturelle Dimensionen). Die seinerzeitige Diskussion um die deutsche „Leitkultur“ bleibe ein Merkposten. Die Methoden als „Erkenntniswege“ sind schon vorgeprägt im Blick auf die einzelnen Elemente des Verfassungsstaates. Umgekehrt gehört es zum Verfassungsstaat als kultureller Errungenschaft, dass er seine „Diener“ mit bestimmten Methoden arbeiten lässt, vor allem die Verfassungsrichter, die die Verfassung buchstäblich „fort-schreiben“. Gewiss, der Methodenkanon ist (ebenso wie der Rechtsquellenkanon) offen, die rechtsvergleichende ist als „fünfte“ Auslegungsmethode hinzugekommen (1989)7, jüngst sogar vom Verfassungsgericht in Liechtenstein rezipiert und praktiziert, doch herrscht keine Einigkeit hinsichtlich der Bündelung der Methoden im Einzelfall. Es geht um einen rationalen Prozess, wobei das offenzulegende „Vorverständnis“ i.S. von Gadamer / Esser und Ehmke die Methodenwahl mit steuert, ebenso wie auch vorletzte und letzte Gerechtigkeitsprinzipien wirken. Eine Methodendebatte „an und für sich“ ist leer, buchstäblich „gegenstandslos“, aber alle inhaltlichen Prinzipien des Verfassungsstaates brauchen ihrerJ. H. H. Weiler, Der Staat „über alles“, JöR 44 (1996), S. 91 ff. P. Häberle, Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation im Verfassungsstaat – Zugleich zur Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode, JZ 1989, S. 913 ff. 6 7

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seits diese Arbeitsmethoden (mein Stichwort von 1982: „kulturspezifische Verfassungsinterpretation“ – es findet sich heute als Stichwort im Tagungsprogramm). 1. „Verfassung“ Das Thema unserer Tagung spricht von „Verfassungswissenschaften“, also im Plural. Damit meint es wohl verschiedene Teildisziplinen. Hier seien nur einige weitere Verfassungsverständnisse rekapituliert, um ihnen gegenüber das vielleicht Neue des kulturwissenschaftlichen Ansatzes bzw. der „Verfassung als Kultur“ erkennbar werden zu lassen. Deutschland darf sich auf den „Schultern der Riesen“ Weimars rühmen, besonders viel zum „Verfassungsverständnis“ beigetragen zu haben, so wie Frankreich die Menschenrechte, England die parlamentarische Demokratie, den USA der Föderalismus, Italien der Regionalismus zu verdanken sind. Stichworte lauten: Verfassung als „Entscheidung“ (Dezision Schmitts), schon historisch-vergleichend widerlegbar, man denke an die pluralistischen Verfassungsprozesse Südafrikas (von 1997) oder das langsame schrittweise Werden der Schweiz (seit 1291). Verfassung als „Anregung und Schranke“ (R. Smend) bleibt ein wichtiger Teilaspekt, Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner) ebenfalls. Erinnert sei auch an die Verfassungstheorie von H. Ehmke „Verfassung als Beschränkung von Macht“ (1953). Man darf ergänzen: Verfassung als spezifischer öffentlicher Prozess (1969) und auf den Schultern von H. Heller (der freilich in der Kategorie der allgemeinen Staatslehre bleibt): Verfassung als Kultur. Zurückgewiesen sind damit bloß technische Verfassungsverständnisse (Verfassung als „Grundbuch“) oder Reduktionen auf den organisatorischen Teil. Ein instrumental-positivistisches Verfassungsverständnis geht fehl, erst recht in Europa (man denke nur an die Werte-Klauseln im Europäischen Verfassungsrecht), ein materiales, freilich die Wichtigkeit formaler Regeln und Prozesse mit beachtendes ist m. E. wegleitend. Wohl gemerkt: Verfassung als Kultur, nicht nur Verfassung und Kultur, wie dies oft behandelt wird. Aus diesem Ansatz folgen die Thesen von der Erarbeitung des kulturellen Kontextes von Verfassungen, von der kulturellen Verfassungsvergleichung in Bezug auf die Trias von Texten, Judikate (Praxis) und Theorien sowie von den Verfassungskulturen, die national variieren. Die „Europäisierung“ des nationalen Verfassungsstaates ist die andere Seite der „Konstitutionalisierung“ Europas. 2. „Kultur“ Kultur ist der andere Begriff unserer Themen. Hier kann keine abendländische „Kulturgeschichte der Kultur“ skizziert werden. Erinnert sei aber an die Begriffsprägung eines Cicero. Für den Verfassungsstaat ist die Unterscheidung zwischen „Hochkultur“ (des Wahren, Guten und Schönen) sowie „Volkskultur“ und Alternativ-Kulturen, Alltagskulturen einschlägig, gemäß dem offenen, pluralistischen Kul-

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Teil 1: Verfassungskulturen

turkonzept (1979). Der Verfassungsstaat ermöglicht die Durchlässigkeit zwischen diesen Schichten. Z. B. sind die „Beatles“ als Subkultur längst zu Hochkultur geworden. Einschlägige Stichworte sind auch Hilmar Hoffmanns Devise „Kultur für alle“, (ich füge hinzu: von allen), sowie J. Beuys’ Erweiterung des Kunstbegriffs. An anderer Stelle wurde vergleichend systematisiert, was alles schon in den Verfassungstexten Kultur ausmacht: von den allgemeinen und speziellen Kulturauftragsklauseln über die Erziehungsziele bis zum Religionsverfassungsrecht (statt „Staatskirchenrecht“). 8 Neuerdings finden sich viele Texte zur kulturellen Identität9: von Osteuropa bis Afrika, vor allem aber auch im Europäischen Verfassungsrecht. Offengelegt sei auch der innere Impuls, wenn Sie so wollen, das „Credo“ des kulturwissenschaftlichen Ansatzes: Es geht um Eindämmung des bodenlosen und grenzenlosen Ökonomismus unserer Tage und um Bewahrung von Identität und Differenz, letztlich um den „aufrechten Gang“. Im Übrigen sei die Stelle wiederholt, in der ich 1982 die Debatte eröffnete: Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es aber nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten10. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Juristisch gesehen hat ein Volk eine Verfassung, erweitert kulturell betrachtet ist es in (mehr oder weniger guter) Verfassung! Die Akzeptanz einer Verfassung, ihre Verwurzelung im Bürgerethos und Gruppenleben, ihr Verwachsensein mit dem politischen Gemeinwesen etc. – all dies hat zwar bestimmte rechtliche Normierungen zur Voraussetzung, aber darin liegt noch keine Garantie, dass ein Verfassungsstaat hic et nunc „wirklich“ ist. (Das Rechtliche ist nur ein Aspekt der Verfassung als Kultur.) Ob dies gelungen ist, zeigt sich nur in Fragestellungen wie: Besteht ein gelebter Verfassungskonsens? Hat der juristische Verfassungstext eine Entsprechung in der „politischen Kultur“ eines Volkes? Sind die spezifisch kulturverfassungsrechtlichen Teile einer Verfassung so in die Wirklichkeit umgesetzt, dass sich der Bürger mit ihnen identifizieren kann? M.a.W.: Die rechtliche 8 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 758 ff., 561 ff.; ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 273 ff. und 321 ff. sowie öfter. 9 Aus der Lit. jetzt auch: A. Uhle, Freiheitlicher Verfassungsstaat und kulturelle Identität, 2005. 10 Im nicht-juristischen, kulturanthropologisch bzw. ethnologisch gewendeten Sinne wird der Begriff „Verfassung“ nicht zufällig benutzt bei B. Malinowski, Eine wissenschaftliche Theorie der Kultur (1941), 1975, S. 142.

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Wirklichkeit des Verfassungsstaates ist nur ein Ausschnitt der Wirklichkeit einer „lebenden Verfassung“, die – weit- und tiefgreifend – kultureller Art ist. Verfassungstexte müssen buchstäblich zur Verfassung „kultiviert“ werden.

So der Text von 1982. II. Sieben praktische Anwendungsfelder und Beispielsfälle für „Verfassungskultur(en)“ – national wie europäisch Der Schlüsselbegriff „Verfassungskultur“ (und als Teil von ihm „Grundrechtskultur“) gewinnt Anschaulichkeit, Gestalt und Farbe erst an Hand praktischer Beispiele. Vorweg seien übergreifend die Präambeln und kulturelles Erbeklauseln erwähnt. Sie gleichen „Batterien“, „Kraftfeldern“ für die Verfassungskultur. Präambeln, kulturwissenschaftlich Ouvertüren, Prologen, Präludien vergleichbar, bilden eine Essenz der Verfassung, sie verarbeiten Geschichte, Gegenwart und entwerfen Zukunft, z. T. Utopien mindestens aber Hoffnungen, und sie können in der Hand guter Verfassunggeber zum „Textereignis“ werden, so im GG, der nBV der Schweiz (1999) oder in der Verf. Tirol (1988). Ich darf hier auf ältere Publikationen verweisen: „Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen“ (1981).11 Ob eine Präambel, z. T. die „Biographie“ eines Volkes und Ausdruck seines Selbstverständnisses, ihre „Energie“ entfaltet wie etwa die deutsche zum GG in Sachen Wiedervereinigung (an die nur noch wenige buchstäblich „glaubten“) oder inskünftig vielleicht die EU-Präambel(n), das ist eine Frage der Verfassungskultur, nicht der Ökonomie oder Politik und Soziologie, eine Frage schon der Textfassung, aber auch der aus Präambeln wachsenden „normativen Kraft der Verfassung“ i.S. von K. Hesse. Man denke z. B. an die Judikatur der französischen Conseil Constitutionnel in Sachen Menschenrechte – all das ist werdende bzw. geronnene Verfassungskultur. Ähnliches gilt für die sog. kulturelles Erbeklauseln, die sich als eigene Kategorie in vielen nationalen Verfassungen und auch im Europäischen Verfassungsrecht finden.12 Ob sich ein Volk oder Europa sein kulturelles Erbe je neu aneignet, i.S. von „besitzen, um es zu erwerben“, ob es sich z. B. in Lateinamerika real zum Schutz der Indios und anderer kultureller Minderheiten entschließt, ob man in Granada erstmals seit 1492 den Bau einer Moschee (wie geschehen) erlaubt und dort mehr und mehr das „arabische Spanien“ wieder entdeckt – all dies kann nur mit den Methoden und Inhalten der Verfassungslehre als Kulturwissenschaft begleitet und zu einem geringen Teil gestaltet werden. Der Zusammenhang und die Differenz von nationalen Identitäten und europäischer Identität lässt sich ebenfalls nur kulturwissenschaftlich erkennen. Hierher gehört C. Landfrieds „Differenz als Potential der europäischen Verfassunggebung“.

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In FS für Broermann, 1982, S. 211 ff. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2005, S. 625, 638 f.

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1. Feiertagskultur Feiertage13 sind in vielen nationalen Verfassungen textlich garantiert, vor allem in Deutschland, in einigen Ländern Österreichs und der Schweiz, vereinzelt in Afrika und Osteuropa. Doch gerade bei diesem Thema sagen bzw. leisten die Verfassungstexte oft wenig: Der 4. Juli in den USA (wo sich das Volk und der Präsident vor dem Kapitol zivilreligiös feiern), der 14. Juli in Frankreich, der 1. August in der Schweiz (Feuerzeichen auf den Bergen) – das sind gelebte kulturelle Identitätselemente dieser Verfassungsstaaten. Feiertagskultur kann kein Verfassungsoder Gesetzgeber einfach befehlen, sie kann verblassen. Auch das Umgekehrte kommt vor: Die Hälfte der Franzosen feierte soeben den Pfingstmontag als Feiertag (16. Mai 2005), obwohl er gesetzlich abgeschafft ist (als sogenannten „Solidaritäts-“ bzw. Arbeitstag). Ob und wie sich die Bürger mit ihrem „Verfassungstag“ identifizieren, ist ihrer offenen Gesellschaft überantwortet. Feiertage gehören derselben konstitutionellen (nationalen) (Tiefen-)Schicht an wie Sprachen, Hymnen, Flaggen, Wappen, auch Hauptstädte14 (z. B. Art. 14 Verf. Albanien, 1998). Das Normative kann hier nur „anregen“, aber nicht „leben“. Es wirft ein bezeichnendes Licht auf Deutschland, dass (nach der Abschaffung der Buß- und Bettage) ein Finanzminister und sogar der Bundeskanzler es 2004 wagen konnten, den Tag der Deutschen Einheit (3. Oktober) aus ökonomisch / fiskalischen Gründen zur Disposition zu stellen („Ausverkauf“). Es ermutigt, dass die Öffentlichkeit quer zu allen politischen Parteien und vor allem der Bundespräsident H. Köhler als nicht alleiniger, aber doch Teilhaber am Prozess des „Hütens“ der Verfassung sich der Abschaffung des 3. Oktober mutig entgegenstellten. Die Medien haben dabei wohl einhellig gut gearbeitet. Sichtbar wird hier eine punktuelle, auf ein Stück Verfassung bezogene deutsche Verfassungskultur, auch wenn das (oft ökonomische) Freizeitverhalten vieler zum Motivbündel der Beteiligten gehören mag. Freilich: Deutschland ist damit erst auf dem vielleicht langen Weg zu einem den großen westlichen Demokratien ähnlichen Feiertag bzw. „Verfassungstag“. Auch hier zeigt sich, dass wir ein „schwieriges Vaterland“ haben (G. Heinemann) und eine „verspätete“ Nation sind. Der Streit um „Patriotismus“ und die „Leitkultur“ ist für Deutschland typisch. Zivilreligiöse Identitätsfindung und -bildung in pluralistischen Gesellschaften ist auch sonst schwer. Ein „Eid auf die Verfassung“ für Einbürgerungswillige wäre in Deutschland kaum zu verlangen (in den USA ist er Praxis, ebenso wie das tägliche Schulgelöbnis). Ist der „Multikulturalismus“ in Deutschland gescheitert? Können wir einen „Verfassungspatriotismus“ ertragen? Was sind die deutschen Grundwerte?15 Zuvörderst doch die des GG! – unseres „gemeinsamen Hauses“.

13 P. Häberle, Feiertage als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 1987. (z. T. fortgeführt in, ders., Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 67 ff.). 14 P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. 15 Einschlägig J. Thiele, Das Buch der Deutschen, 2004.

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2. Stadtkultur(en) Ein Beispiel für Verfassungskultur „im Kleinen“ sind die Stadtkulturen sowie im Europäischen Verfassungsrecht Idee und Wirklichkeit der „Kulturhauptstadt Europas“. Der kulturwissenschaftliche Ansatz wurde vor 26 Jahren überhaupt erst erprobt in der Augsburger Festrede „Kulturpolitik in der Stadt – ein Verfassungsauftrag“ (1979). Im Europa der Kommunen und Regionen sind Städte ein Element der „kommunalen Verfassungsform Europas“. So sehr heute die „kulturelle Grundversorgung“ der Städte (O. Scheytt)16 aus Finanznot gefährdet ist, so sehr die Verödung der Innenstädte, Kriminalität und Drogen drohen: das Bewusstsein, dass damit auch eine konstitutionelle Programmatik auf der untersten Ebene in Frage gestellt wird, wächst. Kommunales Leben kann ebenfalls nur dank rechtlicher Rahmenbedingungen „angeregt“ werden, das bürgerliche Leben selbst muss wachsen, gedeihen, sich entwickeln und behaupten. In der Verfassungsgeschichte Europas haben sich Städte als Foren nicht nur für Handel und Wandel, sondern auch für Kultur entwickelt. Man denke an das Italien der Renaissance. Wenn es heute die Bewerbungen und Verfahren in Sachen Kulturhauptstadt gibt (bekanntlich eine Idee von Melina Mercouri: „Sonntags nie“), so lässt sich behaupten, dass in dieser „Europäisierung“ von Städten zu Hauptstädten (mindestens auf Zeit) ein Stück Konstitutionalisierung liegt. Die Kriterien beim Auswahlverfahren gehören in die Nähe von Verfassungskultur.17 Im Einzelnen etwa: „Stadtprominenz“, geschichtliche, kulturelle Einrichtungen, Kunststile und Kunstwerke, auch Beispiele für das „kollektive Gedächtnis“.18 3. Sonntagskultur Die Sonntagskultur, ihre Möglichkeit und Gefährdungen seien nur ein Merkposten im Kraftfeld des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Sonntage bilden ein meist auch verfassungstextlich geschriebenes Element des demokratischen Verfassungsstaates.19 Ob und wie sich die Sonntage gegen die um sich greifende Ökonomisierung behaupten können und von den Bürgern introvertiert oder extrovertiert gelebt werden, ist ein eigenes Thema. Es gibt in der deutschen Literatur der Vergangenheit viele schöne Gedichte zum „Sonntag“, heute finden sich kaum Entsprechungen.

Zuletzt vor ihm: Kommunales Kulturrecht, 2005, S. 6, 36, 46 ff. 58. Dazu P. Häberle, Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth, BayVBl. 2005, S. 161 ff. 18 Vgl. das Portrait der 10 deutschen Städte, die sich in Sachen „Kulturhauptstadt 2010“ bewerben: SZ vom 9. März 2005, S. 13. 19 Dazu P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 1987 (2. Aufl. 2006). Aus der Kommentarliteratur: M. Morlok, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, Bd. 3, 2000, Art. 140 / 139 WRV (2. Aufl. 2006). 16 17

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Teil 1: Verfassungskulturen

4. Wahlverhalten der Bürger und „Parteienrechtskultur“ Zu den Bereichen, für die die Verfassungen nur relativ weitmaschige Normen vorgeben, gehören Wahl- und Parteienrecht. Wie könnte ich auf diesem Forum hier, zumal seit dem schon klassischen Mendez de Vigo / Tsatsos-Bericht, etwas Relevantes sagen?20 Kurz nur dies: Der Schlüsselbegriff „Verfassungskultur“ erweist sich als solcher gerade auch hier. Das Wählerverhalten ist von Nation zu Nation unterschiedlich, zwar auch Wahlrecht und Parteienrecht, aber innerhalb der normativen Vorgaben bilden sich in oft generationenlangen Entwicklungsprozessen bestimmte Verhaltensweisen, die Gegenstand kulturorientierter Verfassungswissenschaften sein sollten, auch dort, wo Defizite beim Namen genannt werden müssen. So wird in Deutschland, die wohl wachsende Zahl von sog. „Wechselwählern“ charakteristisch, was m. E. zu begrüßen ist. Auf EU-Ebene ist in Sachen Parteienrechtskultur 21 (D. Tsatsos) zu kritisieren, dass die nationalen Parteien bei EUWahlen primär nationale, nicht europäische Themen in den Vordergrund rücken (auch zuletzt 2004 wieder). Insofern entsteht nur langsam die so wichtige „europäische Öffentlichkeit“22 (auch aus Politik). Die „schlechte“ Behandlung der Kleinstparteien durch die etablierten Parteien in Deutschland gehört in das negative Bild – zum Glück kommt das BVerfG jenen, wie jüngst, gelegentlich zu Hilfe. Gewiss wäre auch die Parteispendenaffäre23 der CDU unter dem Aspekt des verfassungskulturellen Ansatzes zu untersuchen. Die Verletzung der Wahrheitspflicht, aber auch die fast mörderische Praxis des mehr als parteiischen Untersuchungsausschusses des Bundestages (gegen Altbundeskanzler H. Kohl) müssten ebenso gründlich untersucht werden wie Möglichkeiten und Grenzen des parlamentarischen Untersuchungsrechts überhaupt. (Zusatz: Was bedeuten Live-Übertragungen in Sachen J. Fischer für die Theorie der Öffentlichkeit?) Hier haben auch die Politikwissenschaft und ihr älterer Begriff der „politischen Kultur“ ihre Kompetenz. Doch vermag sie die spezifisch verfassungstheoretische Dimension nicht einzufangen. Das schwer ergründbare Wechselspiel von „judicial activism und judicial restraint“ der Verfassungsgerichte kann zu „Verfassungskultur“ gerinnen.24 (Zusatz: Ein schlechtes Beispiel lieferten der Präsident und Vizepräsident des BVerfG jüngst, als sie ein neues Parteiverbotsverfahren gegen die NPD anregten.)

EuGRZ 1998, S. 72 ff. D. Tsatsos, Europäische Politische Parteien?, EuGRZ 1994, S. 45 ff. 22 Dazu P. Häberle, Gibt es eine europäische Öffentlichkeit?, FS Hangartner, 1999, erweitert als selbstständige Monographie, Berlin, 2001. 23 Aus der Lit.: F. Saliger / S. Sinner, Korruption und Betrug durch Parteispenden, NJW 2005, S. 1073 ff. 24 Vgl. W.-M. Mors, Verfassungsgerichtsbarkeit in Dänemark, 2002, S. 81 ff.: „Richterliche Zurückhaltung als Verfassungskultur“. 20 21

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5. Föderalismus und Regionalismus als innere Gewaltenteilung aus pluraler, offener Kultur Ein besonders anschauliches Beispiel für den dank der „Verfassungskultur“ vermittelten Erkenntnisgewinn lässt sich am Föderalismus und seinem „kleineren Bruder“, dem Regionalismus z. B. in Italien und Spanien studieren. Föderalismus bzw. Regionalismus („devolution“ in Großbritannien) gehören zu den Strukturelementen des Verfassungsstaates25, die heute weltweit Karriere machen. Dies ist nur aus einem kulturwissenschaftlichen Ansatz zu erklären. Es gibt zwar gewisse „allgemeine“ Elemente von Föderalismus bzw. Regionalismus (Gewaltenteilung, Verhinderung von Machtmissbrauch, Schutz von Minderheiten, Kompetenzteilung, Öffentlichkeit, Bewahrung kultureller Vielfalt), doch drängen sich auch die Varianten und Differenzen je nach Nation in den Vordergrund. „Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit“ – ein aus unserer Verfassungsgeschichte belegbarer Satz, der so in Frankreich nicht gälte, würde auch die Regionalisierung bzw. Dezentralisierung noch so entschieden vorangetrieben werden. Das System der spanischen Autonomien ist ein ganz eigenes „Gewächs“, auch die besonders herausgestellten wie das Baskenland, Katalonien und Galicien – Ähnliches gilt für den älteren italienischen Regionalismus, der an die gewachsenen Städtebilder und Kulturlandschaften dort anknüpfen kann, es aber immer noch schwer hat, gegen das übermächtige „Roma ladrone“ anzugehen. Es spricht Bände, dass Finanzminister Eichel jetzt sogar kleinen Bundesländern wie Bremen und Saarland mit der Neugliederung droht (FAZ vom 6. April 2005, S. 11). Die gewachsene Verfassungskultur Brandenburgs spricht auch gegen den Zusammenschluss mit Berlin! Es gibt viele Bundesstaatstheorien, die ihre relative Berechtigung behalten: den (allzu ökonomischen) Wettbewerbsföderalismus, den (zu reformierenden) „unitarischen Bundesstaat“ und den kooperativen (sowie fiduziarischen) Föderalismus mit der Pflicht zur Solidarität. M. E. hilft nur eine „gemischte“, spezifisch kulturelle Bundesstaatstheorie weiter. Sie lebt aus der Maxime: Minimum an Homogenität und Optimum an vor allem kultureller Pluralität (vorbildlich ist die Schweiz). Daher darf man von „Kulturföderalismus“ und „Kulturregionalismus“ sprechen. Ob es ihn realiter gibt, ist eine Frage der Verfassungskultur. Ermutigend wirken die fünf neuen Bundesländer in Ostdeutschland mit ihren innovativen Verfassungen. Auch hier sind langfristige Wachstumsprozesse (welche Metapher nicht „organologisch“ verstanden sei) oder Rückgriffe ins geschichtliche Erbe einschlägig. Ein nur technisch verstandener Föderalismus ist keiner. Die kulturelle Freiheit und Vielfalt bildet die „Seele“ des Föderalismus (Vorbild: die Schweiz als „Willensnation“), die Seele auch des Regionalismus, der freilich keine „Verfassungsautonomie“ kennt, heute sind aber die Regionen auf dem Weg zur „europäischen Verfassungsform“. Ermutigend ist, dass föderale bzw. regionale Strukturen am ehesten geeig25 P. Häberle, Kulturföderalismus in Deutschland – Kulturregionalismus in Europa, FS Fleiner, 2003, S. 61 ff.

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net sein dürften, die Probleme des Irak, Afghanistans und Somalias26 zu lösen. Für das letztgenannte Land war ich 2003 um Lösungsvorschläge gebeten worden. Ob sie sich umsetzen lassen, ist zweifelhaft. Die religiöse Vielfalt des Irak, auch die ethnische und sprachliche, kann nur in einem Föderalismus- bzw. Regionalstaat ihr „Gehäuse“ finden. Das dient dann auch der Entwicklung der Demokratie, die ein so mühsames „Geschäft“ ist, aber letztlich von der Würde des Menschen her zu denken ist.27 Der Zeitfaktor ist eine spezifische Dimension der „Verfassungskultur“, das sei festgehalten, ebenfalls der juristisch nur bedingt steuerbare Entwicklungsprozess. (Darum könnte in der Tat „Weimar“ eine Verfassung ohne Verfassungskultur gewesen sein (Referat Boldt).) Die Verfassung muss „akzeptiert“ werden. Zu Recht spricht eine Festschrift vom „akzeptierten GG“: FS Dürig, 1990). Heute ist unser Verfassungsstaat ein politisches Gemeinwesen in den drei Dimensionen: der Verfassungsgeschichte, der Gegenwart und der Zukunft – in Europa und der Welt. 6. Nationales und europäisches Kulturverfassungsrecht Dieses Beispielsfeld ist das für den kulturwissenschaftlichen Ansatz besonders naheliegende und ergiebige. Die drei kulturellen Freiheiten par excellence: Freiheit der Religion, der Künste und der Wissenschaften sind die schöpferischen „Generatoren“ von allem, was der Mensch im Verfassungsstaat schaffen kann. Goethe hat sie in dem wunderbaren Satz zusammengebunden: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion. Wer diese nicht hat, der habe Religion“. Der „aufrechte Gang“ symbolisiert den Übergang von der Natur zur Kultur, Kultur, verstanden als das vom Menschen Geschaffene. Darum sind „Objekte“, in denen afrikanische Naturvölker „Baumgeister“ wähnen, „Kulturgut“ im Sinne der nationalen und internationalen Kulturgüterschutzbestimmungen. Freilich gehören Kunst und Natur i.S. des anderen Dictum von Goethe zusammen! „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden.“ Darum gehören der Schutz von Natur- und Kulturerbe zusammen. Die drei genannten Urfreiheiten bilden sozusagen den „Humus“ für alle Hervorbringungen der Menschheit, für ihre Kultur. Spezifische Erscheinungsformen des Religiösen, auch seines Rückzugs in ganz Deutschland, sind ein Stück Verfassungskultur. Dabei kann es auch zu Spannungen kommen: Der Antikruzifixbeschluss des BVerfG (E 93, 1)28 wird durch die noch lebendigen (Kruzifix-)Traditionen im Grunde kaum befolgt (Der Kopftuchstreit wäre ein eigenes Problem). Im Bereich der Wissenschaftsfreiheit gehören die verschiedenen nationalen Ausprägungen etwa in die vielen Literaturgattungen 26 Dazu J. Luther, Zur Verfassungsentwicklung der Republik Somalia: Frieden durch Verfassung?, JöR 53 (2005), S. 703 ff. 27 Dazu mein Beitrag: Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang, FS Ress, 2005, S. 1163 ff. 28 Dazu zuletzt J. Krüper, Die grundrechtlichen Grenzen staatlicher Neutralität, JöR 53 (2005), S. 79 ff.

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Deutschlands vom abundanten Handbuch bis zur „feinen“ Rezension zu seiner respektablen Wissenschaftskultur, die Common Law-Länder haben andere Traditionen. Auch der nicht nur sprachlich unterschiedliche Urteilsstil, etwa in Frankreich bzw. Deutschland, gehört hierher. Schließlich ist die Kunst schon prima facie das klassische Feld für die Prinzipien nationalen Kulturverfassungsrechts: Offenheit, Pluralität, Prozesscharakter, Stichwort das „offene Kunstwerk“. Die Relevanz des Selbstverständnisses der Religionsausübenden (dazu KV Obwalden von 1968, noch vor dem BVerfG, E 24, 236), der Wissenschaftler und Künstler (dazu § 70 G Abs. 2 Verf. Ungarn), das Verständnis der zugehörigen Freiheiten ist das vielleicht schönste Thema des kulturwissenschaftlichen Ansatzes. Europas „Religionsverfassungsrecht“ ist Kulturverfassungsrecht mit einem Defizit in der neuen EU-Präambel: dem Fehlen des Gottesbezugs nach polnischem Vorbild in der Präambel (Alternativformel). Die Kulturklauseln im neuen Europäischen Verfassungsrecht seien nur den Vollständigkeit wegen in Erinnerung gerufen. Sie vermitteln Europa ein Stück seiner Identität, so wie die „nationale Identität“ grundsätzlich geschützt bleibt und als solche nur kulturwissenschaftlich erkennbar ist. In Polen sind die Religion und die Literatur herkömmliche Elemente der Nationalkultur. Für Tschechien gehört die Rückbesinnung auf die beiden Missionare Kyrill und Method ebenso zum Selbstverständnis wie der Komponist Janácek. Verdi ist dank „Nabucco“ als „geheime Nationalhymne“ ein Stück Verfassungskultur Italiens, obwohl es dazu keinen normativen verbindlichen Text gibt. Beethovens „Neunte“ ist in Europa längst vor dem Verfassungstext schon Verfassungskultur, ebenso die Europa-Flagge. Europa ist eine vielfältige und doch zusammengehörende Kultur. Es ist in einer Dimension auch ein „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts“ als juristischer Rahmen, aber nur in Grenzen der offene Markt. Märkte schaffen keinen Sinn, sie bleiben Instrumente, nicht mehr und nicht weniger, Instrumente für den sinnsuchenden und kulturfindenden Menschen. In Sachen Schutz kultureller Minderheiten sind die Gefahren der Ghettoisierung, des Umgangs der jungen Menschen in den Schulen und Universitäten einschlägig. Kulturelle Sozialisationsprozesse müssen mühsam genug gelernt, vorgelebt werden. Das Recht kann auch hier nur Rahmenbedingungen schaffen und „anregen“, aber kaum erzwingen. Auch hier geht es um „Kultur“. Doch fällt allgemein auf, dass die „Erwartungen an das Recht“ (M. Stolleis) hoch sind. Warum, etwa wegen seiner für alle geltenden Verbindlichkeit?

7. Kulturelle Minderheiten Der tagtägliche bzw. grundsätzliche Umgang mit kulturellen Minderheiten (Stichwort: gegenseitige Toleranz von Mehrheits- und Minderheitskulturen) ist der Testfall des Verfassungsstaates in Sachen Kultur. Die neuen Verfassungstexte in Osteuropa entfalten hier ein erstaunliches innovatives Programm mit neuen Text-

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stufen. (Am schönsten ist das Bild Ungarns von Minderheiten als „staatsbildende Faktoren“, vorbildlich auch Art. 35 Verf. Polen (1997).) Es fragt sich nur, ob, wann und inwieweit sie Wirklichkeit werden, aber auch „Parallelgesellschaften“ erträglich bleiben. Das stolze französische Integrationsmodell ist in der Krise (FAZ vom 26. Nov. 2004, S. 8). All dies sind Fragen der „Verfassungskultur“. Hiermit wird ein weiteres theoretisches Element von „Verfassungskultur“ sichtbar: neben der erwähnten Zeitdimension ist es die durch sie geprägte Wirklichkeit, die zu ihrer Eigenart gehört. („Mitmenschlichkeit fängt im Kleinen an“ (H. Köhler)). Manche alten Debatten über das Verhältnis von Verfassungsrecht und Verfassungswirklichkeit wären neu zu durchdenken. Dabei ist jedoch besser von „Wirklichkeit der Verfassung“ zu sprechen. Ihr vornehmstes Teilstück bildet die „Verfassungskultur“ (toto coelo etwas anderes als „Staatskultur“). Der österreichische Weg des Lebens mit einem staatlich anerkannten Muslimrat ist vorbildlich. III. Grenzen des kulturwissenschaftlichen Ansatzes bzw. des Schlüsselpotentials der „Verfassungskultur“ Jeder methodisch neue oder „altneue“ Versuch muss über seine eigenen Grenzen Rechenschaft geben, so auch der hier entwickelte Ansatz. Der Verfassungsstaat bleibt die kulturelle Errungenschaft par excellence, die Erarbeitung der je relevanten kulturellen Kontexte für seine Verfassungsprinzipien und Normenensembles bleibt die „Wünschelrute“ für die Erschließung seiner Inhalte, die kulturelle Verfassungsvergleichung und „kulturspezifische Verfassungsinterpretation“ bleiben der Weg, Identität und Differenzen des Typus Verfassungsstaat und seiner nationalen Beispiele sensibel nachzuzeichnen. Doch ist der kulturwissenschaftliche Ansatz nur eine Ergänzung zu anderen Wegen bzw. Verständnissen: Verfassung als „Norm und Aufgabe“, als „Anregung und Schranke“, als Gehäuse für mit juristischem „Handwerkszeug“ zu bearbeitenden und erarbeitenden Prinzipien. Er ist ein rechtliches Konstruktionsgebilde und ein öffentlicher Lebensvorgang. Der kulturwissenschaftliche Ansatz dient seiner Fundierung, Stabilisierung und Fortschreibung im „Laufe der Zeit“. So wie das Wort „Rechtskultur“ schon seit längerem seinen Dienst leistet (etwa als „europäische Rechtskultur“)29 und wir uns das „colere“ Ciceros (Pflegen, Hegen, Verehren), auch des Augustinus’ „Colit nos deus“ und „Nos colimus deus“ vor Augen halten müssen30, so kann der Begriff „Verfassungskultur“ die Verfassung im sog. „Nicht-Rechtlichen“ i.S. D. Schindlers „Ambiance“ verwurzelt sehen. Die europäische Rechtskultur und die werdenden europäischen Verfassungskulturen i.S. des Europarechts im engeren Sinne der EU und 29 P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994; aus der Lit. bemerkenswert: R. Schulze (Hrsg.), Rechtssymbolik und Wertevermittlung, 2004. 30 Vgl. etwa Art. „Kultur“ in Brockhaus Enzyklopädie, 19. Aufl. 12. Bd. 1990, S. 580 ff.; Rassem, Art. Kultur, in: Staatslexikon, 7. Aufl. 3. Bd. 1987, Sp. 746 ff.; W. Schneemelcher, Art. Kultur, in: Ev. Staatslexikon, 3. Aufl. 1987, Bd. 1, Sp. 911 ff.

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des Europarechts im weiteren Sinne von Europarat und OSZE verweisen auf neue Horizonte. Die „orangene Revolution“ in Kiew (2004) holte sich Mut – in Polen und in der EU: von Polen den Runden Tisch als „kulturelles Gen“ der Menschheit, von Europa dessen Grundwerte. Exkurs – werdend „Inkurs“: „Verfassungskultur“ als Vehikel für das konstitutionelle Völkerrecht? Dazu nur Stichworte für eine Bestandsaufnahme: I. Seit der frühen Grundlagenstudie von A. Verdross über die „Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft“ 31 hat konstitutionelles Denken im Völkerrecht eine große Tradition. Konstitutionelle Spurenelemente finden sich nicht nur in den Völkerrechtstexten (UN-Charta, Menschenrechtskonventionen32, WTO als Teilverfassungen), sie müssen in weltweitem Rechts- und Kulturvergleich auch aus einer wertenden Zusammenschau nationaler Verfassungsnormen mit Bezug zum Völkerrecht gewonnen werden. Die konstitutionelle ist immer auch eine interkonstitutionelle Völkerrechtskonzeption.33 Sie will dem nachspüren, was die je nationalen Verfassungstexte in ihren völkerrechtsbezogenen Normen34 dank weltweiter Rezeptionszusammenhänge für die Entwicklung einer sich verfassenden Völkergemeinschaft leisten können.

31 A. Verdross, Die Einheit des rechtlichen Weltbildes auf Grundlage der Völkerrechtsverfassung, 1923, S. 126 ff.; programmatisch fortgeführt in: ders., Die Verfassung der Völkerrechtsgemeinschaft, 1926; siehe schließlich auch ders. / B. Simma, Universelles Völkerrecht, 3. Aufl. 1984, S. 59 f. 32 Ch. Tomuschat, Die internationale Gemeinschaft, in: AVR 33 (1995), S. 1 ff.; W. Schreckenberger, Der moderne Verfassungsstaat und die Idee der Weltgemeinschaft, Der Staat 34 (1995), S. 503 ff., S. 507 ff.; A. Paulus, Die internationale Gemeinschaft im Völkerrecht, 2001; siehe auch F. Schorkopf / Ch. Walter, Elements of Constitutionalization: Multilevel Structures of Human Rights Protection in General International and WTO-Law, GLJ 4 (2003), S. 1359 ff. 33 P. Häberle, Das „Weltbild“ des Verfassungsstaates – eine Textstufenanalyse zur Menschheit als verfassungsstaatlichem Grundwert und „letztem“ Geltungsgrund des Völkerrechts, in: FS M. Kriele, 1997, S. 1277 ff., 1278; daran anknüpfend M. Kotzur, Weltrechtliche Bezüge in nationalen Verfassungstexten. Die Rezeption verfassungsstaatlicher Normen durch das Völkerrecht, in: Beiheft zur Zeitschrift Rechtstheorie, 2009 i. E.; ders., Wechselwirkungen zwischen Europäischer Verfassungs- und Völkerrechtslehre, in: Liber Amicorum P. Häberle, 2004, S. 289 ff.; siehe auch B. Fassbender, Der Schutz der Menschenrechte als zentraler Inhalt des völkerrechtlichen Gemeinwohls, EuGRZ 2003, S. 1 ff.; Ch. Walter, Constitutionalizing (Inter)national Governance: Possibilities and Limits to the Development of an International Constitutional Law, in: German Yearbook of International Law 44 (2001), S. 170 ff. 34 Ein Beispiel gibt die innerstaatliche Implementierung völkerrechtlicher Menschenrechtsstandards, siehe Ch. Walter, Die Europäische Menschenrechtskonvention als Konstitutionalisierungsprozeß, ZaöRV 59 (1999), S. 961 ff.; ders., Nationale Durchsetzung der Grundrechte, in: R. Grote / Th. Marauhn (Hrsg.), EMRK/GG, 2006, S. 1659 ff.

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II. Für die kulturvergleichende Grundlegung des konstitutionellen Völkerrechts gilt es Folgendes zu bedenken: Die neuzeitliche Völkerrechtsordnung gründet in der Idee einer christlich-europäischen Völkerfamilie, der universitas christiana.35 Doch die Entdeckung Amerikas, Reformation und Glaubenskriege entzogen diesem Universalitätsmodell früh seine religiös motivierte, eurozentrische Substanz.36 Die Menschheit selbst – in der allumfassenden societas humana des rationalistischen Naturrechts, in Vattels „société des nations“ schon im 18. Jh. als Legitimationssubjekt der rechtlich geordneten Völkergemeinschaft theoretisch angelegt37 – wurde zum Bezugspunkt einer „weltumspannenden Rechtsgemeinschaft“. 38 Das Fundament eines vom Menschen ausgehenden, „menschheitlich“ konzipierten Völkerrechts bilden seit 1945 vor allem die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (1948) und die Menschenrechtspakte der Vereinten Nationen – ihrerseits ein Stück weit sprachliches „Konzentrat“ von „Text-Vorbildern und Textelementen“, die sich bereits in der Virginia Bill of Rights von 1776 oder der Französischen Deklaration der Menschen- und Bürgerrechte von 1789 finden lassen.39 III. In der Literatur finden sich aber auch Vorschläge, eine „Globalverfassung“ jenseits der tradierten Rechtsgebiete „Völkerrecht“ und „Internationales Privatrecht“ zu konzipieren: Das Konzept einer globalen Rechtsordnung sui generis, die unabhängig vom Völkerrecht und nationalen Rechten entsteht, ohne staatlichen Setzungsakt auskommt und sich der Gestaltungsmacht gesellschaftlicher Potenzen wie multinationaler Konzerne, Menschenrechtsorganisationen oder Massenmedien verdankt, gerät zu einem hochinteressanten Denkspiel.40 Von einer „lex spontiva internationalis“ ist mitunter die Rede. Im Schrifttum zum Internationalen Privatrecht wird die „lex mercatoria“ als Vision oder Wirklichkeit einer politikfernen transnationalen Rechtsordnung der Weltmärkte gleichermaßen propagiert wie bekämpft.41 Ohne auf Einzelheiten eingehen zu können, sei hier eines festgehalten. 35 A. Verdross, Die Wertgrundlagen des Völkerrechts, in: AVR 4 (1953), S. 129 ff., 129, bezeichnet das Völkerrecht als ein „Produkt der christlich-abendländischen Kultur“. 36 Wenngleich es in der Völkerrechtswirklichkeit bis zur nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzenden Dekolonialisierungsphase ungleich länger brauchte, den Eurozentrismus auch de facto weitgehend zu überwinden. 37 W. Grewe, Epochen der Völkerrechtsgeschichte, 2. Aufl. 1988, S. 689. 38 Ebd., S. 686; C. W. Jenks, The Common Law of Mankind, 1958, S. 19 und passim. 39 Das Textstufenmodell beschreibt P. Häberle, Textstufen als Entwicklungswege des Verfassungsstaates, in: ders., Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 3 ff., 9. 40 V. Ronge, Am Staat vorbei, 1980; M. J. Bonell, Das autonome Recht des Welthandels – rechtsdogmatische und rechtpolitische Aspekte, RabelsZ 42 (1978), S. 485 ff.; J.-Ph. Robe, Multinational Enterprises: The Constitution of a Pluralistic Legal Order, in: G. Teubner (ed.), Global Law Without A State, 1996; G. Teubner, Privatregimes: Neo-spontanes Recht und duale Sozialverfassung in der Weltgesellschaft, in: Liber amicorum S. Simitis, 2000, S. 437 ff. 41 Aus der Lit. vgl. etwa R. Meyer, Bona fides und lex mercatoria in der europäischen Rechtstradition, 1994; U. Stein, Lex mercatoria. Realität und Theorie, 1995; K. Highet, The

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Jeder Entwurf rein autonomen transnationalen Rechts übersieht, dass die behauptete rechtssetzende Autorität nichtstaatlicher Akteure doch, wenn überhaupt, vor allem durch die Gestaltungsfreiheit möglich wird, die ihnen die nationalen Verfassungsordungen einräumen. IV. Der Bedingungszusammenhang, der so für das Verhältnis zivilgesellschaftlicher Handlungsfähigkeit und verfassungsrechtlicher Steuerung sichtbar wird, findet eine Parallele im Zusammenspiel von Verfassungs- und Völkerrecht. Die universellen Prinzipien des Völkerrechts haben umso höhere Effektivität, je intensiver die nationalen Verfassungsordnungen sie implementieren, und vice versa leisten die nationalstaatlichen Verfassungstexte in ihren völkerrechtlichen Öffnungsklauseln und Bekenntnissen zu Menschenrechtsgarantien einen originären Beitrag zur Entstehung respektive differenzierenden Fortschreibung neuer Rechtsnormen mit universellem Geltungsanspruch – das nationale und das Völkerstrafrecht mit der jeweiligen Geltung des Weltrechtsprinzips geben dafür ein anschauliches, auf verfassungsstaatliche Menschenrechtsstandards hin orientiertes Beispiel.42 Für genau diese Erscheinungsform gleichsam kooperativer Normerzeugung und Normverwirklichung zwischen nationalstaatlich verfasster und internationaler Gemeinschaft wird das Bild einandergreifender Teilverfassungen zum tragfähigen Modell. Die Begriffe „konstitutionelles Völkerrecht“, „kommunitäres Völkerrecht“, „internationales Verfassungsrecht“ setzen zusätzliche Akzente.43 Enigma of the Lex Mercatoria, 63 Tulane Law Review (1989), S. 613 ff.; G. Teubner, Globale Bukowina. Zur Emergenz eines transnationalen Rechtspluralismus, Basler Schriften zur Europäischen Integration Nr. 21, 1996, S. 3; ablehnend O. Sandrock, Das Privatrecht am Ausgang des 20. Jahrhunderts: Deutschland – Europa – und die Welt, JZ 1996, S. 1 ff., 9. 42 M. Kotzur, Weltrecht ohne Weltstaat – die nationale (Verfassungs-)Gerichtsbarkeit als Motor völkerrechtlicher Konstitutionalisierungsprozesse, DÖV 2002, S. 195 ff.; W. Weiß, Völkerstrafrecht zwischen Weltprinzip und Immunität, JZ 2002, S. 696 ff., 698 ff.; Ch. Safferling, Zum aktuellen Stand des Völkerstrafrechts, JA 2000, S. 164 ff. Zum Internationalen Strafgerichtshof und dem „Statute of Rome“: Text des Statuts: A / CONF. 183 / 9 vom 17. Juli 1998, deutsche Übersetzung in: EuGRZ 1998, S. 618 ff. Aus der Lit.: Ch. Tomuschat, Das Statut von Rom für den internationalen Strafgerichtshof, Friedens-Warte 73 (1998), S. 335 ff.; A. Zimmermann, Die Schaffung eines ständigen internationalen Strafgerichtshofs, ZaöRV 58 (1998), S. 47 ff.; C. Stahn, Zwischen Weltfrieden und materieller Gerechtigkeit: Die Gerichtsbarkeit des Ständigen Internationalen Strafgerichtshofs (IntStGH), EuGRZ 1998, S. 577 ff., 590 f.; U. Fastenrath, Der Internationale Strafgerichtshof, JuS 1999, S. 632 ff.; K. Ambos, Der neue Internationale Strafgerichtshof – ein Überblick, NJW 1998, S. 3743 ff., 3746; ders., „Verbrechenselemente“ sowie Verfahrens- Beweisregeln des Internationalen Strafgerichtshofs, NJW 2001, S. 405 ff.; Ch. Walter, Zwischen Selbstverteidigung und Völkerrecht: Bausteine für ein internationales Recht der „präventiven Terrorismus-Bekämpfung“, in: D. Fleck (Hrsg.), Rechtsfrage der Terrorismusbekämpfung durch Streitkräfte, 2004, S. 23 ff.; G. Werle, Völkerstrafrecht, 2003; F. Selbmann, Der Tatbestand des Genozids im Völkerstrafrecht, 2003; J. Schlösser, Mittelbare individuelle Verantwortlichkeit im Völkerstrafrecht, 2004. 43 M. Nettesheim, Das kommunitäre Völkerrecht, JZ 2002, S. 569 ff., 578; internationale Wirkungszusammenhänge beleuchtet ferner S. Kadelbach, Internationale Verflechtung, in:

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Teil 1: Verfassungskulturen

V. Unschwer lassen sich Elemente einer „völkerrechtlichen Verfassungskultur“ erkennen: der erwähnte Zeitfaktor, der Wachstumsvorgang, der intensive Wirklichkeitsbezug (auf den Herb. Krüger immer wieder hinwies, so wie D. Schindler das Völkerrecht als typisch „werdendes Recht“ gekennzeichnet hat). Sieht man das Völkerrecht als „verfassungsstaatlichen Grundwert“, dann ist die Relevanz der „Verfassungskultur“ evident. Dies erforderte ein eigenes Referat mit eigenem Theorierahmen. Er bleibe der nächsten Generation überlassen.44 Dank und Ausblick Schon hier und jetzt darf ich meinen Dank für dieses Forum in Hagen zum Ausdruck bringen: Dank an den „deutschen bzw. europäischen Griechen“ D. Tsatsos45 und an seinen „Bruder im Geiste“ Herrn Brandt. Zwar durfte ich schon des öfteren Tagungen, vor allem im Ausland, im Blick auf meine kulturwissenschaftlichen Versuche eröffnen und mit bestreiten (etwa in Granada, Athen und Rom sowie in Trient 1999 bzw. 2001 und 2003), doch das Programm dieser Tagung könnte etwas Besonderes werden. Dabei leben wir alle von der Einsicht, dass auch der immer wieder gefährdete Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe ein unverzichtbares Utopiequantum, Horizonte der Hoffnung, braucht (Das amerikanische „pursuit of happiness“ gehört hierher, auch so manches Staatsziel, z. B. „Europa“, „Frieden in der Welt“). Dabei kann das Konzept der „Verfassungskultur“ (in Singular und Plural) helfen. Vor allem aber ist heute das „Utopiequantum“ des Verfassungsstaates das Völkerrecht. Seine allgemeinen Grundsätze sind ein Grundwert des Verfassungsstaates oder befinden sich doch auf dem Weg, ein solcher zu werden. „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur“, die Konstitutionalisierung des Völkerrechts, seine Anverwandlung zum „Innenrecht“ des Verfassungsstaates, seine Konstruktion vom Menschen und Bürgern her im Geist des I. Kant sind Stichworte. Vor allem aber: die Welt ist kein Markt, sie ist universale und partikulare Kultur, alle mögliche und wirkliche Freiheit ist kulturelle Freiheit. Die Übertragung des kulturwissenschaftlichen Ansatzes auf das Völkerrecht bleibt ein Desiderat (auch für diese Tagung), nicht zuletzt um der Ökonomisierung entgegenzutreten. Frieden ist ein Kulturzustand, nicht nur, aber auch dank einer sich reformierenden UN. Wir brauchen B. Pieroth (Hrsg.), Verfassungsrecht und soziale Wirklichkeit in Wechselwirkung, 2000, S. 160 ff., 162 m. w. N. kritisch; U. Haltern, Internationales Verfassungsrecht?, AöR 128 (2003), S. 511 ff. 44 Andeutungen in meinem Beitrag: Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht, FS Zuleeg, 2005, S. 80 ff. 45 Würdigungen: I. Pirgiotakis, in: FS Tsatsos, 2003, S. 517 ff.; P. Häberle / M. Morlok / W. Skouris (Hrsg.), Staat und Verfassung in Europa, 2000; K. Hesse, in: D. Tsatsos, Verfassung – Parteien – Europa, Gesammelte Schriften 1998 / 1999.

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eine neue „Schule von Salamanca“! Sie könnte eine „Kultur des Völkerrechts“ entwerfen, die dem Mühen um „Verfassungskultur“ zur Seite steht. Das Völkerrecht wäre auf unserer Tagung in diesen Horizont einzubeziehen.

Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität* Einleitung, Problem Die Aktualität des Themas ist denkbar groß: auf nationaler und auf europäischer Ebene, ja auf Weltebene. Angesichts der rasanten „Globalisierung“ einerseits, der in vielen Verfassungsstaaten sich entwickelnden „Föderalisierung“ und „Regionalisierung“ andererseits, angesichts der Zweifel am ufer- und schrankenlosen (Welt-)Markt beobachten wir weltweit eine Wiederbesinnung auf Kultur als identitätsstiftende Kraft, auf kulturelle Freiheit als direkt menschenwürdebezogene Freiheit (im Unterschied zur wirtschaftlichen Freiheit mit ihrer nur instrumentalen Bedeutung), auf kulturelle Differenz (Vielfalt bis hin zum Minderheitenschutz). „Kultur“, eine Schöpfung Ciceros, erlebt derzeit auf vielen Feldern eine eindrucksvolle Themenkarriere: man denke an das Ringen um den Schutz der kulturellen Identität des Menschen (auch im Datenschutz greifbar), den Schutz der vielgestaltigen Minderheiten ganzer Völker oder Regionen wie Europas oder Lateinamerikas oder an das UNESCO-Übereinkommen zur „kulturellen Vielfalt“. Stichworte sind darüber hinaus: „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur“, „Kultur der Freiheit“, Religion, Kunst und Wissenschaft als Trias der den Menschen auszeichnenden Grundfreiheiten, Kultur aber auch als Gegensatz zur Natur als das nicht vom Menschen Geschaffene, ihm aber ebenfalls Unentbehrliche. Auch meine eigenen Begriffe von „Grundrechtskultur“, bzw. „Verfassungskultur“ seien erwähnt. Für Deutschland dürfte D. Sternberger „Verfassungspatriotismus“ aussagekräftig bleiben, allgemein der Begriff „Rechtskultur“. Nach Bundespräsident H. Köhler ist die Verantwortung für die Shoa ein „Teil der deutschen Identität“ (FAZ vom 3. Februar 2005, S. 1). Es ist wohl kein Zufall, dass das Projekt der italienischen CNR unter der Leitung von A. D’Atena mit dem Namen „Kulturelle Identität“ gerade in Italien vorangetrieben wird: Denn kaum ein Land der Erde kann so wie Italien seine kulturelle Identität als reiches Erbe leben, keines leistet personell und finanziell so viel für den Schutz der Kulturgüter, hat so viele Kulturlandschaften und Städtebilder hervorgebracht und hat so viele Kunstepochen geschaffen (man denke nur an die Renaissance und den Humanismus (Florenz), auch den Barock (Rom)), und wohl nur Italien hat so viele Beiträge zum UNESCO-Weltkulturerbe geleistet. Freilich: „Quer“ dazu stehen manche Initiativen der heutigen Regierung in Rom, die mit * L. Favoreu zum Gedächtnis; erschienen in: JöR 55 (2007), S. 317 ff.

Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität

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ihrer „Vergottung“ von Markt und Wettbewerb, ihrer monopolistischen, nicht pluralistischen Medienpolitik und ihrer primären Orientierung an der wirtschaftlichen Macht und der „Effizienz“ manchen Italienliebhaber wie den Verfasser irritieren oder gar auf die „Probe“ stellen. Sogar die Wissenschaft, die Universitäten sollen ökonomisch und effizient arbeiten, wie ein Unternehmer, welch eine Verkennung ihres Auftrags! Dass das Thema „Kulturelle Identität“ nur im interdisziplinären Gespräch gelingen kann, liegt auf der Hand. Indes überschreitet diese Forderung die begrenzten Möglichkeiten des Autors. Er vermag nur von seinem kulturwissenschaftlichen Ansatz her1, z. T. in den Spuren einer deutschen Tradition, einige verfassungsrechtliche Fragen aufzuwerfen und Tore zu öffnen, nicht selbst hindurch zu gehen. Dies sei in einem Dreischritt gewagt: Auf eine Behandlung der „Grundlagen“ im ersten Referat folgt ein konkretes Beispiel: „Feiertage als kulturelle Identitätselemente“ des Verfassungsstaates (eine erstmals 1987 formulierte These); ein letzter Beitrag gelte dem Thema „Europa“ bzw. seiner Identität aus Kultur: Europa als „Mutterland“ mit den Nationen als „Vaterländern“. Im Jahre 2003 fragten J. Derrida und J. Habermas gezielt nach der „europäischen Identität“ (Stichworte sind das „Kerneuropa“, das sogenannte „alte Europa“). 1973 war es zu einer Erklärung der Staatsund Regierungsschefs der EWG über die europäische Identität gekommen. Europa als „Wertegemeinschaft“ ist ein Schlagwort. I. Bestandsaufnahme verfassungsrechtlicher, europarechtlicher und völkerrechtlicher Texte Beginnen wir – dem Programm einer nationalen und europäischen Verfassungslehre und ihrem Konzept als „juristischer Text- und Kulturwissenschaft“ gemäß – mit einer Bestandsaufnahme von Rechtstexten. An ihnen mag sich dann die Theorie „inspirieren“, wenn man will „entzünden“, und eben diese Basis der geschriebenen Texte samt ihrer „Textstufen“ ist es auch, die den etwaigen (spekulativen) Höhenflug der Theorie zu kontrollieren vermag. In allen drei Arbeitsfeldern finden sich Beispiele für Normenensembles und Textgruppen, die Ausdruck kultureller Identitätsvorstellungen sind: im nationalen Verfassungsrecht, im Europäischen Verfassungsrecht und im Völkerrecht, das in Teilgebieten auf dem Weg zu einer „Konstitutionalisierung“ ist. Im Einzelnen geht es um: – Europäische kulturelles Erbe-Klauseln, früh Europäische Kulturabkommen von 1954: Art. 1, 5, (sie wurden schon vor 13 Jahren systematisiert)2, zuletzt Art. 128 Abs. 1 und 2 EGV von 1992, I Art. 3 Abs. 3 VE von 2004, Art. III 181 lit. b Abs. 3 ebd. 1 Begründet in dem Buch: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982) sowie Kulturpolitik in der Stadt (1979). 2 Vgl. P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 267, 284, 326, 330, 646 ff. u.ö.

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Teil 1: Verfassungskulturen

– Kulturelles Erbe: Art. 8 Abs. 3 Verf. Albanien; Art. 23 Verf. Bulgarien; Art. 44 Abs. 2 Verf. Slowakei (1992); Art. 73 Verf. Slowenien (1991); Präambel und Art. 143 Satz 2 Verf. Guatemala (1985) – Nationale kulturelles Erbe-Klausel: Art. 6 Abs. 1 Verf. Polen (1997): „Güter der Kultur, welche die Quelle der Identität des polnischen Volkes ist“; s. auch Präambel Verf. Niger (1990): Sorge für die „kulturelle und geistige Identität“ – Nationale Identitätsklauseln: Art. 46 Verf. Spanien; Art. 34 Abs. 2 Verf. Brandenburg, vor allem im und vom Europäischen Verfassungsrecht her, z. B. Art. F Abs. 1 EUV3, Art. 6 Abs. 3 EUV, Europäischer Verfassungsvertrag von 2004 (Präambel) sowie Grundrechtecharta von 2000 (Präambel); Präambel und Art. 3 Verf. Albanien; Art. 2 Verf. Sáo Tomé und Principé (1990) – Europäische Identitätsklauseln: Präambel und Art. 2 EUV – Nationaler Kulturgüterschutz: Art. 78 Abs. 2 lit. c Verf. Portugal („gemeinschaftliche kulturelle Identität“) – auf Minderheitenschutz bezogene Identitätsklauseln: z. B. Art. 25 Abs. 1 Verf. Brandenburg, Art. 5 Abs. 2, Art. 6 Verf. Sachsen; Art. 48 Abs. 2 Verf. Mazedonien (1991); Art. 76 Abs. 1 Montenegro (1992); Art. 35 Abs. 2 Verf. Polen; Art. 16 Verf. Rumänien (1991); Art. 64 Abs. 1 Verf. Slowenien (1991); s. auch Art. 114 Verf. Lettland von 1922 / 94: „kulturelle Eigenheiten“ – auf Kirchen und Religionsgesellschaften bezogene Identitätsklauseln: z. B. I Art. 51 Abs. 3 EUV-Entwurf von 2004 – auf Autonomiestatute zielende Identitätsklauseln: Art. 147 Abs. 2 lit. a Verf. Spanien: („historische Identität“) – auf einzelne Weltregionen zielende Gemeinschafts- bzw. Identitätsklauseln, etwa in Bezug auf Lateinamerika: z. B. Präambel Verf. von Kolumbien von 1991; Art. 6 Abs. 2 Verf. Uruguay von 1992 oder in Gestalt von Bekenntnissen zu Afrika und seiner „Einheit“: vgl. Präambel Verf. Burundi von 1992; Präambel Verf. Mali von 1992; Präambel Verf. Senegal von 1992 – auf den Einzelmenschen (die Person, das „Subjekt“) verweisende Schutz- bzw. Identitätsklauseln: Art. 26 Abs. 1 Verf. Portugal; Art. 58 Verf. Guatemala; Art. 10 Verf. Moldau von 1994 (Recht auf „ethnische, kulturelle, sprachliche und religiöse Identität“).

Schon diese, meines Wissens bisher noch nicht erarbeitete Bestandsaufnahme ist mehr als ein bloßer „Steinbruch“. Von diesen „offenen“ (erklärten) „Identitätsklauseln“ zu unterscheiden sind die „verdeckten“, d. h. nicht wörtlich mit dem Begriff „Identität“ arbeitenden, von ihm aber geprägten, durch Interpretation erschlossenen Textensembles. Hierzu 3

Dazu BVerfGE 89, 155 (189).

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gehören neben Sprachen-Artikeln und Erziehungszielen4, Feiertagsgarantien, nationale wie der 4. bzw. 14. Juli, oder neu der 3. Oktober als „Tag der deutschen Einheit“ (kurzfristig Ende 2004 typischerweise vom deutschen Finanzminister und Bundeskanzler als Handelsware in Frage bzw. zur Disposition gestellt) und weltweite Feiertage wie der 1. Mai, sodann Nationalhymnen, europaweit jetzt Beethovens „Neunte“, Flaggen5, Wappen und Währungen, in manchen Ländern auch „Hauptstädte“6 (z. B. Art. 1 Abs. 3 Verf. Sachsen-Anhalt; Art. 11 Verf. Portugal: „Symbol der Einheit und Integrität“; s. auch Art. 169 Verf. Bulgarien (1991); Art. 17 Verf. Litauen (1999): „uralte historische Hauptstadt Litauens“; § 74 Verf. Ungarn (1949 / 90)). Nur in einem tieferen – kulturwissenschaftlichen – Ansatz kann erkannt werden, dass und wie diese Normen oder Institutionen tiefgründig die Identität eines Volkes bzw. nationalen Verfassungsstaates begründen und prägen. Z. B. ist die „Ewigkeitsklausel“ des Art. 79 Abs. 3 GG eine verfassungsstaatliche Identitätsgarantie 7 (s. auch Art. 288 Verf. Portugal von 1976; Art. 148 Verf. Rumänien von 1991; Art. 130 Verf. Guinea-Bissau von 1993; Art. 225 Verf. Tschad von 1996). Sie umschreibt den Grundkonsens. Die Nationalsprache im Singular oder (wie in der Schweiz) im Plural, in Sprachen-Artikeln vielgestaltig geschützt (z. B. Art. 74 Abs. 2 lit. h Verf. Portugal, Art. 3 Verf. Spanien, § 17 GG Finnland von 2000), gehören ebenso hierher wie der Verweis auf die Verfassungsgeschichte, besondere Ereignisse wie Revolutionen oder die nationale Einheitsbildung sowie große (ggf. utopische) Zukunftshoffnungen wie einst von 1949 bis 1989 in Deutschland die deutsche Wiedervereinigung, in Irland die irische. Solche Grundwerte sind oft in Präambeln8 fixiert, welche Sprachform und verfassungsrechtliche „Kunstgattung“ sich überhaupt meist besonders reichhaltig mit Elementen kultureller Identität befasst und so das politische Gemeinwesen verfasst. Nahe liegt die These: Es gibt kulturelle Identität aus der – interpretierten – Verfassung bzw. ihren Teilen. Besonders ergiebig sind „Geist“-Klauseln (z. B. Art. 33 Verf. RheinlandPfalz, Art. 30 Abs. 1 Verf. Berlin, Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Präambel Verf. Hamburg) – ein Stück Montesquieu in Verfassungstexten. Schließlich „versteckt“ sich in Art. 35 Abs. 1 Deutscher Einigungsvertrag von 1990 ein Stück Identität Deutschlands („In den Jahren der deutschen Teilung waren Kunst und Kultur . . . eine Grundlage der fortbestehenden Einheit des deutschen Volkes“).

4 Dazu mein Beitrag FS Pedrazzini: Sprachen-Artikel und Sprachenprobleme in westlichen Verfassungsstaaten, 1990, S. 105 ff.; P. Häberle, Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981. 5 Vgl. BVerfGE 81, 278 (297). 6 Vgl. P. Häberle, Die Hauptstadtfrage als Verfassungsproblem, DÖV 1990, S. 989 ff. 7 Dazu P. Häberle, Verfassungsrechtliche Ewigkeitsklauseln als verfassungsstaatliche Identitätsgarantien, FS Haug, 1986, S. 81 ff.; P. Kirchhof, Die Identität der Verfassung in ihren unabänderlichen Inhalten, HdBStR Bd. I 1987, S. 775 ff. 8 Dazu P. Häberle, Präambeln im Text und Kontext von Verfassungen, FS Broermann, 1982, S. 211 ff.

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II. Ein Theorierahmen 1. Der kulturwissenschaftliche Ansatz Der Theorierahmen kann hier nur skizziert werden. Er findet sich in dem seit 1979 / 82 vom Verf. versuchten „kulturwissenschaftlichen Ansatz“, der hier in Stichworten wiederholt sei: Ausgangspunkt ist ein offenes, pluralistisches Kulturkonzept mit den im Verhältnis zueinander durchlässigen Kategorien der „Hochkultur“ (des Wahren, Guten und Schönen), der „Volkskultur“ besonders lebendig in Lateinamerika (Indios) und in der Schweiz (z. B. als Folklore) und den Alternativbzw. Subkulturen (vom Fussball bis zu den Beatles oder besser umgekehrt). Mischungen finden sich in Begriffen wie höfische und bürgerliche Kultur oder Arbeiterkultur. Anliegen des kulturwissenschaftlichen Konzepts ist es, das Tiefgründige „hinter“ den Normtexten Stehende zu erfassen; das juristische Regelwerk ist nur eine Dimension. Vergegenwärtigt werden kann so die geschichtliche Dimension, z. B. das kollektive, kulturelle Gedächtnis eines Volkes, auch seine „Errungenschaften“ oder Traumata und Wunden („Schicksal“) – wie in der Ukraine „Tschernobyl“ (Stichwort: „Erfahrungswissenschaft“). Aus „Verfassungsgeschichte kommt („gerinnt“) ein Stück Identität („Verfassungspatriotismus“, D. Sternberger). Mit „bloß“ juristischen Umschreibungen, Texten, Einrichtungen und Verfahren ist es also nicht getan. Verfassung ist nicht nur rechtliche Ordnung für Juristen und von diesen nach alten und neuen Kunstregeln zu interpretieren – sie wirkt wesentlich auch als Leitfaden für Nichtjuristen: für den Bürger. Verfassung ist nicht nur juristischer Text oder normatives „Regelwerk“, sondern auch Ausdruck eines kulturellen Entwicklungszustandes, Mittel der kulturellen Selbstdarstellung des Volkes, Spiegel seines kulturellen Erbes und Fundament seiner Hoffnungen. Lebende Verfassungen als ein Werk aller Verfassungsinterpreten der offenen Gesellschaft sind der Form und der Sache nach weit mehr Ausdruck und Vermittlung von Kultur, Rahmen für kulturelle (Re-)Produktion und Rezeption und Speicher von überkommenen kulturellen „Informationen“, Erfahrungen, Erlebnissen, Weisheiten. Entsprechend tiefer liegt ihre – kulturelle – Geltungsweise. Dies ist am schönsten erfasst in dem von H. Heller aktivierten Bild Goethes, Verfassung sei „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Damit werden klassische Verfassungskonzepte nicht hinfällig: etwa Verfassung als „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner), als „Anregung und Schranke“ (R. Smend), als Beschränkung von Macht und Gewährleistung eines freiheitlichen Lebensprozesses (H. Ehmke) bis hin zum neuen Konzept von der „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969), aber sie behalten nur eine – freilich unverzichtbare – relative Aussagekraft. In Europa ist wichtig, dass der schrittweise seit 1957 legitimierte Einigungsprozess („Rom“, zuletzt „Nizza“, „Brüssel“ und „Rom“) als kultureller Vorgang begriffen wird, nicht primär als ökonomischer. Testfälle sind der anhaltende Streit um den Gottesbezug in einer europäischen Verfassung und um die Aufnahme der

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Türkei, eines Tages vielleicht auch der Ukraine. Methodisch macht dieser Ansatz den Weg frei für „kulturelle Verfassungsvergleichung“ (1982) als Erarbeitung des Gleichen und Ungleichen, für die Idee der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989), jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein rezipiert und praktiziert (2003). Inhaltlich wird es möglich, das Werden einer europäischen Öffentlichkeit, dank Politik und Verfassung aus schon vorhandener kultureller Öffentlichkeit zu begreifen und dem Kulturverfassungsrecht in den nationalen Verfassungen wie in der europäischen einen besonders hohen Stellenwert einzuräumen, im Kontext der Grundwerte-Artikel und auf der Basis der kulturellen Freiheiten des Bürgers bzw. der Kulturkompetenzen der Res publica. Begriffe wie „Verfassungskultur“ und „Grundrechtskultur“ (1979 / 82) lassen sich erst in diesem Theorierahmen entwerfen und gebrauchen. Der Begriff „Rechtskultur“, auch auf das Zivilrecht und Strafrecht bezogen, liegt nahe. Die europäische Rechtskultur konstituiert sich aus den sechs Elementen: Geschichtlichkeit, Wissenschaftlichkeit, Unabhängigkeit der Rechtsprechung, konfessionelle Neutralität des Staates, Vielfalt und Einheit, Partikularität und Universalität. 2. Die Frage nach der „Identität“ (philosophisch) Die Frage nach der Identität (vielleicht übersetzbar mit „Eigenständigkeit“, „Eigentümlichkeit“, „Wesen“ oder auch „Integrität“) ist in diesen Kontext einzubetten. Philosophische Identitätstheorien von Platon bis Hegel sind abzulehnen, weil sie einem ganzheitlichen Ansatz verpflichtet sind und leicht in totalitäre Ideologien münden. Klassikertext ist m. E. der Kritische Rationalismus eines Popper. Er gibt auch philosophisch den Weg frei für alle Arten von Pluralismus: von der „Verfassung des Pluralismus“ (1980) bis zum kulturellen Trägerpluralismus (1979), etwa in Bezug auf Medien, Gruppen, Kirchen, Verbände. M.a.W.: Im Verfassungsstaat als Typus gibt es ebenso wie im sich verfassenden Europa eine Vielfalt von Identitäten auf allen Ebenen, in vielen Feldern. Es gibt aber nichts Übergreifendes, das „identitätsphilosophisch“ zu umschreiben wäre. Alle Fragen nach der Identität dürfen sich nicht in die Totalitäts-Falle verführen lassen. Die punktuelle, auf ein Einzelproblem bezogene Frage nach dem „Wesen“ bleibt möglich, ist mitunter sogar geboten (etwa bei den grundrechtlichen Wesensgehaltgarantien seit Art. 19 Abs. 2 GG, auch in Osteuropa vielfältig normiert9), doch geht es nicht um eine phänomenologische „Wesensschau“, sondern um konkrete juristische Arbeit an Prinzipien und Regeln, Fallpraxis und Präjudizien. Gleiches gilt auch für Art. 19 Abs. 3 GG („Wesen“) und seine Nachfolgenormen (Art. 5 Abs. 3 Verf. Brandenburg, Art. 37 Abs. 2 Verf. Sachsen, Art. 3 Verf. Peru von 1979, Stichwort: Geltung der Grundrechte für juristische Personen). Für „Geist-Klauseln“, im Grunde „Mon9 Dazu der Nachweis in: P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 341 ff., z. B.: Art. 17 Abs. 2 Verf. Albanien (1998); § 11 Verf. Estland. – Eine Identitätsklausel ist auch Art. 3 Verf. Afghanistan: „Kein Gesetz kann erlassen werden, wenn es sich gegen den islamischen Glauben und die islamischen Grundwerte richtet“.

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tesquieu“, gilt nichts anderes. Ein Buch vom „Geist der Verfassungen“ wurde leider noch nicht geschrieben. 3. Die Frage nach der kulturellen Identität als Bezugsfrage Die hier gestellte Frage nach der kulturellen Identität ist also bescheiden anzugehen, prinzipiell konkret, nicht „hoch philosophisch“. Stets sollte der Bezug auf Konkretes hergestellt werden: auf Menschen bzw. Bürger, auch Minderheiten und Gruppen (ihre Identität), auf Verfassungsstaaten und ihre inneren Strukturierungsformen (wie Regionen und Länder, auch Kommunen), auf großräumige Regionen wie „Lateinamerika“ oder Europa, in Teilen des Völkerrechts sogar auf die „Welt“ (Stichwort: Kulturgüter der Menschheit, universale Menschenrechte, aber auch auf den Einzelnen (seine Identität, nicht zuletzt als Staatsbürger)). Von den erwähnten Texten und ihren Kontexten kann man „lernen“. So, wenn es in § 50 Verf. Estland heißt: „Minderheiten haben das Recht, im Interesse ihrer Volkskultur . . . Selbstverwaltungseinrichtungen zu gründen“; wenn sich die Präambel Verf. Georgien auf die „jahrhundertealte Tradition der Staatlichkeit des georgischen Volkes und die (!) georgische Verfassung von 1921“ beruft; so wenn die Präambel Verf. Kroatien von 1990 auf die „staatsbildende Idee des historischen Rechts des kroatischen Volkes“ Bezug nimmt; so wenn die Präambel Verf. Litauen von 1992 auf den „Geist (sc. des Volkes), seine angestammte Sprache, seine Schrift und sein Bräuche“ verweist und Art. 25 Abs. 1 Charta Tschechien von 1992 den Minderheiten ihre „Muttersprache“ garantiert. Auffallend bleibt, dass vor allem in Osteuropa und in den Entwicklungsländern neue Identitätsklauseln normiert werden. Ungarn hat die reifste identitätsphilosophische Textstufe in seiner Verfassung von 1949 / 1990 gefunden, insofern § 68 Abs. 2 Elemente des Minderheitenschutzes nennt: „kollektive“ Teilnahme am öffentlichen Leben, die Pflege ihrer eigenen Kultur, den Gebrauch ihrer Muttersprache, Unterricht in ihrer Muttersprache und das Recht auf Gebrauch des Namens in der eigenen Sprache“. Art. 11 Verf. Ukraine (1996) spricht von „Wesenszüge(n) aller alteingesessenen Völker und nationalen Minderheiten der Ukraine“. Auch das klassische „Wir“ – the people – (zuletzt Verf. Albanien von 1998, Präambel) gehört hierher. Insgesamt ergibt sich also kein identitätsphilosophisches Bild im „Großen und Ganzen“, sondern eine Pluralität von Teilen, die kulturell grundiert ist und punktuell bleibt. Man darf von „Mosaik“ sprechen, das freilich keinen zwingenden Rahmen hat, allerdings durch die Verfassung des Pluralismus konstituiert ist. „Identität“ ist nur durch Kultur möglich, nicht durch Wirtschaft. Der Begriff ist vielleicht „ideologiegefährdet“, doch lässt er sich oft durchaus juristisch handhaben, nicht nur dort, wo er als geschriebener Text auszulegen ist, weil er verbindlich ist.

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III. Konkrete Beispielsfelder Konkrete Beispielsfelder geben dem hier gewählten Ansatz Gestalt und Farbe. Viele wurden schon genannt. Betont sei eigens die Identität, die aus Kommunen erwachsen kann, greifbar zumal in „europäischen Städten“10, die „Kulturhauptstädte“ wurden (etwa Athen, Lille, Thessaloniki, jüngst Cork), die „Städtebilder“ sind (wie in großer Vielzahl die Kommunen in Italien). Erwähnt sei die sog. kulturelle Bundesstaatstheorie, die für die Regionen Spaniens und Italiens, auch wachsend Großbritanniens, fortzuschreiben wären i.S. von „Regionalistic Papers“. Vor allem in Süddeutschland, seit der Wende 1989 in Ostdeutschland, erkennen wir die Ergiebigkeit eines Verständnisses des Föderalismus aus der Vielfalt der Kultur (Thüringen mit Goethe / Schiller in Weimar, Sachsen mit J. S. Bach in Leipzig). Die Einzelelemente der „Stiftung“ kultureller Identität, ihrer „Prägung“ sind wohl offen, prozesshaft, vom geschichtlichen Wandel abhängig. Vielleicht gibt es das Paradox, dass sich auch die „Identität“ wandelt. Offen sind auch der Kreis der Beteiligten und die informellen sowie formelle Verfahren. So können Lebenswerke großer Persönlichkeiten – etwa N. Mandela in Südafrikas „Nation building und Constitution making“ – nationale Identität stiften bzw. ein „Wir-Gefühl“ hervorrufen: in den USA ein George Washington, in Italien ein Verdi mit Nabucco als „geheimer Nationalhymne“. Für Frankreich wäre der Mythos „Jeanne d’Arc“ zu nennen. Verfassunggebung und Verfassungsänderung sind formalisierte Verfahren möglichen Identitätswandels. Das „kulturelle Gedächtnis“ eines Volkes muss reich sein, um es im Gang der Geschichte „im Innersten zusammenzuhalten“ (es wird oft in Präambeln beschworen). Seine Zukunftshoffnungen (in der Ukraine vielleicht die Wendung nach Europa dank der Revolution in „Orange“, in der sich das Volk Ende 2004 sein Wahlrecht erkämpft hat und der „Runde Tisch“ als kulturelles Gen der „Menschheit“ wie zuvor in Polen in den 80er Jahren wiederkehrte), müssen glaubhaft sein, auch wenn es immer ein „Utopiequantum“ geben mag. In Deutschland ist das Wort von T. Mann vom „europäischen Deutschland“ ein solcher identitätsstiftender Klassikertext11 geworden. Hingegen wurde J. Habermas’ Wort vom „DM-Nationalismus“ plötzlich (zugunsten des einheitsstiftenden Euro) hinfällig. Überhaupt sind Klassikertexte ein Reservoir für kulturelle Identitätsbildung: in Frankreich die Menschenrechte von 1789, in Israel die Unabhängigkeitserklärung von 1948, so oft sie in der Vergangenheit und heute verletzt wird, in der Schweiz F. Schillers „Wilhelm Tell“ und der gewachsene Föderalismus. Die viel zu wenig bekannte israelische Unabhängigkeitserklärung von 194812 lautet: P. Häberle, Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth, BayVBl. 2005, S. 161 ff. P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981. 12 Zit. nach D. Barenboim, Das Versprechen der Väter, Süddeutsche Zeitung Nr. 111, 2004. 10 11

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Teil 1: Verfassungskulturen „Der Staat Israel wird sich für die Entwicklung dieses Landes zum Wohl all seiner Bewohner einsetzen. Er wird auf den Prinzipien von Freiheit, Gerechtigkeit und Frieden aufgebaut, und die Visionen der Propheten Israels werden ihm den Weg weisen; dieser Staat räumt allen seinen Bürgern die gleichen sozialen und politischen Rechte ein, unabhängig von Unterschieden ihres Glaubens, ihrer Rasse und ihres Geschlechts; er wird Religionsfreiheit, Gewissensfreiheit, freie Rede, freie Erziehung und Kulturfreiheit gewährleisten.“

Im sich vereinenden Europa dürfte eine behutsame „Identitätpolitik“ geboten sein: ohne Eurozentrismus und Ausgrenzung (etwa zu den USA hin). Die „Unionsbürgerschaft“ ist ein Element der „europäischen Identität“, vor allem das Wahlrecht. Die Präambel des EU-Verfassungsentwurfs von 2004 ist ein Stück „Identitätspolitik“. Doch gilt auch hier das Wort von Claudio Magris (Die Welt vom 26. März 2004, S. 6): „Europa ist die Würde des Einzelnen gegen alles Totalitäre“.

Ausblick In diesen Beispielen zeigt sich auch, wie der kulturwissenschaftliche Ansatz auf die Zuarbeit anderer Disziplinen etwa der Geschichtswissenschaft und der Soziologie angewiesen ist. Hier in Rom, genauer bei Rom, hat Ende der 90er Jahre in der Villa Mondragone ein höchst ergiebiges Diskussionsforum stattgefunden (auch hier war führend A. D’Atena beteiligt13). Vielleicht kann eine Wiederholung und Fortführung im Kleinen auch aus dieser Vortragsreihe erwachsen. Literatur Albrecht, A.: Politik der Differenz oder Politik des Universalismus?, in: Trans-Internetzeitschrift für Kulturwissenschaften Nr. 15 (2003) Baumann, H. / Ebert, M. (Hrsg.): Die Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrika, 1997 Bogdandy, A. von: Europäische und nationale Identität, VVDStRL 62 (2003), S. 156 ff. – Europäische Identität und die europäische Verfassung, 2004 D’Atena, A.: Die Subsidiarität: Werte und Regeln, in: Liber Amicorum für P. Häberle, 2004, S. 327 ff. Elm, R. (Hrsg.): Europäische Identität: Paradigmen und Methodenfragen, 2002 Häberle, P.: Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981 – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, 2. Aufl. 1998 – Europäische Verfassungslehre, 3. Aufl. 2005, 5. Aufl. 2008 13 Vgl. die Bände von A. D’Atena, L’ Italia verso il „federalismo“, 2001; ders. (Hrsg.), Le regioni e l’unione europeo, 2002; ders. (Hrsg.), Federalismo e regionalismo in Europa, 1994.

Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität

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Heit, H.: Europäische Identitätspolitik in der EU-Verfassungspräambel, ARSP 2004, S. 461 ff. Roggemann, H. (Hrsg.): Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999 Schäfer, M.: Verfassung, Zivilgesellschaft und Europäische Integration, 2003 Sutter, P. / Zelger, U. (Hrsg.): 30 Jahre EMRK-Beitritt der Schweiz, 2005 Vitzthum, W. Graf: Die Identität Europas, EuR 37 (2002), S. 1 ff.

Kultur in Deutschland* Zu 1) Ich spreche mich für eine Verankerung von Kultur als „Staatsziel“ im GG aus, weil damit zum einen der allgemeine theoretische Zusammenhang von Verfassung und Kultur bzw. Recht und Kultur positivrechtlich zum Ausdruck käme (s. auch die 1979 bzw. 1982 vom Verf. vorgeschlagenen Begriffe „Grundrechtskultur“ bzw. „Verfassungskultur“), zum anderen weil eine weitere Etappe auf dem langen Weg der wissenschaftlichen Diskussion zum Thema zurückgelegt würde (von dem Vorschlag von 1980: P. Häberle, Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, S. 59, bis zur sog. „Staatszielekommission“ von 1983, Bericht, S. 104 ff.) und schließlich weil eine verfassungsvergleichende Umschau ergibt, dass sich viele neuere Verfassungen des Kulturthemas intensiv und extensiv annehmen (z. B. Schweizer Bundesverfassung von 1999: Art. 2 Abs. 2, 69; Verf. Polen von 1997: Art. 6; zuletzt Verfassungsentwurf Peru von 2002: Vortitel III, VIII und Art. 7 und 8). Mein Vorschlag zu Art. 28 GG (Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat, 1980, S. 59) lautete: „Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne der Bundesverfassung und dem Kulturstaatsprinzip entsprechen“.

Die Staatszielekommission (1983, S. 106), schlug folgende Variante vor: „Art. 20 Abs. 1: Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat. Sie schützt und pflegt die Kultur und die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen“. „Art. 28 Abs. 1 Satz 1: Die verfassungsmäßige Ordnung in den Ländern muss den Grundsätzen des republikanischen, demokratischen und sozialen Rechtsstaates im Sinne dieses Grundgesetzes und der Verantwortung des Staates für Kultur und natürliche Umwelt entsprechen“.

Zuletzt hat Bundespräsident J. Rau kurz vor dem Ende seiner Amtszeit im Frühjahr 2004 für eine Verankerung von Kultur als einer Pflichtaufgabe auf allen staatlichen Ebenen gestritten.

* Originalbeitrag; es handelt sich um die schriftliche Beantwortung eines Fragenkatalogs der Enquetekommission des Deutschen Bundestages vom 8. Juli 2004. Die Fragen betreffen die mögliche Verankerung einer Kulturstaatsklausel im Grundgesetz.

Kultur in Deutschland

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Zu 2) a) Folgende Argumente sprechen für eine „Kulturstaatsklausel“ (besser: kulturverfassungsrechtliche Norm oder „Kulturklausel“) im GG: – der Gegenakzent, der damit gegen die alle Lebensbereiche durchdringende zeitgeistkonforme Ökonomisierung und die Verabsolutierung des „Marktes“ (bis in die Universitäten hinein) gesetzt würde, obwohl dieser doch nur instrumentale (!) Bedeutung besitzt – eine dadurch eröffnete Balancierung gegenüber der allgegenwärtigen „Globalisierung“ („Weltmarkt“), da der Mensch und Bürger buchstäblich ins Bodenlose stürzt, könnte er nicht in der kulturellen Heimat „vor Ort“ im Kleinen (kommunal, regional, national, europäisch) ein Stück eigener Identität aus Kultur gewinnen – die Bewusstmachung des Brückenschlags zur Europäisierung, da im Europäischen Verfassungsrecht zum einen ein Kulturartikel normiert ist (vgl. z. B. Art. 151 EGV bzw. Art. III-181 Brüsseler EU-Verfassungsentwurf 2004: „kulturelles Erbe“, s. auch Präambel ebd., Art. II-22: „Vielfalt der Kultur“), zum anderen das Bewusstsein für die mehrfach geschützte nationale Identität – aus Kultur – wächst (Stichwort: „Echo“ im GG auf das Europäische Kulturverfassungsrecht, dank einer Kulturklausel!).

b) Gegenargumente: Gefahren sind beim Namen zu nennen: Entstehen könnte ein „zentralistischer Sog“, der das sensible, labile bundesstaatliche Gefüge aus der Balance bringt und vergessen lässt, dass „deutsche Freiheit föderative Freiheit“ ist (trotz „Hauptstadtkultur“, trotz des „Kulturstaatsministers“ des Bundes, trotz Kulturstiftung des Bundes, trotz „Blauer Liste“ müssen die Kompetenzen des Bundes in Sachen Kultur punktueller Natur bleiben). Offene und schleichende Erosionen der Kulturhoheit der Bundesländer, die eben nicht bloße „Verfassungsfolklore“ ist, wie ein früherer (irrender) Kulturbeauftragter entgegen dem Grundwissen von Jurastudenten bereits des ersten Semesters verkündete (s. schon meine Kritik in FAZ vom 31. August 2002, S. 36), sondern zur „Seele“ des deutschen Bundesstaates gehört. Letztes Gegenargument: Die Verfassung darf nicht mit zu vielen Staatszielen überfrachtet werden: die Staatsorgane verlören Gestaltungsfreiheit, die Verfassungstexte verlören Lesbarkeit und „Bürgernähe“. (Darum muss die Kulturklausel sprachlich prägnant sein.) Zu 3) Die systematische Platzierung einer kulturverfassungsrechtlichen Norm im GG bzw. einer Kulturstaatsklausel könnte auch gemäß älteren Vorschlägen im Kontext des Art. 20 bzw. 20 a als neuer 20 b erfolgen oder nur im Kontext der Homogenitätsklausel des Art. 28 GG. Zu erwägen wäre folgende neue Textfassung: „Die Bundesrepublik Deutschland bekennt sich nach Maßgabe der grundgesetzlichen Kompetenzverteilung zu ihrem kulturellen Erbe und ihrer Verantwortung für eine vielgestaltige kulturelle Zukunft (sc. auch auf der Ebene der Kommunen“). Damit

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Teil 1: Verfassungskulturen

wäre (altmodisch gesprochen) die „Kulturnation Deutschland“ – als gegliederte – erkennbar und erfahrbar. Zu 4) Die gedankliche Einordnung einer Kulturverfassungsnorm im GG hätte Folgendes zu erwägen: a) historisch könnte ein Entwicklungsprozess abgerundet werden, der durch die Wissenschaft seit bald 25 Jahren vorgezeichnet wurde. Erinnert sei auch an die ausdrucksstarke Kulturklausel im Einigungsvertrag von 1990, die damit auf eine Weise „fortgeschrieben“ würde (dazu auch JöR 40 (1991 / 1992), S. 291 (317 f.)). Art. 35 Einigungsvertrag 1990 lautet: Art. 35: Kultur: (1) In den Jahren der Teilung waren Kunst und Kultur – trotz unterschiedlicher Entwicklung der beiden Staaten in Deutschland – eine Grundlage der fortbestehenden Einheit der deutschen Nation. Sie leisten im Prozess der staatlichen Einheit der Deutschen auf dem Weg zur europäischen Einigung einen eigenständigen und unverzichtbaren Beitrag. Stellung und Ansehen eines vereinten Deutschlands in der Welt hängen außer von seinem politischen Gewicht und seiner wirtschaftlichen Leistungskraft ebenso von seiner Bedeutung als Kulturstaat ab . . . .

b) systematisch könnte die neue Verfassungsnorm Folgendes leisten: – die Menschenwürde als oberster Grundwert des GG und Basisnorm der meisten Grundrechte würde von der Kultur her „kontextualisiert“: Würde findet der Mensch und Bürger aus Kultur, auch wenn er sie „von Natur“ aus besitzt (A. Gehlens „Zurück zur Kultur“). H. Hoffmanns „Kultur für alle“ und J. Beuys’ „Jeder Mensch ein Künstler“ (freilich ist nicht jeder ein Beuys!) bleiben provozierende Klassikertexte – im Verhältnis zu den Grundrechten würde auf der abstrakten Ebene bewusst, dass alle grundrechtliche Freiheit im tiefsten kulturelle Freiheit ist (P. Häberle, Kulturstaatlichkeit und Kulturverfassungsrecht, 1982, S. 34 ff., 42 ff. u.ö.; s. auch D. Grimm, Kulturauftrag im staatlichen Gemeinwesen, VVDStRL 42 (1984), S. 46 (64, 67)); sie lebt aus kulturellen Kontexten, die für den jungen Menschen im gemeindeutschen Kanon der Erziehungsziele von Art. 28 Verf. Brandenburg bis Art. 131 Verf. Bayern angedeutet sind (und zu der bald die „Generationengerechtigkeit“ hinzutreten sollte). Auf der konkreten Ebene könnte eine Kulturklausel eine Legitimierung und Verstärkung von Grundrechten bewirken, etwa im Bildungs- und Ausbildungsbereich (Teilhabedimension kultureller Grundrechte); auch könnte der Brückenschlag zu europäischen kulturellen Grundrechten etwa in der EU-Grundrechtecharta gelingen (vgl. Art. 25: kulturelles Teilhaberecht älterer Menschen; Art. 14: Recht auf Bildung) – das Verhältnis zur Kompetenzverteilung Bund / Länder bleibt – wie immer im Bundesstaat – prekär, sensibel und heikel; nur die bisher als „ungeschrieben“ gedachten punktuellen Kompetenzen des Bundes würden jetzt „geschrieben“

Kultur in Deutschland

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bzw. abgedeckt, eine Kompetenzverschiebung darf durch die neue Klausel auf keinen Fall eingeleitet werden – im Verhältnis zu den Gemeinden ist an ihr „kommunales Kulturverfassungsrecht“ (P. Häberle, Kulturhoheit in der Stadt ein Verfassungsauftrag, 1979, S. 21 ff., im Blick auf Art. 83 Abs. 1 Verf. Bayern „örtliche Kulturpflege“) zu erinnern. Sie wurde auch in Verfassungsnormen der neuen Bundesländer bekräftigt (vgl. etwa Art. 16 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 29, 30, i.V. mit Art. 91 Verf. Thüringen). Kommunen leben nicht zuletzt aus ihrem kulturellen Selbstverständnis. Eine Verankerung der Kulturklausel bei Art. 28 GG könnte dies unterstreichen. Erinnert sei an die europäische Dimension, etwa den Klassikertext von A. Gasser: Gemeindefreiheit in Europa (1946), die Charta zur kommunalen Selbstverwaltung des Europarates (1989) und die These von den Kommunen als alteuropäischer „Verfassungsform“. Der Kulturabbau gerade in den Gemeinden vor Ort, mit dem neuen Konnexitätsprinzip bzw. dem kommunalen Finanzausgleich (selbst in Bayern) nur unzureichend eingedämmt, muss ein Ende haben. Die „Selbstdefinition“ besonders des Kulturauftrags der Gemeinden sollte auch dadurch gestärkt werden, dass man die etwaige Kulturklausel entsprechend fasst („auch auf der Ebene der Kommunen“) – im Rahmen der Gewaltenteilung ist zu bedenken, dass keine Gewaltenverschiebung zum Nachteil des autonomen Kulturauftrags von Ländern und Kommunen eintritt, dabei hilft die Erinnerung an den „kulturellen Trägerpluralismus“ (P. Häberle, Kulturhoheit a. a. O., S. 22, 34 f.), wie er in Verf. Baden-Württemberg von 1953 angedeutet ist (Art. 12 Abs. 2), theoretisch hilft die Vergegenwärtigung der Lehre von „pluralen“ und „offenen“ Kulturkonzepten (des Verf.) – das Verhältnis zu Landesverfassungen und Landesgesetzen ist nach Maßgabe des GG zu bewahren.

c) Es sei erlaubt, die sonst so vortreffliche Systematik des „Fragebogens“ um einen einzigen Punkt zu erweitern: Bei allen „neuen“ Normen, die für eine nationalstaatliche Verfassung heute erwogen werden, ist (auch systematisch) von vornherein die verfassungsvergleichende und europäische Dimension mitzubedenken – Stichwort von 1989: Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode (seit den vier von Savigny 1840 auf den Punkt gebrachten) bzw. die schöpferische Kraft der Rechtsvergleichung als Motor der Verfassungspolitik. Auf dem heutigen Entwicklungsstand verfassungsstaatlicher Verfassungen sind eine allgemeine oder mehrere spezielle Kulturklauseln im Vordringen (vgl. schon oben und Art. 73 bis 79 Verf. Portugal, Kap. 1 § 2 Abs. 2 und 4 Verf. Schweden, Kap. 2 Nr. 29 bis 31 Verf. Südafrika). Gerade in der „Werkstatt Bundesstaat“ lassen sich regional und universal weitgehende Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassungstexte, Theorien und Rechtsprechung beobachten und weiterführen. Das GG gewönne Anschluss an „kongeniale“ Entwicklungen in anderen Verfassungsstaaten und schlösse zum Kulturverfassungsrecht der EU als Europa im engeren Sinne (dazu meine Europäische Verfassungslehre, 2. Aufl. 2004, S. 489 ff.) und zum Europa im

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weiteren Sinne (im Blick auf Europarat, auf Europäische Kulturabkommen von 1954, Art. 2 EMRK-Zusatzprotokoll von 1952, Recht auf Bildung) auf. Zu 5) „Kulturpflege“ muss teils freiwillige, teils verpflichtende Aufgabe sein bzw. bleiben: diese z. B. in Gestalt der Aufträge in Sachen Schule nach Art. 7 GG, jene etwa in Form der Kulturstiftungen des Bundes und der Länder. Der Gedanke der (kulturellen) „Grundversorgung“ stammt vom BVerfG; er wurde für das öffentlichrechtliche Fernsehen und den Rundfunk entwickelt und geht auf den damaligen Berichterstatter K. Hesse zurück (E 73, 118 (157 f.)). „Kulturelle Grundversorgung“ sollte als Rechtsfigur verallgemeinert und in den Aufgabenbereich von Bund und Ländern differenziert übertragen werden. Sie wäre gerade eine Folge einer neuen Kulturklausel im GG. Kritisch sei angemerkt, dass die viel zitierte „Selbst-Kommerzialisierung“ der Öffentlichrechtlichen Rundfunk- und Fernsehanstalten ein leider wahres Stichwort ist, das von den eingangs erwähnten Gefahren aus Kommerz, Markt und manchen Medien her droht und durch eine Kultur(bewahrungs- und -förderungs)klausel fragwürdig gemacht bzw. konterkariert werden könnte. „Offen sein“ für Kultur (vgl. Präambel Verfassungsentwurf der EU von 2004) ist auch eine Devise für die Bundesrepublik Deutschland im „Inneren“. Zu 6) Einige rechtliche Wirkungen einer Kulturklausel wurden bereits angedeutet. Ergänzend sei auf die dirigierende Kraft einer solchen Klausel im Blick auf die Räume der Gestaltungsfreiheit von Gesetzgeber und Verwaltung (Ermessensbereich!), aber auch in Abwägungsprozessen der Judikative verwiesen. Eine begrenzte Parallele zu Art. 20 a GG liegt nahe. Auch nur programmatische Wirkungen, die man sich von einer Kulturklausel versprechen dürfte, sollten nicht gering geschätzt werden. Rechtspolitisch könnte sich m. E. die Vorbildwirkung der „kulturellen Ausnahme“ i.S. Frankreichs (soeben auch von der UNO gut geheißen: FAZ vom 22. Juli 2004, S. 34) verstärken. Vor allem aber ist an mögliche „pädagogische“, symbolische Wirkungen zu erinnern: Das allgemeine Bewusstsein für die Hochwertigkeit der Sache Kultur in Deutschland könnte bei allen an der Fortentwicklung des GG Beteiligten verstärkt werden: von den Staats- bzw. Verfassungsorganen über die Medien bis zu den Bürgern. „Volkspädagogik“ ist auch im freiheitlichen Verfassungsstaat erlaubt, ja geboten (evident in der Präambel). Eine Kulturklausel könnte ihr dienen, zumal im Kontext der Europäischen Rechts- und Verfassungskultur. Die „nationale Identität“ Deutschlands i.S. von Art. 6 Abs. 3 EUV bzw. der neuen Normen des Brüsseler EU-Verfassungsentwurfs (vgl. Art. I-5 Abs. 1 EU-Verfassungsentwurf vom Juni 2004) würde als das begriffen, was sie letztlich ist – und sein kann: als kulturelle Identität.

Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus* Einleitung Große Jubiläen zu relativ „jungen“ Verfassungen wie heute zum 30. Jahrestag der Verfassung Portugals sollten von allen Bürgern begangen werden. Alle sind an der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ beteiligt, und speziell die nationale Wissenschaftlergemeinschaft Portugals hat allen Grund zu feiern: im Verbund mit Vertretern anderer Nationen Europas. So danke ich für die große Ehre, hier und heute sprechen zu dürfen. Ihr „Verfassungstag“ ist im Grunde auch der unsrige: das „europäische Portugal“ kann seinen Verfassungstag mit Stolz begehen. Die portugiesische Verfassung von 1976 war schon als Text vorbildlich, sie wagte neue Textstufen, z. B. in Sachen „kultureller Demokratie“ (Art. 2), im Aufgaben-Katalog (Art. 9), in Sachen Ausländer und Staatenlose (Art. 15 Abs. 1), Hoher Rat für Massenkommunikation (Art. 39 Abs. 2), „Pluralismus der politischen Ordnung“ (Art. 288 lit. i), und sie setzte sie (und spätere Revisionen) in den letzten 30 Jahren auch „im Laufe der Zeit“ voll in die Verfassungswirklichkeit um. Darüber hinaus leistete sie schöpferische Beiträge im weltweiten Ringen um den Typus „Verfassungsstaat“, nicht nur für Europa (etwa Spanien) und seit dem „annus mirabilis“ 1989 für Osteuropa, sondern auch in Übersee, etwa nach Afrika hinüber und bis nach Brasilien, dem gegenüber Portugal seit der Entdeckung (1500) eine einzigartige Vermittlerrolle spielt. Texte, Theorien und Praxis bilden die „Trias“ der Produktions- und Rezeptionswege des Verfassungsstaates, der sich in „Wachstumsringen“ weiterentwickelt. Der Wissenschaft kommt dabei nicht nur als Wegbereiterin für „Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung“ eine kreative und vermittelnde (freilich begrenzte) Rolle zu. Die nationale Wissenschaftlergemeinschaft Ihres Landes hat große Namen: aus der älteren Generation, etwa G. Canotilho, J. de Sousa Brito, A. Queiri, M. de Luceno, F. L. Pires, Vireira de Andrade, Vital Moreira, M. Robledo de Sousa, J. Miranda und F. de Quadros, um nur einige zu nennen, große Richter wie Cardoso da Costa, und die vielen Literaturgattungen vom Lehrbuch über den Aufsatz bis zur Rezension der Urteile beeindrucken (auch die Universitätslandschaft, nicht nur in Coimbra, 1290, und Lissabon). Auch Fachzeitschriften wie „Direito Público“ und „Jurisprudência Constitucional“ seien erwähnt. Ihr Verfassungsgericht kann sich in seinen Zuständigkeiten im euro* Erschienen in: EuGRZ 33 (2006), S. 533 ff. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser zum 30. Jahrestag der portugiesischen Verfassung (2006) in Lissabon gehalten hat.

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päischen Vergleich ebenso „sehen“ lassen wie die großen Judikate Ihres Verfassungsgerichts in der „Familie“ der anderen europäischen etwa von Rom, Karlsruhe, Madrid oder Warschau und Zagreb. Die „Europäisierung“ allen nationalen Verfassungsrechts und aller nationalen Verfassungsgerichte (1991) wie auch die der spezifisch Europäischen Verfassungsgerichte wie der EGMR und EuGH ist von solcher Intensität, dass wir alle in Europa heute Ihr Jubiläum dankbar feiern dürfen. Es ist auch ein europäischer „Feiertag“! Ihn als Deutscher zu begreifen, dazu verhelfen die „portugiesischen Tagebücher“ von C. Meyer-Clason (1997); vor allem die fast unblutige Nelkenrevolution (1974) wird hier meisterhaft geschildert. Die Zeit der Diktatur um 1938 skizziert A. Tabucchi in dem Buch „Erklärt Pereira“ (1994) anschaulich. R. Schneiders „Das Leiden des Camões“ las ich als Student in Freiburg. Das Nachstehende entwickelt sich in einem „Dreischritt“: Auf den Ersten Teil „Konstitutionalismus“ folgt der Zweite zu den „neuen Horizonten“ des Konstitutionalismus sowie der Dritte zu dessen „neuen Herausforderungen“. Eingebaut sind einige vertiefende „Inkurse“.

I. „Konstitutionalismus“ 1. Vorbemerkung „Konstitutionalismus“ meinte im Deutschland des 19. Jahrhunderts die gegen den monarchischen Absolutismus gerichtete Verfassungsbewegung (Stichwort: Grundrechte, Stände bzw. Parlamente, Gesetze, Budgetrecht), die den Fürsten aber nur „beschränken“ sollte und konnte, die „Substanz der Staatsgewalt“ blieb bei ihm, in der Ausübung teilte er sich seine Souveränität mit dem Parlament (E. Kaufmann); in „Verfassungskonflikten“ setzte sich meist der Monarch durch. Heute hat sich der Begriff aus dieser historischen Vorbelastung herausgelöst, das Parlament hat sich verselbständigt. „Konstitutionalismus“ ist ein weltweit verallgemeinerter Begriff, der mit der Bedeutungsfülle „Verfassungsstaat“ gleichgesetzt werden kann. Vor allem die englischsprachige Welt kennt ihn, aber auch die spanische und portugiesische wie lateinamerikanische Welt sowie Italien arbeiten mit dem „Konstitutionalismus“, er wird zum universalen Projekt. Es gibt freilich auch „Scheinkonstitutionalismus“, der nur schöne Texte kennt. Im Einzelnen:

2. Ausprägungsformen / Elemente des Konstitutionalismus Generelles Anliegen des „Konstitutionalismus“ ist die Legitimation, Bändigung und Kontrolle von staatlicher, z. T. auch gesellschaftlicher Macht (z. B. „Drittwirkung der Grundrechte“) auf der Basis eines Grundkonsenses. Die hoheitliche Gewalt soll durch eine verfassende, mehr oder weniger dichte „Rahmenordnung“,

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die geschriebene oder ungeschriebene Verfassung, gebunden werden. Die Normenensembles reichen von Präambeln (Prologen vergleichbar) über Grundrechte und Grundwerte bis zum organisatorischen Teil und den Schlussvorschriften. „Prinzipien“, „Rechte“, „Grundwerte“, „Regeln“, „Ziele“ bilden ein differenziertes Amalgam. Zu verwerfen ist die unselige, noch heute in Deutschland beliebte Tradition, die den Staat vor der Verfassung denkt. Dieser „präkonstitutionelle Staatsbegriff“ ist kryptomonarchischer Herkunft. In der konstitutionellen Bürgerdemokratie gibt es nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert (R. Smend). Konsequent wagen manche ostdeutschen Verfassungen wie Brandenburg (1992) den Satz: „Wir, die Bürger . . . haben uns . . . diese Verfassung gegeben“ (s. auch Präambel Verf. Georgien von 1995) – eine geglückte Fortentwicklung des US-amerikanischen „We, the people“. Nur die EU dürfte noch nicht so weit sein, das stolze Wort: „Wir, die Europäer geben uns diese Verfassung . . .“ zu wagen; denn noch können sich die 25 Staaten als „Herren der Verträge“ gerieren. Konkrete Elemente des Konstitutionalismus seien, ohne Anspruch auf Vollständigkeit, aufgezählt, denn der Typus Verfassungsstaat hat seine zahlreichen nationalen Varianten: 1. Die Menschenwürde als „kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaates“, vorgedacht von I. Kant, vom BVerfG ins Praktische umgesetzt. 2. Die pluralistische Demokratie als deren „organisatorische Konsequenz“: mit den Varianten der nur repräsentativen des deutschen GG und der „halbdirekten“ der Schweiz, wobei auch spezifisch demokratische Grundrechte wie die seit Ende der 68er Jahre neue Demonstrationsfreiheit (z. B. 1977 im Schweizer Kanton Jura) hierher gehören. 3. Die Menschenrechte als vielfältiges, sich ständig weiter ausdifferenzierendes Ensemble mit einer Vielzahl von „status“: von G. Jellineks Statuslehre („status negativus“) bis zum 1971 vorgeschlagenen „status activus processualis“, mit einer Mehrzahl auch von „Dimensionen“: subjektiv-individualrechtlich, objektiv-institutionell, korporativ und staatsaufgabenorientiert. 4. Die Gewaltenteilung („Balance“) im engeren staatlichen Sinne, mit der Möglichkeit zu Neuem wie den Rechnungshöfen und Ombudsmännern, und im gesellschaftlichen Sinne (z. B. zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer oder in Bezug auf den Pluralismus der Medien) – Montesquieu bleibt hier der „Klassikertext“. 5. Unabhängigkeit der Gerichte und dank ihnen ein „effektiver Rechtsschutz“ i.S. des BVerfG (z. B. E 49, 220; 110, 85), insonderheit die von G. Jellinek und H. Kelsen erdachte, 1803 in den USA zu vor praktisch durchgesetzte „Verfassungsgerichtsbarkeit“. 6. „Rule of law“ – „Rechtsstaat“; freilich bleibt es beim (auch in Osteuropa) so erfolgreichen deutschen Rechtsstaatsbegriff, d. h. beim Staatsbezug, während die

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„rule of law“ sämtliche Rechtsbeziehungen in der Horizontalen und in der Vertikalen steuert. 7. Das Organisationsrecht konstitutioneller Ordnungen mit der Kompetenzordnung, Gesetzgebung, Verwaltungsverfahren mit ihrer Öffnung für den Bürger („freedom of information“), sog. Transparenz der Verwaltung (bei uns in Deutschland jetzt das „Informationsfreiheitsgesetz“) und der Rechtsprechung. Es bedürfte der Aufzählung weiterer Elemente: etwa der Föderalismus als vertikale Gewaltenteilung und der Regionalismus als dessen „kleiner Bruder“ („Autonome Gebietskörperschaften“ in Spanien), auch die kommunale Selbstverwaltung als „Demokratie von unten nach oben“ (Verf. Bayern von 1946) und ihr gemeinsamer Leitgedanke der Subsidiarität (Art. 7 Abs. 6 Verf. Portugal) wären zu nennen. Doch seien manche Errungenschaften und Innovationen später erwähnt. 3. Die kulturellen Entstehungs- und Entwicklungsbedingungen des Konstitutionalismus Sie müssen mit Hilfe eines angemessenen „Theorierahmens“ aufgeschlüsselt werden. Er sei hier nur skizziert, weil in den Stichworten der „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982 / 98) und „Verfassung als öffentlicher Prozess“ (1969) schon erarbeitet. Der Konstitutionalismus ist eine kulturelle Errungenschaft par excellence. Er ist aus Klassikertexten vor allem von Aristoteles über J. Locke, Montesquieu und Rosseau bis zu H. Jonas und J. Rawls, aber auch aus großen Texten, etwa der Federalist Papers der werdenden USA (1787) sowie zu 1789 sowie der Verfassung der Schweiz (1848) erwachsen, aber auch aus bloßen Verfassungsentwürfen (in Deutschland der „Paulskirche“, 1849); er ist bis hin zu großen Verfassungen seit 1989, etwa Südafrikas oder Polens, der nBV Schweiz von 1999 oder den EU-Texten, gereift. Der Konstitutionalismus ist aus meiner Sicht eine Errungenschaft der Menschheit als Ganzes (obwohl Ihr Dichter F. Pessoa die „Menschheit“ kritisch sah: „Religionsersatz“). Sehr viele Länder und Nationen haben zu seinem Wachstum beigetragen (z. B. Großbritannien den Parlamentarismus, Skandinavien den Ombudsmann), vielleicht sogar manche ex negativo, etwa totalitäre Staaten wie die UdSSR oder autoritäre wie der – in Portugal 1932 begonnene – von Salazar. Als „kulturelle Leistung“ ist der Konstitutionalismus aber auch wie alles Menschliche stets gefährdet, Rückschritte und Rückfälle bleiben nicht aus (naiver Fortschrittsoptimismus ist ebenso unangebracht wie das beliebte „Verfalldenken“). Man denke an den Balkan oder an „Guantánamo“ als offenbar „rechtsfreien und gerichtsfreien Raum“. Einzubeziehen sind auch Wirklichkeit und Texte des Völkerbundes und der UN sowie regionaler Verfassungsgemeinschaften wie der EU oder der OAU (vgl. jetzt deren „Constitutive Act“ von 2000). Dieser kulturwissenschaftliche Ansatz geht von der Idee aus, Verfassung sei selbst „Kultur“, sie normiere nicht nur einzelne Bereiche des herkömmlichen „Kulturverfassungsrechts“ wie die Erziehungsziele oder kulturelle Grundrechte wie die Religionsfrei-

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heit oder die Freiheit der Wissenschaft und Kunst – von Goethe tiefgründig in dem Satz zusammengebunden: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion, wer diese beiden nicht hat, der habe Religion“. Schon ein Textvergleich führt zu vielen kulturellen Identitätselementen des Verfassungsstaates. Es gibt ausdrücklich kulturelle Identitätsklauseln (z. B. Art. 6 Abs. 1 Verf. Polen von 1997), es gibt die Symbol-Artikel in Sachen Sprache, Wappen, Hymne, Hauptstadt, auch Feiertage (z. B. Art. 14 Verf. Albanien von 1998), es gibt den kulturellen Minderheitenschutz, besonders in Osteuropa (z. B. Art. 48 Verf. Mazedonien von 1991), es gibt kulturelles Erbe-Klauseln (z. B. Art. 17 Verf. Guinea-Bissau von 1993). Dieses kulturwissenschaftliche Verfassungsverständnis lebt aus Vielfalt und Einheit, aus Differenz und Identität, besonders glücklich in Bundesstaaten, künftig in Europa. Das „offene pluralistische Kulturkonzept“ mit dem Stichwort „Hochkultur“ des Wahren, Guten und Schönen, der Alltags- und Volkskultur sowie der Alternativ- und Subkultur braucht den Gedanken, Verfassung sei „öffentlicher Prozess“. Damit wird der alte Sinnzusammenhang „res publica“, „salus publica“, „Öffentlichkeit“ und „öffentliche Freiheit“ wieder hergestellt. Das verfassungsrichterliche Sondervotum ist ein Vehikel dieser Sicht, weil es im öffentlichen Prozess später zum Mehrheitsvotum werden kann (so geschehen in Bezug auf das Votum von Frau Rupp-von-Brünneck, E 32, 129 (142), in BVerfG E 40, 65 (83 f.); 69, 272 (303)). Damit werden mehr oder weniger klassische Verfassungsverständnisse nicht abgelehnt. Sie bleiben als Teilwahrheiten relevant: etwa Verfassung als „Anregung und Schranke“ (R. Smend), als Norm und Aufgabe (U. Scheuner), als „Beschränkung von Macht“ und Organisierung eines „freiheitlichen Lebensprozesses“ (H. Ehmke). K. Hesses „normative Kraft der Verfassung“ ist Direktive: eine theoretische Ausprägung dessen, was fast alle neuen Verfassungen als „Vorrang der Verfassung“ texten. Abgelehnt wird damit der Dezisionismus eines C. Schmitt („normativ aus dem Nichts entstanden“), schon widerlegt durch den pluralistischen Prozess, aus dem die Verfassungen der beiden iberischen Länder Portugal und Spanien im Vorfeld von 1976 bzw. 1978 geglückt sind. Oder schärfer gesagt: Mit dem „Dezisionismus“ kann man weder die Schweiz erklären noch Europa bauen! Freund / Feind-Denken spaltet die „Verfassung des Pluralismus“, auch jede Wissenschaftlergemeinschaft. II. „Neue Horizonte“ des Konstitutionalismus 1. Vorbemerkung Das mir anvertraute Thema sei durch eine eigene Wertung konkretisiert. Das Wort „Horizonte“ deute ich positiv: es sind geglückte Wachstumsprozesse des Verfassungsstaates bzw. bewährte Errungenschaften des Konstitutionalismus. Das Wort „Herausforderungen“ deutet m. E. demgegenüber auf eine Ambivalenz: der

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Verfassungsstaat muss sich auf bestimmten Feldern erst noch in der Zukunft „bewähren“, er ist gefordert. Ob er seine Aufgaben meistert, ist ungewiss. Versagen ist nicht ausgeschlossen (möglich z. B. in Sachen Umweltschutz, Integration von Einwanderern, Beseitigung aller Formen der Diskriminierung), in Deutschland in Sachen Rechtschreibreform – ein Trauerspiel. Gleiches gilt für den „Bologna-Prozess“, der die Pluralität der Rechtswissenschaften in Europa im Zeichen eines ökonomischen Effizienzdenkens gefährdet (Europäisierung „von oben“ kann nicht gelingen); ein letztes Beispiel: zu Recht protestieren in Frankreich Historiker gegen Gesetze zur Geschichtsdeutung (z. B. in Sachen Kolonialismus), der verfassungsstaatliche Parlamentarismus hat andere Aufgaben. Die methodische Erfassung der „Horizonte“ bzw. „Herausforderungen“ kann m. E. nur durch die rechtsvergleichende Methode bewältigt werden: Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung (auch im Blick auf das Ungleiche)! Das 1989 vorgeschlagene Textstufenparadigma meint, dass in neuen Verfassungstexten des benachbarten oder eigenen Verfassungsstaates das „gerinne“ bzw. einfließe, was anderwärts oder hier praktisch gelebt werde, Verfassungswirklichkeit sei. Aus dem Ensemble der Trias von Texten, Judikaten (als „Praxis“) und Theorien, auch der erwähnten Klassikertexte, entwickeln sich die „Stufen“, die sich im Vergleich erschließen, aber auch Differenzen offen legen. Erst diese Trias „macht“ den Verfassungsstaat. In der Hand des Richters wird die Rechtsvergleichung zur „fünften“ Auslegungsmethode (von mir 1989 konzipiert, jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein ausdrücklich praktiziert). Das Zusammenspiel der klassischen seit Savigny (1840) kanonisierten vier Auslegungsmethoden mit der „fünften“ bleibt (je nach Einzelfall) offen (Stichwort: Pluralismus der Auslegungsmethoden). Oft schalten die Verfassungsrichter eine erfahrungsgesättigte Gerechtigkeitskontrolle nach oder vor, die die Methodenwahl im Einzelfall steuert. Doch bleiben die fünf Methoden unverzichtbare Arbeitsmittel, so wie sie anderen Kulturgebieten nicht fremd sind, etwa in der professionellen Kunstbetrachtung. Dabei ist daran zu erinnern, dass die hohe Legitimation von Verfassungen kulturgeschichtlich wohl von den drei Buchreligionen bzw. ihren Schriften „Thora, Bibel, Koran“ ausgeht. Der Glaube an das Buch, an geschriebene Texte, hat im „Verfassungsglauben“ z. B. der USA oder „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger) eine Entsprechung. Demgemäß wird auch das Postulat der kontextbezogenen Auslegung relevant. „Kontext“ meint „Auslegen durch Hinzudenken“ (2001). Provoziert sind wir durch die Aussage von R. Smend: „Wenn zwei Grundgesetze dasselbe sagen, ist dies nicht dasselbe“ (1951). Heute beobachten und befördern wir weltweite Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen „Konstitutionalismus“ (Beispiel: Art. 39 Verf. Portugal und die Fernsehurteile des BVerfG von E 12, 205 bis E 91, 125). Es wird weltweit verglichen, geschrieben, „umgeschrieben“ und „fortgeschrieben“, wenn es um Verfassunggebung, in der Schweiz 1999 „Nachführung“, um Verfassungsänderung oder Verfassungsauslegung geht. Auch das Internet verhilft zum Entstehen einer „Weltöffentlichkeit“. Wir erinnern uns freilich an das Wort von Hegel, wonach in der öffentliche Meinung alles Wahre und Falsche zugleich sei.

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2. Beispiele neuer Horizonte der Konstitutionalismus In Spiegelstrichform, sie ist wegen des knappen Zeitbudgets von ca. 50 Minuten erforderlich, seien einige Beispiele aufgezählt: – „Europaoffenheit“ und „Völkerrechtsfreundlichkeit“ nationaler Verfassungen, jene in „Europa-Artikeln“ normiert (z. B. Art. 7 Abs. 5 und 6 Verf. Portugal), diese, d. h. die Völkerrechtsfreundlichkeit bald in Artikeln, bald von der Judikatur erarbeitet (so dank des BVerfG, z. B. E 111, 307 (324); E 31, 58 (77)); – Klauseln zur „menschenrechtskonformen Auslegung“ nationaler Grundrechte (z. B. Art. 16 Abs. 1 Verf. Portugal, Art. 21 Abs. 2 Verf. Angola von 1992); – konstitutionelle Einbindung von Minderheiten, textstufenhaft vorbildlich geglückt in der neuen Verf. (§ 68 Abs. 1) von Ungarn (1990): „Minderheiten als staatsbildende Faktoren“ (s. auch Art. 64 Verf. Slowenien (1991)); – Durchsetzung der Verfassungsgerichtsbarkeit (1803 / 1920 / 1945 ff., 1989 ff.); – Entstehung der „Europäischen Verfassung“ mit der Entwicklung „Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“ (1991), das in anderen Kontinenten vielleicht in einem „gemeinamerikanischen“ bzw. „gemeinasiatischen Verfassungsrecht“ ein Gegenstück finden könnte; der Rechtsquellen-Kanon ist m. E. offen (kein numerus clausus der Rechtsquellen im Verfassungsstaat!); – Konstitutionalisierungsprozesse im Völkerrecht, die durchaus erkennbar sind (dazu später der Inkurs II: Völkerrecht als „Menschheitsrecht“); – Entstehung einer „globalen Zivilverfassung“ (G. Teubner): einer Weltverfassung ohne Staat, die „lex mercatoria“ meint Rechtserzeugung durch private Akteure.

Diese Auflistung mag für manche schon in den Dritten Teil, die „Herausforderungen“, hinüberführen. In der Tat sind nicht alle Elemente „sicherer Besitz“ und fester Bestand des Verfassungsstaates, doch ist er in vielen Themenbereichen schon relativ weit gekommen und recht erfolgreich.

Inkurs I: Das eigene Profil des „portugiesischen Konstitutionalismus“ (1976 / 1982 / 1989 / 1992 / 1997) Der Typus Verfassungsstaat, „Idealtypus“ i.S. M. Webers, hat seine, ja lebt von seinen nationalen Beispielsvarianten. Wenn sich diese „im Laufe der Zeit“ verallgemeinern, dann wachsen sie dem Typus zu, entwickeln ihn und können von hier aus andere Verfassungsstaaten bereichern (ein Modell ist die „Wahrheitskommission“, in Südafrika erfunden und zuletzt in Marokko praktiziert, auch der sog. „Runde Tisch“ dank Polen). Im Folgenden sei wenigstens in Stichworten skizziert, was den „teilnehmenden Beobachter“ aus dem europäischen „Ausland“ (ein spätestens seit „Schengen“ fragwürdiger Begriff: Portugal, der EU 1986 beigetreten,

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von Cavaco Silva zu Recht als „Erfolgsdemokratie“ bezeichnet, ist „Inland“), was also dank einer vergleichenden Textstufenanalyse an der portugiesischen Verfassung fasziniert: Ihr gelingt 1976 (bzw. 1982 / 89 / 92 / 97) die nahezu ideale Mischung von Innovation und Tradition. Das sei an einigen Beispielen gezeigt, die nach 1976 bzw. den Revisionen anderwärts „Schule“ gemacht und die Textstufenentwicklung vorangetrieben haben. Dabei sei an die erste Verfassung von 1820 erinnert, die den Cortes weitgehende Rechte eingeräumt hatte, sowie an die Carta Constitucional von 1826, die Grundrechte kannte, sowie an die Verfassung von 1911, die als Krönung des demokratischen Liberalismus gilt; ebenso sei an die am 5. Oktober 1910 ausgerufene Republik (heute Nationalfeiertag: Art. 11 Abs. 1) erinnert. Der 10. Juni ist ein nationaler Gedenktag (Todestag von Camões). 1. Schon die (nie angetastete) Präambel genügt allen Anforderungen an diese, kulturwissenschaftlich dem Prolog, der Ouvertüre oder dem Präludium vergleichbare Kunst- und konstitutionelle Literaturgattung. Sie gehorcht der Zeitdimension, „erzählt Geschichte“ („historische Wende“), sie greift in die Zukunft aus („Entschlossenheit des portugiesischen Volkes“) und normiert ein Konzentrat der Verfassung in bürgernaher Sprache (z. B. Grundrechte, Demokratie, „Vorrang der Rechtsstaatlichkeit“). Später wird man in einigen Verfassungen der neuen deutschen Bundesländer im Blick auf das überwundene SED-Regime Ähnliches finden (z. B. Präambel Verf. Sachsen von 1992, Präambel Verf. Thüringen von 1993). Unter den „Grundsätzlichen Bestimmungen“ wagt Art. 1 Neues („Republik, die sich auf die Grundsätze der Menschenwürde und (!) des Volkswillens gründet“; s. auch Art. 13 Abs. 1: „gleiche gesellschaftliche (!) Würde“). Art. 2 schafft, soweit ersichtlich erstmals, den Grundwert des „Meinungspluralismus sowie des Pluralismus der demokratischen, politischen Ordnung“; das hat in Spanien und in Übersee (vgl. Art. 1 Äquatorial-Guinea von 1991 sowie Präambel Verf. Mosambik von 1990), aber auch in Osteuropa Schule gemacht. Überdies ist die Wortschöpfung von der „kulturellen Demokratie“ beachtenswert – in Deutschland pflegen manche Staatsrechtslehrer darüber zu lächeln. Ihr großer Dichter F. Pessoa („Das Buch der Unruhe“) kommt einem in den Sinn, wenn man die Herausstellung der Länder portugiesischer Sprache liest (Art. 7 Abs. 3, s. auch Art. 9 lit. f, Art. 15 Abs. 3). Denn ihm verdanken Sie den Satz „Mein Vaterland ist die portugiesische Sprache“. Die Gründung der lusophonen Gemeinschaft (1996) ist nur konsequent. Art. 7 (Internationale Beziehungen) befruchtete wohl Art. 4 Verf. Brasilien von 1988. Schließlich ist der konzentrierte Staatsaufgaben-Artikel 9 eine kreative Neuerung (s. auch Art. 10 Verf. São Tomé und Príncipe von 1990). Die Verteidigung des „Kulturgutes des portugiesischen Volkes“ und der Schutz der „natürlichen Ressourcen“ waren 1976 in Europa noch kein allgemein anerkanntes Verfassungsthema. 2. Im Grundrechtsteil verleiht mancher Artikel Ihrer Verfassung ein eigenes Gesicht. Das zeigt sich bei der gelungenen Strukturierung („Rechte, Freiheiten und Garantien“ sowie „wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte und Pflichten“) – vor allem die immer wieder hervortretenden Elemente von Kulturverfassungsrecht

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(z. B. Art. 9 lit. d und e, Art. 42 Abs. 2, Art. 70 Abs. 1, Art. 73 bis 79) springen ins Auge. Während Art. 18 Abs. 2 und 3 offenkundig deutsche Judikatur und Verfassungstexte rezipieren („andere verfassungsrechtliche Güter“, Schutz des „Wesensgehalts“), schafft Art. 23 etwas Neues, den „Ombudsmann für das Rechtswesen“, er ist Ausdruck des „status activus processualis“ des Bürgers, seines Rechtsschutzes i.w.S., und hat zu Recht in anderen Staaten Gefolgschaft gefunden (s. Art. 142 bis 147 Verf. Angola). Art. 26 Abs. 1 („Recht eines Jeden auf Identität der Person“) und Art. 35 (Datenschutz) entsprechen demgegenüber den in Europa schon erreichten Standards, wobei das BVerfG in manchem „wahlverwandt“ arbeitete (vgl. E 65, 1). Gleiches gilt für den Medien-Artikel 39 und die Regelung der Sendezeiten für politische Parteien (Art. 40, vgl. BVerfGE 12, 205 bzw. E 34, 160). Neu und sehr weitgehend wirkt Art. 43 Abs. 2: „Der Staat darf sich nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ästhetischer, politischer, ideologischer und religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen“. Dies ist m. E. in Portugal ebenso wie sonst ein unerfüllbares Gebot. Denn schon die Erziehungsziele in den Schulen (z. B. Art. 73 Abs. 1 Verf. Portugal und Art. 56 Verf. Hessen von 1946 sowie Art. 101 Verf. Sachsen von 1992), schon die „vorrangigen Ziele der Jugendpolitik“ (Art. 70 Abs. 1), auch bei den Grenzen der Grundrechte und bei der Erfüllung von Kulturaufgaben (z. B. Förderung von Kunst und Film) kommen eben doch bestimmte Maßstäbe ins Spiel. Es gibt keine „reine“ Neutralität. Der Verfassungsstaat ist Kulturstaat, seine kulturelle Identität kommt ohne Wertungen nicht aus. Portugals „Nationalheiligtum“, das Hieronymus-Kloster, nahm 50 Jahre nach F. Pessoas’ Tod dessen sterbliche Reste auf. Was ist „portugiesische Identität“ im Sinne von Art. 6 Abs. 3 EUV? Gewiss die Sprache, die Verfassung von 1976 und einige Revisionen, die „Saudade“, das Goldene Zeitalter seit 1415, Heinrich der Seefahrer und der Blick auf den Atlantik, Vasco da Gama, die Rückkehr vieler Bürger aus den Kolonien nach 1976, nicht zuletzt Lissabon als „Kulturhauptstadt Europas“ (1994) und „kosmopolitische Stadt“. Art. 48 Abs. 1 und 2 sind vorbildlich: Teilhabe der Bürger (Art. 2: partizipative Demokratie) und Transparenz der staatlichen und „der übrigen öffentlichen Stellen“. Jene nehmen sich ostdeutsche Bundesländer nach 1989 zum Vorbild, diese, d. h. die Transparenz, liest sich wie die heutigen deutschen Bemühungen um Zugangsrechte zur öffentlichen Verwaltung (nicht nur bei Umweltdaten). Art. 17 ist als „Grundrechtsentwicklungs-Artikel“ noch zu entdecken („analoge Rechte“) – später wird hier § 10 Verf. Estland (1992) vorbildlich. Das Sozialverfassungsrecht in Art. 60 und das Recht eines jeden auf Schutz der Gesundheit (Art. 64) mit einem fast übereichen Katalog in Abs. 2 waren 1976 kühn und bleiben vorbildlich. Gleiches gilt für innovative Worte im Umweltverfassungsrecht wie „Regenerationsfähigkeit der natürlichen Ressourcen“ bzw. „ökologisches Gleichgewicht“ (Art. 66 Abs. 2 lit. d) – Begriffe, deren sich erst in den späten 80er Jahren viele neue Verfassungen annehmen (vor allem in der Schweiz). Eine neue Textstufe gelingt auch Art. 67 Abs. 1 („Verwirklichung aller Bedingungen für die

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Persönlichkeitsentfaltung aller Familienangehörigen“), sodann Art. 71 Abs. 2 („Pädagogik der Bewusstseinsbildung der Gesellschaft“); auch das Wort „Altenpolitik“ ist m. E. weltweit erstmals im portugiesischen Art. 72 Abs. 2 normiert. Die Postulate des Art. 74 (kein „Konservieren“ von Ungleichheiten bei der Schulbildung) sollte Vorbild für Deutschland sein, hat doch ein UN-Sonderbeauftragter (V. Muñoz) im Februar 2006 im Auftrag der Menschenrechtskommission gerade insofern den deutschen „Bildungsföderalismus“ (zu) heftig kritisiert (Stichwort: Gefährdung des Menschenrechts auf Bildung durch soziale Herkunft, Migrationskinder, Benachteiligung von Sozialschwachen). 3. Aus dem organisatorischen Teil seien nur einige prägende „Gesichtszüge“ des portugiesischen Konstitutionalismus erwähnt: etwa der zum Teil neue ParteienArt. 10 Abs. 2 und Art. 51 sowie Art. 288 lit. i („Recht auf demokratische Opposition“), sodann Art. 103 und 104 mit ihren materiellen Grundprinzipien zum Steuerrecht, auch Art. 206, der die von den Gerichten zu leistende Aufgabe, Konflikte öffentlicher und privater Interessen zu lösen, offen benennt (in meiner Terminologie „Gemeinwohljudikatur“), sodann die vorbildliche Regelung des Sonderstatus von Soldaten (Art. 270) sowie das Kooptationsmodell in Bezug auf Verfassungsrichter (Art. 284 Abs. 1: drei an der Zahl), schließlich der eindrucksvolle Art. 290 mit seiner Aufzählung der (flexibel interpretierten) Grenzen der Verfassungsrevision (vgl. auch Art. 159 Verf. Angola von 1992), die den späteren Verfassungsrevisionen der Jahre 1982 / 89 / 92 / 97 nicht hinderlich waren. Dieser Katalog umschreibt fast lehrbuchhaft nichts weniger als die „Identität“ der portugiesischen Verfassung von 1970, welches Thema in Deutschland seit „Weimar“ bekannt ist, erstmals dank Norwegen in dessen Verfassung von 1814 auf die Tagesordnung kam (§ 12: „Geist dieser Verfassung“) und in der Schweiz nicht gebraucht wird, weil sich diese ihrer Identität sicher weiß. 4. Erlaubt sei ein einziger Kritikpunkt: Wie steht es um den Regionalismus in Portugal (18 Distrikte, 2 autonome Regionen), der doch sonst immer intensiver zu einem werdenden Strukturelement des Typus Verfassungsstaats heranreift: von Großbritannien bis Italien und auch im „Europa der Regionen“ zum Lebenselement und Architekturprinzip wird? „Regionalistic Papers“ könnten hier ihr Werk tun (z. B. in Gestalt einer Theorie des „differenzierten“ bzw. „asymmetrischen“ Regionalismus). Für eine vergleichende Regionalismuslehre von Sizilien bis zu den Azoren und von Nordirland bis Andalusien finden sich in Kap. VII manche Textstufen (vor allem in Art. 227 Abs. 1 und 2). Im Ganzen: Ihre Verfassung ist im „Kontext“ des Typus Verfassungsstaat von 1976 (und seinen späteren Entwicklungen in Gestalt der Revisionen) gereift und sie schafft zugleich manche neue Texte.

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Inkurs II: Stichworte zu den „konstitutionellen Elementen“ im Völkerrecht Der im Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsgestalt gewordene „Konstitutionalismus“ kann ohne einen Blick auf das Völkerrecht nicht geschildert werden. Daher der folgende „Inkurs II“, der auch wegen der viel genannten „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts unverzichtbar erscheint.

a) „Völkerrecht im Verfassungsstaat“ und vice versa „(Verfassungs-)Staat im Völkerrecht“ Eine Auflistung führt zu den Stichworten: menschenrechtskonforme Auslegung, Völkerrechtsfreundlichkeit nationaler Verfassungen in vielen Formen (z. B. Art. 8 Abs. 1 Verf. Portugal), Möglichkeit der Übertragung von Hoheitsrechten, Normen zur Transformation bzw. Rezeption des Völkerrechts „im“ bzw. „in“ nationales Recht, „allgemeine Rechtsgrundsätze“ (vgl. § 3 Verf. Estland von 1992), z. B. das estoppel-Prinzip (venire contra factum proprium), Treu und Glauben (pacta sunt servanda). Das Epitheton „allgemein“ verweist auf eine materiale Allgemeinheit bzw. Öffentlichkeit auf unserem „blauen Planeten“ Erde. b) Elemente des „konstitutionellen“ Völkerrechts Die sich verfassende Völkerrechtsgemeinschaft ist in folgenden Stichworten greifbar: universelle Menschenrechte (UN-Pakte), das Gewaltverbot als „Grundnorm“ des Völkerrechts (durchaus i.S. von H. Kelsen), der IGH und der IStrGH (Statut von Rom), auch das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag als „unvollkommene“ Verfassungsgerichte; die WTO als Wirtschaftsverfassungsrecht in globaler Perspektive; die souveräne Gleichheit der Staaten als konstitutionelles Organisationsrecht; das „ius cogens“ als verfassungstypisches Element der Hierarchisierung im Völkerrecht, zum ius cogens gehört z. B. das Gewalt- und Folterverbot, das Piraterieverbot; das Verbot des Menschenhandels; die Strafbarkeit von Völkermord und Verbrechen gegen die Menschlichkeit; die Idee der völkerrechtlichen „rule of law“; rudimentäre Elemente der „Sozialstaatlichkeit“, z. B. Recht auf Nahrung, auf Gesundheit, Prinzip der „nachhaltigen Entwicklung“; „global commons“ als Gemeinschaftswerte („Weltkulturerbe“ etc.). Das EuG in Luxemburg bejahte kürzlich (2005) die Frage, ob der Sicherheitsrat der UN an die Menschenrechtsstandards als ius cogens gebunden sei (Rs. T 306 / 01 – Yusuf, Slg 2005, II–3533). Hier ist noch vieles „im Werden“, mehr Herausforderung als gesichertes Gemeinschaftsrecht. Das Völkerrecht wurde seit langem als typisch „werdendes“ Recht qualifiziert (D. Schindler), die Konstitutionalisierung ist auch ein Stück „Prinzip Hoffnung“ (E. Bloch) in Verbindung mit dem „Prinzip Verantwortung“ (H. Jonas). Da nicht alle Staaten (nicht einmal eine Mehrheit) „Verfassungsstaa-

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ten“ sind, ist vieles offen und prekär, umstritten, sogar angefeindet. Doch so wie der Verfassungsstaat nach wie vor ein „Utopiequantum“ braucht (die Wiedervereinigung in Deutschland war es bis 1989), so lebt das Völkerrecht von einem „konstitutionellen Utopiequantum“. Der staatsbezogene „Konstitutionalismus“ und die regionalen Integrationsvorgänge, etwa in Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarats mit seinen 46 Mitgliedern, gibt Anlass zur Hoffnung (auch Projekte wie der Mercosue oder Andenpakt seien erwähnt).

III. „Neue Herausforderungen“ des Konstitutionalismus 1. Vorbemerkung Wie von einem deutschen Verfassungsrechtler gewiss auch in Lissabon erwartet, sei eine methodische Überlegung vorausgeschickt. Wissenschaft als „ewige Wahrheitssuche“ (W. von Humboldt) und Rechtswissenschaft als Gerechtigkeitssuche verlangen ebenso ständige Selbstvergewisserung der eigenen Arbeit und Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser). Nur so wird ein Diskurs möglich, ein grenzüberschreitender Austausch von Argumenten, der selten so viel Freude bereiten kann wie der heutige zwischen uns in Lissabon an Ihrem „Verfassungstag“. Getragen sind meine Versuche stets von einem „wissenschaftlichen Optimismus“ (im Gegensatz zum wissenschaftlichen Pessimismus eines H. Schelsky in den 70er Jahren). Auch in der Pädagogik ist er unverzichtbar, und fast ließe sich sagen, die Arbeit am und im Verfassungsstaat bedürfe eines gewissen Maßes an „pädagogischem Eros“. Hinzukommen muss die Einsicht in das das Werden und Wachsen eines Verfassungsstaates stets notwendigerweise begleitende „Utopiequantum“. Auch J. Locke, Vater des Verfassungsstaates, war einmal eine „Utopie“, auch Europa war zur Zeit der Gründerväter „Utopie“, auch die Erfindung des Föderalismus in den USA war zunächst „Utopie“. Auch der „Ewige Frieden“ Kants (1795) war und ist z. T. noch eine „Utopie“ (In Portugal waren der „Sebastianismus“ und die Revolution der Nelken eine Utopie). Die „konkrete Utopie“ ist gemeint, das „Prinzip Hoffnung“, das dem Menschen den „aufrechten Gang“ vermittelt und ihn zu einem „Kulturmenschen“ macht. „Zurück zur Kultur“ heißt die Devise (A. Gehlen). Natur ist ebenso wie der „Naturzustand“ eine (freilich unverzichtbare) Fiktion. Zwar bleibt es bei der These, die Menschen hätten „von Natur aus“ gewisse Rechte, doch realiter wachsen ihnen diese im Laufe von Jahrhunderten eher erst allmählich zu. Es gibt nur kulturelle Rechte, keine „natürlichen Rechte“!

2. „Neue Herausforderungen“ des Konstitutionalismus Sie sind heute überreich, verschränken oft die national-verfassungsstaatliche Ebene mit der völkerrechtlichen und müssen auch von der Staatsrechtslehre als

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Wissenschaft, nicht nur von der Politik, ernst genommen werden. Oft handelt es sich um eine Herausforderung für mehrere Generationen, so wie wir von einem „kulturellen Generationenvertrag“ in Sachen Wissenschaft vom Verfassungsstaat sprechen dürfen. Jeder von uns steht „auf den Schultern von Riesen“. Aber – obwohl „Zwerge“ – können wir auf den Schultern mitunter sogar ein Stück weiter sehen als diese „Riesen“. So verbindet diese Metapher Optimismus mit Bescheidenheit, was uns wohl ansteht. Genannt sei der Fundamentalismus, dem im „Geiste“ des Verfassungsprinzips „Toleranz“ zu begegnen ist. Leitbild bleibt dabei die Ringparabel Lessings / Bocaccios (von der Gleichwertigkeit der drei Weltreligionen). Doch die konkreten Folgerungen sind schwierig (Kopftuchfall, Kruzifixe in der Schule, soeben in Italien vom Staatsrat für zulässig erklärt, in Deutschland nach wie vor umstritten). Wir müssen uns ehrlicherweise daran erinnern, dass das Christentum, das seit 1492 mit „Feuer und Schwert“ nach Amerika kam, die dortige Urbevölkerung nahezu ausrottete. Das Christentum war einmal „fundamentalistisch“! – horribile dictu. Das führt zum Terrorismus und bedroht das vom Verfassungsstaat verlangte ausgeglichene Verhältnis von Freiheitsgewähr und Sicherheitsgarantie. Die weit um sich greifende Ökonomisierung fast aller Lebensbereiche („Weltmarkt“) ist ebenfalls eine Herausforderung. Hier muss die Einsicht helfen, dass Märkte nur instrumentale Bedeutung haben. Der Mensch ist das Maß aller Dinge, nicht der Markt, er hat keinen Selbstzweck; der Kapitalismus muss „gezähmt“ werden (Gräfin Dönhoff), so kreativ der Markt als „Entdeckungsverfahren“ sein mag (F. A. von Hayek). Die Risikoprävention führt zur Gefahr einer Theorie des Systemversagens, es kommt zur Renaissance eines Denkens vom Ausnahmezustand her, wie dies für die Weimarer Endzeit typisch und verhängnisvoll war. Die Erhaltung des in so vielen neueren Verfassungen positivierten „Sozialstaates“ in wirtschaftlich schwieriger Zeit ist eine weitere, aufwendig zu bestehende Herausforderung (Grenzen der Privatisierung?). Auch verlangt die „Zivilgesellschaft“, „Bürgergesellschaft“ (Präambel Verf. Tschechische Republik von 1992), dass keine „Parallelgesellschaften“ („heterogene Gesellschaften“) entstehen, wie in manchen „Türkenvierteln“ in Berlin. Das Prinzip der „nachhaltigen Entwicklung“, in vielen neuen Textstufen nationaler Verfassungen normiert, muss auch den Blick auf die Entwicklungsländer richten und diese einbinden wollen und können. Überhaupt und grundsätzlich stellt sich die Frage, wie Globalisierungsphänomene gesteuert werden können. Auf der völkerrechtlichen Ebene sollte es keine grenzenlose Prävention geben. Wie ist die Aushöhlung des Gewaltverbots zu verhindern? Wie die „failed state“-Problematik zu beherrschen? Zuletzt sei als Herausforderung des Verfassungsstaates bewusst die anstehende Reform der UN genannt, insbesondere des Sicherheitsrates. Das Reformprojekt ist zuletzt im Bericht des Generalsekretärs der Vereinten Nationen (21. März 2005) unter dem Titel „In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle“ vorgestellt worden. Wichtigster Punkt ist die Reform des Sicherheitsrates. Hier soll für eine größere Repräsentanz aller Weltregio-

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nen vorgesorgt werden. Dazu liegen unterschiedliche Reformvorschläge vor, einer des High Level Panel on Threats, Challenges and Change, einer der G7-Staaten. Die G7-Staaten schlagen vor allem Indien, Deutschland, Japan und Brasilien für einen Ständigen Sitz vor. Aufgrund entschiedener Widerstände von Seiten der USA und auch in der lateinamerikanischen bzw. asiatischen Staatenwelt haben diese Reformvorschläge aber keine großen Verwirklichungschancen. Auch an weitere Reformen ist gedacht: Ersetzung der Menschenrechtskommission durch einen kleineren Ständigen Menschenrechtsrat als Hauptorgan der UN (47 Mitglieder); Verwaltungsreform und Budgetreform, vor allem durch größere Transparenz und Effizienz; Aktualisierung der UN-Charta: Streichung der sog. Feindklauseln in den Artikeln 53 und 107; Streichung von Kapitel XIII (Treuhandrat); Streichung von Art. 47 (Generalstabsausschuss); bessere Koordination der Zusammenarbeit mit Regionalorganisationen; Stärkung der Rechte des Wirtschafts- und Sozialrates im Bereich der Wirtschaftszusammenarbeit und die Effektivierung der Arbeit in der Generalversammlung. Die spannende Frage lautet allgemein: Wer entwickelt das Völkerrecht, wer sind seine „Akteure“? M. E. auch die NGOs! Das Paradigma der offenen Gesellschaft der Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten mag auch hier tendenziell tauglich sein. Sie werden vielleicht enttäuscht sein, weil diese „Mängelliste“, dieser bunte Katalog, zu viel auflistet. Doch handelt es sich m. E. durchweg um Fragen an den Konstitutionalismus bzw. an das sich verfassende Völkerrecht als „Menschheitsrecht“. Wir brauchen eine „neue Schule von Salamanca“! Inkurs III: Der Dienst der Völkerrechtsgemeinschaft, insbesondere der UN, am Verfassungsstaat Trotz aller Defizite des Völkerrechts als „unvollkommenes Recht“, trotz aller berechtigter Kritik an der „Schwäche“ der UN und ihrer anhaltenden Reformunfähigkeit sei eine ermutigende Entwicklung skizziert, die Völkerrecht und Verfassungsstaat im Zeichen des „Konstitutionalismus“ intensiv zusammenführt: der Beitrag zum Entstehen neuer nationaler Verfassungsstaatlichkeit weltweit. Hier ist der Beteiligtenkreis variabel und offen: Er reicht vom Sicherheitsrat über Generalsekretär und Generalversammlung der UN, den IGH sowie das UN-Tribunal in Den Haag, auch den IStrGH ebendort und sogar die Jessup-Moot-Court-Foren weltweit bis zu einzelnen Regionalgemeinschaften wie der EU (z. B. als Wahlbeobachter, vgl. auch die diskutierte militärische Präsenz im Kongo, 2006) oder einzelne Vermittler und sogar hochrangige Persönlichkeiten, mitunter Rechtslehrer, sowie der Weltöffentlichkeit als „Medium“. Mit D. Thürer (2005) lassen sich bestimmte „Typen von Verfassungsprozessen“ unterscheiden: völkerrechtlich „induzierte“ Verfassungsprozesse (der Fall Südafrika, 1994 – 1996, wo auch deutsche Staatsrechtslehrer und BVerfG-Richter ratge-

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bend beteiligt waren), völkerrechtlich „begleitete“ Verfassungsprozesse (die Fälle Afghanistan, 2001 – 2004, und Sri Lanka), völkerrechtlich „gesteuerte“ Verfassungsprozesse (die Fälle Kambodscha, 1991 – 1993, und Ost-Timor, 1999 – 2002) und völkerrechtlich „installierte“ Verfassungen (der Fall Kosovo, humanitäre Intervention der NATO 1999, Protektorat der UN 2001, Wiener Verhandlungen 2006). Die Völkerrechtsfreundlichkeit der Verfassung Portugals (Art. 7, 16) könnte bei all dem Leit-Artikel sein. Es ist nicht „das Völkerrecht“, das abstrakt wirkt, es sind vielmehr bestimmte konkrete Beteiligte, die sich hier im Zeichen des sich langsam genug entwickelnden Völkerrechts und des schon entwickelten, aber immer wieder gefährdeten „Typus Verfassungsstaat“ betätigen. (Die neue personale Frage lautet: Wer, welche Akteure entwickeln wie das Völkerrecht?) Eine Bewertung fällt, bei allen Defiziten, denkbar positiv aus. Solche Fallstudien, auch in der Zeitschiene miteinander verglichen, zeigen, was der „Konstitutionalismus“ heute schon leisten kann. Er gewinnt weltweit an Boden. Die „Globalisierung“ tut hier einmal ihr positives Werk, so hoch ihre Kosten und Gefahren sonst sein mögen (z. B. die Einebnung kultureller Vielfalt durch Weltmärkte). Sie „transportiert“ Grundrechte, die rule of law, Demokratie und Gewaltenteilung, auch „Sozialstandards“. Das „Weltbild des Verfassungsstaates“, 1997 erfragt, wird konstitutionell!

3. Reformwege und Reformverfahren im Konstitutionalismus Dank ihrer hat sich der Konstitutionalismus bislang „bewährt“, er hat nicht nur „bewahrt“. Die Palette reicht vom „Großen“ zum „Kleinen“: von der Verfassunggebung („Totalrevision“ in der Schweiz auf Bundes- und der Kantonsebene) über die „Teilrevision“ (Verfassungsänderung mit der Grenze von sog. Ewigkeitsklauseln wie in Art. 79 Abs. 3 GG und Art. 288 Verf. Portugal – die schrittweisen Revisionen seit 1976 sind geglückt –) bis zur einfachen Gesetzgebung (z. B. mit Experimentier- und Erfahrungsklauseln) und bis zum verfassungsrichterlichen Sondervotum (z. B. nach Art. 164 Abs. 1 S. 1 Verf. Spanien). Diese Skala ist Ausdruck des großen Zusammenhangs von „Zeit und Verfassung“ (1974). In der Verfassungsgerichtsbarkeit bedarf es des weiteren Ausbaus des Verfassungsprozessrechts zum „Pluralismus- und Partizipationsrecht“ (Stichwort: Anhörungen, z. T. Popularklage wie in Bayern, Ungarn und Kolumbien, „amicus curiae briefs“ wie am Supreme Court in Brasilien). Die „Verfassung des Pluralismus“ ist dabei Richtschnur. Der Konstitutionalismus bleibt ein ständig reformfähiges und -bedürftiges „Projekt“, das zugleich in der Vergangenheit wurzelt. Er hat eine Zukunft. „Gretchenfrage“ ist, ob es Konstitutionalismus ohne Staat gibt (z. B. in der EU). Der „Mehrebenenkonstitutionalismus“ ist als Bild und Begriff m. E. fragwürdig, denn er suggeriert ein Denken in Hierarchien. Der Kritische Rationalismus eines Popper mit „Stückwerkreformen“ schafft einen hilfreichen philosophischen Rahmen. Die von

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mir 1978 vorgeschlagene Trias von Möglichkeits-, Wirklichkeits- und Notwendigkeitsdenken ist bei der Gestaltung der Zukunft des Verfassungsstaates hilfreich. Das Möglichkeitsdenken verdankt sich als Kategorie R. Musil, so wie wir Juristen überhaupt bei Dichtern Anleihen machen dürfen.

Inkurs IV: „Fähigste Verfassungsrechtler der verschiedenen Nationen“ und ihre „Lehrmeinungen“ im Dienste des Verfassungsstaates als weltweitem Projekt – Die Entsprechung zu Art. 38 Abs. 1. lit. d IGH-Statut (1945) – dessen „Konstitutionalisierung“ Die geschilderten Verschränkungen zwischen der verfassten Bürgergemeinschaft im nationalen Verfassungsstaat und der „Konstitutionalisierung“ des universalen Völkerrechts als weltweitem „Menschheitsrecht“ erlauben vielleicht, dem Konstitutionalismus auf der durch die Realität gestützten Theorieebene einen neuen, mächtigen Impuls zu geben: Fähigste Verfassungsrechtler der verschiedenen Nationen sollen offen und erklärtermaßen zur Arbeit am weltweiten „Projekt Verfassungsstaat“ ermutigt werden und sich selbst ermutigt fühlen. Was Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut auf der Völkerrechtsebene wagt („Hilfsmittel zur Feststellung von Rechtsnormen“), kann auf der heutigen Entwicklungsstufe des „Konstitutionalismus“ verallgemeinert werden. Im Folgenden einige Stichworte der Begründung, theoretisch und praktisch: 1. Verfassungstheorie und Völkerrechtstheorie konvergieren gerade heute intensiv: Sie haben oft dieselben Themen (z. B. die Menschenrechte) und stehen vor denselben Aufgaben (z. B. im Umwelt- und Kulturgüterschutz). Sie kennen wahlverwandte Institutionen („Verfassungsgerichte“ bzw. solche „unvollkommener“ Art wie der IStrGH nach dem Statut von Rom) und sie legitimieren sich letztlich vom Bürger bzw. Menschen her. Die juristischen Arbeitsweisen in beiden Bereichen ähneln sich (etwa in der Methodenlehre), bei allen verbleibenden Unterschieden. Wort und Sache des „Konstitutionalismus“ knüpfen ein weiteres Band. National bleibt der Verfassungsstaat die unverzichtbare Form und der unentbehrliche Gestaltgeber sowie Garant des Konstitutionalismus, auf der Völkerrechtsebene kommt es zu Konstitutionalisierungsformen nur durch (nationale) Verfassungsstaaten – politisch wie juristisch, historisch wie aktuell. Darum sollte es jetzt gewagt werden, die „alte“ kreative Norm des Art. 38 IGH-Statut allgemein und über ihren Wortlaut hinaus mutig fruchtbar zu machen. Dies kann gelingen, wenn die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ von lit. c und der ebenda rudimentär erkennbare kulturwissenschaftliche Gedanke („Kulturvölker“) produktiv mit Inspiration genutzt werden. Im konstitutionellen Rechtsbildungs- und Rechtserkennungsprozess kann heute eine Pluralität von fähigsten Verfassungsrechtlern aus verschiedenen Nationen zum Interpreten (und Verantwortlichen) im Dienste des „Projekts Verfassungsstaat“ weltweit erhoben werden. Dabei genügt an dieser Stelle die Exposition der Grundidee als solcher, einzelne Streitfragen, etwa zum Epitheton „fähigste“, bleiben hier offen. Doch sei angemerkt, dass das Wort „Hilfsmittel zur Feststellung

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von Rechtsnormen“ einem überholten, noch sehr positivistischen Rechts- und Interpretationsverständnis verpflichtet ist. Es geht um die „in public action“, nicht um Findung von bereits fertig Vorhandenem. Das Bild „Rechtsquelle“ ist fragwürdig. Auch Verfassungsgerichte liefern keine „authentische“, keine „endgültige“ Auslegung (anders Art. 124 Abs. 1 Verf. Albanien von 1998). 2. Aus der Praxis, vor allem in der weit blickenden geschichtlichen Perspektive gesehen, kann dieser theoretische Ansatz an Beispielen untermauert werden („normierende Kraft der Praxis“). Am Verfassungsstaat haben seit Generationen, ja Jahrhunderten, viele „Fähigste“ gearbeitet, seien es Philosophen, Juristen oder selbst Dichter und Musiker, wie F. Schiller in Sachen Menschenwürde und Gedankenfreiheit sowie L. van Beethoven, als dieser die Widmung seiner „Eroica“ an Napoleon strich, weil sich der Franzose 1804 zum Kaiser krönte. Unter dem Stichwort „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (1981) wurde vor Jahren für das erstmals heute neu Vorgetragene ein Theorierahmen geschaffen. Spätestens seit Aristoteles, Montesquieu, Rousseau, zuvor J. Locke, dann I. Kant wird der Verfassungsstaat zur kulturellen Errungenschaft. Die deutschen Klassiker der Weimarer Zeit strahlen bis heute weit über Deutschland hinaus: H. Heller wirkt gewiss als ein „fähigster Verfassungsrechtler“ bis nach Lateinamerika (über Spanien), H. Kelsen ist ebendort ein vielzitierter Autor bis heute. C. Schmitt wirkte teils positiv (Verfassungslehre, 1928), teils negativ (z. B. im Portugal von Salazar). Von Brasilien her darf mit (Rück-)Wirkung auf den „portugiesischen Konstitutionalismus“ gewiss P. Bonavides zitiert werden. J. Rawls gelingt eine weltweite Ausstrahlung bis ins deutsche BVerfG hinein (E 101, 158 (218)). Von meinen eigenen Lehrern und aus der Gegenwart sei K. Hesse erwähnt. Von Mexiko aus gelingt H. Fix-Zamudio große Wirkung auf das Verständnis des Verfassungsstaats und seiner einzelnen Prinzipien. Diese gewiss noch höchst fragmentarische Liste (Anwesende nenne ich nicht) wäre zu ergänzen um große Völkerrechtslehrer, die in den Verfassungsstaat hineinwirken, etwa H. Grotius mit seinen Anregungen von 1625 für die „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1994). Ermutigen kann bei all dem, dass das Zivilrecht seit langem seine Klassiker von weltweitem Rang hat: Nach den großen Römischen Juristen der Antike (Papinian, Ulpian, Paulus) gilt dies etwa für F. C. von Savigny, auch R. von Jhering. Im Strafrecht darf F. von Liszt diesen Rang beanspruchen. 3. Bei all dem mag nach Regionen (früher: „Rechts- und Kulturkreisen“) zu unterscheiden sein. Nur ganz wenige Verfassungsjuristen überspringen in ihrer Wirkung auf „fremde“ nationale Wissenschaftlergemeinschaften ganze Kontinente (ein Stichwort ist der „europäische Jurist“). Doch auch „nur“ regional (kontinental) anerkannte Größen (etwa der Italiener C. Mortati) stützen die Ausgangsthese. Wichtig bleibt die Erkenntnis, dass die Literatur bzw. das Lebenswerk einzelner Verfassungsrechtler (nicht etwa nur Rechtsvergleicher) heute in der Realität Subjekt, Faktor und Gegenstand der Entwicklung „ferner“ Verfassungsstaaten und ihrer (nationalen) Wissenschaftlergemeinschaften sein kann. Die mehrfach genannten weltweiten Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassungsstaat,

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das Textstufenparadigma sowie die Lehre von der „Trias“ der Texte, Theorien und Praxis sollten jedenfalls die hier und heute erstmals gewagte These aufgreifen. Der viel zitierte „Konstitutionalismus“ lebt auch von einer Pluralität „fähigster“ Konstitutionalisten, über allen Schulenstreit und etwaige Missgunst hinweg. Das Gesagte ist zugleich ein „Horizont“ und eine „Herausforderung“ im Sinne dieses Vortragsthemas. Es gibt eine – weiter ausbaufähige – weltweite Gemeinschaft der Verfassungsrechtler. Sie wird z. B. hier in Lissabon für einen Tag spürbar.

Ausblick und Schluss Der Überblick, fragmentarisch genug, sei hier abgebrochen. Die neuen „Horizonte“ und neuen „Herausforderungen“ des Konstitutionalismus geben buchstäblich ein gemischtes Bild. Vieles ist im Verfassungsstaat als Typus geleistet und gelungen, in den einzelnen Beispielsnationen mit unterschiedlicher Geschwindigkeit und in unterschiedlicher Weise. So macht die Dezentralisierung in Frankreich vielleicht zu wenig und zu langsame konkrete Fortschritte; so ringt Italien schmerzlich um einen „italienischen Föderalismus“; so warten in Osteuropa viele Texte auf „kongeniale“ Verfassungswirklichkeit; so ist in Lateinamerika in Sachen Schutz der Indios und ihrer Kultur noch viel zu tun; so ist in Österreich der „ÖsterreichKonvent“ 2005 gescheitert, im Gegensatz zu Deutschland, wo die große Föderalismusreform im zweiten Anlauf jetzt zu glücken scheint; so scheiterte die EU-Verfassung mindestens vorläufig, das Ungetüm von „Nizza“ gilt weiter; so bleibt die Bekämpfung der Korruption in Brasilien auch ein Verfassungsthema und die, Armut in fast ganz Afrika. Der Friede in Europa ist dank der Friedensgemeinschaft der EU gesichert, er muss auch zum Balkan hin „exportiert“ werden, und das große Thema, wie islamische Staaten Schritt für Schritt „demokratiefähig“ werden, angesichts der „Scharia“ als oberster Rechtsquelle bzw. Teil der Identität der Verfassungen von Afghanistan bis zum Irak fast unlösbar, bildet vielleicht die größte Herausforderung unserer sich verfassenden Welt. Gleichwohl muss es beim „Prinzip Hoffnung“ auf eine allerorts lebendige „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ bleiben, der Kreis der Akteure des Völkerrechts sollte sich öffnen (innerstaatlich ist das Gesetz gegen NGOs und damit auch die Menschenrechtsorganisationen im Russland Putins von 2006 ein gefährlicher (Rück-)Schritt). Auch die Art und Weise, wie der Konstitutionalismus auf den Karikaturenstreit von 2006 eingehen soll, hat bis jetzt nur zu Ratlosigkeit geführt. Zuletzt sei das „Lob der Freundschaft“ unter Wissenschaftlern angestimmt: Freundschaft, seit Aristoteles ein großes Thema, gibt es auch zwischen Staatsrechtslehrern. Nationale Wissenschaftlergemeinschaften müssen und können heute, wie kaum zuvor, zusammenstehen: im Dienst am Verfassungsstaat. In Europa gibt es viele schöne Beispiele wissenschaftlichen Austausches von Nord nach Süd, von Ost nach West und heute eben von West nach West. Dass ein Franzose, ein

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Italiener und ein Deutscher zum Ehrentag der Verfassung Portugals sprechen dürfen, sagt vieles. Ich kann – im Rahmen der 1969 gegründeten Gulbenkian-Stiftung – nur danken und Goethe zitieren, auch im Blick auf die „portugiesischen Länder“ in Afrika und Südamerika: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, Nord – und Südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“.

Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang* I. Einleitung „Menschenrechte“ und „Demokratie“ sind die großen Parolen unserer Zeit, sie gleichen fast schon einer „Erlösungsformel“. Bald werden sie auf nahezu allen Politikfeldern teils je für sich, teils im gleichen Atemzug gefordert, bald werden sie zur Legitimierung des eigenen Handelns angerufen, oft „beschworen“. Der große Antipode zur Demokratie als Kontrastprogramm ist der totalitäre Staat, in welcher Erscheinungsform auch immer. „Menschenrechte“ werden bald unter Bezugnahme auf die Menschenwürde, bald ohne nähere Kennzeichnung sehr pauschal postuliert, oft fehlen präzise Hinweise etwa auf die verschiedenen Inhalte und Dimensionen wie die klassischen Menschenrechte, die wirtschaftlichen bzw. sozialen und kulturellen Grundrechte (als Teilhaberechte). Der Bezug zur (in fast allen neuen Verfassungen, zuletzt in der EU-Grundrechtecharta normierten) Menschenwürde wird oft mitgedacht, diese selbst aber nicht näher definiert. Mitunter findet sich eine Anrufung I. Kants („Der Mensch ist sich selbst Zweck“) oder ein Hinweis auf die einschlägigen Texte der UN. Klassikertexte zur Demokratie werden gerne in Anspruch genommen: etwa die Formel von A. Lincoln: Herrschaft des Volkes, für das Volk und durch das Volk (s. auch Art. 2 Abs. 5 Verf. Frankreich). Die Rede ist von der Demokratie als Herrschaft der öffentlichen Meinung oder der Mehrheit. Gefragt wird aber auch mit B. Brecht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin“? Nach dem Scheitern der sog. Volksdemokratie bzw. sozialistischen Planwirtschaft, spätestens im annus mirabilis 1989, erinnert man sich wieder fast universal an die Formeln von der bürgerlichen Demokratie („Bürgerdemokratie“), von der rechtsstaatlichen, gewaltenteilenden pluralistischen Demokratie, beruft man sich auf die dank der Demokratie eröffnete politische Mitgestaltung der Bürger, die Konkurrenz von Ideen und Interessen, die Selbstbestimmung oder „Selbstregierung“ des Volkes, die Zivilgesellschaft. Der Bezug zum Volk ist konstituierend, im Rahmen der europäischen Einigung wird das Volk auf der europäischen Ebene oft vermisst, weshalb die Idee einer „europäischen Demokratie“ ins Leere zu laufen scheint bzw. verneint wird (Stichwort: Demokratiedefizit), ebenso wie – immer noch – das Vorhandensein einer „europäischen Verfassung“ oder europäischen Öffentlichkeit geleugnet wird, obwohl die Konturen der * Erschienen in: Jürgen Bröhmer / Roland Bieber / Christian Calliess (Hrsg.), Internationale Gemeinschaft und Menschenrechte: Festschrift für Georg Ress zum 70. Geburtstag am 21. Januar 2005, Carl Heymanns Verlag, Köln / Berlin / München, 2005, S. 1163 ff.

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europäischen Bürgerdemokratie sichtbar werden. In den Worten des GG hätte man zu fragen, in welchem Verhältnis Art. 1 (Menschenwürde) und Art. 20 Abs. 2 (Volkssouveränität) zueinander stehen: ein Nebeneinander?, ein Nacheinander?, ein Miteinander oder ein Aliud? Eine Harmonisierungsformel ist bislang nicht gefunden. Hart trifft der Lehrsatz J. J. Rousseaus: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ auf die konstitutionelle Vorordnung der Menschenwürde des Einzelnen, die als „versprochene“ (H. Hofmann) sogar der Demokratie vorauszuliegen scheint. Geht also i.S. D. Sternbergers „nicht alle Staatsgewalt vom Volk aus“? Ist der Einzelne vor dem Volk zu denken, was kulturell gar nicht möglich ist? II. Pluralistische Demokratie als organisatorische Konsequenz der Menschenwürde 1. Erscheinungsformen der Demokratie (Übersicht) Sie seien hier, in Raum und Zeit verglichen, in wenigen Stichworten aufgelistet: Erinnert sei an die beiden klassischen Demokratievarianten der repräsentativen (indirekten) und direkten Demokratie, die m. E. in der Schweiz als Idealform die sog. „halbdirekte“ Demokratie als Mischform gefunden hat. An Hand von Verfassungstexten (Demokratie-Artikeln) und Judikaten, auch Theorien, lässt sich die soziale Demokratie (H. Heller) und C. Schmitts „Identität von Regierenden und Regierten“, ferner die sog. „parteienstaatliche Demokratie“ (G. Leibholz) nennen, auch die sog. Mediendemokratie bzw. „Stimmungsdemokratie“ ist im öffentlichen Sprachgebrauch heute besonders präsent. J. Habermas’ Unterscheidung zwischen drei Modellen der Demokratie, der liberalen, republikanischen und deliberativen sei kritisch erwähnt. Die gewaltenteilige, „abwehrbereite“, „streitbare“ Demokratie ist für das deutsche GG nach den Erfahrungen der Weimarer Zeit charakteristisch (Möglichkeit des Verbots politischer Parteien und verfassungsfeindlicher Vereinigungen: Art. 21 Abs. 2, Art. 9 Abs. 2 GG). Das BVerfG hat die „freiheitlich-demokratische Grundordnung“ in schon klassisch gewordener Weise wie folgt umschrieben: E 2, 1 (12 f.): „So lässt sich die freiheitliche demokratische Grundordnung als eine Ordnung bestimmen, die unter Ausschluss jeglicher Gewalt- und Willkürherrschaft eine rechtsstaatliche Herrschaftsordnung auf der Grundlage der Selbstbestimmung des Volkes nach dem Willen der jeweiligen Mehrheit und der Freiheit und Gleichheit darstellt. Zu den grundlegenden Prinzipien dieser Ordnung sind mindestens zu rechnen: die Achtung vor den im Grundgesetz konkretisierten Menschenrechten, vor allem vor dem Recht der Persönlichkeit auf Leben und freie Entfaltung, die Volkssouveränität, die Gewaltenteilung, die Verantwortlichkeit der Regierung, die Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, die Unabhängigkeit der Gerichte, das Mehrparteienprinzip und die Chancengleichheit für alle politischen Parteien mit dem Recht auf verfassungsmäßige Bildung und Ausübung einer Opposition.“

Damit ist ein komplexes Ensemble einzelner verfassungsstaatlicher Prinzipien gebündelt, das zur genaueren Analyse aufgeschnürt werden müsste. Hier soll das

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Direktzitat genügen. Es lässt Zusammenhänge erahnen, die im Verlauf dieser Skizze wieder auftauchen. Erinnert sei an die Ausdehnungen des Demokratieprinzips: fragwürdige wie die „Wirtschaftsdemokratie“, gute, etwa in Gestalt der „innerparteilichen Demokratie“ nach Art. 21 Abs. 1 S. 2 GG, gesprochen wird von „demokratischer Analogie“; erinnert sei aber auch an große Kulturbereiche, die sich der Demokratie gerade entziehen, etwa das Selbstbestimmungsrecht der Kirchen und Religionsgemeinschaften nach Art. 137 Abs. 1 WRV i.V.m. Art. 140 GG. Aus der wissenschaftlichen Literatur sei der Gedanke von U. Scheuner erwähnt, der anschaulich von der demokratischen Legitimationskette „vom Volk zu den Staatsorganen“ sprach. Volksbegehren, Volksinitiative, Volksentscheid oder Volksbefragung sind weitere Erscheinungsformen der Demokratie; das Wort von den „demokratischen Grundrechten“ wie die Pressefreiheit wird gerne benutzt; der „Volksanwalt“ Österreichs ist ebenfalls einschlägig. Mit konstituierend ist das „Prinzip Öffentlichkeit“ (G. Heinemann: Öffentlichkeit als „Sauerstoff der Demokratie“). 2. Leistungen des Demokratieprinzips Vom Verfassungsstaat her gesehen, und nur auf seiner Ebene sei argumentiert, da er auf der heutigen Entwicklungsstufe der Menschheit (im Geiste W. Churchills gesprochen) das am wenigsten schlechte Modell für politisches Zusammenleben darstellt, zeichnen die von der Würde des Menschen her gedachte Demokratie zwei Leistungen aus, „Leistung“ hier nicht im engeren Sinne des Utilitarismus verstanden: zum einen die Chance der gerechten, gemeinwohlorientierten Verarbeitung von Wandel, zum zweiten der menschenwürdegerechte Schutz vor Machtmissbrauch. Beides gehört zusammen. Im Einzelnen:

a) Demokratie als Verfahren zur gerechten und gemeinwohlorientierten Verarbeitung des kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen Wandels Das – konfliktreiche – Zusammenleben der Menschen in einem politischen Gemeinwesen ist dem Zeitfaktor unterworfen. Was immer die „Zeit“ ist, von Augustinus bis H. von Hofmannsthal vermögen wir sie theoretisch nicht zu fassen: jede Rechtsordnung muss sich ihr praktisch stellen, d. h. Instrumente und Verfahren einrichten, die den Wandel, eine Ausdrucksform von „Zeit“, verarbeiten. Die Demokratie dürfte die Regierungsform sein, die am ehesten geeignet erscheint, zeitgerechtes Handeln zu ermöglichen (Stichwort: Offenheit der Ordnung). Demokratie wird suggestiv als „Herrschaft auf Zeit“ verstanden. Die regelmäßig wiederkehrenden Wahlen realisieren dies, wobei freilich die Attribute „frei“, „gleich“, „geheim“, „fair“ hinzugedacht werden müssen. Der Wandel wird so auf friedliche Weise ermöglicht. Konflikte werden friedlich gelöst. Missliebige Herrscher werden „ohne

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Blutvergießen“ ausgewechselt, um den Klassikertext von K. R. Popper zu zitieren: Demokratie „als Versuch und Irrtum“ (R. Dahrendorf). Wandel bezieht sich dabei auf die Kultur, das Soziale, die Wirtschaft und das diesen Feldern zugehörige Recht (vom Verfassungsrecht bis zum Privat- und Strafrecht). Der Verfassungsstaat besitzt ein bewährtes großes Instrumentarium zur Verarbeitung der Zeit und ihrer Konflikte: von der Totalrevision über die Teilrevision von Verfassungen sowie die Gesetzesnovelle bis zur Rechtsprechungsänderung, dem obiter dictum und der „feinen“ Form des verfassungsgerichtlichen Sondervotums, das aus einer Minderheit „im Laufe der Zeit“ zum Mehrheitsvotum werden kann, wozu es in den USA wie in Deutschland große Beispiele gibt. „Ewige“ Herrscher neigen zu Machtmissbrauch, auch „ewig“ an der Herrschaft befindliche politische Parteien. Zu Recht erlauben viele Verfassungen nur eine einzige Wiederwahl des Staatspräsidenten. Damit sind wir bereits bei dem zweiten Aspekt.

b) Der Schutz vor Machtmissbrauch Alle Menschen neigen von Natur aus dazu, die Macht zu missbrauchen; darum bedarf es der immer weiter zu entwickelnden verfassungsstaatlichen bzw. -rechtlichen Kontrollmechanismen. Die bekannte skeptische Erkenntnis Montesquieus hat sein klassisches Konzept der Gewaltenteilung (1748) angeleitet. Demokratische Wahlen (basierend auf einem relativ optimistischen Menschenbild) aber sind ein Stück Gewaltenteilung in der Zeit, notwendig, weil der Mensch stets auch derselbe missbrauchsgefährdete „Sünder“ geblieben ist, als Bürger und als Amtsträger. Das nur gedämpft optimistische Menschenbild des Verfassungsstaates (z. B. in der „Resozialisierung“ und den schulischen Erziehungszielen greifbar) hat aus heutiger Sicht die pluralistische Demokratie zur unverzichtbaren Konsequenz. Nur sie erlaubt jene Machtkontrolle seitens der Bürgerschaft, die die Herrschenden buchstäblich „verdienen“. Gerechtigkeit und Gemeinwohl (ebenso klassisch definiert wie modern fortgeschrieben: von Aristoteles bis J. Rawls bzw. von Cicero bis E. Fraenkel) sind dabei Orientierungspunkte, auch zur Umschreibung des Begriffs „Missbrauch der Macht“. Elemente der unmittelbaren Demokratie gehören hierher. 3. Voraussetzungen für menschenwürde-konsequente Demokratie Nach den Voraussetzungen bzw. Bedingungen zu fragen, verlangt das im engeren Sinne juristische Denken zu überschreiten: kontextorientiert ist kulturwissenschaftlich und in diesem Rahmen zu ergründen, welcher Bedingungen es bedarf, damit Menschenwürde und Demokratie praktisch gelebt werden können, dank der Garantiemacht des Verfassungsstaates als Typus, bei aller nationalen Beispielsvielfalt. Es sind drei ineinander greifende Voraussetzungen: die Kultur, ein Minimum an ökonomischem Wohlstand und die Garantie der Menschenwürde bzw. der Men-

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schenrechte selbst (auch denen der anderen, der Mitbürger), d. h. allgemeiner gesagt: der „Rechtsstaat“ samt seinen vielen Teilprinzipien wie Minderheitenschutz, Gewaltenteilung, Staatshaftung, Unabhängigkeit der Gerichte etc. (Der Begriff „vorrechtliche Voraussetzungen“, vgl. BVerfGE 89, 155 (185), ist zu unscharf). Im Einzelnen: a) Die Würde des Menschen dank des Kulturzustandes Die Dialektik von Naturzustand und Kulturzustand ist, in welchen Spielarten auch immer, ein klassisches Paradigma der Staatsphilosophie von T. Hobbes über J. Locke bis I. Kant. M. E. gibt es Menschenwürde nur im status culturalis, jenseits des Naturzustandes. Zwar bleibt es eine unverzichtbare Fiktion, dass der Mensch „von Natur aus“, sozusagen „eingeborene“ Rechte habe, damit kein Staat, totalitär oder nicht, auf diese Rechte zugreifen kann. Indes ist „Würde“, historisch betrachtet, Ergebnis eines langen Entwicklungsprozesses, eine kulturelle Errungenschaft par excellence, Ausdruck der kulturellen Evolution, ob man nun mit dem Vertragsmodell arbeitet oder nicht. Vielleicht klingt dieser Gedanke an in F. Schillers „Bedeckt Ihr die Blöße, ergibt sich die Würde von selbst“. A. Gehlens „Zurück zur Kultur“ ist der gegen J. J. Rousseau durchschlagende neue Klassikertext. Würde, Freiheit und Demokratie verlangen Text und Kontext der Kultur, eine Fülle von auch rechtlichen Grundsätzen, Verfahren und Institutionen des Verfassungsstaates, um gelebt werden zu können. Die „Erfüllung“ der Freiheit ist nur „aus Kultur“ möglich. Es gibt nur kulturelle Freiheit, keine „natürliche“ Freiheit. Menschenwürde, Freiheit und Demokratie sind „Kulturthemen“. Ein Beleg für diese Zusammenhänge zeigt sich in den verfassungsstaatlichen Bildungs- und Erziehungszielen neben der allgemeinen Schulpflicht und der Bekämpfung des Analphabetismus in Entwicklungsländern. Vor allem deutsche Länderverfassungen nach 1945 und im Osten nach 1989, aber auch schon im Ansatz die WRV von 1919 (Art. 148: „staatsbürgerliche Gesinnung“) haben in ihrem Kanon von Erziehungszielen die Demokratie verankert (vgl. Art. 131 Abs. 3 Verf. Bayern, Art. 28 Verf. Brandenburg). Demokratie muss buchstäblich „gelernt“ werden (Beispiele: Deutschland nach 1945, Slowenien und Kroatien nach 1990, Irak heute), Demokratie hat Teil der kulturellen Sozialisation des jungen Menschen zu sein. Sie „wird“ nicht von selbst. Aus diesem innerdeutschen Rechtsvergleich, der auf andere Verfassungsstaaten hin ausgeweitet werden kann (vgl. das Erziehungsziel „Einführung in die Verfassung“ in Art. 72 Verf. Guatemala (1985) sowie in Mexiko (Art. 3 Verf.)), ist kulturwissenschaftlich zu folgern, dass der Verfassungsstaat als Typus sehr wohl weiß, dass Demokratie wie Menschenwürde erst auf einem bestimmten kulturellen Humus gedeihen (vgl. auch das Erziehungsziel „Achtung vor der Würde des Menschen“, z. B. in Art. 22 Verf. Thüringen). Der zweite „Hintergrund“ für die Möglichkeit von und die Wirklichkeit zu menschenwürdegerechter Demokratie ist der Rechtsstaat im Ganzen und Einzelnen, sind „Allgemeine Rechtsgrundsätze“ und alle Verfahren für die Existenz einer öffentli-

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chen gerechten Friedensordnung (dank des verfassungsstaatlichen Gewaltmonopols). Darauf ist zurückzukommen. Hier nur so viel: Die Rechtsordnung ist Teil der Kultur, angedeutet in dem Begriff der „Rechtskultur“. Nicht zufällig war der größte Jurist der Antike, Cicero, zugleich der Schöpfer des Begriffs „Kultur“! Auszugehen ist heute von einem offenen, pluralistischen Kulturkonzept (Hochund Volkskultur, Alternativ- und Subkultur). Auch ein erweiterter Kunstbegriff (J. Beuys) ist relevant. b) Ein Minimum an ökonomischem Wohlstand Diese Voraussetzung für menschenwürdekonsequente Demokratie wird oft schamhaft oder fahrlässig, aus falschem Idealismus oder gar aus Heuchelei vergessen, sie lässt sich aber sowohl an entwickelten Verfassungsstaaten als auch an sog. „Entwicklungsländern“ und Übergangsgesellschaften veranschaulichen. Das deutsche BVerwG hat sehr früh, 1954, schon im ersten Band seiner Entscheidungen (E 1, 159 (161 f.)) den Fürsorge- bzw. Sozialhilfeanspruch aus Menschenwürde und Demokratie entwickelt. Das Schweizer BG hat später ein solches einklagbares Recht als „ungeschrieben“ bejaht, die neue BV von 2000 ist ihm darin „geschrieben“ gefolgt: Jeder hat einen menschenrechtlichen Anspruch auf das wirtschaftliche Existenzminimum (Art. 12): „Mittel für ein menschenwürdiges Dasein“: ein schon klassisches soziales Grundrecht, ein „demokratisches Grundrecht“ par excellence. Die freiheitliche Demokratie funktioniert nur, das Wahlrecht wird nur dann von der bloßen Form zum Inhalt, zur öffentlichen Freiheit, zum politischen Mitgestaltungsrecht, wenn das Minimum der materiellen Existenzbedingungen für den Bürger garantiert ist. Für die Entwicklungsländer, in denen große Teile der Bevölkerung unter der sog. Armutsgrenze leben, stellt sich die Frage nach der Möglichkeit von Demokratie bei wirtschaftlicher Not dramatisch. Gleiche Schwierigkeiten zeigen sich in Übergangsgesellschaften: auf dem Weg vom totalitären Staat zum demokratischen Verfassungsstaat. (Der im Mai 2004 von der Bertelsmann-Stiftung veröffentlichte „Transformationsindex“ (FAZ vom 8. Mai 2004, S. 5) vertritt die These: „Demokratie führt zu Wohlstand“). Dass die osteuropäischen Reformstaaten nach 1989 oft ohne Weiteres Demokratie „gewagt“ haben, verdient Bewunderung – Motiv war gewiss auch die Hoffnung auf Wohlstand schaffende soziale Marktwirtschaft. Man wird keine „florierende Wirtschaft“ verlangen dürfen, um einem Volk die Möglichkeit zu oder gar „Reife“ zur Demokratie zuzusprechen, doch muss der Zusammenhang im Blick behalten werden. Große Wirtschaftskrisen können Diktatoren den Weg bahnen und allgemeinen Unfrieden schaffen (Beispiel: das Deutschland der Weimarer Endzeit). Übergangsgesellschaften brauchen vielleicht zunächst Präsidialdemokratien (Rußland?). Zu große Unterschiede zwischen Arm und Reich sind ebenso Gefahrenpotenziale für die freiheitliche Demokratie wie ökonomische Monopolbildungen, die daher immer wieder von Verfassungen ausdrücklich verboten werden (z. B. Art. 156 Verf. Bayern von 1946, Art. 41 Verf. Bremen von 1947, Art. 39 Abs. 1 Verf. Hessen von 1946): weil sie in politische Macht umschlagen können und die Offenheit der politischen Pro-

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zesse gefährden. Die Kumulation von politischer Macht, Wirtschafts- und Medienmacht im Italien Berlusconis ist in hohem Maße fragwürdig. Die pluralistische Medienverfassung ist ein Kernstück der freiheitlichen Demokratie (aktuell: Subventionierung der Pressevielfalt, Verbot der Monopolbildung in der Presse). Das Verhältnis Markt / Demokratie bedürfte einer speziellen Untersuchung; ebenso die Demokratieproblematik in staatenübergreifenden Zusammenhängen (Internationalisierung). Und wie steht es um die demokratische Legitimation des Völkerrechts? Im klassischen Völkerrecht, das auf zwischenstaatlichen consensus gründet, gibt es sie gewiss nicht. Die wenigsten Staaten waren „Verfassungsstaaten“, konnten also auch keine demokratische Legitimation in Bezug auf die Rechtsquellen des Völkervertrags- und Völkergewohnheitsrecht vermitteln. Heute, da ebenfalls immer noch nur eine Minderheit „Verfassungsstaaten“ sind, die grundrechtlich fundiert und demokratisch legitimiert sind, gilt folgendes: Innerverfassungsstaatlich hat alles Verfassungsrecht und Recht die Menschenwürde zur kulturanthropologischen Prämisse, deren „organisatorische Konsequenz“ die Demokratie ist. Auf das Völkerrecht lässt sich dieser Ansatz aber – noch – nicht übertragen. So sehr die Menschenrechte vordringen, sie sind noch nicht die Basis des Völkerrechts, vielleicht „Humus“. Sie formen auch noch keine demokratischen Strukturen im Völkerrecht aus. Es mag Ansätze geben: etwa über das Entstehen einer „Weltöffentlichkeit“, in Gestalt der UN-Vollversammlung als „Weltparlament“, respektive „townmeeting of the world“, in der Art und Weise, wie der UN-Sicherheitsrat da und dort in einzelnen Nationen bzw. Staaten Demokratie durchzusetzen sucht, etwa in Ex-Jugoslawien und im künftigen „demokratischen Irak“. Schon die Rechtsquellen der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ lassen sich nicht auf demokratische Legitimationszusammenhänge zurückführen. Sie gehen im Übrigen auch nach innerstaatlichem Recht oder in der EU nicht vom Volk aus. Insgesamt zeigt sich, dass die Demokratie kein „Allerweltsprinzip“ ist. Im Völkerrecht sollte ganz und gar der menschenrechtliche Ansatz im Vordergrund stehen. Er mag dann mittel- oder langfristig auch da und dort zu einem Mehr an Demokratie führen. Der kulturwissenschaftliche Ansatz kann auch das Völkerrecht als „Kultur“ im neuen Licht erscheinen lassen. Z. B. sind die „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ zuvörderst gerechtigkeitsnahe kulturelle Errungenschaften. Zugespitzt: Das Völkerrecht geht nicht vom Volk oder von den Völkern aus. Immerhin wagt die Präambel der UNCharta eine Rezeption des US-amerikanischen Klassikertextes „We the people“, ist das „Selbstbestimmungsrecht der Völker“ in Art. 1 Abs. 1 IPbürgR menschenrechtlich kontextualisiert. Doch in letzter Konsequenz ist J. J. Rousseau auch hier nicht einschlägig. Wohl aber geht das Völkerrecht – hoffentlich – auf die Menschenwürde hin! Eine spezielle Frage lautet: wer ist der „Hüter“ des Völkerrechts, das rechtliche Weltgewissen? Für einen Teilbereich des humanitären Völkerrechts gewiss das Internationale Rote Kreuz und sein „Mentor“, die Schweiz, der Idee nach auch die UNO. Schließlich die offene Gesellschaft der wissenschaftlichen Völkerrechtsinterpreten. Die von K. Annan 2003 berufene Reformgruppe zur „Revitalisierung“ der UNO lässt hoffen.

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c) Menschenwürde und Menschenrechte als Voraussetzung für pluralistische Demokratie Dieser Zusammenhang ergibt sich aus dem Bisherigen. Die Demokratie kann nur „leben“, wenn die Würde des Menschen, auch im mitmenschlichen Du-Bezug gesehen, garantiert ist. Der Kulturzustand, den die Menschenrechte voraussetzen und zugleich schaffen, ist Bedingung für die Möglichkeit und Wirklichkeit von Demokratie. Erwähnt sei besonders der menschenrechtliche Minderheitenschutz; Demokratie als reale Möglichkeit zum Machtwechsel verstanden, verlangt nach vielfältigen Garantien des Minderheitenschutzes: vom Schutz der Opposition (z. B. dank des Rechts auf parlamentarische Untersuchungsausschüsse) bis zu Garantien von religiösen und anderen, z. B. ethnischen (auch Sprach-)Minderheiten. Die Minderheit von heute muss realiter zur Mehrheit von morgen werden können – der demokratische Lehrsatz. Viele Menschenrechte sind Ausdruck der Menschenwürde, doch sind beide Begriffe nicht deckungsgleich. Bestimmte wirtschaftliche Freiheiten (wie die Medienfreiheit) etwa gehen über den Minimalgehalt der Menschenwürdegarantie hinaus. Doch läßt sich sagen: Wo ein Verfassungsstaat die Menschenwürde nicht zu schützen vermag, läuft die Demokratie ins Leere, wird sie zur Anarchie bzw. Diktatur, kommt es zu T. Hobbes’ Naturzustand. Seit längerem wird von den Grundrechten als „funktioneller Grundlage der Demokratie“ gesprochen, stehen Religions- und Meinungsfreiheit im Zentrum. Die Befriedung und Demokratisierung, vielleicht „Föderalisierung“ des Irak wird heute zum Testfall. Dasselbe gilt für Somalia. Das Thema Menschenwürde und Demokratie im Islam ist ebenso aktuell wie ungelöst. d) Insbesondere: Der Zusammenhang von Menschenwürde und Demokratie aa) Das „klassische“ Trennungsdenken und seine Kritik Grundlage des Verfassungsstaates ist eine doppelte: Volkssouveränität und Menschenwürde. Geistesgeschichtlich wurden Volkssouveränität und Menschenwürde bislang meist getrennt gedacht und „organisiert“. Volkssouveränität war das politisch-polemische Gegenstück gegen die monarchische Fürstensouveränität. Ihr klassisches Verständnis in der Tradition von J. J. Rousseaus „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“ prägt die geschriebenen Verfassungstexte und die Wissenschaftstraditon bis heute. Seine Durchschlagskraft ist so stark, daß Korrekturen eher peripher, grundsätzliche Infragestellungen kaum und substantielle Verfassungstextvarianten selten wahrgenommen werden. Noch in D. Sternbergers Satz: „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“ liegt eine ungewollte Verbeugung vor der – bekämpften – „Position“ J. J. Rousseaus. Im Postulat der gewaltenteilenden oder rechtsstaatlichen Demokratie liegt ebenso eine Korrektur „absoluter“ Volkssouveränitätslehren wie im Hinweis auf das pluralistische Aufgespaltensein des Volkswillens (K. Hesse). Dennoch bleibt es Aufgabe, Volkssouveränität von ihrem historisch-polemischen Ursprung abzulösen und mit Menschenwürde im Zusammenhang zu sehen.

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bb) Wandlungen der Verfassungstexte Ein Vergleich der Texte verfassungsstaatlicher Verfassungen zeigt in älteren Verfassungen das Volk als primäres Element der Drei-Elemente-Lehre allgemeiner Staatslehren, gelegentlich wird der Bürger zum „Objekt“ der Staatsgewalt degradiert, textlich zum einen in der Tradition der Volkssouveränitätsdoktrin, d. h. als Passus „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“; zum anderen fällt die nationalstaatliche Kodifikationsgestalt auf: Das Volk wird als (gegen ethnische Minderheiten) einheitliches, „nationales“ postuliert: im Sinn von „deutschem Volk“ u. ä. Fast unbemerkt gehen einige neuere Verfassungstexte einen anderen Weg. Entweder modifizieren sie die Volkssouveränitätsklausel oder sie bauen ihren Grundrechtsteil so deutlich von der Menschenwürdegarantie her auf, dass dieses auf das Verständnis der überlieferten Volkssouveränitätsklausel nicht ohne Auswirkung bleiben kann – so in Art. 1 GG, der den Art. 20 Abs. 2 „korrigiert“. Wenn nach dem Verfassungsentwurf von Herrenchiemsee (Art. 1 Abs. 1) „der Staat um des Menschen willen da“ ist (und nicht umgekehrt), vgl. auch Art. 8 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, dann mag alle Staatsgewalt vom Volk „ausgehen“, aber dieser Satz hat seinerseits schon seine „primäre Prämisse“ in der Menschenwürde! Sie ist der „archimedische Bezugspunkt“ aller – auch im Verfassungsstaat notwendigen – Herrschaftsableitungen und Legitimationszusammenhänge. „Herrschaft des Volkes“ (durch das Volk und für das Volk) wird erst in einem zweiten Denkschritt gedacht. Der Menschenwürdeschutz (auch in seiner Ausstrahlung auf Einzelgrundrechte!) ist als Rechtsgrundsatz „Staat“ und „Volk“ vorgegeben und auch allen Herrschaftsableitungen und pluralen Verantwortungsbzw. „Legitimationszusammenhängen“ vom Volk zu den verschiedenen Staatsorganen und -funktionen immanent (vgl. BVerfGE 38, 258 (271); 47, 253 (272, 275); 93, 37 (60 ff.)). Die Parallelität von Menschenwürde und Volkssouveränität wird schon deutlich in Art. 1 und 2 Verf. Griechenland (1975 / 1986). Art. 1 Abs. 2 lautet: „Grundlage der Staatsform ist die Volkssouveränität“, Abs. 3: „Alle Gewalt geht vom Volk aus, besteht für das Volk . . .“ etc. Wenn dann Art. 2 Abs. 1 die „Grundverpflichtung“ des Staates zu Achtung und Schutz der Menschenwürde normiert, so sind Volkssouveränität und Menschenwürdekonzept von vornherein verklammert. Noch besser formuliert aber Art. 1 Verf. Portugal (1976 / 1997) diesen Zusammenhang: „Portugal ist eine souveräne Republik, die sich auf die Achtung der Menschenwürde und des Volkswillens gründet“. . . . Vgl. auch Art. 1 Abs. 2 Burgenland (1981): „Burgenland gründet auf der Freiheit und Würde des Menschen.“ cc) Die menschen- und bürgerorientierte Volkssouveränität Volk ist weniger eine naturhaft vorgegebene Größe als eine kulturell sich in einer verfassungsstaatlichen Verfassung konstituierende und in ihren kulturellen Zusammenhängen immer neu werdende pluralistische Größe. Es besteht aus

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„Grundrechtsträgern“, d. h. aus Bürgern. Von ihnen geht letztlich alle (Staats-) Gewalt aus, auch die Verfassunggebung. Darum ist Achtung und Schutz der Menschenwürde eine „Grundpflicht“ des Verfassungsstaates, noch genauer eine „Grundrechtspflicht“. Insofern ist Art. 1 Abs. 1 GG „Staatsform“: Begründung des Staates. In der Menschenwürde hat Volkssouveränität ihren „letzten“ und ersten (!) Grund. Volk ist keine mystische Größe, sondern eine Zusammenfassung vieler Menschen mit je eigener Würde: eine räumlich verortete, zeitlich gewordene und weiterentfaltungsfähige und öffentlich gelebte und verantwortete Zusammenfassung einer „Menge Menschen“ unter Rechtsgesetzen (im Sinne I. Kants): das demokratisch verfasste, im Selbstverständnis an der Menschenwürde orientierte, auf sie verpflichtete Volk. Ein solches Verständnis umgeht auch Gefahren, die durch die Überbetonung der Gemeinschaft nicht selten zu totalitären Entwicklungen geführt haben. Alle Autorität ist abgeleiteter Natur, es gibt keine „Würde“ des Staates, es gibt nur eine Würde des Menschen und Bürgers. Vom einzelnen Bürger her gesehen besteht ein gedanklicher „Fortsetzungszusammenhang“ zwischen Menschenwürde und freiheitlicher Demokratie. Die berühmte „Objektformel“ G. Dürigs (und des BVerfG) dürfte (unfreiwillig) verdeckt haben, dass ein positiver Zusammenhang zwischen Menschenwürde und den politischen (demokratischen) Gestaltungsrechten des Bürgers (in der Schweiz: den „Volksrechten“) besteht. Art. 1 GG, die Wahlrechte nach Art. 38 und die Grundrechte in und aus Art. 21 GG stehen in einer Gedankenkette zu Art. 20 GG. Zwar ist eine Konkordanzformel, die Art. 1 und 20 GG auf einen „Nenner“ brächte, noch nicht gefunden worden (und wohl auch nicht möglich, weil die Differenz von Individuum und Gemeinschaft bzw. verfasstem Gemeinwesen ein unaufhebbares, konflikterzeugendes Spannungsverhältnis konstituiert, dessen rechtliche Anerkennung für die neuzeitliche Staatlichkeit gerade charakteristisch ist). „Volk“ ist aber weder antigrundrechtliche noch antistaatliche Größe, sondern von vornherein grundrechtlich strukturiert und verfassungsstaatlich eingebunden; Grundrechte sind in einem tieferen Sinne auch „Volksrechte“ („Volksfreiheiten“). Punktuell wird der Zusammenhang von Volk und Menschenrechten schon angedeutet, z. B. in § 130 Paulskirchenverfassung (1849); s. auch Art. 1 S. 2 B.-Verf. Österreich (1920): „Ihr Recht geht vom Volk aus“; die Überschrift des Grundrechtsabschnitts der Verf. Japan (1946) formuliert: „Die Rechte und Pflichten des Volkes“.

e) Menschenwürde als (Maßgabe-)Grundrecht auf Demokratie Die „universal“ und kulturspezifisch umrissene „Kultur der Menschenwürde“ und die sie konkretisierende „Kultur der Freiheit“ entfalten deshalb unmittelbar demokratiebegründende Kraft. So oft, und in Deutschland besonders erfolgreich, Spielarten des Liberalismus, des Positivismus und das den Traditionen des „bourgeois“ bzw. den Leitbildern des dem deutschen Konstitutionalismus verpflichtete

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Denken die Demokratie als bloße „Staatsform“ von den Grundfreiheiten unpolitisch trennen wollen, so unmissverständlich muss heute der Zusammenhang zwischen Menschenwürde bzw. Grundfreiheiten und freiheitlicher Demokratie betont werden. Allerdings folgt daraus keine Präferenz für eine bestimmte Demokratieform. Vermutlich verstärkt sich aber im Verständnis von Einzelgrundrechten die demokratische Komponente in dem Maße, wie sich eine Verfassung (wie das Grundgesetz) allein auf die repräsentative Demokratieform festgelegt hat. Es wäre deshalb kurzschlüssig, die unmittelbare Demokratie als die „besonders“ menschenwürde-konforme zu bezeichnen, genauso wie es fragwürdig ist, die repräsentative Demokratie als die „eigentliche“ anzusehen. Auch eine „nur“ repräsentative Demokratie „genügt“ dem Postulat von der demokratiebegründenden Kraft der Menschenwürde. Menschenwürde als Recht auf politische Mitgestaltung (vgl. jetzt Art. 21 bis 24 Verf. Brandenburg) ist mit dieser Maßgabe ein Grundrecht auf Demokratie: Einerseits ist ihre demokratiebegründende Seite zu sehen; andererseits sind die Grundrechte dem Volk „zuzurechnen“. Die „Summe“ dieser Grundrechtsträger als Einzelmenschen bedeutet in einem ideellen Sinne auch eine Summe von Grundrechten, die das Volk im Verfassungsstaat konstituieren. Konsequenz ist ein entsprechendes Verständnis der Wahlrechte (z. B. aus Art. 38, 29, auch 33 GG) und Grundrechte auf demokratische Teilhabe: Sie sind – zumal im Verbund mit der politischen Dimension der Art. 5 und 8 GG (Meinungs-, Presse-, Versammlungs- und Demonstrationsfreiheit) – als „funktionelle Grundlage der Demokratie“ konkrete Ausformung der aktivbürgerlichen „Schicht“ der Menschenwürdeklausel. Es wäre z. B. auch ein Verstoß gegen die Menschenwürde, wenn einzelne Gruppen von Bürgern (etwa „die Alten“) von ihren Wahlrechten ausgeschlossen würden: Sie würden zum Objekt staatlichen Handelns (mit Auswirkungen auch im gesellschaftlichen Raum) und verlören ihre Identität als Person sowie die Fähigkeit zu sozialer, öffentlicher Kommunikation (auch Stimmenthaltung kann Identitätsfindung sein). Ungeachtet der textlich-redaktionellen Distanz: Die innere Verknüpfung von – auch politisch verstandener – Menschenwürde und den demokratischen Wahlrechten ist im Verfassungsstaat denkbar eng, sie liegt an seiner „Wurzel“. In diesem Geist textet Art. 1 Abs. 2 der neuen Verfassung von Paraguay (1992): „pluralistic democracy, which is founded on the recognition of human dignity“. In diesem Sinne heißt es im Dokument des Kopenhagener Treffens der Konferenz über die menschliche Dimension der KSZE vom 29. Juni 1990 (EuGRZ 1990, S. 239 ff.) unter I. Ziffer 5: „. . . unter den Elementen . . . die folgenden wesentlich für den umfassenden Ausdruck der dem Menschen innewohnenden Würde . . .: Freie Wahlen werden in angemessenen Zeitabständen abgehalten . . .“. In ähnlichem Sinne sagt Chapt. 2 Ziff. 7 Abs. 1 Verf. der Republik Südafrika (1996): „This Bill of Rights is a cornerstone of democracy in South Africa. It enshrines the rights of all people in our country and affirms the democratic values of human dignity, equality and freedom.“

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4. Grenzen der freiheitlichen Demokratie Die Grenzen des großen Kulturthemas „Demokratie“ seien wenigstens angedeutet. Sie zeigen sich an der Richtigkeit des Satzes von D. Sternberger: „Nicht alle Staatsgewalt geht vom Volk aus“. Doch bedarf es einer Verdeutlichung: Der Rechtsstaat, samt vielen Ausprägungen wie der Gewaltenteilung, der Unabhängigkeit der dritten Gewalt, dem Minderheitenschutz und vor allem der sog. „Ewigkeitsklausel“ z. B. des Art. 79 Abs. 3 GG, normieren eine Grenze für alle Demokratieformen. Gerechtigkeit und Recht (der „Rechtsstaat“) sind in ihren Kernbereichen für die sog. „Herrschaft des Volkes“ nicht verfügbar. Sie sind dem Volk als Kultur buchstäblich vorgegeben: „Herrschaft des Rechts“. Zugespitzt: Nicht alles Recht geht vom Volk aus, aber alles Recht ist von der Würde des Menschen her zu denken! Die Toleranzidee, der Minderheitenschutz, der reale Pluralismus (einschließlich aller Arten von Gruppen), die kulturelle Vielfalt – all dies kann nicht im Schema der Rousseau’schen Demokratie-Ideologie begriffen werden. Nicht alle Kultur geht vom Volk aus, um noch stärker zu provozieren. Eine Leistung des in vielen Generationen entwickelten Verfassungsstaates besteht gerade darin, viel „Recht“ dem Volk buchstäblich „vorzugeben“. Das Recht – Teil der Kultur – besitzt in vielen Ausprägungen keine demokratische Legitimation (z. B. die Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Ehe und Familie, die Kirchen, andere Religionsgesellschaften), wohl aber menschenrechtliche Zuordnung. Die Grenzen der freiheitlichen Demokratie sind gerade im Abwehrkampf gegen totalitäre Systeme als „Toleranzgrenze“ immer wieder notwendig geworden. Demokratie bzw. Wahlen und Abstimmungen sind keine Kompetenzen zur Beliebigkeit, sie haben „vorstaatliche“, vom Verfassungsstaat „nachgezogene“ Grenzen, von denen einige erwähnt worden sind. Darum das Wort von der Würde des Menschen als kulturanthropologischer „Prämisse“. III. Ausblick und Schluss Die Problemskizze sei hier abgebrochen, sie bleibt in vielem ein offener Fragenkatalog. Sie dient der These, die Menschenwürde sei im Verfassungsstaat die kulturanthropologische Prämisse, die pluralistische Demokratie sei ihre instrumentale organisatorische Konsequenz – die soziale (zunehmend auch ökologisch orientierte) Marktwirtschaft mit ihren wirtschaftlichen Freiheiten steht in gleichem Kontext, wegen ihrer Wohlstand schaffenden Kraft. Demokratie bleibt das große Ideal, ebenso wie die Menschenwürde bzw. die Menschenrechte (Menschenrechte und Demokratie als „Erziehungsziele“). Defizite sind selbst in entwickelten Verfassungsstaaten bei beiden Idealen allenthalben schmerzlich greifbar. Die Frage nach Voraussetzungen und Grenzen der Demokratie führte zu einigen Erkenntnissen, z. B. zu dem Satz: Nicht alles Recht geht vom Volk aus: „Allgemeine Rechtsgrundsätze“, rechtsstaatliche Prinzipien, die Menschenrechte, der Minderheitenschutz sind kulturelle Determinanten („Kon-Texte“), die sich dem Volk kulturell auferle-

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gen. Auch lebt der Mensch selbst (ja das Volk im Ganzen) nicht von Demokratie allein. Zu seiner „conditio humana“ gehören private Schutzzonen wie die Religionsfreiheit, Felder, Aktivitäten, emotionale Ressourcen, die gerade nichts mit Demokratie zu tun haben (wollen) – das hat die Demokratisierungsbewegung der 68er Jahre verkannt. Kulturelle Identität der Bürger und der Völker, auch Europas ist nur zum Teil ein Werk der Demokratie. Mit Absicht sei die hier gewählte Methode erst am Schluss zur Gänze offengelegt: es ist die kulturwissenschaftlichrechtsvergleichende (Stichwort: die Verfassung als Kultur, Relevanz der kulturellen Kontexte und Textstufen). Sie erst kann m. E. vorletzten Grund und Gründe für den Verfassungsstaat erschließen, sie erst vermag zu erklären, dass und wie Menschenwürde und pluralistische Demokratie zusammenhängen: sie sind konstitutionelles Programm und ein Stück weit auch immer Utopie, wie alle Ideale des Verfassungsstaates ein Gran Utopie bleiben, so viel Wirklichkeit er heute besitzt und prägt, europa-, ja weltweit.

Das Grundrecht der Gewissensfreiheit – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Bern am 2. und 3. Oktober 1969* Ich möchte die Frage aufwerfen, ob beide Herren Referenten in ihrer Problemstellung nicht allzu eindimensional argumentiert haben, nämlich nur innerhalb des Verhältnisses individuelle Gewissensfreiheit des einzelnen (isolierten) Gewissens hier gegenüber dem Staat dort. Damit ist eine Komponente übersehen, die sowohl historisch aktuell war (als Religionsfreiheit, Schutz konfessioneller Minderheiten) als auch heute zum Beispiel bei den Kriegsdienstverweigerungsverbänden aktuell ist, nämlich die demokratieentsprechende pluralistische Komponente: der Gedanke, dass die „Sache Gewissensfreiheit“ (Bäumlin) sozial – früher wie heute – auf ein Gruppengrundrecht deutet, insofern der Einzelne mit und in seinem Gewissen nicht nur für sich allein steht sondern der Einbettung in und der Organisation durch, Gruppen bedarf – zur Gewissensbildung. Das bedeutet: wir müssen stärker die pluralistische Komponente der Gewissensfreiheit sehen, zumal in einer offenen Demokratie – Gewissensfreiheit ist (auch) ein demokratisches, öffentliches Grundrecht par excellence. In dem Maße, wie die Religionsfreiheit ein korporatives Grundrecht war, könnten heute zum Beispiel die Kriegsdienstverweigerungsverbände, die in und außerhalb der Bundeswehrkasernen werben, möglicherweise auf einem speziellen Gebiet im Rahmen der „Sache Gewissensfreiheit“ eine Funktion übernommen haben, die früher die Kirchen hatten – was übrigens zugleich für das Verständnis der Gewissensfreiheit als Freiheit des Einzelnen auch zur aktiven Gewissensbetätigung spricht. Dementsprechend müsste sich die Position solcher Gruppen im allgemeinen, außerstaatskirchenrechtlichen Bereich verstärken. (...) Wir gehen doch an der gegenwärtigen sozialen Wirklichkeit – die eine demokratisch pluralistische ist – vorbei, wenn wir nicht sehen, dass es zur Entfaltung der individuellen Gewissensfreiheit der Religionsgesellschaften usw. bedarf, dass heute die individuelle Gewissensfreiheit auf diese und andere Pluralgruppen angewiesen ist (und umgekehrt). Symptomatisch für die Verkennung dieser Zusammenhänge ist es, wenn jüngst in einem Leitartikel von „Christ und Welt“ gegen die Kriegsdienstverweigerungsorganisationen und ihre Werbung polemisch negativ geschrieben wurde, sub titulo: das „organisierte Gewissen“. Als ob die Kirchen (zu Recht) nicht ihrerseits „organisiert“ hätten! * VVDStRL 28 (1970), S. 110 ff.

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(...) Im Übrigen darf ich angesichts der von verschiedenen Seiten erfolgten Interventionen und Fragen zu dem von mir angeschnittenen Problemkreis – Gruppenbezug, korporative Seite der Gewissensfreiheit – folgendes präzisieren: Die „Sache Gewissensfreiheit“ – als Stück sozialer Wirklichkeit – lässt sich nicht voll umschreiben, wenn die Gewissensfreiheit ausschließlich als höchstpersönliches Grundrecht konzipiert wird. Gewissensfreiheit kommt ohne überindividuelle Bezüge nicht aus. Das ist kein Plädoyer für das Gewissen eines Kollektivs, wohl aber sollte deutlich werden, dass das individuelle Gewissen von vornherein in überindividuellen Bezügen steht, dass es von ihnen geprägt und in ihnen gebildet wird. Dem heutigen zunehmenden Abbau des Staatskirchenrechts und den Erosionen, denen dieses durch Art. 4 GG ausgesetzt ist (zumal in der Rechtsprechung des BVerfG), sollte eine verstärkte Einbeziehung pluralistischer Gruppen in den Schutzbereich des Art. 4 GG entsprechen. Das könnte insbesondere in Fällen des Engagements, der „Werbung“ solcher Gruppen für und in bestimmten Gewissensfragen relevant werden (z. B. Verstärkung des Art. 5 Abs. 1 und 2 durch Art. 4 Abs. 3 GG). So ist sehr wohl zu erwägen, ob mit Hilfe einer Korrektur der eindimensionalen Sicht Staat – Individuum durch die Einbeziehung der Pluralgruppen auf lange Sicht eine Art institutionelle Garantie grundrechtlich geschützter privater und öffentlicher Gewissensfreiheitspositionen der Gruppen anzuerkennen ist, überspitzt formuliert sozusagen ein „Staatskirchenrecht der Gruppen“ – nur eben im Bereich des Art. 4 in Verbindung mit Art. 5, 8 und 9 GG. Jedenfalls müsste überdacht werden, ob die Gewissensfreiheit nicht stärker auch als gruppenbezogenes Grundrecht anzusehen ist. Verfassungs- und problemgeschichtlich war die Religionsfreiheit ein gruppenbezogenes Grundrecht (s. noch jetzt Art. 137 Abs. 2, 7 WRV i. V. mit Art. 140 GG). Dem soziologisch bedingten „Schwund“ der Bedeutung der Religionsfreiheit in der modernen pluralistischen Demokratie dürfte und sollte eine Verstärkung des Gruppenbezugs, der korporativen Seite der Gewissensfreiheit im weltanschaulichreligiös neutralen Staat gegenüberstehen. Dies um so mehr, als die „Sache Gewissensfreiheit“ in einem spezifischen Bezug zur Demokratie und ihren Gemeinwohlinhalten und -prozeduren steht (z. B. Art. 38 Abs. 1 9 S. 2, Art. 56 GG, Minderheitenschutz). Das öffentliche Interesse (bzw. Gemeinwohl) kollidiert nicht nur mit den Gewissenspositionen (dazu die Thesen Bäumlins unter 6. 3. 1. und 3.); es wird vielfach gerade über die Gewissensfreiheit gesucht und „gefunden“ – weil das Gemeinwohl in der Demokratie eine offene Größe ist.

„Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Verfassungsvergleich* Einleitung Parteien sind Gruppen, die ihr „Machtstreben am Gemeinwohl zu legitimieren suchen“ – dieses Wort von W. Grewe aus der Festschrift für E. Kaufmann (1950) ist ein – bestreitbarer – „Klassikertext“. Schon allein er rechtfertigt die heutige Tagung, die dem Gemeinwohl vor allem im Parteienrecht nachgeht. Indes ist das der Tagungsleitung zu dankende, von ihr mir anvertraute Thema weiter, auf eine Weise tiefer, jedenfalls allgemeiner. Bei der Niederschrift dieser Zeilen konnte ich den bisherigen Tagungsertrag in der Heine-Stadt Düsseldorf natürlich nicht erahnen; auch verfüge ich als Schwabe kaum über den bissigen, aber oft genialen Widerspruchsgeist des „Patrons“ der Universität. Doch will ich verfassungsvergleichend-national-europäisch-regional und z. T. weltweit meine späten Wege suchen. Dabei soll eine typologisch strukturierte Bestandsaufnahme im längeren Ersten Teil gewagt werden, der kurze Zweite Teil gilt dem Theorierahmen im Umriss. Vorweg jedoch einige Grundsatzüberlegungen. Das Gemeinwohl und synonym die „öffentlichen Interessen“ erleben derzeit in vielen Wissenschaften und Literaturgattungen eine „Renaissance“: in Festschriften, Kolloquiumsbänden, großen Akademie-Handbüchern, aber auch in Monographien und Aufsätzen widmen sich ihnen die Rechtswissenschaften gerade in unseren Tagen1. Das war nicht immer so bzw. vor einer Generation etwas anders. Wohl im Gefolge der sonst recht fragwürdigen „68er Generation“ kam es um 1969 / 70 zu größeren Habilitationsschriften zum Thema, z. T. im Kontext mit der Öffentlichkeit, die J. Habermas (1965), nach R. Smend (1955) ihre Wiederentdeckung verdankt. Gerungen wurde 1970 um das „Öffentliche Interesse als juristisches Problem“ aus dem positiven konkreten Rechtsstoff der Gesetze und Urteile, nicht primär aus der Tiefe der Geistes- und Begriffsgeschichte. Ein Ertrag dürfte der betont kompetenzielle, pluralistische, prozessuale Ansatz sein („salus publica ex processu“). Von den Politikwissenschaften her wirkte E. Fraenkel für das pluralistische Gemeinwohlverständnis als Wegbereiter. Die Offenheit und Öffnung war ein Leitmotiv, so wie auch auf ande* Erschienen in: M. Morlok / U. v. Alemann / H. Merten (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, Baden-Baden, 2008, S. 240 ff. Der Beitrag geht zurück auf einen Vortrag, den der Verfasser im Jahre 2006 in Düsseldorf gehalten hat. 1 Nachweise in P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 2. Aufl. 2006, S. 768 ff.

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ren Feldern: Man denke etwa an „Alternativ-Entwürfe“ im Strafrecht oder an die verfassungstheoretische Erarbeitung der „Opposition“ im Parlamentsrecht, auch an die Entdeckung des Demonstrationsrechts in der Praxis und im Recht des Verfassungsstaates (Art. 8 lit. g Verf. Kanton Jura von 1977). Das Thema hatte, wenn in der wahrheitsverpflichteten Wissenschaft solches zu sagen erlaubt ist, „Konjunktur“. Nur der „Weltgeist“ weiß, warum all dies gerade hier und jetzt geschieht. Blickt man auf die Gegenwart, so glaubt man einen neuen „Gang“ im „Konjunkturzyklus“ des Themas erkennen zu können. Nach „Gemeinwohl“ wird heute wohl gefragt, um national Halt zu gewinnen, sich bestimmter Grundwerte des politischen Gemeinwesens in der globalisierten Welt zu versichern. Man sucht nach „Grund und Gründen“. Darum wohl auch der fast weltweite Erfolg des sog. „kulturwissenschaftlichen Ansatzes“, wobei freilich schon 1983 ein „Kulturgespräch“ über das Gemeinwohl gefordert worden war2. Die offene Gesellschaft K. R. Poppers bedarf der kulturellen Grundierung, heute könnten das Gemeinwohl bzw. seine Teil- und Nachbarbegriffe wie „Staatsaufgaben“ (etwa des Umweltschutzes, „nachhaltige Entwicklung“, Altenschutz) oder „Grundwerte“ dazu dienen. Im Folgenden kann das interdisziplinäre Gespräch allenfalls eröffnet, nicht selbst geführt werden. Das übersteigt die Möglichkeiten. „Gemeinwohl“ gehört zu „Schlüsselbegriffen“ wie (soziale) Gerechtigkeit, Solidarität, Würde des Menschen so genannter „Wahlsprüche“ vor allem in afrikanischen Verfassungen (z. B. Art. 4 Verf. Äquatorial Guinea von 1991: „Einheit – Friede – Gerechtigkeit“). Es gehört in den Kontext des Ensembles von „Grundwerten“, hat eine Jahrtausende alte (Vor-)Geschichte („Herkunft“) und gewiss eine Zukunft im „Typus Verfassungsstaat“ der heutigen Entwicklungsstufe – so wie dieser selbst Zukunft hat. Da von einem deutschen Autor bzw. Redner gewiss auch Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ (J. Esser) verlangt wird, die Methoden jedenfalls bewusst gemacht werden müssen, hier noch einige Worte dazu. Im Folgenden wird im Geiste des „Textstufenparadigmas“ gearbeitet. 1989 entwickelt, meint es Folgendes: Die neuen Verfassungen greifen oft Themen, Problemfelder und Begriffe auf, die sich in bisheriger Verfassungswirklichkeit entwickelt haben: im eigenen Land oder im Nachbarland, mitunter sogar auf anderen Kontinenten. Verfassungstexte werden, um ein Schweizer Wort für die Bundesverfassung von 1999 zu gebrauchen, „nachgeführt“. Hinzu kommt der weltweite Produktions- und Rezeptionszusammenhang mit vielen Akteuren in Sachen Verfassungsstaat. Dabei geht es um die Trias von Texten, Theorien (Wissenschaft) und Praxis (vor allem der Judikatur). So haben z. B. viele neuere Verfassungen die Judikatur des BVerfG in dessen „FernsehUrteilen“ seit 1961 (Stichworte: Unabhängigkeit vom Staat, Pluralismus der Medien, Repräsentanz) auf Verfassungstextbegriffe gebracht. So knüpfen manche Verfassungstexte an die Rechtsprechung zu den politischen Parteien an, etwa an das Sendezeiten-Urteil des BVerfG (Art. 39 Verf. Portugal von 1976 / 92). So übernehmen die im Ganzen höchst innovativen Schweizer Kantonsverfassungen seit 2 P. Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.

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1968 manche deutsche Begriffe und Theorien, auch wenn die Schweizer dies nicht so gerne hören wollen: etwa in Sachen Wesensgehaltschutz der Grundrechte (Verbindung „absoluter“ mit sog. relativen Elementen, vorbildlich Art. 28 Verf. Bern von 1993). Die Beispielsliste könnte fortgeführt werden, muss hier aber genügen. Da der Verfasser bzw. Redner nicht diese Verfassungswirklichkeit vieler Länder oder gar weltweit aller Länder studieren kann, muss im Folgenden der Blick auf den Verfassungsvergleich der Texte beschränkt werden, freilich im Wissen darum, dass in sie, wie gezeigt, oft auch ältere Vorgänge und Themen benachbarter oder sogar eigener Wirklichkeit „eingeflossen“ bzw. in ihnen „geronnen“ sind. „Lumpensammler“ nennt man den letzten Zug, der die Besucher Stuttgarts am Abend in die „Provinz“ zurückfährt. Spreche ich darum heute am Schluss? Kaum, denn Düsseldorf ist nicht Stuttgart, Bayreuth nicht Göppingen. Oder hat sich der Tagungsregisseur M. Morlok gewünscht, das Schlussreferat solle die reichen Ergebnisse seiner Tagung zusammenfassen? Das könnte nur ein „Weltgeist“ – oder ein Journalist – leisten. Denn hier müsste viel gelingen. Zu fragen wäre, wie das Gemeinwohl in einzelnen Ländern verschieden, arbeitsteilig durch unterschiedliche Akteure (in der Schweiz auch direkt durch das Volk) erarbeitet wird: durch politische Parteien, durch wissenschaftlichen Sachverstand, welche Rolle das „Selbstverständnis“ dabei spielt, welche Rolle die Verbände spielen, aber auch – nicht zu vergessen – freilich heute nicht in einem eigenen Referat thematisiert – auch die Bürger – via Grundrechtsausübung und politischer Beteiligung. Bei all dem wären die Klassiker des Parteienrechts zu befragen: von G. Leibholz über K. Hesse und W. Henke bis zu D. Tsatsos. Auch wechselseitige Verständnisse und Missverständnisse zwischen Politikwissenschaft und Verfassungsrechtslehre wären beim Namen zu nennen. Wer könnte all dies leisten? Etwa auch Fragen des Mehrheitsprinzips beantworten, anders als F. Schiller: „Nicht Stimmenmehrheit ist des Rechtes Probe . . .“ . Das mir zugedachte Thema lautet: „Die Rechtskultur der Gemeinwohlbestimmung im internationalen Vergleich“, vielleicht ein „Altersthema“. Während ein „Kulturgespräch über das Gemeinwohl“ schon 1983 geführt ist3, wurde, soweit ersichtlich, bislang „Rechtskultur“ und „Gemeinwohl“ noch nicht genügend zusammengedacht. Darum zunächst ein Wort in Sachen „Rechtskultur“, sodann Fragen des Zusammenhangs von „Rechtskultur“ und „Gemeinwohl“. Heute ein zunehmend verwendeter Begriff, 1994 im Blick auf die „europäische Rechtskultur“ konkretisiert, ist „Rechtskultur“ ein „Synthesebegriff“: ihn zu umschreiben ist nicht leicht. Gegenüber seinen Einzelelementen meint er wohl etwas Neues, Übergreifendes. Er verbindet die umschriebene „Kultur“ mit dem erwähn3 Dazu P. Häberle, Die Gemeinwohlproblematik in rechtswissenschaftlicher Sicht, in: Rechtstheorie 14 (1983), S. 257 ff.

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ten „Recht“. Ohne Weiteres spürbar ist der immanente Verweis auf etwas Gewachsenes, auch auf tiefere „Geltung“. Grundwerte sind angesprochen, die Nähe zur „Gerechtigkeit“ liegt auf der Hand. Ehe wir um eine Theorie der Rechtskultur ringen, vielleicht einige konkrete Beispiele: Im Blick auf die europäische Rechtskultur lassen sich mindestens sechs Elemente ausmachen: weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates, Wissenschaftlichkeit des Rechtes, neben dem Partikularen auch Horizonte des Universalen (Menschenwürde und Menschenrechte), Rechtsstaatlichkeit (vor allem Unabhängigkeit der Rechtssprechung) und pluralistische Demokratie, Vielfalt und Einheit.4 Ein Brückenschlag, etwa zu ganz Asien, ganz Afrika oder ganz Lateinamerika ist mir nicht möglich. Ich greife nur meine Theorie des „Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts“ (2001) heraus, parallel zum Gemeineuropäischen Verfassungsrecht von 1991 entwickelt (darauf später Bezug nehmend der Terminus „Gemeinislamisches Verfassungsrecht“ (E. Mikunda)). In Afrika deutet die vorbildliche Verfassung Südafrikas von 1997 auf eine werdende Rechtskultur moderner Verfassungsstaatlichkeit, und aus Lateinamerika seien Stichworte für Peru und Mexiko genannt. Beispiele sind: Ombudsmann, Schutz der Eingeborenenkulturen, Kampf gegen Analphabetismus. Das Völkerrecht lebt ebenfalls aus „Rechtskultur“: Man denke an seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“. Freilich sind hier die Gefährdungen und Defizite besonders groß, weil das Machtmoment einzigartig hinzu kommt. Ein Staat kann das feine Netz der Rechtskultur des allgemeinen Völkerrechts jäh zerreißen. Überdies ist die Staatenwelt so vielfältig, dass rechtskulturelle Bindeglieder noch schwieriger zu „entwickeln“ sind. Abgesehen davon gibt es das sog. „Entwicklungsvölkerrecht“. „Rechtskultur“ sollte nicht nur auf Europa oder Amerika beschränkt werden. Auch islamische und afrikanische sowie asiatische Staaten haben Anspruch darauf, in die Horizonte rechtskulturellen Denkens einbezogen zu werden. Gewiss können wir von der europäischen Rechtskultur auch für den Vergleich mit Ländern in Übersee viel lernen, doch zeigt sich auch Fremdes, ganz anderes. Ein Wort zu den islamischen Staaten. Sie – und wir – stehen heute vor der Frage, ob und inwieweit sie „demokratiefähig“ sind, ob sie Toleranz – bis zu welchen Grenzen? – lernen können. Wir, unsere europäische Rechtskultur muss sich die Frage gefallen lassen, ob wir wissen, wie wir mit diesen Ländern umgehen sollen. Nimmt man die Verfassungstexte islamischer Staaten als ersten Zugangsweg, auch Entwürfe wie etwa für den Sudan, sowie geltende Texte wie – neu – Afghanistan und den Irak, so lässt sich kaum bezweifeln, dass sie „Rechtskultur“ dokumentieren: die Anrufung Gottes, des „Barmherzigen“, die Regeln für das gute Zusammenleben, die von ihnen legitimierten Gremien, die Tendenz zu Rechtsprechung – all das kann das Prädikat 4

P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994.

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Rechtskultur in Anspruch nehmen, legt man die soeben genannten Kriterien zugrunde. All dies ist „gereift“, aus einer Offenbarung des Islam entstanden. Freilich: Wir haben Mühe mit der Anordnung, dass die „Scharia“ oberste Rechtsquelle sein soll. Hier steht dann „Verfassung“ in unserem Verständnis gegen das „Gottesgesetz“. Ein sehr charakteristisches Moment verfassungsstaatlicher Verfassungen, der „Vorrang“ der (weltlichen – säkularen) Verfassung gilt nicht. Hatten die Azteken eine „Rechtskultur“? Gewiss! Bekanntlich hat sie ein Deutscher erforscht (J. Kohler). Fragen über Fragen, die hier nur angedeutet seien. Verträgt sich die türkische mit der europäischen Rechtskultur? Neu ist die Frage, ob und wie das Gemeinwohl, die Pluralität seiner Inhalte und Verfahren, die Vielfalt seiner nationalen Erscheinungsformen und Funktionen, Bestandteil der Rechtskultur sind. Ausweislich der Geschichte und des positiven Rechts auf Verfassungs- und Gesetzesstufe kann dies sicherlich für die europäische Rechtskultur bejaht werden. Indes wäre zu fragen, ob es nationale Rechtskulturen gibt, die ganz oder teilweise auf das „Gemeinwohl“ (z. B. in Verfassungstexten) verzichten (können), oder solche, die es abundant (warum?) verwenden. Da das Gemeinwohl meist Teil der „Verfassungskultur“ (ein Begriff aus dem Jahre 1982) ist, heute aber von „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ gesprochen wird, ist zu vermuten, dass das Gemeinwohl bzw. seine Parallel- und Ersatzbegriffe auch im Völkerrecht und zuvor im Europarecht auftauchen. Diese Fragen wurden schon vor geraumer Zeit erörtert5. Die Bestandsaufnahme ringt um eine Typologie der Erscheinungsformen von Gemeinwohlklauseln im internationalen Verfassungsvergleich – all dies nur tendenziell, denn nur eine zweite Habilitationsschrift könnte solches leisten. I. Bestandsaufnahme – Gemeinwohltypologie im heutigen Konstitutionalismus Vorbemerkung Im Folgenden seien zwei Wege zur Erforschung der neueren Gemeinwohlklauseln in verfassungsstaatlichen Verfassungen begangen. Zum einen seien besonders profilierte Länder bzw. Verfassungen ausgewählt, die es verdienen im Ganzen dargestellt zu werden und die aus sehr verschiedenen Himmelsrichtungen stammen: nämlich Thailand, als Beispiel aus Asien, Niger aus Afrika sowie als Beispiele für einen islamischen Staat Afghanistan oder der Irak und ein Entwurf aus Somalia und dem Sudan. In Form eines „Inkurses“ seien die drei deutschsprachigen Länder Österreich, die Schweiz und Deutschland auf Gemeinwohlklauseln hin abgesucht. Die gemeinsame Sprache könnte auch auf eine gemeinsame Rechtskultur in Sa5 Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl. 2001 / 2002, S. 369 ff.; ders., Öffentliches Interesse als juristisches Problem (1970), 2. Aufl. 2006, S. 777 ff.

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chen Gemeinwohl deuten. Angesichts der seit 1989 intensivierten wechselseitigen Produktions- und Rezeptionsprozesse in Sachen Verfassung, ihrer Texte, Theorien und ihrer Praxis kann es freilich sein, dass es viele Parallelen, Analogien und Annäherungen beim textlichen Einsatz des Gemeinwohls bzw. öffentlichen Interesses und seiner Ersatz- bzw. Nachbarbegriffe gibt. So darf dem zweiten Ansatz besondere Aussagekraft zukommen. Er ringt um eine, vielen Verfassungen gemeinsame Gemeinwohltypologie (Stichwort: Gemeinwohl als Staatsaufgabe, als Grenze von Grundrechten, als Direktive für Eide von Amtsträgern, als Titel für den Staatsnotstand und ausnahmsweise Gemeinwohl als allgemeine Pflicht für den Bürger (Grundpflicht), aber auch als Legitimation für einzelne seiner Grundrechte (so bei der Freiheit der Massenmedien in Paraguay)). Der Ehrgeiz besteht (nur) in der Erarbeitung einer Typologie des Auftretens des Gemeinwohls in neueren Verfassungstexten. Die „Gemeinwohljudikatur“ des BVerfG aus 55 Jahren wurde erst jüngst wieder nachgezeichnet. Wegen der älteren Analyse darf auf meine früheren Untersuchungen verwiesen werden6. Erlaubt sei das hier und heute einzige Hegel-Zitat, Philosophie sei ihre „Zeit in Gedanken gefasst“. Darum darf man sich als Verfassungsjurist freuen: Das Gemeinwohl und seine Teil- und Nachbarbegriffe beflügeln, inspirieren oder beeindrucken auch die neuen Verfassunggeber: in der Schweiz ebenso wie in Lateinamerika, in Afrika ebenso wie in Osteuropa. Unser „Verfassungszeitalter“ seit dem „annus mirabilis“ 1989 lässt vermuten, dass die Verfassunggeber ohne diesen Leitbegriff nicht auskommen. Wie sie arbeiten und ob auch das Gemeinwohl im Parteienrecht „auftaucht“, sei im Folgenden dargestellt. Dass Letzteres hoffentlich wohl eher nicht der Fall ist, liegt nahe, weil die politischen Parteien ja gerade um das Gemeinwohl „ringen“, es nach ihrer Art, ihrem eigenen „Selbstverständnis“ definieren wollen, es im „Kräfteparallelogramm“ der Auseinandersetzungen und im Austausch der Argumente suchen, finden, auch verfehlen und ggf. kompromisshaft umschreiben wollen. Vorweg sei gesagt, dass – dem ähnlich – das Gemeinwohl auch im Kontext der Freiheit fragwürdig sein könnte – weil Freiheit des Einzelnen und der Gruppen gerade nicht als vorgefasstes, „vorgegebenes“ Gemeinwohl determiniert sein kann – allenfalls als Grenze mag es selbst im Rechtsstaat auftauchen (besonders bei der Grenze der Grundwerte). Dass das Gemeinwohl im Völkerrecht erscheint, sei vorausgeschickt – dies ist naheliegend angesichts der „Konstitutionalisierung des Völkerrechts“ in unserer Zeit. Im Strafrecht dürfte es wegen des Satzes „nulla poena sine lege“ kaum vorkommen, im Zivilrecht nur als Grenze z. B. der Privatautonomie („ordre public“). Dass es im Europäischen Verfassungsrecht auftaucht, sei schon vorweg vermutet. Denn dieses „neue“ Gebiet, das auf eine „europäische Republik“ der Vielfalt hin tendiert7, ist ja schon eine „Verfassungsgemeinschaft“ eigener Art. Und alles, was 6 P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem (1970), 2. Aufl. 2006, S. 774 ff. bzw. ders., „Gemeinwohljudikatur“ . . . , AöR 95 (1970), S. 86 ff., 260 ff. 7 Dazu der Verf. schon in der 1. Aufl. seiner Europäischen Verfassungslehre, 2001 / 02, S. 34 f.

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mit „Verfassung“ zu tun hat, führt an einer oder mehrerer „Stelle“ auch zum Quellgebiet des Begriffs bzw. der Sache „Gemeinwohl“. 1. Ein „Querschnitt“ – weltweit Im Ersten Teil sei der Versuch unternommen, den mannigfachen „typischen“ Erscheinungsformen von Gemeinwohlklauseln in weltweit möglichst vielen Verfassungen nachzuspüren. Dabei sollen absichtlich sehr heterogene Länder verglichen werden, denn es wäre ein erstaunliches Ergebnis, wenn trotz der vier Himmelsrichtungen Nord und Süd, West und Ost über Kontinente8 hinweg das Gemeinwohl bzw. öffentliches Interesse und deren Nachbar-, Parallel- oder Ersatzbegriffe an bzw. in vergleichbaren Problemfeldern aufträten und gemeinsame „Nenner“ hätten. Damit wäre ungeachtet der in Raum und Zeit unterschiedlich bleibenden Konkretisierung durch (nationale) Gesetzgebung, Verwaltung und Rechtsprechung („Gemeinwohljudikatur“) der Beweis erbracht, dass das Gemeinwohl, bei allen Varianten, integrierender, unverzichtbarer Bestandteil des heutigen Konstitutionalismus ist: so wie etwa der „Vorrang der Verfassung“ oder die Gewaltenteilung, vielleicht auch der Ombudsmann und eines Tages die „Wahrheitskommission“. Ein alteuropäischer Topos seit der Antike offenbarte einen klassischen und neueren Stellenwert. Dabei kann freilich der sog. „freie“ – nicht an Texte gebundene – Einsatz des öffentlichen Interesses9 vor allem durch die Judikatur hier und heute nicht erarbeitet werden: das überforderte die Leistungskraft eines einzelnen Wissenschaftlers, sogar die des „Google“ – sofern ihn nicht ein neuer Aristoteles programmiert hätte. Vorweg: Bemerkenswert ist, dass auch die Verfassungen der neuen Bundesländer in Deutschland alte und neue Texte in Sachen öffentliches Interesse bzw. Gemeinwohl oft verwenden (z. B. als Vorbehaltsschranke beim Recht auf Akteneinsicht nach Art. 21 Abs. 4 Verf. Brandenburg von 1992, s. auch Art. 6 Abs. 2 Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993, Art. 34 Verf. Sachsen von 1992 in Sachen Umweltdaten, Art. 6 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt von 1992), sodann bei der Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums (Art. 41 Abs. 2 Verf. Brandenburg), bei kommunalen Gebietsänderungen (ebd. Art. 98 Abs. 1 sowie Art. 92 Abs. 1 Verf. Thüringen von 1993), bei parlamentarischen Untersuchungsausschüssen (z. B. Art. 34 Abs. 1 Verf. Mecklenburg-Vorpommern), bei der Verpflichtung der Verwaltung auf das „Wohl der Allgemeinheit“ (Art. 82 Abs. 1 Verf. Sachsen), beim Amtseid der Mitglieder der Landesregierung (Art. 66 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt), bei 8 Die lateinamerikanischen Verfassungen sind zit. nach L. Lopez Guerra / L. Aguira (coord.), Las Constituciones de Iberoamerica, 1998; die osteuropäischen nach H. Roggemann (Hrsg.), Die Verfassungen Mittel- und Osteuropas, 1999; die „Verfassungen der frankophonen und lusophonen Staaten des subsaharischen Afrikas“ nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), 1997. 9 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1. Aufl. 1970, S. 328 ff.

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der Enteignung (Art. 34 Abs. 3 Verf. Thüringen). Die Präambel Verf. Brandenburg postuliert, das „Wohl aller zu fördern“. Schon die alten Bundesländer nach 1945 hatten das Gemeinwohl „beschworen“ (z. B. Art. 3 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern von 1946, Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz von 1947, Art. 43 Abs. 1 Verf. Saarland von 1947). Der Begriff war offenbar nicht dauerhaft diskreditiert: weder durch den Missbrauch in der NS-Zeit („Gemeinnutz geht vor Eigennutz“), noch durch den seitens der SED-Diktatur in Ostdeutschland. Die in den Reformverfassungen Osteuropas weit verbreiteten Klauseln zum politischen Pluralismus (z. B. Art. 11 Abs. 1 Verf. Bulgarien (1991), Art. 3 Verf. Albanien (1998)) dürften auch auf das Gemeinwohlverständnis ausstrahlen: i.S. einer „Verfassung des Pluralismus“ und eines pluralistischen Gemeinwohls. a) Eidesklauseln In diesem Problembereich treten Gemeinwohlklauseln herkömmlich10 und aktuell besonders häufig auf, sei es bezüglich hoher Amtsträger, sei es im Blick auf andere Personen, die in die Pflicht genommen werden. Offenbar genügt die bloße Verpflichtung auf Verfassung, Recht und Gesetz, auch Gerechtigkeit nicht, da sich der gesamte Amtsauftrag (man denke an Präsidenten, Regierungsmitglieder und Parlamentarier) nicht gänzlich verrechtlichen lässt. Das Gemeinwohl erinnert hier an Gestaltungsspielräume („Ermessen“) meist politischer Art. Beispiele sind neben den Eidesklauseln im deutschen GG: Art. 103 Verf. Türkei (1982): „im Geiste der Wohlfahrt der Nation“11, Art. 53 Verf. Benin (1990): „allgemeines Interesse“, „Sicherung und Förderung des Gemeinwohls“ seitens des Präsidenten (ähnlich Art. 68 Verf. Burundi von 1992: „oberste Interessen der Nation“), Art. 12 Abs. 8 Verf. Irland von 1937, s. auch Art. 12 Verf. Gabun (1991 / 94), Art. 37 Verf. Mali (1992), Art. 64 Verf. Togo (1992), Art. 88 Abs. 3 Verf. Albanien (1998): Präsidenteneid: „Interesse der Allgemeinheit“, s. auch Art. 76 Abs. 2 Verf. Bulgarien (1991): „Interessen des Volkes“, Art. 71 Verf. Georgien (1995): „Wohl der Bürger“, Art. 40 Verf. Lettland (1921 / 1998): „Wohlergehen des Staates Lettland und seiner Einwohner“, Art. 33 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975). Art. 38 Verf. Bremen verlangt den Eid der Mitglieder des Senats auf das Wohl der Freien und Hansestadt. Art. 60 Verf. Indien (1949) richtet den Eid auf: „Well-being of the people“.

10 Ein Beispiel aus der Geschichte: Art. 20 Verf. Albanien (1925), zit. nach JöR a.F. 14 (1926), S. 487 ff.: im Blick auf den Abgeordneteneid („allgemeines Wohl“); Art. 58 Verf. Jugoslawien (1921), zit. nach JöR a.F. 11 (1922), S. 200 ff.: Königseid („Wohl der Nation“). – Ein Beispiel aus der deutschen Verfassungsgeschichte: § 25 Verf. Bayern (1818) für die Mitglieder der Ständeversammlung, zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1, 1961, S. 153. Ebenso § 69 Verf. Baden (1818), a. a. O., S. 167. 11 Zit. nach JöR 32 (1983), S. 552 ff.

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b) Grundrechtsschranken Bei der Begrenzung grundrechtlicher Freiheit figuriert das Gemeinwohl bzw. öffentliche Interesse querbeet als traditionsreicher Titel. Das zeigt sich schon klassisch beim Eigentum bzw. der Enteignung seit 178912 (Art. 42 Abs. 3 Verf. Italien, Art. 33 Abs. 3 Verf. Spanien, Art. 35 Verf. Liechtenstein, Art. 17 Abs. 2 Verf. Griechenland, Art. 29 Abs. 3 und Art. 76 lit. b Verf. Äquatorial-Guinea von 1991)13, aber auch bei anderen Grundrechten14. Beispiele finden sich in Art. 56 Verf. Kongo (1992): Einschränkungen im Interesse des „allgemeinen Wohlergehens in einer demokratischen Gesellschaft“, Art. 34 Abs. 2 Verf. Angola (1992): Einschränkungen des Streikrechts in bestimmten Bereichen „im Interesse der unaufschiebbaren Bedürfnisse der Gesellschaft“, Art. 52 Abs. 1 Verf. Angola: Grundrechtseinschränkungen u. a. „im Interesse der Allgemeinheit“, Art. 38 Verf. Burundi (1992): Einschränkungen „im Interesse des allgemeinen Wohlergehens in einer demokratischen Gesellschaft“, ebenso Art. 56 Verf. Republik Kongo (1992). Art. 13 Abs. 1 Verf. Türkei (1982) nennt unter den grundrechtsbeschränkenden Gütern u. a. das „öffentliche Wohl“. Art. 17 Abs. 1 Verf. Albanien erlaubt die Beschränkungen der Rechte und Freiheiten „wegen eines öffentlichen Interesses“. Schließlich verordnet § 32 Abs. 3 Verf. Estland (1992) eine Begrenzung des Eigentums auf estnische Staatsbürger im Allgemeininteresse. Besonders intensiv und weitgehend normiert schon Art. 151 Abs. 1 Verf. Bayern (1946): „Die gesamte wirtschaftliche Tätigkeit dient dem Gemeinwohl“ (s. auch Abs. 2 Satz 3: „sittliche Forderungen des Gemeinwohls“). Art. 34 Abs. 1 Verf. Taiwan (1991)15 erlaubt die Einschränkung der Freiheiten und Rechte u. a., wenn dies wegen des „öffentlichen Wohls“ geboten ist. Art. 30 Verf. Kwazulu Natal (1996)16 verlangt für Grundrechtseinschränkungen ähnlich „Gründe öffentlichen Interesses“.

12 Ein Beispiel aus der Geschichte: Art. 99 Abs. 1 Verf. Polen (1921), zit. nach JöR a.F. 12 (1923 / 24), S. 300 ff. – Ein Beispiel aus der Geschichte des deutschen Frühkonstitutionalismus: § 14 Verf. Baden (1818), zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente, a. a. O., Bd. 1 (1961), S. 158; § 164 Verf. Paulskirche (1849); Art. 9 Preußische revidierte Verf. (1850), zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), a. a. O., S. 402. 13 S. auch Art. 16 Abs. 2 Verf. Namibia (1990), zit. nach JöR 40 (1991 / 92), S. 691 ff.; s. auch Art. 17 Verf. Argentinien (1995); Art. 22 Abs. 2 Verf. Bolivien (1967 / 95); Art. 58 Verf. Kolumbien (1991); Art. 19 Nr. 24 Verf. Chile (1989 / 97); Art. 106 Verf. El Salvador (1983 / 91); Art. 29 Abs. 3 Verf. Ruanda (2003); Art. 106 Verf. Honduras (1981 / 95); Art. 8 Nr. 13 Verf. Dominikanische Republik (1962 / 66); Art. 32 Verf. Uruguay (1967 / 96); Art. 101 Verf. Venezuela (1961 / 83); Art. 22 Verf. Taiwan (1991), zit. nach JöR 41 (1995), S. 672 ff.; Art. 5 XXIV Verf. Brasilien (1988); Art. 36 – 1 und 3 Verf. Haiti (1987), zit. nach JöR 42 (1994), S. 638 ff. 14 Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: Art. 24 Abs. 1 Verf. Griechenland (1968), zit. nach JöR 18 (1969), S. 307 ff.; Art. 10 Verf. Königreich Irak (1925), zit. nach JöR a.F. 18 (1930), S. 358 ff. 15 Zit. nach JöR 41 (1993), S. 672 ff. 16 Zit. nach JöR 47 (1999), S. 514 ff.

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c) Das Gemeinwohl als grundrechtslegitimierender Titel Hier ist die Ausbeute geringer: Grundrechtliche Freiheit wird selten mit dem Gemeinwohl textlich in eine innere, positive Verbindung gebracht, so offenkundig es ist, dass ihre Ausübung letztlich um „guter Ergebnisse“ willen auch im öffentlichen Interesse liegt. Bei der Meinungs- und Pressefreiheit ist dies für eine offene Gesellschaft evident. Immerhin hat die Verfassung Paraguay von 1992 dies in Art. 27 Abs. 1 für die Massenmedien zum Ausdruck gebracht: „The operation of mass communications media organizations is of public interest“. Freilich verfügt dieselbe, sonst geglückte Verfassung einen fragwürdigen generellen Vorrang allgemeiner Interessen gegenüber den Privaten (Art. 128: „In no case will the interests of individuals prevail over general interest“). Insgesamt kommt es so zu einem „Insichkonflikt öffentlicher Interessen“17: auf beiden Seiten der Abwägung von Grundrechten und ihren Grenzen machen sich Gemeinwohlaspekte geltend. Die Verantwortung der Adressaten nimmt entsprechend zu. Vorausgegangen war Art. 35 Abs. 4 Verf. Guatemala von 1985: „Die Tätigkeit der Massenkommunikationsmittel erfolgt im öffentlichen Interesse und darf aus keinem Grund beschränkt werden“. Art. 6 Verf. Liberia (1983)18 stellt einen Zusammenhang zwischen den einzelnen Bürgern und dem Wohlergehen Liberias her und garantiert darum die Gleichheit der Bildungschancen. d) Grundpflichten und Gemeinwohl Die Grundpflichten stehen nicht selten ausdrücklich im Kontext der Grundrechte, bereits textlich. In Deutschland wird gern von einer „Asymmetrie“ zwischen Grundrechten und Grundpflichten gesprochen19, sie kann aus der Textstufenanalyse allgemein, d. h. im Verfassungsvergleich kaum belegt werden (zumal seit der EU-Grundrechtscharta nicht: Kap. IV: „Solidarität“), im Gegenteil: Neuerdings finden sich in Osteuropa, aber auch in Afrika größere Grundpflichtenkataloge (z. B. §§ 53, 54 Verf. Estland von 1992, Art. 82 bis 86 Verf. Polen, Art. 55 bis 59 Verf. Moldau von 1994, Art. 32 bis 37 Verf. Benin von 1990). Fragwürdig wird es nur dort, wo eine allgemeine Grundpflicht zu gemeinwohlkonformem Handeln („Arbeiten“) allen Bürgern auferlegt ist (so Art. 30 Verf. Niger von 1992: „Chaque citoyen a le devoir de travailler pour le bien comun“). Zu erwähnen sind ferner: Art. 16 Abs. 1 Verf. Äquatorial Guinea (1991): Pflicht jeden Bürgers, u. a. „die nationalen Interessen zu schützen“; Art. 33 Verf. Benin (1990): Pflicht jeden Bürgers, „für das Gemeinwohl zu arbeiten“ (ähnlich Art. 48 Abs. 2 und 52 Verf. Burundi (1992)); Art. 23 Abs. 1 Verf. Mali (1992): „Jeder Bürger muss für das Gemeinwohl 17 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1. Aufl. 1970, S. 420 ff., 2. Aufl. 2006, S. 783 f. 18 Zit. nach JöR 35 (1986), S. 663 ff. 19 H. Hofmann, Grundpflichten als verfassungsrechtliche Dimension, VVDStRL 41 (1983), S. 42 (68 ff.) sowie S. 123 (Aussprache).

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tätig werden“. Immerhin sagt schon Art. 117 Verf. Bayern (1946): „Alle haben die Verfassung zu achten und ihre körperlichen und geistigen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“. Präambel Verf. Hamburg (1952) spricht von: „sittlicher Pflicht von jedermann, für das Wohl des Ganzen zu wirken“ (s. auch Art. 20 Verf. Rheinland-Pfalz (1947): Pflicht, die „Kräfte so zu betätigen, wie es dem Gemeinwohl entspricht“). Diese Normen sind heute im allgemeinen Bewusstsein verblasst. Sanfter bestimmt Art. 12 Verf. Japan (1946): „and shall allways be responsible for utilizing them (sc. the freedoms and rights) for the public welfare“. e) Das Gemeinwohl als Direktive für letztlich bürgerbezogene Staatsaufgaben bzw. als normaler Kompetenztitel für Staatshandeln („Staatsziele“, „Grundwerte“) Eine besonders häufige Erscheinungsform des Gemeinwohls bildet der Staatsaufgabenkatalog neuerer Verfassungen. Hier wird heute schon auf Verfassungsstufe viel ausdifferenziert, oft abundant vorgegeben, was früher ebenso allgemein wie unbestimmt als Gemeinwohl oder in der Schweiz als „Zweck des Bundes“ – „gemeinsame Wohlfahrt“ (vgl. Art. 2 alte BV Schweiz von 1874) normiert war. Beispiele finden sich viele20 (vgl. Art. 3 Abs. 1 S. 2 Verf. Bayern: „Er (sc. Bayern als Rechts-, Kultur- und Sozialstaat) dient dem Gemeinwohl“; s. auch Art. 1 Abs. 2 Verf. Rheinland-Pfalz), wobei neue Themen wie Umweltschutz, Generationenschutz, Tierschutz, Gesundheitsschutz, Kinderfreundlichkeit, Bildung, Behindertenschutz die heutige Richtung andeuten. Als Adressaten dürfen alle Staatsfunktionen gelten. Die Literatur hat diesen Zusammenhang zwischen Staatsaufgaben und Gemeinwohlzielen früh thematisiert21, aber später nicht im Geiste des Textstufenparadigmas fortgeschrieben. Dies sei hier unternommen. Beispiele sind Art. 68 Abs. 1 Verf. Paraguay (1992): „Health Rights in the best interests of the community“; Art. 12 Abs. 1 Verf. Angola (1992): Erhaltung der „natürlichen Ressourcen“ „zum Wohle der ganzen Gesellschaft“; Art. 112 lit. f ebd.: Verwaltung und Regierung im Dienste der „Befriedigung der Bedürfnisse der Gemeinschaft“. Apodiktisch sagt Art. 21 Abs. 1 Verf. Republik Guinea (1990): „Der Staat muss das Wohlergehen der Bürger fördern“ (s. auch Art. 6 lit. c Verf. Mosambik (1990)). Art. 59 Verf. Albanien nennt als „soziale Ziele“ u. a. Bildung, Umweltschutz, Schutz der künftigen Generationen, nationales Kulturerbe. Unter dem Stichwort „Grundwerte“ figurieren auch Gemeinwohlaspekte (z. B. Art. 8 Verf. Mazedonien von 1991: „Humanisierung des Raumes“). Art. 56 Abs. 1 Verf. Mazedonien dekretitiert: „Alle natürlichen Reichtümer als Güter von allgemeinem Interesse“. Hier erfolgt sozusa20 Vgl. etwa Art. 4 Verf. Nicaragua (1987 / 95); Art. 25 Verf. Nepal (1990), zit. nach JöR 41 (1993), S. 566 ff.: „main objective of the state to promote conditions of public welfare“; Art. 1 Abs. 1 Verf. Kasachstan (1995), zit. nach JöR 47 (1999), S. 643 ff.; Art. 38 Verf. Indien (1949), zit. nach JöR 4 (1955), S. 183 ff. 21 P. Häberle, Verfassungsstaatliche Staatsaufgabenlehre, AöR 111 (1986), S. 595 ff.

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gen eine „Erhebung“ zum Gemeinwohl. Art. 1 Verf. Guatemala (1985) postuliert als „oberstes Ziel des Staates“ „die Verwirklichung des Gemeinwohls“. Art. 14 Verf. Liechtenstein (1921) lautet: „Die oberste Aufgabe des Staates ist die Förderung der gesamten Volkswohlfahrt“22. f) Das Gemeinwohl als Ausnahmetitel vor allem im Staatsnotstand und im staatlichen Sonn- und Feiertagsschutz Diese verfassungstextliche Erscheinungsform des Gemeinwohls ist ein traditioneller Bestandteil älterer Verfassungen bzw. Gesetze23, sie findet sich aber auch in neueren. Gerade im Ausnahmefall gibt es (funktionellrechtliche) Grenzen der Verrechtlichung. Darum taucht das Gemeinwohl der Sache nach als legitimierender Titel auf (z. B. Art. 68 Verf. Benin; Art. 26 Verf. Gabun). In Sachen Sonn- und Feiertagsschutz sehen deutsche Verfassungen mitunter Ausnahmen von der Sonnund Feiertagsruhe im Interesse des Gemeinwohls vor (Art. 55 Abs. 4 Verf. Bremen; s. auch Art. 31 Satz 2 Verf. Hessen).24 g) Das Gemeinwohl als Kompetenztitel für beratende Gremien Diese Kategorie ist eine neue Erscheinungsform von Gemeinwohlklauseln in Afrika. Sie findet sich im Kontext von Wirtschafts- und Sozialräten wie in Art. 87 Verf. Guinea (1990). Der dortige Rat hat die Aufgabe, die „Aufmerksamkeit des Präsidenten und der Nationalversammlung auf Reformen ökonomischen und sozialen Charakters zu richten, die ihm dem allgemeinen Interesse zu entsprechen oder zu widersprechen scheinen“. Reformaufgaben werden hier mit dem Gemeinwohl verknüpft – eine bemerkenswerte Textstufe, die theoretisch auszuwerten ist. Die institutionalisierten Ämter und Gremien bedürfen eines solchen Rates als Konsultativorgan, gerade im Blick auf Reform- bzw. Gemeinwohlaufgaben. Hier kann der westliche Verfassungsstaat von sog. „Entwicklungsländern“ lernen. Verfassungsvergleichung ist keine Einbahnstraße, wie uns der beliebte Eurozentrismus oft glauben machen möchte. In Art. 164 Abs. 3 Verf. Burundi (1992) findet sich eine analoge Regelung (ebenso Art. 139 Abs. 4 Verf. Benin, s. auch Art. 104 Verf. Gabun: „Erfordernisse der Zivilgesellschaft“ (ähnlich Art. 106 und 107 Verf. Mali)). h) Sonstige Gemeinwohlklauseln und Zwischenbilanz In diesem letzten „Korb“ seien Klauseln bewusst „bunt“ zusammengestellt, die sich in der bisherigen Typologie nicht systematisieren lassen, da sie untereinander 22 23 24

Zit. nach JöR 38 (1989), S. 409 ff. Nachweise in P. Häberle, Öffentliches Interesse, a. a. O., 2. Aufl. 2006, S. 172 ff. Dazu P. Häberle, Der Sonntag als Verfassungsprinzip, 2. Aufl. 2006, S. 16 f., 101 f.

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zu heterogen sind. Ein Beispiel ist Art. 23 Verf. Guinea (1990): Der öffentliche Amtsträger darf sein Amt „zu keinem anderen Zweck als dem allgemeinen Interesse“ nutzen. Immerhin zeigt sich hier in den folgenden Texten, dass das Gemeinwohl vom Verfassunggeber „gebraucht“ wird. Ob, wann es wie im Text „notwendig“ ist, hängt wohl von der jeweiligen Rechtskultur ab, indes auch von der „Natur der Sache“ des Konstitutionalismus (wenn diese These erlaubt ist). Nach Art. 121 Abs. 1 Verf. Angola (1992) ist der Rechtsprechungsauftrag gerichtet auf den „Schutz der Rechte und legitimen Interessen der Bürger und der Institutionen“. Art. 8 Verf. Malawi (1994) verpflichtet die Legislative auf die „Interessen aller und die Verfassungswerte“. Die Präambel Verf. Brandenburg (1992) bekennt sich hochund vorrangig zu der Wendung „von dem Willen beseelt. . . , das Wohl aller zu fördern . . .“ . Art. 80 Verf. Nordrhein-Westfalen verpflichtet die Beamten als „Diener des ganzen Volkes“. Im Kontext des Umweltschutzes erscheint zunehmend eine auf „öffentliche und private Belange“ bezogene Ausgleichsklausel (z. B. Art. 59 a Verf. Saarland; Art. 29 a Abs. 2 Verf. NRW). Art. 18 Abs. 2 Verf. Sachsen-Anhalt (1992) erstreckt die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums auch auf den „Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen“. Art. 99 Verf. Bayern stellt sogar die „Verfassung“ selbst in den Dienst des Schutzes des „geistigen und leiblichen Wohls aller Einwohner“. Art. 41 Abs. 1 Verf. Mexiko (1917 / 97) ist buchstäblich W. Grewe redivivus: „Los partidos políticos son entidades interés público“. Im Ganzen25 ergibt sich schon ausweislich der Verfassungstexte, deren konkrete Umsetzung in die Verfassungswirklichkeit sich freilich nicht nachzeichnen lässt, dass das „Gemeinwohl“ bzw. „öffentliche Interesse“ ein charakteristisches Element26 des Konstitutionalismus der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates ist und bleibt. Es kann mehr oder weniger häufig „getextet“ werden, es wird auch gewiss je nach „Kontext“ funktionellrechtlich verschieden konkretisiert bzw. interpretiert. Den Adressaten, d. h. den Staatsorganen bis hin zu gesellschaftlichen Gruppen und den Bürgern bleibt viel Spielraum, auch Verantwortung. Doch verfügt das Gemeinwohl „konstitutionell“ auch heute noch über eine legitimierende Kraft, so sehr es in offenen Gesellschaften zunächst unbestimmt erscheint oder ist. Es ist alles andere als eine „Leerformel“, zugleich offen, z. B. wie gezeigt für den Umweltschutz. Seine Kraftlinien bzw. sein Konkretisierungsmaterial gewinnt es aus dem Ganzen der Verfassung bzw. Rechtsordnung. Sogar die Erziehungsziele27 führen zu ihm hin (vgl. Art. 131 Abs. 2 Verf. Bayern, Art. 22 Verf. 25 Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: § 21 Verf. Estland (1920), zit. nach JöR a.F. 16 (1928), S. 213 ff.: Autonomie für völkische Minderheiten, „soweit diese nicht dem Staatsinteresse widersprechen“. 26 Häufig auch in Verf. Japan (1946): Art. 12, 22, 25 Abs. 2, Art. 29 Abs. 1 und 2, zit. nach JöR 5 (1956), S. 321 ff. – Art. 43 Verf. Panama (1983 / 94) verbietet die Rückwirkung von Gesetzen, ausgenommen „aus Gründen der öffentlichen Ordnung oder sozialer Interessen“ – die Rechtsprechung des BVerfG liegt nahe (z. B. E 72, 175 (196); 103, 392 (403)). 27 Zu ihrer Verfassungstheorie meine Schrift: Erziehungsziele und Orientierungswerte, 1981.

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Thüringen, Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern, Art. 72 Verf. Guatemala, Art. 3 II c Verf. Mexiko). Das gewiss nicht justiziable „öffentliche Interesse“ speziell als Voraussetzung für die Einsetzung von parlamentarischen Untersuchungsausschüssen verlangt z. B. Art. 27 Abs. 1 Verf. Niedersachsen von 1993: Vorbildlich ist hier der Zusammenhang von Öffentlichkeit und öffentlichen Interessen erkennbar (s. auch Art. 40 Abs. 6 Verf. Irland: öffentliche Meinung, allgemeines Wohl). Die Deklarierung des Schutzes der Alten und Behinderten als „Verpflichtung der Gemeinschaft“ (Art. 7 Abs. 2 Verf. Sachsen) beweist die Wandelbarkeit der bürgerbezogenen Gemeinwohlaufgaben (s. auch die im „öffentlichen Interesse“ liegenden gemeinnützigen Einrichtungen nach Art. 110 Verf. Sachsen). Die hochrangige Platzierung der Gemeinwohlklausel schon in Präambeln28 (z. B. Präambel Verf. Irland von 1937, Präambel Verf. Chile von 1988 / 97, Präambel Verf. Honduras 1982 / 95, Präambel Verf. Panama (1972 / 94), Präambel Verf. BosnienHerzegowina: „general welfare“ (199629)) sei eigens erwähnt (vgl. auch Präambel Verf. Spanien von 1978 und Präambel Verf. Sachsen-Anhalt von 1992). Eine große Neuerung ist der Einbau einer Gemeinwohlklausel in neuen Medien-Artikeln: Art. 40 Abs. 6 1. lit. a Verf. Irland („In Anbetracht der großen Bedeutung jedoch, die die Ausbildung der öffentlichen Meinung für das allgemeine Wohl erlangt . . .“). Neu ist auch die gemeinwohlbezogene Grundrechtsklausel in Art. 44 Abs. 2 Verf. Spanien („Die öffentliche Gewalt fördert die Wissenschaft sowie die wissenschaftliche und technische Forschung zum Wohl der Allgemeinheit“). Als Frage bleibt, wie sich das Gemeinwohl zur Gerechtigkeit verhält. Lässt sich von „Gemeinwohlgerechtigkeit“ sprechen (so der Verf.)30 oder besteht eine begrenzte Substituierbarkeit, weil z. B. manche Verfassungen bei ihren Eidesklauseln ohne das Gemeinwohl auskommen und nur die „Gerechtigkeit“ erwähnen (z. B. Art. 44 Verf. Burkina Faso von 1991 / 97, s. auch Art. 89 Abs. 1 Verf. Saarland, Art. 142 Abs. 1 Verf. Angola speziell für den Ombudsmann für das Rechtswesen nur: „Gerechtigkeit und Gesetzlichkeit“). Gibt es eine (begrenzte?) funktionale Äquivalenz zwischen Gemeinwohl und Gerechtigkeit? Gute Verfassungspolitik in Bezug auf verfassungsstaatliche Gemeinwohlklauseln wäre eine eigenes Thema (ein zentraler Platz gebührt ihnen in einer Präambel). Mitunter ist schöpferisch von „kulturellem Wohlstand“ die Rede (Präambel Verf. Kroatien von 1990). Auch hier zeigt sich, wie die Verfassungstexte der Wissenschaft oft voraus sind. Einmal in der Welt, können solche Gemeinwohltexte mittelfristig doch „normative Kraft“ entfalten. 28 Ein Beispiel aus der Verfassungsgeschichte: Präambel Verf. Litauen (1922), zit. nach JöR a.F. 16 (1928), S. 315 ff.: „Wohl aller Bürger zu sichern“. S. auch Präambel Argentinien (1860), zit. nach JöR a.F. 19 (1931), S. 462 ff.: „allgemeines Wohlergehen“. – Ein Beispiel aus der deutschen Verfassungsgeschichte: Präambel Verf. Bayern (1818), zit. nach E.R. Huber (Hrsg.), Dokumente zur deutschen Verfassungsgeschichte, Bd. 1 (1961), S. 141. 29 Zit. nach W. Graf Vitzthum (Hrsg.), Europäischer Föderalismus, 2000, S. 122. 30 P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 2. Aufl. 2004, S. 376 und 4. Aufl. 2006, S. 376 sowie BVerfGE 105, 185 (193).

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2. Das Gemeinwohl als Textelement in drei ausgewählten „besonderen“ nationalen Rechtskulturen a) Thailand Die Verfassung von 1997, im September 2006 durch den unblutigen Putsch suspendiert, besticht schon durch manche „westliche“ Bestandteile, etwa die Normierung des „Vorrangs der Verfassung“ (Art. 6), eine grundrechtliche Wesensgehaltsklausel (Art. 29) und die Möglichkeit zur Publikation verfassungsrichterlicher Sondervoten (Art. 267) sowie die Einrichtung eines Ombudsmannes (Art. 196 bis 198). Wie setzt sie das „öffentliche Interesse“ ein? – vergleichbar den Punkten, an denen der westliche Verfassungsstaat diesen Topos braucht, weil Recht und Gesetz bzw. Gerechtigkeit als Leitmaxime nicht ausreichen? Schon Art. 21 arbeitet bei der Formulierung des Eides für den Regenten (Stellvertreter des Königs) mit den Worten „Interessen des Landes und des Volkes“ (s. auch Art. 15). Art. 45 stellt die Vereinigungsfreiheit unter den Vorbehalt von Gesetzen zum Schutz des „common interest of the public“. Der Enteignungs-Artikel 49 arbeitet mit „public utilities“ und „public interests“. Art. 50 (Unternehmensfreiheit) stellt im Gesetzes- bzw. Schrankenvorbehalt sogar den Zusammenhang zwischen Öffentlichkeit und „öffentlichem Interesse“ her, um den ich seit 36 Jahren literarisch kämpfe („protecting the public in regard to public utilities“). Art. 70 will alles Regierungs- und Verwaltungshandeln auf den Schutz der „public interests“ ausgerichtet sehen. Auch im Abschnitt zu den „State Policies“ figurieren die „nationalen Interessen“ (Art. 72) und ähnliche Begriffe (Art. 87: „common interest“, „public utilities“). Sehr bekannt klingt für westliche Ohren schließlich Art. 149, der die Mitglieder beider Kammern auf die „duties for the common interest of the Thai people“ verpflichtet. Auch sonst tauchen gemeinwohlähnliche Begriffe im Text der Verfassung immer wieder auf: etwa bei der feierlichen Erklärung (Gelöbnis) der Minister gegenüber dem König31 (Art. 205), im Notstandsfall (Art. 218). Bedenkt man, dass Thailand eine konstitutionelle Monarchie mit einem buddhistischen König ist (Art. 9), so dürfte das Ergebnis überraschen: Auch in einem sehr anderen Kulturkreis treten das Gemeinwohl und seine Ersatzbegriffe an den Problem- bzw. Nahtstellen eines Verfassungsstaates auf, die auch sonst bekannt sind. Offenbar kann der ausgeformte Konstitutionalismus der heutigen Entwicklungsstufe auf diesen Begriff und seine über Gesetz und Recht hinausgehenden Funktionen nicht (ganz) verzichten. Er ist freilich so allgemein, dass spezifische nationale „Vorverständnisse“ und „Kontexte“ in die Konkretisierung im Einzelfall einfließen mögen. Doch ändert dies nicht den grundsätzlichen Befund. 31 Er geriet kürzlich in die Mitte der Politik Thailands: vgl. NZZ vom 4. April 2006, S. 3: „Thailand braucht politische Integrität“. S. auch SZ vom 3. April 2006, S. 8: „Thailand steht vor einer Verfassungskrise“; FAZ vom 11. April 2006, S. 12: „Ein Sieg der Demokratie?“. Zuletzt FAZ vom 6. April 2006, S. 6: „König Bhumibols Wirrwarr-Land“. „Die Welt“ vom 9. Mai 2006, S. 7: „Thailands Verfassungsgericht annulliert die Wahl“. FAZ vom 9. Juni 2006, S. 8: „Thailand im Bhumibol-Fieber“; FR vom 22. Juli 2006, S. 6: „Neuwahlen sollen die politische Krise in Thailand beeenden“.

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b) Niger Die Verfassung des Niger (1992) sei als zweites Beispiel ausgewählt. Sie bildet eine Art „Kontrastprogramm“. In der knappen, präzisen Sprache der französischen Rechtskultur geschrieben, enthält sie sehr wenige Aussagen zum Gemeinwohl, vielleicht ein Erbe der französischen Verfassungsgeschichte, insbesonders von 1789. Es taucht bezeichnenderweise im Grundrechtskatalog an zwei Stellen auf: durchaus traditionell bei der Garantie des Privateigentums (Art. 22: Enteignung nur aus Gründen der „utilité publique“) und – höchst problematisch – bei der Grundpflicht jeden Bürgers zur Arbeit (Art. 31: „devoir de travailler pour le bien commun“). Diese Verpflichtung des Bürgers auf das Gemeinwohl findet sich auch in anderen afrikanischen Verfassungen. Im Typus Verfassungsstaat ist sie fragwürdig, weil in hohem Maße missbrauchsgefährdet. Immerhin verlangt dann Art. 33 vom Staat Niger, im Ausland die „legitimen Interessen“ der eigenen Bürger zu schützen. Kurz: Offenbar ist „Konstitutionalismus“ auch möglich ohne allzu viele Gemeinwohlklauseln. Die blankettartige Verwendung bei der allgemeinen Grundpflicht, für das Gemeinwohl zu arbeiten, ist freilich selbst dann abzulehnen, wenn die Rechtskultur des Niger durch Fallrecht zurückhaltend und verfassungspolitisch bürgerschonend arbeiten sollte.

c) Uganda Jetzt ein Blick auf Uganda, später auf islamische Staaten. Die Verfassung Ugandas (1995) nennt „political objectives“, „general social and economic objectives“ sowie „cultural objectives“, mit einer großen Vielfalt von Grundrechten und Grundpflichten, gerichtet u. a. auf das „common good“ und „well beeing“. Das „öffentliche Interesse“ erscheint allgemein als Titel zur Grundrechtsbeschränkung, wird aber auch negativ eingegrenzt (Art. 43) und damit präzisiert. Sollte das Gemeinwohl in islamischen Verfassungsstaaten auftauchen, so ist höchste Vorsicht geboten. Denn die Gemeinwohlbestimmung erfolgt dort aus einem ganzen anderen kulturellen Kontext als im Westen. Gleichwohl verdienen die Gemeinwohlklauseln doch die Aufmerksamkeit des Rechtsvergleichers. Die These vom „Leerformelcharakter“ des Gemeinwohls bestätigt sich nicht.

Inkurs I: Neuere Textstufen in deutschsprachigen Verfassungen Österreichs und der Schweiz Im Folgenden seien deutschsprachige Verfassungen auf ihre direkten Gemeinwohlaussagen hin untersucht. Da bei aller (nationalstaatlichen) Trennung doch Züge einer schon sprachlich bedingten gemeinsamen Rechtskultur in diesem

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Raum erkennbar sind und überdies nicht erst jüngst vor allem auf Länder- bzw. Kantonsebene bemerkenswerte Textstufenentwicklungen stattfinden, könnte eine gemeinsame Analyse ergiebig sein. a) Die gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs Hier ist eine fruchtbare Dynamik erkennbar, wissenschaftlich wurde sie erst jüngst näher im Gesamtzusammenhang ausgearbeitet 32. Speziell in Sachen Gemeinwohl lässt sich folgende Typologie gewinnen: a) Besonders häufig deuten die ausdifferenzierten Staatszielbestimmungen auf Gemeinwohlaspekte. So heißt es in Art. 4 Landesverfassung Niederösterreich (1979) unter dem Stichwort „Subsidiarität“: „Das Land Niederösterreich hat unter Wahrung des Gemeinwohls die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern, die Selbsthilfe der Landesbürger . . . zu fördern“. Das Gemeinwohl scheint hier eine Begrenzungsfunktion für die individuelle Freiheit zu haben. Verkannt ist, dass es um einen „Insich-Konflikt“ von Gemeinwohlinteressen geht. In den ausführlichen folgenden Sätzen finden sich viele Teilaspekte, etwa die „kulturellen Bedürfnisse“ und die „Interessen der älteren Generation“. Sehr ähnlich geht die Verf. Tirol (1988 / 89) vor. Ihr Art. 7 lautet: „Das Land Tirol hat unter Wahrung des Gemeinwohls die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen zu sichern“. Fast wörtlich kehren die „sozialen, wirtschaftlichen und kulturellen Bedürfnisse der Landesbewohner“ wieder, ebd. Abs. 2 (Schutz und Pflege der Umwelt) kommen sie ebenfalls in das Textbild. Fast gleichlautend arbeitet Art. 9 Verf. Oberösterreich (1993) unter dem Stichwort „Ziele und Grundsätze des staatlichen Handelns“. Wieder tritt das Textstück „unter Wahrung des Gemeinwohls“ zu Tage, auch von der „geordneten Gesamtentwicklung des Landes“ ist die Rede, ein neuer Ausdruck bzw. eine neue Anreicherung des Gemeinwohlbegriffs; die „Verantwortung für künftige Generationen“ erscheint ebenfalls. Die LV Salzburg (1999) enthält in Art. 9 einen besonders reichen Katalog von „Aufgaben und Grundsätzen“, die nichts anderes als Teilaspekte des „alten“ Gemeinwohls sind. Hier nur Stichworte: „Geordnete Gesamtentwicklung des Landes“, „Bedürfnisse“ seiner Bevölkerung, insbesondere „leistungsfähige Wirtschaft“, „Landwirtschaft“, „Pflege der Kulturlandschaft“, „Umweltschutz“, Achtung der „Tiere als Mitgeschöpfe“, „Weiterentwicklung von Wissenschaft, Bildung und Kultur“, „kinderfreundliche Gesellschaft“. Staatsaufgaben-Artikel dieser Art, oft aus vielen Spiegelstrichen bestehend, sind nichts anderes als eine Ausdifferenzierung des Gemeinwohls. Die Verfassungslehre muss sie als solche zur Kenntnis nehmen. Nicht mehr mit einem umfassenden unbestimmten Gemeinwohlbegriff wird mit Vorliebe gearbeitet (er findet sich noch punktuell), vielmehr bemühen 32 P. Häberle, Textstufen in gliedstaatlichen Verfassungen Österreichs, JöR 54 (2006), S. 267 ff.; zuvor schon ders. Neuere Verfassungen in der Schweiz, in: JöR 34 (1985), S. 303 (410 ff.).

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sich die Verfassunggeber um Konkretisierungen, die es den Adressaten leichter machen, das Gemeinwohl zu bestimmen. b) Aus der Fülle von Verfassungstexten seien nur noch wenige sonstige Beispiele herausgegriffen. So macht Art. 10 Abs. 3 Verf. Salzburg das Vorliegen eines öffentlichen Interesses zur Voraussetzung der Enteignung, so spricht Art. 60 Verf. Niederösterreich von den „allgemeinen Gemeindeinteressen“, so normiert Verf. Burgenland (1989) die „Pflicht zur Amtsverschwiegenheit“ mit Hilfe aufgeschlüsselter Gemeinwohlaspekte (Art. 62 Abs. 1), so gibt ihr Art. 65 Abs. 5 dem Landeshauptmann in bestimmten Fällen eine Notkompetenz zur „Abwehr eines Schadens für die Allgemeinheit“, so begründet Art. 54 Abs. 1 Verf. Tirol die Amtsverschwiegenheit von Mitgliedern der Landesregierung ebenfalls mit Gemeinwohlaspekten – hier kehrt der alte Zusammenhang von Gemeinwohl und Nichtöffentlichkeit wieder33. Bemerkenswert ist das Fehlen des Gemeinwohls bei der Eidesklausel (z. B. Art. 54 Abs. 1 Verf. Burgenland). b) Neuere Kantonsverfassungen der Schweiz: Gemeinwohl-Klauseln in der Schweiz Im Folgenden ein Blick auf neuere Kantonsverfassungen der Schweiz. Diese bewährt sich seit Jahrzehnten als eine „Werkstatt“ mit vielen Neuerungen. Man darf gespannt sein, wie ihre Kantonsverfassungen mit dem Gemeinwohlproblem textlich umgehen. In wenigen anderen Ländern arbeiten die Verfassunggeber so kreativ, intensiv und differenziert an und mit Gemeinwohl-Klauseln wie in der Schweiz. Auch hier erweist sich diese als „Verfassungswerkstatt“. Sie belegt, dass der heutige Konstitutionalismus mit dem Gemeinwohl und seinen Nachbarbegriffen aussagekräftig arbeiten kann. Das mittlerweile fast vier Jahrzehnte währende Reformzeitalter der Schweiz, auf Kantonsebene Ende der 60er Jahre in Obwalden begonnen, auf der Bundesebene in der nBV Schweiz (1999) kulminierend und auf Kantonsebene zuletzt in Zürich erfolgreich (2005), hat viele textliche Innovationen hervorgebracht. Zu ihren besten gehören die Gemeinwohl-Klauseln. Sie finden sich oft bereits auf Präambelebene, setzen sich bei den Staatsaufgaben- und Staatsziele-Artikeln fort und haben auch im Kontext der Begrenzung grundrechtlicher Freiheiten ihren hohen Stellenwert: allgemein bei grundrechtlichen Wesensgehaltsklauseln sowie im Zusammenhang mit Sonderstatusverhältnissen, speziell vor allem beim Eigentum. Auch die Kategorie „Sonstiges“ hat vielfältige Beispielstexte. Da zwischen den Verfassungsentwürfen der verschiedenen Kantone zahlreiche Produktions- und Rezeptionsprozesse stattfinden, mit Ausstrahlungen auch auf die Bundesebene (mitunter auch beeinflusst von Privatentwürfen wie Kölz / Müller, 1984 / 95), sei im 33 Dazu P. Häberle, Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1. Aufl. 1970, S. 102 ff., 2. Aufl. 2006, S. 102 ff., 782.

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Folgenden innerhalb der Kategorien grundsätzlich eine historische Darstellungsform gewählt. Im Einzelnen: aa) Präambeln Sie, eine vornehme Kunst-, Text- und Literaturgattung des Verfassungsstaates, kulturwissenschaftlich den Prologen und Ouvertüren vergleichbar, werden in der Schweiz dank ihrer sprachlichen Bürgernähe und ihres konzentrierten Gehaltes sehr ernst genommen. Der Bundesverfassungsentwurf aus dem Jahre 197734 hat dabei dank der Feder von A. Muschg eine neue Gemeinwohl-Klausel geschaffen, die fortan manche Verfassungen schmückt: „Dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohle der Schwachen“. Nur ein Dichter kann eine solche Wendung erschaffen; damit liegt die kühnste, glücklichste Modifizierung der alten, im Vergleich fast monolithischen Gemeinwohl-Klausel vor. Der Dichtertext findet sich später in der Präambel Verf. Basel-Landschaft (1984)35, auch in der nBV Schweiz (1999); er kann klassischen Rang beanspruchen. Im Übrigen figurieren Gemeinwohlaufträge präambelhaft in folgenden Kantonsverfassungen: Aargau von 1980: „die Wohlfahrt aller zu fördern“, ebenso KV Uri von 1984, auch KV Solothurn von 1984. Präambel KV Appenzell A.Rh. von 1995 sagt: „im Bewusstsein, dass das Wohl der Gemeinschaft und das Wohl der Einzelnen untrennbar miteinander verbunden sind“ (eine neue Konkordanzformel!). Präambel KV Graubünden von 2003 nennt das Bestreben, u. a. „Wohlfahrt und soziale Gerechtigkeit zu fördern“. Präambel KV St. Gallen von 2001 formuliert den Willen: „uns für das Wohl der Einzelnen und der Gemeinschaft in Solidarität und Toleranz einzusetzen“. bb) Staatszwecke, Staatsziele, Staatsaufgaben, Sozialziele u.ä. Ihre Kataloge haben sich auch in der Schweiz sehr angereichert (z. B. um Umwelt- und Behindertenschutz, um Erziehung und Bildung, Sport und Kultur). Doch ist nicht selten der Satz vorangestellt: „Der Staat fördert die allgemeine Wohlfahrt und die soziale Sicherheit“ (so § 25 Abs. 1 KV Aargau von 1980). § 62 KV Thurgau von 1987 – „Staatszweck“ – lautet eindrucksvoll: „Der Staat schützt die Freiheit und fördert das Wohlergehen des Volkes, der Familie und des Einzelnen“ – eine differenzierte Trias. cc) Grenzen grundrechtlicher Freiheiten im Gemeinwohlinteresse Auf diesem Felde begeht die Schweiz viel Neuland, z. T. unter Verarbeitung auch ausländischer (vor allem deutscher) Judikatur und Literatur. Hier ist mittlerZit. nach JöR 34 (1985), S. 536 ff. Texte zit. nach der Dokumentation von P. Häberle, in: JöR 34 (1985), S. 424 ff., sowie in: JöR 47 (1999), S. 171 ff. 34 35

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weile fast ein Stück „gemeineidgenössisches Verfassungsrecht“ entstanden36. Repräsentativ ist früh KV Basel Landschaft (1984) in § 15 Abs. 1: „Die Grundrechte dürfen nur eingeschränkt werden, wenn und soweit ein überwiegendes öffentliches Interesse es rechtfertigt“. Ähnliche Klauseln finden sich in § 8 Abs. KV Thurgau (1987) sowie in Art. 2 Abs. 4 KV Glarus (1988), Art. 28 Abs. 2 KV Bern (1993), Art. 23 Abs. 2 KV Appenzell A.Rh. (1995), Art. 38 Abs. 2 KV Waadt (2003), Art. 21 Abs. 1 KV Schaffhausen (2002), Art. 33 Abs. 1 KV Neuenburg (2000), Art. 5 KV St. Gallen (2001), Art. 42 Abs. 2 KV Fribourg (2005). Die zweite Errungenschaft ist die Textierung der Grundrechtsgrenzen in Sonderstatusverhältnissen37. Dies gelingt § 15 Abs. 3 KV Basel-Landschaft (1984) in den Worten: „Grundrechte von Personen, die in einem besonderen Abhängigkeitsverhältnis zum Staat stehen, dürfen zusätzlich nur insoweit eingeschränkt werden, als es das besondere öffentliche Interesse erfordert, das diesem Verhältnis zugrunde liegt“ (so zuvor pionierhaft schon § 8 Abs. 2 KV Aargau, 1980). Dieser Passus könnte auch in einem deutschen Lehrbuch stehen! Im Übrigen hat er in der Schweiz Schule gemacht: Analoge Klauseln finden sich in Art. 14 Abs. 3 KV Uri (1984) und in Art. 21 Abs. 3 KV Solothurn (1986). Schließlich erscheint das „öffentliche Interesse“ oft ausdrücklich als Voraussetzung der Enteignung (z. B. Art 12 Abs. 3 KV Jura von 1977, § 21 m Abs. 2 KV Aargau von 1980). dd) Sonstige Gemeinwohl-Klauseln In dieser Kategorie finden sich manche Texte wieder, die in der deutschsprachigen Rechtskultur allgemein geläufig sind: So normiert Art. 55 KV Solothurn (1986) den Grundsatz der Öffentlichkeit der Beratungen des Kantons- und Regierungsrats unter dem Vorbehalt „schützenswerter privater oder öffentlicher Interessen“. So gibt § 14 Abs. 2 KV Thurgau (1987) „jedermann Anspruch auf Akteneinsicht, soweit nicht überwiegende öffentliche oder private Interessen entgegen stehen“ (ähnlich Art. 18 KV Neuenburg von 2000). So verlangt Art. 5 Abs. 2 KV Entwurf Solothurn von 1984: „Die Handlungen staatlicher Organe müssen im öffentlichen Interesse liegen und ihren Zielen angemessen sein“. Ähnlich sagt Art. 5 Abs. 1 KV Solothurn 1986: „Wer öffentliche Aufgaben wahrnimmt, ist an Verfassung und Gesetz gebunden. Er handelt ausschließlich im öffentlichen Interesse und achtet in allen Bereichen die Grundsätze der Rechtsgleichheit und der Verhältnismäßigkeit“ (s. auch Art. 5 Abs. 2 KV Graubünden von 2004: „Staatliches Handeln muss im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismäßig sein“; ähnlich schon Art. 5 Abs. 2 nBV Schweiz von 1999, Art. 8 Abs. 1 KV St. Gallen von 2001 36 Zu dieser Kategorie: P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene, JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.). 37 Dazu schon klassisch: K. Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995, S. 144 ff.

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sowie Art. 7 Abs. 2 KV Waadt von 2003 und Art. 2 Abs. 2 KV Zürich von 2005, Art. 4 Abs. 1 KV Fribourg von 2005). Art. 94 Abs. 2 nBV Schweiz lautet: „Sie (sc. Bund und Kantone) wahren die Interessen der schweizerischen Gesamtwirtschaft und tragen mit der privaten Wirtschaft zum Wohle der Bevölkerung bei“. Eine eigene Variante gelingt (sprachlich etwas schwerfällig) auch Art. 25 Abs. 1 KV St. Gallen (2001): „Der Staat erfüllt nach Gesetz Aufgaben, die im öffentlichen Interesse erfüllt werden müssen, soweit Private sie nicht angemessen erfüllen“. Dies ist eine Neufassung des Prinzips der Subsidiarität (ähnlich Art. 5 Abs. 3 KV Zürich von 2005). Eindrucksvoll formuliert Art. 3 b KV Fribourg von 2005: „Staatsziele“ sind „die Förderung des Gemeinwohls und des kantonalen Zusammenhalts“. Im Ganzen ergibt sich ein eindrucksvolles konstitutionelles Gemeinwohlmaterial mit vielen Verfeinerungen und neuen Textstufen. Die Schweiz hat auf Kantonswie Bundesebene einen „Vorrat“ an Verfassungstexten geschaffen, der auf andere Länder ausstrahlen kann und ausstrahlen sollte. Sie hat ihrerseits manches (schöpferisch) rezipiert: aus der Trias anderer Texte, fremder oder eigener Verfassungspraxis sowie der Judikatur und der Literatur. Inkurs II: Gemeinwohltexte im „werdenden“ EU-Verfassungsrecht 2002 wurde die Frage gestellt: „Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?“38 In einer „Europäischen Verfassungslehre“ wurde 2001 / 2002 eine vorläufige Antwort versucht, darauf sei verwiesen39. Bestätigt hat sich, dass das Gemeinwohl im EUVerfassungsrecht fast analog an den „Nahtstellen“ auftritt, die aus dem nationalen Verfassungsrecht und seinem Gesetzesrecht bekannt sind. Die EU-Kommission ist laut Text ausdrücklich aufs Gemeinwohl verpflichtet. Es gibt also schon ein europäisches Gemeinwohl, worüber auch die beiden europäischen Verfassungsgerichte längst judizieren. Im Folgenden sei nur ein kurzer Blick auf die Texte geworfen, die die vorläufig gescheiterten Konventsentwürfe begleitet haben, also die EUGrundrechtecharta und die vielen Verfassungsentwürfe von 2002 bis 2003. Dabei sei die alte These aus dem Jahre 1983 bekräftigt, dass auch bloße Entwürfe wissenschaftliches Interesse verdienen, unabhängig davon, ob und wann sie vorläufig oder endgültig gescheitert oder in Kraft getreten sind40. Eine kleine Auswahl von in diesem Sinne „werdenden“ Verfassungstexten sei vorgestellt41. Schon der frühe Entwurf Badinter (Sept. 2002) „braucht“ das Gemeinwohl in Art. 40 Abs. 1 zur Umschreibung der Aufgaben der Kommission („dans l’intérêt P. Häberle, in FS Schiedermair, 2001, S. 1153 ff. P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 1. Aufl., 2001 / 2002, S. 377 ff., fortgeschrieben in ders., 5. Aufl. 2008, S. 377 ff. 40 Dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, insbesondere auf kantonaler Ebene JöR 34 (1985), S. 303 (355 ff., 414 f.). 41 Texte zit. nach der Dokumentation des Verf. in: JöR 53 (2005), S. 515 ff. 38 39

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générale de l’Union“). Der „Grüne“ Entwurf vom Sept. 2002 spricht im PrinzipienParagraph 1 Abs. 1 von den „interests of its Citizens in mind“. Der Entwurf Paciotti (Oktober 2002) wiederholt für die Kommission die Verpflichtung auf das „allgemeine Interesse der Union“ (Art. 81 Abs. 2). Ähnlich formuliert der Vorentwurf von Giscard d’ Estaing (Okt. 2002) bei den Zielen der Union (Art. 3) präambelhaft: „Wahrung der gemeinsamen Werte, der Interessen und der Unabhängigkeit der Union“. Der Entwurf Voggenhubers (Jan. 2003) spricht in der Präambel u. a. von „Wohlstand und Sicherheit“. Unter V. zählt er viele Teilaspekte auf: nachhaltige Entwicklung, gesunde Umwelt, Naturerbe, Tierschutz und gesunde Nahrungsmittel – all dies will er als „Verfassungsziele“ verstanden wissen. Der Entwurf des Konventspräsidiums (Februar 2003) spricht in Art. 3 Abs. 1 vom Ziel der Union, ihre „Werte und das Wohlergehen der Völker zu fördern“. Nach und nach treten „Werte“ an die Stelle des Gemeinwohls (oder ergänzend zum „alten“ Gemeinwohl). Der Giscard-Entwurf vom Juni 2003 formuliert ähnlich (Art. I-3) und gibt der Kommission die Aufgabe, die „allgemeinen europäischen Interessen“ zu fördern (Art. I-25). In der Präambel wird das „Wohl all seiner Bewohner, auch der Schwächsten und der Ärmsten“ beschworen. Nimmt man die auf eine Weise unumstrittene EU-Grundrechtecharta (2000) hinzu, „etwa die Klausel zur Voraussetzung der Enteignung („aus Gründen des öffentlichen Interesses“) in Art. 17 oder Art. 38 („Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse“), auch die allgemeine Schrankenklausel in Art. 52 Abs. 1 („von der Union anerkannten dem Gemeinwohl dienenden Zielsetzungen“), so ergibt sich: Auch die EU-Verfassungstexte, die Entwurf bleiben, bedienen sich des Problemlösungspotentials, das in den Gemeinwohltexten „stecken“ kann. Exkurs: Gemeinwohl-Klauseln in islamischen Staaten Als „Exkurs“ sei ein Blick auf die Verfassungen islamischer Staaten bezeichnet und gestaltet42. Denn sie entsprechen nicht dem Idealtypus verfassungsstaatlicher Verfassungen, obwohl sie textlich einige Elemente mit ihnen gemeinsam haben. Die Vorordnung der Scharia als oberster Rechtsquelle, die Durchsetzung des Islam als „Staatsreligion“ ohne wirkliche Religionsfreiheit für alle (man denke an den Fall des christlichen Afghanen Rahman, der wegen seiner Abwendung vom Islam im Frühjahr 2006 in Kabul zum Tode verurteilt werden sollte), das Fehlen von Menschenrechten43 und von freien Parlamenten, oft auch von realem Parteienplu42 Zit. nach H. Baumann / M. Ebert (Hrsg.), Die Verfassungen der Mitgliedsländer der Liga der Arabischen Staaten, 1995. 43 Zum „Menschenrechtsverständnis islamischer Staaten“: E. Mikunda, JöR 44 (1996), S. 205 ff. Aus dem aktuellen Zeitgeschehen noch: FAZ vom 1. April 2006, S. 7: „Todesurteile, Übergriffe, Ächtung, Christliche Konvertiten in der muslimischen Welt“. S. aber auch FAZ vom 15. April 2006, S. 10: „Kerzen der Hoffnung, Die Reformen in der arabischen Welt machen Fortschritte“.

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ralismus – all dies hält die islamische Welt von der „Welt des Verfassungsstaates“ fern. Gleichwohl erstaunt, dass sich manche Verfassungstexte finden, die westlichem Denken analog in den schon bekannten Problemzonen auftreten und die das Gemeinwohl im Verfassungsstaat fast durchgängig ausfüllt: vor allem in Eidesklauseln, bei einigen Staatsziele-Katalogen, im Zusammenhang mit dem Auftrag der Verwaltung und bei Grundrechtsgrenzen, insbesondere beim Eigentum. Im Einzelnen: Die Verfassung der Komoren (1992) verlangt vom Präsidenten der Republik einen Eid (Art. 25), der sich „nur auf das allgemeine Interesse“ und die „Achtung der Verfassung“ bezieht (s. auch Art. 37 ebd. für Regierungsmitglieder). Ähnlich hatte schon Art. 60 und Art. 91 Verf. Kuweit (1962 / 1980) den Emir und die Mitglieder der Nationalversammlung eidlich u. a. auf die „Freiheiten, Interessen und das Eigentum der Volkes“ verpflichtet. Auch die Verf. Syriens (1972) formuliert den „Verfassungseid“ u. a. mit den Worten: „die Interessen des Volkes und die Sicherheit des Vaterlandes zu schützen“. Art. 42 Verf. Tunesien (1959 / 1988) verlangt vom Präsidenten den Eid, „strikt über die Interessen der Nation zu wachen“. Staatsziele sind oft in Präambeln vorformuliert, so etwa in der erwähnten Verf. von Kuweit („Schutz der Interessen der Gemeinschaft“, s. auch Präambel Verf. Tunesien von 1988: „Nutzung der nationalen Reichtümer zum Wohl des Volkes“); sie können sich aber auch wie in Afrika zu einem „Konsultativrat“ verbinden (so in einem Erlass des Sultans von Oman (1991): Vorschläge, die er (sc. der Rat) „im Interesse der Wahrung der Grundwerte und -prinzipien der Gesellschaft für notwendig erachtet“). Das Provisorische Grundgesetz von Qatar von 1970 / 1975 spricht im Kontext der „Grundprinzipien der Staatspolitik“ von der Wahrung der „edelsten Interessen des Landes“ (Art. 5 lit. d): eine sonst nirgends gewagte Idealisierung! Die Präambel Verf. Bahrein (1973) bezieht sich sogar auf das „Wohlergehen der Menschheit“. Art. 10 Konstitutionelle Akte Saudi-Arabiens von 1992 verlangt in Art. 10 die Wahrung „der arabischen und islamischen Werte“. Besonders auffällig ist das Auftreten des Gemeinwohls im Kontext der Grundfreiheiten, deren wirkliche Bedeutung freilich gering sein dürfte. Hier ist indes der Verf. Algerien von 1976 / 89 in Art. 31 eine Wendung geglückt, die fast einzigartig ist: „Die Grundfreiheiten und die Menschen- und Bürgerrechte werden garantiert. Sie stellen ein gemeinsames Gut aller Algerier und Algerierinnen dar, das sie von Generation zu Generation zu übermitteln verpflichtet sind, um es in seiner Ganzheit und seiner Unverletzlichkeit zu erhalten“. Was in der wissenschaftlichen Literatur erst 1979 gewagt wurde, ein „generationenorientiertes“ Grundrechtsverständnis44, ist hier in einen Verfassungstext geronnen. Im Übrigen erscheint das „öffentliche Interesse“ – seit 1789 schon klassisch – auch in Arabien als Voraussetzung der Enteignung (z. B. Art. 9 lit. c Verf. Bahrein von 197345, Art. 12 Verf. Djibouti von 1992, Art. 7 lit. c Verf. Jemen von 44

P. Häberle, Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 438 ff.

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1994, Art. 11 Verf. Jordanien von 1952 / 1984, Art. 18 Verf. Kuweit von 1962 / 1980). Mitunter eröffnen sich auch neue und gewagte Perspektiven, etwa in Art. 63 Verf. Algerien: „Jeder Bürger hat die Pflicht, das öffentliche Eigentum und die Interessen der nationalen Gemeinschaft zu schützen und das Eigentum anderer zu achten“. Diese Überladung mit einer exzessiven Grundpflicht wurde schon andernorts kritisiert. Beachtung verdient schließlich die Verpflichtung der Beamten auf den Dienst an dem „öffentlichen Interesse“ (Art. 26 Verf. Kuweit). Auch die Regierungsfunktion wird vereinzelt textlich auf das „Interesse des Landes“ ausgerichtet (z. B. Art. 10 des erwähnten Erlasses zum Konsultativrat im Oman). Gewiss, auch hier gilt, dass Verfassungstexte maßgeblich von der Rechtkultur des Landes und diese insgesamt von dessen Kultur her geprägt und „gelebt“ werden (Stichwort: kontextuelles Verständnis, kulturelle Prägung). Indes ist schon bemerkenswert, wo und wie Gemeinwohl-Klauseln textlich selbst im islamischen Kontext auftauchen. Sie als bloß „semantisch“ abzutun, wäre nicht gerechtfertigt. Anhang: Neueste islamische Verfassungen Nur als „Anhang“ jetzt ein Blick auf die etwaige Verwendung von gemeinwohlartigen Begriffen in jüngsten Verfassungen der islamischen Welt. Die Verf. der islamischen Republik Afghanistan46 (Januar 2004) spricht in ihrem Vorspruch gleich eingangs fast beschwörend vom „Wohl des edlen und friedliebenden Volkes Afghanistans“. Auch verwendet sie erstaunlicherweise den neueren Begriff von der „Zivilgesellschaft“ 47 (nach V. Havel definiert als „Macht der Ohnmächtigen“ zu verstehen) und den älteren vom „wirtschaftlichen, sozialen, politischen und kulturellen Wohlstand“. In der Präambel findet sich die Wendung von der „Sicherung von Wohlstand und gesunder Umwelt für alle Bewohner“. Die Freiheit, in Art. 24 als „natürliches Recht des Menschen“ qualifiziert, wird u. a. unter den Vorbehalt des „Interesses der Allgemeinheit“ gestellt, die Enteignung (Art. 40 Abs. 3) wird u. a. an das „Wohl der Allgemeinheit“ geknüpft und der Eid des Staatspräsidenten (Art. 63) ist u. a. auf die „Rechte und Interessen der Bürger“ bezogen. Gewiss, diese Gemeinwohltexte stehen ebenso unter dem im Einzelnen umstrittenen Vorrang der Scharia, die sie vermutlich textlich und kontextlich stark einfärbt. Doch ist bemerkenswert, dass selbst die Verf. Afghanistans Gemeinwohltexte kennt. 45 Die „National Action Charter of Bahrain“ (2001) ist abgedruckt in JöR 50 (2002), S. 609 ff. Ihr Kap. 3 Nr. 2 sieht die Enteignung zum „öffentlichen Nutzen“ vor. 46 Aus der allgemeinen Literatur: H.J. Vergau, Manifest der Hoffnung, VRÜ 37 (2004), S. 465 ff. 47 Laut FAZ vom 29. März 2006, S. 46 wurde der Begriff „Zivilgesellschaft“ in die arabische Gesetzgebung eingeführt. NGOs, gemeinnützige Nichtregierungsorganisationen, seien fester Bestandteil des Nahen Ostens geworden.

„Gemeinwohl“ im kulturellen Verfassungsvergleich

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Gleiches gilt für den Verfassungsentwurf (1998) des Sudan, der das Eigentum unter den Enteignungsvorbehalt des öffentlichen Interesses stellt (Art. 28), den Bürger auf das „öffentliche Interesse der Gesellschaft“ verpflichtet (Art. 35) und beim Präsidenten sogar eine neue Formel erfindet (Art. 40: „to respect the Constitution, law and consensus of public opinion“). Beim „Rechtsquellen-Artikel“ 65 findet sich zuletzt wiederum ein Hinweis auf „the nation’s public opinion“. Ein Verfassungsdokument von Somalia48 wagt nicht nur ein Grundrecht auf die Gründung politischer Parteien (Art. 21: „open for all citizens und be guided by General Principles of Democracy“), es stellt auch die Erziehung in den Dienst des Interesses des Volkes und ganzen Landes. Art. 24 Abs. 4 nennt wohl weltweit erstmals die NGOs (Art. 26), bezeichnenderweise im Artikel „Social welfare“, und gebraucht auch beim Eid des Präsidenten die Wendung vom „Interesse des Volkes“. Ein Blick auf die neue Verfassung des Irak: Nach einer höchst eindrucksvollen, die kulturwissenschaftliche Präambeltheorie bestätigenden Präambel sowie angesichts einer erstaunlichen Wesensgehaltsgarantie für die Freiheitsrechte (Art. 45) ergibt die Suche nach Gemeinwohl-Klauseln relativ wenig: sie finden sich als Voraussetzung der Enteignung in Art. 23 sowie im Wortlaut des von jedem Parlamentarier zu leistenden Eides (Art. 49), der gleichlautend auch vom Präsidenten der Republik verlangt wird („to look after the interests of its people“). II. Ein Theorierahmen (Skizze) – Neun Thesen Die Arbeit am positivrechtlichen, durch Vergleich erschlossenen Verfassungsmaterial ermutigt zur Skizze eines Theorierahmens. Gewiss, die Typologie wurde bereits mit „Augen der Theorie“ herausgeschält, anders lässt sich nicht arbeiten (Goethes „Wär nicht das Auge sonnenhaft . . .“); doch seien einige Stichworte (insgesamt 9) jetzt klarer formuliert. 1. Das Gemeinwohl bzw. seine Teil- und Nachbarbegriffe sind auch heute ein selbstverständliches und unverzichtbares Element im „Instrumentenkasten“ der Verfassunggeber, auch der Rechtsetzer im Europa- und Völkerrecht. Daraus hat die Verfassungslehre Konsequenzen zu ziehen, zumal wenn sie – begrenzt – auch Anleitungen zur Verfassungspolitik formulieren möchte. Das Gemeinwohl ist im Konstitutionalismus von heute ebenso normal wie normativ. Das Gemeinwohl hat eine prozessuale Seite, 1970 auf den Begriff gebracht, und z. T. eben doch eine materielle Seite, etwa in Sachen Generationenschutz und Umweltschutz. 2. Als Wert- und Grundlagenbegriff, als „Schlüsselwort“ ist das Gemeinwohl in vielen Gebieten einsetzbar, es darf aber nicht inflationär verwendet werden, weil es sich sonst selbst entwertete. Dies gilt auf Verfassungsebene wie auf Gesetzesebene. 48

Zit. nach JöR 53 (2005), S. 711 ff.

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3. Es handelt sich oft um eine „Generalklausel“, die alle Vor- und Nachteile dieser Kategorie teilt. 4. Das Gemeinwohl ist ein kontextabhängiger Begriff – „Kontext“ hier begriffen als Auslegen bzw. Verstehen „durch Hinzudenken“ (so mein Vorschlag aus dem Jahre 2001). Dies gilt vor allem für die Verfassungsebene. In den 27 EU-Mitgliedsstaaten bzw. den 55 OSZE-Nationen hat das nationale Gemeinwohl potentiell und aktuell durchaus schon eine europäische Dimension. Im Kontext damit gibt es auch Aspekte des europäischen Gemeinwohls und eine zugehörige Gemeinwohljudikatur der beiden europäischen Verfassungsgerichte in Straßburg bzw. Luxemburg. 5. Im Typus Verfassungsstaat hat es einen allgemein typischen Bedeutungsinhalt und einen speziellen, je nach Kulturgeschichte des konkreten Verfassungsstaates als Beispielsnation. 6. Beteiligt an der Auslegung sind viele, tendenziell alle: nicht nur der „zunftmäßige“ Jurist, gemäß dem Bild von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. 7. Das Gemeinwohl ist ein „Bindemittel“ in der pluralistischen Gesellschaft. In der Verfassung des Pluralismus bedarf es Deiner. Es hat viele Dimensionen, eine teils inhaltliche, teils prozessuale. 8. Oft muss es von der Praxis anhand von Beispielen angereichert werden, etwa im Enteignungsrecht bzw. beim Eigentumsgebrauch in der Bindung an das Gemeinwohl. Hier kommt heute besonders der Umweltschutz ins Blickfeld. Die Gemeinwohlpflichtigkeit des Eigentums ist in unseren Tagen auch als „umweltverpflichtet“ zu lesen bzw. zu texten. 9. Hilfreich ist ein differenzierter funktionellrechtlicher Ansatz: Das „öffentliche Interesse“ als Voraussetzung für die Einberufung eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses zum Beispiel ist nicht justiziabel, sehr wohl aber als Voraussetzung der Enteignung. Ausblick Er kann kurz und bündig sein. Neben dem Dank an Veranstalter und Teilnehmer sei daran erinnert, dass das Verfassungsrecht der politischen Parteien um die „Gemeinwohlhintergründe“, auch die des Rechtsgebietes wissen muss, so differenziert sie sind. Darum rechtfertigt sich wohl auch dieser Versuch auf dem Forum der Parteienrechts-Wissenschaft in Deutschland.

Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft* Einleitung Auf der heutigen Entwicklungsstufe des „Typus Verfassungsstaat“ ist für das hier zu behandelnde Thema nur ein von vornherein vergleichender Ansatz ergiebig. Er wurde speziell für die Verfassungsgerichtsbarkeit in dem Beitrag des Verf. für die FS BVerfG 2001 (Bd. I, S. 311 ff.) unternommen: „Das BVerfG als Muster einer selbstständigen Gerichtsbarkeit“. Bislang fehlt, soweit ersichtlich, eine Studie, die in ähnlicher Weise die „offene Gesellschaft“ in verfassungsjuristisch-vergleichender Sicht erörtert. Dies sei im Folgenden besonders im Zusammenhang mit der Verfassungsgerichtsbarkeit gewagt. Beides, „offene Gesellschaft“ und „Verfassungsgerichtsbarkeit“, können nur in einem gedanklichen Zugleich behandelt werden. Dennoch widmet sich der folgende Erste Teil primär der „offenen Gesellschaft“, der Zweite, zunächst getrennt, der „Verfassungsgerichtsbarkeit“. Beide Themen sollen im Dritten Teil zusammengeführt werden, obwohl dies angesichts der selbst bei diesem „großen Thema“ vorgegebenen Kürze allenfalls in Stichworten möglich ist. I. Offene Gesellschaft – Garantien verfassungsstaatlicher Offenheit nach „innen“ und „außen“ 1. Der Begriff Die „offene Gesellschaft“ ist das Idealbild von Sir Popper, als Gegenprogramm zu philosophischen Systemen eines Platon und Hegel, aber auch zum totalitären Faschismus und Kommunismus 1945 entworfen. Sie hat als Wort und Begriff eine beispiellose Erfolgsgeschichte hinter sich, zunächst in der westlichen Welt, nach 1989 mindestens gemäß den Verfassungstexten auch in Osteuropa; sie ist fast schon ein „Gemeinplatz“ im guten Sinne des Wortes, findet sich sogar ausdrücklich in neueren Verfassungstexten (z. B. Präambel Verf. Peru von 1979 sowie in Osteuropa: Präambel Verf. Litauen von 1992: „Offene, gerechte, harmonische bürgerliche Gesellschaft“) und ist in der Wissenschaft fast unangefochten (vgl. * Erschienen in: Robert Ch. van Ooyen / Martin H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, VS Verlag für Sozialwissenschaften, Wiesbaden, 2006, S. 35 ff.

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auch das KPD-Urteil des BVerfG: E 5, 85, bes. S. 134 ff., 197 ff.). Verfassungsjuristisch wurde sie bislang in grundsätzlich vergleichender Sicht kaum behandelt. Ansätze gab es in der These „Die Verfassung des Pluralismus“ (1980), auch im Wort von der „pluralistischen Gesellschaft“ (BVerfGE 52, 223 (252)). Neuerdings rückt die sog. „Bürgergesellschaft“ in den Vordergrund, auch verfassungstextlich (vgl. Präambel Verf. Tschechien von 1992: „Grundsätze der Bürgergesellschaft“). Ihr Anliegen ist es, den Bürger zu stärken, ihn ins Zentrum des Verfassungsstaates bzw. seiner pluralistischen Gesellschaft zu rücken, z. T. auch gegenüber überstarken Staatlichkeitskompetenzen sowie der übermäßigen Herrschaft des „Marktes“ und den sich nicht selten allzu selbstgefällig etablierenden politischen Parteien. Das Denken vom Bürger und seiner Gesellschaft her soll das traditionelle etatistische „Denken vom Staat her“ begrenzen bzw. korrigieren. Die Unionsbürgerschaft (Art. 17 ff. EG) leistet dazu ihren Beitrag. Erarbeitet man die Garantien verfassungsstaatlicher Offenheit mit den Methoden und Inhalten der vergleichenden Verfassungslehre, so lässt sich folgendes Bild skizzieren:

2. Offenheitsgarantien nach „innen“ Bei allen Vorbehalten gegen die Unterscheidung des „Außen“ und „Innen“ sind als konstituierende Elemente des offenen Verfassungsstaates zuvörderst die aus der Menschenwürde folgenden Freiheits- und Gleichheitsrechte zu nennen, sie garantieren die Offenheit der Ordnung und des politischen Prozesses vom Bürger her (K. Hesses „Freiheit und Offenheit des politischen Prozesses“ bzw. „Offenheit der verfassungsmäßigen Ordnung“, 1966). Zugleich geschieht dasselbe dank des auf der Menschenwürde beruhenden Demokratieprinzipes: freie, gleiche und geheime, faire, regelmäßige Wahlen („Herrschaft auf Zeit“) bedingen die gesellschaftliche Offenheit. Sie verarbeiten den gesellschaftlichen Wandel im Horizont von „Zeit und Verfassung“. Hierher gehört die spezifische Offenheit des Parteienrechts (keine übermäßigen Hürden für neue Bewerber: „Chancengleichheit der politischen Parteien“). Die Regelungen z. B. in Sachen 5%- bzw. Sperrklausel variieren je nach nationalem Verfassungsstaat, doch gibt es Höchstgrenzen. Der immer wieder betonte Zusammenhang von „Demokratie und Öffentlichkeit“ (G. Heinemann: „Öffentlichkeit als Sauerstoff der Demokratie“) deutet an, dass die „offene Gesellschaft“ nur als öffentliche so möglich ist (bei allem unverzichtbaren Privatheitsschutz). Vergleicht man die einzelnen Verfassungen, so werden spezifische Pluralismusgarantien erkennbar. Allgemein: Präambel Verf. Moldau von 1994: Politischer Pluralismus als „höchstes Gut“, s. auch Art. 1 Abs. 1 Verf. Spanien von 1978, bemerkenswert ebenfalls Art. 8 Abs. 1 Verf. Rumänien von 1991: „Der Pluralismus in der rumänischen Gesellschaft ist eine Bedingung und eine Gewähr der verfassungsmäßigen Demokratie“; Art. 15 Abs. 1 Verf. Ukraine von 1994 spricht von „politischer, wirtschaftlicher und ideologischer Vielfalt; Art. 1 Abs. 2 Verf. Äquatorial-Guinea von 1991: „Politischer Pluralismus“, ebenso Präambel Verf. Tschad von 1996; Präambel Verf. Benin (1990) spricht von „pluralistischer Demokratie“,

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ebenso Präambel Verf. Mali von 1990. Präambel Verf. Burundi 1991 beruft sich auf die „demokratische pluralistische Ordnung“. Präambel Verf. Kongo 1992 will: „Einheit in kultureller Diversität“. Spezielle Beispiele auch aus der Verfassungswirklichkeit sind insbesondere die Vielfalt der Medien, die Balancierung zwischen Gewerkschafts- und Arbeitgebermacht, die öffentlichen Freiheiten wie Demonstrations- und Versammlungsfreiheit, nicht zuletzt die Informations- und Pressefreiheit sowie die wirtschaftliche und die wissenschaftliche Freiheit. Von hier aus gewinnt die These von der Verfassung als öffentlicher Prozess (1969) an Evidenz. Die Bürgergesellschaft, statt der (bislang zu wenig untersuchten) „Parallelgesellschaften“, braucht ihre verfassungsjuristischen Rahmenbedingungen – diese (z. B. in Paris und Berlin besonders im „Einwanderermilieu“) spalten den alteuropäischen Begriff des „Bürgers“ und nehmen der Offenheit buchstäblich ihren eigenen „Boden“ und Wurzelgrund. Es bedarf eines „Humus“, einer Basis, von der aus „Offenheit“ gedacht und praktiziert werden kann. Es ist die Verfassung, die diese Vorgaben als Rahmenbedingungen enger oder weitmaschiger vorgibt. Garantien für auch multikulturelle Pluralgruppen wie „fremde“ Religionsgesellschaften, etwa den Islam, sind auf diesem Hintergrund zu sehen. Die Nichtregierungsorganisationen als „Frühwarnsystem“ haben das große Verdienst, verfasste Gesellschaften offener zu machen, häufig gerade dort, wo sie ideologisch „verkrustet“, „blind“ oder gar punktuell „geschlossen“ sind. Aber sie müssen sich in die Bedingungen des je konkreten Verfassungsstaates einordnen. Eine allgemeine Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft ist heute ein Desiderat der Wissenschaft (ein Element bildet z. B. der erhoffte „gesellschaftliche Dialog“: Präambel Verf. Polen von 1997). Die klassischen Gesellschaftsvertragstheorien müssten fortgeschrieben werden. Die bisher zitierten Texte neuerer Verfassungen weisen die Richtung und sind ein Beleg dafür, dass der Verfassungsstaat auf der heutigen Textstufenentwicklung die offene Gesellschaft neu und eigens thematisiert. Ein spezieller Versuch, Poppers „Offene Gesellschaft“ in die Verfassungsrechtswissenschaft umzusetzen, war und ist das Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“. 1975 entwickelt, jüngst auf die werdende Verfassung Europas übertragen, bezieht sie den Bürger, jeden Bürger in die Prozesse der Verfassungsinterpretation mit ein. Das Stichwort lautet: „Verfassung für alle“ und „von allen“. Jeder, der eine Verfassungsnorm lebt, interpretiert sie in einem weiteren, tieferen Sinne mit. Gemeint sind nicht nur die Grundrechtsbereiche, in denen der Grundrechtsträger über sein praktiziertes sog. „Selbstverständnis“ wirkt bzw. „interpretiert“, etwa die Religionsfreiheit (seit BVerfG 24, 236 (245 ff.); 99, 100 (125)) oder die Koalitions- und Kunstfreiheit (vgl. auch BVerfGE 83, 130 (148); weiter verallgemeinernd: E 54, 148 (155 f.)). Auch der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, sich vor dem BVerfG äußert, ist ein Verfassungsinterpret in diesem weiteren Sinne. Das Wort von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) ist ohne Popper ebensowenig zu denken wie – kulturwissenschaftlich – ohne das protestantische „Priestertum aller Gläubigen“, es bleibt in Deutschland umstritten, aber auch vielzitiert (zuletzt F. Fromme, FAZ vom 13. Ok-

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tober 2005, S. 37). Es erfährt derzeit vor allem in Lateinamerika, besonders in Brasilien, bis in Einzelfragen des Verfassungsprozessrechts hinein („amicus curiae briefs“) eine ermutigende Anerkennung. Die offene Gesellschaft ist eine „verfasste“, erkennbar z. B. in der Drittwirkung der Grundrechte. Sie ist Ausdruck des „status culturalis“ des Einzelnen; der „status naturalis“ ist eine – unverzichtbare – Fiktion. Es gibt keine „natürliche Freiheit“, es gibt nur kulturelle Freiheit. Die so verstandene „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ bedarf der kulturellen Grundierung, zumal angesichts der um sich greifenden totalen Ökonomisierung. Es geht um das, was einen Verfassungsstaat als verfasste Bürgergesellschaft letztlich „im Innersten“ zusammenhält (sicherlich ist dies nicht primär der „Markt“). M.a.W. die These vom „offenen, pluralistischen Kulturkonzept“ (1979) wird einschlägig. Eine „letzte Antwort“ ist noch nicht gefunden. „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger), auch „Leitkultur“ mögen Versuche sein, Offenheit und Grundkonsens miteinander zu verbinden. Aber sie dürften nicht das „letzte Wort“ sein. Das GG als verbindliche „Leitkultur“ ist, bei Betonung seiner Offenheit, eine mögliche Formel – aber auch nicht mehr. Der Passus in Art. 1 Satz 2 Verf. Slowenische Republik (1992) – sie „bindet sich an keine Ideologie oder Religion“ – ist beachtlich und repräsentativ für den Typus Verfassungsstaat. 3. Offenheitsgarantien „nach außen“ Die Offenheit der Gesellschaft im Innern hat heute ihr Pendant in der Offenheit „nach außen“. Dabei sei freilich bedacht, dass der klassische Souveränitätsbegriff längst relativiert ist und das Innen- / Außen-Schema nur noch einen begrenzten Erkenntniswert besitzt. Stichworte sind „offene Staatlichkeit“ (K. Vogel, 1964) „kooperativer Verfassungsstaat“ (P. Häberle, 1978), sichtbar in ZusammenarbeitsKlauseln wie Art. 28 Abs. 2 Verf. Griechenland von 1975 und Präambel Verf. Spanien von 1978. Hilfreich ist das Wort vom „Kosmopolitischen Staatsrecht“ (D. Thürer, 2005), aber auch die Erkenntnis der „Konstitutionalisierung“ des Völkerrechts insgesamt. Motoren dieser Konstitutionalisierung bleiben die je nationalen Verfassungsstaaten, die ihr staatenübergreifendes Miteinander von bloßer friedlicher Koexistenz in friedensgestaltende Kooperation wandeln. Einige Garantien dieser Offenheit sind: die offen erklärte Rezeption der universalen Menschenrechte, die viele neuere Verfassungen ausdrücklich vornehmen (Beispiele: Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien von 1978, Art. 2 Abs. 3 Verf. Brandenburg von 1992, Art. 4 Verf. Moldau von 1994, Präambel Verf. Äquatorial-Guinea von 1991, Art. 10 Verf. Burundi von 1992); Stichwort ist auch die „Völkerrechtsfreundlichkeit“ z. B. des GG (BVerfGE 6, 303 (362); 18, 112 (121); 31, 58 (75 f.), 58, 1 (41); 60, 343 (379 f.); 111, 307 (324)) sowie die Öffnung der Märkte („Weltmarkt“), also die offene Weltgemeinschaft auf wirtschaftlichem Gebiet und das Internet, gegen das sich geschlossene Staaten wie China und Nordkorea nur mit Mühe wehren können. Menschenrechte werden zu „verfassungsstaatlichem Innenrecht“ (s. auch Art. 1 Abs. 2 GG im Blick auf die EMRK). Hinzu kommen Verantwortungsklauseln wie

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Art. 151 Verf. Guatemala von 1985, sodann die Konstituierung von regionalen Staaten- bzw. „Verfassungsverbünden“ wie der EU dank ausdrücklicher EuropaArtikel (z. B. Art. 23 GG). Für die amerikanische Staatenwelt sei an die NAFTA erinnert. Einschlägig sind auch Artikel zur möglichen Übertragung von Hoheitsrechten (vgl. Art. 24 GG, Art. 117 Verf. Mali von 1992, Art. 123 Abs. 1 Verf. Albanien), die Bereitschaft zu humanitärer Hilfe für notleidende Völker (Art. 54 Abs. 2 Verf. Bern von 1993) sowie Erziehungsziele wie „Völkerversöhnung“ (Art. 148 WRV von 1919), sodann Normen zur Verbesserung der Rechtsposition von Ausländern. Auffallend ist Präambel Verf. Russland 1993, welche das Land als „einen Teil der Weltgemeinschaft“ sieht (s. auch den Souveränitätsverzicht im Interesse der afrikanischen Einheit in Art. 122 Verf. Niger von 1996). Von der Seite der Wissenschaft her erreicht die Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989) eine spezifische Öffnung der Verfassungsstaaten im Verhältnis zueinander. Die beiden europäischen Verfassungsgerichte EuGH und EGMR sind hier besonders gefordert.

II. „Verfassungsgerichtsbarkeit“ 1. Historisch und weltweit vergleichend Verfassungsgerichtsbarkeit „im“ Verfassungsstaat hat heute eine fast weltweite große Erfolgsgeschichte. Zu unterscheiden sind die beiden „Modelle“ der „unselbstständigen Verfassungsgerichtsbarkeit“ nach Art des US-Supreme Court, 1803 hat sie im Fall Marbury vs. Madison begonnen (richterliches Prüfungsrecht), und der sog. „selbstständige Verfassungsgerichtsbarkeit“, erstmals in Österreich in der sog. Kelsen-Verfassung von 1920 etabliert (der Weimarer Staatsgerichtshof (1919) war zu schwachbrüstig). Beide Modelle sind gleichwertige Typen von materieller Verfassungsgerichtsbarkeit, da sie beide das Postulat des „Vorrangs der Verfassung“ praktisch einlösen bzw. das richterliche Prüfungsrecht in Anspruch nehmen. Schon hier und jetzt lässt sich sagen, dass beide eine die „offene Gesellschaft“ auszeichnende, eine unabhängige echte Gerichtsbarkeit sind. Dabei ist die Offenheit ein Argument für jene, die heute in den USA das „life tenure“ der Supreme CourtRichter abschaffen wollen.

2. Wahlen zum Verfassungsgericht Hier sind Defizite im Blick auf die „offene Gesellschaft“ unverkennbar. Das Postulat „gesellschaftlicher Repräsentanz“ ist oft nicht erfüllt. Denn die politischen Parteien monopolisieren in vielen Verfassungsstaaten die Wahl der einzelnen Verfassungsrichter. Diese leisten zwar, einmal gewählt, meist parteiunabhängige „Pluralismusrechtsprechung“, aber die Wahl ist nicht offen. Immerhin gibt es in den USA die Hearings für die Richterkandidaten vor dem Senat, wagt die Verfassung

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Brandenburg (1992) ebenfalls eine Anhörung (Art. 112 Abs. 4 S. 4); im Übrigen aber bleiben die Verfassungsrichterwahlen „geschlossen“. Eine gewisse vorbildliche Auflockerung schuf Verf. Italien (1947): Der Staatspräsident beruft gemäß Art. 135 Abs. 1 Verf. Italien ein Drittel der Verfassungsrichter (s. auch Art. 140 Abs. 2 Verf. Rumänien von 1991; Art. 88 Abs. 2 S. 2 Verf. Georgien von 1995; Art. 107 Abs. 2 Verf. Madagaskar von 1995). Vorbildlich verlangt Art. 112 Abs. 4 S. 2 Verf. Brandenburg: „Bei der Wahl ist anzustreben, dass die politischen Kräfte des Landes angemessen mit Vorschlägen vertreten sind“. 3. Kompetenzen Im Folgenden sei gefragt, ob und wie sich die „offene Gesellschaft“ in den Kompetenzen von Verfassungsgerichten bemerkbar macht. Ganz sicher ist dies dort der Fall, wo wie im GG „jedermann“ die Möglichkeit zur Verfassungsbeschwerde hat (sie fehlt leider noch z. B. in Italien und in der EU). Denn mit dieser Offenheit des Zugangs wird das Verfassungsgericht zum „Bürgergericht“ par excellence. Die „Bürgergesellschaft“ als neues Wort für die „offene Gesellschaft“ verwirklicht sich auch in der Möglichkeit für die Pluralgruppen (z. B. Verbände), sich Zugang zum Verfassungsgericht zu verschaffen. In Deutschland kommt die Organklage für die politischen Parteien hinzu (Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG). In manchen Kompetenzen ist den Verfassungsgerichten die Offenheit der Gesellschaft sogar ganz spezifisch anvertraut: etwa dort, wo sich ein Verfassungsstaat für die „abwehrbereite“, „wertgebundene“ Demokratie gegen das Totalitäre entschieden hat (Verbot verfassungswidriger Parteien, Art. 21 GG, s. auch Art. 18 und 9 Abs. 2 GG). Jede Offenheit hat ihre Grenzen. Ein Verfassungsgericht kann sie „hüten“, auch wenn es nicht der viel berufene „Hüter der Verfassung“ ist. Im Ganzen dürfte das Optimum, nicht Maximum von Zuständigkeiten eine Garantie für die Offenheit der Verfassung bzw. ihrer Gesellschaft sein, also ein typisches Bündel an Zuständigkeiten: Verfassungsbeschwerden, Wahlprüfungssachen, bundesstaatliche bzw. regionalstaatliche Streitigkeiten, konkrete und ggf. abstrakte Normenkontrolle, Organklagen, Präsidenten- und Richteranklagen, mitunter Gutachtenkompetenzen. Hinter allem steht die Leitidee der Verhinderung von Machtmissbrauch, des Schutzes der Grundrechte und Minderheiten, die Arbeit am Grundkonsens, die Gewaltenbalance, die Garantie des Pluralismus bzw. der Offenheit der Gesellschaft. 4. Verfassungsprozessrecht als Pluralismus- und Partizipationsrecht Das Verfassungsprozessrecht, sozusagen das „Grundgesetz“ für die Verfassungsgerichtsbarkeit, erweist sich bei näherer Betrachtung als fundamental für jede offene Gesellschaft. Die Wissenschaft vom Verfassungsprozessrecht erfährt in Lateinamerika, besonders in Brasilien, Peru und Mexiko derzeit einen großen Aufschwung. Das ist kein Zufall. Junge Verfassungsstaaten erkennen, dass das Verfassungsprozessrecht spezifische Aufgaben und Möglichkeiten hat. M. E. liegen sie

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darin, besondere Pluralismus- und Partizipationsmöglichkeiten zu schaffen. Öffentlichkeit der Verhandlungen (in der Schweiz sogar der Beratungen!) gehört hierher. Das „Rechtsgespräch“ (A. Arndt) muss vor dem Forum des Verfassungsgerichts Wirklichkeit werden (können). „Anhörungen“ aller Art, in der Praxis des BVerfG z. T. vorbildlich durchgeführt (z. B. E 49, 304 (310 ff.); 57, 70 (80 ff.); 62, 117 (137 ff.); 63, 255 (276 ff.); 94, 241 (252 ff.)), dienen diesem Ziel. In Brasilien hat sich der Supreme Court in einzelnen Entscheidungen jüngst ausdrücklich auf die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ berufen, um das Institut des „amicus curiae briefs“ zu rechtfertigen. Das Verfassungsprozessrecht wird so zu einer Pluralismus- und Partizipationsgarantie, so beschwerlich dies angesichts der Überlastung der meisten Gerichte oft sein mag. Das glücklichste Instrument zur Öffnung der Verfassungsgerichtsbarkeit zur offenen Gesellschaft hin aber ist das Sondervotum: von den USA entwickelt, in vielen Ländern praktiziert (z. B. Ukraine, Kroatien, Deutschland, Albanien), in Spanien sogar auf Verfassungsstufe normiert (Art. 164 Abs. 1 Verf. von 1978). Sie macht Verfassung zum „öffentlichen Prozess“, sie trägt Offenheit der Gesellschaft in das Verfassungsgericht und von diesem zu jener zurück („Pluralismusrechtsprechung“). Und sie ist am konstitutionellen Gesellschaftsvertrag beteiligt. 5. Bindungswirkungen, „Folgen“ der verfassungsgerichtlichen Entscheidungen Der offenen Gesellschaft „kongenial“ wird eine Verfassungsgerichtsbarkeit in der vielfältigen Ausgestaltung der unterschiedlichen Bindungswirkungen bzw. „Folgen“ ihrer Entscheidungen (§ 31 BVerfGG, vgl. etwa BVerfGE 104, 191 (196 f.)). Das BVerfG hat ein differenziertes Bündel geschaffen: von der Nichtigkeitserklärung eines Gesetzes über die bloße Feststellung der Verfassungswidrigkeit bis zur „Appellentscheidung“, dem bloßen obiter dictum, und die Richter haben die Möglichkeit des Sondervotums. Verfassungsgerichte sind m. E. nicht „authentischer Verfassungsinterpret“, wie dies manche Verfassungen sagen (z. B. Verf. Albanien von 1998: Art. 124 Abs. 1: „endgültige Auslegung“; Art. 149 Abs. 1 Verf. Burundi von 1992: „der Interpret der Verfassung“; Art. 149 Abs. 1 Ziff. 1 Verf. Bulgarien: „bindende Interpretation der Verfassung“), sie sind nur ein Interpret in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, freilich ein besonders qualifizierter.

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III. Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der offenen Gesellschaft, als gesellschaftliches Gericht eigener Art, als Beteiligter in der Fortschreibung des konstitutionellen Gesellschaftsvertrags 1. Die Ausgangsthesen von 1978 a) Das BVerfG als „Verfassungsgericht“ – als „gesellschaftliches Gericht“ eigener Art Das BVerfG hat formal betrachtet alle Eigenschaften eines – in seiner eigenen Terminologie gesprochen – „staatlichen“ Gerichts (s. auch E 18, 241; 22, 42; 26, 186; 48, 300 (315 ff.)), d. h. es beruht auf staatlichem Gesetz, und der Staat regelt bzw. beeinflusst die Richterbestellung. Es ist indes weit mehr: es ist Verfassungsgericht, d. h. kompetent für enumerativ aufgezählte materielle Verfassungsstreitigkeiten. Das volle Gewicht dieser Aussage erhellt erst aus einer Klärung des Verfassungsbegriffs. „Verfassung“ ist rechtliche Grundordnung von Staat und Gesellschaft; sie ist nicht nur Beschränkung staatlicher Macht, sie ist Ermächtigung zu staatlicher Macht. Sie umgreift Staat und Gesellschaft. Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft wirkt von vornherein jenseits des Trennungsdogmas Staat / Gesellschaft. Dass das BVerfG „Verfassungsgericht“ der ganzen res publica ist, hat sehr konkrete Auswirkungen in Detailfragen, z. B. bei der Richterablehnung; es hat überdies zur Folge, dass das Gericht sich nicht auf eine Theorie oder „Schule“ festlegen darf, sondern sich um eine pragmatische Integration von Theorieelementen bemühen muss. Dieser materielle Verfassungsbezug der Verfassungsgerichtsbarkeit hat materielle und prozessuale Implikationen: z. B. in ihrer Verpflichtung auf das Pluralismusmodell und in der Forderung nach Ausbau des Verfassungsprozessrechts im Blick auf pluralistische Informations- und Partizipationsinstrumente, also die offene Gesellschaft. Die wachsende pluralistische Informationsbeschaffungspolitik des BVerfG ist in diesem Zusammenhang zu sehen. Auch die Verfassungsrichterwahl, aus dem Spektrum der politischen Parteien und in Zukunft hoffentlich noch stärker über diese hinausgreifend, bezieht den Pluralismus effektiv in die Verfassungsverfahren ein (und wirkt auf ihn ein). Das ist Voraussetzung für eine Steuerung der Gesellschaft durch das Verfassungsgericht und „sein“ Recht. Hier kommt es zu einer Wechselwirkung: Je mehr das BVerfG in die Prozesse der Steuerung der Gesellschaft eingreift, desto mehr wendet sich diese Gesellschaft ihm zu, will sie sich Gehör „in Karlsruhe“ verschaffen. Wie sehr dies der Fall ist, zeigte sich in der Verhandlung in Sachen Mitbestimmung: Man spürte in den Tagen 1978 förmlich die Kraftlinien gesellschaftlicher Öffentlichkeit im Sitzungssaal. Dieser Ansatz führt zu einer weiteren „Stufe“. Das BVerfG ist in seinem intensiven Bezug zur Gesamtgesellschaft zu sehen: es ist ein „gesellschaftliches Gericht“

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eigener Art und im weiteren Sinne. Es öffnet sich durch seine Rechtsprechung für die Vielfalt von Ideen und Interessen – nimmt sie in sich auf –, umgekehrt steuert es die Gesellschaft. Angesichts der Richterwahl, der Handhabung seines Verfassungsprozessrechts und der materiellen Auslegungsergebnisse (z. B. in der Strukturierung von Teilaspekten der Gesellschaft über die „Drittwirkung“ von Grundrechten) ist es mehr ein gesamtgesellschaftliches denn ein „staatliches“ Gericht. Das hat Konsequenzen auf höherer Ebene, aber auch für die Alltagsarbeit des Gerichts! Das BVerfG und sein Verfahrensrecht gewinnen eine einzigartige Gesellschaftsbezogenheit. Seine – Staat und Gesellschaft umspannende – Tätigkeit folgt in einem allgemeinen Sinne daraus, dass es das Gericht für die Verfassung ist – und das GG regelt nicht nur den Staat, sondern in der Grundstruktur auch die Gesellschaft, die es zur „verfassten Gesellschaft“ macht. Das BVerfG wirkt überdies sehr speziell und gezielt, intensiv und weitreichend in spezifischer Weise in den Bereich der res publica zwischen „Staat“ und „privat“ hinein, den man die „Gesellschaft“ oder den Bereich des – pluralistisch – Öffentlichen nennen kann. Das zeigt sich nicht nur in der Effektivierung der Grundrechte von der Verfahrensseite her (z. B. E 46, 325 (333)), sondern auch in seiner Verfahrenspraxis, sich zunehmend der Informationsund Partizipationsinstrumente des Verfassungsprozessrechts zu bedienen. Es beschafft sich Informationen durch eine differenzierte Anhörungspraxis und gestufte Beteiligungsformen in Bezug auf pluralistische Gruppen, Organisationen wie den DGB, die Arbeitgeberverbände und die Kirchen etc. Damit „ragt“ es in den gesellschaftlichen Bereich hinein, es nimmt Ideen und Interessen aus ihm auf, „hört“ und verarbeitet sie im Wege seiner offenen Verfassungsinterpretation. Auf diesem Wege ist es von der Wissenschaft zu unterstützen. Das Verfassungsprozessrecht öffnet sich der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, es wird ihr „Medium“, zumal dort, wo das Parlament versagt hat. So wie der Weg des parlamentarischen Gesetzes der Versuch einer „Umsetzung“ des Gesellschaftlichen in das Staatliche war und ist, so zeigen sich jetzt – begrenzte – Parallelerscheinungen im verfassungsgerichtlichen Verfahren. Anders formuliert: Das BVerfG nähert sich der Gesellschaft auf zweifache Weise: es steuert sie zunehmend durch seine ausladende Rechtsprechung (z. B. über die Drittwirkung und Objektivierung von Grundrechten), es strukturiert sie und macht sie auf seine Weise zu einem Stück „verfasster Gesellschaft“. Eben wegen dieser „Gesellschaftsbezogenheit“ sieht es sich veranlasst, in seinem Verfahrensrecht die Gesellschaft vor sein Forum zu bringen: nachweisbar in der pluralistischen Informations- und Partizipationspraxis vor allem in „großen Prozessen“ (wie den NC-Verfahren), aber auch in kleineren Verfahren. Überspitzt formuliert: Das BVerfG gewinnt zu einem Gran den Charakter eines „(gesamt)gesellschaftlichen Gerichts“ eigener Art. Es verliert an herkömmlicher Staatlichkeit in dem Maß, wie es ein Faktor im Vorgang des Verfassens der Gesellschaft wird. Es ist „Verfassungsgericht“ jenseits der Trennung von Staat und Gesellschaft, von staatlichen

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und „gesellschaftlichen Gerichten“. Das BVerfG macht mit der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ ernst – nicht nur verfahrensmäßig, d. h. verfassungs-prozessrechtlich, sondern auch inhaltlich in seiner Verfassungsinterpretation, indem es Äußerungen der Bundesregierung, z. B. Regierungserklärungen, das Selbstverständnis von Kirchen (E 42, 312 (331) bzw. 46, 73 (95)), Argumente einer Vereinigung wie des Bundes „Freiheit der Wissenschaft“ oder einer Institution wie des Wissenschaftsrats aufgreift (vgl. BVerfGE 47, 327 (384 f.)).

b) Verfassungsgerichtsbarkeit „im“ Gesellschaftsvertrag: Das BVerfG als Regulator in den kontinuierlichen Prozessen der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag aa) Die These Die These lautet: Das BVerfG hat eine spezifische gesamthänderische Verantwortung in der Garantie und Fortschreibung der Verfassung als Gesellschaftsvertrag; es steuert ihre kontinuierlichen Prozesse mit; es ist dabei dem Pluralismusprinzip verpflichtet. Das Modell des Gesellschaftsvertrags – klassischer gemeineuropäischer Besitz – ist im hier gebrauchten Sinn ein Denkmodell, ein heuristisches Prinzip zum Zweck der Verbürgung personaler Freiheit und öffentlicher Gerechtigkeit. Es ist gewiss kein „Leisten“, über den sich die ganze Wirklichkeit einer Verfassung als öffentlicher Prozess schlagen ließe; aber es kann Hilfestellung geben für die sachgerechte Bewältigung mancher politischer bzw. verfassungsrechtlicher Grundsatzfragen – frei von vereinseitigenden „Setzungsideologien“. Seine Erstreckung auf das Verfassungsgericht mag manchen kühn erscheinen; sie ist – soweit ersichtlich – bislang nicht gewagt worden. So alt das Vertragsmodell ist, so relativ jung ist die Verfassungsgerichtsbarkeit. In Beziehung zueinander wurden beide (wohl eben darum) noch nicht gesetzt. Das kann eine Chance sein. Sie sollte genutzt werden. Die klassische Lehre vom Gesellschaftsvertrag hat im Gang der Geschichte in den verschiedensten Zusammenhängen als Erklärungs- und Rechtfertigungsmodell gedient (von Locke bis Rosseau, von Kant bis zur gegenwärtigen Diskussion um den Grundkonsens). Warum sollte sie heute nicht Aussagekraft für unsere Probleme, für Fragen der Verfassungsgerichtsbarkeit, für die Fortentwicklung der Verfassung entfalten können? bb) Beispielsmaterial Positive Beispiele für die sachangemessene Bewältigung von Verfassungsfragen anhand des Modells vom Gesellschafts- bzw. Generationenvertrag liefert der Lastenausgleich: die große, schon historische Nachkriegsleistung. Sowohl der Bundesgesetzgeber und die Exekutive mit ihren zahlreichen Nachfolgeregelungen als auch die betroffene (Volks- und Betriebs-)Wirtschaft, ja jeder Bürger hat seinen

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Beitrag geleistet zum Gelingen dieses vorbildlichen Gemeinschaftswerkes; das BVerfG hat die verfassungsrechtlichen Wege geebnet. Man kann hier im besten Sinn von einer „konzertierten Aktion“ aller Bürger und Gruppen sprechen: von einer geglückten Bewährung des Gesellschafts- bzw. Generationenvertrags, von einem Verbund aller mit allen. Der Gesellschaftsvertrag hat heute aber auch eine spezifische Aktualität für die ältere Generation: greifbar im Stichwort „Rentenvertrag“! Weder dürfen „die Jungen“ über Gebühr belastet, noch „die Alten“ in ihrem Vertrauen auf die junge Generation als „Vertragspartner“ enttäuscht werden. Die junge Generation hat ihrerseits zu bedenken, was die Väter und Mütter in der republikanischen Aufbauzeit nach 1945 geleistet haben. Es geht um Gerechtigkeit der Leistung und Gegenleistung zwischen den Generationen. Nicht weniger brisant ist das Modell des Gesellschaftsvertrages im Blick auf die drohende Überbelastung der jungen Generation durch die Staatsverschuldung oder die Atomkraft. Nicht nur die „Wirtschaft“ darf auf die Grenzen ihrer Belastbarkeit nicht „getestet“ werden; erst recht darf die humane Zukunft von Generationen nicht mit unberechenbaren Risiken überbelastet werden. Partner des Gesellschaftsvertrags sind also nicht nur die Lebenden, sondern auch die noch Ungeborenen! Zu ihren Gunsten besteht eine Treuhänderschaft. Vielleicht ist sie heute sogar global zu sehen, d. h. auf den ganzen Erdball unseres „blauen Planeten“ zu erstrecken. Die Weltgesellschaft ist in einem „Weltvertrag“ zu sehen; selbst wenn er faktisch nicht besteht, hat sie sich so zu verhalten, als bestünde er: zum Wohl der ganzen Menschheit. Die Menschenrechtspakte der UNO sind in dieser Hinsicht Perspektiven. Im Einzelnen: Das Verfassungsgericht hat Mitverantwortung, keine Alleinverantwortung für den konstitutionellen Gesellschafts-, insbesondere den Generationenvertrag. Es hat hier nur neben anderen, insbesondere neben dem demokratischen Gesetzgeber, einen funktionellrechtlich spezifisch ihm zugewiesenen Platz. Das BVerfG dürfte z. B. keine Rentenregelung passieren lassen, welche die alte oder die neue Generation außer Verhältnis be- bzw. entlastet; „formell“ lässt sich mit dem Sozialstaatsprinzip, der Menschenwürde, dem Vertrauensschutz und dem Wert der Arbeitskraft argumentieren, der Sache nach sollte man sich am Vertragsmodell orientieren. Der Kreis der am Gesellschafts- bzw. Verfassungsvertrag Beteiligten muss also die offene Gesellschaft erfassen, er darf nicht die geschlossene etablieren: Randgruppen, Behinderte, Gruppen, die nicht oder nur schwer organisierbar sind (z. B. die Alten), gehören ebenso hierher wie religiöse Minderheiten. Der Zugang sollte möglichst offen bleiben, so wie umgekehrt als Ausscheiden die Auswanderungsfreiheit als Menschenrecht geschützt sein muss: nur totalitäre Gesellschaften versagen diese individuelle „Kündigung“ des Gesellschaftsvertrags! Bei einer beweglichen Sicht der Beteiligung des BVerfG an Bewahrung und Veränderung des Gesellschaftsvertrags (als Wirkfaktor), im Ganzen an seiner Bewäh-

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rung, bei Anerkennung einer gesamthänderischen Verantwortung aller an diesem „Verfassungsvertrag“ – die neuere Geschichte belegt, wie sehr Verfassungen entstehungsgeschichtlicher Kompromiss und nicht einseitige „Setzung“ oder „Emanation“ sind – ergibt sich für das BVerfG (und mutatis mutandis für die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder) Folgendes: Im Wechselspiel von Tradition und Wandel, von Veränderung und Bewahrung prescht das BVerfG bald weiter vor, so im Minderheitenschutz (Zeugen JehovasFälle), bald hält es sich stärker zurück, etwa im wirtschaftlichen Bereich. Es darf weder Generationen ganz oder überwiegend von den Prozessen der Fortentwicklung der Verfassung „aussperren“, noch selbst vom Senat zum Seniorat werden, d. h. als Partner des Gesellschaftsvertrags allein die Alten und Lebenden sehen. Perioden des „judicial activism“ und des „judicial restraint“ dürfen im Lichte eines gesellschaftsvertraglichen Verständnisses des BVerfG einander ablösen – der USSupreme Court vermittelt hier gutes Anschauungsmaterial. Es bleibt insonderheit der eigenständige Bereich des demokratischen Gesetzgebers als erste Gewalt. In diese verfassungsvertragliche Sicht fügt sich der – gestufte – status activus processualis pluralistischer Gruppen ebenso ein wie die gesamtgesellschaftliche Sicht des Verfassungsprozessrechts. Das BVerfG im weiteren Sinne als „gesellschaftliches Gericht“ eigener Art jenseits des Trennungsdogmas von Staat und Gesellschaft zu sehen, erscheint nicht mehr utopisch. Der status activus processualis constitutionis gebührt an erster Stelle dem Bürger: die jedem – ohne Anwaltszwang – offenstehende Verfassungsbeschwerde ist sein genuines Grundrecht von der Verfahrensseite her, sie ist ein Kernstück des status activus processualis constitutionis. Das spezifisch verfassungsrechtliche Verständnis des Verfassungsprozessrechts führt aber auch zu seiner Deutung als pluralistisches Informationsrecht und als Partizipationsrecht für pluralistische Gruppen; verwiesen sei auf die wachsende Praxis des Gerichts, Organisationen wie den DGB, Arbeitgeberverbände, andere Verbände und Gruppen in mehr oder weniger „großen“ Verfassungsprozessen zu Wort kommen zu lassen. Dies ist Ausdruck eines gesellschaftsbezogenen Verständnisses der Funktion des BVerfG als Verfassungsgericht, d. h. als eines Staat und Gesellschaft umgreifenden Gerichts, das damit auch substantielle Qualitäten dieser Gesamtheit einschließt. 2. Variable Anwendung in Zeit und Raum Rolle und Funktionen der miteinander verglichenen Verfassungsgerichte und ihre Aufgabe für die offene Gesellschaft entwickeln sich und variieren buchstäblich „im Laufe der Zeit“, je nach Raum und Zeit. Sie sind historisch zu begreifen. Nicht einmal der abstrahierende „Typus“ Verfassungsstaat erlaubt oder verlangt eine Aussage darüber zu treffen, welche Rolle heute ein nationales oder (übernational) „regionales“ Verfassungsgericht wie der EuGH oder EGMR sozusagen „absolut“ zu spielen hat. Es mag ein seinerseits je nach Raum und Zeit nicht weiter

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minimierbares „Quantum“ an Zuständigkeiten und Funktionen geben, auch ein „Maximum“ und „Optimum“, doch zeigen schon wenige Beispiele, wie sehr unsere Fragestellung zeitlich / räumlich bedingt ist. Der StGH der Weimarer Zeit (1919) war trotz seiner recht geringen Kompetenzen (z. B. keine Verfassungsbeschwerde!) durchaus ein Verfassungsgericht (wenngleich eher ein typischer „Staatsgerichtshof“). Das deutsche BVerfG mit seinen im weltweiten Vergleich betrachtet wohl größten Kompetenzvolumen ist gewiss ein echtes Verfassungsgericht, vielleicht sogar mehr als das (?), ebenso der US-Supreme-Court der USA. Die bewundernswerte Entwicklung des französischen Conseil Constitutionnel sei erwähnt. Ist die Spezialisierung zu schmal, etwa wie in Mexiko die Wahlprüfungsgerichtskompetenz einzelner Gerichte, so mag man Zweifel haben, sie aber letztlich doch zurückweisen („spezielle Verfassungsgerichte“). Das Wahlprüfungsrecht ist eine konstitutionelle Kompetenz von großer Bedeutung gerade für die offene Gesellschaft. Besonderes gilt für große historische Umbruchsituationen („Revolutionen“) – wie in den osteuropäischen Reformstaaten nach ihrer Überwindung totalitärer Systeme nach 1989 oder in Lateinamerika nach dem Sturz der Militärregime (Respekt vor dem Obersten Gerichtshof Argentiniens, welches das „Schlusspunktgesetz“ 2005 für verfassungswidrig erklärt hat!). Hier wuchs den Verfassungsgerichten die Rolle der partiellen Verfassunggebung für eine offene Gesellschaft zu, sie mussten das nationale Verfassungsrecht in Teilen – praktisch „erfinden“, jedenfalls „entwickeln“, die anderen Verfassungsorgane wie die Parlamente, die übrigen Gerichte, auch die öffentliche Meinung kannten und beherrschten noch nicht das „Geschäft“ der Verfassungsinterpretation, trotz allen „Vorrangs der Verfassung“ in den Urkunden. Hier ging es auch um „Verfassungspädagogik“. In Ungarn sprach man von einer „unsichtbaren Verfassung“ des Verfassungsgerichts. „Judicial activism“ war gefragt. In einem System mit halbdirekter Demokratie wie etwa der kulturell und politisch gefestigten Schweiz kann sich dagegen die materielle Verfassungsrechtsprechung des Bundesgerichts eher zurückhalten (immerhin hat es nach und nach prätorisch „ungeschriebene Grundrechte“ entwickelt, die die neue BV (1999) später rezipiert hat). M.a.W.: Erst eine ganzheitliche, auch die anderen Staatsfunktionen mit in den Blick nehmende Betrachtung vermag etwas zur Rolle der jeweiligen Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft auszusagen. Das Verfassungsgericht in Südafrika dürfte 1993 / 96 in einer den osteuropäischen Ländern vergleichbaren Lage gewesen sein: Schöpferische Verfassungsgerichtsbarkeit war bzw. ist gefragt, gerade in den pluralistischen, langwierigen Prozessen von „Nation building and Constitution making“. Bekannt ist das reiche Wechselspiel von „judicial activism“ und „judicial restraint“ im US-Supreme Court. Wann und wie sich ein Gericht stärker gestaltend betätigen oder mehr zurückhalten soll, ist eine „Gretchenfrage“, die sich letztlich an den „Volksgeist“ bzw. „Weltgeist“ richtet! – vor allem aber an die offene Gesellschaft stellt.

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Ausblick und Schluss Als unverzichtbar hat sich die Gesamtbetrachtung erwiesen: „Offene Gesellschaft“ und „Verfassungsgerichtsbarkeit“ gehören heute untrennbar zusammen. Die Verfassungsgerichtsbarkeit konstituiert heute in fast allen Ländern die offene Gesellschaft wesentlich mit (Ausnahme: Griechenland, in das aber die beiden Europäischen Verfassungsgerichte EGMR und EuGH wirken), und die Verfassungsgerichtsbarkeit lebt ihrerseits aus den Impulsen und Kräften, Innovationen, auch Irrungen der offenen Gesellschaft. Sie lebt nicht „aus sich“ selbst, ihr Gesellschaftsbezug ist offenkundig. Jeder Verfassungsstaat muss sich sensibel halten für neue Chancen und Gefährdungen, dabei kann die Verfassungsgerichtsbarkeit helfen. Sie mag ein Übermaß an Offenheit begrenzen und das politische Gemeinwesen festigen, sie muss aber auch (wie in Deutschland so erfolgreich bei Rundfunk und Fernsehen sowie im Parteienrecht) Offenheit (Pluralismus) anmahnen und durchsetzen („Pluralismusrechtsprechung“). Offenheit der Verfassungsgerichtsbarkeit als Teil der offenen Gesellschaft bedeutet auch Offenheit für neue Paradigmen der Wissenschaft. Das deutsche BVerfG hat diese Bereitschaft des Öfteren bewiesen: man denke an die Lehre von den Grundrechten als Verfahrensgarantien (E 53, 30 (65 f.), vor allem das Sondervotum ebd. S. 69 ff.), oder das Schlüsselwort von der „praktischen Konkordanz“ (K. Hesse), z. B. E 59, 360 (381); SV Henschel in: E 78, 38 (54, 56); sodann E 83, 130 (143, 147 f.); 93, 1 (21).

Literatur Arnold, R.: Die europäischen Verfassungsgerichte und ihre Integrationskonzepte in vergleichender Sicht, in: H. Schäffer / W. Berka / H. Stolzlechner / J. Werndl (Hrsg.), Festschrift anläßlich des 65. Geburtstages von Friedrich Koja, 1998, S. 3 ff. Badura, P. / Dreier, H. (Hrsg.): FS 50 Jahre BVerfG, 2 Bde. 2001 Brünneck, A. von: Verfassungsgerichtsbarkeit in den westlichen Demokratien, Ein systematischer Verfassungsvergleich, 1992 Büdenbender, M.: Das Verhältnis des Europäischen Gerichtshofs zum Bundesverfassungsgericht, 2005 Frowein, J. Abr., u. a. (Hrsg.): Grundfragen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Mittel- und Osteuropa, 1998 Häberle, P.: Die Verfassung des Pluralismus, 1980 – Verfassungsgerichtsbarkeit (Hrsg.), 1982 – Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979 – Die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates, EuGRZ 2004, S. 117 ff. – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998

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Hesse, K.: Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, 20. Aufl. 1995 (Nachdruck 1999) Kremp, W. (Hrsg.): 24. Februar 1803. Die Erfindung der Verfassungsgerichtsbarkeit und ihre Folgen, 2003 Lerche, P.: Verfassungsgerichtsbarkeit in besonderen Situationen, 2001 Luther, J.: Die italienische Verfassungsgerichtsbarkeit, 1990 Massing, O.: Politik als Recht – Recht als Politik. Studien zu einer Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, 2005 Piazolo, M.: Verfassungsgerichtsbarkeit und politische Fragen, 1994 Riecken, J.: Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie, 2003 Schulze-Fielitz, H.: Das BVerfG in der Krise des Zeitgeistes, AöR 122 (1997), S. 1 ff. Schwarze, J. (Hrsg.): Verfassungsrecht und Verfassungsgerichtsbarkeit im Zeichen Europas, 1998

Verantwortung im Verfassungsstaat – Kommentierung zu Art. 6 der Schweizerischen Bundesverfassung* Art. 6 BV Jede Person nimmt Verantwortung für sich selber wahr und trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei. Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung Toute personne est responsable d’elle-même et contribue selon ses forces à l’accomplissement des tâches de l’Etat et de la société. Responsabilité individuelle et sociale Ognuno assume le proprie responsabilità e contribuisce secondo le proprie forze alla realizzazione dei compiti dello Stato e della Società. Responsabilità individuale e sociale Materialien: Bericht BR 1985, S. 81 f.; Botsch. BR zum VE 96, S. 139; Prot. VK (NR) vom 19. 11. 97, S. 1080 ff. und vom 20. 11. 97, S. 1097; Prot. VK (StR) vom 5. 5. 98, S. 4957; Prot. VK (NR) vom 2. 9. 98, S. 1412; Amtl. Bull. NR, Verfassungsreform, S. 137 ff. Literatur: Aubert Jean François, Droits et devoirs de l’homme et du citoyen: une symétrie?, in: Rdaf 1997, S. 1 ff. (zit. Droits et devoirs); ders. / Mahon Pascal, Petit commentaire de la Constitution fédérale de la Confédération suisse du 18 avril 1999, Zürich u. a., 2003; Buser Denise u. a. (Hrsg.), Die Baselstädtische Kantonsverfassung, Basel, 1999; Häberle Peter, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., Berlin 1998; ders., Die Verfassung im Kontext, in: Thürer / Aubert / Müller, Verfassungsrecht der Schweiz, § 2; ders., Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl., Baden-Baden 2008; ders., Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Aufl., Berlin 2005; Haldermann Frank, Verantwortung als Verfassungsprinzip: Die Schweizerische Verfassungsordnung im Spannungsfeld der Verantwortungsethik, Zürich u. a., 2003; Kley Andreas, Grundpflichten Privater im schweizerischen Verfassungsrecht, Diss. St. Gallen 1989; Kramer Ernst A., Juristische Methodenlehre, 2. Aufl., Bern u. a. 2005; Müller Jörg Paul, „Responsive Government“: Verantwortung als Kommunikationsproblem, in: ZSR 1995 I 3 ff.; ders., Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl., Bern 1999; Rhinow René, Die Bundesverfassung 2000, Basel u. a., 2000; ders., Grundzüge des Schweizerischen Verfassungsrechts, Basel, 2003; Richli Paul, Staatsziele, Staatsaufgaben und Staatsverwaltung – Streifzug durch neue Kantonsverfassungen und durch den

* Erschienen in: Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), Die Schweizerische Bundesverfassung. Kommentar, Dike Verlag / Schulthess Verlag, Zürich / Lachen, 2002, S. 67 ff. (2. Auflage 2008).

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Luzerner Verfassungsentwurf, Zbjv Bd. 140 (2004), S. 801 ff.; Saladin Peter, Verantwortung als Staatsprinzip, Bern / Stuttgart 1984; Waechter Kay, Kooperationsprinzip, gesellschaftliche Eigenverantwortung und Grundpflichten, in: Der Staat 38 (1999), S. 279 ff.

I. Entstehungsgeschichte Art. 6 ist neu. Die aBV kannte keine vergleichbare Bestimmung. Betrachtet man die Entstehungsgeschichte des heutigen Art. 6, so fällt auf, dass im VE 96 noch keine Bestimmung explizit der persönlichen und gesellschaftlichen Verantwortung des Einzelnen gewidmet war. Erst in der Verfassungskommission des Nationalrates wurden im Zusammenhang mit der Diskussion der Sozialziele Anträge gestellt, die eine ausdrückliche Verankerung der Verantwortung der Menschen in unserem Lande forderten. In den Materialien zeigen sich bestimmte Textstufen im Entstehungsprozess von Art. 6. Das Ringen um die relativ „besten“ Inhalte lässt sein dogmatisches Koordinatensystem erkennen. Er wurde zunächst als Art. 3 Bst. b, später als Art. 5 Bst. a behandelt. Folgende Anträge zeigen grosses Problembewusstsein der Nationalräte: „Neben der Verantwortung für sich selbst, trägt jede Person Verantwortung gegenüber Mitmenschen und der Gesellschaft (Abs. 1). Jede Person hat die Pflichten zu erfüllen, die ihr durch die Verfassung und die auf ihr beruhende Gesetzgebung auferlegt werden“ (Abs. 2) – so der Antrag von NR Schmid. „Jede Person soll ihre Fähigkeiten nach ihren Neigungen entfalten und entwickeln können (Abs. 1). Sie trägt neben der Eigenverantwortung Verantwortung gegenüber der Mit-, Um- und Nachwelt (Abs. 2). Jede Person trägt dazu bei, dass die Gesellschaft allen ermöglichen kann, was sie für sich beansprucht“ (Abs. 3) – so der Antrag von NR Gross und NR Zbinden. Weitere Stichworte lauten: „Mitverantwortung gegenüber Mitmenschen und Gesellschaft“ und „Gemeinsinn als kategorischer Imperativ: Das, was der Mensch von der Gesellschaft beansprucht, soll er auch zurückgeben“ (NR Gross). Die Idee der „Pflichten“ und „Verantwortung“ war von BR Koller angeregt worden, der in der vom „Interaction Council“ entworfenen Allgemeinen Erklärung der Menschenpflichten (dazu Altbundeskanzler H. Schmidt, in: Die Zeit vom 3. 10. 1997, S. 18) „Schützenhilfe“ erblickte (vgl. Voten Schmid, Gross und BR Koller, Amtl. Bull. NR, Verfassungsreform, S. 138 ff., 142 ff., 144 f.). Die Entstehungsgeschichte des Art. 6 ist in Gestalt einer Tafel aufgelistet bei Pascal Mahon, in: J.-F. Aubert / P. Mahon, Petit commentaire, a. a. O., S. 55.

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II. Die ganzheitliche Einordnung dieser Grundsatzbestimmung 1. Rechtsvergleichung in Zeit und Raum (in- und ausländische Vorbilder) Eine innerschweizer Rechtsvergleichung, wie sie der „Werkstatt Schweiz“ bzw. ihrem lebendigen Föderalismus entspricht, kann unschwer kantonale Vorbilder entdecken. So lautet Art. 8 KV BE (1993): „Jede Person hat die Pflichten zu erfüllen, die ihr durch die Verfassung und die auf ihr beruhende Gesetzgebung auferlegt werden (Abs. 1). Neben der Verantwortung für sich selbst trägt jede Person Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sowie Mitverantwortung dafür, dass das Recht zur Selbstbestimmung auch künftiger Generationen gewahrt bleibt“ (Abs. 2). Die KV TI (1997) spricht in ihrer Präambel von der „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“, und ihr Art. 12 normiert Pflichten (z. B. gegenüber den „Rechten des anderen und den künftigen Generationen“). Andere ältere und neuere Kantonsverfassungen enthalten an den verschiedensten systematischen Stellen ebenfalls Verantwortungs- bzw. Pflichtenklauseln, wie z. B. die KV AR von 1995 in Art. 26 Abs. 1, Art. 27 Abs. 3, Art. 36 Abs. 1, hier im Kontext der Erziehungsziele; die KV SO von 1986 in der Präambel, Art. 22, Art. 94 Abs. 1 im Kontext der Sozialziele. Die KV UR von 1984 normiert in Art. 16 „Pflichten dem Staat und der Allgemeinheit gegenüber“. Viele neue Kantonsverfassungen folgen dem Art. 6 BV, z. T. in Varianten: so Art. 6 KV Graubünden (2003): „Verantwortung für sich selbst sowie Mitverantwortung für die Gemeinschaft und für die Erhaltung der Lebensgrundlagen“ – hier klingt der lebenswissenschaftliche Ansatz an, so Art. 6 KV Schaffhausen (2002), der in Abs. 1 die „Verantwortung für sich selbst“ thematisiert, in Abs. 2 die „Mitverantwortung für die Gemeinschaft und die Umwelt“ normiert und in Abs. 3 sagt: „Sie (sc. jede Person) erfüllt die Pflichten, die ihr durch Verfassung und Gesetz übertragen werden“ – ein überzeugender textlicher Hinweis auf den Kontext der Grundpflichten. Art. 5 Abs. 1 KV Zürich (2005) rezipiert Art. 6 BV wörtlich – unter der nur z. T. richtigen Überschrift „Subsidiarität“, die eigentlich erst in Abs. 2 und 3 zum Ausdruck kommt („Hilfe zur Selbsthilfe“, Wahrnehmung der „Aufgaben von öffentlichem Interesse“ durch Kanton und Gemeinden „soweit Private sie nicht angemessen erfüllen“ (Lob insoweit bei P. Richli, ZBJV 140 (2004), S. 801 (815)). Die KV von Fribourg (2004) lautete im Entwurf von 2002 in Art. 43: „1. Jede Person ist für sich selbst verantwortlich. Sie nimmt ihre Mitverantwortung gegenüber anderen Menschen, der Gemeinschaft und den zukünftigen Generationen wahr“. Dies ist eine neue, sehr geglückte Textstufe (zumal wegen des Generationenbezugs). Im Text von 2004 heißt es in Art. 7 („Pflichten“): „Jede Person hat die Pflichten zu erfüllen, die ihr Verfassung und Gesetzgebung auferlegen“. Abs. 2 normiert die „Mitverantwortung gegenüber sich selbst, anderen Menschen, der Gemeinschaft und den zukünftigen Generationen“ sowie die Subsidiarität („in Ergänzung seiner eigenen Fähigkeiten“). Damit sind die einschlägigen drei The-

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men zusammengebunden. Die KV Waadt (2003) variiert diese Texte. Art. 8 lautet: „Responsabilité individuelle: (1) Toute personne physique ou morale est responsable d’elle-même et assume sa responsabilité envers autrui. (2) Elle contribue à la bonne marche de la collectivité dans laquelle elle vit et prend sa part de responsabilité pour garantir aux générations futures qu’elles auront aussi la possibilité de décider elles-mêmes de leur devenir. (3) Elle assume sa part de responsabilité dans une utilisation appropriée des deniers publics et des services financés par ceux-ci.“ In Wahlverwandtschaft ist der Verfassungsentwurf für Basel-Stadt konzipiert (2003 / 2004), insofern die „Grundsätze der Bildung und Erziehung“ in § 19 als ein Element des Leitbildes das Ziel postuliert: „Verantwortungsbewusstsein gegenüber den Mitmenschen und der Mitwelt zu stärken sowie das Hineinwachsen in die Gesellschaft, vorzubereiten und zu begleiten“. Der Vorentwurf 1 (1997) hatte einen § 22 „Persönliche Pflichten“ vorgeschlagen, dessen Abs. 2 bündig lautet: „Neben der Verantwortung für sich selbst trägt jede Person Verantwortung gegenüber den Mitmenschen sowie Mitverantwortung dafür, dass das Recht der Selbstbestimmung auch künftigen Generationen gewahrt bleibt.“ (zit. nach D. Buser u. a. (Hrsg.), 1999, S. 39.) Damit wird ein Stück „Generationengerechtigkeit“ erkennbar! Die neue Fassung des Kantons Basel-Stadt vom März 2005, angenommen am 30. Oktober 2005, lautet in ihrem § 6: „1Jede Person ist verpflichtet, die Rechtsordnung zu befolgen. 2Jede Person trägt Verantwortung für sich selbst sowie gegenüber den Mitmenschen und der Umwelt. 3Jede Person trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.“ Diese glückliche Norm steht nicht zuletzt im Kontext mit der eindrucksvollen Präambel „In Verantwortung gegenüber der Schöpfung . . .“. In kongenialem Geist ist der jüngste Entwurf der Luzerner Verfassung (Botschaft B 123 vom 22. November 2005) redigiert: In der Präambel findet sich der Passus „in Verantwortung vor Gott, gegenüber den Mitmenschen und der Natur . . .“. Damit ist die Brücke zu § 3 eröffnet: „Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung: 1Jede Person hat die Pflichten zu erfüllen, die ihr durch die Rechtsordnung auferlegt werden. 2Sie trägt Verantwortung für sich selbst und Mitverantwortung für die Gemeinschaft und die Erhaltung der Lebensgrundlagen. 3Sie trägt nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft bei.“ Sehr bewusst wurden all diese Textvarianten und -stufen vorgestellt: sie rechtfertigen das Wort von der „Werkstatt Schweiz“ in Sachen Verfassungsstaat erneut, sowie die bei der Auslegung und dogmatischen Strukturierung erforderliche „Kontextualisierung“ des Art. 6 BV. Überdies werden die Konturen eines „gemeinschweizerischen Verfassungsrechts“ (dazu P. Häberle, Neuere Verfassungen und Verfassungsvorhaben in der Schweiz, JöR 34 (1985), S. 303 (340 ff.).) in Sachen Selbstverantwortung und Mitverantwortung (auch im Blick auf künftige Generationen) sichtbar. Dieses Verfassungsmaterial sei ergänzt durch einen Blick auf ausländische Vorbilder oder doch „Wahlverwandtschaften“ in Geschichte und Gegenwart, wobei

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sich zeigt, wie intensiv die überregionale, ja weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungstexte heute ist. Fündig wird man in Grundpflichten-Artikeln, auch Erziehungszielkatalogen. Hatte die Weimarer Verfassung (1919) die „Grundpflichten“ „nach Massgabe der Gesetze“ u. a. im Blick auf Ehrenämter, „persönliche Dienste für Staat und die Gemeinde“ vorgesehen (Art. 132 f.), so spricht ihr Art. 163 Abs. 1 von der „sittlichen Pflicht jedes Deutschen, seine geistigen und körperlichen Kräfte so zu betätigen, wie es das Wohl der Gesamtheit erfordert“. Nachfolgeartikel finden sich in Art. 117, 121 der Verfassung von Bayern (1946), in Art. 25, Art. 56 Abs. 4 (Erziehungsziel zum „selbständigen und verantwortlichen Dienst am Volk“) der Verfassung Hessen von 1946, weniger in den neuen Bundesländern seit 1991. Art. 54 der Verfassung Italiens von 1947 normiert eine Treuepflicht aller Bürger gegenüber der Republik, auch die Pflicht, „die Verfassung und die Gesetze zu achten“. Art. 2 verlangt sogar im Kontext der unverletzlichen Rechte des Menschen die „Erfüllung der unabdingbaren Pflichten politischer, wirtschaftlicher und sozialer Solidarität“ (im Eingangsabschnitt „Grundprinzipien“). Die portugiesische Verfassung (1976) denkt die Pflichten fast durchwegs zu den Rechten hinzu (Kap. III) und konkretisiert sie etwa im Blick auf die Umwelt (Art. 66 Abs. 1). Die spanische Verfassung von 1978 formuliert „Grundrechte und Grundpflichten“ (Tit. I). – In Osteuropa ist die Verfassung der Ukraine (1996) aufschlussreich. Im Rahmen des Kataloges von „Rechten, Freiheiten und Pflichten“ finden sich die klassischen Hinweise auf Wehr-, Steuer- und Gehorsamspflicht gegenüber Verfassung und Gesetzen sowie die Pflicht, „der Natur und dem Kulturerbe keinen Schaden zuzufügen sowie verursachte Kosten zu ersetzen“ (Art. 66) und die „Rechte und Freiheiten, die Ehre und Würde anderer Menschen nicht zu verletzen“ (Art. 68 Abs. 1). Die polnische Verfassung (1997) normiert fünf „Pflichten“ (Art. 82 bis 86): sehr allgemein „die Pflicht jedes politischen Staatsbürgers zur Treue zur Republik Polen und die Sorge um das gemeinsame Wohl“, spezieller die Pflicht zum „sorgfältigen Umgang mit der Umwelt“. Auch andere osteuropäische Reformverfassungen normieren (Grund-)Pflichten, z. B. zur Einhaltung der Verfassung und der Gesetze (vgl. Art. 58 Abs. 1 Verf. Bulgarien von 1991), zum Schutz von Natur- und Kulturdenkmälern (z. B. Art. 73 Verf. Slowenien von 1991), zur Steuerzahlung (z. B. Art. 49 Verf. Montenegro von 1992), zur Landesverteidigung (z. B. Art. 166 Abs. 1 Verf. Albanien von 1998). Eine Pflicht steckt auch im Verbot gemäß Art. 28 Verf. Litauen von 1992, „die Rechte und Freiheiten anderer Menschen einzuengen“; einen ausführlichen Grundpflichtenkatalog enthält Art. 55 bis 59 Verf. Republik Moldau (1994). Regional entwickelt die EU-Grundrechte-Charta (2000) eine neue Textstufe: in der Präambel („Die Ausübung dieser Rechte ist mit Verantwortung und mit Pflichten sowohl gegenüber den Mitmenschen als auch gegenüber der menschlichen Gemeinschaft und den künftigen Generationen verbunden“), aber auch in Titel IV („Solidarität“). Solidarität figuriert auch in Teil I Art. I 2 EU-Verfassungsentwurf von 2004. Deren Präambel appelliert an das „Bewusstsein der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“.

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Für eine völkervertragliche Pflichtenklausel sei schließlich auf die insoweit gleich lautenden Präambeln des UNO-Paktes II und des UNO-Paktes I (1966) verwiesen: „Im Hinblick darauf, dass der einzelne gegenüber seinen Mitmenschen und der Gemeinschaft, der er angehört, Pflichten hat . . .“.

2. Systematischer Ansatz Art. 6 ist seiner systematischen Stellung, seiner Form und seinem Inhalt nach ein Grundwerte-Artikel. Er schließt den 1. Titel „Allgemeine Bestimmungen“ ab, ist hochrangig im Kontext des Zweck-Artikels 2, der Kantone (Art. 3), der Landessprachen (Art. 4) und der „Grundsätze rechtsstaatlichen Handelns“ (Art. 5) platziert und findet sich noch vor dem 2. Titel „Grundrechte, Bürgerrechte und Sozialziele“. Dieses Vor-die-Klammer-Gezogen-Sein macht ihn präambelähnlich, er strahlt auf die ganze nachstehende Verfassung aus, hat Normativität, aber auch Schichten des Programmatischen, Ethischen, ist also konkretisierungsbedürftig, zugleich nicht durchwegs „positivierbar“. Gerade deshalb ist er offen für den Kontext, den große Klassikertexte zum Verantwortungsdenken umschreiben. Er findet sich dort, wo in manchen Verfassungen „Grundpflichten“ platziert sind (dazu kritisch Aubert, Droits et devoirs, S. 1 ff.). Zum Teil kommt er diesen „platonisch-ideell“ nahe, zumal er menschenbezogen („jede Person“), nicht staatsbürgerlich formuliert ist. Er kann „als Erziehungsziel“ wirken (im Kontext von Art. 41 Abs. 1 Bst. g sowie kantonaler Erziehungsziele), aber auch die Grundrechtsausübung im Sinne des Kategorischen Imperativs begrenzen und Sozialziele (Art. 41) sowie Aufgaben- bzw. Kompetenz-Themen einfärben (Umweltschutz, Wirtschaft). Art. 6 ist ein Mosaikstein im „Menschenbild“ der neuen BV und zugleich ein Stück Selbstverständnis der Schweizerischen Eidgenossenschaft („Staatsbild“, „Demokratieverständnis“).

3. Kontextbezogener Ansatz Art. 6 lebt als konstitutioneller Text vor allem aus seinen zahlreichen Kontexten. Er ist Übergangs- und Brückenbegriff zum 2. Titel, prägt die nachstehende „Menschenwürde“ (Art. 7) mit, ja er gewinnt „Farbe“ recht eigentlich erst durch die Bezüge zu den anderen Themenbereichen der neuen BV. Das eröffnet ihm viele aktuelle und potenzielle Anwendungsbereiche im Ganzen der neuen BV. So ist er zum einen präambelbezogen zu lesen („Verantwortung gegenüber der Schöpfung“, „Solidarität“, „gegenseitige Rücksichtnahme“, „Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen“, „Wohl der Schwachen“), zum anderen bildet er eine „Auslegungsreserve“ für Abwägungsprobleme im 2. Titel „Grundrechte, Bürgerrechte, Sozialziele“ sowie in Normenensembles wie Bildung, Forschung und Kultur (auch Radio und Fernsehen, Art. 93) sowie Umwelt, ja sogar für den „Militärund Ersatzdienst“ (Art. 59) sowie Zivilschutz (Art. 61); in diesen sind Grundpflich-

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ten „versteckt“. Die kontextuelle Einordnung ist vor allem in Bezug auf das schweizerische Milizprinzip (Art. 58 BV) angezeigt. Viele Behördenfunktionen, z. B. die Mitwirkung der Bürger in Wahl- und Abstimmungsbüros, Schulkommissionen, Vormundschaftsbehörden, aber auch das Engagement in Parteien und Verbänden oder der soziale Einsatz in Vereinen, wären in der direkten Demokratie schlichtweg nicht zu verwirklichen, wenn nicht zahlreiche Personen zu einem freiwilligen öffentlichen Einsatz bereit wären. Diese Annäherung der bürgerlichen an die staatliche Ebene bzw. deren Durchdringung führt im Ergebnis auch dazu, dass staatliches Handeln „bürgernäher“ vollzogen und von den Bürgern selbst weniger als freiheitsbeschränkender Fremdeingriff wahrgenommen wird. Es gibt aber auch „Rückwirkungen“ von diesen Grundsätzen bzw. zitierten Normen auf Art. 6: so, wenn Art. 41 Abs. 1 von „Ergänzung zu persönlicher Verantwortung und privater Initiative“ spricht (Subsidiarität), Art. 94 Abs. 1 die „Wirtschaftsfreiheit“ zum Prinzip erklärt oder Art. 104 mittelbar auch die Landwirtschaft in die Pflicht nimmt. III. Die dogmatische Annäherung an die einzelnen Inhalte und Funktionen von Art. 6 1. Wahrnehmung von „Verantwortung für sich selber“ Die text- und kontextwissenschaftliche Aufschließung des Art. 6 im Allgemeinen muss sich jetzt den Einzelheiten stellen. Die zwei – gleichgewichtigen – Aussagen in Art. 6 sind zunächst „für sich“ zu interpretieren, zugleich ist ihr Zusammenhang zu betonen. Der Begriff „Verantwortung“ ist seit langem gemeineuropäisch mit dem „Personsein“, mit „Menschenwürde“, Individualität und Freiheit verknüpft. Er verweist auf alle Grundrechte sowie die politischen Rechte und wird in Art. 41 Abs. 1 BV („persönliche Verantwortung und private Initiative“) wieder aufgenommen. Jeder ist hierzu auch fähig. In der „Verantwortung“ klingen überdies der Gemein- und „Bürgersinn“ an, auch wenn sie schwächer ist als die „Pflicht“. „Eigenverantwortung“ beinhaltet einen Verweis auf die seit der Enzyklika Quadragesimo Anno (1931) bekannte „Subsidiarität“, die etwa in Art. 27 Abs. 3 KV AR normiert ist und auch in Art. 41 Abs. 1 anklingt. Das „Prinzip Verantwortung“ (so H. Jonas gleichnamig, 1979) hat speziell in der Schweiz wissenschaftlich Karriere gemacht (P. Saladin) und es prägte – freilich auf der Seite von Bund und Kantonen – besonders stark den VE 77 (vgl. Zweiter Teil, 3. Kap., Art. 48 – 52). In der neuen BV ist er „verantwortungsethisch“ betont auf der Seite des Bürgers platziert, die Sozialziele und Aufgaben-Artikel verwenden auf der staatlichen Seite den Begriff „Aufgabe“ (vgl. Art. 41 bzw. 42 ff.). Man könnte von „Präponderanz der Freiheit“ (G. Dürig) sprechen, was jedoch nicht als „Egoismus“ oder „Hedonismus“ ohne soziale Bindungen verstanden werden darf (vgl. auch BVerfGE 4, 7 (15 f.): „Gemeinschaftsbezogenheit der Person“ und ihre „Eigenständigkeit“). Diese „Menschenbildjudikatur“ des

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BVerfG (siehe auch E 50, 166 (175)) erfährt in Art. 6 eine für Europa vorbildliche Präzisierung.

2. Beitrag „nach ihren Kräften zur Bewältigung der Aufgaben in Staat und Gesellschaft“ Diese zweite, ebenfalls rahmenhafte Aussage ist ein Verweis auf die gemeineuropäische Sozialethik, den „Du-Bezug“ und eine Absage an den Ökonomismus, der das Gewinnstreben verabsolutiert. Die Grenze „nach ihren Kräften“ erinnert an das alteuropäische „ultra posse nemo obligatur“. Adressat dieser Umschreibung der sozialen Einbindung jeder Person i.S. von Mitverantwortung sind zuvorderst die Person selbst, sodann aber auch alle drei Staatsfunktionen von Bund und Kantonen. Für sie alle hat diese Formel nicht nur moralischen Appell-, sondern normativen Richtschnur-Charakter, der bereichsspezifisch zu konkretisieren ist bzw. in der neuen BV zum Teil schon konkretisiert ist: im Kontext der Sozialziele, der Aufgaben-Artikel und der Grundpflichten (vgl. Art. 59 u. 61 Abs. 3, Art. 62 Abs. 2 „Schulpflicht“, Art. 129 Abs. 2 „Steuerpflicht“). Für beide Satzteile von Art. 6 besteht ein konkret einzufordernder Brückenschlag zu den erwähnten Verantwortungsfeldern der Präambel. Das hier charakterisierte Leit- bzw. Menschenbild der neuen BV im Ganzen wie im Einzelnen verwendet zwar die Formel von „Aufgaben in Staat und Gesellschaft“, damit ist aber weniger die altliberale Trennungsideologie festgeschrieben als die Offenheit und Vielfalt aller auf alle zukommenden, gemeinsam zu erfüllenden Gemeinwohlaufgaben fortgeschrieben. Die theoretische „Erinnerung“ an die Idee des Gesellschafts- bzw. jetzt auch Generationenvertrages liegt nicht fern (vgl. auch Art. 73 „Nachhaltigkeit“, ebenso KV Schaffhausen, Art. 9: „Nachhaltigkeit“). Ein Sollen ist in dem so aus seinem Kontext interpretierten Art. 6 schon indiziert, auch wenn der Verfassunggeber vorsichtig den Indikativ / Präsens verwendet. Das deutet auf die individuelle, aber auch eidgenössische und kantonale „Umsetzungs-Aufgabe“ dieses Grundwerte-Artikels hin, der einen gelungenen Kompromiss zwischen einer „harten“, „symmetrischen“ Grundpflichtennorm und einem gänzlichen Verzicht auf allgemeine soziale Pflichtigkeiten i.S. des „Ohne-Mich!“Menschen darstellt. Man kann von „gestufter Normativität“ sprechen. Art. 6 erfüllt eine allgemeine Orientierungsfunktion, wie sie konstitutionellen Grundwerte-Artikeln eigen ist. Zugleich wohnt ihm eine Begrenzungsfunktion gegenüber dem Staat inne. Erst die künftige Praxis kann seinen Sinn im einzelnen ausdeuten, auch im Kontext des Verfassungslebens in den Kantonen und ihrer Parallel-Artikel. Jeder in der Schweiz lebende Mensch hat daran Anteil. Viele Stimmen der Schweizer Literatur klingen freilich nicht ermutigend: R. Rhinow (Die Bundesverfassung 2000, 2000, S. 102) spricht von einer „rechtlich kaum fassbaren Bestimmung“ (Zustimmung bei P. Mahon in: J.-F. Aubert / P. Mahon, Petit commentaire, Art. 6 Rn. 4 Fn. 9; s. auch ders., Rn. 4: „valeur déclama-

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toire“); vorsichtig spricht R. Rhinow davon, dass in Art. 6 „die den Grundpflichten zugeschriebenen Orientierungs-, Appell- und Integrationsfunktionen plastisch zum Ausdruck“ kommen. Noch zurückhaltender heisst es bei ihm an anderer Stelle (Grundzüge, a. a. O., 2003, S. 426 Rn. 2411): „Normative Bedeutung kommt diesem Hinweis (sc. auf die Selbstverantwortung) jedoch nicht zu“. Ähnlich qualifiziert er (ebd. Rn. 2413) die „Mitverantwortung“ nur als „Appell ohne substantiell-rechtliche Tragweite“. Sein Fazit: Art. 6 BV ist ein „gut gemeintes politisches Signal, weist auf komplementäre ausserrechtliche Vorstellungen jeglicher Rechtsgemeinschaft hin, enthält aber keine normativ-substantiellen Gehalte.“ F. Haldemann (a. a. O., S. 163 ff.) arbeitet demgegenüber in den Spuren von P. Saladin grundsätzlicher: Er spricht von „Bürgerverantwortung als notwendigem Pendant im demokratischen Verfassungsstaat“; freilich fehlen auch nach ihm „(klare) Verfassungsvorgaben für die praktische Umsetzung“. M. E. muss sich die Praxis (und Literatur) gerade hier in der Verfassungskonkretisierung bewähren können. Dabei hilft die 1989 vom Verf. vorgeschlagene Verfassungsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode (jetzt rezipiert vom Verfassungsgericht Liechtenstein, Nachweise bei E.A. Kramer, a. a. O., S. 230 Fn. 735). Zumal in der Schweiz als alteuropäischem Kernland liegt sie besonders nahe. Im Gegensatz zu diesen „minimalistischen“ Stimmen in der schweizerischen Literatur sei dem kommentierenden „Ausländer“ (dieser Begriff ist in EU-Schengen-Ländern z. T. relativiert) erlaubt, seine Interpretation zu bekräftigen und das Potenzial der neuen kühnen Norm des Art. 6 BV durch „kulturelle kontextualisierende Textinterpretation“ voll auszuschöpfen.

Die Rechte der Tiere – ein Vorwort zu F. Rescigno* I. Vorworte von älteren Staatsrechtslehrern zu einem Erstlingswerk wissenschaftlicher „Novizen“ bilden eine schon klassische Literaturgattung. Sie wird vor allem in Spanien gepflegt, auch in Italien – etwas weniger in Deutschland (doch sollte sich dies im Sinne des „wissenschaftlichen Generationenvertrags“ ändern). Die Autorin hat den Verfasser dieses Vorworts im Juli 2005 um Einleitende Bemerkungen zu ihrem ersten Buch gebeten. Aus persönlichen und sachlichen Gründen komme ich dieser Bitte gerne nach. Die persönlichen Gründe bestehen darin, dass der Verfasser seit 1990 fast jährlich Gastprofessor an einer der juristischen Fakultäten in Italien sein darf und überdies viele zusätzliche Gastvorträge dort halten durfte. So im Jahre 2003 in Bologna, wo er damals die Autorin in einem wissenschaftlichen Seminar kennengelernt und nachhaltig ermutigt hat, gerade dieses Thema von Italien aus vertieft zu behandeln. II. Das jetzt publizierte Werk begeht zum Teil Neuland, über Italien hinaus. So sucht die Autorin das Gespräch mit Klassikern der griechischen und römischen Antike und sie arbeitet zugleich hart am konkreten Rechtsstoff des positiven Rechts in Italien. Es gelingen ihr Stichworte wie: „ökologischer Humanismus“, und sie leistet einen überzeugenden Beitrag zum „juristischen Status“ der Tiere. III. Ein Ausgreifen in die verfassungsvergleichende Dimension kann viele Ergebnisse der Autorin bestätigen. Speziell in Deutschland wurde 2002 Art. 20 a GG ergänzt, der nunmehr auch den (ethischen) Tierschutz zum Staatsziel erhebt. Das führt dann auch zu bis heute noch nicht voll geklärten Fragen, ob und wie sich der Tierschutz als Schranke der Wissenschafts-, Kunst- und Religionsfreiheit auswirkt (Stichworte sind: Tierversuche, Verbot des „Schächtens“). Der große Theologe, * Erschienen in: Francesca Rescigno, I diritti degli animali. Da res soggetti, Giappichelli, Turin, 2005.

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Bachforscher, Musiker und Menschenfreund Albert Schweitzer beklagte schon vor bald 100 Jahren, dass die Tiere bislang in der Ethik keinen Platz einnähmen. Das überrascht, denn schon die Heilige Schrift forderte den Menschen nicht nur auf, sich die Erde „untertan“ zu machen, sondern sie auch „wie einen Garten“ zu pflegen. Man denkt überdies (nicht nur in Italien) an den heiligen Franz von Assisi, der den Tieren predigte (nachzuerleben in einem Bild von Giotto und einem Film von Pasolini). Tiere als „Mitgeschöpfe“ anzuerkennen (vgl. Art. 3 b Verf. Baden-Württemberg, Novelle von 2000, und Art. 141 Abs. 1 Satz 2 Verf. Bayern) oder ihnen gar (wie in einem Teil der Schweizer Literatur) eine eigene „Würde“ zuzusprechen, ist heute keine Utopie mehr. Manche in vergleichender Zusammenschau gewürdigten positiven Verfassungstexte werden einschlägig und wirken auf dem Hintergrund meiner Lehre von der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Auslegungsmethode (1989) ermutigend. Aus der Schweiz seien vor allem neuere Kantonsverfassungen zum Tierschutz zitiert. So lautet Art. 31 Abs. 4 der pionierhaften Kantonsverfassung Bern (1993): „Kanton und Gemeinden schützen die Tier- und Pflanzenwelt“ (ebenso Art. 103 Abs. 1 KV Zürich, 2005). Art. 78 bis 80 der neuen Bundesverfassung der Schweiz (1999) normieren detailliert neues konstitutionelles Tierschutz-Recht. Aus deutschen Länderverfassungen lässt sich ebenfalls herauslesen, dass das Recht des Tierschutzes „werdendes Verfassungsrecht“ ist, das wissenschaftlich in seinen Inhalten und Grenzen zu ergründen, eine mindestens „gemeineuropäische“, wenn nicht weltweite Aufgabe ist bzw. in Zukunft wird. So verlangt Art. 31 Abs. 2 Verf. Berlin (1995), Tiere „vor vermeidbarem Leiden zu schützen“. Art. 6 b Verf. Niedersachsen (1993 / 97) lautet: „Tiere werden als Lebewesen geachtet und geschützt“ – sie sind also keine „Sache“ mehr, wie noch im alten deutschen Bürgerlichen Gesetzbuch von 1900 (geändert in den 80er Jahren). Weitere Verfassungsnovellen der 90er Jahre (etwa Art. 70 Verf. Rheinland-Pfalz oder Art. 59 a Abs. 3 Verf. Saarland sowie Art. 32 Verf. Thüringen) treiben die Textstufenentwicklung im Sinne des verfassungsrechtlichen Tierschutzes voran. Das Thema erfasst auch Österreich (z. B. normiert Art. 7 a Abs. 2 Ziff. 3 Landesverfassung Kärnten (1996) vorbildlich: „Die heimische Tier- und Pflanzenwelt ist in ihrem Artenreichtum und ihrer Vielfalt zu erhalten“). Zu all dem liefert die Arbeit von Frau Rescigno einen ermutigenden Beitrag. Möge ihr Buch aus Bologna, das bis heute als Pflanzstätte des um 1100 wieder entdeckten Römischen Rechtes in Europa einen besonderen Klang hat und „europäische Öffentlichkeit“ schafft, über die eigene Universitätsstadt hinaus Beachtung finden. Das „europäische Rechtsgespräch“ und die „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ in Europa (dazu meine Europäische Verfassungslehre, 3. Aufl. 2005, inzw. 5. Aufl. 2008) sollten sich jedenfalls ihres hochaktuellen Themas intensiv annehmen.

Föderalismus und föderative Freiheit – Interview am 12. März 2007 im Palazzo Chigi in Rom* 1. Welche sind nach Ihrer Meinung die charakteristischen Elemente des deutschen Föderalismus? Der deutsche Föderalismus hat sich in mehreren Entwicklungsstufen zu einem flexiblen Mischsystem entfaltet: von 1949 über 1968 bis zu den Jahren 1990 und 2005, d. h. Elemente des „seperative federalism“, jetzt des Wettbewerbsföderalismus verbinden sich mit Formen des kooperativen Föderalismus (Stichwort Gemeinschaftsaufgaben nach Art. 91 a und b GG a.F.) und des von mir sogenannten „fiduziarischen Föderalismus“ (Solidarität mit den neuen ostdeutschen Bundesländern: Solidaritätspakte, große Finanzhilfen von West nach Ost). Die Föderalismusreform I (2005) stand im Zeichen von mehr Transparenz, größerer Bürgernähe und mehr Konkurrenz unter den 16 Ländern. 2004 zunächst gescheitert, ist sie der Großen Koalition jetzt geglückt. Die Rahmengesetzgebung des Bundes wurde abgeschafft (Art. 75 GG a.F.), die Zahl der seitens des Bundesrates zustimmungsbedürftigen Bundesgesetze stark reduziert (bisheriges Schlagwort: Blockadepolitik des Bundesrates), Gesetzgebungskompetenzen der Länder deutlich vermehrt. Die „Kunst der föderalen Form“ (P. Lerche) besteht in der klugen Balance von optimaler Pluralität und unverzichtbarer Solidarität, besonders in der Schweiz hat der Föderalismus experimentierenden Werkstattcharakter. 2. Können Sie in wenigen Worten die positiven und negativen Aspekte des deutschen Föderalismus schildern? Deutsche Freiheit ist föderative Freiheit! Dies ist meine These seit 1990. Der Föderalismus ist für uns die nahezu ideale Form politischer Freiheit im Gegensatz zu den totalitären Staaten der NS- und DDR-Zeit. Die Kulturautonomie der 16 Länder ist die Seele des deutschen Föderalismus und die kongeniale Ergänzung der vertikalen Gewaltenteilung im Bundesstaat (K. Hesse). Im Europa der Regionen ist das föderale Deutschland mit seinen Europa-unmittelbaren 16 Ländern besonders „europatauglich“. Nachteilig ist das nach wie vor schwer durchschaubare Geflecht im Bereich der Finanzen (noch kein Steuerföderalismus nach dem guten Vorbild der Schweiz: Kanton Zug!). Die Föderalismusreform II (2007 / 2008) soll hier Abhilfe schaffen. Die Föderalismusreform III (2008 / 2009) * Fernsehinterview, die Fragen stellte der Regierungssprecher von Ministerpräsident R. Prodi.

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ist schon jetzt abzulehnen (keine Neugliederung des Bundesgebietes nach Art. 29 GG). Die Hansestädte (etwa Bremen und Hamburg) sind Ausdruck gewachsener kultureller Vielfalt (kein Nordstaat etwa aus finanziellen und sog. Effizienzgründen).

Der kooperative Verfassungsstaat – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Basel vom 5. bis 8. Oktober 1977* Die beiden Referenten haben in kongenialer Wahlverwandtschaft den schönen Begriff des „soft law“ eingeführt. Die Diskussion wird erarbeiten müssen, was an den Referaten „hard ware“ bzw. „hard law“ ist. – Lassen Sie mich zu zwei Punkten sprechen: 1. zur methodischen Frage, Stichwort: Aufnahme der „alten“ umfassenden „Staatswissenschaften“, 2. zum Begriff des kooperativen Verfassungsstaates. Zum ersten Punkt: Ich meine die eindrucksvolle Präsentation wirtschaftswissenschaftlicher Fakten und Fragestellungen durch Herrn Schmidt. Er hat, komplementär zu der im guten Sinne eher begrifflich juristischen Arbeitsweise des Herrn Erstreferenten, viele wirtschaftliche Daten empirisch auf den Tisch gelegt und Vorarbeit für die normative Analyse der Verflechtungs- und Kooperationsvorgänge geleistet. Wir sollten jetzt an die Tiefe, Breite und Fülle der „alten“ Staatswissenschaften anknüpfen. Darüber ist früher aus Anlass der Referate von Herrn Wagner und Herrn Friauf, auch in Unterstützung durch Herrn Ipsen, diskutiert worden. Der Verfassungsstaat, Subjekt und Objekt bzw. Ergebnis von weltweiten wirtschaftlichen Verflechtungen, „Verbundsystemen“ und Entwicklungen (Herr Schmidt, Leitsatz 1 3 bis II 3), kann weder mehr nur „juristisch“ noch mehr nur „staatlich“ gesehen werden! Die Wirtschaftswissenschaften haben die volks- und weltwirtschaftlichen Zusammenhänge in die Lehre vom Verfassungsstaat einzubringen, so schwierig die Verbindlichkeitsfrage für den Juristen ist. Die juristische Begriffsbildung einer Verfassungslehre hat sich auch vom Völkerrecht her darauf einzustellen. Das führt zum zweiten Punkt: Herr Tomuschat hat eindrucksvoll viel Material zu den Verflechtungen vorgelegt, z. B. in seinem Hinweis auf die „Außenwirkung der Verfassungsordnung“ bzw. die Rückwirkungen der internationalen Beziehungen auf die Verfassungsordnung, im Wort von der „völkerrechtlichen Nebenverfassung“. Ich möchte hier und jetzt den Begriff des kooperativen Verfassungsstaates vorschlagen, in begrenzter Anlehnung an den „kooperativen Föderalismus“. Er ist der Versuch einer Infragestellung des traditionellen trennenden Innen- / Außenschemas, auch in der Rechtsquellenlehre. Für den kooperativen Verfassungsstaat kann man heute, in Abwandlung eines berühmten Satzes, nicht mehr sagen: „Das Staatsrecht hört hier auf, das Völkerrecht fängt hier an.“ Die Alternative „Primat * VVDStRL 36 (1978), S. 129 f.

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Teil 1: Verfassungskulturen

des Völkerrechts“ oder „Primat des Staatsrechts“ ist für ihn fragwürdig. Der „kooperative Verfassungsstaat“ nimmt die Momente der intensiven „internationalen Zusammenarbeit und Verantwortung“, der wachsenden weltweiten Solidarität und der „Offenheit nach außen“, die Verschränkungen und Wechselwirkungen, z. B. in der Menschenrechtsfrage, in sich auf. Wir sind jetzt so weit, ein „Modell“ des westlichen Verfassungsstaates als Typus entwickeln zu können; freilich wird noch viel Typusgerechtes zu erarbeiten sein, zumal es bislang stärker verflochtene und kooperierende Verfassungsstaaten hier und nach ihrem Selbstverständnis noch stärker „in sich gekehrte“ dort gibt. Bedenken habe ich, ob man mit Herrn Tomuschat sagen kann, es gebe „den“ Verfassungsstaat nicht. M. E. gibt es den Typus des westlichen Verfassungsstaates, innerhalb dessen eine bestimmte Variationsbreite mit materiellen und formellen Elementen besteht. Ich betone ausdrücklich: auch mit formellen Elementen. Auf diesen kooperativen Typus sollte man sich bald einigen.

Teil 2

Verfassungsperspektiven für Europa

Der Reformvertrag von Lissabon (2007) – im Blick auf den 1. Januar 2009* Vorbemerkung Der Vertrag von Lissabon vom 13. 12. 2007 kann ein „Reformvertrag“ durch „Vertragsänderung“ sein, er lässt sich aber vielleicht besser als konstitutionelle „Nachführung“ im Sinne des Schweizer Sprachgebrauchs verstehen, zum Teil auch als „Fortschreibung“ qualifizieren, jedenfalls markiert er eine weitere Etappe im Konstitutionalisierungsprozess Europas: mit großen Rück- und gewissen Fortschritten. Konnte in den Jahren nach dem doppelten Nein Frankreichs und der Niederlande (2005) zum Verfassungsvertrag von 2004 aus der Perspektive einer Europäischen Verfassungslehre neues Material nur aus Zeitungsmeldungen, Äußerungen prominenter Politiker und der politischen Parteien sowie Verlautbarungen der EU-Organe gewonnen werden – die „Berliner Erklärung“ vom 25. 03. 2007 bleibt jedoch ein wichtiger Zwischenschritt und ein Dokument, das sich auch für den kommentierenden Wissenschaftler als ergiebig erwies (einschließlich der „SeelenRede“ von Frau Bundeskanzlerin A. Merkel1) –, so liegt jetzt ein greifbarer Text in den 23 Amtssprachen vor, genauer zwei Texte (Vertrag über die Europäische Union (EUV) und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV)), die der wissenschaftlichen Aufarbeitung zugänglich und bedürftig sind und im europaöffentlichen Verfassungsprozess einen Diskurs aller Beteiligten eröffnen müssen (nicht nur der Reflexionsgruppe „Horizont 2020 – 2030“). Zum 01. 01. 2009 soll der Ratifizierungsprozess abgeschlossen sein. Ungarn hat als erstes Land den Vertrag von Lissabon schon im Dezember 2007 angenommen. Welches Land wird das letzte sein? So muss man das ganze Jahr 2008 hindurch fragen. Polen baute im Vorfeld (erneut) Hürden auf, jedenfalls sein amtierender Staatspräsident K. Und bis jetzt gilt Irland als einziges Mitgliedsland der EU, das sich sicher im Juni 2008 einer Volksabstimmung stellen muss bzw. „darf“. So viele Gründe es gegeben haben mag, im Vertrag von Lissabon Neues und Altes festzuschreiben: Unverkennbar bleibt, dass sich die Verantwortlichen vor den europäischen Völkern als Ganzes und als Einzelne „fürchteten“ und noch fürchten. Man will eine Volksabstimmung, wo und wie auch immer, vermeiden (so 2008 in Frankreich, wohl auch in Großbritannien) und schleift den Vertrag zurecht, passt ihn an. Der alte Vorschlag, am selben Tag in ganz Europa eine neue EU-Verfassung den * Originalbeitrag. 1 Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 687.

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Teil 2: Verfassungsperspektiven für Europa

Völkern vorzulegen, blieb von Anfang an Utopie. Sollte der neue Vertrag wieder scheitern, so mag dies politisch eine Katastrophe sein, juristisch indes wäre nicht alles verloren, denn (Verfassungs- bzw. Vertrags-)Texte, einmal in der Welt – und sei es auch nur als abgelehnte Entwürfe –, können nach wie vor Wirkung entfalten: jenseits der positivrechtlichen Geltung. Dies hat sich auch beim und für den Verfassungsvertrag von 2004 in Lissabon (2007) gezeigt und lässt sich an vielen geschichtlichen Beispielen belegen: In Deutschland an dem nie in Kraft getretenen Text der Verfassung der Paulskirche (1849), die nachhaltig in die deutschen Länder und auf Reichsebene bis zur WRV (1919) ausstrahlte. Eine wissenschaftliche Gesamtwürdigung Im Folgenden seien Schatten und Licht, Negativa und Positiva der beiden Verträge zur Sprache gebracht.2 All dies geschieht auf dem Forum der vom Verf. 2001 / 02 (5. Aufl. 2008) geschriebenen (bzw. fortgeschriebenen) Europäischen Verfassungslehre.3 Die Reihenfolge der nachstehenden Bewertungskategorien zeigt schon, dass aus Sicht des Verfassers die Negativa überwiegen, auch wenn zugegeben sei, dass praktisches politisches Handeln nach anderen Maßstäben (des nur „Möglichen“) vorgeht, vor allem Kompromisse schließen muss, die den „reinen“ Wissenschaftler schmerzen (und von ihm gerade im Dienste der Wahrheitsund Gerechtigkeitssuche zu meiden sind). Unter diesem selbstkritischen Vorbehalt sei gleichwohl eine Bewertung gewagt. 1. Negativa Die folgende „Negativliste“ wiegt schwer. Dies zeigt sich an den nachstehenden Einzelaspekten: (1.) Der Verzicht auf das Wort „Verfassung“, das im Verfassungsvertrag von 2004 an vielen Stellen vorkam, und das angeblich oder tatsächlich manche Europabürger „verschreckt“ hat, weil es psychologisch mit dem Begriff „Staat“ verknüpft wurde (den es auf EU-Ebene nicht geben darf: ein „Tabu“, ebenso wie die Idee des „föderalistischen Europa“), ist ein großer Rückschritt. Unterschätzt wird die einheitsstiftende kulturelle Kraft des multifunktionalen Begriffs „Verfassung“, 2 Aus der ersten Lit.: H. M. Heinig, Europäisches Verfassungsrecht ohne Verfassung(sordung), JZ 2007, S. 905 ff.; P. Schiffauer, Zum Verfassungszustand der Europäischen Union nach der Unterzeichnung des Vertrages von Lissabon, EuGRZ 2008, S. 1 ff.; T. Oppermann, Die EU nach Lissabon, DVBl. 2008, S. 473 ff.; R. Streinz u. a., Der Vertrag von Lissabon zur Reform der EU, 2. Aufl. 2008. 3 Aus der Rezensionsliteratur: F. Reimer, EuR 2002, S. 754 ff.; A. Weber, DVBl. 2007, S. 1095; W. Kluth, ZAR 8 / 06; U. Hufeld, NJW 2007, S. 423 f.: „Text der Texte“; M. Kilian, DÖV 2008, S. 429 f.; P. Lerche, BayVgl. 2008, S. 707 f.; H. Görlich, SächsVBl. 2008, S. 280; A. Weber, DVBl. 2008, S. 1433 f.

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besonders seine Bedeutung als Symbol der europäischen (Unions-)Bürgergemeinschaft. Doch gibt es einen Trost: Die nationalstaatlichen und europäischen Wissenschaftlergemeinschaften brauchen sich den Gegenstand ihrer Europäischen Verfassungslehre nicht nehmen zu lassen. Kein Vertragsgeber kann über ihre wissenschaftlichen Erkenntnisse „verfügen“! Materiell betrachtet sind die beiden neuen Verträge in vielen Teilen eine „Verfassung“, genauer eine „Teilverfassung“, und materiell betrachtet lebt und erlebt die Verfassungsgemeinschaft EU auch nach 2007 bzw. von 2009 an ihre Wirklichkeit als Verfassungswirklichkeit. Das zeigt sich nicht nur an den trotz ihrer verbalen Streichung weiterlebenden Symbolen (Europatag, Europahymne und Europaflagge4), sondern auch an vielen „verfassungsqualitativen“ Elementen, die sich in beiden Verträgen finden (dazu sogleich). (2.) Die Streichung der Symbol-Artikel (Hymne, Feiertag, Motto) bleibt schon jetzt ohne jede Wirkung. Überall und immer wieder wird in allen Bereichen Europas die Europaflagge nach wie vor gehisst: von den Kommunen über die Länder bzw. Regionen bis hin zu den Mitgliedsstaaten und zu amtlichen Anlässen der EU selbst. Zuletzt wehte die Europaflagge im unabhängig gewordenen Kosovo (das noch gar nicht Mitglied der EU ist). Im Kosovo wurde zur Stunde der Unabhängigkeitserklärung am 17. 02. 2008 auch Beethovens Ode an die Freude als „Europamusik“ gespielt. Die Wirklichkeit ist also klüger als der Textgeber. Das ebenfalls leichtfertig gestrichene Motto „in Vielfalt geeint“ bleibt realiter eine Leitmaxime allen Handelns in Europa und auch der übriggebliebenen Texte (vgl. die Vielfalt der Kultur, so Art. 3 Abs. 3 IV EUV, Art. 165 Abs. 1, Art. 167 Abs. 1 und 4 AEUV; auch die „nationale Identität“ bleibt gesichert, so in Art. 4 Abs. 2 EUV). (3.) Die Zerlegung des alten „Verfassungsvertrages“ von 2004 (als seinerzeitiger Versuch einer einheitlichen Kodifikation) in zwei Teile und die große Zahl von Artikeln haben eine neue – und alte – „Unübersichtlichkeit“ geschaffen, die alles andere als „bürgernah“ ist. Die viel berufene Bürgernähe und Transparenz (Präambel, Art. 1 Abs. 2, Art. 10 Abs. 3 EUV, Art. 17 Abs. 3 AEUV) wird nicht erreicht. Die beiden Dokumente sind ein bürgerfernes „Dickicht“. Nimmt man die zum Teil wichtigen Protokolle und Anhänge hinzu (Art. 51 EUV), so ergibt sich ein Konvolut, mit dem sich der Europabürger schwerlich identifizieren kann: Es ist kaum „lesbar“. (4.) Die textliche Fixierung auf die repräsentative Demokratie in Art. 10 Abs. 1 EUV ist in hohem Maße problematisch. Zum Einen erschwert sie langfristig den etwaigen Beitritt der Schweiz mit ihrer „halbdirekten Demokratie“, zum Anderen macht sie die häufigen Bezugnahmen auf den „Dialog“ (Art. 11 Abs. 2 EUV, Art. 17 Abs. 1 AEUV) sowie die „Zivilgesellschaft“ (Art. 11 Abs. 2 EUV, Art. 15 4 Dazu die Trias der Monographien des Verf.: Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselmente des Verfassungsstaates, 1987; Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, 2007; Nationalflaggen: bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, 2008.

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Abs. 1, Art. 300 Abs. 2, 302 Abs. 2 AEUV) nicht recht glaubwürdig. Daran ändert auch die eingebaute Bürgerinitiative (Art. 11 Abs. 4 EUV) nichts. Gleiches gilt für das Teilnahmerecht der Bürger (Art. 10 Abs. 3 EUV) sowie das Petitionsrecht jedes Unionsbürgers (Art. 20 Abs. 2 lit. d, Art. 227 AEUV): Elemente der sogenannten „partizipativen Demokratie“. Speziell die Hürde der Bürgerinitiative ist hoch, ihre Wirkung bleibt schwach (Adressat ist nur die Kommission). Das Ganze gleicht einem „Trostpflaster“. (5.) Die kumulative Integrierung von zwei Grundrechtsdokumenten, nämlich der – mustergültigen – EU-Grundrechte-Charta von 2000 (Art. 6 Abs. 1 EUV) sowie durch Beitritt zur EMRK (Art. 6 Abs. 2 EUV), ist tendenziell zu begrüßen. Doch werden sich in der Praxis ungeheure Schwierigkeiten zeigen, wie die Grundrechtsgarantien im Ganzen und Einzelnen „konkordant“ auszulegen sind. Hier wartet viel Arbeit auf die Grundrechtswissenschaft5 und die Gerichte aller Stufen. Verunsichernd wirkt auch die Bezugnahme auf die sogenannten „Erläuterungen“ in Art. 6 Abs. 1 III EUV. Solche antizipierenden Interpretationen durch den Konventsgeber sind nicht hilfreich.6 Die Kommentierung von Verfassungstexten ist Aufgabe aller Interpreten, der Textgeber selbst sollte sich keine Sonderrolle anmaßen wollen. Die „Erinnerung“ an die sozialen Grundrechte der ESC (1961) und die Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer (1989) in der Präambel EUV verdient Zustimmung, so schwierig ihre Harmonisierung mit den klassischen Grundrechtsgarantien bleibt. (6.) Fragwürdig sind überdies die vielen Ausnahmemöglichkeiten. So können sich Polen und Großbritannien laut Protokoll von der EU-Grundrechte-Charta freizeichnen, wenn man es spitz formuliert: punktuell aus der EU „austreten“ (die neue formulierte Austrittsklausel in Art. 50 EUV ist freilich ein Gewinn: sie kann als Druckmittel gegen integrationsunwillige Mitgliedsstaaten wirken). Diese „Jammerliste“ sei damit abgeschlossen. Sie könnte gewiss noch ergänzt werden, etwa um die Kritik, dass nicht wenige Normen im AEUV keinen Verfassungscharakter haben und eigentlich in unterkonstitutionelle Texte gehören (z. B. Art. 136 – 138, Art. 293, 294 AEUV). Man hätte durch ihre Herabstufung eine Verschlankung des ganzen Vertrags erreichen können. Vielleicht war dies aber ein unumgänglicher Kompromiss. Er offenbart eine gewisse „Schizophrenie“: man bestreitet den Verfassungsrang der Verträge bzw. die konstitutionelle Qualität des Reformvertrags von Lissabon, will sich aber gleichwohl der Sache nach des „Vorrangs der Verfassung“ bzw. des „Primärrechts“ der Union bedienen.

5 Einige Probleme wurden diskutiert auf der Rostocker Staatsrechtslehrertagung: „Bundesstaat zwischen Konflikt und Kooperation“, VVDStRL 66 (2007), insbes. S. 361 ff., 392 ff., 423 ff. 6 Die „Aktualisierten Erläuterungen“ sind abgedruckt in EuGRZ 2008, S. 92 ff.

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2. Positiva (1.) Die Bekräftigung der z. T. neu formulierten Werte und Ziele der Union („Werte“: Art. 2, Art. 3 Abs. 1, Art. 7 Abs. 1, Art. 8 Abs. 1, Art. 13 Abs. 1 EUV; 21 Abs. 2 lit. a; Art. 42 Abs. 5 EUV; „Ziele“: Art. 3 Abs. 1, Art. 20 Abs. 1 II, 22 Abs. 1 EUV) ist positiv. Es handelt sich dabei unzweifelhaft um konstitutionelle Elemente (z. B. die „Werte“ der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit, Menschenrechte, Minderheitenrechte, Pluralismus, Toleranz, Gerechtigkeit, Solidarität, Gleichstellung von Männern und Frauen). Auch ist erneut festzustellen, dass die EU die z. T. typisch deutschen Berührungsängste zum Begriff der „Werte“ (z. B. Art. 2 und 3 EUV) nicht teilt. Zu den neuen „Zielen“ (Art. 3 EUV) gehören die besonderen Rechtsgrundlagen für die Bereiche Energie (Art. 194 AEUV), menschliche Gesundheit (Art. 168 AEUV), Katastrophenschutz (Art. 196 AEUV), Schutz des Rechts des geistigen Eigentums (Art. 118 AEUV), die Ziele in Sachen Klimawandel im Rahmen des Umweltschutzes (Art. 191 AEUV) und die Verwaltungszusammenarbeit (Art. 197 AEUV). Diese dem bisherigen Rechtszustand gegenüber z. T. neuen oder doch verdeutlichenden Unionsziele sind auch eine Positivierung des Gemeinwohlauftrags. Es gibt also ein EUGemeinwohl7, wie sich auch in den Verpflichtungsklauseln für die Kommission (Art. 17 Abs. 1 S. 1 EUV) und für den Wirtschafts- und Sozialausschuss (Art. 300 Abs. 4 AEUV) zeigt. (2.) Die Festlegung der Rechtsverbindlichkeit der EU-Grundrechte-Charta von 2000 (Art. 6 Abs. 1 EUV) ist ebenfalls ein Stück Konstitutionalisierung der EU, trotz der erwähnten Ausnahmeklauseln. Die EU versteht sich einmal mehr als „konstitutionelle Grundrechtsgemeinschaft“: in diesem Falle, mit diesem Text, ist sie „bürgernah“! (3.) Manche institutionelle Regelungen sind ebenso geglückt wie konstitutionell: etwa die ab 2014 geltende Regel der „doppelten Mehrheit“ im Rat (Art. 16 Abs. 4 EUV), freilich mit der „Sperrminorität“ nach II ebd., sodann das Amt des auf zweieinhalb Jahre gewählten Präsidenten des Europäischen Rates und des Hohen Vertreters für die Außen- und Sicherheitspolitik (leider nicht „Außenminister“); schließlich die Schaffung der einheitlichen Rechtspersönlichkeit der Union (Art. 47 EUV). (4.) Der Demokratisierungs- (genauer Parlamentarisierungs-)Prozess ist verstärkt belebt worden: so in Gestalt der Ausdehnung der Zuständigkeiten des zum Mitgesetzgeber werdenden Europäischen Parlaments im Gesetzgebungsverfahren (Art. 16 Abs. 1 EUV) und der neuen Kontrollrechte der nationalen Parlamente in Sachen Subsidiarität (Art. 5 Abs. 3 II S. 2 EUV, Art. 12 lit. b EUV samt Protokoll, Art. 69 AEUV), die letztlich auch den „margin of appreciation“ stützt8, ebenso wie die „nationalen Identitäten“. 7 Dazu erstmals P. Häberle, Gibt es ein europäisches Gemeinwohl?, FS Steinberger, 2002, S. 1153 ff. sowie ders., Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 377 ff.

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(5.) Der Verfassungsbegriff der Solidarität wird bekräftigt und zwar in den unterschiedlichsten Kontexten (z. B. Art. 3 Abs. 3 III EUV, Art. 67, 80 AEUV, Stichwort: EU als Solidargemeinschaft, sogar in Gestalt einer „Geist-Klausel“ (Art. 122 AEUV)). Eine Erscheinungsform dürfte neben der „loyalen Zusammenarbeit“ (Art. 4 Abs. 3 EUV, Art. 9 Abs. 2, Art. 13 Abs. 2 EUV) der Begriff des „sozialen Dialogs“ sein, der sich z. B. in Art. 151 Abs. 1, 152 Abs. 1 AEUV findet (s. auch Art. 11 Abs. 2 EUV: „regelmäßiger Dialog“). (6.) Die Verwendung des Begriffs „Zivilgesellschaft“ ist eine geglückte Textstufe zum „konstitutionellen“ Selbstverständnis der EU. Sie findet sich zuvor in der einen oder anderen osteuropäischen Reformverfassung9 und sie ist häufig auch in der Alltagssprache anzutreffen. Die „Zivilgesellschaft“ könnte inskünftig von der EU-Ebene her Impulse für die Wissenschaft vom Verfassungsstaat als Typus auslösen: „Bürgergesellschaft“, „Bürgerdemokratie“ sind Parallelbegriffe. Die Idee des „Unionsbürgers“ gehört in denselben Kontext (positiv ist die Regelung der Unionsbürgerschaft: Präambel, Art. 9 EUV und Art. 20 bis 25 AEUV, ebenso der Bürgerbeauftragte (Art. 228 AEUV)). (7.) Die Klausel zur verstärkten Zusammenarbeit (Art. 20 EUV, Art. 326 bis 334 AEUV) eröffnet die Möglichkeit einer Intensivierung des Integrationsprozesses. (8.) Die Klausel zur guten Nachbarschaftspolitik (Art. 8 EUV) verdient ebenfalls Beifall. Sie könnte sich auf dem östlichen Balkan als wirksam erweisen, auch eine Alternative zu dem vollen EU-Beitritt der Türkei sein und die hochfliegenden Pläne des französischen Staatspräsidenten N. Sarkozy in Sachen „Mittelmeerunion“ einfangen. Der „Raum des Wohlstands und der guten Nachbarschaft“ ist ein Gewinn: eine geglückte Textstufe. (9.) Die Ausgestaltung des Vertragsänderungsverfahrens (Art. 48 EUV) ist insofern bemerkenswert, als hier der (vorbereitende) Konvent als Institution festgeschrieben ist (Abs. 3) – Stichwort: „Konventsmethode“. Konvente sind, wie die politische Praxis in Geschichte und Gegenwart lehrt, Foren für die Schaffung von Verfassungen (seit Philadelphia in den werdenden USA). Damit wird in nuce an relativ verborgener Stelle der Idee der „Verfassung“ im Vertrag von Lissabon doch noch ein Tribut gezollt. Das „vereinfachte“ Verfahren der Änderung der Verträge muss sich erst noch bewähren (Art. 33 Abs. 6 EUV). 8 Dazu vor allem die Urteile des EGMR: „Handyside“, „Sunday Times“, „Kokkinakis“; aus der Lit.: F. Ermacora, Richtungsweisendes Handyside-Urteil?, EuGRZ 1977, S. 363 ff.; M. O’Boyle, The Margin of Appreciation and Derogration under Art. 15: Ritual Incantation or Principle?, Human Rights Law Journal 1998, S. 23 ff.; A. Rupp-Swienty, Die Doktrin von der margin of appreciation in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofes für Menschenrechte, 1999; Y. Winisdoerffer, Margin of Appreciation and Article 1 of Protocol No. 1, Human Rights Law Journal 1998, S. 18 ff.; H.C. Yourow, The Margin of Appreciation Doctrine in the Dynamics of the Strasbourg Jurisprudence and the Construction of Europe, Zeitschrift für europarechtliche Studien 1998, S. 233 ff. 9 Dazu aus der Lit.: P. Häberle, Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe , FS H.-P. Schneider, 2008, S. 460 ff.

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(10.) Ein Sammeltitel „Sonstiges“ liefere wenigstens die Stichworte zu weiteren Positiva: die Regeln über die Zuständigkeiten der Union (Art. 2 bis 6 AEUV: ausschließliche, geteilte, unterstützende). Sie erweisen sich als „präföderal“, ferner die Bekräftigung des Prinzips der begrenzten Einzelermächtigung (Art. 5 EUV, Art. 7 AEUV), die Regeln, die ein Stück konstitutioneller Normenhierarchie implantieren, nämlich die Unterscheidung zwischen Gesetzgebungsakten, die vom Unionsgesetzgeber, im Regelfall von Parlament und Rat gemeinsam, geschlossen werden (Art. 14, 16 EUV, 293 AEUV), und sogenannten delegierten Rechtsakten (Ermächtigung der Kommission durch einen Gesetzgebungsakt: Art. 290 AEUV). Die Betonung der „Nachhaltigkeit“ (Art. 21 Abs. 2 lit. d und f., Art. 3 Abs. 3 und 5 EUV) ist ebenso zu begrüßen wie die Verantwortung für das „Wohlergehen der Tiere als fühlende Wesen“ (Art. 13 AEUV) sowie das Postulat des „wirksamen Rechtsschutzes“ (Art. 19 Abs. 1 II EUV)10. Der „europäische Raum der Forschung“ (Art. 179 AEUV) sowie die Bildungsziele in Art. 165 AEUV (s. auch Präambel ebd.: „umfassender Zugang zur Bildung“) und die religionsverfassungsrechtliche Garantie in Art. 17 AEUV stoßen z. T. in neue Textstufen vor (Beitrag zum „offenen, transparenten und regelmäßigen Dialog“). Die Achtung der regionalen und lokalen Selbstverwaltung (Art. 4 Abs. 2 EUV) im Kontext der „nationalen Identität“ der Mitgliedsstaaten sei ebenfalls positiv erwähnt. Der Wettbewerb (Art. 3 Abs. 3 EUV), der „redliche Wettbewerb“ (Präambel AEUV, Art. 119, 120 AEUV: „offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb“; Art. 101 ebd.: keine „Verfälschung“ des Wettbewerbs) ist trotz N. Sarkozy ein Unionsziel geblieben. Die Verwaltungszusammenarbeit (Art. 197 AEUV) sowie die „gemeinsame Einwanderungspolitik“ (Art. 79 AEUV) bzw. „Eurojust“ (Art. 81, 85 AEUV) sowie „Europol“ (Art. 87, 88 AEUV) seien positiv vermerkt, ebenso die Betonung der „Entwicklungszusammenarbeit“ (Art. 208 bis 211 AEUV) und der „humanitären Hilfe“ (Art. 214 AEUV). Ausblick Der Vertrag von Lissabon macht die EU hoffentlich handlungsfähig. Er lässt sie aber auch nach wie vor als „Experimentierfeld“ und „Dauerbaustelle“ erscheinen. Er ist ein z. T. gelungener Zwischenschritt im offenen Integrations- und Konstitutionalisierungsprozess der EU. Er mindert nicht, sondern steigert noch die Kompetenz einer „Europäischen Verfassungslehre“, die freilich letztlich aus der Sicht aller 27 Mitgliedsländer bzw. ihrer nationalen Wissenschaftlergemeinschaften geschrieben werden müsste. Die Präambel des EUV beschwört zu Recht das „kulturelle, religiöse und humanistische Erbe Europas“, aus dem sich die „unverletzlichen und unveräußerlichen Rechte des Menschen sowie Freiheit, Demokratie, Gleichheit und Rechtsstaatlichkeit als universelle Werte entwickelt haben“. Dieser 10 Aus der Lit.: J. Kokott u. a., Aktuelle Fragen des effektiven Rechtsschutzes durch die Gemeinschaftsgerichte, EuGRZ 2008, S. 10 ff.

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Text ist ein großes Reservoir für neue Impulse für die Zukunft, auch wenn es wohl zu einem (alternativen) Gottesbezug (wie in Polen) leider nicht mehr kommen dürfte. Das Wort von der „neuen Stufe“ des Integrationsprozesses (Präambel EUV) bleibt ebenso aktuell, wie die „Finalität“ Europas offen sein muss. Das Postulat der Bürgernähe (Präambel EUV etc.) ist derzeit Utopie, doch wohl hoffentlich eine konkrete. Der Auftrag zur „Weiterentwicklung des Völkerrechts“ (Art. 3 Abs. 5 EUV) muss ernst genommen werden: in dem Maße, wie dieses konstitutionelles Menschheitsrecht wird. Kühn ist das hohe Ziel der „Weltordnungspolitik“ (Art. 21 Abs. 2 lit. h EUV). Die EU kann sich in der globalisierten Welt von heute nur als bescheidener „Akteur“ zu Wort melden.11 Schon seit mehr als 50 Jahren ringt sie um ihre Verfassung als „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“ (i.S. von J. W. von Goethe und H. Heller). Der Vertrag von Lissabon kann ein konstitutioneller Wachstumsring trotz seiner Defizite sein. Ob dies gelingt, hängt auch von der europäischen Öffentlichkeit aus Kunst und Kultur ab, nicht zuletzt indes von den „europäischen Juristen“. Dabei ist die „Identität Europas“ (Präambel EUV) wohl ein „Suchbild“ wie die nationalstaatliche Verfassung12.

11 Zu den Akteuren der Entwicklung von Völkerrecht mein Beitrag in FS Zuleeg, 2005, S. 80 ff.: Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: „Wer entwickelt das Völkerrecht?“. 12 Dazu U. Volkmann, Verfassungsrecht zwischen normativem Anspruch und politischer Wirklichkeit, VVDStRL 67 (2008), S. 57 (88 f.).

Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe* Vorbemerkung: Eigentlich müsste dieser Beitrag in einer der alten großen italienischen Stadtrepubliken vorgetragen werden, etwa in Bologna, Pisa, Amalfi oder Venedig. Immerhin führte Ravenna den zu einer autonomen Republik wachsenden Städtebund, zu dem Ancona, Vano, Pesaro, Senigallia und Rimini gehörten, auch war es im 11. Jahrhundert Sitz einer bedeutenden Rechtsschule. Doch Venedig galten die wunderbaren Sätze von Petrarca aus seinen Epistole (1364): „Die höchst erhabene Stadt der Veneter ist heute der einzige Hort der Freiheit, des Friedens und der Gerechtigkeit, die einzige Zuflucht der Guten, der einzige Hafen für die von den Stürmen der Kriege und Tyranneien geschüttelten Flöße all derer, welche gut leben möchten, eine Stadt reich an Gold, doch reicher noch an Ehre; stark durch Macht, doch stärker noch durch Tugend; beständig in Marmor errichtet, doch beständiger noch durch die Einheit ihrer Gemeinschaft; salzig sind die Wasser, die sie umfließen, doch sichert sie das Salz der Weisheit ihrer Bürger.“

Einleitung Konkrete Anlässe für das Thema sind das zu Ende gehende Europäische Jahr des Europarates „Citizenship through Education“, gewiss auch die Besinnung auf das schon zum Klassikertext gereifte Europäische Kulturabkommen von 1954, das bis heute ausstrahlt. Ein tieferer Hintergrund dürfte das Werden des konstitutionellen Europa aus seiner Familie von nationalen Verfassungen und Kulturen sein. Das Ausrufen von „Jahren“, die bestimmten Zielen und Ideen gelten, ist ja auch im Rahmen der UN bekannt. Ähnlich wie Feiertagsziele (z. B. in Deutschland der 1. Mai) oder Gedenktage (z. B. der Martin-Luther-King-Tag in den USA, in Spanien der Nationalfeiertag) dienen sie der Vergegenwärtigung bestimmter Grundwerte oder Ereignisse, die den Bürger „ansprechen“ wollen, man denke auch an die Verfassungspräambeln und an andere Artikel, die die offenen Gesellschaften der Demokratien von der Kultur her grundieren und den gesellschaftlichen Grundkonsens herstellen möchten. Akute Dringlichkeit für unser Thema zeigt sich derzeit in Frankreich (dem „Vaterland“ der Menschen- und Bürgerrechte) in Gestalt der Unruhen arbeitsloser Jugendlicher in Vorstädten und sogar in Paris (Okt. / Nov. * Erschienen in: Friedhelm Hufen (Hrsg.), Verfassungen – Zwischen Recht und Politik, Festschrift zum 70. Geburtstag von Hans-Peter Schneider, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2008, S. 460 ff.

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2005), die befürchten lassen, dass das stolze „republikanische Integrationsmodell“ gescheitert ist (da es den Einwanderern keine würdigen Lebensbedingungen verschafft), und sie zeigt sich etwas friedlicher im deutschen Streit um die sog. „PisaStudie“ (2000 / 2005), die dem Zusammenhang zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg nachgeht („Chancengleichheit im Bildungswesen“). In der Kürze der Zeit kann das wahrhaft große Thema heute nur in Stichworten angedeutet werden. Dabei sei die Aufwertung bedacht, die das „Bürgerliche“ in den letzten 55 Jahren erfahren hat: die „Bürgerbewegung“ in den USA (1950 / 1960), die „Bürgerinitiativen“ in Westdeutschland (1968 / 1980) – 1992 sogar in der Verf. Brandenburg auf die Textstufe gehoben (Art. 21 Abs. 3) –, die Bürgerbewegungen in Osteuropa (1976 / 1989)1, die „die Bürger“ in einigen Verfassungspräambeln sogar zu Verfassunggebern gemacht haben. Die Unabhängigkeitserklärung der werdenen USA (1776) und die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte in Frankreich (1789) gelten als klassische Dokumente des Bürgertums. Methodisch arbeitet der folgende Beitrag gemäß dem kulturwissenschaftlichen Ansatz (Stichwort: Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (1982); „Alle Freiheit ist kulturelle Freiheit“, „pluralistisches Kulturkonzept“ (1979), „Klassikertexte im Verfassungsleben“ (1981)). Gewiss, es mag auch andere Annäherungen an unser Thema geben, etwa die pädagogische, doch geht es im Folgenden um die spezifisch verfassungsrechtliche. I. „Bürgerschaft“ – Begriffstraditionen und einschlägige Texte 1. „Bürger und Bourgeois“ „Bürger und Bourgeois“ bilden seit R. Smends berühmter Rede (1933) ein klassisches Gegensatzpaar: „sittlich an den Staat gebundener Bürger“ bzw. „rechenhafter Egoist der kapitalistischen Zeit“. (Wir denken aber auch an die Komödie von Molière: „Le Bourgeois Gentilehome“, 1670.) Das Wort „Bürger“ ist heute meist positiv besetzt, es kommt in vielen Konnotationen vor: „Bürgersinn“, „Bürgerstolz“, „Bürgergesellschaft“, „bürgerliche Freiheiten“, „Bürgerrechte“, „Bürgerethos“, „Bürgerpflichten“, speziell in Deutschland als „Bürger in Uniform“ (= Soldat der Bundeswehr). Wohl in allen europäischen Verfassungsstaaten gibt es inhalt1 Der schönste Klassikertext stammt von V. Havel, Die Herrschaft der Gesetze, in: ders., Sommermeditationen, 2. Aufl. 1994, S. 14 ff., 26 f.: „Die Bürgergesellschaft, die auf der Universalität der Menschenrechte begründet ist, ermöglicht uns nämlich am besten, uns als alles das zu verwirklichen, was wir sind, also nicht nur als Angehörige unseres Volkes, sondern auch als Angehörige unserer Familie, unserer Gemeinde, unserer Region, unserer Kirche, unseres Berufsverbandes, unserer politischen Partei, unseres Staates, unserer überstaatlichen Gemeinschaft – und das alles, weil sie uns vor allem als Angehörige des Menschengeschlechtes versteht, also als Menschen, als konkrete menschliche Wesen, deren individuelles Sein seinen primärsten, natürlichsten und zugleich universalsten Ausdruck in ihrem Status als Bürger findet, in ihrem Bürger-Sein im weitesten und tiefsten Sinne des Wortes.“

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liche Entsprechungen: vom Lateinischen herkommend (civis, status civilis): die „citadinanca“ des Italienischen und die „ciudadancia“ des Spanischen. Die „civil society“ hat in angelsächsischen Rechtskulturen einen hohen Klang. (Eine erstaunliche Renaissance ist in Osteuropa seit 1989 zu beobachten.) Im Deutschen Idealismus bzw. der Weimarer Klassik ist er hörbar, und gewiss knüpft der Europarat an all diese Traditionen an. Das Wort „Staatsbürgerschaft“ wirkt in unserem Kontext fragwürdig: denn der Staatsbezug verengt und ist vor allem in Deutschland ideologisch besetzt. Meines Erachtens „gehören“ die Bürger nicht dem Staat (an), darum kritisiere ich auch den Begriff „Staatsangehörigkeit“. Zumal im europäischen Verfassungsraum, dem engeren der EU und dem weiteren des Europarates mit seinen jetzt 46 Mitgliedern, nicht primär vom Staat her gedacht werden sollte. Es sind die „Unionsbürger“ bzw. „Europabürger“, von denen aus zu denken ist. Eine Bestandsaufnahme der positiv geltenden Rechtstexte kann erste Materialien für den im Dritten Teil zu entwickelnden Theorierahmen liefern. Einige Klassikertexte sollen die Spannung erhöhen und erste Erkenntnisse vermitteln: von Goethe („Einseitige Bildung ist keine Bildung. Man muß zwar von einem Punkte aus-, aber nach mehreren Seiten hingehen.“ – „Keine Nation, weniger die Neuern, am wenigsten vielleicht die deutsche, hat sich aus sich selbst gebildet.“ – „Der zur Vernunft geborene Mensch bedarf noch großer Bildung, sie mag sich ihm nun durch Sorgfalt der Eltern und Erzieher, durch friedliches Beispiel oder durch strenge Erfahrung nach und nach offenbaren.“); von F. Schiller („Das Jahrhundert ist meinem Ideal nicht reif. Ich lebe ein Bürger derer, welche kommen werden.“ – „Was ich als Bürger dieser Welt gedacht, in Worte ihres Untertans zu kleiden.“); von W. v. Humboldt „Der isolierte Mensch vermag sich ebenso wenig zu bilden als der in seiner Freiheit gewaltsam gehemmte“; von Hegel „Der Mensch ist, was er als Mensch sein soll, erst durch Bildung“. I. Kant stellt dem „status naturalis“ den „bürgerlichen (status civilis)“ gegenüber, wobei dieser unter einer „distributiven Gerechtigkeit“ steht; „societas civilis“ definiert er als „Staat“, den „cives“ als „Staatsbürger“. „Der Mensch kann nur Mensch werden durch Erziehung“, heißt es bei ihm, der „Bildung“ synonym mit „Kultur“ gebraucht.

2. Einschlägige nationale Verfassungstexte An erster Stelle sei die Französische Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte erwähnt (1789). Sie kehrt als solche den Worten nach auch in vielen modernen Verfassungen wieder, zuletzt in Osteuropa (vgl. Abschnitt II Verfassung Polen von 1997: „Freiheiten, Rechte und Pflichten der Bürger“; Kap. III Verf. Kroatien von 1990: „Die grundlegenden Menschen- und Bürgerfreiheiten und -rechte“; ähnlich Kap. II Verf. Mazedonien von 1991; s. auch Art. 4 Abs. 1 Verf. Moldau von 1994). Von „Bürger“ sprechen auch Art. 39, 44, 66 Abs. 3 Verf. Polen. Auf die „Grundsätze der Bürgergesellschaft“ beruft sich hochrangig die Präambel der Verfassung der Tschechischen Republik (1992), die Heimat „gleichberechtigter Bürger“ sein will. Die Präambel Verf. Litauen (1992) spricht von „offener, gerechter, harmo-

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nischer bürgerlicher Gesellschaft“ und vom „Willen der Bürger“ zu dieser Verfassung. Art. 9 Abs. 1 Verf. Spanien (1978) bindet die „Bürger und die öffentliche Gewalt“ an die Verfassung und die übrige Rechtsordnung. Verf. Portugal (1976) unterscheidet zwischen „Bürger“ und „Staatsbürger“. Der vornehmste „BürgerText“ findet sich in der Präambel Verf. Brandenburg (1992): „Wir, die Bürgerinnen und Bürger des Landes Brandenburg haben uns in freier Entscheidung diese Verfassung gegeben“ (ähnlich Präambel Verf. Mecklenburg-Vorpommern von 1993). Der Bürger wird anstelle des Volkes zum Verfassunggeber! (Ein Abschied von Rousseau!) Auch die „Bürger von Georgien“ haben sich 1995 ihre Verfassung gegeben (ähnlich Verf. Slowakische Republik von 1992). Die slowakische Republik wagt sogar den Satz (Art. 2 Abs. 1): „Die Staatsgewalt geht von den Bürgern aus“ (s. auch Präambel Verf. Tschechische Republik von 1992: „Wir, die Bürger . . . nehmen diese Verfassung . . . an“). Das ist konstitutionelle Bürgerdemokratie: mit Vorbildwirkung hoffentlich für ganz Europa! 3. Verfassungstexte im Europäischen Verfassungsrecht, die EU-Verträge und die als soft law vorwirkende EU-Grundrechtecharta Art. 17 bis 22 EGV regeln prominent die „Unionsbürgerschaft“, Art. 99 bis 106 EU-Grundrechtecharta befassen sich mit „Bürgerrechten“, z. B. dem Recht auf eine gute Verwaltung und dem Recht auf Zugang zu Dokumenten. Der BürgerBegriff erfährt so eine eindrucksvolle Europäisierung und Aufwertung. Der EUVerfassungsentwurf von J. Voggenhuber (2003) überträgt die erwähnten ostdeutsch- und osteuropäischen Präambeltexte in den europäischen Kontext: „Wir, die Bürgerinnen und Bürger Europas und ihre Staaten errichten mit dieser Verfassung die Europäische Union“ (zit. nach JöR 53 (2005), S. 604). Die Gemeinschaft der Bürger wird so zum Verfassunggeber für Europa! Der Beitrag spanischer Konventsmitglieder (D. L. Garrido et. al. 2002) arbeitet gezielt mit der „Europa-Bürgerschaft“, erhofft sich einen „Zivildialog“ und fragt: „Was die europäischen Bürger von Europa fordern“ (zit. nach JöR 53 (2005), S. 457 (489)). Spanien ist also das konstitutionelle Bürger-Thema besonders teuer. Es setzt auf das Bürgerschaftsideal. 4. Völkerrechtliche Texte (UN-Menschenrechtspakte) Hier ist der „Internationale Pakt über bürgerliche (!) und politische Rechte“ einschlägig (1966) und als Beleg ausreichend. Er verweist nebenbei auf „Bürgerpflichten“ (Art. 8 Abs. 3 lit. iv) und gibt „jedem Staatsbürger“ gewisse Rechte (Art. 25).

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II. „Bildung“ Im Folgenden sei das Thema „Bildung“ parallel der „Bürgerschaft“, kultur- und textgeschichtlich aufgeschlüsselt: jenes aus deutscher Sicht, da nur sie mir vertraut ist, dieses auch aus der das Nationale übersteigenden europäischen und universal völkerrechtlichen Perspektive. 1. „Bildung“ – das klassische deutsche Thema Bildung ist ein der deutschen Kultur lange „lieb“ gewesenes Thema, ehe es in der 68er Revolution, im Streitwort von der „Bildungskatastrophe“ und in der Verächtlichmachung des „Bildungsbürgertums“ einen fragwürdigen Sinn erhielt. „Bildung kennzeichnet sowohl den Vorgang der Menschwerdung des Menschen als auch seine Bestimmung“ – so lautet der Eingangssatz im Herderschen Staatslexikon von 1985. Danach entfaltet der Bildungsbegriff seine volle Bedeutung im Bildungsbegriff der europäischen Aufklärung und des deutschen Humanismus: Herder, Goethe, Schiller, W. von Humboldt, auch Schleiermacher und Fichte erarbeiteten die Texte, die zu Klassikertexten geronnen sind (einige wurden schon zitiert) – zuvor hatten sich die Reformatoren M. Luther und P. Melanchthon für die Bildung im Geiste des Priestertums aller Gläubigen engagiert, auch Erasmus von Rotterdam gehört zu denjenigen, die durch „Lesen, Rechnen, Lernen“ damals eine frühe Bildungsreform auf den Weg gebracht haben. Für das 20. Jahrhundert wird von einer „Krise der humanistischen Bildung“ gesprochen, von einer „Umorientierung durch die empirische Wissenschaft“, auch der „Ideologiekritik der Bildung“. Bescheidener wird nur noch eine „Grundbildung“ gefordert. Sie soll jene Kenntnisse und Fähigkeiten umfassen, „die es dem Menschen ermöglichen, seine Welt zu interpretieren und in ihr bestehen zu können“. „Bildung und sozialer Wandel“ ist ein weiteres Stichwort. „Bildung macht frei“ (J. Meyer, 1850) bleibt ein Motto. Schon jetzt wird sichtbar, dass der „Bürger“ nicht der viel zitierte „homo oeconomicus“ ist. „Allgemeinbildung“ und „berufliche Bildung“ sind zu unterscheiden, aber nicht gegeneinander auszuspielen. 2. Bildungsziele in deutschen Länderverfassungen – sonstige canones Der europäische Verfassungsjurist hat es in manchem einfacher als der Historiker, Politologe oder Philosoph. Er kann sich auf eine Weise auf die positivrechtlich geltenden Texte „verlassen“, auch wenn diese gelebt bzw. interpretiert werden müssen. Hier ein Überblick über das Schatzhaus gemeindeutscher Bildungsziele und sonstiger Texte zum Bildungsverfassungsrecht, die viel Gedankengut der Klassiker positivieren. Schon in der WRV (1919) heißt es (Art. 148 Abs. 1): „In allen Schulen ist sittliche Bildung, staatsbürgerliche Gesinnung, persönliche und berufliche Tüchtigkeit

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im Geiste des deutschen Volkstums und der Völkerversöhnung zu erstreben“. Die westdeutschen Länder nach 1945 und die ostdeutschen seit 1991 entwickelten diesen pädagogischen Klassikertext fort. Beispiele sind: Art. 131 Verf. Bayern von 1946 / 1984 (Bildungsziele): „(1) Die Schulen sollen nicht nur Wissen und Können vermitteln, sondern auch Herz und Charakter bilden. (2) Oberste Bildungsziele sind Ehrfurcht vor Gott, Achtung vor religiöser Überzeugung und vor der Würde des Menschen, Selbstbeherrschung, Verantwortungsgefühl und Verantwortungsfreudigkeit, Hilfsbereitschaft, Aufgeschlossenheit für alles Wahre, Gute und Schöne und Verantwortungsbewusstsein für Natur und Umwelt. (3) Die Schüler sind im Geiste der Demokratie, in der Liebe zur bayerischen Heimat und zum deutschen Volk und im Sinne der Völkerversöhnung zu erziehen.“

Als Beispiel aus den ostdeutschen Ländern sei Art. 28 Verf. Brandenburg (1992) zitiert: „Grundsätze der Erziehung und Bildung. Erziehung und Bildung haben die Aufgabe, die Entwicklung der Persönlichkeit, selbstständiges Denken und Handeln, Achtung vor der Würde, dem Glauben und den Überzeugungen anderer, Anerkennung der Demokratie und Freiheit, den Willen zu sozialer Gerechtigkeit, die Friedfertigkeit und Solidarität im Zusammenleben der Kulturen und Völker und die Verantwortung für Natur und Umwelt zu fördern.“

Wer denkt hier nicht an das „Prinzip Verantwortung“ von H. Jonas (1979)? Eine eigene Variante schafft Art. 26 Verf. Bremen (1947), insofern es dort in Ziff. 3 heißt: „Die Erziehung zum eigenen Denken, zur Achtung vor der Wahrheit, zum Mut, sie zu bekennen und das als richtig und notwendig Erkannte zu tun“.

Damit ist mein Thema „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995) angedeutet. Bemerkenswert ist auch Ziff. 4: „Die Erziehung zur Teilnahme am kulturellen Leben des eigenen Volkes und fremder Völker“.

Als historischer Kontrapunkt zu Bayern (1946) sei Art. 56 Abs. 4 und 5 Verf. Hessen (1946) zitiert: Abs. 4: „Ziel der Erziehung ist, den jungen Menschen zur sittlichen Persönlichkeit zu bilden, seine berufliche Tüchtigkeit und die politische Verantwortung vorzubereiten zum selbstständigen und verantwortlichen Dienst am Volk und der Menschheit durch Ehrfurcht und Nächstenliebe, Achtung und Duldsamkeit, Rechtlichkeit und Wahrhaftigkeit“. Abs. 5: „Der Geschichtsunterricht muss auf getreue, unverfälschte Darstellung der Vergangenheit gerichtet sein. Dabei sind in den Vordergrund zu stellen die großen Wohltäter der Menschheit, die Entwicklung von Staat, Wirtschaft, Zivilisation und Kultur, nicht aber Feldherren, Kriege und Schlachten. Nicht zu dulden sind Auffassungen, welche die Grundlagen des demokratischen Staates gefährden.“

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Fast ist man an I. Kants „weltbürgerliche Absicht“ erinnert, auch an Lessings Toleranzparabel „Nathan der Weise“. Aufmerksamkeit verdient auch Art. 15 Abs. 4 Verf. Mecklenburg-Vorpommern (1993): „Das Ziel der schulischen Erziehung ist die Entwicklung zur freien Persönlichkeit, die aus Ehrfurcht vor dem Leben und im Geiste der Toleranz bereit ist, Verantwortung für die Gemeinschaft mit anderen Menschen und Völkern sowie gegenüber künftigen Generationen zu tragen.“

Der Generationenbezug findet sich auch in Art. 27 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt (1992); angedeutet ist der „kulturelle Generationenvertrag“. Einschlägig ist sodann Art. 109 Abs. 1 Verf. Sachsen (1992): „Die Bedeutung der Kirchen und Religionsgemeinschaften für die Bewahrung und Festigung der religiösen und sittlichen Grundlagen des menschlichen Lebens wird anerkannt.“

(Ähnlich schon Art. 4 Abs. 2 Verf. Baden-Württemberg von 1953 sowie später Art. 1 Abs. 1 Satz 2 Verf. Vorarlberg von 1999). Denn damit ist der kulturelle Trägerpluralismus in Sachen Bildung in eine Textform gegossen. Nicht nur der Staat hat Bildungsaufgaben. (In Art. 51 Abs. 3 EU-Grundrechtecharta ist von „Dialog“ der Union mit den Kirchen und weltanschaulichen Gemeinschaften die Rede.) Soweit ersichtlich, haben die umfangreichen Materialien des Europarates zu unserem Thema (der „Leitfaden“, siebzehn Seiten, die Kurzübersicht und die von sieben Autoren verfasste Studie vierundneunzig Seiten) nirgends auf all diese reichen Texte Bezug genommen! Das ist bedauerlich, denn diese Texte konturieren das Ideal der „Bürgerschaft durch Bildung“ und stellen sich damit gegen die sonst für unseren Zeitgeist so typische, fragwürdige, zweckhafte, am Nutzen orientierte Ökonomisierung der Bildung sowie ihre Denaturierung zur Ware (Kritik an der Ideologie des Marktes). Im Übrigen sei die Initiative des Europarates auch hier sehr positiv gewürdigt. Ergänzt werden müsste diese Bestandsaufnahme durch eine Erarbeitung der praktizierten Bildungsziele in den Schulen Europas. Das ist hier naturgemäß nicht möglich2. Abstrakt sei darauf verwiesen, das jede Nation ihre klassischen Bil2 In England gibt es eine untergesetzliche Norm mit folgendem Wortlaut: „Citizienship gives pupils the knowledge, skills and understanding to play an effective role in society at local, national and international levels. It helps them to become informed, thoughtful and responsible citizens who are aware of their duties and rights. It promotes their spiritual, moral, social and cultural development, making them more self-confident and responsible both in and beyond the classroom. It encourages pupils to play a helpful part in the life of their schools, neighbourhoods, communities and the wider world. It also teaches them about our economy and democratic institutions and values; encourages respect for different national, religious and ethnic identities; and develop pupils’ability to reflect on issues and take part in discussions. – In Finnland lautet eine Regierungsvorschrift: „The target for education is to support the pupils’ development into people with harmony and a healthy ego and as

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dungskanones hat: In ihrer nationalen Kultur-, auch Sprachgeschichte figurieren so Dante für Italien, Cervantes für Spanien, überhaupt die Inhalte des sog. „Goldenen Zeitalters“ (z. B. in Spanien, den Niederlanden, auch in Dänemark). Dabei spielt das Werden und die Weiterbildung der Sprachen eine prägende Rolle (zu denken ist heute an die Sprachförderung für Zuwanderer). Von Goethe stammt der Satz, Luther habe durch seine Bibelübersetzung die Deutschen zu einem Volk gemacht; dasselbe darf für Dante bzw. Italien gelten. Bildung durch Sprache bleibt ein einschlägiges Stichwort. Die in den einzelnen Länderverfassungen zum Ausdruck kommenden Grundwerte (Präambeln, Feiertagsgarantien, Hymnen und Flaggen, andere staatliche Symbole) sind solche, aus denen sich auch die nationale Bildung dieser Nationen speist und die das Wort vom „Verfassungspatriotismus“ (D. Sternberger) rechtfertigen. Eine Gretchenfrage ist: Brauchen Bürgergesellschaften eine „Leitkultur“ als identitätsstiftende Kraft? Genügt in Deutschland das GG? Können wir ein „Lob deutscher Bildung“ (FAZ vom 17. Okt. 2005, S. 37) noch wagen? Vieles spricht heute für lebenslange Prozesse aller Bildung der Bürger. Sie ist jedenfalls mit dem Schulende nicht abgeschlossen. Vieles deutet aber auch auf die Verschiedenheit der Bildungsideale je nach Nation und Kultur hin. Die EU-Richtlinien über die Rückgabe von unrechtmäßig aus dem Hoheitsgebiet eines Mitgliedsstaates verbrachten Kulturgütern hat ihren tiefen Sinn; es geht um die nationale Identität aus Kultur. Im Folgenden noch ein kurzer Überblick über geschriebene Verfassungstexte einiger europäischer Länder, die sowohl Mitglied des Europarates als auch der EU sind. Art. 42 Abs. 2 Ziff. 2 Verf. Irland (1937 / 1992) lautet: „Der Staat muss jedoch als Hüter des allgemeinen Wohles im Hinblick auf die tatsächlichen Bedingungen fordern, dass die Kinder ein gewisses Minimum an moralischer, geistiger und sozialer Erziehung erhalten“.

In Abs. 4 ebd. ist erneut von den Einrichtungen „auf dem Gebiet der religiösen und moralischen Bildung“ die Rede. Art. 16 Abs. 2 Verf. Griechenland (1975 / 1986) lautet: „Die Bildung ist eine Grundaufgabe des Staates und hat die sittliche, geistige, berufliche und physische Erziehung der Griechen, sowie die Entwicklung ihres nationalen und religiösen Bewusstseins und ihre Ausbildung zu freien und verantwortungsbewussten Staatsbürgern zum Ziel“.

Auffällig ist Art. 43 Abs. 2 Verf. Portugal (1976 / 1992): „Der Staat darf sich nicht das Recht zusprechen, Bildung und Kultur nach den Maßstäben irgendwelcher philosophischer, ästhetischer, politischer, ideologischer oder religiöser Richtlinien programmatisch festzulegen.“

members of society with skills to take a critical view of their social and natural enviroment. The basis is respect for life, nature and human rights as well as appreciation of their own and others’ learning and work.“ (Beide Texte zit. nach der erwähnten Studie des Europarates.)

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Denn der alteuropäische traditionelle Bildungskanon und seine Fortschreibung heute machen naturgemäß eine Auswahl der Grundwerte und (Bildungs-)Ziele erforderlich. Tradition sei, nach einem schönen Wort von G. Mahler, verstanden als „Weitergabe des Feuers“, nicht als „Anbetung der Asche“. Die jungen Menschen werden mit diesen Bildungszielen „auf den Weg“ gebracht, die Erwachsenen können sie als „Orientierungswerte“ verinnerlichen. Im Übrigen enthalten fast alle neueren Verfassungen ein Grundrecht auf Bildung (vgl. Art. 57 Abs. 1 Verf. Albanien von 1998, Art. 53 Abs. 1 Verf. Bulgarien von 1991); Art. 11 Verf. Baden-Württemberg (1953) spricht vom „Recht auf Erziehung und Ausbildung“ (ebenso Art. 25 Abs. 1 Verf. Sachsen-Anhalt, 1992); Art. 41 Abs. 1 lit. f nBV Schweiz (1999) verlangt von Bund und Kantonen in Bezug auf Kinder und Jugendliche Maßnahmen in Richtung auf „ihre Entwicklung zu selbstständigen und sozial verantwortlichen Personen“ (s. auch das Ziel ihrer „sozialen, kulturellen und politischen Integration“). Die allgemeine Schulpflicht ist ein Hinweis auf den demokratischen Verfassungsstaat als Kulturstaat bzw. ein klassisches Element seines Bildungsverfassungsrechts, ebenso die (Aus-)Bildung an den Universitäten. Der Sache nach „versteckt“ sich auch in Art. 48 Verf. Spanien ein Bildungsauftrag; Art. 27 Abs. 1 normiert ein Recht aller auf Erziehung. Im nationalen Kulturverfassungsrecht kristallisieren sich Bildungsinhalte.

3. Das Thema Bildung auf der gesamteuropäischen und Völkerrechtsebene Verfolgen wir kurz die Erscheinungsformen des Themas Bildung auf der die Nationen überschreitenden Ebene, d. h. im Europäischen Verfassungs- und im Völkerrecht. Ein Überblick über Bildungsthemen im Europäischen Verfassungsrecht wird vor allem im Kompetenzteil und im Grundrechtsteil fündig. Beispiele sind: Bereits aus der Satzung des Europarates (1949) der Passus: „. . . in unerschüttlicher Verbundenheit mit den geistigen und sittlichen Werten, die das gemeinsame Erbe ihrer Völker sind und der persönlichen Freiheit, der politischen Freiheit und der Herrschaft des Rechtes zugrunde liegen, auf denen jede wahre Demokratie beruht . . .“. Eine kulturelle Erbesklausel, die immanent stets auch auf Bildungsziele verweist, findet sich in Präambel und Art. 5 Europäisches Kulturabkommen (1954). Aus dem Europäischen Verfassungsrecht im weiteren Sinne sei Art. 2 des Zusatzprotokolles zur EMRK (1952) erwähnt: „Recht auf Bildung. Das Recht auf Bildung darf niemandem verwehrt werden. Der Staat hat bei Ausübung der von ihm auf dem Gebiete der Erziehung und des Unterrichts übernommenen Aufgaben das Recht der Eltern zu achten, die Erziehung und den Unterricht entsprechend ihren eigenen religiösen und weltanschaulichen Überzeugungen sicherzustellen“.

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Relativ viel Bildungsverfassungsrecht findet sich im EU-Verfassungsrecht: So heißt es in der Präambel des EGV (1992 / 97): „Entschlossen, durch umfassenden Zugang zur Bildung und durch ständige Weiterbildung auf einen möglichst hohen Wissensstand ihrer Völker hinzuwirken“, so regeln Art. 149 f. ebd.: „allgemeine Bildung und berufliche Bildung der Jugend“ („Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen“, „Förderung der Zusammenarbeit zwischen den Bildungseinrichtungen“). Art. 74 EU-Grundrechtecharta normiert das Recht auf Bildung sowie auf Zugang zur beruflichen Ausbildung und Weiterbildung. Der EuGH stärkt das Grundrecht auf gleiche Ausbildungschancen gerade jüngst von der Unionsbürgerschaft her (das europäische Hochschulinstitut in Florenz sei erwähnt, auch der Bolognaprozess mit seinen heute 40 Teilnehmerstaaten sowie das Tempus-, Erasmus-, Sokrates-, Leonardo da Vinci- und Comenius-Programm, nicht zufällig große Namen der europäischen Bildungs- bzw. Kulturgeschichte: „Vor-Bilder“). Aus den völkerrechtlichen Texten seien erwähnt: Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948): Art. 26 (Kulturelle Betreuung, Elternrecht): „1. Jeder Mensch hat Recht auf Bildung. Der Unterricht muss wenigstens in den Elementar- und Grundschulen unentgeltlich sein. Der Elementarunterricht ist obligatorisch. Fachlicher und beruflicher Unterricht soll allgemein zugänglich sein; die höheren Studien sollen allen nach Maßgabe ihrer Fähigkeiten und Leistungen in gleicher Weise offenstehen. 2. Die Ausbildung soll die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und die Stärkung der Achtung der Menschenrechte und Grundfreiheiten zum Ziele haben. Sie soll Verständnis, Duldsamkeit und Freundschaft zwischen allen Nationen und allen rassischen oder religiösen Gruppen fördern und die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Aufrechterhaltung des Friedens begünstigen.“

In Art. 13 Abs. 1 Internationaler Pakt über wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte (1966) heißt es kongenial: „Die Vertragsstaaten erkennen das Recht eines jeden auf Bildung an. Sie stimmen überein, dass die Bildung auf die volle Entfaltung der menschlichen Persönlichkeit und des Bewusstseins ihrer Würde gerichtet sein und die Achtung vor den Menschenrechten und Grundfreiheiten stärken muss. Sie stimmen ferner überein, dass die Bildung es jedermann ermöglichen muss, eine nützliche Rolle in einer freien Gesellschaft zu spielen, dass sie Verständnis, Toleranz und Freundschaft unter allen Völkern und allen rassischen, ethnischen und religiösen Gruppen fördern sowie die Tätigkeit der Vereinten Nationen zur Erhaltung des Friedens unterstützen muss.“

In all diesen reichen Texten kommt viel europäisches Bildungsgut zum Ausdruck. Es ist von den UN sogar zur universalen Aufgabe gemacht (Bürgerschaft durch Bildung als universale Aufgabe). Die Satzung der UNESCO (1945), Präambel und Art. I geben dazu viele Hinweise („gleiche Bildungsmöglichkeiten für alle“, „Erziehung des Menschengeschlechts zur Gemeinschaft, Freiheit und Friedensliebe“, „Volksbildung“, „Erziehungsmethoden, die am besten geeignet sind,

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die Jugend der ganzen Welt auf die Verantwortung vorzubereiten, welche die Freiheit auferlegt“).

III. Bürgerschaft durch Bildung – der Zusammenhang Nachdem die bisherige Bestandsaufnahme manchen Ertrag erbracht hat, kann jetzt der Zusammenhang, der gemeinsame Theorierahmen „Bürgerschaft durch Bildung“ als europäische Aufgabe angedeutet werden.

1. Menschenrechtserziehung „Erziehung zu den Menschenrechten“ ist ein erster Bildungsauftrag – auf der nationalen und europäischen, ja Weltebene. Manche nationalen Verfassungen, vor allem der Entwicklungsländer, deuten ihn vorbildlich an (Verf. Peru von 1979: Art. 22 Abs. 3, Verf. Guatemala von 1985: Art. 72 Abs. 2). Es gibt entsprechende UNESCO-Programme, und wohl in allen staatlichen Schulen in Europa werden die Menschenrechte als Grundwerte des Verfassungsstaates vorgestellt. Die Erziehung zu den Menschenrechten umfasst den Grundwert der Toleranz und Solidarität, welch letztere die spanische Verfassung in anderem Kontext normiert (Art. 2, 138). Den jungen Bürgern muss klar gemacht werden, dass um der Menschenwürde willen jeder Mitbürger dieselben Menschenrechte hat. Auch hier hat I. Kant einen Klassikertext geschrieben, Art. 7 Abs. 2 Verf. Brandenburg (1992) („Jeder schuldet jedem die Anerkennung seiner Würde“) knüpft an ihn an. Menschenrechtserziehung ist der Ausgangspunkt aller Bemühungen um Bürgerschaft durch Bildung. Der Europarat nennt die Menschenrechtserziehung ausdrücklich in seinen erwähnten Papieren. Menschsein und Bürgersein gehören zusammen. Kultur ist der Humus für Beides. Sollten „Verschulungstendenzen“ im „Bologna-Prozess“ überhand nehmen, sind Korrekturen erforderlich.

2. Erziehung zur (pluralistischen) Demokratie als Bildungsziel Das zweite Bildungsziel ist das Demokratieprinzip, unter Betonung der aktivbürgerlichen Dimension, d. h. der Möglichkeiten über Volksabstimmungen und Wahlen hinaus das politische Leben stetig mit zu gestalten. Angesichts der oft sehr geringen Wahlbeteiligung bei manchen nationalen und EU-Wahlen ist dieser Bildungsgehalt der zweitwichtigste. Demokratie folgt meines Erachtens aus der Menschenwürde der Bürger als kulturanthropologische Prämisse des Verfassungsstaats, sie ist deren organisatorische Konsequenz. Es gibt viele (nationale) Demokratievarianten zwischen der nur repräsentativen und der auch direkten Demokratie (vorbildlich ist die „halbdirekte Demokratie“ der Schweiz). Demokratische Grundrechte wie Petitionsfreiheit, der Gang zum Ombudsmann, Volksanwalt, dem Euro-

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päischen Bürgerbeauftragten etc. gehören hierher, Volksinitiativen, Bürgerbegehren kennen wir besonders in den neuen deutschen Bundesländern. Der status activus politicus des Bürgers, die partizipatorische Demokratie, wie sie der EU-Verfassungsentwurf von 2004 im Ansatz vorsieht, wird einschlägig. Nach einem Wort von G. Grass „verdorrt“ die Demokratie ohne bürgerliches Engagement. Das Ehrenamt hat seine aktivbürgerliche Bedeutung in ganz Europa. Dabei ist daran zu erinnern, dass die demokratischen, politischen Mitgestaltungsrechte der Bürger (vgl. Art. 21 Verf. Brandenburg), die „öffentliche Freiheit“ (Verf. Spanien) nur greifen, wenn ein Mindestmaß an Bildung, an Information über die Grundwerte und Grunddaten der politischen Vorgänge vorhanden ist (Grundrechte als „funktionelle Grundlage“ der Demokratie). Demokratische Aufklärung (in Deutschland die „staatsbürgerliche Erziehung“ nach 1945) ist ein Stück Demokratieerziehung zur Bürgerschaft. Man darf von „Demokratiebürger“ und der „Bürgerdemokratie“ sprechen, jedenfalls in der deutschen Sprache. Der Europarat spricht eindrucksvoll zu Recht von „Demokratielernen“ und „Demokratieleben“. Dazu gehört auch europäische Integrationspolitik vor Ort (z. B. in Vorstädten). Lokale und regionale „europäische Bürgergesellschaften“ sind an der Zeit. „Parallelgesellschaften“ sind fragwürdig, da sie den Begriff „Bürger“ spalten. 3. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – die Unverzichtbarkeit von Bildungsstandards – national wie europäisch Das Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“, 1975 entwickelt und jüngst auch auf Europa bezogen, in Brasilien zu meiner Überraschung seit einigen Jahren intensiv diskutiert, setzt voraus, dass die Bürgerschaft „gebildet“ und das politische Gemeinwesen kulturell grundiert ist3. Die potentielle und reale Relevanz des alltäglichen Bürgerverhaltens (vor allem im Grundrechtsbereich) für die schrittweise Fortbildung der Verfassung und ihre tägliche Verlebendigung verlangt „Bildung“ und damit auch einen gewissen Idealismus im und zum Verfassungsstaat. „Kulturelle Sozialisation“ im Blick auf eine konkrete nationale Verfassung und die europäischen Grundwerte kann nur glücken, wenn diese dem Bürger bzw. Mitbürger von den Schulen angefangen über die Universitäten („europäischer Hochschulraum“) und andere Bildungseinrichtungen wie Volkshochschulen, Erwachsenenbildung, berufliche Weiterbildung, auch kirchliche karitative Organisationen, ja sogar die Medien und Nicht-Regierungsorganisationen vermittelt werden (darum ist es so fragwürdig, dass in Russland in diesen Tagen ein Gesetz über nichtstaatliche Organisationen auf den Weg gebracht wird, in dem diese einer Registrierungspflicht beim Staat unterworfen werden). Die Suche nach 3 Vgl. das schöne Wort von J. Burckhardt (Weltgeschichtliche Betrachtungen): „Jede Kultur ist Lernaufgabe, Leitstern und Leitkultur für alle in ihr Geborenen, und je mehr ein Mensch im Laufe seines Lebens fremde Kulturen kennenlernt, desto freier und wissender wird sein Blick auf die eigene Kultur sein, desto eher wird er auch Mängel in seiner eigenen und Vorzüge in einer fremden Kultur erkennen.“

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dem „europäischen Gemeinwohl“ kann nur so gelingen. Der „homo europaeus“ ist nur z. T. der vielzitierte Marktbürger. Das europäische Menschenbild ist das hier skizzierte, wobei beim Inbegriff „Menschenbild“ der Ursprung der imago deiLehre zu spüren sein dürfte. Ausblick und Schluss Wissenschaftliche Vorträge bzw. Beiträge dürfen mindestens am Ende in verfassungs- bzw. europapolitische Ausblicke münden. Gefordert ist zum einen, dass der nationale Verfassungsstaat sich der Instrumente bedient, die „Bürgerschaft durch Bildung“ herstellen können: ausdrückliche Erziehungsziele für die Schulen, entsprechende Bildungsprogramme in der Erwachsenenbildung, Vergegenwärtigung in den Parlamenten und politischen Parteien sowie Medien, auch in sog. „Sonntagsreden“ (warum nicht?). Sodann: Der europäische Bürger braucht aber auch Initiativen auf der übernationalen Ebene. Die Instrumente des Europarates in den Jahren von 1997 bis 2005 gehören hierher (Europa als „Raum für Bildung“). Dabei darf es freilich zu keiner „Indoktrination“ kommen. Die Idee der Bürgerfreiheit sollte das verhindern. Europa braucht die „Bildungsbürger“, um ein altmodisches deutsches Wort aufzugreifen. Ich weiß nicht, ob es dazu Analoges in den anderen Sprachen gibt. Gerade in der unbegrenzt globalisierten und ökonomisierten Welt von heute ist das Programm „Bürgerschaft durch Bildung“ unverzichtbar. „Weltbürger“ waren ein Kant und Goethe, wenige Gelehrte wie Leibniz, sind heute ein N. Mandela, ein V. Havel, wohl auch ein Dalai Lama. J.S. Bachs h-moll- Messe gilt manchen als ein „Stück Weltreligion“. So hoch können und dürfen wir für uns nicht greifen. Der sog. „gemeine Mann“, d. h. wir müssen hier und heute als Forscher und Lehrer alles dafür tun, dass das Projekt Bürgerschaft durch Bildung im Alltag gelingen kann – nicht für die genannten Ausnahmepersönlichkeiten, sondern für den normalen „Durchschnittsbürger“. Die Bürgergesellschaft meint die „kooperative und gemeinwohlorientierte Selbstorganisationskompetenz der Gesellschaft“. Sie stellt die Frage, wie „auf der Ebene der alltäglichen Lebensvollzüge der Sinn und die Sorge für eine Lebensgestaltung eingeübt und ermutigt werden kann“ (J. von Soosten). Bildung und Bürgergesellschaft im Verfassungsstaat sind ein Ideal. Ihre sie zusammenbindenden Werte lauten: Freiheit und Menschenwürde, Demokratie und Verantwortung, Toleranz, Solidarität, Leistungsbereitschaft, Ehrfurcht vor dem Leben, Friedfertigkeit, Kritikfähigkeit, Gerechtigkeitssinn auch im Blick auf die künftigen Generationen und Umweltbewusstsein (bürgerschaftliche Partizipation). Was für die jungen Bürger „Erziehungsziele“ sind, werden für die Erwachsenen „Orientierungswerte“. Nationale Identität und europäische Identität gehören zusammen. De Gaulles „Europa der Vaterländer“ behält seinen Sinn. Bildung macht Europa zum „Mutterland“.

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Literatur Blanke, H.-J.: Europa auf dem Weg zu einer Bildungs- und Kulturgesellschaft, 1994 Blankertz, H.: Bildung im Zeitalter der großen Industrie, 1969 Böhme, G.: Die philosophischen Grundlagen des Bildungsbegriffs, 1976 Dahrendorf, R.: Bildung ist Bürgerrecht, 1965 Engelhardt, U.: Bildungsbürgertum, 1986 Fuhrmann, M.: Bildung. Europas kulturelle Identität, 2002 – Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters, 1999 Glotz, P. / Faber, K.: Richtlinien und Grenzen des GG für das Bildungswesen, in: Handbuch des Verfassungsrechts, 2. Aufl. 1994, S. 1363 ff. Häberle, P.: Erziehungsziele und Orientierungswerte im Verfassungsstaat, 1981 – Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl., 1998 – Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Aufl., 2004 – Europäische Verfassungslehre, 3. Aufl., 2005 Hentig, H. von: Bildung, 1996 Jach, F.-R.: Schulverfassung und Bürgergesellschaft in Europa, 1999 Kant, I.: Ausgewählte Schriften zur Pädagogik und ihrer Begründung, Ausgabe 1963 Kroeschell, K.: Art. Bürger, in: HRG I. Bd. 1971, Sp. 543 ff. Litt, T., Das Bildungsideal der deutschen Klassik und die moderne Arbeitswelt, 1955. Meinecke, F.: Weltbürgertum und Nationalstaat, Ausgabe 1962 Menze, C.: Art. Bildung, in: Staatslexikon Bd. I, 7. Aufl., 1985 und 1995, Sp. 783 ff. – Art. Bildung, in Enzyklopädie Erziehungswissenschaft Bd. 1 1982, S. 350 ff. Mittelstraß, J. (Hrsg.),: Art. Bildung, in: Philosphie und Wissenschaftstheorie, Bd. 1 (1995), S. 313 f. Münkler, H. (Hrsg.): Bürgerreligion und Bürgertugend, 1996 Preuß, U. K.: Der EU-Staatsbürger – Bourgeois oder Citoyen, in: G. Winter (Hrsg.), Das Öffentliche heute, 2002, S. 179 ff. Richter, I.: Bildungsverfassungsrecht, 1973 Smend, R.: Bürger und Bourgeois im deutschen Staatsrecht (1933), jetzt in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, 2. Aufl., 1968, S. 309 ff. Soosten, J. von: Art. Bürgertum und Bürgergesellschaft, in: Evangelisches Soziallexikon, 2001, Sp. 226 ff. Vierhaus, R. (Hrsg.): Bürger und Bürgerlichkeit im Zeitalter der Aufklärung, 1980 Wittinger, M.: Der Europarat: Die Entwicklung seines Rechts und der „europäischen Verfassungswerte“, 2005

Die europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth* Einleitung Festvorträge sind auch im juristischen Bereich eine eigene, freilich heikle Literaturgattung. „100 Jahre Justizgebäude in Bayreuth“ verlangt (neben einer schon publizierten Magisterarbeit von S. Zappe) vielleicht sogar eine Festschrift, wie die für den BayVGH oder sogar das BVerwG und das BVerfG publizierten. Das mag zwar etwas zu hoch gegriffen sein, doch ist eine Festversammlung wie die heutige schon Ehrung genug. Zum Glück hat mir Herr Präsident Werth das Thema für meine kleine Rede von vornherein freigestellt. So war ich also nicht gezwungen, einen hundertsten Beitrag über das Thema: „125 Jahre Reichsjustizgesetze“ oder über „Justizkritik“, „Justizreform“, „Akzeptanzkrise“ und Ähnliches wie die „Gerichtsrede“ (so jetzt das Buch von T. M. Siebert) zu halten (zumal dies kein Feierthema wäre). Überdies habe ich in meinem Referendariat am Amtsgericht Waldkirch / Br. bzw. OLG Freiburg / Karlsruhe (1959) nur das Beste erfahren. „Justiz“ von innen betrachtet – dazu fehlte mir heute Erfahrung. Ich will nicht verschweigen, dass die Abschaffung des Bayerischen Obersten Landesgerichts in München auch aus meiner Sicht einen großen Verlust für die gewachsene, eigengeartete, nicht nur bayerische Rechtskultur bedeutet. Letztere genießt bekanntlich höchstes Ansehen, weit über die Grenzen des Freistaates hinaus. Zusätzliche Legitimität erhält (jeder) deutsche Richter heute dadurch, dass er schon vor Ort „europäischer Richter“ ist. Er wendet direkt vor Ort das Europäische Verfassungs- und Verwaltungsrecht an, ebenso das europäische Zivil- und Strafrecht; dementsprechend muss er dem Leitbild des „europäischen Juristen“ nahekommen (ausbildungsmäßig und theoretisch). Seit meinen frühen Professorenjahren (1969 in Marburg) vertrete ich die These, der gute Richter am sog. „kleinen Amtsgericht“ sei wichtiger als der sog. „hohe Richter“ am OLG oder BGH. Denn er steht dem Bürger direkt gegenüber, er befindet sich an der „Alltagsfront“. Ich lehne seit langem ohne jeden Erfolg die selbstgefällige Terminologie des BVerfG ab, das von bloßen „Fachgerichten“ spricht. In Wahrheit sind auch die Gerichte der Justiz in einem materiellen Sinne „Verfassungsgerichte“: GG und das Europäische Verfassungsrecht gelten unmittelbar. Mein Thema heute möchte ich jedoch weiten und etwas grundsätzlicher, zugleich aber Bayreuth-bezogen anlegen: die „europäische Stadt – das Beispiel Bayreuth“. Ansprechpartner seien nicht nur die Richter hier, auch die Anwalt* Erschienen in: BayVBl. 2005, S. 161 ff. Der Beitrag geht zurück auf einen Festvortrag, den der Verfasser aus Anlass der Jubiläumsveranstaltung „Hundert Jahre Justizgebäude in Bayreuth“ (2004) gehalten hat.

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schaft, sondern ebenso die Universität, die weiteren Kulturschaffenden und nicht zuletzt das interessierte und engagierte Bürgertum. Sie werden einwenden: Bayreuth sei doch (nur) die „Weltstadt auf Zeit“ (wie Salzburg, Luzern oder Perth). Sie werden fragen, was heißt „europäisch“? Einige Stichworte zu all dem seien im Folgenden gewagt. I. Historischer Rückblick – „Stadtkulturen“ 1. Mittelalter Um das Charakteristische der „europäischen Stadt“ zu erforschen, müsste man gewiss bis zur griechischen und römischen Antike zurückgehen. (Die Stadt war zuvor im 3. und 2. Jahrhundert in Mesopotanien, am Nil, Indus und Gelben Fluss entstanden.) Die griechischen Stadtstaaten (z. B. Athen und Korinth) – die offene Polis, das Urwort der „Politik“, – sowie die römischen Städte (die „civitas“ und „urbs“) haben vieles vorgelebt, was wir heute als „Stadtkultur“ und urbanen, öffentlichen Raum begreifen: architektonisch etwa den – öffentlichen – Platz, das Forum, den religiösen Bau (später das Theater), die Straßen, die Mauer, dazu gibt es schon Klassikerzitate von Heraklit. Aristoteles sah in der Stadt den Ort der Vervollkommnung menschlichen Daseins. Das spezifisch städtische Sozialverhalten im Gegensatz zum „Land“ sei Merkposten. Indes sei jetzt nur das Mittelalter in den Blick genommen. Dessen Städte haben eigene, spezifische Rechtsformen ausgebildet. Man denke an die oberitalienischen Stadtkulturen, die oft schon „Stadtrepubliken“ bildeten (einzigartig republikanisch Venedig mit seiner „gemischten Verfassung“) und deren Rechtswesen hoch differenziert war: So wurde das Wertpapierrecht in Oberitalien erfunden, überhaupt entwickelte der Handel viele Rechtsfiguren, und die Wiederentdeckung des Römischen Rechts in Bologna (seit 1100) war bezeichnenderweise auf städtischem Boden geglückt. Die italienischen Seestädte wie Amalfi und Pisa erschließen neue Handelsräume seit Ende des 10. Jahrhunderts. Ein Blick auf die Hansestädte und ihre hohe Kultur im Norden ist ebenfalls ergiebig. Die Vorbildwirkung des Stadtrechts von Magdeburg im Osten ist berühmt (seit dem 13. Jahrhundert). Alte Rechtssätze wie „Stadtluft macht frei“ sind für ganz Deutschland einschlägig. Das seit 800 werdende Europa ist ohne die Stadtkulturen nicht denkbar, auch wenn der Nationalstaat und die Landesherrschaft der Fürsten (und Bischöfe) viel strangulierte (Beispiel Köln). Freie Reichsstädte wie Regensburg oder Frankfurt / M., auch Nürnberg, sind im deutschen Kaisertum des Alten Reiches Verfassungsbestandteil. Die Renaissance bewirkte hier in Kunst und Wissenschaft viel – der Rückgriff auf die Antike wirkte als Ferment (Die Erneuerung der Stadtplanung ging von Italien im 15. Jahrhundert aus: Alberti). Eine neue Sicht war die sogenannte „perspektivische Stadt“ (Paris, Madrid, 1650 – 1750): Mit Recht wird rückblickend in der Wissenschaft von den Kommunen (Städten) als „Verfassungsform Europas“ gesprochen. L. Benevolo publizierte 1999 das Buch „Die Stadt in der europäischen Geschichte“, E. Park

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sagte schon 1929: „Die Stadt ist eine geistige Verfassung“, ein Petrarca beschrieb früh die Schönheit von Genua und Prag. 2. Die Neuzeit Erlauben Sie einen großen Sprung zur Neuzeit. Um in Deutschland zu bleiben: Hier war es die Reform des Freiherrn vom Stein (1808), die gar nicht überschätzt werden kann. Die in Preußen beginnende kommunale Selbstverwaltung im Kontext der Wiedergewinnung der Freiheit gegen Napoleon brachte einen Entwicklungsschub mit sich, der bis heute spürbar ist und nur mit der modernen „Europäisierung“ vergleichbar ist. Man hätte andere europäische Länder einzubeziehen: etwa die besondere ländlich und kantonal geprägte Entwicklung in der Schweiz, die aber auch „europäische Städte“ wie Basel, Zürich oder Bern herausbildete, dank Handel und Universität. In den Niederlanden wirkte neben Brügge Amsterdam zur Zeit Rembrandts so fruchtbar wie lange Zeit Venedig. Doch ist hier keine Geschichte der europäischen Städte insgesamt möglich, etwa die Herausbildung der Industriestadt im 19. Jahrhundert in England oder die sog. „Haussmanisierung“ (von Paris). Es muss noch Raum bleiben für den Theorierahmen der „Europäisierung“. Daher nur noch der Hinweis auf die Verankerung der kommunalen Selbstverwaltung in vielen älteren und jüngeren Verfassungen (in Bayern etwa Art. 83 Verf. 1946, § 22, § 23 Verf. von 1919). § 184 Paulskirchenverfassung von 1849 hatte jeder Gemeinde bestimmte „Grundrechte ihrer Verfassung“, etwa die Wahl ihrer Vorsteher und Vertreter und die Öffentlichkeit garantiert. Politisch ist angesichts der heutigen Finanznot der Städte und aller Kommunen das Ringen um das „Konnexitätsprinzip“ erwähnenswert (Art. 83 Abs. 3 BayVerf). Die deutschen Stadt-Staaten wie Bremen und Hamburg (leider nicht Lübeck, das einst führende Mitglied der Hanse, von T. Mann 1926 als „geistige Lebensform“ charakterisiert) und die derzeitigen Versuche, für Berlin einen Hauptstadt-Artikel ins GG zu schreiben, seien nicht vergessen (in Südkorea machte soeben das dortige Verfassungsgericht Seoul ungeschrieben kraft Gewohnheit zur konstitutionellen Hauptstadt). Im Ganzen lässt sich sagen, dass die Verfassungsform „Stadt“ im Gegensatz zum Land, zu Dörfern (ohne Abwertung) ein kulturelles Identitätselement par excellence in der älteren und jüngeren Verfassungsgeschichte Europas ist. Die StadtÖffentlichkeit gehört hierzu, ein Teilbereich der „europäischen Öffentlichkeit“. II. Die Europäisierung der Städte Das Bisherige hat das europäische Element in der Rechtsgestalt „Stadt“ immer mitgedacht, indes ist in unseren Jahren eine spezifische „Europäisierung“ erfolgt, die wir jetzt genauer betrachten müssen.

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1. Allgemein „Europäisierung“ ist zu einem im wissenschaftlichen und allgemein öffentlichen Bewusstsein präsenten Schlagwort geworden. Die intensive und beschleunigende Verfassungsentwicklung der EU, beginnend in den Römischen Verträgen (1957) und fortschreitend in den Etappen „Maastricht“ (1992), „Amsterdam“ (1997), Nizza (1999) und Brüssel (2004) hat zu einer Veränderung des nationalen Rechts vom „hohen“ Verfassungsrecht bis zum „niederen“ Strafrecht geführt. Alle einst primär nationalen Teilrechtsgebiete werden buchstäblich „von innen“ her „europäisiert“. Neben das Europa im engeren Sinne der EU tritt seit langem das schon ältere Europa im weiteren Sinne des Europarates („Europa“ ist geographisch-territorial und kulturell-wirtschaftlich definiert), insbesondere der EMRK (1950) mit den jetzt mit Monaco 46 Mitgliedern und der OSZE (55 Mitgliedsländer). Auch die Institutionen wie Parlamente, Verfassungsgerichte, Verwaltungsbehörden werden „europäisiert“, d. h. sie müssen europäisches Recht anwenden und sie müssen mit europäischen Instanzen kooperieren. Was heißt „Europäisierung“ und wie ist sie methodisch zu erarbeiten? M. E. muss hier kulturwissenschaftlich im Blick auf die europäischen Grundwerte vorgegangen werden. Die allein juristische Betrachtung reicht nicht aus. Europa meint das Zusammen von „nationaler Identität“ (zu der in Italien z. B. Verdi bzw. „Nabucco“ gehört) und „europäischer Identität“ (z. B. Europaflagge und die „europäische Freiheit“). Elemente der „europäischen Identität“ sind auf dem Felde der Rechtskultur z. B. Grundrechte und Demokratie, Gewaltenteilung und Unabhängigkeit der Gerichte, Wissenschaftlichkeit der Rechtsfindung und weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates. Gerade die Unabhängigkeit der Justiz ist eine große Errungenschaft der europäischen Rechtskultur. Leidvoll erkämpft, ist sie immer wieder gefährdet (Müller-Arnold-Fälle in Preußen, totalitäre Staaten im NS-Deutschland und der DDR). Die viel zitierte „innere Unabhängigkeit“ des Richters muss im Äußeren des „juristischen Handwerkszeugs“ beginnen und im höchstpersönlichen Gewissen des Einzelnen enden. Auch die nationale Politik im Großen ist dem Prozess der Europäisierung unterworfen. Ebenso boshaft wie zutreffend sagte jüngst der bayerische Ministerpräsident bei der Einweihung eines (allzu?) großformatigen Gebäudes der EU-Vertretung Bayerns in Brüssel: Brüssel sei (für Bayern) wichtiger als Berlin – Zusatzfrage in Klammern (gilt dies auch dann, wenn er selbst einmal Kanzler in Berlin werden sollte?). 2. Speziell: die Europäisierung der Städte und Kommunen Hier gibt es viel einschlägiges Rechtsmaterial: Es reicht von der Europäischen Charta der kommunalen Selbstverwaltung (1985) des Europarates bis zum Europäischen Rahmenabkommen über grenzüberschreitende Zusammenarbeit (1980) und zum Ausschuss der Regionen im europäischen Verfassungsrecht (Art. III / 229 – 294 EUVE 2004). Alle Kommunen werden „europäisiert“. Sie können autonom große Beiträge leisten durch Städtepartnerschaften, grenzüberschreitende

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Zusammenarbeit in „Euroregionen“ wie nach Tschechien (Euregio Egrensis) und Polen hin (jüngstes Stichwort ist „CLARA@eu“). Erwähnt sei die „Euregio Basilensis“ am Oberrhein. Wichtige Initiativen gehen von der Aktion in Sachen „Kulturhauptstadt Europas“ aus. Von Melina Mercouri (unsterblich ist sie freilich durch ihren Film „Sonntags nie!“) 1983 angeregt, ist das Programm „Kulturhauptstadt Europas“ vielleicht die Krönung einer Stadt zur „europäischen“ Stadt (1985 Athen, 1986 Florenz). Wir erinnern uns bisher an Brügge und Salamanca (2002), Graz (2003), Weimar, Genua und Lille (2004), jüngst an die Bewerbungen etwa von Regensburg (nicht Bayreuth?), für 2010 u. a. an Karlsruhe, Halle und Kassel (aus Deutschland). Diese Bewerbungsschreiben müssten meiner Theorie nach viel Material zum Thema „Europäische Stadt“ enthalten (vgl. Kassels Hinweis auf die Zahl der Museen, die „documenta“, wichtigste Sehenswürdigkeiten und „Stadtprominenz“ wie die Gebrüder Grimm (FAZ vom 4. 11. 2004, S. R 10). (Wären dies bei uns auch M. Stirner und O. Panizza?, sicherlich Leuschner.) 1978 schlug ich beim Festvortrag zum Augsburger Friedensfest den Begriff „Kommunales Kulturverfassungsrecht“ vor, er hat sich mittlerweile durchgesetzt und war angeregt von Art. 83 BayVerf (örtliche Kulturpflege). Die verfassungstheoretische Aufwertung dieses Rechtsgebietes und seine Projizierung auf Grundrechte und Demokratie vor Ort, gehören hierher. Die gelebte Grundrechtsgemeinschaft vor Ort führt auch zu der Möglichkeit und Wirklichkeit kultureller Freiheiten des Bürgers. Das Kommunalwahlrecht für alle EU-Bürger (Art. 28 Abs. 1 S. 3 GG) ist ein Signal.

3. Insbesondere: Arbeitsfelder europäischer Städte Im Folgenden seien einige Arbeitsfelder dessen genannt, was „europäische Städte“ heute zu solchen macht. An die erste Stelle gehört m. E. die Kultur: „Kulturpolitik in der Stadt“ – so ein programmatischer Titel aus dem Jahre 1979 – gibt die Konturen. Dazu gehören kulturelle Subventionen für Theater und Konzerte, Kulturpreise, Stiftungen, Brückenschläge zu einer etwaigen Universität vor Ort. Dazu gehören kommunale Denkmalpflege, architektonische Akzente, Restaurierung der Altstädte, kluge Stadtplanung, Ensembleschutz, auch „Kunst am Bau“ an den Rathäusern – all dies prägt das „Stadtbild“, die „Stadtlandschaft“, die „urbane Identität“ und ihr Selbstverständnis (Stichwort Stadtfeste). Der Etat einer Kommune gibt hier näheren Aufschluss. Die Themen müssen die europäische Dimension erkennen lassen: nicht nur introvertiert-nationale oder örtliche Alltags- bzw. Volkskultur darf ins Blickfeld der Kulturpolitik kommen. Die Wirtschaft und ihre ausgreifend europäischen Verpflichtungen sind ein zweites Feld, das ausweisen kann, ob eine Stadtkultur „europäisch“ ist. Firmen mit internationalem Ansehen gehören hierher (Beispiele für Bayreuth werden folgen), ebenso wachsend Arbeitnehmer aus anderen EU-Ländern. Die Arbeitswelt, Teil der Wirtschaftswelt, ist zu nennen. Schließlich hat die allgemeine kommunale Politik ihr Feld: Politikeraustausch etwa in den erwähnten Städtepartnerschaften, überregionale Treffen politischer Parteien mit europäischen Themen seien genannt. (Die Vierte Europäische Konferenz „Cities

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for Human Rights“ in diesem Dezember in Nürnberg sei eigens erwähnt). Die Stadt selbst kann hier dank ihrer Amtsträger oft nur anregen. Sie steht dabei in hartem Wettbewerb mit anderen Städten Europas. Ein neues Netzwerk mit Pace und Maribor ist sinnvoll. Die von mir für die Enquete-Kommission des Bundestages „Kultur ins GG“ jüngst gutachterlich unterstützte neue Kultur-Klausel könnte „anregend“ wirken. Der Deutsche und der Bayerische Städtetag wären zu erwähnen. Wenn kürzlich das Stadttheater als Institution von der Zeitschrift „Opernglas“ ausgezeichnet wurde, so gehört dies hierher. Nach all diesen Theorieelementen werden Sie nun Konkretes in Bezug auf Bayreuth erwarten. Hic Rhodus hic salta. Ihm gilt mein Dritter und letzter Teil.

III. Das Beispiel Bayreuth Dies sei ohne Fragezeichen formuliert. Doch muss erst im Einzelnen auf dem Forum des geschilderten Theorierahmens begründet werden, inwiefern Bayreuth das „Beispiel“ für eine „europäische Stadt“ ist – ohne dass wir es für den Wettbewerb um die „Kulturhauptstadt Europas“ oder gar das „Weltkulturerbe der Unesco“ (z. B. Quedlinburg) reklamieren wollen.

1. Auf dem Felde der Kultur Hier ist vieles positiv zu bilanzieren. Die Qualität, „europäische Stadt“ zu sein, verlangt m. E., dass mindestens eine Phase einer repräsentativen Kulturperiode Europas aus Geschichte oder Gegenwart in der Stadt lebendig ist. Wir werden fündig angesichts des Bayreuther Rokoko unserer typischen „Residenzstadt“ mit dem „Neuen Schloß“, der Eremitage, seinem „Juwel“, dem „Markgräflichen Opernhaus“. (Magdeburg bereichert sich heute durch den entstehenden „Hundertwasser-Bau“.) Hinzukommen die R. Wagner-Festspiele, aber auch die Jean-PaulWoche in den 90er Jahren, das jährliche Internationale Jugendmusiktreffen, das Jugendkulturzentrum. Die Trias von Villa „Wahnfried“, Jean-Paul- und F. LisztMuseum machen Bayreuth von der Seite der Musik und Literatur her zu einer „europäischen Stadt“, auch das Freimaurer-Museum und die auf dem Friedhof sichtbare Kulturgeschichte. In der Bildenden Kunst sei der „Förderverein Skulpturenmeile“ genannt (A. Hridlicka und H. Antes sind „Beweisstücke“ für städeplanerische Ästhetik), auch die „Kunst am Bau“ auf dem Universitätscampus, vom Kunstverein so vorbildlich initiiert. (Die „Demokratie als Bauherr“ hat es freilich schwerer als die Monarchie.) Die Campus-Galerie ist ein Erfolg. Überhaupt die Universität! Sie kann in Spitzenleistungen einzelner Forscher auch in Gestalt von Kooperationsabkommen in die europäische Dimension ausstrahlen in Gestalt des „Iwalewa-Hauses“ bis nach Afrika, aber auch in Gestalt von vielen ausländischen Studierenden und Professoren (genannt sei die ELSA-Gruppe). Die „Festspiel- und Universitätsstadt Bayreuth“, auch „Kongressstadt“, könnte gewiss in ihrem Kultur-

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etat (dank der Kulturgremien) weitere Posten benennen: etwa den „Theaterherbst“, die „Museumsnacht“, sogar den „Nachtlauf“, die Stadtbücherei, das Osterfestival, das Historische Museum, den Kulturpreis, vor etlichen Jahren an Herrn SchmittSteingraeber als großer „Kunstförderer“ verliehen (die verdienstvolle Oberfrankenstiftung zog soeben nach), die jährlichen Promotionspreise und die Unterstützung der „Kulturfreunde“-Konzerte u. a. m. seien erwähnt. Die Stadt wendet im laufenden Jahr 7,7 Millionen Euro für Kultur auf (4,2 % des Haushalts). Sollte auf Dauer die Gründung einer „Juristischen Gesellschaft“ gelingen, wäre ein weiterer Beweis erbracht – sofern Referenten und Themen europäische Statur und Format aufweisen und den Spagat von „Provinz und Europa“ leisten können. Lokale und überregionale „Stadtchronisten“ wie B. Mayer und H. Rosendorfer seien nicht vergessen (dieser war hier Gerichtsassessor), auch das von F. Piontek und J. Schultz hrsgg. „Literarische Portrait“ über Bayreuth (1996). Wenn jetzt der europäische Ruf der Klavierbauerfirma Steingraeber erwähnt wird, so leitet dies zugleich zum Bereich der Wirtschaft hinüber (für Bamberg, unsere „ewige Konkurrenz“, seien die „Bamberger Symphoniker“genannt, für Coburg das dortige Opernhaus). 2. Felder der Wirtschaft Sie können Vehikel für das Prädikat „europäische Stadt“ sein, selbst wenn die Industrieansiedlung vor den Toren der (Alt-)Stadt liegt. Stellvertretend, mangels besserer Kenntnis, sei nur die Firma BAT erwähnt, auch eine Brauerei; die Vereine der „Rotarier“ sowie „Lions“ könnten gewiss genauere Auskunft geben. Die Produkte tragen, gelingendenfalls, die Stadt Bayreuth in alle Welt. Der viel zitierte „globale Markt“ lebt freilich auch von der Rückbindung in der und in die Provinz, er bleibt bei all dem von nur instrumentaler Bedeutung, ist nicht Selbstzweck. Es sei auch gerne zugegeben, dass Wirtschaft und Kultur oft eine schwer entwirrbare Synthese eingehen (wie im Florenz der Medici Macht und Kunst). Die kulturellen Leistungen der Wirtschaft für eine Stadt und Region seien dankbar zur Kenntnis genommen, seien sie mittelbarer (Werbung) oder unmittelbarer Natur (sog. „Sponsoring“). 3. Felder der Politik Sie können eine Stadt „europaoffen“ machen. Pionierhaft wirkte hier – neben La Spezia – die Partnerschaft mit Annecy, die deutsch-französische Aussöhnung wurde vor Ort glaubhaft mitbewirkt (die Partnerschaft mit Rudolstadt wurde kürzlich mit der Verleihung der Goldenen Bürgermedaille an H. Franz gewürdigt). Überhaupt ist an das zu denken, was der EU-Verfassungsentwurf vom Juni 2004 so glücklich mit „Nachbarschaftspolitik“ umschreibt. Der Phantasie der stadtpolitisch Verantwortlichen vom OB (Dr. Mronz) bis zum Stadtrat sind hier keine Grenzen gesetzt, allenfalls vom Finanziellen her (beachtlich ist das „Sächsisch und Bayerische Städtenetz“). Die geplante deutsch-lettische Kulturachse, im Rückgriff auf

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R. Wagners Zeit in Riga (1837 / 39), ist unter der Patenschaft von Bayreuth ein gutes Projekt. Ausblick und Schluss Die zeitliche Vorgabe (ca. 35 Minuten) lässt gewiss viele Fragen offen, auch die begrenzte Kenntnis des Verf. vom empirischen Material. (Immerhin dürfen Erfurt und Leipzig heute buchstäblich als wieder „blühende Städte“ gelten.) Was den Theorierahmen angeht, so sei die rechts- und kulturwissenschaftlich erfassbare Gestalt „europäische Stadt“, „urbane Identität“ bekräftigt. Der Festvortrag war und ist teils Beschreibung von Vorhandenem (Erbe), teils Ermutigung zu Neuem (Auftrag). „Europäische Stadt“ zu sein, ist nie gesicherter Besitz, es muss immer neu erarbeitet (mit Goethe gesprochen „erworben“) werden, von allen Beteiligten, nicht zuletzt den Bürgern, die sich ihrer Stadtkultur bewusst sein sollten. Das beginnt schon in den städtischen Kindergärten und Schulen und endet nicht in einer Universität. Manches ist rechtlich greifbar oder vom Rechtskulturellen her erfahrbar. Vieles bleibt in der rechtsfreien Autonomie kultureller Freiheit, baut aber auf dem Recht auf oder hat dies zur Rahmenbedingung – Defizite an Kunstaktivitäten seien nicht in extenso namhaft gemacht. Höhere Kriminalität, Verödung und Schrumpfung der – sterbenden – Innenstädte sind Gefahren. (Die „Schutzgemeinschaft Bayreuther Innenstadt“ verdient m. E. Anerkennung). Die Gründung einer Juristischen Studiengesellschaft in diesem Gebäude Ende September 2004 könnte ein neuer Akzent sein, später in der Konkurrenz mit so angesehenen Gesellschaften wie der Berliner oder der Münchner (?). Das viel zitierte „Europa der Kommunen und Regionen“ muss zum Europa der Städte fortgeschrieben werden. Kulturelle Stadtpolitik hat heute Themen wie multiethnisches Miteinander, Toleranz, Kommunikation statt Ausgrenzung, Gesundheits- und Umweltschutz auf der Tagesordnung. Auch die von O. Scheytt vorangetriebene Diskussion über die „kulturelle Grundversorgung“ gehört hierher. K. Schlögel verdanken wir soeben einen hoffnungsvollen Beitrag über „Bürgergesellschaft, neue Urbanität und die Zukunft der Stadt in Osteuropa“ (ZSE 2004, S. 394 ff.). Kürzlich versammelt ein Tagungsband aus Trient Arbeiten über „Aspekte und Komponenten der städtischen Identität in Italien und Deutschland“ (14.-16. Jahrhundert), hrsgg. von G. Chittolini und P. Johanek (2003) mit so wichtigen Stichworten wie „Minderheiten und städtische Identität. Das Beispiel der Juden“ oder „Klerus und Bürger. Die Bedeutung der Kirche für die Identität deutscher Städte im Spätmittelalter“ oder: „Die Entwicklung des Wiener Bildes“. Des Schweizers A. Gassers berühmtes Dictum von der „Gemeindefreiheit Europas“ (1946) ist aktuell wie nie zuvor. Dass Bayreuth eine „europäische Stadt“ bleiben möge und sich entsprechend weiterentwickele – das sei am Schluss als Wunsch formuliert, verbunden mit dem Dank für die Ehre, hier und heute sprechen zu dürfen.

Versuch einer Begegnung Deutschland – Ungarn im Kontext Europas Denkschrift vom 21. 11. 2000 für einen Studiengang „Europawissenschaft“ an der geplanten deutschsprachigen Universität in Budapest (Ungarn)* Vorbemerkung: Herr Prof. K.-D. Wolff sowie Herr Universitätspräsident Prof. Dr.Dr.h.c. H. Ruppert (Bayreuth) haben mich in einer Besprechung am 13. November 2000 gebeten, kurzfristig einen ersten Entwurf für das oben genannte Projekt bzw. die Umrisse eines (postgraduierten) Studienplanes zu entwerfen. Ich komme dieser Bitte gerne nach und schlage vor: – Das Projekt könnte über West- bzw. Ost(mittel)europa hinaus pionierhaft wirken, indem es die eigene (integrierte) Disziplin „Europawissenschaft“ kreiert (an der Historiker, Juristen und Ökonomen mitwirken). – Stichworte und Schwerpunkte könnten aus meiner Sicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse sein, die in den letzten Jahren seit dem „annus mirabilis“ 1989, der „Weltstunde des Verfassungsstaates“, z. B. vom Unterzeichneten entwickelt worden sind: „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“, „Europäische Rechtskultur“, „Rechtsvergleichung als kulturelle Verfassungsvergleichung“ bzw. als „fünfte“ Auslegungsmethode sowie das „Europäische Verwaltungsrecht“ i.S. von J. Schwarze. – Ungarn bietet sich als besonders günstiger „Standort“ an, da hier auch ein Land des alteuropäischen Kulturerbes wiedergeboren ist und mit dem für bald zu erhoffenden EU-Beitritt die unvergessliche historische Grenzöffnung von 1989 dazu führt, dass Ungarn „Freundesland“ wird. Die Grenzöffnung hat das klassische Element der Allgemeinen Staatslehre, die „Staatsgrenze“, ein Stück weit gegenstandslos werden lassen (spätestens seit „Schengen“). – Bei allem Respekt vor dem, was die USA seit mehr als 200 Jahren zum Typus „Verfassungsstaat“ beigetragen haben: Bayern bzw. Deutschland sowie Ungarn und seine Nachbarländer sollten durch die Profilierung eines deutschsprachigen Studienganges dem entgegenwirken, was US-amerikanische „Law firms“ „verkaufen“: der weltweite Produktions- und Rezeptionszusammenhang in Sachen Verfassungsstaat (Stichwort: Transformations- und Rezeptionsforschung) sollte heute vom alten Europa aus selbstbewusster befördert werden, d. h. innereuropäisch konzipiert sein. * Erschienen in: Rainer J. Schweizer / Herbert Burkert / Urs Gasser (Hrsg.), Festschrift für Jean Nicolas Druey zum 65. Geburtstag, Schulthess Verlag, Zürich, 2002, S. 115 ff.

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– Ungarn gehört derzeit „nur“ zum Europa(recht) im weiteren Sinne von Europarat und OSZE. Durch seinen EU-Beitritt wird es Teil des Europa(rechts) im engeren Sinne. Gerade dieser „Seitenwechsel“ könnte besonders lehrreich sein und verlangt viel Juristenhandwerk und -kunst in Ungarn selbst. – Im ganzen könnte Leitbild des Studienplans das sein, was der Verfasser seit Jahren als „europäischer Jurist“ propagiert und in seinem 1999 in Bayreuth gegründeten „Institut für europäische Rechtskultur“ zusammen mit hiesigen Kollegen zu verwirklichen sucht.

I. Studienplan für die drei „Schwerpunkte“ – nach dem steigenden Schwierigkeitsgrad angeordnet – und hier zunächst für beide Studienjahre gemeinsam gekennzeichnet. 1. Die spezifisch juristische „Europawissenschaft“ als Kulturwissenschaft Erstes Jahr – Verfassungs- bzw. Rechtsgeschichte Europas (Vorlesung) – Europäische Kulturgeschichte (Vorlesung) – Europäische Literatur (von Homer, Vergil über Goethe bis Thomas Mann u. a.) (Vorlesung) – Einführung in die Rechtsvergleichung (Vorlesung) – Einführung in die ungarische Rechtsgeschichte (Vorlesung) – Das Europarecht im engeren Sinne der EU, im weiteren Sinne von Europarat und OSZE („Europaverfassungsrecht“, Stichworte: institutionell, inhaltlich, „Europa der Bürger“, der Kommunen, der Regionen etc.), zwei 2-stündige Vorlesungen – Grundrechte in Europa (national / europäisch) – allgemeine Lehren einschließlich der EU-Grundrechtecharta (zwei 2-stündige Vorlesungen) – Demokratie in Europa (national / europäisch) (Vorlesung) – Rechtsstaatlichkeit in Europa (national / europäisch), (Vorlesung) – Die EU-Erweiterung und Reform (als „Daueraufgabe“?), der „aquis communautaire“ als Beitrittsbedingung, Stichwort z. B. die Frage der Flexibilität, (Vorlesung) – Ein europäischer Sozialstaat? (einschließlich der Grundfragen des europäischen Arbeitsrechts, z. B. des europäischen Betriebsrates) (Seminar)

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– Europäisches Umweltrecht (Seminar) – Europäisches Medienrecht (Seminar) – Europol, allgemeiner: der EU-Rechtsraum (Raumtheorien) (Seminar) – Das Kulturverfassungsrecht und -verwaltungsrecht in Europa (Vorlesung) – Das Staatskirchenrecht (besser „Religionsverfassungsrecht“) in Europa (Seminar) – Das EU-Landwirtschaftsrecht (Seminar)

Zweites Jahr – Ausgewählte Beispiele nationaler Verfassungen: z. B. Ungarn, SchweizBV von 1999, deutsches GG, BayVerf. von 1946, Verf. Spanien von 1978, Verf. Polen (1996) (Vorlesung) – Verfassungsgerichtsbarkeit (national und europäisch: EGMR und EuGH), institutionell, kompetenziell, Verfahrensrecht (Vorlesung) – Föderalismus und Regionalismus (vergleichend); Möglichkeiten der „devolution“ in Großbritannien (Vorlesung) – „Europäisches Verwaltungsrecht“ und „Europäische Verwaltungslehre“ (Vorlesung) – Rechtsvergleichung als kulturelle Verfassungsvergleichung (vertiefend) (Vorlesung) – Was heißt Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen, wie geschieht sie? (Vorlesung) – Möglichkeiten und Grenzen einer Transformationsforschung (Vorlesung) – Einzelgrundrechte (national und vergleichend) (Vorlesung) – Die Verfassung Bosniens von 1995 als multiethnisches Modell? (Seminar) – Kulturgüterschutz in Europa (Seminar) – Ein europäisches Strafrecht? (z. B. Geldwäsche, Antidrogenpolitik, Antirassismusmaßnahmen, Kontrolle des Internet etc.) (Seminar) – Öffentliches Auftragswesen und Vergaberecht in der EU (Seminar) – Das Ausbildungsziel „Europäischer Jurist“ (Vorlesung) – Außenbeziehungen der EU (Vorlesung)

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2. Die Lehre von den internationalen Beziehungen im Lichte der Europawissenschaft Erstes Jahr – Das klassische Völkerrecht (Vorlesung) – Das heutige Völkerrecht (Vorlesung) – Die UNO-Organe, Kompetenzen, Positiv- und Negativbilanz (Vorlesung) – Internationale und regionale Menschenrechtspakte (Vorlesung)

Zweites Jahr – Umweltvölkerrecht (Seminar) – Das Internationale Seerecht (Seminar) – Das Recht des Welthandels (Seminar) – Die Nichtregierungsorganisationen (Vorlesung) – Der internationale Schutz des geistigen Eigentums (Urheberrecht, Marken- und Musterrecht) (Vorlesung) – Unesco-Konventionen z. B. zum Schutz der Weltkultur und des Kulturerbes (Vorlesung) – Probleme des Internets, allgemein der Medien (Seminar) – Staatliche Souveränität, kulturelle Identität und (ethnische) Minderheitenrechte (Chancen eines gemeineuropäischen Asylrechts) (Vorlesung)

3. Die ökonomische Dimension der juristischen Europawissenschaft Erstes Jahr – Die Kunstfigur des „homo oeconomicus“ und das „Menschenbild im Verfassungsstaat“ (Vorlesung) – Die soziale Marktwirtschaft als Verfassungsthema (Vorlesung) – Klassiker der Nationalökonomie und neuere Theorien (Vorlesung) – Die Europäische Währungsunion (Euro) (Vorlesung) – Regionalpolitik der EU (nicht nur ökonomisch) (Vorlesung) – Eine Europäische Sozialunion? (Vorlesung) – Europäische Management- und Organisationslehre (Parallelen zwischen der Organisation wirtschaftlicher Unternehmen und der Verwaltung, neue Ansätze der Verwaltungslehre) (Vorlesung)

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Zweites Jahr – Die Garantie des Privateigentums (Vorlesung) – Das Berufsrecht in Europa (Vorlesung) – Die Tarifvertragsparteien in Europa (Seminar) – Vergleichendes Steuerrecht (Seminar) – Europäisches Wettbewerbsrecht, einschließlich des Rechts der Beihilfen und Kartellrecht (Seminar) – Verbraucherschutz (Seminar) – Chancen und Grenzen der Globalisierung (eventuell könnten diese Themen auch in anderen Vorlesungen mitbehandelt werden) – Das Mittelmeer (historisch, geographisch, „Barcelona-Prozess“, Migrationsfragen) (Vorlesung)

Die weitere Auffüllung der Themenliste müsste von einem Ökonomen geleistet werden. II. Zulassungsbedingungen und Prüfungen – Die Lehrveranstaltungen sollten sein: Vorlesungen und Seminare. – Bei den Seminaren sollten Auswahlmöglichkeiten bestehen, je nach den Spezialinteressen der Teilnehmer. – Mindestens zwei Seminare aus den drei Schwerpunkten sollten obligatorisch sein. – Die Vorlesungen sollten zu ca. 2 / 3 verpflichtend sein, im übrigen müssten auch hier Wahlmöglichkeiten bestehen. – Es bestehen noch genug Spielräume und Änderungsmöglichkeiten seitens des Gründungsdekans bzw. des etwaigen Strukturbeirats, zumal die Erfahrungen des Unterzeichneten naturgemäß begrenzt sind. Weitere Differenzierungen sollten stichwortartig i.S. eines kommentierten Vorlesungsverzeichnisses in einem späteren Planungsstadium entwickelt werden. Auch ist denkbar, dass manche Vorlesungsthemen in Form von Seminaren (und umgekehrt) abgehandelt werden. – Vorzusehen ist wohl eine Zwischenprüfung nach dem ersten Studienjahr (vielleicht mündlich oder schriftlich). – Nach dem zweiten Jahr sollte eine große schriftliche Abschlussarbeit erfolgen. – Merkposten bleibt der Entwurf einer Notenskala sowie die Zusammensetzung der Prüfungskommission, auch die Zulassungsbedingungen.

Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa* Vorbemerkung Herkömmlicherweise sind Lehrbücher1 und Staatsrechtslehrertagungen2, Festschriften3 oder Handbücher4 Gegenstand von Rezensionsabhandlungen. Nur selten wurde bislang, soweit ersichtlich, ein Ensemble von juristischen Fachzeitschriften grundsätzlich besprochen5. Im Folgenden soll ein Überblick speziell über juristische Ausbildungszeitschriften in Europa unternommen werden: mit einigem Beispielsmaterial und dieses übersteigenden Sollforderungen. Dass eine Beschränkung auf Deutschland ungenügend wäre, versteht sich im Zeitalter der „Europäisierung“ des Rechts und der Rechtswissenschaft von selbst. Das Postulat des „europäischen Juristen“, der Aufbruch zu einer „Europäischen Rechtswissenschaft“ muss auch an den Wurzeln ansetzen: im juristischen Studium und in seinen „Ausbildungsmaterialien“. Das kühne Wort H. Coings „von Bologna bis Brüssel“ darf nicht nur Festtags- und Jubiläumsreden schmücken, es sollte auch im praktischen Alltag der Juristenausbildung gelebt werden. Dabei wird ein langer Atem nötig sein. Die nationalen Engführungen und Introvertiertheiten lassen sich schon in der Wissenschaft schwer genug korrigieren. Erst recht wird die juristische Studienliteratur viel Zeit brauchen, bis sie Europa so „verinnerlicht“, dass auch die unverzichtbaren Ausbildungszeitschriften „europäische Höhenluft“ atmen. * Erschienen in: ZEuP 2000, S. 263 ff. 1 Vgl. H. P. Ipsen, Deutsche Staatsrechtswissenschaft im Spiegel der Lehrbücher, AöR 106 (1981), S. 170 ff. 2 H. P. Ipsen, Weitere zehn Staatsrechtslehrertagungen 1972 – 1981, AöR 109 (1984), S. 555 ff.; H. P. Ipsen, Staatsrechtslehrertagungen, 1982 – 1991, AöR 117 (1992), S. 595 ff.; P. Badura, Deutschlands aktuelle Verfassungslage, AöR 115 (1990) S. 314 ff.; P. Häberle, Die Staatsrechtslehre im Prozeß der deutschen Einigung, BayVBl 1991, S. 385 ff. 3 P. Häberle, Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff., auch in ders. (Hrsg.), Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 408 ff. 4 Vgl. H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren GG – in der Beleuchtung des Handbuchs des Staatsrechts, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff.; K. A. Schachtschneider, Die deutsche Staatsrechtslehre in der Wende, JöR 42 (1994), S. 23 ff. 5 S. dazu mit Beispielsmaterial und theoretischen „Vorgaben“ meinen Beitrag: Wissenschaftliche Zeitschriften als Aufgabenfeld juristischen Rezensionswesens, in: Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 277 ff. – M. Stolleis, Geschichte des öffentlichen Rechts in Deutschland, Dritter Band 1999, S. 299 ff., behandelt jetzt als Historiker intensiv die Zeitschriftenliteratur (1914 bis 1945).

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I. Bestandsaufnahme (Auswahl) Die folgende Bestandsaufnahme kann nur recht fragmentarisch sein. Sie muss etwaige osteuropäische Zeitschriften schon aus sprachlichen Gründen auslassen und sie will auch keine grundsätzlichen, umfassend empirisch abgesicherten Analysen geben. Nur einige Ausbildungszeitschriften in Europa seien in den Blick genommen. 1. Deutschsprachige Ausbildungszeitschriften Wenn hier mit Deutschland begonnen wird, so nicht aus erneuerter nationaler Introvertiertheit, sondern weil „unter dem Grundgesetz“ sich ein erstaunlich reicher „Markt“ an Ausbildungszeitschriften (trotz des Repetitors?) entwickelt hat. Der Zeitschrift „JuS“ ist hier ohne Zweifel eine Pionierleistung geglückt (Erster Jahrgang: 1961). Sie dürfte bis heute, trotz aller Konkurrenz, führend geblieben sein. Ihr (wohl maßgeblich von H. Weber) entwickeltes Konzept hat sich bewährt, und sie versteht es, durch ihre Struktur sowohl Studenten als auch Referendare zu erreichen. Es gelingt ihr auch, mit gewissen Schwankungen über die Jahre hinweg, einen ausgewogenen mittleren Weg zwischen Wissenschaft und Ausbildung zu finden. Die Rubrik „Aufsätze“ gewinnt oft prominente Autoren (zuletzt etwa D. Medicus über „Entwicklungen im Bürgschaftsrecht“, JuS 1999, S. 833 ff.). Die Rubrik „Entscheidungsrezensionen“ 6 ist der meist höchstrichterlichen Judikatur „auf den Fersen“, die Sparte „Methodik der Fallbearbeitung“ sucht die Studenten bzw. Referendare, wie in den Kleinen und Großen Übungen erforderlich, zu erreichen. Als besonders geglückt erweist sich die Sparte „Der klassische juristische Text“. Denn hier wird dem jungen Juristen praktisch vorgeführt, wie stark Klassikertexte alle drei Rechtsgebiete Privatrecht, Straf- und Öffentliches Recht beherrschen7. Geschickt wird die Neugier geweckt, insofern der große Autor der klassischen juristischen Monographie, des Lehrbuchs bzw. Aufsatzes oder sonstiger „Quellen“ erst im sog. „Lernbogen“ eines späteren Heftes offenbart wird. Mit diesem „Wiederholen“ großer Texte bzw. der Vergegenwärtigung von juristischen Klassikern, ein Wert- und ein Erfolgsbegriff zugleich, gelingt es der Ausbildungszeitschrift „JuS“ ein Mindestmaß an „Bildung“ zu vermitteln, was umso wichtiger ist, als der „ungebildete Jurist“ bekanntlich ein „Sicherheitsrisiko“ darstellt (Peter Schneider). 6 In der wissenschaftlichen Literatur hat sie in der „Kommentierten Verfassungsrechtsprechung“ (gleichnamig: P. Häberle, 1979) bzw. in Rechtsprechungsberichten wie im AöR (zuletzt etwa R. Scholz / K. Konrad, Meinungsfreiheit und allgemeines Persönlichkeitsrecht, AöR 123 (1998), S. 60 ff.; H. A. Wolff, Der Grundsatz „nulla poena sine culpa“ als Verfassungsrechtssatz, AöR 124 (1999), S. 55 ff.) ihre Parallele. 7 Dazu P. Häberle, Klassikertexte im Verfassungsleben, 1981; s. auch ders., Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, S. 481 ff. S. auch M. Stolleis (Hrsg.), Staatsdenker in der frühen Neuzeit, 3. Aufl. 1995.

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In einer Zeit, die den Juristen mit Sekundär- und sogar „Tertiärliteratur“ überschwemmt, ist der „Gang zu den Klassikern“ unverzichtbar. Im übrigen sei die wohl als „Ausgleich“ nachgestellte „Rechtsprechungsübersicht“ der JuS erwähnt, die in großer Kürze und oft recht prägnant über das „Neueste“, vor allem im Blick auf die Relevanz in den Staatsexamina informiert. Die Rubrik „Berichte und Dokumente“ berichtet über praktische Geschehnisse (z. B. die Ergebnisse der Staatsprüfungen). Die Zeitschrift „Jura“ ist die jüngere Schwester der „Konkurrenz“ JuS. 1979 gegründet, kann sie sich ebenfalls „sehen“ lassen. Sie strukturiert sich in die Rubriken „Aufsätze“ (in Heft 5 / 1999 etwa I. von Münch: „50 Jahre Grundgesetz“), „Methodik“ (etwa mit einer Übungsklausur im Strafrecht oder einer Examensklausur im Öffentlichen Recht), „Wiederholung / Vertiefung“, „Examinatorium“ sowie „Der PC im Jurastudium“ (so in Heft 5 / 1999). Ein „Forum / aktuell“ befasst sich z. B. mit möglichen Wahlstationen im Ausland, die „Literaturhinweise“ bringen Buchrezensionen. Ungemein reichhaltig ist die „aktuelle Rechtsprechung in der Jura Kartei (JK)“. Im Dreischritt: „Leitsatz, Sachverhalt, Probleme“ wird hier, nach Schlagworten geordnet, die Rechtsprechung umfassend vermittelt. Die Ausbildungszeitschrift Juristische Arbeitsblätter (seit 1969) geht eigene Wege. Sie beginnt regelmäßig mit einem „Rechtsprechungsteil“, in dem neueste richterliche Entscheidungen pädagogisch übersichtlich sehr praxisnah aufbereitet werden. Es folgt ein sog. „JA-Übungsblatt“ mit „Lernbeiträgen“. Erst danach finden sich Aufsätze, in denen die Wissenschaft (oft hochkarätig) direkt zu Wort kommt (z. B. JA 1994, S. 151 ff.: „Unrecht – Strafrecht – Gerechtigkeit“, und ebd. S. 166 ff.: „Zum 200. Geburtstag des ALR“). Neben von Anfang an bestehenden „Literaturübersichten“, in der auch Zeitschriftenaufsätze aus den drei Rechtsgebieten Zivilrecht, Öffentliches Recht und Strafrecht besprochen werden, verdienen die „Übungsblätter“ und „Karteikarten“ Aufmerksamkeit und Beifall8. Die Schweizer Rechtskultur besitzt in Sachen Wissenschaft und Praxis im europäischen Vergleich hohen Rang, was sich in der Qualität der totalrevidierten Kantonsverfassungen9 ebenso zeigt wie in der Rechtsprechung des Bundesgerichts in Lausanne, auch in der Vielfalt ihrer Literaturgattungen vom Lehrbuch bis zur Festschrift10 sowie auf dem Forum der angesehenen „Zeitschrift für Schweizerisches Recht“ (s. auch das jüngst wieder kräftig Terrain gewinnende „Schweizerische Zentralblatt für Staats- und Verwaltungsrecht“, 100. Jg. 1999). 8 Bemerkenswert ist, dass eine allgemeine, wenngleich regionale Fachzeitschrift wie die BayVBl. eine eigene Sparte „Für den jungen Juristen“ pflegt (z. B. BayVBl. 1999, S. 508 ff.) und insofern auch ein Stück Ausbildungszeitschrift ist. Dasselbe gilt auch für die ZEuP bzw. ihre Kategorie „Studium“ (z. B. in 2 / 1998, S. 369 ff.). 9 Dokumentiert in JöR 34 (1985), S. 303 ff.; zuletzt JöR 47 (1999), S. 149 ff. 10 Zuletzt z. B. J.P. Müller, Grundrechte in der Schweiz, 3. Aufl. 1999; FS Hangartner, 1998.

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Diese Schweiz bringt (derzeit im 17. Jahrgang) eine adäquate „Zeitschrift für juristische Ausbildung und Praxis“ heraus. Unter dem Namen „recht“ wendet sie sich betont an Jura-Studenten aller Semester. Sie gliedert ihre (jetzt sechsmal jährlich erscheinenden) Hefte (mit Abonnementsangebot auch für ausländische Studenten) in die Sparten „Abhandlungen“ (z. B. W. Wiegand, Die Aufklärung bei medizinischer Behandlung 5 / 93), „Rechtsprechung“ (z. B. E. A. Kramer, Schweigen auf kaufmännische Bestätigungsschreiben, 3 / 1990) und „Orientierung“ (z. B. T. Koller, Ein neues Bundesgerichtsurteil zum Architektenrecht, 4 / 96). Im Spannungsfeld zwischen Bildung und Ausbildung, Wissenschaft und Praxis hält „recht“ eine gute „schweizerische“ Mitte. Österreich sei hier deshalb unter den deutschsprachigen juristischen Ausbildungszeitschriften am Schluss erwähnt, weil sich dieses Land wohl erst relativ spät auf dieses Feld begeben hat. Anzuzeigen ist die „Juristische Ausbildungs- und Praxisvorbereitung“ (JAP, derzeit im 9. Jahrgang). In manchem sucht sie ihren Weg in gelungener Synthese der übrigen deutschsprachigen Ausbildungszeitschriften. Das manifestiert sich in ihren Kategorien „Studienspiegel“ (z. B. 1994 / 95, S. 214 ff.: „Vom rechtspädagogischen Wert des European Law Moot Court“), „Der didaktische Beitrag“ (z. B. ebd.: „Das Lugano-Abkommen“), „Der Musterfall“ (z. B. 1995 / 96, S. 185 ff.: „Diplomprüfung aus Verfassungsrecht, Graz 1995“), „Der Praktische Fall“ (z. B. 1995 / 96, S. 263 ff.: „Regeln der Fußballverbände im Abseits“) sowie „Blick auf die Gesetzgebung“ und „Wichtige Studienliteratur“. Originell ist die Sparte „Tatort Rechtsgeschichte“ (z. B. JAP 1994 / 95, S. 59 ff.) mit dem Ziel, in „verklausulierter und leicht verfremdeter Weise bedeutende Ereignisse aus der Rechtsgeschichte darzustellen“ – „Stichwort: Rätselform“. Geworben wird für „kriminalistisch-rechtshistorische Forschungsarbeit“, mit Auflösung im jeweils nächsten Heft – eine schöpferische Variante zum „Klassikertext“ der JuS, die viel Zustimmung verdient. 2. Italienische Ausbildungszeitschriften Italien hat eine reiche Landschaft an allgemeinen juristischen Fachzeitschriften geschaffen (z. B. „Quaderni Costituzionali“ oder „Giurisprudenza costituzionale“, auch „Rivista trimestriala di diritto pubblico“) und es besitzt eine einzigartige Buchkultur, insofern es neue Lehrbücher oder Monographien häufig in öffentlichen „Vernissagen“ präsentiert, auf denen z. B. renommierte (ältere) Autoren, insonderheit Professoren, die Monographie oder ein Erstlingswerk der Jüngeren, etwa Doktorarbeiten, vorstellen. 1992 präsentierte kein geringerer als N. Bobbio das später erfolgreiche Werk „Diritto mite“ von G. Zagrebelsky in Turin. Überdies gibt es eine schon gefestigte Tradition „Die juristischen Bücher des Jahres“, von dem sich ein privater deutscher Arbeitskreis seit einiger Zeit hat inspirieren lassen11. Der italienischen Juristenausbildung sagt man freilich viel „Praxisferne“ 11 Vgl. zuletzt G. Dilcher, Die juristischen Bücher des Jahres 1998 – eine Leseempfehlung, JZ 1998, S. 1163.

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nach. Auch gewinnt der Besucher (Gastprofessor) mitunter den Eindruck, dass viel Wissen kurzfristig „eingepaukt“ wird, was in merkwürdigem Gegensatz zur Theoriehöhe etwa der italienischen Verfassungsrechtswissenschaft steht12, vom Privatrecht ganz zu schweigen13. Als juristische Ausbildungszeitschrift ist seit einigen Jahren – in monatlicher Erscheinungsweise – die Publikation „Studium iuris“ auf dem Markt14 (Untertitel „Rivista per la formazione nelle professioni giuridiche“). Die Hefte gliedern sich u. a. in die Kategorien „Attualità e Saggi“ (z. B. 1996 / 3 ein Beitrag zum neuen Internationalen Privatrecht Italiens), „Lezioni“ (ebd. z. B. zum Namensrecht geschiedener Ehefrauen), „Temi“ (ebd. z. B. ein wirklichkeitsnaher Fall, der in der Notariatsprüfung zu lösen war), sodann „Questioni“ (didaktisch gute knappe Fallbzw. Entscheidungsaufbereitung) und die Rubriken „Neue Entwicklungen in der Rechtsprechung, in der Gesetzgebung und in der Verfassungsrechtsprechung“. Die sog. „Bibliographischen Informationen“ bringen Kurzrezensionen von Büchern und (!) Zeitschriftenaufsätzen. Auch hier ist fast schon ein gemeineuropäischer Kanon in Sachen Gestaltung juristischer Ausbildungszeitschriften erkennbar. 3. Andere Länder15 Die Niederlande zeichnen sich durch zwei höchst lebendige Peridiodica aus. Zum einen gibt es das „juristische Studentenblatt Ars Aequi“ an der Katholischen Universität Nijmwegen (derzeit schon im 49. Jahrgang). Es ist nicht nur im äußeren Erscheinungsbild ansprechend, z. B. mit Karikaturen angereichert (ähnlich dem kecken Frankfurter „Rechtshistorischen Journal“), sondern veröffentlicht neben einer Sparte „Recht Gedicht“ sehr häufig Interviews mit prominenten Juristen (seien es Professoren oder Praktiker). Diese Literaturgattung findet sich in Deutschland etwa in der Deutschen Richterzeitung (z. B. 1997, S. 54 ff. mit Generalbundesanwalt K. Nehm oder S. 396 ff. mit dem Rechtsprofessor S. Simitis), in Spanien (in Annuario de derecho constitucional y parlamentario, z. B. 1997, No 9, S. 9 ff. mit dem Verf.). M. E. haben solche Interviews in juristischen Ausbildungszeitschriften hohen Wert: Der junge Jurist lernt früh die persönliche Seite der in den Rechtswissenschaften Verantwortlichen kennen, was in Form von „Nach12 Vgl. nur G. Zagrebelsky, Il diritto mite, 1992; A. Pace, La causa della rigidità costituzionale, 1995 (2. Aufl. 1997); P. Ridola, Diritti di Libertà e Costituzionalismo, 1997; F. Lanchester, Momenti e figure nel diritto costituzionale in Italia e in Germania, 1994. 13 Ein Beispiel für die Offenheit der italienischen Privatrechtswissenschaft, auch in Sachen Rechtsvergleichung: G. Cian, Hundert Jahre BGB aus italienischer Sicht, ZEuP 1998, S. 215 ff. 14 Dazu P. Kindler, Eine „JuS“ in Italien, JuS 1996, S. 759 f. 15 Nach einer vom Mitherausgeber dieser Zeitschrift A. Flessner veranstalteten Umfrage gibt es in Frankreich und Ungarn derzeit keine juristische Ausbildungszeitschrift. In England findet sich unter den ca. 12 juristischen Fachzeitschriften nur eine einzige Ausbildungszeitschrift: „Student Law Review“ (London).

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rufen“16 oder „Richterbildern“17 oder (neu) in der Reihe „Europäische Staatsrechtslehrer“18 im Grunde in jeder Hinsicht „zu spät“ kommt. Befriedigt wird durch solche „Interviews“ auch die jugendliche Neugier. Überdies hat „Ars Aequi“ eine ständige Rubrik „Menschenrechte“ geschaffen, die fast in jedem Heft erscheint. Im übrigen finden sich auch in dieser Zeitschrift die Kategorien „Aufsätze“ bzw. Artikel, Rechtsprechungs- und Buchrezensionen. Die andere niederländische Ausbildungszeitschrift heißt „jura falconis“. Sie erscheint im 35. Jahrgang an der Katholischen Universität Löwen. Auch sie kennt die besondere Literaturgattung „Interview“. Im übrigen druckt sie vorwiegend gut dokumentierte Aufsätze ab. Auffällig ist ein intensiver Teil „Buchbesprechungen“. Sodann ein Blick auf die Länder Dänemark und Norwegen: In Kopenhagen erscheint die Zeitschrift „Justitia“ derzeit im 22. Jahrgang. Unter der Leitung eines Professors werden ausschließlich Abhandlungen von Studenten für Studenten publiziert. Im Grunde handelt es sich um gehobene Seminarreferate mit „Literaturlisten“ (in äußerlich eher bescheidener Aufmachung). In Norwegen erscheint die Zeitschrift „Jussens Venner“, die (wohl beeinflusst von der US-amerikanischen Tradition) unter der Redaktion von Jurastudenten steht und Abhandlungen von Professoren, Praktikern und Studenten veröffentlicht. Beide Formen können freilich nicht entfernt mit dem „Perfektionismus“ der deutschsprachigen Ausbildungszeitschriften konkurrieren. Das sei hier ohne jeden Hochmut gesagt, weil es vielleicht besondere Gründe in der je nationalen Rechtskultur geben mag, die die Literaturgattung „Juristische Ausbildungszeitschrift“ als nicht so dringlich erscheinen lässt. In Portugal erscheint die „Revista Juridíca“ seit 1979 (mit Unterbrechungen, neue Serie seit 1985). Sie wird von der „Akademischen Vereinigung der Studenten der Rechtsfakultät der Universität Lissabon“ herausgegeben. Der ständige Stab der Mitarbeiter soll aus Studenten oder jungen Lizentiaten bestehen. Charakteristisch sind Aufsätze aus allen Rechtsgebieten sowie Rechtsprechungsberichte. Mitteilungen informieren z. B. über den Law Moot Court oder Internationale Studentenvereinigungen. In Spanien hat der Verf. über eine etwaige Ausbildungszeitschrift nichts in Erfahrung bringen können. Es gibt sie wohl auch wegen der stark auf den Professor bezogenen Verschulung nicht; all dies trotz einer höchst lebendigen allgemeinen Zeitschriftenkultur (vgl. auf das Öffentliche Recht bezogen nur: „Cuadernos Constitucionales“ oder „Revista de Derecho Communitario Europeo“).

16 Z. B. K. Vogel, in Bezug auf W. Schick, AöR 124 (1999), S. 308 f., oder R. Stürner, in Bezug auf S.A. Riesenfeld, JZ 1999, S. 780 f. 17 Z. B. E. Steffen, in Bezug auf Erwin Stein, JöR 46 (1998), S. 95 ff. 18 Vgl. JöR 45 (1997), S. 145 ff.: E. Garcia de Enterría (dargestellt von A. Jiminéz-Blanco).

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II. Sollforderungen an juristische Ausbildungszeitschriften im Europa von heute Selbst auf der Grundlage einer bescheidenen Bestandsaufnahme lassen sich einige Sollforderungen an „Format“, Konzeption und Erscheinungsbild Juristischer Ausbildungszeitschriften skizzieren. Dabei ist freilich zu beachten, dass auch und gerade im Europäischen Einigungsprozess die nationalen Rechtskulturen ihre besondere „Identität“ (vgl. Art. 6 Abs. 3 EUV: „nationale Identität“, Amsterdam) behalten sollen. Das juristische Zeitschriftenwesen gehört, wie die Buchkultur im Allgemeinen, zu den nationalen Besonderheiten einer nationalen Rechtskultur. Damit sei angedeutet, dass auch die spezielle Literaturgattung „Ausbildungszeitschrift“ im gesamten Kontext der jeweiligen Rechtswissenschaft und Praxis eines Volkes zu sehen ist. Auch will und kann das Folgende nicht versuchen, das schon erkennbar gute deutschsprachige Modell als „Muster“ für ganz Europa anzupreisen. In Osteuropa mag bereits ökonomisch der „Markt“ für juristische Ausbildungszeitschriften bis auf weiteres fehlen. Auch ist denkbar, daß dort zuvörderst eine allgemeine juristische Zeitschriftenkultur aufzubauen ist, ehe an die besondere Ausbildungszeitschrift als vielleicht „spätere“ Entwicklungsstufe zu denken ist. Was England angeht, so kann hier vielleicht auch in Zukunft die allgemeine juristische Fachzeitschrift die Aufgabe einer Ausbildungszeitschrift übernehmen. Trotz des positiven Urteils über das deutschsprachige „Modell“ besteht Grund, für Anregungen aus anderen Ländern offen zu bleiben. So spricht vieles für eine Institutionalisierung des „Interviews“, in dem zunehmend auch jeweils ausländische Juristen zu Wort kommen könnten, vor allem solche, die zu „Europäischen Juristen“ geworden sind (etwa D. Tsatsos aus Griechenland oder P. Cruz Villalón aus Spanien, H. G. Schermers aus den Niederlanden, Frau Ministerpräsidentin a. D. H. Suchocka aus Polen, L. Sólyom aus Ungarn oder ein „Lord“ aus Großbritannien). In drei Schritten seien Stichworte für ein „ideales Programm“ Juristischer Ausbildungszeitschriften in Europa angedeutet: die nach wie vor gültige Einheit von Forschung und Lehre W. von Humboldts19 als Richtmaß auch für die Rechtswissenschaft – Reform der Juristenausbildung hin oder her (1); das zunehmend Gestalt gewinnende Leitbild des „Europäischen Juristen“ (2); die Aufgaben des juristischen Zeitschriftenwesens im Allgemeinen und speziell die der juristischen Ausbildungszeitschriften (3). Im Einzelnen:

19 Zu W. v. Humboldt jüngst etwa: J. Mittelstrass, Forschung & Lehre – das Ideal Humboldts heute, in: Aus Politik und Zeitgeschichte B 15 / 98 vom 3. April 1998, S. 3 ff.; Mythos Humboldt, in: Forschung und Lehre 12 / 1995, S. 654 ff.; H. J. Meyer, Noch heute gültige Wahrheiten, FAZ vom 7. Juli 1998, S. 11.

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1. Das Konzept der Einheit von Forschung und Lehre, von Wissenschaft und Praxis auch in Zeiten ausweglos erscheinender Reformvorhaben der Juristenausbildung Die Rechtswissenschaften bleiben vom Streit um die „richtige“ Universität20 nicht unberührt. Wer sich für die Beibehaltung W. von Humboldts in aller Welt bewundertem (in Deutschland aber marktschreierisch in Frage gestelltem) Ideal der „Einheit von Forschung und Lehre“, das Sowohl-Als-Auch von Bildung und Ausbildung ausspricht21, muss sich den Problemen stellen, wie die Rechtswissenschaft mit der Explosion des Wissens sowie der Spezialisierung in viele alte (z. B. Rechtsgeschichte) und immer neue Teildisziplinen (z. B. Medizinrecht, Verkehrsrecht, Umweltrecht, Computerrecht22) zurechtkommt und dies unter den Bedingungen der heutigen Massenuniversität23. Geht man vom (m. E. nach wie vor gültigen) Postulat des „ewigen Ringens um Gerechtigkeit“ und Wahrheit aus24, so leuchtet ein, dass nur die klassische Einheit von Forschung und Lehre, von Wissenschaft und Praxis, verkörpert im einzelnen Universitätslehrer und im Bestand von Juristenfakultäten25, das Maß sein kann. Anders gesagt: Die Forschung von heute muss die Lehre von morgen sein (können). Die Wissenschaft gleicht einem kulturellen Generationenvertrag zwischen Lehrenden und Lernenden. Zweckfreie ergebnisoffene Grundlagenforschung, also nicht „Rechtskunde“, und anwendungsorientierte Einzelforschung bleiben die Leitidee. So wie die durch ihren Praxisbezug vor manchen anderen Geisteswissenschaften ausgezeichnete Rechtswissenschaft der wissenschaftlichen Paradigmen, ggf. auch ihres „Wechsels“ bedarf26 – jenseits aller Nützlichkeits- und Zweckmäßigkeitserwägungen des Marktes (Beispiele sind etwa die grundrechtliche Statuslehre eines G. Jellinek, die Figur der 20 Vgl. die Beiträge zum Thema „Wozu noch Universitäten“? von W. Frühwald und H. Schiedermair, in: Forschung & Lehre, 1998, S. 228 ff. 21 Zu Art. 5 Abs. 3 GG aus der neueren Kommentarliteratur: I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetzkommentar Bd. 1, 1996, Art. 5 III (Wissenschaft). Ältere Lit.: A. Blankenagel, Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftssoziologie, AöR 105 (1980), S. 35 ff.; P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 329 ff.; T. Gross, Die Autonomie der Wissenschaften im europäischen Rechtsvergleich, 1992. In Konkretissima der Zwischenprüfung führen D. Heckmann / B. Vogler, Bewertungsgrundsätze für die „studienbegleitende Zwischenprüfung“, JZ 1998, S. 637 ff. 22 Vgl. auch die in der NJW 1998 beginnende Reihe „Recht im Internet“ (M. Herberger, Internet für Juristen, NJW 1998, S. 2801 ff.) sowie die neue Zeitschrift „Multimedia und Recht“ (seit 1998). 23 Dazu etwa H. Schiedermair, Deutsches Hochschulwesen der Gegenwart – Eine Bestandsaufnahme, in: Handbuch des Wissenschaftsrechts, Bd. 1, 1996, S. 37 ff. 24 So der Verf. in Forschung & Lehre 2 / 98, S. 86 ff., sowie Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, 1995. 25 Dazu etwa die Festgabe für O. Theisen: Die Aufgabe der Juristenfakultäten, 1996. 26 Vgl. etwa das Programm „Rechtswissenschaftliche Innovationsforschung“, gleichnamiger Band, hrsg. von W. Hoffmann-Riem und J. P. Schneider, 1998. Konzeptionell ergiebig: E. Schmidt-Aßmann, Zur Situation der rechtswissenschaftlichen Forschung, JZ 1995, S. 2 ff.

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„culpa in contrahendo“ eines R. von Jhring) –, so muss sie sich zugleich immer wieder am konkreten Gesetzgebungsvorhaben bzw. an der richterlichen oder administrativen Fallentscheidung bzw. -verantwortung bewähren. Man mag über die zeitlichen Phasen der Vermittlung von Praxis und der gemeinsamen Erarbeitung von Theorien streiten (Ein- oder Zweiphasenmodell, Grundstudium, Aufbaustudium etc.): Entscheidend bleibt, dass dem jungen Juristen im Ganzen beides vermittelt wird: die rechtsphilosophischen Lehren in Sachen Gerechtigkeit von Aristoteles bis J. Rawls sowie das Ringen um die den Verfassungsstaat der heutigen Entwicklungsstufe angemessene Verfassungstheorie als Grundlagenorientierung und das Konzentrat dessen, was etwa die Gerichte am Fallmaterial erarbeiten, der Anwalt und Notar vorbeugend beratend tut oder der Gesetzgeber an „guten“ Gesetzen leisten soll und kann. Die Literatur zur Reform der deutschen Juristenausbildung27 ist wie die zur Universitätsreform „Legion“. An dieser Stelle ist kein Wort dazu möglich. Genügen muss die Forderung, dass das Reformgespräch sich in den wissenschaftlichen und Praktiker-Zeitschriften (etwa „Der Notar“) ebenso wie in den Ausbildungszeitschriften oder sogar politischen Medien spiegelt28. Auch professorale Selbstkritik ist unverzichtbar29. Im Übrigen gibt es abgesehen von den deutschen Reformstreitereien ein Thema, das heute alle Medien und Foren juristischer Öffentlichkeit erobern muss: das Thema des „europäischen Juristen“ und der „Europäischen Rechtswissenschaft“.

27 Vgl. nur H. Kötz, Zehn Thesen zum Elend der deutschen Juristenausbildung, ZEuP 1996, S. 565 ff.; A. Zeuner, Rechtskultur und Spezialisierung, JZ 1997, S. 480 ff.; W. Hoffmann-Riem / A. Willand, Forum: Neue Perspektiven der Juristenausbildung (Teil I und II), JuS 1997, S. 208 ff. bzw. 497 ff.; H. Hattenhauer, Einheit des Juristenstandes und Einheit der Rechtsordnung, ZRP 1997, S. 234 ff.; K. Redeker, Juristenausbildung: Neue Reformversuche?, NJW 1997, S. 1051 f.; I. von Münch, Flut und Ebbe in der Juristenausbildungsreform, NJW 1997, S. 2576 ff.; ders., Juristenausbildung, NJW 1998, S. 2324 ff.; Bundesminister der Justiz E. Schmidt-Jorzig, Thesen zur Juristenausbildung, ZRP 1998, S. 289 ff.; F. Rainieri, Reform der Juristenausbildung ohne Ende?, JZ 1998, S. 831 ff.; M. Martinek, Das Juristische Manifest, ZRP 1998, S. 201 ff.; R. Böttcher, Die Reform der Juristenausbildung und der Deutsche Juristentag, BayVBl. 1999, S. 97 ff. – Zum „Ladenburger Manifest“ (NJW 1997, S. 2935 ff., Teilabdruck in FAZ vom 19. Sept. 1998, S. 7) etwa auch NJW 1998, S. 2797 ff. 28 Z. B. Rechtsreferendarin K. Odendahl, Examensvorbereitung ohne Repetitor, JuS 1998, S. 572 f.; Rechtsanwalt G. Rittershaus, Forum: Anwaltsorientierte Juristenausbildung, JuS 1998, S. 302 ff.; R. Wassermann, Volljurist ohne Referendariat?, in: Recht und Politik 3 / 1998, S. 144 ff. 29 Z. B. H. P. Bull, „Angstfach“ Verwaltungsrecht: Was wir den Studenten zumuten, JZ 1998, S. 338 ff. – Aufschlußreich aber auch C. Roxin, Betrachtungen über die Vorlesung als unterhaltende Veranstaltung, in: aviso, 1998, S. 18 ff.

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2. Das Leitbild des „europäischen Juristen“ im Kontext „Europäischer Rechtswissenschaft“ Das Privatrecht ist dank seiner unmittelbar römisch-rechtlichen Wurzeln dem Leitbild vom „europäischen Juristen“ seit langem besonders nahe30. Die anderen Rechtsgebiete müssen hier noch kräftig aufholen. Doch finden sich schon positive Entwicklungslinien. Bereits in der Weimarer Zeit gab es in den einzelnen Nationen Staatsrechtslehrer, die „Europäische Rechtswissenschaft“ pflegten. In Italien leistete dies etwa ein C. Mortati, in Frankreich ein M. Hauriou. Heute kann ein spanischer Staatsrechtslehrer und Verfassungsrichter wie P. Cruz Villalón ebenfalls in Anspruch nehmen, „europäischer Jurist“ zu sein (wie einst E. Rabel, M. Rheinstein, A. von Tuhr und F. Wieacker für das Privatrecht und heute C. Roxin und H.-H. Jescheck für das Strafrecht – beide verkörpern zugleich das Ideal des inspirierenden Universitätslehrers). Die Rechts- bzw. Juristenöffentlichkeit Europas, ein Teil der „europäischen Öffentlichkeit“, wird durch den EGMR in Straßburg, durch den EuGH in Luxemburg, aber auch durch nationale, mindestens verdeckt rechtsvergleichend arbeitende (Verfassungs-)Gerichte vorangetrieben, deren Repräsentanten sich untereinander auch zunehmend persönlich austauschen (Beispielhaft sind die Verfassungsgerichte in Rom und Madrid!). Seit Jahrzehnten gibt es ein regelmäßiges Treffen der europäischen Verfassungsrichter an wechselnden Orten, und jüngst wurde ein Zusammenschluss europäischer Verwaltungsrichter geschaffen. Bilaterale Juristenvereinigungen, etwa die deutsch-italienische und ihre Colloquien (zuletzt in Berlin), tragen ebenfalls zum Leitbild des „europäischen Juristen“ bei. Besonders die europäischen Universitäten können (wie schon im Mittelalter) Stätten für europäische Rechtswissenschaft bzw. europäische Öffentlichkeit sein bzw. werden. Hier vermag sich europäisches Geistesleben im Recht (wieder) zu entwickeln. Auf der Studentenebene öffnet das „Erasmus“-, Sokrates- und TempusProgramm Wege zum „europäischen Juristen“. Was charakterisiert ihn? Eben nicht allein die Kenntnis des Europarechts im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates bzw. der OSZE. Der „europäische Jurist“ sollte bei jeder Frage seines nationalen Rechts von vornherein die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zu anderen europäischen Verfassungsstaaten bzw. ihren Rechtsordnungen mitbedenken – auf den „Schultern der Riesen“ seit Aristoteles sowie der römischen Juristen und ihrer Klassikertexte, auch Rechtssprichwörter; selbst Dichterworte, etwa eines Shakespeare (im „Kaufmann von Venedig“) zur Gnade oder eines F. Schiller zum Naturrecht werden relevant. Rechtsvergleichung im Kraftfeld der europäischen Rechtskultur31 wird so zur selbstverständlichen Praxis, z. B. als „fünfte Auslegungsmethode“ seit Savignys Kanon von 184032. Dazu nur P. Koschakoer, Europa und das Römische Recht (1947), 4. Aufl. 1976. Dazu mit Nachweisen P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994 (Suhrkamp-Taschenbuch 1997), bes. S. 9 ff. S. auch R. Schulze (Hrsg.), Europäische Rechts- und Verfassungsgeschichte, 1991. 30 31

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Teil 2: Verfassungsperspektiven für Europa

Was europäische Verfassungsgerichte wie der EGMR und der EuGH in „wertender Rechtsvergleichung“ leisten, sollte langfristig zur normalen Aufgabe jedes Juristen in Europa werden. Gewiss, die Kapazität jedes einzelnen (Professors, Anwaltes, Richters) ist begrenzt. Indes wäre viel errreicht, wenn jeder junge Jurist an der Universität neben der Erarbeitung der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ aller Rechtsbereiche in Europa (z. B. dem „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“)33 noch ein oder zwei nationale Rechtsordungen (samt ihren Sprachen)34 in den Grundzügen lernen könnte. Dabei helfen – neben den Vorlesungen – auch die verschiedenen Literaturgattungen. Sie haben sich, noch stärker als bisher, der fortschreitenden „inneren“ Europäisierung“ des Rechts zu stellen: durch integrierende (eben nicht nur appendixhafte) Einbeziehung der Rechtsordnungen anderer Länder in Europa35. Erst so kann die „Europäisierung Europas“ auf dem Felde des Rechts glücken. Nicht zuletzt die Juristischen Ausbildungszeitschriften haben hier ihre z. T. neuen Aufgaben. 3. Die Aufgaben juristischer Zeitschriften im Allgemeinen und der Ausbildungszeitschriften im Besonderen Rechtswissenschaftliche Zeitschriften36 haben zunächst „Spiegelcharakter“ in bezug auf ihre jeweilige Disziplin37, d. h. sie sollen die Entwicklungen eines Faches zeitlich regelmäßig und zuverlässig darstellen. In Bezug auf den „Längsschnitt“, d. h. die zeitliche Dimension, gibt es freilich Varianten: die Erscheinungshäufigkeit präjudiziert: Eine vierteljährlich erscheinende Zeitschrift wie das AcP oder das AöR hat andere Funktionen und Möglichkeiten als die wöchentlich oder monatlich auf den Markt geworfene Zeitschrift wie die NJW bzw. NVwZ. Sodann haben die juristischen Zeitschriften eine Gestaltungsaufgabe, d. h. sie sollen ihrer32 Zu dieser Forderung: mein Beitrag: Grundrechtsgeltung und Grundrechtsinterpretation, JZ 1989, S. 913 ff.; s. auch H.-M. Pawlowski, Methodenlehre für Juristen, 3. Aufl. 1999, S. 122. 33 Dazu P. Häberle, Gemeineuropäisches Verfassungsrecht, EuGRZ 1991, S. 261 ff.; P.-C. Müller-Graff / E. Riedel (Hrsg.), Gemeineuropäisches Privatrecht; pionierhaft H. Coing, Europäisierung der Rechtswissenschaften in der europäischen Gemeinschaft, 1993, NJW 1990, S. 937 ff. 34 Zum „Recht und der europäischen Sprachenvielfalt“: D. Martiny, Babylon in Brüssel?, ZEuP 1998, S. 227 ff. 35 Zur Rechtsvergleichung etwa: B. Grossfeld, Macht und Ohnmacht der Rechtsvergleichung, 1984; ders., Kernfragen der Rechtsvergleichung, 1996; K. Zweigert / H. Kötz, Einführung in die Rechtsvergleichung, 3. Aufl. 1996; P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992; A. Junker, Rechtsvergleichung als Grundlagenfach, JZ 1994, S. 921 ff. 36 Einführungsliteratur in Buchform sei dabei nicht vergessen: A. Rinken, Einführung in das juristische Studium, 3. Aufl. 1996. 37 Zum Folgenden schon mein Beitrag: Wissenschaftliche Zeitschriften als Aufgabenfelder juristischen Rezensionswesens, Ged.-Schrift für Geck, 1989, S. 277 (287 ff.).

Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa

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seits steuern und als Faktor in den Rechtsbildungsprozess schöpferisch eingreifen. Den Redaktionen fällt hier keine geringe Aufgabe zu: sie müssen kompetente Autoren ab und zu auch für einen Grundlagenaufsatz gewinnen bzw. im ganzen ein mittelfristiges Programm entwerfen, z. B. in Gestalt der Erarbeitung neuer Literaturgattungen und „Sparten“, aber auch der kontinuierlichen Behandlung der wichtigen Fragen. Thematische und personale Vielfalt (Pluralismus) sollte ein Markenzeichen guter Zeitschriften sein. Gewiss, „Richtungszeitschriften“ wie etwa die „Kritische Justiz“ (seit 1968) beleben das Bild. Doch sollten die großen Zeitschriften wie z. B. im Öffentlichen Recht das altehrwürdige AöR und (seit 1961 mit bewusst anderer Programmatik) „Der Staat“ grundsätzlich jedem Autor offen stehen, auch einem wissenschaftlichen Gegner der Herausgeber. „Hausautoren“ mögen bequem sein, der „Verfassung des Pluralismus“ bzw. der Vielfalt der auf einem Rechtsgebiet entworfenen und vertretbaren Konzepte dienen sie nicht. Thematisch wie formell sollten Zeitschriften einem „Labor“ gleichen: nicht nur neue Themen und Autoren müssen eine Chance haben, auch neue Literaturgattungen sollten experimentell erprobt werden können: neben der „Glosse“ oder dem „Forum“ etwa die „Doppelrezension“ oder das schon erwähnte „Interview“ (ggf. auch mit 2 Partnern). Im JöR bemüht sich etwa die neue Rubrik „Staatsrechtslehre in Selbstdarstellungen“ um solche Neuerungen38. Die Ausdifferenzierung in Spezialzeitschriften birgt Chancen und Gefahren. Der Prozess fortschreitender Spezialisierung des Rechts führte z. B. zu neuen Zeitschriften wie der ZUM (Zeitschrift für Urheber- und Medienrecht, seit 1983) oder der EuZW (seit 1989), zuvor der EuR (seit 1966) und jüngst der SpuRT (seit 1993). Die Verlage mögen wirtschaftliche Interessen haben an solchen Spezialisierungen (obwohl die allgemeine Zeitschrifteninflation problematisch ist, führt sie doch dazu, dass es Monographien immer schwerer haben, „wahrgenommen“ zu werden). Freilich besteht die Gefahr einer zunehmenden Abkoppelung von den Grundlagenfragen einer Disziplin39. Umgekehrt brauchen die allgemeinen Fachzeitschriften das „Besondere“ des vielfältigen Rechtsstoffes als Referenzgebiet und Erneuerungspotential für Grundsatzfragen (so wie das Allgemeine Verwaltungsrecht nicht ohne das Besondere leben kann). So ist wohl für eine maßvolle Erweiterung und Vertiefung der allgemeinen juristischen Zeitschrift durch spezielle Blätter zu plädieren, wobei freilich der sog. „Markt“ (zu) viel entscheiden mag und über Reflexionen aus idealistischer Zeitschriften- bzw. Wissenschaftskultur vielfach kalt hinweggeht. Ein besonderes Wort gelte den auf das Europarecht spezialisierten Zeitschriften wie der EuR oder der EuZW.40 (Die ZEuP sei hier aus naheliegenden Gründen Vgl. JöR 32 (1983), S. 31 ff. (W. von Simson); JöR 33 (1984), S. 151 ff. (G. Burdeau). Aus der Lit.: H. Weber, Totgesagte leben länger – oder: Ist die allgemeinjuristische Zeitschrift wirklich am Ende?, NJW 1997, S. 2650 f.; B. Rüthers, 50 Jahre NJW, Zur Verantwortung der juristischen Fachpresse, NJW 1998, S. 28 ff. 38 39

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Teil 2: Verfassungsperspektiven für Europa

ausgeklammert, die EuGRZ mit ihrem thematischen Schwerpunkt schon im Blick auf ihre fruchtbaren Grenzüberschreitungen sowie wegen der Dokumentationen generell gelobt.) „Europa“ kann im gekennzeichneten Sinne gar nicht genug auch von der juristischen Fachpresse behandelt und mitgestaltet werden. Doch darf die Entwicklung spezieller Fachzeitschriften für Europa nicht dazu führen, dass die angedeutete „innere Europäisierung“ der nationalen Rechtsordnungen in den Hintergrund rückt. Europa sollte nicht allein oder primär Gegenstand des „Berufseuropäers“ bzw. zunftmäßigen „Europa-Juristen“ bleiben bzw. werden. M.a.W.: Auch und gerade alle juristischen Fachzeitschriften müssen sich sensibel und offen halten für das Thema Europa mit all seinen Stichworten: „Europäische Rechtswissenschaft“, „Europäischer Jurist“, „Europäische Öffentlichkeit“, „Rechtskultur als Teil der europäischen Rechtskultur“ im gekennzeichneten Sinne41. Es wäre reizvoll, diese These anhand einer Analyse aller juristischen Fachblätter wissenschaftssoziologisch zu überprüfen und zwar über die nationalen Grenzen Deutschlands hinaus. So wäre eine gesamteuropäische Untersuchung hinsichtlich dessen lohnend, was der vorliegende Aufsatz (fragmentarisch genug) nur für die Ausbildungszeitschriften unternimmt. Zuletzt zurück zu den Ausbildungs-, d. h. sich an Jura-Studenten und Rechtsreferendare richtenden Zeitschriften 42. Studienzeitschriften wollen der Ausbildung dienen; das Pädagogische sollte daher im Vordergrund stehen. Dieser Zielsetzung gemäß will ihr Programm gestaltet sein. Die Dialektik von Theorie und Praxis, von Lehren und Lernen, von Wissenschaftlichkeit und Lernstoff, von nationaler und europäischer Rechtskultur – all dies verlangt eigenen Zuschnitt. Im Vordergrund stehen darum Überblickartikel, informative Zusammenfassungen von Literatur und Judikatur zu einem bestimmten Gebiet, die didaktisch geschickte Aufbereitung (freilich ohne Vernachlässigung der Aufgabe, Problembewusstsein zu entwickeln). Ab und zu sollte auch „primäre Forschungsliteratur“ publiziert werden, um dem Studenten ein „Gefühl“ für Neues, Grundsätzliches, Konzeptionelles zu vermitteln und ihn davon abzuhalten, möglichst rasch und „effizient“ zu studieren. (Die neue „Freischussregelung“ erweist sich hier wie auch in Sachen Seminarkultur als kontraproduktiv. Die Forderung nach Praxisnähe und Anwendungsbezogenheit darf auch hier nicht verabsolutiert werden.) Überhaupt ist viel zu tun, um die Neugier der jungen Juristen zu wecken. Dem dienen, wie bereits exemplarisch vorgestellt, Sparten wie das „Interview“, die „Glosse“ und der (in seiner Autorenschaft) zunächst gemeingehaltene Klassikertext oder der zunächst ebenfalls unbekannt bleibende historische Fall43. Schließlich sind informatorische Hinweise auf neue Studi40 Auch auf englischsprachige Zeitschriften sei verwiesen, z. B. European law journal, European law review. 41 Dazu jetzt der Band des Verf.: „Europäische Verfassungslehre“ in Einzelstudien, 1999. 42 Dazu schon mein Beitrag in Ged.-Schrift für Geck, a. a. O., S. 292. 43 Die der Ausbildungsliteratur auch hier notwendig vorausgehende primäre Forschungsliteratur liegt vor: etwa H. Hattenhauer, Europäische Rechtsgeschichte, 3. Aufl. 1999; R. Dubischar, Prozesse, die Geschichte machten, 1997.

Juristische Ausbildungszeitschriften in Europa

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engänge wie den „Bachelor“, den „Master“ oder europäische Graduiertenkollegs und Austauschprogramme für Doktoranden unverzichtbar. Die deutschsprachigen Ausbildungszeitschriften sind auf guten Wegen. Sie sollten sich nur da und dort personell und thematisch noch stärker „europäisieren“, wie dies bereits angedeutet wurde (z. B. Interviews mit „europäischen Juristen“, Überblicke über „fremde“ Rechtsordnungen, große Fälle aus anderen EU- bzw. Europarats-Staaten, Buchrezensionen der Klassikertexte44 anderer Länder). Utopie bleibt wohl eine spezifisch europäische juristische Ausbildungszeitschrift: Wenn schon europäische Tages- bzw. Kulturzeitungen auf Dauer keinen Markt finden, so ist kaum zu hoffen, dass sich ein solches Forum für junge Juristen45 schaffen ließe. Das ist vielleicht auch gut so. Alle Fachzeitschriften aller europäischen Nationen sollten auf ihre Weise am Leitbild des „europäischen Juristen“ in den Medien ihrer nationalen Rechtskultur mitarbeiten – als Beitrag zur „Europäisierung der Juristenausbildung“. So wird der Vielfalt und Einheit der europäischen Rechtskultur vielleicht am besten gedient. Die Gründung eines „Europäischen Juristentages“ wäre ein Signal.

44 Thematisch denkbar glücklich ist der Appell von M. Kilian: „Lesen für Juristen“, JuS 1997, S. 880 ff. mit der Unterscheidung zwischen „juristischer Pflichtlektüre“ und sog. „Neigungslektüre“. Das sich ausweitende Gebiet „Literatur und Recht“ gehört auch hierher. Exemplarisch: P. Schneider, „Ein einig Volk von Brüdern.“ Recht und Staat in der Literatur, 1987 (dazu AöR 115 (1990), S. 83 ff.). H. Müller-Dietz, Grenzüberschreitungen, 1991; K. Lüderssen, Produktive Spiegelungen. Recht und Kriminalität in der Literatur, 1991. 45 Zum Thema „Juristenausbildung und Richterbild in der Europäischen Union“ gleichnamig: F. Ranieri, DRiZ 1998, S. 285 ff. S. auch A. Flessner, Rechtsvereinheitlichung durch Rechtswissenschaft und Juristenausbildung, RabelsZ 56 (1992), S. 243 ff.; H. Kötz, Europäische Juristenausbildung, ZeuP 1993, S. 268 ff.; D. Willoweit / B. Grossfeld, Juristen für Europa, JZ 1990, S. 605 ff.; M. Martinek, Keine Angst vor Europa, JZ 1990, S. 796 ff.

„Die Causa Österreich“ – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Leipzig vom 4. bis 6. Oktober 2000* Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen. Ich habe darum gebeten, meine Wortmeldung ganz am Schluss zu plazieren. Dies liegt dann nahe, wenn man wie ich heute das Glück hat, dass einer der Referenten einmal der eigene Habilitand war. Und ich stimme auch all denen zu, die alle vier Referate gleichermaßen gerühmt haben. In aller Kürze nur drei Fußnoten: Erstens: Große Zustimmung zu Herrn Grabenwarter, weil er von vornherein in der vollen Breite und Tiefe das Verfassungsrecht von Europa im weiteren Sinne einbezogen hat, vor allem die EMRK. Sie ist schon ein Stück europäischer Teilverfassung. Sie wird in der Schweiz im Gegensatz zu Deutschland schon auf Verfassungsstufe praktiziert und gelebt, der EGMR ist ein europäisches Verfassungsgericht. Im übrigen können wir von der „Werkstatt Schweiz“ viel lernen: im Blick auf das, was sich in einem langgezogenen europäischen Verfassungsprozess entwickeln könnte, empfehle ich immer die Feindurchstrukturierung der Volks- und anderen Grundrechte sowie den mehrsprachigen Föderalismus. Übrigens als Nachtrag zu gestern: Tu felix Helvetia! Die nationale Staatsrechtslehre der Schweiz erwies sich, von einigen Randerscheinungen abgesehen, als gegen die Degeneration der Rechts- und Verfassungsidee wie in Deutschland und Österreich gefeit. Ein Nawiasky wurde in St. Gallen 1933 aufgenommen! – Zweitens: Ich bin besonders glücklich, wie in unserer Vereinigung, gerade auch seit dem Vorstand Starck und soeben im Votum Weber, jetzt die vergleichende Dimension im Verfassungsrecht stärker praktiziert wird. Trefflich haben die Referenten Pernice und Huber, selbstverständlich und fast lässig, mit leichter Hand mindestens punktuell die verschiedenen nationalen Staatsrechtslehren in Italien, Irland, Griechenland usw. befragt, auch die vielen nationalen Verfassungsgerichte. Auch sind die unterschiedlichen Verfassungs- und Staatsverständnisse einzubeziehen, etwa das Republikverständnis Frankreichs und der Parlamentarismus Großbritanniens. Wir sollten uns hüten, das europäische Verfassungsrecht primär oder gar ausschließlich von der nationalen deutschen Staatsrechtslehre her zu schreiben. Im übrigen staune ich über die reiche empirische Ausbeute im Referat von Frau Lübbe-Wolff, offenbar lernt man so etwas in Bielefeld, ganz locker, ja flott, topisch argumentierte sie. – Drittens: eine letzte Frage zur Causa Österreich, * VVDStRL 60 (2001), S. 403 ff. Der damalige österreichische Bundespräsident Th. Klestil dankte P. Häberle in einem persönlichen Schreiben dafür, vor dem Forum der Deutschen Staatsrechtslehrertagung so entschlossen für Österreich eingetreten zu sein.

„Die Causa Österreich“

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worauf leider keiner der Referenten einging. Ist diese Frage vielleicht unerlaubt – Herr Frowein, unser Vorsitzender und einer der „Drei Weisen“ von 2000? Ich bin der Meinung, dass die Art und Weise des kollektiven Boykotts der 14 EU-Staaten gegen Österreich ein Verstoß gegen EU-Recht war. Dieses sieht den Mechanismus der Art. 6 bzw. 7 EUV vor. Sie sind nach herkömmlicher Juristenkunst eine abschließende Regelung des Problems, ein anderes Verfahren gibt es im Umkehrschluss noch nicht. Das wurde umgangen. Auch gab es kein faires rechtsstaatliches Verfahren der vorherigen Anhörung Österreichs, das quasi-föderale Gebot der Rücksichtnahme wurde verletzt. Das einzig Positive sehe ich darin, dass die kurzfristig entstandene „Skandalöffentlichkeit“ in Europa die Sensibilität für die europäischen Werte erhöht hat, zu denen freilich auch die demokratische Selbstbestimmung der Mitgliedsländer gehört. Kurz: Das Verhalten der 14 verletzte das europäische Verfassungsrecht in Geist und Buchstaben.

Kritik an der Metapher vom sogenannten „Mehrebenenkonstitutionalismus“ – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Rostock vom 4. bis 7. Oktober 2006* „Aussprache zu Autonomie und Bindung der Rechtsetzung in gestuften Rechtsordnungen“ Es ist schlechthin unzulässig, ja unsittlich, thematische Vorgaben eines so blutjungen Vorstandes wie des unsrigen auch nur entfernt in Zweifel zu ziehen. In der Geschichte unserer Vereinigung geschah dies meines Wissens bislang auch nur ein bis zweimal. Ich wage gleichwohl eine Kritik und fühle mich dadurch ermutigt, dass beide vortreffliche Referenten in verschiedenen Leitsätzen den Begriff des „Verbunds“, „Verbundsföderalismus“ u. ä. in den Vordergrund gerückt haben. Was irritiert mich an der Weisheit des Vorstands? Die Begriffe „gestufte Rechtsordnungen“, „Mehrebenenkonstitutionalismus“ und „Mehrebenenverwaltung“. „Gestufte“ Rechtsordnungen mag es in manchen Bereichen geben, aber, meine Damen und Herren: im Bundesstaat sehe ich keine gestufte Rechtsordnung. Im Bundesstaat ist weder das einzelne Land „unten“, noch der Bund irgendwie „oben“. Nur im schmalen Segment des Art. 31 Grundgesetz gibt es eine Hierarchie: verfassungsmäßiges Bundesrecht „bricht“ Landesrecht. Im Übrigen gilt meine These natürlich erst recht für Bayern. Auch in Baden-Württemberg fühlen wir uns nicht irgendwo „unten“, etwa im Gegensatz zu „Berlin“ bzw. dem Bund als „oberer“ Ebene. Ich bin glücklich, dass und wie die Referenten ihren modifizierten eigenen Weg gegangen sind: Europarecht, besser Europäisches Verfassungsrecht, Völkerrecht und klassisches Staatsrecht auf vielfältige Weite verschränkend zu integrieren, wobei es erneut ein Fortschritt war, ganz selbstverständlich rechtsvergleichend zu arbeiten. Der beliebte Fremdbegriff „Mehrebenenkonstitutionalismus“ ist schlicht falsch, obschon er sich fast durchgesetzt hat. Was heißt „Mehrebenenkonstitutionalismus“? Er insinuiert doch das Denken in Hierarchien. Wir haben aber in Wahrheit gar keine Hierarchien, abgesehen von dem erwähnten Bereich des Art. 31 GG. Wir sehen keine Hierarchien: dort oben das Völkerrecht und hier unten das Verfassungsrecht und „dazwischen“ das Europarecht: Es geht vielmehr um komplementäre Teilordnungen, subtile Gemengelagen und Verzahnungen, Beziehungsgeflechte im Verhältnis einer arbeitsteiligen Gleichordnung. Was aber macht der * VVDStRL 66 (2007), S. 84.

„Mehrebenenkonstitutionalismus“

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Vorstand? Er spricht von „gestuften Rechtsordnungen“ und gibt den Referenten auf, von „Mehrebenenverwaltung“ zu sprechen. Erlauben Sie bitte diese noch höfliche Kritik. Mein Resumé lautet: Was sonst nur gegenüber extravaganten Strafrechtstheorien zu sagen ist, soweit sie den Satz „nulla poena sine lege“ offenkundig verletzen, sage ich jetzt gegen die Metapher von der „gestuften Rechtsordnung“. Das Bild ist falsch! Der tagungsübergreifend fixierte Klammerbegriff „Mehrebenenkonstitutionalismus“ ist meines Erachtens nicht zutreffend. Umso mehr rühme ich die Referenten, weil sie auf ganz sanfte Art die Vorgaben des Vorstands durch den Verbundsbegriff unterlaufen haben. Er könnte übrigens das Motto der Staatsrechtslehrertagung von Rostock 2006 werden, wie dies gestern Abend der hiesige Dekan in seiner Festrede sich abstrakt von uns gewünscht hatte.

Teil 3

Verfassungsdialoge im globalen Kontext

Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten – national-verfassungsstaatlich und regional-europäisch sowie die Frage: „Wer entwickelt das Völkerrecht?“* Einleitung Das Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ wurde 1975 entwickelt und Stück für Stück weiter ausgebaut, z. B. im Blick auf „Verfassungsinterpretation und Verfassunggebung“ (1978). In den nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, nicht zuletzt im Ausland, stieß es auf viel freundliche Aufmerksamkeit, naturgemäß auch auf manche Kritik, und mit Freude sehe ich, dass man sich in Brasilien bis hin zum Verfassungsgericht, nicht zuletzt dank Prof. G. Ferreira Mendes ebenfalls mit diesem „jugendlichen“ Entwurf aus dem Jahre 1978 beschäftigt. Mit großer Dankbarkeit verweise ich auf die von ihm angeregte und durchgeführte Übersetzung und auf Arbeiten etwa von Herrn R. C. Amaral, vor allem aber auf die Einladung durch Prof. Bonavides, Ihrem „Altmeister“, sowie von Herrn Präsidenten Busato. Auch danke ich Professor Sarlet für die vorbildliche Organisation der Reise. Ein wissenschaftlicher Entwurf bedarf auch der „Fortschreibung“, im Alter, d. h. heute, vielleicht sogar der Kritik, jedenfalls bedarf er der Ergänzung, sofern wir mit W. von Humboldt Wissenschaft als „ewige Wahrheitssuche“ begreifen: So ist auch das Konzept der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ nur eine „Teilwahrheit“, wenn überhaupt. Ohne sich selbst „historisieren“ zu wollen, sei doch angedeutet, inwiefern das alte Paradigma heute zu ergänzen ist. Im Kontext des Verständnisses von der Verfassung als öffentlicher Prozess (1969) angesiedelt, fehlt dem Konzept von 1975 noch der kulturwissenschaftlich-vergleichende Ansatz. Ihn wagte ich erst seit 1978 / 1982. Folgende Stichworte lauten: „Kulturelle Grundierung“ des Verfassungsstaates, pluralistisches Kulturkonzept, Textstufenparadigma, d. h. was hier als Verfassungswirklichkeit hier und heute gelebt wird, wird dort in einem anderen Land (oder sogar hier) später auf neue Textstufen gebracht, und schließlich: Rechtsvergleichung als „fünfte“ Auslegungsmethode (1989). Offenheit allein kann einen lebendigen Verfassungsstaat nicht „im Innersten“ zusammenhalten – um Goethe zu variieren. Es bedarf der Vielfalt der Kultur als einigendes Band, der kulturellen Grundierung der offenen Gesellschaft. Überdies wurde im ersten Schritt 1975 die offene Gesellschaft nur nationalstaatlich thematisiert, später wurde sie auf Europa bezogen (in der Europäischen Verfassungs* Originalbeitrag in deutscher Sprache (2005, Porto Alegre, Brasilien).

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Teil 3: Verfassungsdialoge im globalen Kontext

lehre von 2001 / 2002), und erst in diesem Jahre (2005) habe ich das Paradigma von 1975 in das Völkerrecht „projiziert“ – in Gestalt der Frage: Wer entwickelt das Völkerrecht (FS Zuleeg, 2005, S. 80 ff.)? Diesem „Dreischritt“ gemäß sei das Folgende strukturiert: Der Erste Teil gilt der offenen Gesellschaft im nationalen Verfassungsstaat, der Zweite der regionalen Ebene, konkret der europäischen (man könnte sich, wie geschehen, auch fragen, ob im Kontext des Werdens von „gemeinamerikanischem Verfassungsrecht“ (analog des Gemeineuropäischen Verfassungsrechts“, 1991) in Lateinamerika eine offene Gesellschaft heranwächst; vermutlich tun sich junge Länder zunächst schwer, die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zu wagen (Brasilien ermutigt)). Der Dritte Teil bzw. Schritt gilt dem Völkerrecht bzw. einem Ausschnitt aus ihm. I. Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten** (Ein Beitrag zur pluralistischen und „prozessualen“ Verfassungsinterpretation) – National-verfassungsstaatlich

1. Grundthese, Problemstand a) Die bisherige Fragestellung der Theorie der Verfassungsinterpretation Die Theorie der Verfassungsinterpretation stellt sich bisher im Wesentlichen zwei Fragen: – die Frage nach den Aufgaben und Zielen der Verfassungsinterpretation – die Frage nach den Methoden (Verfahren) der Verfassungsinterpretation (Auslegungsregeln)

Vernachlässigt ist das Problem, in welchem systematischen Zusammenhang dazu die (neue) dritte Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation steht, eine Frage, zu der die Praxis provoziert: Eine Bestandsaufnahme ergibt nämlich einen sehr weiten, pluralistischen, oft diffusen Beteiligungskreis; dies ist Grund genug für die Theorie, die Beteiligtenfrage explizit und zentral zu thematisieren, insbesondere in wissenschafts- und demokratietheoretischer Hinsicht. Die Theorie der Verfassungsinterpretation war zu sehr auf die „geschlossene Gesellschaft“ juristischer Verfassungsinterpreten fixiert, und sie verengte den Blickwinkel noch dadurch, dass sie primär auf die verfassungsrichterliche Interpretation und das formalisierte Verfahren schaute. Wenn eine Theorie der Verfassungsinterpretation das Thema „Verfassung und Verfassungswirklichkeit“ ernst nehmen will – man denke hier an die Forderung nach Einbeziehung der Sozialwissenschaften, an die schon bekannten funktionell** JZ 1975, S. 297 – 305.

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rechtlichen Theorien sowie an die neueren Methoden der öffentlichkeits- und gemeinwohlbezogenen Auslegung, – dann muss entschiedener als bisher gefragt werden, wer „Verfassungswirklichkeit“ gestaltet. b) Neue Fragestellung und These In diesem Sinne stellt sich jetzt die Beteiligtenfrage, d. h. die Frage nach den an der Verfassungsinterpretation Beteiligten unter dem Stichwort: von der geschlossenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zur Verfassungsinterpretation durch und für die offene Gesellschaft! These ist: In die Prozesse der Verfassungsinterpretation sind potentiell alle Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen eingeschaltet. Es gibt keinen numerus clausus der Verfassungsinterpreten! Verfassungsinterpretation ist bewusstseinsmäßig, weniger realiter, bislang viel zu sehr Sache einer „geschlossenen Gesellschaft“: der „zunftmäßigen“ juristischen Verfassungsinterpreten und der am Verfassungsprozess formell Beteiligten. Sie ist in Wirklichkeit weit mehr Sache einer offenen Gesellschaft, d. h. aller – insoweit materiell beteiligten – öffentlichen Potenzen, weil Verfassungsinterpretation diese offene Gesellschaft immer von neuem mitkonstituiert und von ihr konstituiert wird. Ihre Kriterien sind so offen, wie die Gesellschaft pluralistisch ist. c) Erläuterung der These, Interpretationsbegriff Einer Erläuterung bedarf der hier zugrunde gelegte Interpretationsbegriff, der sich auf die Formel bringen lässt: wer die Norm „lebt“, interpretiert sie auch (mit). Jede Aktualisierung der Verfassung (durch jeden) ist mindestens ein Stück antizipierter Verfassungsinterpretation. Herkömmlicherweise wird mit „Interpretation“ nur eine Tätigkeit bezeichnet, die bewusst und intentional auf das Verstehen und Auslegen einer Norm (eines Textes) gerichtet ist. Die Verwendung eines so umgrenzten Interpretationsbegriffs ist auch sinnvoll: Die Frage nach der Methode zum Beispiel lässt sich nur dort stellen, wo bewusst interpretiert wird. Für eine realistische Untersuchung des Zustandekommens von Verfassungsinterpretation kann aber ein weiterer Begriff von Interpretation erforderlich sein: Bürger und Gruppen, Staatsorgane und Öffentlichkeit sind „interpretatorische Produktivkräfte“: Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne. Zumindest als „Vorinterpreten“ sind sie tätig; die Verantwortung verbleibt bei der „letztlich“ interpretierenden Verfassungsgerichtsbarkeit (vorbehaltlich der normierenden Kraft von Minderheitsvoten). Wenn man will, handelt es sich um eine Demokratisierung der Verfassungsinterpretation, wie überhaupt die Interpretationstheorie demokratietheoretisch abgesichert werden muss und umgekehrt. Es gibt keine Interpretation der Verfassung ohne die erwähnten Aktivbürger und öffentlichen Potenzen.

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Teil 3: Verfassungsdialoge im globalen Kontext

Jeder, der in und mit dem von der Norm geregelten Sachverhalt lebt, ist indirekt und ggf. auch direkt Norminterpret. Der Adressat der Normen ist am Interpretationsvorgang stärker beteiligt als gemeinhin angenommen wird. Da nicht nur die juristischen Verfassungsinterpreten die Normen leben, sind sie auch nicht die alleinigen, ja nicht einmal die Primärinterpreten. Dabei geht es nicht nur um die „Staatspraxis“ (etwa um die Interpretation der Art. 54 ff. GG durch den Bundespräsidenten oder des Art. 65 GG durch den Bundeskanzler). Bei manchen Grundrechten richtet sich die Interpretation (schon bewusst?) danach, wie die „Normadressaten“ selbst den grundrechtlich geschützten Lebensbereich ausfüllen. So bestimmt das BVerfG den Schutzbereich des Art. 4 Abs. 1 und 2 GG mit Hilfe des Selbstverständnisses der Kirchen, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften. Ähnliche Bedeutung könnte das Selbstverständnis das Künstlers bei der Auslegung der „offenen“ Kunstfreiheitsgarantie (Art. 5 Abs. 3 GG) erlangen; auch bei der pluralistisch und verfahrensorientiert zu sehenden Wissenschaftsfreiheit mit ihrem „offenen“ Wissenschaftsbegriff stellt sich die Frage, inwieweit sie von den einzelnen Wissenschaften (und ihren Metatheorien) selbst notwendigerweise mitinterpretiert werden muss – wie überhaupt die Grundrechte in einem spezifischen Sinne offen auszulegen sind. In einem weiteren Sinne ließen sich hier auch die an der Realität der modernen Parteiendemokratie orientierte Auslegung der Art. 21 und 38 GG, die Lehre von den Berufsbildern, die Durchsetzung eines weiten Begriffs der Presse(-freiheit) bzw. ihrer „öffentlichen Aufgabe“ oder die Interpretation der Koalitionsfreiheit (Art. 9 Abs. 3 GG) anführen, soweit sie das Selbstverständnis der Koalitionen berücksichtigen soll. Diese Relevanz des Selbstverständnisses und des entsprechenden Wirkens von Einzelnen und Gruppen, aber auch von Staatsorganen ist eine herausragende und fruchtbare Form der Verbindung von Verfassungsinterpretation im weiteren und engeren Sinne. Das Selbstverständnis wird zu einem „grundrechtlichen Sachelement“. Auch die realiter mitinterpretierende Rolle der Sachverständigen in Gesetzgebungs- und Gerichtsverfahren gehört hierher. Dieses Zusammenspiel von Interpreten im weiteren und engeren Sinne findet nicht nur dort statt, wo es schon institutionalisiert ist wie bei den Arbeitsrichtern von Arbeitgeber- und Arbeitnehmerseite in den staatlichen Arbeitsgerichten. „Sachkundige“ und „Interessenten“ aus der pluralistischen Gesellschaft werden zu Interpreten staatlichen Rechts. Dieses erweist sich nicht nur im Entstehungsvorgang, sondern auch in der weiteren Entwicklung als pluralistisch: Wissenschafts-, Demokratie- und (Verfassungs-)Interpretationstheorie führen hier zu einer spezifischen Vermittlung von Staat und Gesellschaft!

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2. Die an Verfassungsinterpretation Beteiligten a) Methodische Vorbemerkung Die Untersuchung, wer in diesem Sinne realiter an Verfassungsauslegung beteiligt ist, ist (verfassungs-)soziologischer Ausdruck und Konsequenz des Begriffs „republikanische“, offene Auslegung, die als Ziel aller Verfassungsinterpretation anzusehen ist. Wenn man davon spricht, dass „die Zeit“, „die pluralistische Öffentlichkeit, „die Wirklichkeit“ Verfassungsprobleme stellen und Material für Verfassungsauslegung, ihre Notwendigkeiten und Möglichkeiten entfalten, dann können diese Begriffe nur als vorläufig abstrahierende Chiffren verstanden werden. Eine Verfassungstheorie, die sich (auch) als Erfahrungswissenschaft versteht, muss bereit und prinzipiell im Stande sein, anzugeben, aus welchen konkreten Personen (Gruppen) und Faktoren die Öffentlichkeit besteht, was für eine Wirklichkeit es ist, die in der Zeit auf welche Weise wirkt, welche Möglichkeiten und Notwendigkeiten es gibt. Die Frage nach den an Verfassungsinterpretation Beteiligten ist zunächst in einem rein soziologischen, erfahrungswissenschaftlichen Sinne zu stellen. D. h. man fragt realistisch danach, welche vorfindbare Auslegung auf welche Weise zustande gekommen ist, durch welche Elemente der öffentlichen Meinung, durch welche Beiträge der Wissenschaft die Verfassungsrichter (oder die sonst verbindlich entscheidenden Instanzen) in ihrer Auslegung tatsächlich beeinflusst worden sind. Schon diese Frage ist eine Bereicherung und Ergänzung für eine Verfassungstheorie, die nach Zielen und Methoden (und damit nach der „guten“ Interpretation) fragt; sie hat eine Hilfs-, Informationsfunktion, eine Art „Zubringeraufgabe“. Später werden die Fragen nach Zielen und Methoden sowie nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematischen Zusammenhang zu bringen sein, aus dem sich Konsequenzen und neue Fragestellungen für die „juristische“ Verfassungsauslegung wie für die Verfassungstheorie ergeben.

b) Systematisches Tableau Der Versuch einer systematisierenden Zusammenstellung der an Verfassungsinterpretation Beteiligten ergibt das folgende, vorläufige Tableau: (1) Die staatlichen Funktionen: a) in letztverbindlicher Entscheidung: das Bundesverfassungsgericht (freilich durch das eigene Minderheitsvotum „relativiert“ und eben dadurch „offen“) b) vom GG zu verbindlicher, aber überprüfbarer Entscheidung aufgerufen: die Rechtsprechung, die Legislative, (je nach Sachbereich in unterschiedlichem Maße:) die Exekutive, besonders bei der (Vor-)Formulierung öffentlicher Interessen.

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(2) Die – nicht notwendigerweise staatlichen – Verfahrensbeteiligten an den Entscheidungen zu 1 a) und b), d. h.: a) Antragsteller und Antragsgegner, Beschwerdeführer (z. B. Verfassungsbeschwerde), Kläger und Beklagter, die ihr Vorbringen begründen und das Gericht zur Stellungnahme (zum „Rechtsgespräch“) zwingen b) sonstige Verfahrensbeteiligte, Äußerungs- und Beitrittsberechtigte nach dem BVerfGG (z. B. §§ 77, 85 Abs. 2, 94 Abs. 1 bis 4 bzw. 65, 82 Abs. 2, 83 Abs. 2, 88, 94 Abs. 5), vom BVerfG „zugezogene“ (z. B. § 82 Abs. 4 BVerfGG) c) Gutachter (z. B. in Enquete-Kommissionen, § 73 a GeschOBT) d) Sachverständige und Interessenvertreter in hearings (§ 73 Abs. 3 GeschOBT, § 40 Abs. 3 GeschOBR), Sachverständige im Gericht, Verbände (Anlage 1 a GeschOBT: Registrierung von Verbänden und deren Vertretern), politische Parteien (Fraktionen – sie wirken speziell auch über den „langen Arm“ der Richterwahl ein) e) Lobbyisten, „Deputationen“ (§ 10 GeschOBReg) f) Beteiligte in partizipatorisch ausgestalteten Verwaltungsverfahren. (3) Die demokratische – pluralistische – Öffentlichkeit, der politische Prozess als „großer Anreger“: Medien (Presse, Rundfunk, Fernsehen) – die nicht im engeren Sinne verfahrensbeteiligt sind, professioneller Journalismus einerseits, Lesererwartungen, Leserbriefe andererseits, Bürgerinitiativen, Verbände, politische Parteien außerhalb ihrer organisatorischen Beteiligung (vgl. 2 d), Kirchen, Theater, Verlage, Volkshochschulen, Pädagogen, Elternvereine. (4) (in noch zu klärender Weise zwischen 1., 2., 3. einzuordnen) die Verfassungsrechtslehre; sie hat eine Sonderstellung, weil sie die Beteiligung der anderen Kräfte thematisiert, selbst aber auch auf verschiedenen Ebenen beteiligt ist.

c) Erläuterung des systematischen Tableaus Aus dieser Übersicht wird deutlich: Verfassungsinterpretation ist weder theoretisch noch praktisch ein „exklusiver“ staatlicher Vorgang. Zugang zu ihm haben potentiell alle Kräfte des politischen Gemeinwesens. Der Bürger, der eine Verfassungsbeschwerde erhebt, ist ebenso Verfassungsinterpret wie die politische Partei, die Organklage einreicht oder gegen die ein Parteiverbotsverfahren eingeleitet wird. Bislang herrscht eine zu starke Verengung des Prozesses der Verfassungsinterpretation auf die Staatsorgane oder unmittelbar Verfahrensbeteiligten vor, eine Fixierung auf das „Amt“ der Verfassungsinterpretation, auf das funktionell-rechtliche Zusammenspiel der staatlichen Funktionen, so wichtig dieses ist. Verfassungsinterpretation ist aber ein „Geschäft“, das potentiell jeden und alle angeht. Die genannten Gruppen, Einzelnen usw. können als „mittelbare“ oder langfristig

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wirkende Verfassungsinterpreten bezeichnet werden. Gestaltung der Wirklichkeit der Verfassung wird auch zu einem Stück Interpretation der „zugehörigen“ Verfassungsnormen. Auch in und hinter den Staatsfunktionen (Gesetzgebung, Regierung sowie Verwaltung und Rechtsprechung) sind die konkreten Personen, die Abgeordneten, Verwaltungsbeamten, Richter zu sehen („Personalisierung“ der Verfassungsinterpretation). Die so genannte Verfassungsdebatte des Deutschen Bundestages im Februar 1974 ist eine vorgezogene Verfassungsinterpretation. Abgeordnete werden hier zu Interpreten der Verfassung. Ihre Äußerungen können sich – auch ohne formelle rechtliche Bedeutung zu haben – z. B. bei der umstrittenen Frage der Einstellung von Verfassungsfeinden im öffentlichen Dienst auf die Verwaltungspraxis, auf die Interpretation durch Staatsorgane auswirken. Der vielberufene „politische Prozess“, der meist sub specie Freiheit für ihn gegenüber der Verfassungsinterpretation zitiert wird, ist de constitutione lata und de facto viel stärker ein Stück Verfassungsinterpretation, als gemeinhin angenommen wird („Politik als Verfassungsinterpretation“). Er ist von der Verfassung nicht ausgegrenzt, sondern einer ihrer wesentlichsten Lebens- und Funktionsbereiche, ein Herzstück im wahren Sinne des Wortes: einer Pumpe vergleichbar. Hier kommt es zu Bewegungen, zu Innovationen, zu Änderungen, aber auch zu „Bekräftigungen“, die mehr als nur „objektives Material“ für (spätere) Verfassungsinterpretation bilden; sie sind ein Stück Interpretation der Verfassung, weil in ihrem Rahmen öffentliche Wirklichkeit geschaffen und oft unmerklich verändert wird. Die Gestaltungsfreiheit, die der Gesetzgeber „als“ Verfassungsinterpret hat, unterscheidet sich zwar qualitativ von dem Spielraum, den der Verfassungsrichter bei der Interpretation hat, weil der Spielraum jeweils auf technisch ganz verschiedene Weise begrenzt wird. Das bedeutet aber nicht, dass auch qualitativ ein erheblicher Unterschied bestehen muss. Der politische Prozess ist kein verfassungsfreier Raum; er formuliert Gesichtspunkte vor, er setzt Entwicklungen in Gang, die auch dort verfassungsrelevant sind, wo der verfassungsrichterliche Interpret später sagt, es sei Sache des Gesetzgebers, im Rahmen der verfassungskonformen Alternativen so oder anders zu entscheiden. Der Gesetzgeber schafft ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung, er setzt Akzente für die spätere Entwicklung der Verfassungsprinzipien. Er wirkt als Schrittmacher von Verfassungsinterpretation und „Verfassungswandel“. Er interpretiert die Verfassung – revisibel –, etwa bei der Konkretisierung der Sozialbindung des Eigentums. Seine bloß verfassungskonformen Entscheidungen sind durchaus verfassungsrelevant und stecken weitere Entwicklungen der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung mittel- oder auch langfristig ab. Gelegentlich werden sie zum Verfassungsinhalt. Wesentlicher Faktor und Aktivbeteiligter ist die Verfassungsrechtswissenschaft selbst. Verfassungsgerichtsbarkeit ist ein wesentlicher, wenn auch nicht der alleinige Katalysator der Verfassungsrechtswissenschaft als Verfassungsinterpretation.

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Ihr tatsächlicher (verfassungsinterpretierender) Einfluss wirft die Frage nach ihrer Legitimation dazu auf – eine Frage, die freilich auch für alle anderen an Verfassungsinterpretation beteiligten Kräfte gestellt werden muss und allgemein zur Frage der Bewertung der vorgenommenen Bestandsaufnahme führt.

3. Bewertung der Bestandsaufnahme a) Mögliche Einwände, Kritik Ein Einwand könnte lauten: Verfassungsinterpretation wird in eine Vielzahl von verschiedenen Interpretationen und Interpreten „aufgelöst“, je nachdem, welche Funktion agiert. Gerade eine Verfassungstheorie, die die Herstellung politischer Einheit als Aufgabe sieht und den Grundsatz der Einheit der Verfassung betont, muss sich dieser Kritik stellen, allerdings nicht dort, wo sie „nur“ eine realistische Bestandsaufnahme versucht. Auf die Einwände ist im Rahmen einer differenzierten Bewertung einzugehen, die zunächst nach der Legitimation der verschiedenen Verfassungsinterpreten zu fragen hat. Die Legitimationsfrage stellt sich für alle nicht „formell“, „offiziell“, „kompetenzmäßig“ zu Verfassungsinterpreten „bestellten“ Kräfte. Formelle Kompetenz durch die Verfassung haben ja nur die Organe (Ämter), die an die Verfassung „gebunden“ sind und sie in einem vorgeschriebenen Verfahren „vollziehen“ sollen – Legitimation durch (Verfassungs-)Verfahren – d. h. die Staatsorgane (Art. 20 Abs. 2, 3 GG – Bindung an verfassungsmäßige Ordnung, an Gesetz und Recht). Aber auch die Abgeordneten (Art. 38 Abs. 1 GG) sind an die Verfassung gebunden, soweit sie nicht Verfassungsänderungen anstreben. Gebunden an die Verfassung sind auch politische Parteien, Gruppen, Bürger, wenn auch in unterschiedlichem Maße und unterschiedlich „direkt“, meist nur auf dem Umweg über die – sanktionierende – Staatsgewalt. Hier scheint einem geringeren Maß an Bindung zunächst auch ein geringeres Maß an Legitimation zu entsprechen. b) Legitimation aus Gesichtspunkten der Rechts-, Norm- und Interpretationstheorie Das Korrespondenzverhältnis von Bindung (an die Verfassung) und Legitimation (zur Verfassungsinterpretation) verliert aber an Aussagekraft, je mehr man neuere Erkenntnisse der Interpretationstheorie berücksichtigt: Interpretation ist ein offener Prozess, keine passive Unterwerfung, kein Befehlsempfang. Sie kennt alternative Möglichkeiten. Bindung wird zur Freiheit in dem Maße, wie das neuere Interpretationsverständnis die Subsumtionsideologie widerlegt hat. Die hier vorgenommene Erweiterung des Kreises der Interpreten ist nur die Konsequenz der allseits befürworteten Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsvorgang. Denn die Interpreten im weiteren Sinne konstituieren ein Stück

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dieser pluralistischen Wirklichkeit. Sobald man erkennt, dass die Norm nicht als simpel, fertig vorgegebene ist, stellt sich die Frage nach den an ihrer „Entwicklung“ funktional und personal Beteiligten, den Aktivkräften der „law in public action“ (Personalisierung und Pluralisierung der Verfassungsinterpretation). Jeder Interpret wird ja von der Theorie und der Praxis angeleitet. Diese Praxis aber wird wesentlich gerade nicht nur von den offiziellen, „amtsmäßigen“ Verfassungsinterpreten gestaltet. Die richterliche Bindung nur an das Gesetz und die persönliche und sachliche Unabhängigkeit der Richter können nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Richter in der Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung interpretiert. Es wäre falsch, die Beeinflussungen, Erwartungen, sozialen „Zwänge“, denen Richter ausgesetzt sind, nur unter dem Aspekt der Gefährdung ihrer Unabhängigkeit zu sehen. Diese Beeinflussungen enthalten auch ein Stück Legitimation und verhindern eine Beliebigkeit richterlicher Auslegung. Die Garantie der richterlichen Unabhängigkeit ist nur erträglich, weil andere Staatsfunktionen und die pluralistische Öffentlichkeit Material „zum“ Gesetz liefern. Das ist die gedankliche Herleitung der These, alle seien in den Prozess der Verfassungsinterpretation eingeschaltet. Sogar die nicht selbst unmittelbar von einer Interpretation Betroffenen! So offen Verfassungsinterpretation sachlich und methodisch ist, so offen ist auch der Kreis der an ihr Beteiligten. Denn es geht um die Verfassung als öffentlichen Prozess. Gegenüber dem Einwand, die Einheit der Verfassung gehe verloren, müsste auf den – weiterhin wirkendem – allgemeinen Bestand an Interpretationsregeln verwiesen werden, auf das „Konzert“, das durch das Zusammenspiel vieler Verfassungsinterpreten aus ihrer jeweiligen eigenen Funktion heraus zustande kommt, vor allem auf die Offenheit der Verfassung, an deren „Gewand“ viele „stricken“, nicht nur der Verfassungsjurist! Die „Einheit der Verfassung“ entsteht, wenn überhaupt, so erst aus der „Bündelung“ der Verfahren und Funktionen vieler Verfassungsinterpreten; hier müssen verfassungstheoretische, insbesondere demokratietheoretische Überlegungen eingebracht werden. c) Legitimation aus verfassungstheoretischen Überlegungen Die grundsätzliche verfassungstheoretische Legitimation der mehr oder weniger starken Beteiligung aller pluralistischen Kräfte am „Geschäft“ der Verfassungsinterpretation liegt in der Tatsache, dass diese Kräfte ein Stück Öffentlichkeit und Wirklichkeit der Verfassung selbst sind – nicht als „hingenommene Tatsache“, als factum brutum, sondern im Rahmen der Verfassung: Die mindestens mittelbare Einbeziehung der res publica in die Verfassungsinterpretation insgesamt ist Ausdruck und Konsequenz des hier vertretenen weiten, offenen, in das Spannungsfeld des Möglichen, Wirklichen und Notwendigen gestellten Verfassungsverständnisses. Eine Verfassung, die nicht nur den Staat im engeren Sinne, sondern auch die Öffentlichkeit strukturiert und die Gesellschaft verfasst, die die Bereiche des Pri-

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vaten unmittelbar einbezieht, kann dies nicht nur passiv tun, die gesellschaftlichen und privaten Kräfte als Objekte behandeln. Sie muss diese auch aktiv einbeziehen: als Subjekte. Von der verfassten Wirklichkeit und Öffentlichkeit aus gedacht, in der „Volk“ vielfältig, im Ausgangspunkt diffus, im Endpunkt aber „konzertiert“ wirkt, haben alle tatsächlich relevanten Kräfte theoretische Relevanz für Verfassungsinterpretation. Praxis wird hier zur Legitimierung der Theorie, nicht nur umgekehrt. Da diese Kräfte ein Stück konstitutionelle Wirklichkeit und Öffentlichkeit begründen, haben sie auch teil an der Interpretation der Wirklichkeit und Öffentlichkeit der Verfassung! Selbst dann, wenn sie ausgeschlossen werden: wie die vom BVerfG zu verbietenden und dann etwa verbotenen politischen Parteien. Gerade diese zwingen zur Reflexion über den Verfassungsinhalt und beeinflussen durch ihre Existenz die Entwicklung des Selbstverständnisses des freiheitlich-demokratischen Gemeinwesens. Verfassungsinterpretation auf die „zunftmäßigen“, funktionellrechtlich ausgewiesenen staatlichen Interpreten zu beschränken, hieße Verarmung oder Selbsttäuschung. Zumal ein stärker experimentelles Verständnis der Verfassungsrechtswissenschaft als Norm- und Wirklichkeitswissenschaft kann auf die Phantasie und Schöpferkraft der „nicht-zünftigen“ Interpreten im Prozess der Verfassungsinterpretation nicht verzichten. Verfassung ist in diesem Sinne Spiegel der Öffentlichkeit und Wirklichkeit. Sie ist aber nicht nur Spiegel, sie ist auch Lichtquelle, wenn dieser etwas bildhafte Vergleich erlaubt ist. Sie hat Steuerungsfunktion. Eine spezielle Frage betrifft die Legitimation der Verfassungsrechtswissenschaft. Sie hat eine Katalysatorfunktion und wirkt, weil sie – öffentlich – Verfassungsinterpretation methodisch reflektiert und zugleich die Ausbildung der „amtsmäßigen“ Interpreten gestaltet, in alle Bereiche der Interpretation in besonderem Maße hinein. Wie lässt sich eine etwaige besondere Legitimation begründen? Auf dem Weg über Art. 5 Abs. 3 GG selbst. Verfassung als Gegenstand ist (auch) Sache der Wissenschaft. Der Bereich Wissenschaft muss über Art. 5 Abs. 3 GG als eigenständiger, integrierender Bestandteil des politischen Gemeinwesens angesehen werden. Dabei ist die – relative – Autonomie dieser „Sache“ vom Grundgesetz von vornherein mitgedacht; legitimiert wird sie weniger „von außen“ als durch wissenschaftsinterne und -spezifische Verfahren und Kontrollmechanismen. Es muss aber auch Aufgabe der Wissenschaft sein, ihre Beiträge so zu formulieren und zugänglich zu machen, dass sie für die Öffentlichkeit kritisierbar werden. Eine nicht zu unterschätzende Rolle spielt der Begriff der Lehre in Art. 5 Abs. 3 GG: Er enthält einen Ausbildungsauftrag an die Verfassungswissenschaft, der durch die Treueklausel eigens hervorgehoben wird.

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d) Insbesondere: Demokratietheoretische Überlegungen als Legitimation Im demokratischen Verfassungsstaat ist die Legitimationsfrage noch einmal speziell unter demokratischen (demokratietheoretischen) Gesichtspunkten zu stellen. Eine im herkömmlichen Sinne verstandene demokratische Legitimation zu Verfassungsinterpretation hat die Verfassungsrechtswissenschaft, haben die ihr „zuliefernden“ sog. Wirklichkeitswissenschaften, haben Bürger und Gruppen nicht. Aber Demokratie entfaltet sich eben nicht nur über den formalisierten, kanalisierten, im engeren Sinne verfassten Delegations- und Verantwortungszusammenhang vom Volk zu den Staatsorganen hin (Legitimation durch Wahlen) bis zum letztlich „kompetenten“ Verfassungsinterpreten, dem BVerfG. Sie entfaltet sich in einem offenen Gemeinwesen auch in den „feineren“ mediatisierten Formen des pluralistischen öffentlichen Prozesses täglicher Politik und Praxis, insbesondere in der Grundrechtsverwirklichung, oft angesprochen in der „demokratischen Seite“ der Grundrechte: durch die Kontroversen über die Alternativen, die Möglichkeiten und Notwendigkeiten der Wirklichkeit und auch das wissenschaftliche „Konzert“ über Verfassungsfragen, in dem es kaum „Pausen“ und „Fermaten“ und keine Dirigenten gibt und geben darf. „Volk“ ist eben nicht nur einheitliche, (nur) am Wahltag „emanierende“ Größe, die als solche demokratische Legitimation vermittelt. Volk ist als pluralistische Größe für die Interpretationen im Verfassungsprozess nicht minder präsent und legitimierend: „als“ politische Partei, als wissenschaftliche Meinung, als Interessengruppe, als Bürger; dessen sachliche Kompetenz zu Verfassungsinterpretation ist ein staatsbürgerliches Recht i. S. des Art. 33 Abs. 1 GG! So gesehen sind die Grundrechte ein Stück demokratische Legitimationsbasis für die nicht nur in ihren Ergebnissen, sondern auch in ihrem Beteiligtenkreis offene Verfassungsinterpretation. In der freiheitlichen Demokratie ist der Bürger Verfassungsinterpret! Um so wichtiger werden die Vorkehrungen zur Garantie realer Freiheit: leistungsstaatliche Grundrechtspolitik, Freiheit der Meinungsbildung, Konstitutionalisierung der Gesellschaft z. B. durch gewaltenteilende Strukturierung des öffentlichen, insbesondere wirtschaftlichen Bereichs. Das ist keine „Entthronung“ des Volkes – es ist dies allenfalls von einem Rousseauschen Volkssouveränitätsverständnis aus, in dem das Volk absolut und gottgleich gesetzt wird. Volk als verfasste Größe wirkt „allseitig“, universal, auf vielen Ebenen, aus vielen Anlässen und in vielen Formen, nicht zuletzt über tägliche Grundrechtsverwirklichung. Man vergesse nicht: Volk ist vor allem ein Zusammenschluss von Bürgern. Demokratie ist „Herrschaft der Bürger“, nicht des Volkes im Rousseauschen Sinne. Es gibt kein Zurück zu Rousseau. Die Bürgerdemokratie ist realistischer als die Volks-Demokratie. Bürgerdemokratie liegt nahe von einem Denken, das die Demokratie von den Grundrechten her sieht, nicht von Vorstellungen, in denen das Volk als Souverän eigentlich nur den Platz des Monarchen eingenommen hat. Diese Sicht ist eine

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Konsequenz der Relativierung des – allzu leicht missverstandenen – Volksbegriffs vom Bürger her! Grundrechtliche Freiheit (Pluralismus), nicht „das Volk“ wird zum Bezugspunkt für demokratische Verfassung. Diese captis diminutio des kryptomonarchischen Volksbegriffsdenkens steht im Zeichen der Bürgerfreiheit und des Pluralismus. Es gibt viele Formen von in diesem Sinne weit verstandener demokratischer Legitimation, macht man sich nur von dem linearen und „eruptiven“ Denkstil traditioneller Demokratievorstellungen frei. Es kommt zu einem Stück Bürgerdemokratie durch die interpretatorische Entwicklung der Verfassungsnorm hindurch, Möglichkeit und Wirklichkeit freier Diskussion von Einzelnen und Gruppen „über“ und „unter“ den Verfassungsrechtsnormen und ihr pluralistisches Wirken „in“ ihnen vermittelt sich dem Interpretationsvorgang vielfältig. (Dass dieser freie Prozess realiter auch von innen her immer wieder bedroht ist und dass selbst unsere freiheitlich-demokratische Grundordnung in Wirklichkeit gegenüber dem Idealtypus Defizite aufweise sei ausdrücklich vermerkt.) Demokratietheorie und Interpretationstheorie werden zur Konsequenz von Wissenschaftstheorie. Die Gesellschaft ist in dem Maße frei und offen, wie sich der Kreis der Verfassungsinterpreten im weiteren Sinne öffnet. 4. Konsequenzen für die „juristische“ Verfassungsinterpretation a) Relativierung der juristischen Interpretation – neues Verständnis ihrer Aufgaben Die Überlegungen führen zu einer Relativierung der juristischen Verfassungsinterpretation. Sie ist aus folgenden Gründen geboten: 1. Der Verfassungsrichter interpretiert schon im Verfassungsprozess nicht „allein“: mehrere sind am Verfahren beteiligt, die Verfahrensbeteiligungsformen dehnen sich aus. 2. Im „Vorfeld“ juristischer Verfassungsinterpretation der Richter interpretieren viele, d. h. potentiell alle öffentlichen pluralistischen Kräfte. Insofern relativiert sich der Begriff „am Verfassungsprozess Beteiligte“ in dem Maße, wie sich die Kreise der an der Verfassungsinterpretation Beteiligten erweitern. Die pluralistische Öffentlichkeit entfaltet normierende Kraft. Das Verfassungsgericht hat später entsprechend öffentlichkeitsaktualisierend zu interpretieren. 3. Viele Problemkreise und Bereiche der materiellen Verfassung kommen mangels richterlicher Zuständigkeit und mangels Anrufung des Verfassungsgerichts gar nicht zum Verfassungsrichter. Gleichwohl „lebt“ hier materielle Verfassung: ohne Verfassungsinterpretation durch den Richter. (Man denke an Grundsätze der parlamentarischen Geschäftsordnungen!) Die im weiteren Sinne Beteiligten und Interpretierenden entfalten eigenständig materielles Verfassungsrecht. Das Verfassungsprozessrecht ist nicht der einzige Zugang zu den Verfahren der Verfassungsinterpretation.

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In die Zeit gestellt, geht der Instanzenzug der Verfassungsinterpretation ins Unendliche: Der Verfassungsjurist ist nur ein Zwischenträger. Sein Auslegungsergebnis steht unter dem Vorbehalt der Bewährung, die sich im Einzelfall zur Bewahrung, zur „alternativenreichen Rechtfertigung“ oder zur Änderung durch vernünftige Alternativen konkretisieren kann. Das Verfahren der Verfassungsinterpretation muss weit nach vorn und weit über den konkreten Verfassungsprozess selbst hinaus ausgedehnt werden; der Interpretationsradius der Norm erweitert sich: dank aller „Verfassungsinterpreten einer offenen Gesellschaft“. Sie sind in den Verfahren von „trial and error“ im Rechtsfindungsprozess wesentliche Beteiligte. Gesellschaft wird eben dadurch offen und frei, dass alle potentiell und aktuell zur Verfassungsinterpretation Beiträge leisten (können). Juristische Verfassungsinterpretation vermittelt (nur) die pluralistische Öffentlichkeit und Wirklichkeit, die Notwendigkeiten und Möglichkeiten des Gemeinwesens, die vor, in und hinter den Verfassungstexten stehen. Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes. So diszipliniert und disziplinierend die Verfahren der Verfassungsinterpretation auf dem Weg über „juristische“ Methoden sind – so vielfältig, ja diffus sind die diesem Prozess „vor“-gelagerten Vorgänge: relativ rational scheinen noch die Prozesse der Gesetzgebung, soweit sie Verfassungsinterpretation sind, und das ist häufig der Fall; auch die Verwaltung als „interpretierende“ (Gemeinwohl-)Verwaltung wirkt in recht rationaler Weise, andere Formen der Staatspraxis sind im Auge zu behalten; die Partizipationsvorgänge der pluralistischen Öffentlichkeit sind aber alles andere als diszipliniert, darin liegt ein Stück Gewähr ihrer Offenheit und Spontaneität. Trotzdem behalten die Prinzipien und Methoden der Verfassungsinterpretation ihre Bedeutung, allerdings in einer neu verstandenen Funktion: Sie sind die „Filter“, über die erst die normierende Kraft der Öffentlichkeit wirkt und Gestalt gewinnt. Sie disziplinieren und kanalisieren die vielfältigen Formen der Einwirkung verschiedener Beteiligter.

b) Insbesondere: Ausmaß und Intensität der richterlichen Kontrolle – Differenzierung im Hinblick auf das Maß an Beteiligung Eine Theorie der Verfassungsinterpretation, die die Frage nach den Zielen und Methoden und die Frage nach den Beteiligten der Verfassungsinterpretation in einen systematischen Zusammenhang bringt, muss daraus konkrete Folgerungen für die Methode der Verfassungsauslegung ziehen. Mögliche Konsequenzen sollen hier thesenartig angedeutet werden. Ein Gericht wie das BVerfG, das die Verfassungsinterpretation einer anderen Stelle überprüft, soll verschiedene Methoden anwenden, je nachdem, wer bei der ersten (zu überprüfenden) Interpretation beteiligt war. Dies ist andeutungsweise vom funktionellrechtlichen Denken schon gesehen worden: Bei der Überprüfung von Entscheidungen des demokratischen Gesetzgebers sollen sich die Gerichte

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besonders zurückhalten; Entsprechendes gilt für die Überprüfung von Landesrecht durch das BVerfG. In Weiterführung dieses Ansatzes wäre zu erwägen: Es gibt Gesetze (Hochschulgesetze, Reformen des StGB wie § 218, Ladenschlussgesetze), denen die Öffentlichkeit enormes Interesse entgegenbringt, die ständig in der Diskussion stehen, die unter weitgehender Beteiligung und unter der wachen Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sind. Das BVerfG sollte, wenn es ein solches Gesetz überprüft, berücksichtigen, dass dieses Gesetz besonders legitimiert ist, weil besonders viele am demokratischen Prozess der Verfassungsauslegung beteiligt waren. Bei nicht grundsätzlich umstrittenen Gesetzen würde das bedeuten, dass diese nicht so streng zu überprüfen wären wie solche Gesetze, die weniger in der öffentlichen Diskussion stehen, weil sie scheinbar uninteressant (z. B. technische Zweckmäßigkeitsregelungen) oder schon vergessen sind. Besonderes hat aber für diejenigen Gesetze zu gelten, hinsichtlich derer in der Öffentlichkeit großer Dissens herrscht. Man danke an den den „Verfassungskonsens“ berührenden § 218 StGB, an manche Regelungen der Hochschulgesetze, an die paritätische Mitbestimmung. Hier hat das BVerfG streng zu kontrollieren – und von der Möglichkeit einer einstweiligen Anordnung (§ 32 BVerfGG) großzügigen Gebrauch zu machen (s. noch unter 3.). Denn bei einer tiefen Spaltung innerhalb der öffentlichen Meinung kommt dem BVerfG die Aufgabe zu, darüber zu wachen, dass das unverzichtbare Minimum an integrativer Funktion der Verfassung nicht verspielt wird. Ferner: Das BVerfG sollte die faire Beteiligung verschiedener Gruppen bei den Verfassungsinterpretationen auch insofern überwachen, dass es bei seiner Entscheidung die Nichtbeteiligten (die nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen) interpretatorisch besonders berücksichtigt. Man denke an den Verbraucherschutz, an Umweltschutzprobleme. Hier offenbaren die „öffentlichen Interessen“, nach der Terminologie von Habermas die „verallgemeinerungsfähigen Interessen“, ihren Stellenwert. Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle. Die Intensität verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist variabel, je nachdem welche Partizipationsformen möglich sind oder waren.

c) Konsequenzen für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts Für die Ausgestaltung und Handhabung des Verfassungsprozessrechts ergeben sich Konsequenzen: Die Informationsinstrumente des Verfassungsrichters sind – nicht trotz, sondern wegen (!) der Bindung an das Gesetz – zu erweitern und zu verfeinern, insbesondere die abzustufenden Partizipationsformen und -möglichkeiten am Verfassungsprozess selbst (vor allem „Anhörung“ und „Beteiligung“); neue Formen der Partizipation pluralistischer öffentlicher Potenzen als Verfassungsinter-

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preten im weiteren Sinne müssen entwickelt werden. Verfassungsprozessrecht wird ein Stück demokratischen Partizipationsrechts. Entsprechend elastischer und expandierender kann Verfassungsinterpretation der Verfassungsrichter werden – ohne dass es je zu einer Identität mit jener durch den Gesetzgeber kommen könnte und dürfte. Flexibel muss auch die konkrete Handhabung des Verfassungsprozessrechts durch das BVerfG je nach den anstehenden materiellrechtlichen Fragen und den sachlich Beteiligten (Betroffenen) sein. Der intensive Zusammenhang von materieller Verfassung und Verfassungsprozessrecht zeigt sich auch hier. Freilich bedeutet eine Expansion verfassungsrichterlicher Tätigkeit eine Restriktion des Interpretationsspielraums des Gesetzgebers. Insgesamt ist die optimale gesetzgeberische Ausgestaltung und die interpretatorische Verfeinerung des Verfassungsprozessrechts notwendige Bedingung, ohne die die hier versuchte demokratietheoretische Legitimation der Verfassungsrechtsprechung in der Realität nicht genügend abgesichert ist. 5. Neue Fragestellungen für die Verfassungstheorie a) Unterschiedliche Ziele und Methoden der Auslegung bei verschiedenen Beteiligten? Nicht nur für die Verfassungsrechtsprechung und ihre Methoden, sondern auch für eine Verfassungstheorie, die sich mit diesen beschäftigt, ergeben sich aus der Verknüpfung der Fragen nach Zielen, Methoden und Beteiligten der Verfassungsinterpretation neue Fragestellungen. Es wurde schon auf den möglichen Einwand hingewiesen, dass sich die „Auflösung“ der Verfassungsinterpretation nicht spannungslos in eine Verfassungstheorie einbauen lasse, die die Herstellung von Konsens, von politischer Einheit als Ziel verfassungsrechtlicher Verfahren und als Ziel des politischen Prozesses überhaupt ansieht. Eine solche Verfassungstheorie darf jedoch nicht zu vereinfacht als harmonisierend missverstanden werden. Konsens resultiert auch aus Konflikt und Kompromiss zwischen Beteiligten, die divergierende Meinungen und Interessen eigennützig vertreten. Verfassungsrecht ist nun einmal Konflikt- und Kompromissrecht. Evident ist, dass Antragsteller und Antragsgegner im Verfassungsprozess verschiedene Ziele verfolgen und deshalb auch verschiedene Interpretationsmethoden wählen und ihre Inhalte in solche verschiedene Methoden kleiden werden; Entsprechendes gilt für die Vertreter verschiedener Interessen im Hearing vor Bundestagsausschüssen, für Mehrheitsparteien und Opposition im parlamentarischen Prozess. Insofern zeigen sich Parallelen zwischen Verfassungsprozessrecht und Parlamentsrecht. Hier ergeben sich Rückwirkungen funktionellrechtlicher Interpretationsprinzipien auf die materielle Verfassungsinterpretation. Sie müssen stärker als bisher thematisiert werden, entsprechend den Rückwirkungen von Verfahrensgrundsätzen

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auf die materielle Verfassungsinterpretation. Das materielle – gelebte – Verfassungsrecht entsteht aus einer Vielzahl „richtig“ wahrgenommener Funktionen: denen des Gesetzgebers, Verfassungsrichters, der öffentlichen Meinung, des Bürgers, aber auch der Regierung und der Opposition. Dieses Überdenken der Verfassungsinterpretation von der funktionellen, verfahrensmäßigen Seite her bedeutet: funktionelle Richtigkeit der Verfassungsinterpretation führt zu praktischer Verschiedenheit der Verfassungsinterpretation. Es hängt ja jeweils vom Organ, seinem Verfahren, seiner Funktion, seinen Qualifikationen ab, wie – richtig – interpretiert wird. b) Aufgaben der Verfassungstheorie Ein anderes Problem ist, ob in diesem Zusammenhang überhaupt von einer – wenn auch relativierten – Richtigkeit der Auslegung gesprochen werden kann. Für die Verfassungstheorie stellt sich jetzt die Grundfrage, ob es ihre Aufgabe sein kann, die unterschiedlichen politischen Kräfte und d. h. Beteiligten im weitesten Sinne normativ einzubinden, ihnen die „guten“ Interpretationsmethoden vorzuschlagen. Wie weit soll die Verfassungslehre, die nach ihrem Selbstverständnis bislang Kritiker und Berater, Diskussions- und Konsenspartner der Verfassungsgerichte war, den Kreis ihrer Gesprächspartner ausdehnen? Das könnte dann auch Konsequenzen für die Auslegung des Verfassungsprozessrechts haben. Ohne Zweifel muss die Fixierung auf die Rechtsprechung überwunden werden. Es scheint sich die Meinung Bahn zu brechen, dass Verfassungslehre zumindest ebenso auch Gesetzgebungslehre sein muss, d. h. Gesprächspartner des Gesetzgebers. Die Relevanz der Frage nach verschiedenen Zielen und Methoden verschiedener Beteiligter zeigt sich hier an Beispielen: die preferred-freedoms-doctrine und der Grundsatz des self restraint gelten nur für die Rechtsprechung, gerade nicht für die Gesetzgebung. Insoweit ist das Problem bei Hesse und Ehmke schon angesprochen: Wenn Verfassungsauslegung unter dem Gebot „funktioneller Richtigkeit“ steht, dann muss das auslegende Organ aufgrund seiner speziellen Kompetenzen anders auslegen als ein anderes Organ mit anderen Kompetenzen. Verfassungstheorie als Gesetzgebungslehre sollte die – bislang vernachlässigten – eigenen Besonderheiten der Verfassungsinterpretation durch den Gesetzgeber (und damit auch die hohe Relevanz des Parlamentsrechts) untersuchen. Diese wurde bisher eher „spiegelbildlich“ beobachtet: von der Verfassungsgerichtsbarkeit, d. h. ihren funktionellrechtlichen Grenzen, z. B. mit Hilfe der preferred-freedoms-doctrine, der Vermutung der Verfassungsmäßigkeit des gesetzgeberischen Handelns, der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers in den Grenzen des „Wertsystems“ der Verfassung oder in der Negativformel: kein willkürliches Handeln. Jetzt geht es darum, Verfassungsinterpretation „durch“ den Gesetzgeber aus sich heraus,

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positiv zu umschreiben: aus seinen Verfahren (insbesondere des Parlamentsrechts), seinen Funktionen usw., nicht nur negativ auf dem Umweg über die Frage, bis zu welchen funktionellrechtlichen Grenzen der Verfassungsinterpret (-richter) kontrollieren kann. Es geht um ein positives Kompetenzverständnis für den Gesetzgeber als Verfassungsinterpreten: sei es, dass er im politischen Prozess ständig „vor“formuliert, sei es, dass er auf formalisierte Weise an den Verfassungsgerichtsverfahren selbst teilnimmt (vgl. §§ 77, 82 II, 83 II, 88, 94 IV, V BVerfGG). Die Frage, ob und inwieweit andere Beteiligte, Einzelne und Gruppen, von der Verfassungstheorie „konstitutionalisiert“, normativ eingebunden werden sollen, ist schwieriger und muss differenziert beantwortet werden. Formen und Verfahren der Beteiligung zu konstitutionalisieren, ist spezifische Aufgabe einer (prozessualen) Verfassungstheorie. Für die Inhalte und Methoden kann das nur begrenzt gelten. Grundsätzlich soll der politische Prozess so offen wie möglich sein (bleiben), auch die „abwegige“ Verfassungsinterpretation soll die Chance haben, irgendwann von irgendwem vertreten zu werden. Zwar ist der politische Prozess ein Prozess der Kommunikation aller mit allen, in der gerade auch die Verfassungstheorie versuchen soll, sich Gehör zu schaffen, ihren eigenen Standort zu finden und ihre Funktion als kritische Instanz wahrzunehmen. Aber ein Zuwenig an „academical self restraint“ kann auch zu einem Autoritätsverlust führen. Die hier angedeutete demokratische Verfassungstheorie hat gleichwohl eine besondere Verantwortung für die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten. II. Die Übertragung auf Europa: die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten in Europa (regional-europäisch) 1. Die These Das Bild von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975) lebt vor allem von der provokativen Frage nach den an Verfassungsinterpretation realiter Beteiligten und idealiter zu Beteiligenden. Die herkömmlichen, freilich in ihrem Zusammenspiel offenen Methoden, bisher vier, durch die Integrierung der Rechtsvergleichung als „fünfter“ Methode um das entscheidende komparatistische Moment erweitert, bleiben unangefochten. Man darf im Europa des EuGH und des EGMR auf die Verstärkung des dynamischen, evolutiven, rechtsvergleichenden Auslegungselements hinweisen und als ihr schönstes Ergebnis die Schaffung der „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ hervorheben. Schließlich sei das materielle Prinzip europäischer Verfassungsinterpretation, die Europaoffenheit (auch Menschenrechtsfreundlichkeit) erwähnt. Es gesellt sich zu den übrigen Prinzipien der Verfassungsinterpretation i. S. des klassischen Kanons. Es bedarf jedoch der Zügelung (Balance) durch das Subsidiaritätsprinzip

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und die Achtung der nationalen Identität. Auch sei daran erinnert, dass die nationalen Verfassungsgerichte, die in der Anwendung von EMRK und dem europäischen Verfassungsrecht der EU / EG immer auch „europäische Verfassungsgerichte“ sind (denn sie sind an dieses Recht gebunden), ihrerseits viel Rechtsvergleichung betreiben, auch wenn sie dies oft nur in der geheimen Beratung tun und nicht im Kontext ihrer publizierten Entscheidungen erkennen lassen. Im Übrigen sei im Folgenden das nationalstaatsbezogen gedachte Tableau der an Verfassungsinterpretation Beteiligten aus dem Jahre 1975 jetzt auf Europa übertragen. Es geht hier wieder um die Europäisierung eines ursprünglich nur national entworfenen Prinzips oder Paradigmas. 2. Die Konkretisierung Die an europäischer Verfassungsinterpretation Beteiligten sind: a) Eher formal – die beiden europäischen Verfassungsgerichte, die nationalen Verfassungsgerichte der 25 (heute 27) EU-Mitgliedsländer mit den sich öffnenden und wegen der Beitrittsbedingungen europäisierenden weiteren europäischen Staaten, sowie die nationalen (Verfassungs-)Gerichte der 46 Europarats- bzw. EMRK-Mitgliedsländer, sodann alle Gerichte dieses engeren bzw. weiteren europäischen Raumes; wo wie in Straßburg am EGMR Sondervoten möglich sind, seien diese als potentielle Motoren der Verfassungsinterpretation einbezogen – die europäischen Gesetzgeber in Straßburg bzw. Brüssel (Das spezifische Zusammenwirken von Rat, Kommission und Europäischem Parlament mag dabei dem Prozess „legislativer Verfassungsinterpretation“ eine kommunikative Dynamik verleihen, die so im innerstaatlichen Bereich nicht greifbar ist. Wenn im Kontext der EU eher von einem „institutionellen Gleichgewicht“ denn einem strikten System der Gewaltenteilung gesprochen werden kann, so bleibt das auch auf den Prozess der Verfassungsinterpretation und auf die Vielfalt der an ihr Beteiligten nicht ohne Auswirkung.) – die europäischen und nationalen Exekutiven, einschließlich des Ausschusses der Regionen (Art. 263 bis 265 EGV) – der Bürgerbeauftragte nach Art. 195 EGV.

b) Eher materiell – die Bürger, Verbände und Gruppen (auch die Non-Governmental Organizations) und mittelbar die „europäische Öffentlichkeit“: die Bürger insofern sie z. B. Menschenrechtsbeschwerde beim EGMR einlegen (Art. 34 EMRK) oder zum

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EuGH ziehen, die Gruppen analog, überdies durch ihre „Vorinterpretation“, die sie dank ihres Einflusses in der europäischen Öffentlichkeit ausüben; das gilt auch für die politischen Parteien (vgl. Art. 191 EGV: „europäisches Bewusstsein“, ein Begriff, den auch die europäische Methodenlehre erfassen muss); – sodann die „europäische Öffentlichkeit“ in allen ihren oft diffusen Formen, Medien und Pluralgruppen bis hin zu den Kirchen und Weltanschauungsgemeinschaften. Dieses Tableau sei hier nur stichwortartig umrissen. Der nächste Schritt gilt der „Europäisierung der Rechtsquellen“ bzw. dem Desiderat einer europäischen Methodenlehre.

3. Europäisierung der Rechtsquellen und das Desiderat einer europäischen Methodenlehre a) Die Europäisierung der Rechtsquellen Zu den Themen, die Gegenstand zunehmender „Europäisierung“ sind, gehören, wie gezeigt, die Grundrechte, das Rechtsstaatsprinzip, das Umweltverfassungsrecht etc. Bislang zu wenig bewusst ist die latente und offene „Europäisierung der Rechtsquellen“ – welcher Vorgang mit dem Heranwachsen einer europäischen Methodenlehre parallel geht. Die „Rechtsquellen“, ein Begriff, der an anderer Stelle in Frage gestellt wird, sei hier als nach wie vor gängiger Begriff verwendet (auch wenn das Bild „Quelle“ fehl geht), bilden das klassische Souveränitätspotential des nationalen Verfassungsstaates. Im Europa von heute gibt es jedoch viele Vorgänge, die das „etatistische Rechtsquellenmonopol“ in Frage stellen. Neben dem Völkerrecht und seinen den staatlichen „Souveränitätspanzer“ durchbrechenden Grundsätzen, sind es im EU-Europa vor allem die das nationale Recht überlagernden „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“, besonders die vom EuGH entwickelten Grundrechte. Im EU-Teilverfassungsrecht positiviert, strahlen sie in ihrer normativen Kraft gewiss auch darüber hinaus aus. Sie stellen ein Stück materialer Allgemeinheit (und Öffentlichkeit) Europas dar und sind zusammen mit dem gemeineuropäischen Verfassungsrecht ein Normenensemble, das es rechtfertigt, von „Europäisierung der Rechtsquellen“ zu sprechen. Nimmt man das „europäische Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze) und seine Wirkungskraft in den EU-Mitgliedsstaaten hinzu, so zeigt sich, wie das nationale Rechtsquellenmonopol aufgebrochen ist. Vor allem die EMRK, die in Österreich und der Schweiz mit Verfassungsrang gelingt, ist ein Beispiel für die „innere Europäisierung“ der Rechtsquellen (auch ihre „Pluralisierung“). Das richterliche Innovationspotential der „Allgemeinen Rechtsgrundsätze“ in Europa ist ebenso groß wie die in manchen europäischen Verfassungsstaaten „verinnerlichten“ intensivierten Menschenrechte (Stichwort: Menschenrechtsfreundlichkeit des nationalen Verfassungsrechts: z. B. Art. 10 Abs. 2 Verf. Spanien). Die

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sich an internationale Standards anlehnende Interpretation der nationalen Grundrechte kommt auch Europa als offener Grundrechtsgemeinschaft zugute. Der Modell-Artikel § 10 Verf. Estland sowie Art. 39 Verf. Georgien lassen sich auf die europäische, sicher aber auf die EU-Ebene übertragen. Aus der Menschenwürde fließen inskünftig weitere Grundrechte im europäischen Verfassungsraum. Die hier vorgeschlagene Europäisierung der nationalen Grundrechtsentwicklungsklauseln könnte in der Zukunft zum Vehikel vieler neuer Grundrechtsthemen und -dimensionen werden. Wenn manche osteuropäische Verfassungen einen eigenen Abschnitt zu den (nationalen) Rechtsquellen vorsehen (so Art. 87 bis 94 Verf. Polen), so ist dies eher kritisch zu beurteilen. Es könnte den Eindruck eines „numerus clausus“ der Rechtsquellen erwecken. In Europa aber deutet alles auf einen numerus apertus der Rechtsquellen – ungeschriebene wie geschriebene. Theoretisch bedeutet dies eine Relativierung von Staatsgebiet und Staatshoheit.

b) Das Desiderat einer europäischen Methodenlehre Das Desiderat einer europäischen Methodenlehre ist die „andere Seite“ des beschriebenen Europäisierungsvorgangs; auch die Methodenlehre ist ein Beispielsfall für Europäisierungsvorgänge. Doch sind erst die Anfänge zu erkennen. Während im Privatrecht früh und nie ganz vergessen gemeineuropäisch gearbeitet wurde, bot sich im öffentlichen Recht (wegen der Nationalstaatsideologie) lange ein anderes Bild. Zwar gelten die vier klassischen Auslegungsmethoden Savignys bzw. des Römischen Rechts auch für die Auslegung des europäischen Verfassungs- und Verwaltungsrechts. Doch führt erst die Kanonisierung der rechtsvergleichenden Methode als „fünfter“ konsequent zu einer europäischen Methodenlehre. Die hermeneutischen Probleme von „Vorverständnis und Methodenwahl“, „Grundsatz und Norm“ (J. Esser) wären für das Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates erst noch zu entfalten! – ein großes Arbeitsfeld. Doch sei hier wenigstens festgehalten, dass die unterschiedliche Praxis in der Gewichtung der vier bzw. fünf Auslegungsmethoden in den einzelnen europäischen Staaten bzw. ihren Richter- und Wissenschaftlergemeinschaften ihrerseits verglichen werden müsste, um gemeinsame Standards zu entwickeln. Auch hier hätte die „Europaoffenheit“ als Prinzip der Verfassungsinterpretation ihr Gewicht, auch hier müssen nationale Eigenheiten wie die große Gewichtung von Wortlaut und Geschichte in der Schweiz wegen ihrer Referendumsdemokratie berücksichtigt werden. Sie dürfen nicht „von Europa her“ eingeebnet werden. Die Gewaltenteilung, als funktionellrechtliche Arbeitsteilung zwischen Verfassung(sgesetz)geber und Richter, wird nicht überall gleich zu verstehen sein. Das unterschiedliche nationale Vorverständnis, Teil der „nationalen Identität“, muss bei aller „europäischen Identität“ seinen Platz behalten. Die Kriterien für die Erkenntnis des Ungleichen in Europa sollten bei allen gemeineuropäischen Standards rational überprüfbar werden bzw.

Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten

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bleiben. Ansätze zu einer europäischen Methodenlehre zeigen sich in der Rechtsprechung der europäischen Verfassungsgerichte zu den Grundrechten. So hat der EuGH, angehalten durch die „Solange-I“-Entscheidung des BVerfG, den Grundrechtsschutz auf europäischer Ebene verbessert und hat dabei auf die allgemeinen Rechtsgrundsätze zurückgegriffen. Es wäre denkbar, dass die europarechtliche Argumentationsfigur des „effet utile“ der Methodenlehre ihrerseits Impulse gibt und Element einer europäischen Methodenlehre wird, das seinerseits auf die nationalen Methodenlehren und die Grundsätze der teleologischen Auslegung zurückstrahlt. Insbesondere könnte der „effet utile“ im Rahmen der nationalen Europa-Artikel (z. B. Art. 23 GG) zum verfassungsrechtlichen Argumentationstopos werden. Auch die Chancen und Grenzen des Richterrechts wären ein eigenes Thema für gemeineuropäische Standards. Diese Stichwörter müssen genügen, doch ein Horizont ist wohl erkennbar. Eine eigene Frage wäre, inwiefern das „europäische Gemeinwohl“, die „europäische Öffentlichkeit“ auch das Auslegungsergebnis „beeindrucken“ dürfen (Auslegung vom Ergebnis her). Jedenfalls können sie das offene Zusammenwirken der Auslegungsmethoden mitsteuern, nicht zuletzt über das „Vorverständnis“.

III. Wer entwickelt wie das Völkerrecht? – menschheitsrechtlich Der folgende Teil gelte der Frage, ob und wie sich das Völkerrecht „fortentwickelt“. Dass es sich „entwickelt“, lehrt schon ein flüchtiger Rückblick in die Geschichte des Völkerrechts. Dass es sich heute behutsam fortentwickeln kann, wird auch von aufgeklärten Politikern gefordert (W. Schäuble). Dass die hier verfochtene Konzeption vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“ noch einen weiten Weg vor sich hat und eine Strukturierung in der Zeit und im Raum verlangt, liegt auf der Hand. Hier nur einige Stichworte: Aussagen zum sog. „Wesen des Völkerrechts“ dürfen nicht voreilig die erst noch zu beantwortenden Fragen vorwegnehmen. Immerhin seien aus den bisherigen Konzeptionen bezüglich des Verfassungsrechts einige Stichworte aufzugreifen: etwa der besondere Praxisund Wirklichkeitsbezug („pragmatic approach“), die (zu große) Nähe zur und Abhängigkeit von der Macht der Staaten, die „Unvollkommenheit“ des Völkerrechts, insofern es keine dem Verfassungsstaat entsprechende Durchsetzungsinstanzen hat (Stichwort: Konsenstheorie). Zwei Fragen seien vordringlich behandelt: Wer entwickelt das Verfassungsrecht gerade heute? – die personale Frage; und in welchen Formen geschieht dies? – die formale / materielle Frage.

1. Die Frage nach den Beteiligten Wer ist an den Prozessen der Fortentwicklung des Völkerrechts beteiligt? Im Vordergrund standen die souveränen, meist mächtigen Staaten. Aber heute gibt es noch andere „Subjekte“, die als „Akteure“ gelten dürfen: neben der UN als solcher

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vor allem der Sicherheitsrat, auch die UN-Vollversammlung, die UN-Tribunale, etwa in Den Haag (1993), vor allem inskünftig der neue Internationale Strafgerichtshof. Den NGOs dürfte ebenfalls ein Platz zukommen, vielleicht auch global agierenden Anwaltskanzleien, am Ende sogar dem Bürger als Inhaber von Menschenrechten. Die personale Frage nach dem „Wer“ soll bewusst an das 1975 entworfene Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ erinnern. Dabei kommen auch die Völkerrechtsgelehrten in den Blick, so schon nach dem IGH-Statut (Art. 38 Abs. 1 lit. d). Das Konzept vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“ hat freilich noch einen langen Weg vor sich, um ein Stück normative Wirklichkeit zu sein. Die normierende Kraft der Weltöffentlichkeit, auch der regionalen Öffentlichkeit, sollte dabei nicht gering geschätzt werden. 2. Die Frage nach der Form In welcher Form vollzieht sich die bzw. eine „Fortschreibung“ des Völkerrechts heute? Auch hier eine noch auf eine endgültige Systematik zu bringende Antwort: Neben den klassischen Verträgen (Stichworte: world order Treaties, Überwindung der pacta-tertiis-Regel, den Staaten als „Akteuren“ des Völkervertragsrechts und des Gewohnheitsrechts) kommen vor allem die Internationalen Gerichtshöfe bzw. Richter ins Bild. Sie entwickeln Allgemeine Rechtsgrundsätze, im Ganzen die in der (wohl zu reformierenden) UN organisierte, freilich wohl nur teilrepräsentierte Menschheit. Man sollte nicht nur auf die Akteure der „Praxis“ verweisen, vor allem die nach wie vor übermächtigen souveränen Staaten. Auch kleine Staaten hatten und haben ihre Chance, in juristischen Dokumenten arbeitsteilig an der Fortentwicklung des Völkerrechts mitzuwirken. Wie im innerverfassungsstaatlichen Bereich ist auch auf der völkerrechtlichen Ebene das „Rechtsquellen“-Bild zu revidieren. Es geht nur zum Teil um vorgefundene Rechtsquellen, aus denen „fertig“ Vorhandenes entnommen wird. Die kreative Praxis, die Interpretation ist es, die das Völkerrecht entstehen lässt und fortentwickelt. „Law in public action“ auch hier! Ausblick Der „Dreischritt“ bleibt gewiss fragmentarisch, auch wenn er sich in neue Felder wagt. Ein Forum wie das heutige vor der Richterakademie in Brasilien ist für mich eine große Ehre. Die Richterschaft hat gerade heute in Brasilien eine besondere Verantwortung für den Verfassungsstaat, nicht nur der „hohe Richter“, auch der sog. „kleine“ vor Ort. Richterethos in der mühsamen Kleinarbeit des Alltages und die Beherrschung der bleibenden Kunstregeln der Interpretation sind ein kulturelles Grundelement, auf das jede offene Gesellschaft angewiesen ist.

Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen* Einleitung: Problem, Aktualität Das Thema sucht konstitutionelle Strukturen vielfacher Art auf unserem „blauen Planeten“ Erde zusammenzudenken. Es kann sich nur um einen ersten Versuch, eine grobe Skizze handeln. Die Aktualität liegt angesichts der viel zitierten „Globalisierung“ und „Internationalisierung“ bzw. „Europäisierung“ auf der Hand. Doch beobachten wir auch gegenläufige oder doch korrigierende Entwicklungen: die Wiederbesinnung auf die vor Ort, in der Heimat, im Kleinen, im überschaubaren Lebensraum gewachsene Kultur als Gegengewicht gegen den grenzenlosen „Weltmarkt“ und die allgemeine Ökonomisierung, sodann die verschiedenen Regionalisierungen, etwa in Europa im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates und der OSZE; daneben gibt es anderes: die Renationalisierung auf dem Balkan, die aber in einer Europäisierung mancher dortiger Kleinstaaten aufgefangen werden sollte, die Herausbildung alter und neuer Kleinstaaten; in Afrika sehen wir das leider meist noch „platonisch“ bleibende Ringen um die „Afrikanische Einheit“, in Südamerika beobachten wir die Integrationsbemühungen des „Mercosul“, den Menschenrechtspakt der Andenstaaten (2002) und vielleicht das zum „Gemeineuropäischen Verfassungsrecht“ eines Tages parallele „Gemeinamerikanische Verfassungsrecht“ (Die Freihandelszone der FTAA von 2003 ist freilich zu wenig, die NAFTA vielleicht ein erster Teilansatz von der Wirtschaft her (man denke an Europa, wo die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft erst in Jahrzehnten zur Europäischen Verfassungsgemeinschaft herangewachsen ist), die regelmäßigen iberoamerikanischen Gipfeltreffen der Politiker, zuletzt die „Deklaration von Santa Cruz“, und die der Verfassungsjuristen ermutigen. Gleiches gilt für die Humboldtianer-Treffen aus Europa und Lateinamerika, 2003 in Montevideo). In und für Asien fragte ich schon vor etwa 10 Jahren nach der Möglichkeit von „gemeinasiatischem Verfassungsrecht“, etwa zwischen Südkorea und Japan, und von Spanien aus wurde kürzlich in meinem Jahrbuch des Öffentlichen Rechts nach einem „gemeinislamischen Verfassungsrecht“ (E. Mikunda) gesucht – eine vergleichende Betrachtung der mir kürzlich zur Begutachtung vorgelegten beiden ersten Entwürfe für Somalia (2002) wird einschlägig, wohl auch der Verfassungs* Erschienen in: Charlotte Gaitanides / Stefan Kadelbach / Carlos Rodriguez Iglesias (Hrsg.), Europa und seine Verfassung, Festschrift für Manfred Zuleeg zum siebzigsten Geburtstag, Nomos Verlag, Baden-Baden, 2005, S. 80 ff.

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entwurf für Afghanistan (2003). Kulturdifferenz als Schutz gegen uferlose Entgrenzung und Ökonomisierung ist ein Stichwort unseres Problems; ein Mindestmaß an konstitutionellen Strukturen, die von der Würde des Menschen und der Menschheit ausgehen ein anderes. Der kulturanthropologische Ansatz gehört zum „Vorverständnis“ und zur „Methodenwahl“ dieses Vortrags, die der kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichenden Methode zu verdankende Gewinnung von Identität aus verfassungsrechtlichen Verfahren und Inhalten ebenso. I. Die kulturwissenschaftlich-rechtsvergleichende Konturierung der im Thema genannten Trias: Verfassungsstaat, regionale Staatenverbünde und universales Menschheitsrecht 1. Das nationale Verfassungsrecht, der Typus Verfassungsstaat, Verfassung als „Kultur“ Die erste Säule unserer Trias ist relativ leicht zu skizzieren. Denn dank der in Raum und Zeit vergleichend arbeitenden Verfassungslehre kennen wir die in einem langen Entwicklungsweg gewordene, weltweit ausgreifende und sich weiter formende Struktur des Typus Verfassungsstaat, so offen er nach außen und in die Zeit hinein geworden ist. Der rechtliche Dichtegrad der verfassungsstaatlichen Verfassung ist groß. Es gibt einen gemeinsamen Kanon von Verfahren und Inhalten, etwa die Prozesse der Verfassunggebung und Verfassungsänderung bis hin zum verfassungsgerichtlichen Sondervotum, inhaltlich den Standard der Grundrechtskataloge, der Demokratieformen, des Rechts-, Sozialstaats- und Kulturstaatsprinzips, auch des Umweltschutzes. Gewaltenteilung im horizontalen Sinne Montesquieus und im vertikalen Sinne von Föderalismus und Regionalismus können hinzutreten. Neue Verfahren entstehen: so die „Wahrheitskommissionen“ in Südafrika, San Salvador und Peru, ferner die Popularverfassungsbeschwerde in Kolumbien oder der Ombudsmann Mexikos und Skandinaviens. Altes kann absterben: etwa die geschlossene Staatlichkeit, revidiert wird die „Souveränität“, z. T. auch die Immunität: vor allem im Blick auf die Menschenrechte. Hier ist die Völkerrechtslehre in die Pflicht genommen. Werden nach dem Irak-Krieg und angesichts einer globalen Bedrohung durch den Terrorismus das klassische Gewaltverbot und die Souveränitätsdoktrin auf den Prüfstand gestellt, so kann dieses Wagnis nur bei menschenrechtlicher Rückbindung gelingen. Ein auf den Menschen hin gedachtes, instrumentales Souveränitätsverständis ist zukunftsweisend, nicht die „Souveränität des Stärkeren“. Der Eigenart des Menschen gemäß gibt es „emotionale Konsensquellen“ wie Flaggen, Hymnen, Feiertage, aber auch rationale wie den Rechtsstaat, die Begründungspflicht für richterliche Entscheidungen, die disziplinierende Kraft der Verfahren im Parlament, in der Judikative und in der Exekutive, die „gute Verwaltung“, in Art. 41 der EU-Grundrechtecharta sogar zum subjektiven Recht geronnen. Das sog. Kulturverfassungsrecht, etwa in kulturellen Freiheiten, im Kulturgüterschutz, beim Verhältnis von Staat und Kirche bzw. vorweg der „nominatio /

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invocatio dei“ greifbar, gehört zur „Seele“ eines nationalen Verfassungsstaates, der durch den auch sprachlichen Minderheitsschutz toleranter geworden ist als in seinen „klassischen“ Zeiten. Zu unterscheiden ist zwischen den Verfassungstexten im engeren Sinne der geschriebenen Verfassung und im weiteren Sinne der Klassikertexte eines Aristoteles (z. B. in Sachen Gleichheit bzw. Gerechtigkeit), eines Montesquieu (in Sachen Gewaltenteilung) und eines H. Jonas in Sachen Umweltschutz als in die Zeit und auf die ganze Welt erstreckten Kategorischen Imperativs im Sinne von I. Kant: Handele so, dass die Nachwelt menschenwürdig überlebt! Das Umweltvölkerrecht hat mit dem „sustainable development“ dafür eine treffende Formel gefunden. Die angemessene Methode zur Erarbeitung dieses Verfassungsstaates ist aus meiner Sicht die kulturwissenschaftliche: Einbeziehung der wandelbaren kulturellen Kontexte von Verfassungen, Verfassung als Kultur, Freiheit als kulturelle Freiheit etc. Das offene pluralistische Kulturkonzept gehört hierher (Stichwort: „Hochkultur“, „Volkskultur“, Sub- bzw. Alternativkulturen). Im Übrigen sei daran erinnert, dass der Streit um das sog. „richtige“ Verfassungsverständnis zu entschärfen ist. Je nach Artikelgruppe und Normenensemble ist Verfassung bald „Schranke“ für Macht und „Ermächtigung“ zur Macht, bald „Norm und Aufgabe“, bald „Rahmen und Detail“, bald Sicherung eines freien Lebensprozesses, bald „öffentlicher Prozess“, um auf Konzepte des deutschen Schrifttums anzuspielen. So sei von einem „multifunktionalen Verfassungsverständnis“ gesprochen, ohne dass die Kultur instrumentalisiert werden dürfte. 2. Regionale Staatenverbünde: das Beispiel Europa Der Begriff „Staatenverbund“ stammt vom deutschen BVerfG (Maastricht-Urteil E 89, 155 von 1993), er ist umstritten und aus meiner Sicht durch das Wort „Verfassungsgemeinschaft“ der EU zu ersetzen. Für weniger dichtere regionale Vergemeinschaftungen aber kann das Wort „Staatenverbund“ m. E. gut tauglich sein. Für Europas enge Integration ist es jedoch angemessen, von „Teilverfassungen“ zu sprechen: So ist der Vertrag von Maastricht / Amsterdam / Nizza (1992 / 1997 / 2000) bis hin zur schon als „soft law“ (vor-)wirkenden Europäischen Grundrechtecharta (2000) eine Teil-Verfassung; im Europa im weiteren Sinne bildet die EMRK (1950) eine solche. Wir erleben in der EU den Übergang von Regierungskonferenzen zur „Konventsmethode“, eine qualitative Veränderung (Stichwort: vom Vertrag zur Verfassung), auch wenn der Rückschlag durch das Scheitern des EU-Gipfels am 13. Dezember 2003 schmerzhaft ist. Der Stabilitätspakt auf dem Balkan (seit 1999) gibt Anlass zu Hoffnungen. Für andere Weltregionen, die auf ihren Kontinenten unterschiedlich intensiv um Vergemeinschaftung ringen, hat der Begriff „Staatenverbund“ Aussagekraft: Er meint ein besonders enges Zusammenwirken mehrerer Staaten: innerstaatlich in Sachen Grundrechte, gemeinsamer Umweltschutz und Wirtschaft, organisatorisch

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durch eine gemeinsame Gerichtsbarkeit wie in Gestalt der AMRK bzw. des Gerichtshofs in Costa Rica. Der „Mercosul“ im Süden und die amerikanische Freihandelszone im Norden (NAFTA) gehören hierher. Instrumente sind Klauseln zur grenzüberscheitenden Zusammenarbeit wie in Art. 24 Abs. 1 a GG und vor allem das nationale, auf Vergemeinschaftung gerichtete Verfassungsrecht, z. B. das „nationale Europaverfassungsrecht“ (etwa Art. 23 GG oder Art. 7 Abs. 5 und 6 Verf. Portugal) oder die Klauseln zur lateinamerikanischen Einheit. Hier ist noch viel im Werden. Doch wird erkennbar, wie berechtigt das Wort vom „kooperativen Verfassungsstaat“ (1978) ist. Nimmt man die Möglichkeit und (Teil-)Wirklichkeit vom „Gemeinamerikanischen Verfassungsrecht“ hinzu, so darf der Begriff „regionale Staatenverbünde“ als eigenes neues, vielen Weltregionen gemeinsames „Gewächs“ angesehen werden. Ob der Islam die Kraft zum „gemeinislamischen Verfassungsrecht“ hat, ob er zum Respekt vor der Autonomie des Rechts gegenüber der Religion in der Lage ist, ob er die Menschenrechte aufrichtig garantieren kann, bleibe hier offen. (Der Verfassungsentwurf Afghanistans von 2003 stellt den Islam und die „Werte dieser Verfassung“ immer auf dieselbe Ebene: Art. 3, 35 Ziff. 1.) Zu fragen wäre nach den geistesgeschichtlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Hintergründen für das Entstehen solcher regionaler „Staatenverbünde“: die Vernetzung, das Ringen um ein Gegengewicht gegen etwaige „Weltmächte“, die Globalisierung, die dank der neuen Technologien vernetzte eine Welt. Immerhin darf gesagt werden, dass die AMRK (1969) und die AfrMRK (1981) eine Teilverfassung für die dortigen Regionen sind, wenigstens in nuce. Der Glaube an die Geltungskraft einer geschriebenen (Teil-)Verfassung ist auch hier groß, vermutlich geht sie auf die drei geschriebenen Buchreligionen zurück. Der fast naive „Glaube“ an Verfassungen sollte uns Juristen aber auch Hoffnung geben und Anlass für wissenschaftlichen Optimismus sein: auch trotz der „Schurkenstaaten“ und zahlreichen Diktaturen weltweit; rein zahlenmäßig ist der Verfassungsstaat nur eine Minderheit. 3. Völkerrecht als universales Menschheitsrecht, Entwicklungstendenzen in Momentaufnahme Hier sind nur Stichworte möglich, zu sehr ist das „Völkerrecht“ im Flusse, trotz aller Rückschläge durchaus in einem guten Sinne. Es mag noch keine Verfassungsgemeinschaft, aber sehr wohl eine „Society of communities in formation“ (G. McGhee) sein. Vorweg: Dürfen wir von „Verfassung“ der Völkergemeinschaft sprechen? Mit A. Verdross schon seit 1926 sehr wohl. Auch mit R. Bindschedler, A. Ross oder C. W. Jenks, der von einem „constitutional law of international organisations“ spricht. Die Grundlagen des Völkerrechts bilden heute schon eine Teilverfassung der Menschheit, man denke an die UN-Charta (Präambel von 1945: „Menschheit“; s. auch Präambel der Konvention in Sachen Völkermord von 1948, zuvor Präambel Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948: „Gewissen der Menschheit“) und an die beiden universalen Menschenrechtspakte (1966) so-

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wie den IGH. Neuerdings sind die Konstitutionalisierungsvorgänge im Völkerrecht in folgenden Entwicklungen greifbar: bei dem Seerechtsübereinkommen von 1982, bei der Einrichtung von internationalen ad hoc UN-Strafgerichtshöfen (wie für Ex-Jugoslawien in Den Haag seit 1993, und Ruanda sowie in Sierra Leone (2000)), beim Internationalen Strafgerichtshof nach dem Statut von Rom (1999), bislang von 92 Staaten, leider nicht aber in den USA ratifiziert, sodann bei der Kodifizierung der Tatbestände „Verbrechen gegen die Menschlichkeit“, „Völkermord“, beim Weltrechtsprinzip, beim wachsenden Minderheitenschutz, beim Weltraumrecht, beim internationalen Kulturgüter- und Umweltschutzrecht, bei den NGOs, der WTO oder bei der schrittweisen Anerkennungen einer subjektiven Rechtsstellung des Menschen (z. B. das Übereinkommen gegen Folter von 1984, gegen Rassendiskriminierung von 1966, die Rotkreuzabkommen, die Genfer Flüchtlingskonvention von 1951). Gewiss, das Völkerrecht ist ein „werdendes“, ein „schwaches“, ein „unfertiges“ Recht, es wird oft genug gebrochen. Doch ist dies kein Einwand. Auch und gerade nicht in der Wiederaufbauperiode nach dem Irak-Krieg. Die Völkerrechtsgemeinschaft darf hier nicht der Versuchung unterliegen, bewusst oder unbewusst der Schmitt’schen Formel vom Ausnahmezustand zu einer Renaissance zu verhelfen. Wenn der weltweite „Krieg gegen den Terror“ neue präventive Strategien, eine Neukonzeption des Gewaltverbots, ein instrumental auf den Menschen hin gedachtes Souveränitätskonzept erfordert, dann darf nicht die vermeintliche Legitimation durch einen unbestimmten Ausnahmezustand die Theoriebildung anleiten, sondern allein dank verfassender Strukturen und völkergemeinschaftlich wahrgenommener Verantwortung eröffnet sich ein gangbarer Weg. Eine Präventivschlagdoktrin vom Ausnahmezustand her entwickelt wäre das Ende, Prävention im Rahmen einer menschenrechtlich radizierten Souveränitätslehre ist die Verfassungszukunft der Völkerrechtsgemeinschaft. Vor allem aber ist das Völkerrecht nicht mehr einfach das Recht der Staaten bzw. Völker („Zwischensouveränitätsrecht“). Es ist „Menschheitsrecht“, das alle Menschen friedlich zusammenführend Schutz verleiht, in ihnen bzw. den Menschenrechten den letzten Zurechnungspunkt hat. Es gibt eine „Einheit des Menschengeschlechtes“ – bei aller Differenz. Auch im Begriff „humanitäres Völkerrecht“ und „Weltkulturerbe“ klingt dies an. Das Völkerrecht ist, wie der Staat, „um des Menschen willen“ da. Die oft nur punktuelle, „launische“, aber durchaus vorhandene „Weltöffentlichkeit“ leistet ihren Beitrag zur normativen Kraft aller Grundsätze des sog. „Völkerrechts“, bei allen Irrtümern. So kann das „Menschheitsrecht“ durchaus schon als dritte Einheit in der Trias meines Beitrages gewertet werden: in der Intensität der Normen weniger dicht, in der Effektivität oft anfällig und schwächer als das nationale Verfassungsrecht und das regionale Staatenverbundsrecht, aber tendenziell doch normativ und effektiv. Freilich darf die „Entdeckerfreude“ in Sachen der hier propagierten Trias nicht zu vorschnell sein. Im Folgenden ist kritisch nach den „Konvergenzen“, aber auch nach den „Divergenzen“ der drei Strukturen bzw. Felder unserer Trias zu fragen.

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II. Gemeinsamkeiten und Unterschiede, Konvergenzen und Divergenzen Der Zweite Teil gilt den Gemeinsamkeiten und Unterschieden zwischen den drei (wenn man will) „Systemen“ bzw. Rechtsstrukturen auf nationaler, regionaler und universaler Ebene. Es geht um ihr Verhältnis untereinander, ohne dass man anmaßend einen „Überbau“, „Ebenen“ oder ein „Dach“ konstruieren könnte. Hierzu bedürfte es einer „neuen Schule von Salamanca“, eines „neuen (auch „grünen“) Kant“ und eines Goethe von heute. Wir sollten uns als Zwerge fühlen, können aber da und dort, weil „auf den Schultern von Riesen“ stehend, doch ein wenig weitersehen als diese Riesen. Gerade der Verfassungsstaat lebt in seiner Entwicklungsgeschichte immer neu von revitalisierten Klassikern, von alten als „juristischer Weltliteratur“, z. B. Kants „Ewigen Frieden“ (1795), von neuen, die auch aus den Reihen von Dichtern kommen können: man denke an Dicta von B. Brecht: „Alle Staatsgewalt geht vom Volk aus, aber wo geht sie hin?“, man denke an die Federalist Papers der werdenden USA (1787), mit denen sich manche EU-Konventsmitglieder des Jahres 2003 zu unrecht so gerne vergleichen! Im Ganzen ist der Verfassungsstaat nicht nur mit den „regionalen Staatenverbünden“ in Beziehung zu setzen, er ist auf Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch im Verhältnis zum Völkerrecht als Menschheitsrecht hin zu befragen. Entsprechendes gilt für die Relation Staatenverbund / Völkergemeinschaft und umgekehrt. Stichworte wie allgemeiner, internationaler Menschenrechtsschutz, „humanitäre Intervention“, unabhängige nationale, regionale und universale Gerichtsbarkeiten mögen die Verstrebungen andeuten. Im Einzelnen:

1. Gemeinsamkeiten, Konvergenzen a) Die Expandierung des Verfassungsbegriffs: die Befreiung von der Fixierung auf den Staat Der Verfassungsbegriff hat sich heute längst von seiner traditionellen Staatsfixiertheit gelöst. In Europa ist für die EU von „Verfassung“ die Rede (vom BVerfG bis zum Luxemburger EuGH); es gibt hier wie national nur so viel Staat, wie die Verfassung konstituiert. Man mag streiten, ob die EU schon eine „Vorform“ des Bundesstaates ist, sie beruht jedenfalls auf einem Ensemble von Teilverfassungen, wenn auch noch in der formalen Gestalt von paktierten „Verfassungsverträgen“. M.a.W.: Der Verfassungsbegriff taugt auch für nichtstaatliche Gebilde. Bei den „kleinen Brüdern“ der EU, etwa dem Mercosol oder anderen lateinamerikanischen bzw. gesamtamerikanischen Zusammenschlüssen (jetzt der sog. „Alca“), mag man noch Mühe haben, den Konstitutionalisierungsprozess in den Verfahren und Inhalten genau zu präzisieren, doch sind Verfassungselemente durchaus erkennbar: etwa in Sachen Menschenrechte bzw. Rechtsstaat. Der Klassikertext zum Völkerrecht stammt von Verdross (1926): „Die Verfassung der Völker-

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gemeinschaft“. Die UN-Charta (1945), die beiden Menschenrechtspakte (1966) bilden weitere Teilverfassungen. Kurz: Der Verfassungsbegriff ist eine Gemeinsamkeit aller drei Gebilde der hier postulierten „Trias“. Vor allem lassen sich die schon erwähnten einzelnen Funktionen der Verfassung auch auf das Völkerrecht als Menschheitsrecht projizieren: Das Moment der Beschränkung etwa findet sich im Gewaltverbot der UN-Charta, die Orientierungsfunktion in Gestalt der Ziele und Grundwerte, z. B. der EU, der AMRK oder der OAU; der öffentliche Prozesscharakter findet sich in Form von Öffentlichkeitsgeboten für die parlamentarischen Versammlungen bzw. die UN-Vollversammlung. Der den nationalen Verfassungen eigene Charakter von „Norm und Aufgabe“ (U. Scheuner) lässt sich ebenso auf die Staatenverbünde und – schwächer – auf die Prinzipien des Völkerrechts übertragen, etwa ihre „allgemeinen Rechtsgrundsätze“ i.S. des IGH-Status, eine Figur, die bekanntlich der EuGH auf die Verfassungsgemeinschaft der EU, damals der „EWG“, übertragen hat. Ein Stück „Ermächtigung zur Macht“ liegt in der Etablierung von bestimmten Verfassungs- oder Staatsorganen auf allen drei Ebenen – auch dies eine Gemeinsamkeit. Was hier als „Gemeinsamkeit“ bezeichnet wird, ist oft eine „Konvergenz“, erst eine werdende Gemeinsamkeit. Die Konstitutionalisierungsprozesse auf regionaler und universaler Ebene zeichnen sich heute durch eine große Dynamik aus. Was heute erst eine Tendenz zur „Konvergenz“ ist, kann morgen schon zur Gemeinsamkeit werden: man denke an den Umwelt- und Kulturgüterschutz, an das Vordringen internationaler Gerichtsbarkeit. Der Staat ist nicht mehr der archimedische Punkt des Denkens über Verfassungen, weder auf nationaler / regionaler Ebene noch universal. Schon W. v. Simson sprach von „überstaatlicher Bedingtheit des Staates“. Umgekehrt ist freilich auch von „verfassungsstaatlicher Bedingtheit“ des Völkerrechts als Menschheitsrecht zu sprechen. Gerade das so konzipierte Völkerrecht mit seinen Basisnormen oder Menschenrechten bedarf durchsetzungsfähiger Instanzen: des Verfassungsstaates.

b) Differenzierte „Öffentlichkeiten“: national, regional universal – die Weltöffentlichkeit Eine zweite Gemeinsamkeit sei durch das Stichwort der „Öffentlichkeit“ charakterisiert. Die Öffentlichkeit wurde innerverfassungsstaatlich durch R. Smend (1955) wiederentdeckt, es folgte das Grundlagenwerk von J. Habermas über den „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962), bis 1969 der Zusammenhang „Öffentlichkeit und Verfassung“ hergestellt wurde. Ausdrückliche Verfassungstexte liefern Belege, so wie Spaniens Verfassung von „öffentlichen Freiheiten“ spricht. Die kulturgeschichtlichen Zusammenhänge sind älter: Das Ciceronische „res publica – res populi“ zeigt dies, der alteuropäische Zusammenhang von öffentlichem Wohl, Öffentlichkeit, öffentliche Freiheit und Verfassung wird heute wiederbelebt; auch für die europäische Ebene: Öffentlichkeitspostulate ergeben sich aus den Normen des EU-Verfassungsrechts (z. B. Öffentlichkeit des Parlaments, der Berichte des Rechnungshofes etc.). Meine These lautet: Es gibt schon eine europäische Öffent-

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lichkeit, vor allem aus Kunst und Kultur, zunehmend aber auch aus Politik und dem europäischen Verfassungsrecht. Kann dies nicht auch für Lateinamerika gesagt, gewagt werden? Die Integrierung der Indios bzw. der Schutz ihrer Identität wird ebenso wie der Umweltschutz als gemeinlateinamerikanische Frage greifbar: von Kolumbien und Peru bis Mexiko und Feuerland. Schließlich gibt es schon mindestens punktuell eine „Weltöffentlichkeit“ (Art. 46 IGH-Statut von 1945 rechnet mit ihr ebenso wie Sitzungen der Generalversammlung der UN). Sie ist gewiss meist nur punktuell, „launisch“ wie die öffentliche Meinung, in der nach einem Wort von Hegel alles „Wahre und Falsche“ zugleich liegt, aber sie ist vorhanden: Man denke an die durch das Pro und Contra in Sachen Irak-Krieg 2003 hergestellte kritische Öffentlichkeit, an Themen- und Tätigkeitsfelder der UNESCO und Ähnliches. Mag die Öffentlichkeit in ihrer normierenden, auch gerechtigkeitsstiftenden Kraft vom nationalen Verfassungsstaat über die regionalen Verbünde bis zur Welt hin schwächer werden: sie bleibt eine Gemeinsamkeit unserer Trias, mit sich verstärkender Konvergenz: Öffentlichkeit und Verfassung werden zum „Generalbass“ auf den drei Ebenen. c) Einzelne Verfassungselemente Im Folgenden seien stichwortartig weitere Gemeinsamkeiten bzw. „Konvergenzen“ der drei konstitutionellen Rechtsgebilde aufgelistet. Es geht um einige typische Verfassungselemente: a) Die Grund- und Menschenrechte. Sie bilden eine wechselseitig besonders dynamische Gemeinsamkeit auf allen drei Ebenen. Die Allgemeine Menschenrechtserklärung (1948) und die UN-Menschenrechtspakte liefern neuen Verfassungen viele Stichworte, etwa in Osteuropa. Umgekehrt speisen sich die internationalen und regionalen Menschenrechte aus nationalen Katalogen. Beispiele sind Legion. In Sachen Menschenrechte gleicht die Welt einer großen „Werkstatt“ mit intensiven Prozessen der Rezeption und Produktion: in Bezug auf die Trias von Texten, Rechtsprechung und Wissenschaft. b) Das Gemeinwohl ist ein bislang typisch verfassungsstaatliches Element: von den konstitutionellen Grundwerten her inhaltlich und von bestimmten Verfahren her zu „finden“ („salus publica ex processu“). Neuerdings wächst in Europa das Bewusstsein für das „europäische Gemeinwohl“: sowohl in der Judikatur des EuGH und des EGMR als auch in der Wissenschaft. In den neuen Verfassungstexten bzw. Entwürfen in Sachen EU-Verfassung kommt das Gemeinwohl ebenfalls vor, etwa als Auftrag für die Kommission. Man darf die Frage stellen, ob auch andere „Staatenverbünde“ schon für die Gemeinwohlfrage sensibel geworden sind; mir scheint, dass es in der südamerikanischen Wertegemeinschaft durchaus Gemeinwohlaspekte gibt. Auf der Ebene des Völkerrechts mag es noch schwieriger sein, von „Gemeinwohl“ zu sprechen. Indes sprach schon F. Suárez von einem „bonum commune generis humani“, wagt die Präambel der UN-Charta eine „com-

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mon-interest-Formel“. Die Friendly-Relations-Declaration (1971) formuliert gar: „The general welfare of nations“. Auch gehört das gemeinsame Natur- und Kulturerbe gewiss hierher, auch Aspekte des See- und Weltraumrechts, vor allem der „Weltfrieden“ (Art. 2 Ziff. 3, 6, Art. 24, 33, 39, 42, 52 Abs. 1 UN-Charta). Die einzelnen Gemeinwohlelemente können hier nicht aufgelistet werden, indes sei die Funktion, begrenzende Titel für Menschenrechte zu sein (vgl. Art. 12 Abs. 3, 19 Abs. 3, 21 S. 2 bzw. Art. 4 der beiden Menschenrechtspakte von 1966), wenigstens genannt. Das Gemeinwohl gehört zur konstitutionellen Programmatik des Völkerrechts, schon heute zu seiner „Grammatik“. c) Gerechtigkeitspostulate, oft sich mit Gemeinwohlkomponenten verbindend, seien mehr als ein bloßer „Merkposten“. Innerverfassungsstatlich hat der neue Klassiker J. Rawls die Frage der Gerechtigkeit erneut auf die Tagesordnung gesetzt (z. B. mit seinem „Schleier des Nichtwissens“). Die klassischen Gerechtigkeitstheorien seit Aristoteles und Cicero sind wieder präsent. Die austeilende und ausgleichende Gerechtigkeit wurden durch den „due process“ fortgeschrieben; heute kommt die Frage nach der „Generationengerechtigkeit“ in Zeit und Raum hinzu: ein gedachter universaler Gesellschaftsvertrag, auch im Blick auf die „Produktionsfaktoren“ Arbeit, Kapital, Umwelt und Technik. Im Staatenverbund der EU gibt es gewisse Gerechtigkeitselemente: dem Text nach und prätorisch, gemeinsam etwa im „europäischen Rechtsstaat“ greifbar, auch im sich verstärkenden Minderheitsschutz, im Ungarischen das gute Stichwort: Minderheitenschutz als „staatsbildende Faktoren“. Wie steht es aber um „Gerechtigkeit für die Welt“? Ist sie schon „Brot für die Welt“? Eine Utopie – mehr oder weniger? Die Menschenrechtsaspekte sind gewiss konkrete Direktiven der universalen Gerechtigkeit, es gibt noch andere: etwa in Sachen humanitäre Intervention, Mandatsgebiete der UN wie im Kosovo, kaum jedoch ein präventiver Angriffskrieg (nach US-amerikanischer Art); schmerzlich bleibt die Rechtsstaatslücke in Guantánomo. Gerechtigkeit und Krieg widerspechen einander. Den „bellum justum“, den gerechten Krieg, kann es nicht geben, nur den „gerechtfertigten“ Krieg. d) Am Schluss dieses Abschnitts zur Sache nach Gemeinsamkeiten bzw. „Konvergenzen“ unserer drei „Kandidaten“ sei als Merkposten erwähnt: die Frage nach parallelen Auslegungsmethoden: etwa nach den vier klassischen von Savigny (1840) die „fünfte“, die rechtsvergleichende (1989), jetzt vom Verfassungsgericht Liechtenstein übernommen; dabei dürfte im Völkerrecht die wirklichkeitsbezogene, an der Praxis spezifisch orientierte im Vordergrund stehen. Und: Wer schreibt das Völkerrecht fort, wer entwickelt es weiter? Wohl eine „offene Gesellschaft der Völkerrechtsinterpreten“ und -gestalter (dazu der Inkurs). Formale Strukturanalogien seien wenigstens schlagwortartig genannt: die Rechtsfigur der Präambel, kulturwissenschaftlich Prologen, Ouvertüren und Präludien vergleichgar, ist eine „Form“, die national, regional und universal vorkommt. Im Völkerrecht, etwa beim Menschenrechtsschutz (M. Kotzur), ist sie besonders ergiebig: Gerade weil das Völkerrecht nicht so durchnormiert ist, greift es wohl

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gerne auf die offenere, weniger dichte Form der Präambel zurück. Parallelen gibt es bei den Vorsprüchen zu Teilverfassungen von Staatenverbünden (etwa in der OAS oder der EU): besonders erwähnt sei die EU-Grundrechtecharta von Nizza (2000). Das „Menschheitsrecht“ des Völkerrechts hat seinen geheimen Präambelverfasser wohl in I. Kant, auch in Goethe. e) Die Entwicklung bzw. Ausbildung von „gemeinsamen Verfassungsrecht“ sei zuletzt thematisiert: auf der nationalen Ebene, etwa in Deutschland und der Schweiz, gibt es in Bundesstaaten „gemeines Verfassungsrecht“: auf der regionalen, vor allem europäischen Ebene wurde das „gemeineuropäische Verfassungsrecht“ 1983 entdeckt und 1991 weiterentwickelt. Man darf vermuten, dass es die Kategorie des „gemeinen Rechts“ auch auf der universalen Ebene gibt, mindestens Vorformen, werdende Prinzipien im Umweltschutz, bei der Konstitutionalisierung der NGOs. Oder ist das „gemeine Recht“ als Kategorie auf der universalen Ebene überflüssig, weil das Völkerrecht als universales „Menschheitsrecht“ begriffen von vorneherein „allgemein“ im Sinne von „gemein“ ist? Jedenfalls ist die „Erziehung des Menschengeschlechts zu Gerechtigkeit, Freiheit und Friedensliebe für die Würde des Menschen unerlässlich“ (Präambel UNESCO-Satzung von 1945). Inkurs: Wer entwickelt wie das Völkerrecht? Der folgende „Inkurs“ gelte der Frage, ob und wie sich das Völkerrecht „fortentwickelt“. Dass es sich „entwickelt“, lehrt schon ein flüchtiger Rückblick in die Geschichte des Völkerrechts. Dass es sich heute behutsam fortentwickeln kann, wird auch von aufgeklärten Politikern gefordert (W. Schäuble). Dass die hier verfochtene Konzeption vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“ noch einen weiten Weg vor sich hat und eine Strukturierung in der Zeit und im Raum verlangt, liegt auf der Hand. Hier nur einige Stichworte: Aussagen zum sog. „Wesen des Völkerrechts“ dürfen nicht voreilig die erst noch zu beantwortenden Fragen vorwegnehmen. Immerhin seien aus den bisherigen Konzeptionen bezüglich des Verfassungsrechts einige Stichworte aufzugreifen: etwa der besondere Praxisund Wirklichkeitsbezug („pragmatic approach“), die (zu große) Nähe zur und Abhängigkeit von der Macht der Staaten, die „Unvollkommenheit“ des Völkerrechts, insofern es keine den Verfassungsstaat entsprechende Durchsetzungsinstanzen hat (Stichwort: Konsenstheorie). Zwei Fragen seien vordringlich behandelt: Wer entwickelt das Völkerrecht gerade heute? – die personale Frage; und in welchen Formen geschieht dies? – die formale / materielle Frage. Wer ist an den Prozessen der Fortentwicklung des Völkerrechts beteiligt? Im Vordergrund standen die souveränen, meist mächtigen Staaten. Aber heute gibt es noch andere „Subjekte“, die als „Akteure“ gelten dürfen: neben der UN als solcher vor allem der Sicherheitsrat, auch die UN-Vollversammlung, die UN-Tribunale, etwa in Den Haag (1993), vor allem inskünftig der neue Internationale Strafgerichtshof. Den NGOs dürfte ebenfalls ein Platz zukommen, vielleicht auch glo-

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bal agierenden Anwaltskanzleien, am Ende sogar dem Bürger als Inhaber von Menschenrechten. Die personale Frage nach dem „Wer“ soll bewusst an das 1975 entworfene Paradigma von der „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ erinnern. Dabei kommen auch die Völkerrechtsgelehrten in den Blick, so schon nach dem IGH-Statut (Art. 38 Abs. 1lit. d). Das Konzept vom Völkerrecht als universalem „Menschheitsrecht“ hat freilich noch einen langen Weg vor sich, um ein Stück normative Wirklichkeit zu sein. Die normierende Kraft der Weltöffentlichkeit, auch der regionalen Öffentlichkeit, sollte dabei nicht gering geschätzt werden. In welcher Form vollzieht sich die bzw. eine „Fortschreibung“ des Völkerrechts heute? Auch hier eine noch auf eine endgültige Systematik zu bringende Antwort: Neben den klassischen Verträgen (Stichworte: world order Treaties, Überwindung der pacta-tertiis-Regel), den Staaten als „Akteuren“ des Völkervertragsrechts und des Gewohnheitsrechts kommen vor allem die Internationalen Gerichtshöfe bzw. Richter ins Bild. Sie entwickeln Allgemeine Rechtsgrundsätze, im Ganzen die in der (wohl zu reformierenden) UN organisierte, freilich wohl nur teilrepräsentierte Menschheit. Man sollte nicht nur auf die Akteure der „Praxis“ verweisen, vor allem die nach wie vor übermächtigen souveränen Staaten. Auch kleine Staaten hatten und haben ihre Chance, in juristischen Dokumenten arbeitsteilig an der Fortentwicklung des Völkerrechts mitzuwirken. Wie im innerverfassungsstaatlichen Bereich ist auch auf der völkerrechtlichen Ebene das „Rechtsquellen“-Bild zu revidieren. Es geht nur zum Teil um vorgefundene Rechtsquellen, aus denen „fertig“ Vorhandenes entnommen wird. Die kreative Praxis, die Interpretation ist es, die das Völkerrecht entstehen lässt und fortentwickelt. „Law in public action“ auch hier! 2. Unterschiede, Divergenzen Bei allem Bemühen, das Gemeinsame der drei Posten unserer Trias zu ergründen, darf der Blick für das Unterscheidende, Divergente, nicht verloren gehen. Gerade weil die Gefahren der Globalisierung, der entgrenzten Ökonomisierung, des Terrors beim Namen genannt worden sind, müssen die drei Gerüste, nationales Verfassungsrecht, regionales Staatenverbundsrecht und Menschheitsrecht strukturiert werden, bei allen Wechselwirkungen und Abwandlungen, auch Osmoseverhältnissen. Stichworte müssen genügen: a) Eigenkonturierte Identitäten Der Verfassungsstaat bleibt ein unverzichtbares Element mit eigener kultureller Identität. Er ist eine „Heimstatt“ für alle seine Bürger, so sehr er diese im Inneren föderal oder regional „verorten“ mag; vor allem kulturell vorbildlich wirkt hier das System der Autonomien in Spanien. Die Öffnung zu regionalen Staatenverbünden unterschiedlicher nationaler Dichte bleibt aus den genannten Gründen ebenfalls

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unverzichtbar: im Zeichen der regionalen Friedensgebote, der ökonomischen Zusammenschlüsse und der kulturellen Gemeinsamkeiten (z. B. das „Europa der Kultur“). Es gibt eine „europäische Identität“, auch eine iberoamerikanische. Die Weltgesellschaft (N. Luhmann), besser die Menschheit ist der „Humus“ für alle Menschen i.S. des Weltbürgertums von I. Kant, auch J. G. Herders „Brief zur Beförderung der Humanität“. Die Vorteile der „Internationalisierung“ sind bekannt, an die Nachteile ist immer wieder zu erinnern. Zu den Vorteilen gehört, dass die Weltöffentlichkeit Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen auf Dauer nicht hinnimmt und Gerichtshöfe etabliert (so in Ruanda). Defizite gibt es allerdings leider noch genug (z. B. Liberia, Elfenbeinküste). Die globale Internet-Öffentlichkeit kann hilfreich sein (z. B. in China). b) Vielfalt und Pluralität Die Vielfalt und Pluralität ist bei allen gemeinsamen Menschheitsidealen konstituierend für das Zusammenleben auf unserem blauen Planeten: im Großen wie im Kleinen. Dabei hat der Jurist eine spezifische Aufgabe: als „europäischer“ oder „lateinamerikanischer“ Jurist bzw. Staatsrechtslehrer, Völkerrechtswissenschaftler und Verfassungs- bzw. Europarechtler ist er auf Zusammenarbeit angewiesen. Das „Außen“ und „Innen“ wird relativiert. Man kann heute in Deutschland kein nationales Verfassungsrecht mehr lehren, ohne die Grundzüge des Europäischen Verfassungsrechts zu kennen. In Bezug auf das Völkerrecht besteht noch ein großer Nachholbedarf, vor allem ein Defizit: nicht zuletzt in Sachen Theorie. Wir warten auf eine neue „Schule von Salamanca“: vielleicht auf einen lateinamerikanischen Hugo Grotius? Wir warten auf einen Alexander von Humboldt der Juristen. c) Konkurrenzverhältnisse Es gibt durchaus gesunde Konkurrenzverhältnisse zwischen den drei Rechtsgebilden, den nationalen, universalen und regionalen, bei allen „Wahlverwandtschaften“ i. S. von Goethe. Das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht sollte z. B. um einen besseren Grundrechtsschutz ringen. Europa und Amerika müssten gerade bei diesem Thema miteinander wetteifern: so wie auch die einzelnen Verfassungsstaaten untereinander im Wettbewerb stehen, etwa in Sachen Regionalismus / Föderalismus: Belgien, Italien und vorbildlich Spanien. d) Balance zwischen den Strukturen des Verfassungsstaates, der Staatenverbünde und der Weltgemeinschaft des Völkerrechts Im Ganzen geht es um eine Balance zwischen der Struktur des Verfassungsstaates, der Staatenverbünde und der Weltgemeinschaft des Völkerrechts. Ein „Weltstaat“ ist fragwürdig, eine „schlechte Utopie“. Es geht um das tolerante Miteinan-

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der unterschiedlicher Verfassungsstaaten, Völker, Kulturen und Religionen. Die Besonderheit des Menschen in all seinen Stärken und Schwächen verlangt nach einem Verfassungsrecht für das „Besondere“, auch im Blick auf Minderheiten aller Art. Der gemeinsame Kampf gegen die Armut sei nicht vergessen. Das Ideal der „internationalen Gerechtigkeit“ (Präambel I. Haagener Abkommen von 1907) ist kein leeres Wort. Ausblick und Schluss Dieser Entwurf ist mehr als vorläufig, er bleibt ein punktueller „Werkstattbericht“. Versucht wurde, sich von Klassikertexten von Aristoteles bis Kant und Rawls, auch H. Jonas, von Goethe („Weltliteratur“, 1827) bis Brecht inspirieren zu lassen. Dies ist aber nur dann saubere Werkstattarbeit, wenn die juristischen Handwerksregeln beachtet werden, etwa die sensible Systematisierung, die unentbehrliche Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“. Es gibt gewiss noch mehr „juristische Weltliteratur“ als die von mir zitierte. Verfassung als Kultur, Weltbürgertum aus Kultur, Goethes „Orient und Okzident“, sein „nord- und südliches Gelände“ schenkt uns einen Orientierungsrahmen, auch Mut. Gewiss, Verfassunggebung hat eine theologische Dimension: Wir denken an Lykurgos in Sparta und Empedokles in Agrigent. Uns bleibt heute nicht mehr oder weniger als der Auftrag, ein nationales, regionales und universales Verfassungsrecht der Menschenwürde zu schaffen. Verfassungsstaaten sind sozusagen unser „Vaterland“, die Kultur ist unser „Mutterland“. Nicht der „homo oeconomicus“ sei unser Ideal, sondern der „aufrechte“, gebildete, ausgebildete Mensch: „Zurück zur Kultur“ i.S. von A. Gehlen, nicht „zurück zur Natur“ i. S. von Rousseau. Die internationale kosmopolitische Gelehrtenrepublik, auch in dieser Festschrift versammelt, kann zu all dem einen kleinen Beitrag leisten.

Rechtskultur und Entwicklung* Einleitung Das heutige Thema wirkt ebenso anspruchsvoll wie die gesamte Tübinger Tagung. Doch bildet sie aus mehreren Gründen eine glückliche Herausforderung: zum einen ist sie interdisziplinär konzipiert und „bezieht“ z. B. auch die Ökonomie und Politische Wissenschaft mit ein, heute die Jurisprudenz; zum anderen: sie schlägt Brücken besonders zu den Kontinenten Afrika, Asien und Lateinamerika, doch muss auch Europa zu Wort kommen. Nordamerika bleibt wohl auch deshalb „ausgeklammert“ (?), weil dessen Rechtskultur nicht prima facie entwicklungshaft bzw. -bedürftig ist? Ist dem aber so? – kaum: Betrachten wir die Rechtsbildungen des US-Supreme Court und die großen Leistungen seit der Amerikanischen Revolution. Alles interdisziplinäre Arbeiten birgt freilich die Gefahr des Dilettierens, darum wagt sich auch dieser Vortrag nur an das dem Juristen Zugängliche, freilich in den Horizonten des von mir seit 1982 unternommenen „kulturwissenschaftlichen Ansatzes“. Ein Wort zuvor zur Einordnung und Selbstbescheidung im Kreis der anderen Wissenschaften: Seit Ch. Darwin (1859: „On the Origin of Species . . .“) beginnt der Gedanke der „Evolution“ wohl alle Wissenschaften zu ergreifen und das moderne Weltbild zu prägen: Natur- und Geisteswissenschaften, Natur- und Kulturwissenschaften, Natur- und Sozialwissenschaften1. Das Evolutionsparadigma * Erschienen in: Andreas Boeckh / Rafael Sevilla (Hrsg.), Kultur und Entwicklung: vier Weltregionen im Vergleich, Nomos Verlagsgesellschaft, Baden-Baden, 2007, S. 39 ff. 1 In der Periode des „Evolutionismus“ wurde, beeinflusst von Darwin, auch in den Gesellschaftswissenschaften die Suche nach evolutionären Gesetzmäßigkeiten begonnen, nach welchen sich menschliche Gesellschaften und deren Rechtssysteme entwickeln. Stichworte sind die Suche nach „Frühformen“ (Mutterrecht), der Wandel vom „Statusrecht“ zum „Kontraktrecht“ und die Gegenüberstellung von „primitiven“ und „zivilisierten“ Gesellschaften. J. Kohler u. a. entwickelten die „ethnologische Jurisprudenz“ (dazu Art. Rechtsethnologie, in: Ergänzbares Lexikon des Rechts, Stand Aug. 95, 3 / 160, S. 2; s. auch R. Schott, Der Entwicklungsgedanke in der modernen Ethnologie, in: Saeculum Bd. 12 (1961), S. 61 ff. mit Stichworten wie „Gedankenmodelle der Kulturauffassung“, die „Vorgeschichte des modernen ethnologischen Entwicklungsdenkens“ (z. B. die zyklische Theorie über den Ablauf der Verfassungsformen von Polybios). Schott fordert, dass der Entwicklungsgedanke nicht in der ursprünglichen, „primitiven“ Form aufrechtzuerhalten ist, sondern ein Detailstudium von zahlreichen Einzelfragen erheischt. Zuletzt: N. Luhmann, Verfassung als evolutionäre Errungenschaft, Rechtshistorisches Journal 9 (1990), S. 176 ff.; A. Hollerbach, Globale Perspektiven der Rechts- und Staatsentwicklung, in: Freiburger Universitätsblätter 1991, H. 11, S. 33 ff.

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dürfte zuvor in Hegels Geschichtsphilosophie (Stichwort: Dialektik bzw. das Leben des einzelnen Menschen und der Gang der Geschichte wird zunehmend von der Vernunft bestimmt) und dann bei K. Marx angelegt sein, der ans Ende der Geschichte einen Idealzustand der Gesellschaft zu setzen wagte. H. Spencers „Evolutionismus“ deutete die Philosophie als die vereinheitlichte wissenschaftlich begründete Erkenntnis höchster Stufe mit universeller Geltung (1876 bis 1906). Heute ringen z. B. Schöpfungstheologie und Evolutionsbiologie um Kompatibilität2 (aus den USA ist der Streit um ihre Rolle in den Lehrplänen bekannt: der Affenprozess in Tennessee, 1925). Sir Popper plädiert für eine „evolutionäre Theorie des Wissens“.3 Vielleicht ist es kein Zufall, dass „Evolution“ die Rechtswissenschaften als „letzte Disziplin“ erfasst hat, weil wir Juristen auf eine Weise „immer zu spät sind“. Dennoch sind sie, wir, heute in Sachen „Entwicklung“ besonders gefordert: „Entwicklung“ verstanden als „Entstehung von Neuem im zeitlichen Verlauf“4, mit Variationen und Selektionen. Im Folgenden seien die einzelnen Elemente des Themas „Rechtskultur und Entwicklung“ aufgeschlüsselt. Rechtskultur in den Bestandteilen „Kultur“ und „Recht“ (Erster Teil), „Entwicklung“, erarbeitet aus dem gemeinen Sprachgebrauch etwa der „Entwicklungspolitik“ und erarbeitet aus dem Recht, z. B. „Entwicklungsvölkerrecht“ sowie den einschlägigen weltweit verstreuten Verfassungstexten (Zweiter Teil). Der Dritte Teil müht sich um einen Theorierahmen für das Ganze von „Rechtskultur und Entwicklung“.

2 Ein Überblick über „Evolution“ in: Staatslexikon, Art. Evolution von R. Löw, W. Bröker, W. L. Bühl, 2. Bd., 7. Aufl. 1986 / 95, Sp. 518 ff.; dort auch zur Entstehung des Evolutionsgedankens im 19. Jahrhundert in der romantischen Naturphilosophie und im Darwinismus. S. auch H. Meier (Hrsg.), Die Herausforderung der Evolutionsbiologie, 3. Aufl. 1992; D. J. Futuyma, Evolutionsbiologie, 1990. Repräsentativ E. Haeckel, Die Welträtsel (1899), 11. Aufl. 1919, mit dem bezeichnenden Abschnitt: „Entwicklungsgeschichte der Welt“ (S. 247 ff.). Zur „evolutionären Perspektive der Medizin“ gleichnamig H. Markl, FAZ vom 3. 1. 1996, S. N 1. – Auch G. Jellinek, Allgemeine Staatslehre, 3. Aufl., 1959, S. 42, sprach von dem fortschreitenden Sieg der evolutionistischen Denkweise in der gesamten Wissenschaft. In der Staatslehre ist für ihn „Entwicklung nur jene Änderung, die vom Einfachen zum Komplizierten führt“ (ebd., S. 43). Der Entwicklungsgedanke prägte auch die Rechtsphilosophie von H. Coing, Grundzüge der Rechtsphilosophie, 5. Aufl. 1993, z. B. S. 137, 296, 300. – „Entwicklungstendenzen des Rechts in der Gegenwartsgesellschaft“ beobachtet mit den Augen der Rechtssoziologie: M. Rehbinder, Rechtssoziologie, 2. Aufl. 1989, S. 111 ff. 3 K. R. Popper, Auf dem Weg zu einer evolutionären Theorie des Wissens, in: ders., Eine Welt der Propensitäten, 1995, S. 55 ff. S. auch G. Vollmer, Evolutionäre Erkenntnistheorie, 3. Aufl. 1983; B. Irrgang, Lehrbuch der Evolutionären Erkenntnistheorie, 1993; s. auch H. Jonas, Evolution und Freiheit, in: ders., Philosophische Untersuchungen und metaphysische Vermutungen, 1992, S. 11 ff. 4 Vgl. R. Löw, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Bd., 7. Aufl., 1986 / 95, Sp. 518 (520).

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I. „Rechtskultur“ 1. „Kultur“ Als Bild und Begriff eine Wortschöpfung von Cicero, wobei wir das „colere“: hegen, pflegen, verehren, im Blick behalten müssen, befindet sich die Sache Kultur derzeit im Aufwind, nicht so sehr bei den Politikern und Stadtkämmerern als vielmehr bei den Wissenschaftlern. Von frühen Ansätzen einer Schweizer Expertengruppe in den 70er Jahren behandelt, von juristischen Monographien wie „Kulturpolitik in der Stadt“ (1979), „Kulturverfassungsrecht im Bundesstaat“ (1980) bis zu „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ (1982, 2. Aufl. 1998) hat die Sache Kultur eine bemerkenswerte Wissenschaftskarriere hinter sich, und man darf sich fragen, ob diese heute Gefahr läuft, zum Modethema zu werden. Vorsicht und methodische Disziplin sind darum unerlässlich. So helfen bei uns Juristen geläufig gewordene „Einteilungen“: „Hochkultur“ des Wahren, Guten und Schönen, „Volkskultur“ (nicht nur in der Schweiz), Alternativ- und „Subkultur“, wobei die „Beatles“ zeigen, wie aus „Subkultur“ „Hochkultur“ werden kann (pluralistisches, offenes Kulturkonzept). H. Hoffmanns „Kultur für alle“ (in Frankfurt / M. praktiziert), war ebenso eine Bereicherung und ein Stimulans wie J. Beuys’ erweiterter Kunstbegriff: „Jeder Mensch ein Künstler“, ich füge hinzu: „Nicht jeder Mensch ein Beuys!“ Kultur und Recht gehen in vielen Verfassungstexten allseits erkennbar eine besondere Synthese ein: etwa in ausdrücklichen Kulturstaatsklauseln (z. B. Art. 3 Verf. Bayern), in offenkundigen „kulturellen Grundrechten“ wie Freiheit von Wissenschaft und Kunst sowie in den Erziehungszielen vor allem deutscher Landesverfassungen (z. B. Art. 28 Verf. Brandenburg). Ohne weiteres als „kulturhaltig“ erkennbar sind die Präambeln von Verfassungen, kulturwissenschaftlich Ouvertüren und Prologen vergleichbar, oder auch Gottesbezüge, wie sie die (derzeit gescheiterte) EU-Verfassung von 20045 leider nicht gewagt hat, wie sie aber in Südafrika ebenso die Verfassung eröffnen wie in der nBV Schweiz (1999) oder zuvor im GG. Sehen wir tiefer, so wird das sog. „Staatskirchenrecht“ in Deutschland, richtiger „Religionsverfassungsrecht“, sogleich als spezielles Kulturverfassungsrecht (auch in der EU) erkennbar, und der in osteuropäischen Reformstaaten ebenso innovativ wie intensiv normierte kulturelle Minderheitenschutz ebenso (etwa in Polen, Albanien etc.). Schon dieser kurze Überblick lässt erkennen, wie naheliegend es ist, Verfassungsrecht (bzw. Recht) und Kultur in engem Zusammenhang zu denken. Der hier vertretene Ansatz wagt es freilich, das Verfassungsrecht als Kultur zu verstehen –, auch das alte, seit langem von Rom her geprägte Privatrecht und das Strafrecht, das zum europäischen Strafrecht reifen soll. Man wird sich fragen: Warum heute dieser Aufstieg des Kulturthemas? Ich vermute folgende Hintergründe: Die fortschreitende Ökonomisierung vieler, ja bald aller Lebensverhältnisse, die rasante „Globalisierung“, die Dominanz des Denkens 5

Dazu P. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 5. Aufl. 2008, S. 660, 664.

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in „Märkten“ provozieren als Gegenbewegung die Frage nach den kulturellen Wurzeln, auch als Haltgebung für den Menschen, der sonst buchstäblich ins Bodenlose stürzte. Märkte haben nur instrumentale Bedeutung, sie sind nicht das „Maß aller Dinge“. „Zurück zur Kultur“ also im Sinne von A. Gehlen oder: „Voraus zur Kultur“? Jedenfalls in diesem Beitrag. 2. „Recht“ Wie könnte es gelingen, auch für den Nichtjuristen verständlich, das Element „Recht“ aufzuschließen? Dazu in wenigen Worten: Wir nähern uns „wissenschaftspädagogisch“ dem Recht am besten von dem Spannungsfeld der vom GG geprägten Formel „Gesetz und Recht“ (Art. 20 Abs. 3), an die alle Staatsgewalt insonderheit die Richter gebunden sind. „Gesetz“ meint das geltende, von den zuständigen Instanzen in Kraft gesetzte – positive – Recht, wobei das „Richterrecht“ hinzukommt, auch auf dem europäischen Kontinent, nicht nur in den angelsächsischen Common-Law-Ländern. Die (offene) Rechtsquellenlehre, der „Stufenbau der Rechtsordnung“ von der „hohen“ Verfassung bis zu „niederen“ Rechtsverordnungen und Verwaltungsvorschriften vermitteln eine erste Orientierung – sie hat übrigens in der Theologie und Kirchenrechtswissenschaft Entsprechungen. Der Begriff „Recht“ in Art. 20 Abs. 3 GG verweist auf vorstaatliches Recht, naturrechtliche Prinzipien, von den Vätern und Müttern des GG, damals als Kontrapunkt zum gegen Gerechtigkeitsprinzipien verstoßenden NS-Recht vor 1945 konzipiert (s. auch die Radbruch’sche Formel). In demokratischen Verfassungsstaaten wird die Rechtsordnung unter Bezugnahme auf die – freilich eingebundene – Volkssouveränität entwickelt: in demokratischen Prozessen, aber auch vom Richter, bei uns besonders vom BVerfG. Während das Gesetz ohne weiteres „gilt“, ist die Geltung etwaigen Naturrechts, vorstaatlicher Rechtsprinzipien schwieriger zu begründen, auch in Abgrenzung zur Moral. M. E. erwächst das Recht aus der Menschenwürde, der Bürgergemeinschaft, der Kultur. Damit sind wir schon beim dritten Schritt „Rechtskultur“. 3. „Rechtskultur“ Heute ein zunehmend verwendeter Begriff, 1994 im Blick auf die „europäische Rechtskultur“ konkretisiert, ist er ein „Synthesebegriff“: ihn zu umschreiben ist nicht leicht. Gegenüber seinen Einzelelementen meint er wohl etwas Neues, Übergreifendes. Er verbindet die umschriebene „Kultur“ mit dem erwähnten „Recht“. Ohne weiteres spürbar ist der immanente Verweis auf etwas Gewachsenes, auch auf tiefere „Geltung“. Grundwerte sind angesprochen, die Nähe zur „Gerechtigkeit“ liegt auf der Hand. Ehe wir um eine Theorie der Rechtskultur ringen, vielleicht einige konkrete Beispiele: Im Blick auf die europäische Rechtskultur lassen sich mindestens 6 Elemente ausmachen: weltanschaulich-konfessionelle Neutralität des Staates, Wissenschaft-

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lichkeit des Rechtes, neben dem Partikularen auch Horizonte des Universalen (Menschenwürde und Menschenrechte), Rechtsstaatlichkeit (vor allem Unabhängigkeit der Rechtsprechung) und pluralistische Demokratie6, Vielfalt und Einheit. Ein Brückenschlag, wie in dieser Vortragsreihe gefordert, etwa zu ganz Asien, ganz Afrika oder ganz Lateinamerika ist mir nicht möglich. Ich greife nur meine Theorie des „Gemeinamerikanischen Verfassungsrechts“ (2001) heraus, parallel zum gemeineuropäischen Verfassungsrecht von 1991 entwickelt (darauf später Bezug nehmend der Terminus „Gemeinislamisches Verfassungsrecht“ bei E. Mikunda). In Afrika deutet die vorbildliche Verfassung Südafrikas von 1997 auf eine werdende Rechtskultur moderner Verfassungsstaatlichkeit, und aus Lateinamerika seien Stichworte für Peru und Mexiko genannt. Beispiele sind: Ombudsmann, Schutz der Eingeborenenkulturen, Kampf gegen Analphabetismus. Das Völkerrecht lebt ebenfalls aus „Rechtskultur“: Man denke an seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“. Freilich sind hier die Gefährdungen und Defizite besonders groß, weil das Machtmoment einzigartig hinzu kommt. Ein Staat kann das feine Netz der Rechtskultur des allgemeinen Völkerrechts jäh zerreißen. Überdies ist die Staatenwelt so vielfältig, dass rechtskulturelle Bindeglieder noch schwieriger zu „entwickeln“ sind. Abgesehen davon gibt es das sog. „Entwicklungsvölkerrecht“. Damit sind wir erneut auf Wort und Sache „Entwicklung“ verwiesen. Ihr gilt der folgende Zweite Teil. II. „Entwicklung“ 1. Eingangsbemerkungen Manche Aspekte des Begriffs „Entwicklung“ sind schon angeklungen. „Entwicklung“ ist vor allem in der Tagespolitik geläufig. „Entwicklungshilfe“, „Entwicklungspolitik“, in der Wissenschaft hat sich das Wort „Entwicklungsvölkerrecht“ etabliert. Die sog. Brandt-Kommission7 hat um den Begriff „Entwicklungsdekade“ gerungen. Soeben (Dezember 2005) hat sich die WTO in Hongkong mancher Entwicklungsprobleme angenommen. Nach Zeitungsmeldungen gaben zum

P. Häberle, Europäische Rechtskultur, 1994. Einen Ausschnitt beleuchtet die von den UN seit 1961 jeweils für das folgende Jahrzehnt proklamierte 10-Jahres-Periode der internationalen Entwicklung (z. B. „Brandt-Bericht“). Die erste „Entwicklungsdekade“ sah vor allem eine Steigerung der Finanzhilfe für die Entwicklungshilfe vor, die 1970 ausgerufene zweite ein bestimmtes globales Wachstum für das Bruttosozialprodukt der Entwicklungsländer; die dritte, 1980 begonnene, verfolgt das Ziel der schnelleren Entwicklung der Entwicklungsländer unter dem Globalziel der Verbesserung der Lebensbedingungen aller Menschen mit der Strategie einer neuen, auf Recht und Billigkeit gegründeten internationalen Ordnung (Art. Entwicklungsdekade, in: Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl. 1988, Bd. 6, S. 437). 6 7

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ersten Mal die Entwicklungs- und Schwellenländer die Richtung vor. Es bleibt offen, wie lange die in Hongkong geknüpfte Allianz der Entwicklungsländer hält. Erforderlich ist indes eine Erschließung des möglichen Inhalts (auch der Grenzen) der „Entwicklung“ von der juristischen Seite her. Dabei kann es helfen, den Wortschatz der Verfassungstexte zu vergleichen. 2. „Entwicklung“, im Lichte eines weltweiten Textstufenvergleichs Alte und neue Texte seien im Folgenden auf ihre Verwendung des Begriffs „Entwicklung“ oder etwaiger Nachbar- und Korrelatbegriffe untersucht. Auch das Völkerrecht und das – besonders ergiebige – Europäische Verfassungsrecht seien einbezogen. Während die älteren Verfassungen nicht ergiebig sind, finden sich in neueren Texten vielfältige Beispiele bzw. Spurenelemente der Entwicklungsthematik. Im Einzelnen wird man in folgenden Kontexten fündig: Art. 59 Abs. 2 lit. a Verf. Portugal (1976) im Kontext der wirtschaftlichen Rechte und Pflichten, Art. 66 Abs. 2 ebd. im Kontext des Umweltverfassungsrechts („sozio-ökonomische Entwicklung“), Art. 81 lit. m spricht von „Forschungs- und Technologiepolitik, die die Entwicklung des Landes begünstigt“. Die Verf. Guatemalas von 1985 thematisiert die Entwicklung besonders häufig: Art. 63 spricht von wissenschaftlicher, intellektueller sowie künstlerischer Entwicklung (in Bezug auf den Einzelnen), Art. 68 verpflichtet den Staat, Land zur Verfügung zu stellen, das die „Eingeborenengemeinschaften für ihre bessere Entwicklung benötigen“, Art. 80 qualifiziert Wissenschaft und Technik als „grundlegende Notwendigkeiten der nationalen Entwicklung“, auch Art. 85 Abs. 1 sorgt sich um die wissenschaftliche Entwicklung. Weitere Dimensionen des Entwicklungsgedankes finden sich in Art. 119 lit. j und l (in Bezug auf den nationalen und internationalen Handel). Auffällig ist schließlich die Pflicht aller Guatemalteken „für die Entwicklung des Volkes zu arbeiten“ (Art. 135 lit c). Auch die (alte) Verfassung von Peru von 1979 kennt den Entwicklungsgedanken in mehreren Artikeln (z. B. 110 Abs. 2, 116 Abs. 1, 120 Abs. 1, 123 Abs. 1). In osteuropäischen Reformverfassungen schließlich findet sich der Entwicklungsgedanke ebenfalls (z. B. Art. 8 Abs. 3 Verf. Albanien von 1997 (in Sachen Kulturerbe), Art. 59 Abs. 1 lit. f ebd.: „nachhaltige Entwicklung“. Art. 31 Verf. Georgien von 1995 verlangt die Sorge des Staates „für die gleichmäßige sozialökonomische Entwicklung des ganzen Landes“). Im Ganzen ist der sprachliche Unterschied zu beachten zwischen sich entwickeln (reflexiv) und entwickelt werden (passiv). Das Europäische Gemeinschaftsrecht ist besonders vom Entwicklungsgedanken beherrscht. Es ist fast ein „Entwicklungsverfassungsrecht“, ähnlich den Entwicklungsländern!8 8 Vgl. z. B. Art. B EU-Vertrag i.d.F. von 1992 („Entwicklung einer engen Zusammenarbeit in den Bereichen Justiz und Inneres“), Art. 3 lit. n / q EG-Vertrag (Förderung der „technologi-

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Fündig wird man in Internationalen Rechtsdokumenten. So postuliert die Satzung des Europarates (1949) „Schutz und Fortentwicklung der Menschenrechte und Grundfreiheiten“ (Art. 1 lit. b), das Europäische Kulturabkommen (1954) setzt in der Präambel das Ziel, „europäische Kultur zu wahren und ihre Entwicklung zu fördern“. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte der UN (1948) verlangt unter dem Stichwort der „sozialen Sicherheit“ die Garantie der für die „Würde und die freie Entwicklung seiner (sc. des Menschen) Persönlichkeit unentbehrlichen wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Rechte“ – ein Menschenbild9, das durchaus idealistisch von der Idee der Entwicklung der Persönlichkeit inspiriert ist. Der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte (1966) überträgt diesen Gedanken auf die Völker (Art. 1 Abs. 1): „Alle Völker gestalten in Freiheit ihre wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“.10 Freilich muss sich ein solches Entwicklungs(-Verfassungs-)Recht die Frage stellen: „Entwicklung wohin?“. Welches sind die materiellen Konturen („Ideale“) der Entwicklungsziele11? III. Rechtskulturen und Entwicklung: Entwurf eines Theorierahmens Bauen wir auf den Materialien des bisherigen Fragmentes einer Bestandsaufnahme auf, so lassen sich erste Aspekte eines Theorierahmens skizzieren.

schen Entwicklung, einer „qualitativ hochstehenden Bildung“); s. auch Abs. 2 ebd.: („Entwicklung der europäischen Dimension im Bildungswesen“). – Zur „EG-Entwicklungspolitik“ T. Oppermann, Europarecht, 1991, S. 651 ff. Spätere Klauseln von 1997: Art. 2 EUV („nachhaltige Entwicklung“, „Weiterentwicklung der Union als Raum der Freiheit . . .“, Weiterentwicklung des „gemeinschaftlichen Besitzstandes“, s. auch Art. 3 Abs. 1); Art. 3 Abs. 1 lit. r EGV („Entwicklungszusammenarbeit“), Art. 6 ebd.: „nachhaltige Entwicklung“, Art. 158 Abs. 1 EGV: „harmonische Entwicklung der Gemeinschaft als Ganzes“; Art. 174 Abs. 3 (ausgewogene Entwicklung ihrer Regionen“; Art. 177 bis 181 („Entwicklungszusammenarbeit“). 9 Dazu P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2005. 10 Ähnlich völkerbezogene Entwicklungs-Artikel finden sich in Art. 31 Satzung der OAS von 1967; s. ebd. auch Art. 43 lit. g: „Entwicklungsprozess“. Die Banjul Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (1982) postuliert das Recht der Völker auf „eigene wirtschaftliche, soziale und kulturelle Entwicklung“ (Art. 23). 11 Vgl. prägnant: Art. Entwicklung, Brockhaus Enzyklopädie in 24 Bänden, 19. Aufl. 1988, Bd. 6, S. 435 (437): „Im engen volkswirtschaftlichen Sinn wird E. als Synonym für wirtschaftliches Wachstum angesehen . . . . In einem zweiten Schritt wird E. als Verbesserung der objektiv feststellbaren Lebensbedingungen verstanden, wozu neben dem materiellen Lebensstandard (z. B. Befriedigung der Grundbedürfnisse . . . ) auch soziale Indikatoren zählen (z. B. Arbeitsbedingungen in individueller Freiheit . . . ) und Verteilungsaspekte (z. B. Einkommensverteilung . . . )“.

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1. Theoretische Elemente Rechtskultur ist selbst Ergebnis meist langer Entwicklungen (Zeitfaktor) und auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates gehört es zu ihr, dass sie sich ihrerseits in bestimmten Verfahren von bestimmten Teilnehmern („Akteuren“) entwickelt. Das Wort von den „Wachstumprozessen“ ist hilfreich, weil auf beides, das lange Wachsen in der Natur, fast wie bei Bäumen, und das Prozesshafte verwiesen ist. Damit kommen wir fast zu Cicero zurück, der ja der große Jurist Roms war. „Rechtskultur“ lässt sich nicht „befehlen“, einfach implementieren, so intensiv und expansiv die Rezeptionsprozesse unter den Verfassungsstaaten heute weltweit sind: in den Formen der schöpferischen Rezeption der Trias von Texten, Judikaten (als Teil der Praxis) und der Theorien. So hat der italienische Regionalismus (1947) Spaniens System der „Autonomien“ (1978) befruchtet; so wanderten Elemente des deutschen Föderalismus (1949) nach Südafrika (1997); so befruchtete das deutsche Grundrechtsdenken Osteuropa, und so strahlt das BVerfG weit über Europa hinaus. Wissenschaftliche Rezeptionsvorgänge auf beiden Seiten gibt es zwischen Deutschland einerseits, Japan und Korea andererseits. Klassiker wie die „Weimarer Riesen“ sind auch in Asien große Texte, ein H. Kelsen und H. Heller sind „Riesen“ in Lateinamerika, und selbst heute könnte man einige Staatsrechtslehrer benennen, die aus- bzw. anderwärts gelesen werden. Der Wissenschaft kommt heute eine große Bedeutung in Sachen Rechtskultur zu, und speziell der Begriff „Verfassungskultur“ (1982) hilft diese Vorgänge zu verstehen12. „Verfassungskultur“ ist ein spezifisch entwicklungsoffener und entwicklungsbedingter, also lebendiger Begriff. Wir Juristen dürfen das bewusst steuernde Element beim Werden von Rechtskulturen wohl nicht überschätzen, und nur ein Hegel könnte fragen, wer oder was letztlich die Rechtskulturen bzw. die Rechtskultur steuert? Der „Weltgeist“, im Tübinger Raum wage ich dies nicht weiter fortzuspinnen. Vermutlich müssen wir unterscheiden: Die primär bewusst unternommene Entwicklung, die „etabilierte“ Verfassungsstaaten (und die EU) im Blick auf sog. Entwicklungsländer unternehmen (Entwicklungshilfe und -politik), und die Entwicklungen, die sie selbst gestalten, denen sie ihrerseits ausgesetzt sind, die sie aber auch verfehlen können. M.a.W.: Auch die rechtskulturell „alten“ Verfassungsstaaten wie Frankreich oder Großbritannien sind als Anschauungsobjekte für das Thema „Rechtskultur und Entwicklung“ ergiebig, nicht nur dort, wo Entwicklungen „gelungen“ sind: in Deutschland etwa vorbildlich im Bereich von Föderalismus (trotz der vorläufig gescheiterten Bundesstaatsreform 2004) und Grundrechten, im Privatrecht im fortgeschriebenen BGB (wohl nicht im überzogenen Antidiskriminierungswahn, ebenfalls z. T. aus Tübingen stammend!), im Strafrecht in den großen Prinzipien „nulla poena sine lege“, „ne bis in idem“. Es ist indes auch die Gegenrechnung aufzumachen: Wo gibt es in den klassischen Demokratien rechtskulturelle Entwicklungsdefizite oder Fehlentwicklungen, von welchem Forum aus kön12 P. Häberle, Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 1. Aufl. 1982, S. 20 ff. (2. Aufl. 1998, S. 90 ff.).

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nen wir sie beobachten?: vom Typus Verfassungsstaat her, der eine kulturelle Errungenschaft par excellence ist! So mag man an die Defizite der „Dezentralisierung“ in Frankreich erinnern, in Italien an die kaum hinnehmbare Verflechtung von politischer, wirtschaftlicher und medialer Macht in der Person von Berlusconi (ein Verstoß gegen das Pluralismus-Prinzip). Generell wird man sagen dürfen: Rechtstexte sind nur der Anfang des Werdens von Rechtskultur: Die schönsten Verfassungstexte etwa in Russland verhindern offenbar nicht das langsame Hinübergleiten dieses Landes in das autoritäre System des (Alt-)Kanzlerfreundes Putin. M.a.W.: Defizite, Fehlentwicklungen, Mängel an wahrhaft rechtskultureller Verfassungswirklichkeit sind als solche zu benennen (Stichwort: Wirklichkeitsbezug). Nach ihrer Abhilfe ist zu sinnen. „Rechtskultur“ entpuppt sich als werthaltiger, gerechtigkeits- und gemeinwohlorientierter, wirklichkeitsbezogener Begriff. Die „Entwicklung“ ist dabei ein Hinweis auf den Zeitfaktor und das Prozesshafte. Die Entwicklungsländer und Reformstaaten in Osteuropa sollen heute offenbar in kürzeren Zeiteinheiten und rascher nachholen, was sich im alten Europa in langen Zeiträumen mit vielen Rückschlägen und Verfehlungen nach und nach doch entwickelt hat. Das Wort „Rechtskultur“ verlangt offenbar ein qualitatives Niveau, es darf jedoch nicht zu Maßlosigkeit, Arroganz und (eurozentrischer) Selbstüberschätzung verführen. Auch sog. „Entwicklungsländer“ haben eine (oft von Europa und Nordamerika verschiedene, aber doch achtbare) Rechtskultur. Stichwort: Indios in Lateinamerika, die sich in eigenen Bundesländern bzw. Regionen organisieren und heute selbstbewusster werden (so in Peru und Mexiko, jetzt in Bolivien). „Rechtskultur“ ist kein monopolistischer Begriff, sie ist plural strukturiert: in Bundesstaaten und Regionalstaaten, aber besonders im völkerrechtlichen weltweiten Rahmen. Solange wir keine „neue Schule von Salamanca“ haben, kann ich hier nur andeuten. Die NGO’s tun oft ein gutes Werk in Sachen Fortentwicklung des Völkerrechts. 2. Beispiele Blieb das Vorstehende oft relativ abstrakt, so sei jetzt nach Beispielen gesucht, die das Gesagte etwas veranschaulichen können. Vorläufig, aber auch nur vorläufig, mag man unterscheiden zwischen den „entwickelten“ Verfassungsstaaten und den sog. „Entwicklungsländern“. Ich sage „vorläufig“, weil es auch zu umgekehrten Rezeptionen kommen kann und muss: Die Entwicklungsländer bzw. Reformstaaten bereichern die älteren Demokratien. Ein Beispiel neben dem Recht auf kulturelle Identität (Art. 58 Verf. Guatemala von 1985) ist das neue ungarische Wort (1990) von den Minderheiten als „staatsbildenden Faktoren“, das man auf dem ganzen Balkan, ja in der ganzen Welt kennen und befolgen sollte. Erwähnt sei auch der vorbildliche „Ombudsmann für das Rechtswesen“ (Art. 142 bis 144 Verf. Angola von 1992). Durchaus dialektisch (also doch Hegel?) sei von den Grenzen her gedacht. Gibt es rechtskulturelle Grenzen der Weiterentwicklung von Rechtskultur? Das ist kein

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schönes Spiel mit Worten, sondern bezeichnet eine Sache: Viele Verfassungen, etwa das GG in Art. 79 Abs. 3 GG, Portugal in Art. 288 und manche Länder in Afrika (Art. 159 Verf. Angola), kennen sog. „Ewigkeitsklauseln“: Bestimmte Inhalte der Verfassungen, Menschenrechte, Demokratie, Gewaltenteilung können nicht geändert werden, sie sind „unabänderlich“ festgeschrieben. Doch man täusche sich nicht. Einerseits sind solche Artikel eine rechtskulturelle Errungenschaft des Verfassungsstaates (seit 1814 in Norwegen): heute gerichtet gegen totalitäre Systeme von rechts oder links, in Deutschland notwendig geworden, in der Schweiz unbekannt, weil sich die seit 1291 gewordene dortige Rechtskultur immanent selbst schützt. Auf die Länge der Zeit betrachtet, mag man aber zweifeln, ob solche Garantien im „Ernstfall“ wirklich „halten“. Sie sind ihrerseits interpretationsfähig, in Inhalt und Reichweite, und: kein Verfassunggeber kann sich „verweigern“. Auch er ist dem „Lauf der Zeit“ unterworfen. (Das Problem mehrsprachiger Rechtskultur im selben Land, vorbildlich in der Schweiz, aber nicht gelöst in Europa, bleibe ein Merkposten.) Ein besonderes Wort zu den Gesellschaften im Übergang: „Gesellschaften im Übergang“ ist der Oberbegriff sowohl für die herkömmlich so genannten „Entwicklungsländer“ als auch für jene Länder, die um Transformation von totalitären oder autoritären Strukturen zu verfassungsstaatlichen ringen, oft als „Schwellenländer“. So haben die USA z. B. im August 1995 für Kambodscha wieder gezielt Millionen Dollar um des Aufbaus der Demokratie willen gezahlt13. Gedacht ist an die Nachfolgestaaten der UdSSR, in Asien z. B. an Vietnam. Der Begriff „Gesellschaften im Übergang“ verweist implizit auf die Zeitachse: Gemeint ist die besonders sensible, oft langwierige Phase des Umbaus von Staat und Gesellschaft, auf dem, wie sich mehr und mehr gezeigt hat, sehr steinigen Weg zum Verfassungsstaat. Vorgänge, Instrumente, Verfahren und zeitlich gestaffelte Ziele dieses Transformationsprozesses wären eigens zu behandeln. Das bedeutet nicht etwa, dass der Typus Verfassungsstaat nicht selbst ebenfalls auf der Zeitschiene sich entfaltete. Das Gegenteil ist der Fall. Der Verfassungsstaat ist zu einem solchen gerade durch intensive und extensive Wachstumsprozesse geworden, man denke neben der Ausdifferenzierung der Staatsaufgaben an die schrittweise Entwicklung der Grundrechte, etwa jüngst an die Entdeckung ihrer prozessualen und oft schon textlich vorgezeichneten Schutzpflichtendimension (vgl. Art. 53 Abs. 3 Verf. Spanien (1978)). Art. 151 Verf. Guatemala (1985) ist die textliche Verkörperung einer Idee geglückt, die den Kooperationsgedanken inhaltlich fortschreibt und unmittelbar auch für Südostasien oder Afrika heute geschrieben sein könnte: „Der Staat Guatemala unterhält Beziehungen der Freundschaft, Solidiarität und Zusammenarbeit mit allen Staaten, deren ökonomische, soziale und kulturelle Entwicklung ähnlich ist wie die von Guatemala, mit dem Ziel, Lösungen für gemeinsame Probleme zu finden und gemeinsam für eine Politik zum Wohl der genannten Staaten zu entwickeln.“ 13

FAZ vom 5. August 1995.

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Diese Klausel kann m. E. gar nicht überschätzt werden. Sie verdient den Namen „Wahlverwandtschafts-Klausel“. Zwischen „ähnlichen“ Verfassungsstaaten wird eine spezifische Verantwortungsgemeinschaft hergestellt: nicht im Sinne zunächst einseitiger „Entwicklungshilfe“ vom entwickelten Geberstaat zum sich erst noch entwickelnden Nehmerstaat – vielmehr unter Gleichen oder doch Ähnlichen. Damit gewinnt unser Problem ein doppeltes Gesicht: Zu bedenken ist die Verantwortung der „älteren“ Verfassungsstaaten für „Gesellschaften im Übergang“ einerseits, aber auch die Verantwortung dieser „Gesellschaften im Übergang“ untereinander; beides im völkerverbindenden, nicht im ausgrenzenden Sinne („Entwicklungszusammenarbeit“). Im Ganzen: Das Thema „Rechtskultur“ und „Entwicklung“ ist bescheiden, aber entschlossen anzugehen. Es lässt sich ohne den kulturwissenschaftlichen Ansatz weder formulieren noch behandeln. Offene Gesellschaften bedürfen der Grundierung durch die Kultur. Sie sind – als spezifisch reformfähige Größen – aber auch stets in der Weiterentwicklung begriffen, wobei Zeiten des „Reformstaus“ (wie bei uns in Deutschland heute) bekannt sind. „Rechtskultur“ hat in ihrem besonderen Wirklichkeitsbezug etwas Statisches, es gleicht etwa in Europa fast einem „Schatzhaus“, dessen Fundament die großen Juristen Roms gelegt haben. Es ist spezifisch geschichtlich „geronnene“ Rechtsgeschichte. Es verweist per se, erst recht aber im Element der Entwicklung, auf Prozesse „im Laufe der Zeit“. Statik und Dynamik müssen ausbalanciert sein, oft misslingt dies. Dennoch dürfen wir werthaft von „Rechtskultur“ sprechen. Sie ist als positiver Begriff zu „besetzen“. Gegen Schluss ein Blick zurück und ein Blick voraus. Die juristisch-rechtsphilosophische Disziplin „Verfassungslehre in weltbürgerlicher Absicht“ hat mindestens andeutungsweise erkennen lassen, wie sehr sie aus und in der entwicklungsgeschichtlichen Dimension lebt. Der Verfassungsstaat bildet als „Zwischensumme“ ein unabgeschlossen offenes „Projekt“, das stets unterwegs bleibt, so wie der Weg zur Gerechtigkeit immer nur „vorläufiger“ Natur ist. Der Verfassungsstaat und die ihn erforschende, aber auch „befördernde“ Wissenschaft der vergleichenden Verfassungslehre14 hat mit den anderen Kulturwissenschaften die entwicklungsgeschichtliche Dimension gemeinsam. Ob und inwieweit es Parallelen zum Begriff der „Evolution“ in den Naturwissenschaften bzw. zur Entstehung der Tiere und der evolutionären Menschwerdung gibt, wage ich nicht zu beurteilen: zu kurz ist der uns bekannte Weg des Menschen als „zoon politikon“ bzw. Kulturwesen, die Herausbildung von Regeln des menschlichen Zusammenlebens im Vergleich mit der Jahrmillionen betreffenden Abstammungslehre15. Im uns überschaubaren ZeitDazu P. Häberle, Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992. Treffend W. L. Bühl, Art. Evolution, Staatslexikon, 2. Band, 7. Aufl. 1986 / 1995, Sp. 523 (524): „Von sozialer Evolution lässt sich nur in Jahrzehnttausenden sprechen“. Zur Frage, ob die Gerechtigkeitsgrundsätze „der Richtung der Entwicklungsgeschichte besser entsprechen als das Nutzenprinzip“: J. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, 1979, S. 546 f. – Trotz oder gerade wegen seines beispiellosen „Erfolges“ auf Erden (1830: 1,6 Mrd.; 1995: 6,5 Mrd. Menschen) wird wohl auch biologisch kein „neuer Mensch“ entstehen. 14 15

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raum, mit dem die Rechtswissenschaft arbeitet, scheint der Mensch „derselbe“ geblieben zu sein: in seiner prekären Mischung von Gut und Böse, in dem ihm durch Kultur vermittelten „aufrechten“ Gang seiner Natur, in den Phasen der individuellen Entwicklung vom Kind bis zum Erwachsenen und Alten i. S. der Lehren von L. Kohlberg. A. Gehlens „Urmensch und Spätkultur“ (1956) dürfte Stichworte liefern. Sie sollten zu der Frage führen, ob nicht letztlich ein kulturwissenschaftliches Verständnis der Naturwissenschaften erforderlich wird, zumal diese ja „historische Wissenschaften“ sind. Vergegenwärtigen wir uns auch das viele Wissenschaften heute prägende Denken im Rahmen von Prozessen – auch im Konzept des Marktes als „Entdeckungsverfahren“ (F. A. von Hayek)16 greifbar – und das Wissenschaftsbild eines W. von Humboldt: Bemühen um Wahrheit als „etwas noch nicht ganz Gefundenes und nie ganz Aufzufindendes“ (vgl. BVerfGE 35, 79 (113)) bzw. Poppers „Vorläufigkeit aller wissenschaftlichen Erkenntnisse“ bzw. „Vermutungswissen“. Ausblick Neben dem Dank, als Redner zu dieser Vortragsreihe eingeladen worden zu sein, Folgendes: Die Themenstellung in Tübingen ist m. E. ein echter „Fund“. Sie ist „dankbar“, bleibt aber komplex und von einem einzelnen Gelehrten, schon gar nicht von einem einzigen Juristen, nicht erfassbar. Ideal wäre ein gemeinsames Schlussseminar aller Referenten, doch ist dieser Wunsch wohl utopisch. So muss es dem späteren bzw. künftigen Rezensenten eines etwaigen Sammelbandes, am besten aber dem Veranstalter, Herrn Kollegen Boeckh, überlassen bleiben, am Ende ein „Resümee“ zu ziehen. Um eine Fußnote dazu rang dieser Vortrag (in unverkennbar „Schwäbischem“).

16 Ein Klassikertext des Entwicklungsgedankens in der Nationalökonomie ist A. Smith, Der Wohlstand der Nationen, 1776, hier zit. nach der Ausgabe von H.C. Recktenwald, 1974, z. B. S. 55 („Entwicklungsphasen eines Landes“), S. 62, 781 („Stufe der Entwicklung“). Die „evolutorische Ökonomik“ ist mittlerweile ein eigenes Forschungsfeld geworden: J. A. Schumpeter, Theorie der wirtschaftlichen Entwicklung, 5. Aufl. 1952; V. Vanberg, Evolution und spontane Ordnung, Anmerkungen zu F.A. von Hayeks Theorie der kulturellen Evolution, in: H. Albert u. a. (Hrsg.), Festschrift f. E. Boettcher, 1994, S. 83 ff.; W. Kerber, Evolutionäre Marktprozesse und Nachfragemacht, 1989; A. Wagner / H.-W. Lorenz (Hrsg.), Studien zur Evolutorischen Ökonomik III, 1995.

Menschenrechte und Globalisierung* Einleitung Das heutige gemeinsame japanisch-deutsche Staatsrechtslehrerseminar in Bayreuth hat mir ein Thema anvertraut, an das ich mich von mir aus nie gewagt hätte: Menschenrechte und Globalisierung. Es handelt sich buchstäblich um ein „Megathema“, das man seriöserweise nur in Stichworten bzw. Fragmenten erörtern kann, zumal als Eröffnungsreferat. Mein großer Lehrer K. Hesse, den wir im Frühjahr in kleinem Kreis in Merzhausen schmerzlich zu Grabe getragen haben und aus dessen Kontakten zu H. Kuriki der deutsch-japanische Kreis von Freiburg aus letztlich und erstlich, auch dank Herrn Tonami geschaffen wurde, hätte wohl gezögert, sich einem solchen „Riesenthema“ zuzuwenden. Doch sei es als typisches „Altersthema“ gewagt: mehr i.S. eines offenen Topoikatalogs. I. Menschenrechte 1. Positivrechtlich Menschenrechte sind heute auf vielen Ebenen rechtlich garantiert: national-verfassungsstaatlich – von Frankreich bis Deutschland, von Südafrika bis Polen, es gibt sogar eine islamische Menschenrechtserklärung (1990). Auf regionaler Ebene erwähnen wir die frühe EMRK für Europa (1950) mit den jetzt 46 Mitgliedsländern, Putins Russland sieht sich wegen des unfairen Verfahrens gegen einen Großindustriellen wohl bald einer Verurteilung durch den EGMR ausgesetzt (von Tschetschenien sei gar nicht gesprochen). Schließlich kennen wir die Weltebene der UN: Ihre beiden Menschenrechtspakte von 1966: Herr M. Kotzur hat sie 2000 vorbildlich erschlossen, aber bereits die Gründungsdokumente der Vereinten Nationen von 1945, insbesondere die Allgemeine Menschenrechtserklärung von 1948 sind einschlägig. So oft sie verletzt werden: Sind solche Texte einmal „in der Welt“, können sie langfristig „normative Kraft“ gewinnen – auch der Verfassungsstaat von J. Locke war einmal nur eine „konkrete Utopie“ – bis er vor allem in der westlichen Welt Gestalt angenommen und sich weiterentwickelt hat. Japan ist Mitglied der beiden UN-Pakte und kennt auch innerstaatlich Menschenrechte (vgl. Kap. III Verf. von 1946). * Japanisch-Deutsches Seminar am 1. / 2. September 2005 an der Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht in Bayreuth; erschienen in: JöR 55 (2007), S. 397 ff.

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2. Menschenrechte in Natur und aus Kultur Man denkt gerne die Menschenrechte von der Natur des Menschen her, jedem kommen sie zu. Gewiss. Doch: Sind sie überall in der Welt identisch zu sehen: in „Nord und Süd“, im „Orient und Okzident“ – um schon hier Goethe anzudeuten? Menschenrechte erwachsen nicht nur aus der „Natur des Menschen‘‘, wenn man will „naturrechtlich“, sie erwachsen auch aus Kultur, und das will auch heißen: Sie sind national, regional, universal verschieden, je nach Entwicklungsstufe, Sitten, Gebräuchen, Traditionen. Die Menschenrechte, etwa der Afrikanischen Menschenrechtserklärung (1981), können nicht einfach so ausgelegt werden wie die hoch differenzierten, ja auf eine Weise „perfekten“ Menschenrechte im GG (vgl. Art. 1 Abs. 2) bzw. in der EMRK. So müssen zuvor Kategorien gebildet und Dimensionen (ohne das verbreitete „Kästchendenken“) unterschieden werden, die die Menschenrechtsidee in (kulturellen) Entwicklungsstufen darstellen: die klassischen Menschenrechte des „status negativus“, die Teilhaberechte wie „soziale Grundrechte“ auf soziale Sicherheit, auf das Existenzminimum (vorbildlich in der Schweiz: Art. 12 nBV von 1999) und die sog. Rechte der „dritten Generation“: Rechte auf Entwicklung, Recht auf Frieden, Umweltschutz etc. Letztlich entspringen alle einer einzigen Grundidee: der sozial-kulturell verstandenen Menschenwürde, die wir i. S. von I. Kant definieren und mit Hilfe von G. Dürig als absolut, d. h. durch Abwägungen nicht relativierbar (Folterverbot!), interpretieren. Auch das Recht auf das Existenzminimum, das politische Wahlrecht, das Petitionsrecht, auch die Meinungs- und Pressefreiheit und vor allem das Grundrecht darauf, Arbeit haben zu können, verstehen wir von hier aus. Vielleicht ist die Menschenwürde von jedem, das, was jedem von „Natur“ – und „Kultur“ – aus zukommt, universal. Nur manche konkreten Ausprägungen wie die Rechte der Familie, ja sogar der Gleichheitssatz, das Erbrecht erlauben kulturell und entwicklungsgeschichtlich bedingte Varianten. Die „Menschenrechtsstandards“ zu erarbeiten, ist ja vor allem Sache des Völkerrechts, das derzeit in eine Phase der „Konstitutionalisierung“ hineinwächst. Dazu gibt es viel Literatur. Man muss sich aber hüten, dogmatisch nur von einem nationalen Forum aus zu argumentieren. Wir Deutsche dürfen unsere dogmatischen Figuren nicht einfach „in alle Welt“ exportieren wollen. Den USA wird gelegentlich ein „Menschenrechtsimperialismus“ vorgeworfen: ein furchtbares Wort. Andererseits war die humanitäre Intervention im Kosovo (1999) wohl doch gerechtfertigt. Das Menschenrechtspathos der französischen Erklärung von 1789 trägt weit, doch wurde das Postulat der „Brüderlichkeit“ wohl erst in den „sozialen Grundrechten“ (wie Recht auf Bildung, auf soziale Sicherheit) eingelöst. Und es bleibt auch heute noch oft unvollkommen genug. Die UN kommen ihrem Menschenrechtsauftrag nur ungenügend nach. Man denke an den Sudan heute (Darfur) oder an Ruanda und Ex-Jugoslawien vor 10 Jahren (Srebrenica!). Und selbst innerstaatlich-national kennen wir Defizite. Man denke an die Fragen der Gentechnik, Stammzellenforschung, Embryonenschutz, etwa in Deutschland, an Analphabetismus in Lateinamerika.

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3. „Grundrechtspolitik“, „Menschenrechtspolitik“ Was ist menschenrechtspolitisch zu tun – der Begriff „Grundrechtspolitik“ wurde von mir erstmals 1971 auf der Regensburger Sraatsrechtslehrertagung vorgeschlagen, die „Menschenrechtspolitik‘‘ von J. Carter stammt aus späteren Jahren. Vermutlich sind die Menschenrechte auf allen Ebenen, national, regional, universal zu optimieren: durch reiche Textstufen, durch sensible Theorien und offene Praxis. Einzubeziehen in die Verantwortungsgemeinschaften sind auch die sog. NGOs, „Human Rights Watch“ u.ä, wie Amnesty International. An den gerichtlichen und sonstigen Institutionen ist zu arbeiten. Z. B. verfügen afrikanische Länder textlich über vorbildliche „Menschenrechtskommissionen“ (z. B. Art. 156 – 158 Verf. Togo von 1992). Die Defizite der Genfer UN-Kommissionen bzw. Ausschüsse in Sachen unparteiischen Menschenrechtsschutzes sind bekannt. Die nationalen und regionalen Verfassungsgerichte wie die guten Gerichte in Warschau und Budapest, aber auch der EGMR und der panamerikanische Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica sind von der Wissenschaft her durch innovative Theorievorschläge zu ermutigen und zu unterstützen. Der „status activus processualis“, z. B. in Gestalt des Volksanwalts (Österreich) oder im Ombudsmann der EU greifbar, gehört in dieses Bild. Man darf sich auch durch die kulturellen Unterschiede nicht entmutigen lassen. Sie können auch bereichern und in der sowie in die universale(n) Dimension Denkanstöße geben. Freilich ist davor zu warnen, das Menschenrechtsargument zum billigen Schlagwort verkommen zu lassen, es darf nicht politisch instrumentalisiert werden und nationale Machtpolitik verdecken (leider gibt es „Guantánamo“). Andererseits muss erkannt werden, dass es mächtiger wie kleiner Nationen, etwa der USA bzw. eines Liechtenstein bedarf, um Menschenrechte real werden zu lassen. Ohne wirkmächtige Verfassungsstaaten bleiben die Menschenrechte auf allen Ebenen „platonisch“. Menschenrechtsidealismus und Menschenrechtsrealismus sind ein Gebot der Stunde. Vor allem die nationalen Wissenschaftlergemeinschaften (z. B. in dem heutigen binationalen Seminar) haben eine große gemeinsame Verantwortung in Sachen Menschenrechte, aus denen sich auch die politische Organisationsform der Demokratie ableitet. Die nationalen, regionalen und universalen Verantwortungsgemeinschaften sollten Hand in Hand arbeiten. Es kommt zu „Osmosen‘‘, zu „Austauschvorgängen“, einem Geben und Nehmen wie unter den nationalen Verfassungsstaaten selbst. Vieles muss auf der kleinen Ebene national wachsen, was dann regional und universal anhand von Texten, Theorien und Praxis aufgegriffen werden kann. Auch das Umgekehrte gilt: Die regionale Ebene der Menschenrechtsgarantien strahlt in die nationale aus, so in Sachen EMRK, noch höchst unvollständig (laut BVerfG, jetzt E 111, 307 (317)) die EMRK auf die GG-Ebene, vorbildlich aber Österreich und die Schweiz, wo die EMRK auf Verfassungsstufe gilt. Die nationalen Menschenrechtstheorien und ihre Praxis sollten ihrerseits auf die regionale und universale Ebene ausstrahlen. „Menschenrechtskultur‘‘ entwickelt sich besonders subtil und differenziert in den großen regionalen Gerichten

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wie in Straßburg und Costa Rica. Der Andenpakt mag längerfristig in Lateinamerika wirken. II. „Globalisierung“ „Globalisierung‘‘ gehört zu den Modeworten unserer Zeit. Diesen Begriff verfassungswissenschaftlich aufzuschlüsseln, ist mir weder in der Kürze, noch in der Länge und Tiefe möglich. Hier einige Stichworte: Zu unterscheiden ist zwischen den rechtlichen und nicht-rechtlichen Erscheinungsformen der Globalisierung, so viele Übergänge es gibt. 1. Rechtliche Erscheinungsformen der Globalisierung Unser „blauer Planet Erde“ ist rechtlich seit langem strukturiert: Frühformen sind das ius gentium Roms, die „Schule von Salamanca“, Grotius als „Vater des Völkerrechts“, der scheiternde Völkerbund (1919) und die nur zum Teil erfolgreichen UN (seit 60 Jahren). Herangewachsen sind die Normen des Völkerrechts, seine „allgemeinen Rechtsgrundsätze“, seine Genfer Abkommen (z. B. von 1907) und die Wiener Vertragsrechtskonvention (1969). Ich kann hier nur dilettieren. Vor allem leisten die beiden Menschenrechtspakte (1966) ein Stück „Konstitutionalisierung‘‘ der Welt (wobei das Wort „Konstitutionalisierung“ noch zu umschreiben wäre). Die UN-Tribunale und der Internationale Strafgerichtshof, ad hoc-Gerichte wie in Sachen Ex-Jugoslawien und Ruanda gehören hierher. Selbst die RaumfahrtAbkommen wie der „Weltraumvertrag“ (1967) bilden ein Element der rechtlich greifbaren „Globalisierung“. Sichtbar wird die Idee der einen Welt, hinter der es i. S. von Giordano Bruno freilich andere „Welten“ geben mag – er wurde allerdings 1600 als Ketzer in Rom verbrannt. Stichwort ist die Metapher von der Welt als „Dorf“, bekannt ist der „Weltmarkt“. Ein scheinbar grenzenloser Austausch von Informationen und Nachrichten, von Gütern und Waren, auch von Menschen ist charakteristisch für das „Globale“. Die nationalen, regionalen und internationalen Rechtssysteme erleichtern dies. Freilich auch nach der Seite der Kriminalität und des Terrorismus’ hin. Nationale Sicherheit und internationale Sicherheit werden unteilbar. Das Privatrecht (Stichwort: „lex mercatoria“) trägt viel zur Globalisierung der Welt bei, wenn dieser Pleonasmus erlaubt ist. Handel und Wandel werden global. Die Technik, vor allem auch das Fernsehen, tut ein Übriges. Die internationalen Kapitalmärkte und einzelne Repräsentanten als „Heuschrecken“ leisten hier teils positive, teils negative Beiträge. Damit kommen wir zu den nicht-rechtlichen Erscheinungsformen.

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2. Nicht-rechtliche Erscheinungsformen der Globalisierung „Technik“, „Handel und Wandel“ wurden schon genannt. Die NGOs gehören (neben den Medien) zum effektiven „Trägerpluralismus‘‘ in Sachen Globalisierung. So diffus ihre rechtliche Struktur sein mag, so wirksam sind sie für die Menschenrechte als den prinzipiellen Erscheinungsformen der rechtlich fassbaren Globalisierung. Diese darf weder als „Zauberwort“ und Schlüssel für alles und jedes verwandt werden, noch verdammt und einseitig kritisiert werden. „Globalisierung“ muss in ihrer Ambivalenz erkannt werden: Sie kann kulturelle Vielfalt gefährden und einebnen, wobei der Mensch ins Bodenlose stürzt, sie kann aber auch bereichern, weil die Verschiedenheiten von Nationen und Regionen bzw. Kulturen bewusst werden. Es entsteht eine globale Weltgemeinschaft. Die Überwältigung des Menschen und seiner Rechte durch die allmächtige „Ökonomisierung“ ist das Problem (dazu später). Der sog. „Weltmarkt“, der internationale Wettbewerb, der „global player“ (worüber H. Ehmke sogar einen Roman geschrieben hat) deuten an, was gemeint ist. Rechtliches und Nicht-Rechtliches spielen zusammen. Die Technik liefert z. B. in Form des Internet die äußeren Möglichkeiten. Der erhoffte Zugang aller zu wissenschaftlichen Forschungsergebnissen („global access“) gehört hierher. Es bauen sich aber auch gefährliche Macht- bzw. Wirtschaftsstrukturen auf, die den Menschen vergewaltigen, unterdrücken, Armut produzieren und Krankheiten exportieren. Was ist zu denken und zu tun? Darum folgt jetzt 3):

3. Ein idealistisches Bild der „einen Welt“ Bei so viel „Wirklichkeit“, Ökonomie, auch Macht, bei so viel realer Grenzüberschreitung von Gutem und Bösem ist nach einer konstitutionellen philosophischen Orientierung dank der Klassik Ausschau zu halten: M. E. ist der Globus vom Deutschen Idealismus und der Weimarer Klassik her zu verfassen, die Menschheit, die „weltbürgerliche Absicht“ i. S. I. Kants, das „Weltbürgertum aus Kunst und Kultur‘‘ und vor allem Goethes Gedicht sind als Maßstab zu nehmen: „Gottes ist der Orient, Gottes ist der Okzident, nord- und südliches Gelände ruht im Frieden seiner Hände“. Hat die UN in vielen Texten die Menschheit in den Blick genommen, so waren ihr früh deutsche Dichter und Denker von Herder bis Goethe, von Kant bis Schiller vorausgegangen. Die Menschheit darf freilich nicht als Alibi für die Verkennung der kleinen Probleme vor Ort genommen werden. Doch ist sie ein „idealer“ Bezugspunkt z. B. für das Völkerrecht, verstanden als „Menschheitsrecht“, ein Konzept von mir aus dem Jahre 1997. Die Menschenrechte meinen auch die Einzelnen als Repräsentanten der Menschheit. Vor allem aber ist der Blick in alle vier Himmelsrichtungen von Weimar her eine Orientierung. So wird die Einebnung der Vielfalt der Kulturen vermieden. Ost und West, Nord und Süd behalten ihren Eigenwert, „Grenzen“ ihren Sinn. Somit wird die Kultur als „Humus“ für den Globus erkannt, sie verschafft Menschheit und Menschen ihre Identität. Sie ermöglicht den „aufrechten Gang“. Die UNESCO-Abkommen sind in diesem Rahmen zu

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sehen, das „Weltkulturerbe“ und sein Schutz helfen der Welt von der Kultur, vom Kulturrecht her. Zugleich geht es um die demütige Bewahrung der Schöpfung als Natur. Nur so kann „Globalisierung“ verstanden, auch eingegrenzt, die Ökonomisierung und Vermarktung begrenzt werden. Die Menschenrechte aber haben in diesem Koordinatensystem den ihnen gebührenden zentralen Platz. Sie sind das Kulturgut par excellence, weltweit und national wie regional. So könnten wir doch die „geheimen Brücken“ zwischen Menschenrechten und Globalisierung finden. Ausblick Er darf kurz sein, ist nur ein „Einstieg“ für Späteres. Japans Kultur und Rechtskultur lebt aus Innovation und Rezeption. Möge dies auch heute spürbar werden. Menschenrechte und „Verfassung im Diskurs der Welt“ können auch in der „Provinz“ gedeihen. Literatur Häberle, P.: Der Fundamentalismus als Herausforderung des Verfassungsstaates, FS Esser, 1995, S. 50 ff. – Grundrechte im Leistungsstaat, VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff. – Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 3. Aufl. 2004 Kotzur, M.: Theorieelemente des internationalen Menschenrechtsschutz, 2000 Kühnhardt, L.: Die Universalität der Menschenrechte, 1987 Maier, R.: Wie universal sind die Menschenrechte?, 1997 Merrlich, Ch.: Internationale Menschenrechte als Korrektiv des Welthandels, 2005 Riedel, E.: Theorie der Menschenrechtsstandards, 1986 – Die Universalität der Menschenrechte, 2003 Schneider, H.-P.: „Vom Rechte, das mit uns geboren ist“, FAZ vom 19. Mai 2005, S. 10.

Fragen an den Begriff der Globalisierung – Diskussionsbeitrag auf der Tagung der Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer in Freiburg i.Br. vom 3. bis 6. Oktober 2007* Ich habe drei Fragen, und zwar nur deshalb, weil ich seit 53 Jahren ein Dilettant in Sachen Völkerrecht bin und heute von den bestechenden Referaten viel lernen konnte. Erstens: Was heißt „Globalisierung“, hat die Globalisierung ein Ethos und wenn ja welches? Sind es nur empirische Entwicklungen (Weltmarkt, planetarische Kommunikation, Weltöffentlichkeit) oder spielen Gemeinwohlaspekte, sozialer Fortschritt, Umweltschutz, Gerechtigkeitselemente, Menschenrechte, kulturelle Vielfalt eine Rolle? – Zweitens: Was ist das Neue an der Globalisierung? Der Ausdruck selbst ist ja noch nicht so alt, vielleicht aber die Sache? Der Sprachwissenschaftler J. Trabant hat kürzlich sogar von „Globalesisch“ als Sprache geschrieben. Vergegenwärtigen wir uns einige Klassikertexte, die vor langer Zeit fast alles vorweg genommen haben. Shakespeare: „Die ganze Welt ist Bühne“; Goethe: „Weltliteratur“; Kant: „weltbürgerliche Absicht“; F. Schiller: „Was ich als Bürger dieser Welt gedacht“. Also gab es schon längst vor der „Globalisierung“ Weltbilder, Weltreligionen, Weltbetrachtungen, von Europa aus die Kolonialisierung anderer Erdteile. Bereits bei den alten Griechen finden sich einschlägige Zitate, etwa im Hellenismus. Was ist aber das Besondere und das Neue – das „Veloziferische“, ein Goethe-Zitat – was ist das Neue an dem auch durch das Internet bewirkten Phänomen der Globalisierung? – Drittens: Sollte man nicht noch stärker im Sinne der Textstufenanalyse die einzelnen Verfassungen miteinander vergleichen? Im Ansatz hat dies wohl Herr Nolte getan. Es finden sich reiche textliche Belege für das, was man „nationales Weltverfassungsrecht“ im Kleinen nennen könnte – so wie es „nationales Europaverfassungsrecht“ gibt. Ich nenne einige Beispiele: (Welt-)Friedensklauseln in vielen neueren Verfassungen, Kooperations- und Öffnungsklauseln, humanitäre Klauseln bis hinein in die vermeintlich kleinen totalrevidierten Schweizer Kantonsverfassungen, es finden sich national viele universale Menschenrechtsgarantien. Damit schließt sich der Kreis meiner drei Fragen zum Anfang hin – all dies im Lichte der erwähnten Klassiker.

* VVDStRL 67 (2008), S. 202 f.

Interview mit Professor Botha (Juli 2001)* Question 1 Regarding Problems and Theoretical Issues of How to Interpret a Constitution In deed, the art of interpretation is – next to the process of constitution making – at the centre of my scientific approach. My way of constitutional interpretation – being reflected in the different periods of my studies such as 1969 („Constitution as Public Process“ – „Verfassung als öffentlicher Prozess“), 1975 („The Open Society of Constitutional Interpreters“ – „Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“) and 1989 („Law Comparison as Fifth Method of Legal Interpretation“ – „Rechtsvergleichung als fünfte Auslegungsmethode“) might be „unconventional“. However, I do owe many aspects of my work to great thinkers. First of all, my theory is about the precise work on (constitutional) texts, which have to be taken very seriously: in that regard the contributions of the cultural history of German Protestantism as well as hermeneutics are most important. I am influenced by Gadamer’s „Truth and Method“ („Wahrheit und Methode“) and by Popper’s „Critical Rationalism“ respectively his experimental way of thinking, being a useful tool also for interpretations. Of course, texts can only be understood within their contexts. Contextual understanding of texts means interpretation by „adding“ something. And this „something to be added“ is first and foremost culture: in a national, a European and a global dimension. That brings me to my next keyword dating from 1982: „Constitutional Theory as Cultural Science“ („Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“), culturally based comparison of constitutions. Popper’s „Open Society“ has to be grounded on culture. For many insights I am also indebted to Josef Esser, the great civil law scientist, respectively to his books about „Principle and Norm“ („Grundsatz und Norm“, 1954) or „Pre-Understanding and the Choice of Methods“ (Vorverständnis und Methodenwahl“, 1972.) If you would like to learn more about their works, the best thing would be to question these „giants“ themselves, for we are only „dwarfs placed upon their shoulders“ ( . . . ). „Open Society of Constitutional Interpreters“ means that in a democratic society in the end every citizen, not only the one who has studied or is a professional lawyer, can interpret the constitution, e. g. by raising a constitutional complaint and so testing the fundamental rights up to their limits. To give you an example: I think of people working in the field of the press. Moreover, the Member of Parliament is a constitutional interpreter when drafting * Erschienen in: SA Public Law, Vol 17. Nr. 1 (2002), S. 142 ff.

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the laws in accordance with the constitution. Therefore, my approach finds its justification in the theory of democracy as well as in the theory of fundamental rights and freedoms. Question 2 as to the Concept of „Constitution as Public Process“ The concept of „constitution as public process“ includes as well democratic as normative, even utopian elements. Empirically it is confirmed e.g., where constitutional states make use of the so called dissenting votes, for instance in the USA, Germany, Spain or Croatia. The Court’s minority of today can become the majority of tomorrow. The US-Supreme Court gives many classical examples. The public sphere has and displays normative power, at least in the long run. A constitution must be supported by the common consciousness of all citizens in order to be really valid, recognised and accepted. For sure, the Constitutional Judge or Justice may not simply follow the public opinion or the public mood. A day-to-day jurisprudence would be the unwelcome consequence. Nevertheless, he or she should be sensitive to the different „objectivations“ in the process of shaping a public opinion. This is especially important when the Judge has to interpret very broad legal terms. A normative element is part of the concept of „constitution as public process“ in so far as modern democratic constitutions have manifold guarantees of the public sphere and of publicity, e. g. for the Parliament, for the judiciary, increasingly also for the administration. Transparency is the new keyword, written down already in the new constitution of Ethiopia. The openness as to the society makes a constitution, practised in the daily life of all citizens, to a public process. The utopian element distinguishes the notion of „constitution as a public process“ in so far from other concepts as there are always deficits in publicity and transparency which have to be minimised by reform processes. I will give you an example: Some constitutions of the new Federal States in Germany or the constitution of Poland do grant the right to get specific information on environmental questions. Again and again the power politicians tend to step back to the arcane principle typical in the times of (absolute) monarchies or in authoritarian regimes. However, only in the public sphere responsibility can be taken, see for example the „Principle of Responsibility“ by Hans Jonas. Many national constitutions contain a reservoir of utopian perspectives, what I call a „Utopiequantum“: The hope for a future that will come closer to truth and to justice. The chance to take an upright stand for every citizen is a very precise utopia that has to be struggled for again and again. The „Principle of Hope“ by Ernst Bloch gives the keyword. Constitutions have the source of their life and validity in a pluralistic public sphere which itself has to find guidelines and orientation in some specific basic values: democracy, human dignity, the social state and the Rule of law.

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Question 3 as to Functional Aspects of Constitutional Interpretation and as to „Constitutional Law in Public Action“ For a third time, your questions give keywords being better than my answers. Many thanks. Constitutional interpretation is indeed anything but a mechanic process. A first orientation one can find in the four classical methods of legal interpretation, canonised in 1840 by Savigny. I add law comparison as fifth method of interpretation. The interplay of these four or five methods is to be guided by justice, human dignity and truth, in other regards it is open. Furthermore, there are some material principles of constitutional interpretation, for instance the notion of the constitution as a unity („Einheit der Verfassung“) or the functional correctness („funktionelle Richtigkeit“), in Europe the openness as to European Union Law and the orientation as to universally recognised human rights. Within the framework I just described, the constitutional interpreter has more freedoms than legal positivism would ever acknowledge: „constitutional law in public action“. In the constitutional state of today’s level of development the Judges create – in some way of judicial activism – quite a lot of constitutional law, even though in Germany as well as in the United States there also are and should be periods of judicial restraint. It depends on the national legal culture of a people, how creative the Constitutional Judges are or are allowed to be. In Switzerland, e.g., the Judges have a lesser degree of creative power, for Switzerland is a semi-direct democracy. On the other hand, the German Federal Constitutional Court in Karlsruhe has developed very many new theories and rules within its now 102 volumes of decisions, many holdings have been more specified, made more precise, sometimes also decisions have been overruled. The two European Constitutional Courts, the European Court of Justice and the European Court of Human Rights, have – applying a very innovative method of law comparison – established judge-made law as second source of law in a very intensive as well as extensive way. They also have elaborated common principles of law. The separation of powers can only be understood as concrete constitutional law and not as an abstract principle. It depends on a constitutionalised legal community’s degree of development whether separation of powers means rather „division of labour“ or strict separation of legislature and the judiciary. Question 4 as to the (Universal) Concepts of Constitutionalism, Democracy and Human Rights It is difficult to understand how one can play „constitutionalism“ off against democracy respectively a democratic and public discourse. Liberal democracy and the constitutional state belong together: comparing both in time and space one will find that they are based upon a common history of thoughts, that both have the same idealistic and realistic roots. The aforementioned public discourse has been prepared, even made possible by the German Draft Constitution of 1849, the so

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called „Paulskirchenverfassung“, in the revolutionary process of 1848 („Vormärz“). Basically, totalitarian peoples’ democracies or ideologies a la Rousseau gave rise to the thesis of a dichotomy between human rights based constitutionalism on the one, democracy on the other hand. Alas, it is democracy, constitutionalised by human dignity and fundamental rights, by the separation of powers, especially an independent judiciary, it is this very democracy that is „being alive“ because of public discourse. I do not like to argue against N. Luhmann who passed away several years ago. However, I am very sceptical as to all kinds of „General Theories“ which want to construct the whole world out of one idea. That leads inevitably to wrong conclusions. We are only able to recognise some parts, some aspects of the truth. The whole, the one and only truth is unapproachable for us. Every constitutional theory has all the reason to be modest, despite of the „annus mirabilis“ 1989, the „global momentum“ of the constitutional state. By the way, the global society in the sense of Luhmann’s concept gains more and more of its elements from a (universal) public sphere. The process to constitutionalise public international law, the struggle for universal human rights, the war crimes tribunal against Milosevic – all this demands for a public sphere not only as a source of our democracy but also as a forum for the increasingly intensive development of a „Constitution of the Community of Nations“ (so Alfred Verdross in 1926). The system theory holds the danger of closed, even authoritarian societies not immune to totalitarian tendencies. Moreover, the „specialities“, the specific features, e.g. of regionalism or of minorities, are overseen. There is a universality of what we call „special“. This universality is deeply rooted in the anthroplogy of culture. Question 5 as to the Role of Lawyers and Judges For sure, the jurist very often has a somewhat conservative attitude. He or she is concerned about legal security as an element of justice, very often safeguards the status quo, is obliged to overcome paradigms such as „statehood“, finally is obliged to the relevant constitution. Nevertheless, the legislative as well as the judicial process have enough guarantees for openness: for change and innovation. I already mentioned the dissenting votes as a proof of the „constitution as a public process“. Furthermore, I would like to remind you of the manifold obligations and possibilities in legal politics the jurists are confronted with today. There is the process of constitution making that needs advice showing all the alternatives of ideas and thoughts. I had the honour to be an advisor to the constitution making process in Poland, Estonia and the Swiss Canton St. Gallen. Very general and broad constitutional clauses are an important mean to open the constitution for the „winds of change“. Many vague legal terms demand for the Judge’s innovative capacity and sensibility to realise new developments. The very creative holdings of many European Constitutional Courts as well as the US-Supreme Court give proof that the jurist is not only „conservative“. Not to forget the creative way of law comparison I always ask for. Finally, there are sometimes deficits in the legal process: e.g. the

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neglect of minorities. One example: The German Federal Constitutional Court had to develop protections for the transsexuals because of a failure in the legislative process for very many years. Also the Judge is entrusted with the guarantee of the legal order, constitutions should and cannot be only retrospectively „preserved“. On the international level, the Tribunal in The Hague and the Statute of Rome make obvious how little conservative we jurists are and are allowed to be. Question 6 as to Transformation Processes in South Africa, as to the South African Constitution and as to the Relation of State and Society Indeed, South Africa’s „final“ constitution has elements of a „transitory“ constitution, too. By the way, I admire your constitution not only because of its elaborate preamble, the bill of rights, the invocation of truth but also because of the innovative power in fields such as a champion for children, federalism respectively regionalism, constitutional jurisprudence. All constitutions of today’s level of development are transitory in a deeper sense: because of the already mentioned degree of utopian visions, because of the everlasting necessity of reforms. Amongst other functions, a constitution is always a promise for the future, too. Themes such as fundamental rights, democracy or environmental protection are open principles that have to be „pro-scribed“ for the future. All citizens, but also the parties, the constitutional instruments of state and the critical public are in charge. An aspect of transition is an integral element of any constitution, also in the so called highly developed states; but stronger in Eastern European countries since 1989 and stronger most likely also in some African constitutions. For me, South Africa is the model of a „permanent transitory constitution“, if this „contradictio in adjecto“ is allowed. Already the transitory constitution of 1993 was binding for the legislator as to specific fundamental principles and required the Constitutional Court to step into the legislative process – a world wide unique occurrence. The term „transformative potential“ you used, is identical with my notion of the „reform potential“ which every living respectively „being lived“ constitution needs. Finally, in my opinion constitution means „constitution of state and society“. We may speak of the constituted society and the co-operatively open state. The dogma of (separation between) state and society goes back to Hegel, but it has to be re-thought carefully. The society is not simply a sphere free from the state, society is constituted by the horizontal dimension of human rights, the requirements of justice in the field of the economy and by the pluralistic structure off the mass media. The ultimate source a community can derive its potential of innovation and a meaningful life of, is culture and art. Therefore, the three „original freedoms“: freedom of religion, freedom of art, freedom of science are so important. Therefore, all sovereignty and power of the state are to be conceptualised beginning with the citizen: the market and the state can only be understood as „instrumental“. Culture is the „second creation“, it enables the citizen to take

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an upright stand in the sense of Bloch and grants the fulfilment of his or her freedoms. Question 7 as to Different Dimensions of Human Rights Questions number 7 usually are dangerous. As much as I am pleased to answer your one, as much I will do it only provisionally and for the time being. My concept of fundamental rights can be characterised as „multidimensional“, „multi-layered“. One aspect is the „status negativus“, „freedom from the state“; another one the objective and institutional dimension, moreover the „status positivus“ and finally fundamental rights as guarantees of process and participation. All these dimensions form an integral but flexible whole. Sometimes one, sometimes another dimension is given special emphasis. Additionally, let us not forget the corporate, the group related dimension, appearing e. g. within the Christian churches. In 1971, I suggested the „status activus processualis“, being later on applied and developed by the German Federal Constitutional Court. „Fair trial“ or „Due process“ are very similar to my approach. Fundamental rights need organisation and procedure. For instance the ombudsman is securing the rights of the citizens in a broader sense. Fundamental rights are open to new processes of development. This becomes very obvious when they have to prove their normative power regarding new zones of danger, of threat for the human being. Whether and how they will succeed in doing so depends on the constitution as a public process. Finally, the history of human rights is an open public process, never coming to an end. Question 8 as to the Cultural Sciences Approach in Constitutional Law, Including the European Dimension You are right, I began with my cultural sciences approach in 1982, further developed in the second edition of my book „Constitutional Theory as Cultural Science“ (1998). Constitutions are also culture, many of their baseline principles are to be understood in a specifically cultural way, such as the preambles comparable to prologues in literature or overtures in music. Moreover, there are the holidays, I would like to mention your „Soweto-Day“, but first and foremost the cultural freedoms including the protection of cultural minorities. They must also be seen as cultural context. Your Constitution of 1996 in art. 84 speaks of the „culture of human rights“ as an obligation for the „human rights commission“ in an exemplary manner. – You especially asked me about the „European Legal Culture“. It is characterised by six elements: historicity, scholarliness (legal dogmatic), an independent judiciary (including the guarantees of due process), the neutrality of the state concerning faith, confession and one’s outlook on life (freedom of religion), diversity and unity, finally elements of particularity and universality.

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One has to distinguish Europe in a more narrow sense meaning the European Union and Europe in a more comprehensive sense enclosing the Council of Europe and the OSCE . There are elements of a „Common European Constitutional Law“, which I have elaborated in 1991. Amongst others, they build the „European Identity“, the meaning of which can only be analysed applying a cultural sciences approach: I would like to draw your attention to the diversity of languages, certain principles of law, the idea of a written constitution, of course getting closer and closer to the unwritten one that is made by the Judges. One must also take into account the cultural identities of the various nations: G. Verdi standing for Italy, Kant and Goethe as well as the federalism for Germany, „1789“ for France, the Parliament for Great Britain, the differentiated system of regional autonomies for Spain and so on. – The question about a „Constitution for Europe“ I will answer in the following way: the already existing system of partial constitutions should be more and more elaborated and expressed in new legal texts, the last example is the European Charter of Human Rights solemnly proclaimed in Nice. The Idea of „social peace meal engineering“ by Popper might be a very helpful mean of development. Furthermore, people very often speak about a deficit of democracy in Europe. There is one within the European Union: the competence of the European Parliament has to be strengthened; instead of the more or less technocratic intergovernmental conferences of the 15 „bosses“ there should be established convents legitimised by the people; maybe the President of the European Commission should be elected; maybe European referenda should be allowed in specific fields: the keyword is the semi-direct democracy as practised in Switzerland. First and foremost, the European public sphere created by culture and art has to become a political public sphere. This „European public sphere“ needs democratisation step by step, it even needs a „publicity“ of scandals, e. g. the downfall of the SanterCommission might be helpful. To my cultural sciences approach in general: Especially for societies in transformation it could be a fruitful mean of legal analysis. This is obvious for the post-communist states in Eastern Europe since the „annus mirabilis“ 1989, it is obvious for South Africa since the apartheid system came to an end. The cultural foundations, a constitution is based upon, become obvious during transformation periods. Here one can see the power of a constitution above normativity in a strict sense. Moreover: It is the own culture, recognisable for instance in so called „cultural heritage clauses“, that gives societies in transformation the necessary self-confidence to master the situation of change. If receptions of important legal principles out of foreign legal systems are implemented into the own legal culture, the receptions do not remain simply an imported „alien element“, but they become an own cultural achievement of the recipients’ community. So, they can find greater acceptance by the people. Question 9 as to the Method of Law Comparison in Public Law Since 1978, I do struggle for the method of law comparison in constitutional law. Today, this method can watch and participate in shaping a world wide process

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of production as well as reception: regarding constitutional texts, theories and holdings of the judiciary. At least, law comparison is the „fifth“ method of interpretation, one day it might become the first one in an open pluralism of different methods of interpretation. Law comparison is applied by the Judge, it is useful for the legislator and the constitution maker who got scientific advice from abroad. I know that some jurists in the course of the South African constitution making process asked the German Constitutional Court in Karlsruhe for advice; in 1977, German constitutional law teachers were invited to Madrid to assist the Spanish constitution making process. Of course, one has also to be aware of the limits of law comparison. There are some cultural peculiarities of a country, old sores of history, concrete visions for the future, all these special features may not be levelled out by an egalitarian, only superficial perspective of law comparison. However, today one cannot abstain from comparing legal orders in order to get a reservoir of solutions for urgent problems; law comparison is a „workshop“, a source for new, for different, for better solutions. Today, in Europe no legislator can do his work without having a focus on different or parallel approaches of the neighbours. As far as the political process is concerned, the jurist should be very modest. He or she may offer his or her ideas of how to solve the problems, may point out what might be the best way, but may not decide. The four classical methods of interpretation cannot definitely be described in their relationship to law comparison: as I did already mention, their interplay is open. One could start with the grammatical interpretation, include the history of culture, try to figure out the „telos“ also thanks to the ideas of the neighbouring countries, finally try a systematic approach, sometimes within the national, sometimes within the European context (e. g. within the European Private Law). Maybe, the comparative aspect is an integral part of each method. The constitution of Bosnia (1995) opens the classical canon in a masterly manner speaking of the „general Rule of public international law“. South Africa has also opened the overcome canon of legal sources: today the Court may, at least as far as fundamental rights are concerned, „consider foreign law“ (Art. 39); chapter 14 Constitution Kwazulu Natal (1996) mentions „broadly recognised principles of constitutionalism“. The keyword is today’s pluralism of legal sources. Note 10: Final Remark by Peter Häberle Please allow me a final remark, so to say: „taking it upon myself “ to do so. In 1981 I already had the honour to visit your country and to travel. I gave lectures and seminars invited by my colleagues Wiechers, v. Wyk, Pretorius, Devenish, Zimmermann (in Bloomfontein, in Cape Town and in Bophutatswana). Contacts with state authorities or jurists close to it I always rejected. I could experience how the scientific community in South Africa became more and more open and even in that time I could frankly speak about Kant, Popper, Rawls or Jonas. The Constitution making process in your country is, as I think, of exemplary nature. You did make use of the „right momentum“, the „right hour“ of constitution making, to an impor-

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tant extend due to Nelson Mandela. Today, South Africa is (including the constitutions of it provinces) a workshop for constitutional politics – as every federal state, especially Switzerland where many „Total Revisions“ of the constitution took place, the last one in 2000. We Europeans can only look gratefully to the South – just as I may thank you and the editors of this legal journal very much for this interview.

Teil 4

Wissenschaft als Lebensform – Erkenntnisse, Bekenntnisse und kritische Monita eines europäischen Juristen

(Rechts-)Wissenschaften als Lebensform* Einleitung, Problem „Rechtswissenschaften als Lebensform“ ist ein „Altersthema“, nicht ohne Risiko. Das Wagnishafte reicht vielleicht sogar über das jeder Wissenschaft als ewiger Wahrheitssuche immanente Risiko hinaus. Überdies bedeutet jede Abschiedsvorlesung, heute als Literaturgattung in Deutschland wieder stärker im Vordringen, einen Abschluss. Nur mit Mühe kann man sich mit Hermann Hesses Dictum Mut machen: „Und jedem Anfang wohnt ein Zauber inne . . .“. Während die Antrittsvorlesung, als Lebensform von der 68er Generation an deutschen Universitäten, etwa in Marburg (1969 / 70), systematisch zerstört, heute wieder Aufbruch, Programm, Bereicherung, Hoffnung sein kann – bekanntlich gibt es Klassiker dieser Kategorie, etwa F. Schillers Jenenser Rede (1789): „Was heißt und zu welchem Ende studiert man Universalgeschichte“ oder K. Hesses Freiburger über „Die normative Kraft der Verfassung“ (1958) –, hat die Abschiedsvorlesung von anderem Stoff und Geist zu sein. Im heutigen Fall kommt hinzu, dass das mir gewidmete, dankbar angenommene Internationale Abschiedskolloquium mit Gästen auch aus Asien, den Professoren Huh, Hatajiri, Inoue, aus Amerika, den Freunden Valadés, Belaunde und Landa sowie aus der Schweiz (E. Kramer), aus Italien (P. Ridola), aus Frankreich (Frau C. Grewe), aus Griechenland (K. Chryssogonos)1, von solchem Niveau war, dass jeder Abschluss schmerzt, gäbe es nicht den kulturellen Generationenvertrag zwischen den älteren und jüngeren Gelehrten, wobei die aus dem Ausland kommenden mich seit einem Jahrzehnt besonders tragen, ebenso wie mein Bayreuther Seminar (1981 bis 2002). Wenn jetzt hier und heute eine Abschiedsvorlesung gewagt wird, so soll dies auch ein kleiner Beitrag zur Gemeinschaftsbildung in bzw. trotz der Massenuniversität sein. In diesem Punkt können die US-Universitäten als Vorbild wirken. So wie es neuerdings (in Bayreuth) wieder die kollektive festliche Übergabe der Referendarurkunden gibt (am 2. August soll ich mit einer Rede diesen Akt mitgestalten), ein Stück universitärer Lebensform (wie seit langem in St. Gallen), so wie mancherorts in deutschen Landen gemeinsame Doktorfeiern wieder möglich werden, so können zumal in Bayreuth („klein, aber fein“) Abschiedsvorlesungen der Identitätsbildung dienen – dankbar vermerkt sei das Abschiedsseminar, das mir meine, * Abschiedsvorlesung, gehalten am 12. Juli 2002 in der Universität Bayreuth; erschienen in: JöR 52 (2004), S. 155 ff. 1 Die Referate werden veröffentlicht in: JöR 52 (2004).

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Teil 4: Wissenschaft als Lebensform

von 1981 bis 1999 „andere“ Universität – St. Gallen – im SS 2001 dargebracht hat2. Ein Wort zur „corporate identity“ der Universität: man könnte von einer „Zugehörigengemeinschaft“ der Universität sprechen. Die Identität dieser Gemeinschaft wird angesichts der zunehmenden Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebes immer dringlicher: z. B. durch den Ausbau einer Alumni-Kultur (so vorbildlich St. Gallen); infrastrukturelle Einbindung der Emeriti, die ja die geistige Gestalt der Universität mitgeprägt haben (bei uns Juristen die Kollegen W. Schmitt Glaeser und W. Gitter); durch eine Stärkung studentischer Aktivitäten; durch die Idee eines interdisziplinären „faculty club“, in Bayreuth 1998 geplant, aber bislang gescheitert. Das Wissenschaftskolleg in Berlin, dessen Fellow ich 1992 / 1993 sein durfte (neben der deutschen Wiedervereinigung, auch wegen „Weimar“ und „Leipzig“ mein größtes Glück), steht auf seine ganz einzigartige Weise für die „Corporate identity“ der Wissenschaften selbst – durch interdisziplinären Austausch Tag für Tag aufs Neue gestiftet. I. Wissenschaft als Lebensform – individuell und korporativ (gemeinschaftsbezogen) Was heißt Wissenschaft, was „Lebensform“? In den Blick genommen seien alle Wissenschaften, Natur- wie Geisteswissenschaften. Sie können als „Lebensform“ glücken und ein Beispiel für ein gelingendes Leben sein. In einer Zeit, die die Wissenschaften dem vordergründigen, vor allem ökonomischen Nutzendenken ausliefert, die die langfristige Grundlagenforschung zurückdrängt, den „homo oeconomicus“ verabsolutiert und den „Markt“, das unbekannte Wesen, zum „Forum“ macht, müssen Natur- und Kulturwissenschaften erst recht Gegenstand universitärer Grundlagenforschung sein, und zwar in der Langzeitperspektive. Freilich: Was Goethe in seinem wunderbaren Spruch zusammenbindet: „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, eh man es denkt, gefunden“, kann einem einzelnen Forscher in Einsamkeit und Freiheit weder am Schreibtisch oder im Experimentierraum noch im Seminar gelingen. Wohl aber kann er sich, sollte er sich der Wissenschaft als Lebensform verschreiben, individuell – Einsamkeit, der Lehr-Stuhl – korporativ, der Universität im Ganzen, der eigenen Fakultät, die Einheit von Forschung und Lehre – alles i.S. W. von Humboldts – leben. Man mag das andere Dictum von Goethe als Wegweiser nehmen: „Wer Wissenschaft und Kunst hat, hat Religion; wer diese nicht hat, habe Religion“. Man scheue nicht den Vorwurf des Idealismus, der „Kunst“- oder „Wissenschaftsreligion“ – mag all dies 2 Dazu R. Wiederkehr, 20 Jahre Rechtsphilosophie an der Universität St. Gallen: Abschiedskolloquium vom 28. Juni 2001 für Peter Häberle (Bayreuth / St. Gallen): Der europäische Jurist in weltbürgerlicher Absicht, in: AJP / PJA 9 / 2001, S. 1126 ff.; L. Michael / M. Kotzur, Europa und seine Juristenkunst, in: DÖV 2001, S. 905 ff. Die Rede ist als selbstständiges Heft der St. Galler Schriften zur Rechtswissenschaft Bd. 1, 2002, erschienen.

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auch als „Abschied“ erscheinen oder ein solcher sein. In Parenthese ein Wort zur Unterscheidung von Kunst und Wissenschaft: Die Kunst ist nicht falsifizierbar, die Kunst ist ganzheitlich, auf eine Weise mitunter „totalitär“ (jedenfalls bei R. Wagner), die Wissenschaft kann nur vorläufige Teilwahrheiten leisten. Die Kunst irrt nicht, die Wissenschaft ist hingegen Prozess i.S. von Poppers „Versuch und Irrtum“. Mag auch vom „offenen Kunstwerk“ die Rede sein: die Wissenschaft ist spezifisch offen. Sie muss auf eine Weise kompromisslos sein und sich im „kulturellen Gedächtnis Europas“ gerade so eingraben. In der strengen, methodenbewussten Vorgehensweise der Wissenschaft – hier über die Wissenschaften – hätte man zunächst nach den Regeln, Methoden, Verantwortungszusammenhängen, Ergebniskontrollen, Entscheidungsformen von Wissenschaft zu fragen, und erst dann das Bild von der „Lebensform“ zu analysieren. Hier und heute dürfen Stichworte zum Ersteren genügen. Das Zweite, vielleicht ungewöhnlich, die Metapher von der „Lebensform“ sei genauer beleuchtet. „Wissenschaft“ meint den Klassikertext von W. von Humboldt, ewige Wahrheitssuche, für Deutschland kanonisiert durch das BVerfG (E 35, 79 (113)). Intersubjektive Vermittelbarkeit, Offenlegung von „Vorverständnis und Methodenwahl“ sind weitere bekannte Stichworte. Viele ältere und neuere Verfassungstexte und Judikate geben dem Raum. Neben dem älteren Art. 5 Abs. 3 GG3 ist ein Verfassungstext Osteuropas, wo ich in Polen und Estland mitwirken durfte, besonders aufschlussreich. Verf. Ungarn, Abschnitt 70 G Abs. 2 (1989) lautet: „In Fragen der wissenschaftlichen Wahrheiten und bei der Würdigung wissenschaftlicher Forschungsergebnisse steht ein Urteil ausschließlich den Gelehrten dieser Wissenschaft zu“. Das Selbstverständnis des Wissenschaftlers ist ein konstituierendes Element der Sache Wissenschaft und der mit ihr verbundenen und im Glücksfall „berufenen“ Personen. Meine Denkschrift in Sachen deutschsprachige Universität in Budapest4 (2000) ist davon getragen. Weitere Textelemente i.S. des Textstufenparadigmas bereichern das Gesamtbild der Autonomie der Wissenschaften, z. B. Art. 76 Abs. 2 Portugal (1976) (Stichwort: ganz allgemeine Autonomie, unbeschadet einer angemessenen Bewertung der Unterrichtsqualität). Um ein fast autobiographisches Moment zu zitieren: In Marburg erkämpften wir die Entscheidung BVerfGE 47, 327 gegen das unselige Hessische Hochschulgesetz bzw. seinen § 6, wie überhaupt das erste Hochschulurteil von 1973 (E 35, 79) in seiner rettenden Bedeutung gar nicht überschätzt werden kann, vielleicht ist ja bald ein neues Urteil aus Karlsruhe zu erwarten: im Interesse der Beibehaltung der Habilitation als Alternative, auch einer Lebensform, jedenfalls in den geisteswissenschaftlichen Fächern (Argument: Verstoß gegen Art. 5 Abs. 3 GG bzw. das Homogenitätsgebot der Gruppe der Hochschullehrer). Das Verhältnis von Legitimation durch Wissenschaft und demokratische Legitima3 Aus der Lit.: D. Grimm, FAZ vom 11. Febr. 2002, S. 48: „Die Wissenschaft setzt ihre Autonomie aufs Spiel“. 4 Abgedruckt in: FS Druey, 2002, S. 115 ff.

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tion wäre übrigens ein eigenes Altersthema. Die Wissenschaft geht nicht vom Volke aus! Damit kommen wir zur „Lebensform“. Überfordern wir nicht die Wissenschaft, wenn wir sie zur „Lebensform“ stilisieren? Geben wir ihr damit nicht zu viel, nehmen wir den anderen Lebensformen von heute, der Familie, der Freundschaft und Partnerschaft, dem Arbeitsplatz etwas weg? Mit dem Dictum „Wissenschaft als Lebensform“ wird m. E. nicht zu viel versprochen bzw. verlangt. Der Beruf des Wissenschaftlers ist, der Berufung des Künstlers benachbart, ein „Urberuf“ – wie die Theologie, die Medizin, oder altmodisch, der „Landwirt“ sowie der Pädagoge – schmerzlich ist freilich die Einsicht des Klassikers H. Nohl, das pädagogische Verhältnis sei von Beginn an zu seiner Auflösung bestimmt. Der Beruf des Wissenschaftlers verlangt den Einsatz der ganzen Persönlichkeit (pädagogisch die Vorbildfunktion) und einen Vertrauensbonus, wie er jetzt durch Ethikkommissionen mühsam genug begleitet werden muss. Man mag in Übernahme einer literarischen Wendung von „strengem Glück“ sprechen. Zu solchem „strengen Glück“ gehört auch manche Ambivalenz: Wer in der Wissenschaft einmal etwas Neues wagt – und dies gehört dazu –, wird oft zuerst heftig kritisiert, später plagiiert. Mir ist solches widerfahren: zuerst bei der Lehre von der Ausgestaltungsbedürftigkeit der Grundrechte (1962), beim Grundrechtsschutz durch Verfahren (1971) sowie der Grundrechte als Staatsaufgaben, beim gemeineuropäischen Verfassungsrecht (1983 / 1991), beim „kooperativen Verfassungsstaat“ (1978), bei der „Grundrechtskultur“ (1979), der „Verfassungskultur“ und „Verwaltungskultur“ (1982 / 1994) sowie der Rechtsvergleichung als Kulturvergleichung (1983). Mögliche Plagiatsthemen könnten und sollten in Zukunft sein: das „nationale Europaverfassungsrecht“ (1997) oder die Rezeptionstypologie (seit 1992). Freilich: Vielleicht gibt es indes tiefer und weiter gesehen gar kein „geistiges Eigentum“ des Einzelnen. Alle verdanken sich allen! Sicher ist m. E., dass Wissenschaft nur in Distanz zu den politisch und ökonomisch Mächtigen gelingen kann – daher auch meine früh formulierte und persönlich durchgehaltene Skepsis gegenüber bzw. Ablehnung aller Gutachtentätigkeit. Das Gutachten verführt zu unbewusster Korruption, zumal in den Rechtswissenschaften. Beispiele könnten namhaft gemacht werden, seien aber vermieden5. Besonders ist Distanz zu den politischen Parteien geboten, auch wenn man kein Parteikritiker nach Art eines Speyrer Kollegen sein sollte. So wie ein Mindestmaß an Askese für die Wissenschaft unverzichtbar ist, beim „Glück“ des Künstlers mag dies anders sein, so hat Wissenschaft auf Distanz zur Macht zu gehen und sich z. B. nicht in auch unter dem Demokratieaspekt fragwürdige nationale Ethikräte einspannen zu lassen. Speziell für die Rechtswissenschaften sind Pluralität und Sensibilität gegenüber den „anderen“ unverzichtbar. Konkret: Als Herausgeber muss man auch andere Richtungen und „Schulen“ zu Wort kommen lassen, ich habe im Rahmen des JöR (seit 1983) und AöR (seit 1967) sehr darauf geachtet. 5

Zum Problem P. Häberle, Rezensierte Verfassungsrechtswissenschaft, 1982, S. 15 ff.

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Auch den eigenen Schülern gegenüber sollte Toleranz ein großes Prinzip sein: Je weiter der Schüler in seiner Biographie heranwächst, desto lockerer muss man als Lehrer die Zügel halten. Die systematische Zerstörung der Lehrer-Schüler-Verhältnisse aller Art durch die Einführung des „Juniorprofessors“ freilich kann gar nicht genug angeprangert werden. Zur Askese gehört auch Zurückhaltung gegenüber dem zunehmenden Tagungstourismus bzw. „Wanderzirkus“ (selbst während des Semesters!), man könnte auch von „Wanderdüne“ sprechen, von der bekanntlich nichts zurückbleibt; geboten ist die Fähigkeit, einem zugereichten Mikrofon, einem Telefon-Interview oder der Fernsehkamera und damit einer besonders in Deutschland oft hysterischen Öffentlichkeit gerade zu widerstehen, und hierzu gehört, selbst möglichst selten an Talkshows teilzunehmen, wenn überhaupt. Anderes gälte für eine von mir Mitte 2001 geforderte Sendung, die nach dem Muster des „Literarischen Quartetts“ (M. ReichRanicki) oder den frühen Sendungen von Justus Franz („Achtung Klassik“) verfassungsrechtliche Fragen verständlich macht6. Schließlich ist jede Art von Dilettantismus zu vermeiden. Wenn ich mir ausgerechnet nach diesem „Monitum“ eine Parenthese zum Thema Fußball erlaube, so nur cum grano salis, aber doch mit einem Körnchen wissenschaftlichen Ernstes. Der (freilich kommerzielle) Fußball – Volkssport und Mittel der Völkerverständigung – trägt wohl auf seine Weise zur nationalen Identitätsfindung und Weltöffentlichkeit bei – man muss den Ball ja nicht gleich als Metapher für den Globus mythisch überhöhen (Fußball als „globaler Mythos“). Bedenklich stimmt freilich, wie sehr sich die Politik zum Trittbrettfahrer sportlichen Erfolges macht und die „kulturelle Öffentlichkeit“ des Sports zu ihren Zwecken instrumentalisieren möchte.7 Ob sie dabei gar vergisst, dass „Dabeisein ist alles“ für die Bundestagswahlen nicht genügt (Stichwort: „Verlängerung der Politik mit anderen Mitteln“)? Damit zurück zu meinem Lebensthema, der Jurisprudenz . . . Jeder Wissenschaftler sollte sensibel sein für neue Rechtsgebiete, etwa das Umwelt- oder Medienrecht, hier auch Pionierleistungen vollbringen (z. B. durch die Erfindung neuer „Signalworte“), und alles andere später getrost der in Deutschland überreichen Sekundär- und Tertiärliteratur überlassen und schweigen, aber man sollte sich hüten, sich vorschnell auf modischen fremden Rechtsgebieten zu plazieren. So habe ich das Kommunalrecht nur in der Schrift „Kulturpolitik in der Stadt“, 1979, gewagt, etwa mit dem damals neuen Begriff „Kommunales Kulturverfassungsrecht“, alles andere aber den Kollegen z. B. aus Würzburg überlassen (nur in der Lehre wagte ich ab und zu Bayerisches Kommunalrecht). Damit sind wir schon beim Zweiten Teil, den Rechtswissenschaften im Plural.

6 P. Häberle, Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, in: Rechtshist. Journal 20, 2001, S. 601 ff., dazu auch FAZ vom 28. Nov. 2001, S. N 5: „Letzte Bisse“. 7 Zitiert nach FAZ vom 8. Juli 2002, S. 38: „Dichter mögen den Fußball nicht mehr“.

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II. Rechtswissenschaften im Plural 1. Theorie und Praxis Rechtswissenschaften – hier wegen ihrer geschichtlichen bzw. Entwicklungsoffenheit von vornherein im Plural begriffen – man denke an neue Gebiete wie Medizin- und Computerrecht, Internet- und Informationsrecht – wären in Zeit und Raum als den beiden zusammengehörenden Dimensionen zugleich rechtsgeschichtlich und rechtsvergleichend zu behandeln. (Die Entstehungsbedingungen solcher neuen Teildisziplinen zu erforschen, wäre ein eigenes Thema.) Hic et nunc sind nur einige Stichworte möglich: Ihr (der Rechtswissenschaft) Ziel sind Wahrheits- und Gerechtigkeitssuche in gedämpftem Optimismus, erst recht seit der Welt- bzw. Sternstunde 1989, vom vergleichenden Verfassungsrecht zur Weltgemeinschaft der Verfassungsstaaten sich erweiternd (die Folgen des „annus horribilis“ Sept. 2001 sind noch nicht abzuschätzen); die Rechtswissenschaften sind Kulturwissenschaft – mein Programm von 1982; sie inspirieren sich an Klassikertexten von Aristoteles bis H. Jonas (vgl. nur Art. 20 a GG) und sie haben ihren konkreten Rechtsstoff im geltenden sog. positiven Recht; sie können erst recht heute nicht nur national betrieben werden, sie haben universale Kraft und weltweite Aufgaben, bei aller Individualität des Besonderen einer Rechtskultur. Rechtswissenschaften haben vieles zum Gegenstand: von der harten „Dogmatik“ als „Schwarzbrot“ (mit begrenzten, vor allem Rechtssicherheit schaffenden Systematisierungsaufgaben), von der „Kommentierten Verfassungsrechtsprechung“ (1979) und „Rezensierten Verfassungsrechtswissenschaft“ (1982) bis zur Rechtsbzw. Verfassungspolitik, zuvor den Theorierahmen als „Weißbrot“; Anknüpfungen an die klassische „Jurisprudenz“ sind möglich und geboten. Die heute nachweisbar weltweite Produktions- und Rezeptionsgemeinschaft in Sachen Verfassungsstaat bekräftigt die Idee von der offenen Weltgesellschaft der Verfassunggeber und Verfassungsinterpreten. Speziell in Europa gibt es ja kein nationales Staatsrecht mehr (viele Autoren haben dies noch nicht bemerkt, auch gibt es kein nationales Polizeirecht mehr), die „innere Europäisierung“ ist denkbar intensiv, die EU-Länder sind einander nicht mehr „Ausland“, sie sind „Freundesland“, Inland. Alle nationalstaatlich gewordenen Begriffe müssen auf den Prüfstand einer europäischen Verfassungslehre8. Diese Stichworte erinnern an vieles, was mir seit Jahrzehnten hoffnungsfrohes Programm war, oft noch ist und was in Zukunft werden könnte – handelte es sich nicht um eine Abschiedsvorlesung, vielleicht im Geiste des mitunter Mozart-nahen Opernkomponisten Rossinis (?) . . . , bekanntlich verlegte er sich auf das Kochen . . . (was ich aber noch nicht kann). Rechtswissenschaften als verfassungsbezogene Wissenschaften haben gleichwohl gegenüber jeder positiven Verfassung „Selbststand“: Die Weisheiten (Propria) des Privatrechts, nicht erst seit Bologna, das „alte“ Völkerrecht, sogar das 8

Dazu mein Versuch: Europäische Verfassungslehre, 2001 / 2002.

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Strafrecht leben zwar unter dem „Dach“ der Verfassung (heute auch Europas), aber sie vermitteln ihr auch Innovation, Stoff, Figuren, Dogmatik. Der „Vorrang der Verfassung“ darf nicht einebnen. Was die Rechtswissenschaften vor den Schwestern der Philosophie und Geschichtswissenschaft auszeichnet, ist ihr spezifischer Praxisbezug: sie sind im und am Fall gefordert, in den Kontext des Gesetzes eingebunden, müssen um Akzeptanz z. B. durch Transparenz und Öffentlichkeit ringen. Abstrakte Theoriehöhe muss sich konkret in Nähe bewähren können. Ausflüchte gelten nicht; das „an und für sich“ ist kein Alibi für Juristen. Damit öffnet sich der Blick zu I2.: Berufsbilder. 2. Berufsbilder Eine Abschiedsvorlesung darf sich Berufsbilder der Juristen vergegenwärtigen (wie dies immer in der Anfängervorlesung geschah, gerne auch in „ELSA“-Veranstaltungen). Ihre Vielfalt ist nach wie vor ein Prädikat. Um den Juristen als „Generalisten“ sollte auch im Streit um Ausbildungsordnungen gekämpft werden. Der abwägende Richter, der streitbare Anwalt, der flexible Verwaltungsjurist, der fleißige, sensible Professor – das sind Lebensformen, wenn man das unverzichtbare Maß an Idealismus und Enthusiasmus mitdenkt und mitlebt. Mag der juristische Berater im politischen Alltagsleben unverzichtbar, freilich selten genug wirksam sein: Ich bleibe bei meiner praktisch durchgehaltenen und theoretischen, seit 1982 immer wieder bekräftigten Ablehnung des Staatsrechtslehrers als Gutachter. Der Gutachter korrumpiert mindestens unbewusst, das ergebnisbezogene Auftragsgutachten ist der Bankrott des Juristen als Wissenschaftler, auch wenn anerkannt sei, dass Gutachten das eine Positivum haben: sie zwingen, neue Probleme aus der Praxis frühzeitig zu erkennen, mit Intuition kann das aber auch „im Kopf“ vorweg geschehen. In der Schweiz ist vieles anders; die Bereitschaft, dem Kanton oder der Eidgenossenschaft ein Gutachten zu schreiben, gehört für den dortigen Professor zum nobile officium – in St. Gallen wurde ich als Deutscher immerhin gebeten, den Eröffnungsvortrag für die erste Hauptsitzung der verfassunggebenden Versammlung im Kanton zu halten9 (1998). Freilich: Die achtjährige ehrenamtliche Tätigkeit als Fachgutachter der DFG hier bei uns (jede Woche ein Gutachten) wog im beruflichen Alltag schwer. Sie werden fragen, wo und wie ist die „Lebensform“: Nun, auch hier suche man Rat bei einem Klassikertext, hier von F. C. von Savigny, nach dem das Recht das Leben der Menschen selbst sei, von einer „besonderen Seite“ her gesehen. Dass der deutsche Gesetzgeber eine juristische Lebensform zerstören will, hoffentlich aber nicht kann, zeigt die faktische Abschaffung der Habilitation (2001 / 2002). 9 JöR 47 (1999), S. 149 ff.: Die Kunst der kantonalen Verfassunggebung – das Beispiel einer Totalrevision in St. Gallen (1998).

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Jedenfalls in den Geisteswissenschaften bringt sie das oft letzte „zweite“ Buch, die Habilitationsschrift; sie schafft auf Fakultätsebene eine Gemeinschaft der Lehrenden und Lernenden, wie wir sie bei den jüngsten Privatdozenten L. Michael und M. Kotzur zuletzt (2002) erfahren durften. Vielen Kollegen gelingt leider schon heute kein „drittes Buch“ jenseits der Kommentar- und Handbuchliteratur. Die unselige Figur des „Junior-Professors“ zerstört das klassische Lehrer-Schüler-Verhältnis, ohne das z. B. ich mich nicht hätte entwickeln können. Manche in ihren Themen weitgespannte Doktoranden waren ebenfalls eine Freude: vom „grundrechtlichen Strafvollzug“ (1979) bis zur „Legalität und ökonomischer Realität“ (2000), vom „grenzüberschreitendem Regionalismus“ (St. Gallen 1993) bis zum „Recht auf Arbeit in Japan“ (1994) – eine eigene wissenschafts-soziologische Studie zur Breite der vom Doktorvater im Laufe der Zeit vergebenenThemen lohnte. Wir sehen aber auch Positives in Europa. Die These von den Rechtswissenschaften „als Lebensform“ bestätigt sich heute im werdenden Berufsbild des „europäischen Juristen“. Die einzelnen Anforderungen an ihn, sein Berufsbild habe ich seit vielen Jahren erarbeitet10, mit bisher mäßigem Erfolg. Hier nur die vielleicht neue Erkenntnis, dass der europäische Jurist, wie auch das Europarecht im engeren Sinne der EU und im weiteren Sinne des Europarates und der OSZE, eine kaum zu überschreitende und bislang noch nicht hinterfragte spezifische Autorität des Rechts zum Ausdruck bringt, des Rechts im europäischen Kontext. Mag man über das Zuviel an Rechtsnormen und Techniken „aus Brüssel“ klagen: in den Prinzipien, in den Grundlagen ist das (Verfassungs-)Recht von enormer, ja erstaunlicher Legitimation und integrierender Kraft. Die EMRK und die Substanz des EU-Verfassungsrechts z. B. machen, bilden und (be-)gründen Europa. 3. Insbesondere: die Verfassungsrechtslehre heute Es mag eine Schwäche dieser Skizze sein, dass zu stark vom Verfassungsrecht her gedacht wird. Aber es war nun einmal meine Lebensaufgabe, in Europa heute durch das „Gemeineuropäische“ erweitert und intensiviert – auch für andere Weltregionen fragt man schon nach Analogien: „Gemeinislamisches Verfassungsrecht“ (so E. Mikunda, Sevilla, demnächst in JöR 51 (2003), S. 21 ff.) und erhofft „Gemeinasiatische“ Rechtsentwicklungen (etwa von Japan und Südkorea aus). Das gemeinamerikanische Recht ist ein eigenes Thema, etwa im Blick auf die AMRK und ihre Öffentlichkeit. So wäre meine Abschiedsvorlesung gewiss auch von den Teilrechtsgebieten her modifiziert zu schreiben und zu lesen. Es wird ja noch weitere Abschiedsreden hiesiger Kollegen geben, sogar solche seitens meiner Schüler in einem Jahrzehnt plus x Jahren. Ein Wort zur Unterrichtsform sei zuletzt erlaubt: Die „ideale“ ist und bleibt für mich das Seminar in dem seit 1969 entwickelten Konzept: Teilnehmer aller Semes10 Vgl. zuletzt: Europäische Rechtskultur, 1994; Der europäische Jurist, in: JöR 50 (2002), S. 123 ff.; Europäische Verfassungslehre, 2001 / 2002, S. 142 ff.

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ter bzw. Jahrgänge vom Studenten im 3. Semester bis zum Habilitanden, Kontinuität über die Jahre hinweg, keine Blockseminare, weil in ihnen keine Gemeinschaftsform entsteht, Themen aus der ganzen Breite von den nationalen Verfassungsrechten über das Verwaltungsrecht bis zur Rechtsphilosophie, zum Religionsverfassungsrecht und zum Europarecht, Rechtsvergleichung und Rechtsgeschichte, in allen Formen bzw. Literaturgattungen, etwa Urteilsrezensionen, Grundlagenaufsätze, Monographien oder tagespolitischen Fällen. Dass seit 1990 immer mehr Gäste aus dem Ausland, Studenten und Professoren, zuletzt die Doktoren Azpitarte Sánchez (Granada) und López Bofill (Barcelona) in Bayreuth teilnahmen, war mein größtes Glück. Die zusätzlichen Wochenend-Seminare in Dörnberg (Hessen) und von Augsburg aus in Herrsching (Ammersee) werden den älteren unter meinen Schülern noch in Erinnerung sein. Zu „juristischen Festen“ gehört auch die Kunst, etwa Musikdarbietungen oder Parodien auszuhalten, die immer „geneigter“ entgegenzunehmen man lernen muss. Seminare fangen (im Idealfall) buchstäblich die ganze Persönlichkeit von uns Juristen ein – wenn auch nur auf Zeit. – Sie, verehrte Damen und Herren, werden gegen Schluss ein Wort zu den sich entwickelnden privaten Rechtsschulen in Deutschland (etwa der „Bucerius Law School“), nicht mehr in der Sprache Luthers, Kants und Goethes lehrend, erwarten; darüber muss ich noch nachdenken; derzeit neige ich eher zur Kritik. Hier noch eine Provokation: Finanzmittel für Infrastrukturmaßnahmen, wenn notwendig auch durch moderate Studiengebühren staatlicher Universitäten zu beschaffen, bejahe ich, sofern es genügend Stipendien gibt. (Es sei angemerkt, dass der Handwerksmeister für seinen „Meisterkurs“ auch einen nicht unerheblichen Geldbeitrag aus eigener Tasche leisten muss.) Übrigens geht es um Kompetenzen allein der deutschen Länder. Wie gerne würde ich noch einmal eine Erstsemestervorlesung halten und zwar für mindestens drei Personen: 1) den amtierenden Bundeskanzler G. Schröder (gegen sein verfassungswidriges Stichwort „Ein Gesetz für alle Schüler“); 2) für Herrn M. Naumann (Stichwort: Kulturhoheit der Länder als „Verfassungsfolklore“); 3) und zuletzt für einen Berliner Hofschranzen: Kulturstaatsminister Nida-Rümelin, der weder in Syrakus hätte bestehen können, noch in Berlin eine gute Figur macht. Ausblick und Schluss Ausblick und Schluss dieser Abschiedsvorlesung beschränken sich auf Dankesworte: gegenüber meinem Lehrer K. Hesse, der uns samt Gattin die große Ehre erweist, heute hier zu sein, gegenüber den ausländischen Freunden, die mir seit genau 12 Jahren bewiesen haben, warum Aristoteles mit seinem Loblied auf die Freundschaft Recht hat – zumal im Kontext Europas. Wissenschaftliche Freundschaften mit Ausländern11 haben mich in den letzten Jahren besonders beglückt, mitunter auch inspiriert, sie entwickeln spezifische Reize: meine ausländischen 11 Dokumentiert in: T. Fleiner (Hrsg.), Die multikulturelle und multi-ethnische Gesellschaft, 1995; M. Morlok (Hrsg.), Die Welt des Verfassungsstaates, 2001.

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Freunde und ausländischen Schüler haben mich noch niemals enttäuscht! Was ist der besondere Reiz? – Beide Beteiligte fühlen sich als kulturelle Botschafter ihres Landes und sind in spezifischer Weise offen für intensiven Austausch, der über den „Konversationston“ schon bald hinausgeht – all dies jenseits der Machtstrukturen und Konkurrenzverhältnisse der jeweiligen nationalen Wissenschaftlergemeinschaft; ferner: Das Sowohl-Als-Auch von Differenz und Gemeinsamkeit der Kultur bereichert. Im Übrigen: Die Schweiz bleibt meine „erste Liebe“, Italien die „ewige“, Spanien die „letzte“. Darum ist es auch die größte Ehre, dass mich soeben ein Grußtelegramm des Präsidenten der italienischen Staatsrechtslehrervereinigung S. Panunzio erreicht, in dem er mich als Modell des „europäischen Verfassungsjuristen“ bezeichnet. Schließlich erwähne ich meine sieben Schüler, die mir, jeder auf seine Weise, in jeder Hinsicht natürlich längst „über den Kopf“ gewachsen sind (d. h. im Ostrecht, Wissenschaftsrecht, Umweltrecht und Medienrecht, Parteienrecht und Europarecht); besonders freue ich mich zuletzt über die Privatdozenten Herrn L. Michael und Herrn M. Kotzur, auch Herrn R. Wiederkehr (aus Basel); ohne sie (besonders ohne Herrn Kotzur) hätte das heutige Kolloquium nicht gelingen können; nicht zuletzt danke ich meinen Studenten – den mir bekannten wie den unbekannten – ich habe sehr gerne gelehrt. Die hiesige Fakultät hat mich seit über 20 Jahren getragen, in manchem wohl auch „ertragen“. Gedankt sei dem Präsidenten Herrn H. Ruppert und Herrn Kanzler Dr. E. Beck, auch in Sachen Forschungsstelle für Europäisches Verfassungsrecht, dem Dekan P. Oberender und nicht zuletzt meinen Kollegen in der Bayreuther Fakultät. Dank gilt schließlich meinem langjährigen so treuen Berliner Verleger Prof. N. Simon12 und dem auch persönlich mir verbundenen Jahrbuch-Verleger Dr. h.c. G. Siebeck aus Tübingen; Dank an Professor Balaguer Callejón, der mir 1999 die Ehre eines zweiteiligen Kongresses in Granada gab und heute seine „neue Schule von Granada“ eindrucksvoll vertrat, Dank an D. Tsatsos, der mir zu Ehren im Februar 2003 einen Kongress in Griechenland plant. Dieser Abschied atmet vielleicht einen gewissen „Zauber“, ob auch der Anfang einen solchen hat – das ist offen . . . . Auch hier mag die „skeptische Zuversicht“ von K. Hesse, vor 7 Jahren formuliert, Orientierungsmaßstab sein13. Dieser Versuch meiner Abschiedsvorlesung freilich hatte ein doppelte Dimension: Sie war zum Teil erkenntnishaft, zum Teil bekenntnishaft.

12 Von ihm betreut und soeben von W. Graf Vitzthum herausgegeben der Band: „Kleine Schriften“, 2002. 13 Vgl. K. Hesse, Skepsis und Zuversicht – Zu Ernst Bendas 70. Geburtstag, in: FS Benda, 1995, S. 1 ff.

Ein Jahr am Wissenschaftskolleg zu Berlin (1992 / 93)* I. Vorgeschichte und Aufgabenstellung des Berliner Kollegs Das Wissenschaftskolleg zu Berlin wurde 1980 als private Stiftung von Senat und Abgeordnetenhaus des Landes Berlin gegründet; Gründungsrektor war der weit über sein Fach hinaus bekannte Mediävist und Professor der Literaturwissenschaft P. Wapnewski; wesentliche Gründungsanstöße gab der damalige Berliner Wissenschaftssenator P. Glotz. Es wird heute aus Mitteln der Wissenschaftsstiftung Ernst Reuter, des Bundesministers für Forschung und Technologie und privater Stifter finanziert. Vorbild ist das 1930 in Princeton von Abraham Flexner ins Leben gerufene „Institute for advanced studies“; darum wird es auch gerne „KleinPrinceton an der Spree“ genannt. Auf Initiative des Berliner Wissenschaftskollegs bzw. seines jetzigen ebenso effizienten wie weltläufigen Rektors W. Lepenies, von Hause aus Kultursoziologe, wurde im Juli 1991 in Kooperation mit der Ungarischen Akademie der Wissenschaften in Budapest das „Collegium Budapest“ als erstes Institute for Advanced Studies in Ost- / Mitteleuropa gegründet – ein glückliches Beispiel dafür, wie eine geniale „idée créatice“ zu einer mehrere alte und neue Verfassungsstaaten verbindenden Institution wurde (in eher ökonomischer, modischer Orientierung könnte man auch von „Wissenschafts-Joint-venture“ sprechen; die durch Princeton / Berlin und Budapest symbolisierte gemeineuropäisch / atlantische eher „platonische“ Vernetzung wäre damit aber nicht hinreichend erfasst). In das „Haus der Gelehrsamkeit“, die kleine „Gelehrtenrepublik“ (auf Zeit) im Berliner Grunewald, beruft das Wissenschaftskolleg (bzw. Beirat und Rektor) Jahr für Jahr etwa vierzig „anerkannte Gelehrte und Künstler“ aus verschiedenen Disziplinen und Nationen für die Dauer von 10 Monaten (der Volksmund spricht vom „kleinen Nobelpreis“, eine freundliche Übertreibung). Sie sollen sich frei von den heimischen, oft lästigen Verwaltungsaufgaben in den Massenuniversitäten unserer Tage und „frei“ von ihren Vorlesungsverpflichtungen ganz auf ihre Forschungsvorhaben konzentrieren können. Der ständige persönliche Kontakt im Kolleg soll aber auch zur Bildung interdisziplinärer ad hoc-Arbeitsgruppen anregen und eine Chance bieten, die Barrieren der eigenen, heute immer spezieller gewordenen Fachdisziplinen jedenfalls punktuell zu überwinden.

* Originalbeitrag (1993): A. Gruschka gewidmet.

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II. Der Jahrgang 1992 / 93 Speziell der Jahrgang 1992 / 93 führte viele Einzelwissenschaften und Künste aus vielen Nationen in Europa und Übersee zusammen. Einen Schwerpunkt bildete die Gruppe der sog. „Chaosforscher“ aus Physikern und Chemikern. Ihr „Haupt“, der renommierte Direktor des Max-Planck-Institutes für Physik in Heidelberg, H. Weidenmüller, vereinte Professoren aus Israel, den USA, Mexiko, Frankreich, Rußland und Deutschland zu einem wöchentlich tagenden Seminar, um von ihren Disziplinen her ein Phänomen zu erforschen, das als „subtile Ordnung“ heute immer mehr Felder erobert: über die Naturwissenschaften hinaus Ökologen, Ökonomen, Mediziner, Sozialforscher, ja sogar Komponisten wie J. Cage und G. Ligeti (noch nicht aber: Juristen!). Grundgedanke der „Chaostheorie“ ist die Idee, dass der „Ordnung in der Natur unberechenbare Instabilität innewohnt, aus der sich naturgesetzlich neue Ordnung organisiert“. Die Strukturen entwickeln sich aber nicht rein zufällig, sondern in universaler Ähnlichkeit. Als „Schmetterlingseffekt“ (E. Lorentz) ist das „deterministische Chaos“ heute fast populär, wie die Tagespresse zeigt (vgl. etwa St. Galler Hochschulzeitung 1993 / 1; FAZ 2 vom 26. Mai 1993: „Die nichtlineare Dynamik der Wirtschaft“; Der Spiegel 39 / 1993 vom 27. Sept. 1993, S. 156 ff.: „Mythos aus dem Computer“, „Chaos im Kaffee, Spiralnebel“; s. auch Nr. 40 / 1993 vom 4. 10. 1993, S. 232). Als Geisteswissenschaftler war man gegenüber der Präsentation solcher Erkenntnisse durch die Chaosforscher im Gespräch oder Colloquium zunächst ratlos, so dass die von dem seit 1980 souverän amtierenden „Generalsekretär“ J. Nettelbeck vom Forschungsjahr in Berlin erwartete „produktive Verunsicherung“ wegen der spätestens jetzt erkannten eigenen Inkompetenz und Ignoranz in den ersten Wochen im Herbst 1992 fast als Vorform einer Depression einsetzte – gäbe es nicht die geheime Hoffnung auf Goethes „Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen und haben sich, ehe man es denkt, gefunden“, oder keimte nicht die Hoffnung auf Entsprechungen zwischen den Gesetzen der Natur und jenen der menschlichen Ästhetik (greifbar in F. Schuberts „Winter-Reise“-Lied „Frühlingstraum“: „Ihr lacht wohl über den Träumer, der Blumen im Fenster sah“). Überhaupt war es die Konfrontation aller Kulturwissenschaften mit den Naturwissenschaften, die jedem die Enge des eigenen Faches dramatisch vor Augen führte, auch das Fragmentarische der eigenen Bildung. Es war immer wieder Goethe, dessen Weisheiten die Begegnung der „zwei Kulturen“ – Natur- und Geisteswissenschaften – ermöglicht haben. Besonders glücklich zeigte sich dies in einem Vortrag des „permanent fellow“ R. Wehner (Zürich). Er konnte nachweisen, daß sich eine bestimmte Ameisenart in der Wüste Jemen dadurch bei ihrer Fortbewegung orientiert, daß sich in den Jahrmillionen ihrer Entwicklungsgeschichte eine präzise „Himmelskarte“ in ihrem Gehirn bzw. Auge herausgebildet hat. Wem kam da nicht Goethes Sentenz in den Sinn: „Wär nicht das Auge sonnenhaft, nimmer könnte es die Sonne erblicken“? Solche Erfahrungen gediehen zu Höhepunkten im Berliner Jahr 1992 / 93 – gerade der Jurist lernte auf neue Weise das Staunen. Er wird so noch bescheidener, was er angesichts der

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Grenzen seines Faches ohnehin schon zu sein hat, sieht er nur die Fülle der kulturwissenschaftlichen Kontexte, in denen sein Wissenschaftsgegenstand eingebettet ist. Der Jahrgang 1992 / 93 führte in Berlin aber auch viele geisteswissenschaftliche Einzeldisziplinen zusammen, die sich in der Geschäftigkeit des Universitätsalltags sonst kaum innerlich begegnen. So war die Philosophie durch den Tschechen L. Hejdanek vertreten, der sich in Prag in der „Charta 77“ Seite an Seite mit V. Havel unter großen persönlichen Opfern engagiert hatte; so war die Schweiz durch die beiden Literaturwissenschaftler F. P. Ingold (der zugleich der Schweizer Kenner der russischen Literatur ist) und P. von Matt (sein großes Arbeitsvorhaben galt dem Thema „Verkommene Söhne, mißratene Töchter, Die familiale Katastrophe in der Literatur“) präsent, so vermittelte Frau S. Alpers, eine bekannte Kunstwissenschaftlerin aus Berkeley (USA), eine neue Art und Weise, die Bilder von Rubens und Rembrandt zu betrachten; so stellte Frau L. Passerini aus Turin Ergebnisse ihrer Arbeiten über die „Geschichte der Subjektivität aus europäischer Sicht“ vor, so referierte der Historiker H. Zwahr (Leipzig) über den „plötzlich beendeten Lebenszusammenhang DDR“ und so erforschte der – neben dem Verfasser dieser Zeilen einzige – Staatsrechtslehrer P. E. Quint (Baltimore / USA) Verfassungsprobleme der deutschen Vereinigung (zu welchem Zweck er Interviews mit Persönlichkeiten wie de Maizière, Heitmann, Vaatz durchführte). Die bekannte finnische Dichterin K. Simonsuuri widmete sich den „Mythen“ und sie klärte die natur- und kulturwissenschaftlichen fellows von 1992 / 93 mit umfangreichem Bildmaterial und einer Skizze der Theoriegeschichte des Mythos von der Antike über Schelling bis Camus auf. Russland war mit zwei Wissenschaftlern, einem Filmemacher und einem Dichter sowie Puschkin-Forscher (A. Bitow) vertreten. Freilich taten sich die russischen fellows schwer, als Gruppe aufzutreten und als solche oder allein soziale Kompetenz zu entfalten. Neugierig und dankbar hatte man sich als Deutscher auf die „Rückkehr Russlands nach Europa“ gefreut. Im sozialen und kulturellen Zusammenleben war sie im Kolleg 1992 / 93 jedoch zu wenig spürbar. Vielleicht ist dies als Reaktion auf den jahrzehntelang in der UdSSR erzwungenen Kollektivismus zu verstehen oder auch als innere Unsicherheit. Um so wichtiger dürfte es in Zukunft sein, osteuropäische Länder bei der Berufung nach Berlin besonders zu berücksichtigen: Die Integration in die weltweite internationale Wissenschaftlergemeinschaft hilft auch ein Stück weit bei der Wiedergewinnung der kulturellen Identität jener Länder. Ganz anders stellten sich die relativ vielen Repräsentanten der israelischen Wissenschaftlergemeinschaft dar. Sie wussten ihr Land und ihr Fach freundlich und offen zu vertreten. Es gehört im übrigen zum Selbstverständnis des Wissenschaftskollegs, dass Israel und die aus Deutschland nach 1933 vertriebenen großen jüdischen Wissenschaftler und Künstler im verfassungsstaatlichen Deutschland auf Zeit (wieder) arbeiten können. So war etwa der aus Berlin stammende Ökonom A. Hirschmann Gast des Rektors, so ist Walter Levin, der Gründer des LaSalle-Quartetts, dem Kolleg seit langem verbunden.

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III. Die wissenschaftlichen Aktivitäten Abgesehen von der vom Rektor zu Recht verlangten Präsenzpflicht während der 10 Monate am Kolleg ist der Pflichtenkanon gering: Jeder „fellow“ muss in einem Colloquium oder Abendvortrag (z. T. auch für auswärtige Gäste) seine Forschungsergebnisse präsentieren und jeder kann sich zu Kleingruppen mit anderen interdisziplinär zusammenschließen. Solche Kleingruppen haben sich 1992 / 93 z. B. in folgender Hinsicht gebildet: eine „Europagruppe“, bestehend aus einem Soziologen, einem Ökonomen, einem Sozialgeschichtler und den Juristen befasste sich mit dem Vertragsentwurf von „Maastricht“, zwei andere Arbeitskreise widmeten sich Fragen der Pädagogik nach dem Zusammenbruch der sozialistischen Staaten bzw. der Lektüre des neuen Buches von J. Habermas („Faktizität und Geltung“, 1992); ein anderer Kreis befasste sich mit „visual attention“, und ein sehr schöngeistiger Sonett-Kreis fand sich nächtens zusammen (mit Lesung und Kommentierung der großen Sonette von Dante bis Shakespeare; Hölderlins „Brod und Wein“ waren ebenso präsent wie Sarah Kirschs schon klassische Verse). Zu den Höhepunkten gehörte ein Weihnachtsabend, an dem, von Musik umrahmt, jeder fellow ein von ihm besonders geschätztes Gedicht in seiner eigenen Nationalsprache vortrug: so standen etwa 15 Sprachen und Dialekte im „Wettbewerb“: von Katalanisch bis Schweizerdeutsch, von Russisch bis Finnisch, von Englisch bis Italienisch. Für Momente erklang ein „universales Hauskonzert“, entstand die Einheit und Vielfalt der musikalisch-sprachlichen Menschheitsfamilie. Ein besonderes Problem bildeten die „Dienstagscolloquien“, in denen sich jeder fellow ein Mal im Kreis aller Wissenschaften und Künste zu behaupten hatte. So breit die Palette der Themen war (von der Erdbebenforschung bis zu neuesten Ergebnissen zum Lebenswerk von A. Einstein, von der Entstehung der Computer bis zur „nachhaltigen Wirtschaftsweise“, von der Evolutionsbiologie bis zur „Wahrheitsforschung“, von der „Zeit-Philosophie“ bis zur Kunst der SigismundZeit in Ungarn – der Verf. präsentierte sich dank seiner Beratertätigkeit in Estland und Polen mit dem Vortrag „Verfassungsentwicklungen in Osteuropa“, vgl. AöR 117 (1992), S. 1 ff., auch in „Law and State“ 46 (1992) S. 64 ff.): Es gab manche Verständigungsschwierigkeiten und gruppendynamische Probleme. Allenfalls im methodologischen Bereich konnten sich die Wissenschaften gegenseitig „kontrollieren“. Davon wurde auch rege Gebrauch gemacht, wobei sich wieder einmal zeigte, wie empfindlich die Ausländer allen deutschen Besserwissereien und Beckmessereien gegenüber aus gutem Grund sind. (Das schloss nicht aus, dass man als Deutscher behutsam – angesichts der vorherrschenden Verhandlungssprache: Englisch – daran erinnern durfte, dass Deutsch die Sprache Luthers, Kants und Goethes sei.)

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IV. „Social Life“ (z. B. die Tischgespräche) Als Deutscher hatte man 1992 / 93 allen Grund, gerade in Berlin (das so mühevoll zusammenwächst), auf die ausländischen fellows besonders und sehr persönlich zuzugehen, ihnen die Probleme der deutschen (inneren) Wiedervereinigung zu erklären, für das deutsche Geistesleben zu „werben“ und gleichzeitig den Respekt vor der fremden Nation und Kultur glaubhaft zu bezeugen. Hier konnte man im Kleinen und Alltäglichen wohl manches bewirken – und verderben. Freilich durften die Hoffnungen auf das „social life“ auch nicht überzogen werden: Der Wissenschaftler ist nun einmal sehr introvertiert bzw. egozentrisch. Das hängt mit W. v. Humboldts „Einsamkeit und Freiheit“ zusammen, bei den Geisteswissenschaftlern mit ihrer Tätigkeit am Schreibtisch. Die Naturwissenschaftler sind weltweit eher auf Kooperation, auf Team-Arbeit „trainiert“, wie übrigens die Globalität ihrer „scientific community“ beeindruckend – und vorbildlich – war bzw. ist. Zwar ist der Satz von H. James „A community of eccentrics is impossible“ eine Zuspitzung, (falsch ist hoffentlich auch der Satz: „Je genialer, desto asozialer“), aber es kann nicht verschwiegen werden, dass einige Gelehrte sich sehr schwer taten, auf den anderen fellow und seine Disziplin zuzugehen. Viele Verbindungen schufen indes die gemeinsamen Feste und Abende (die Einladungen und Diskussionen mit „Prominenz“ – so musste sich der Regierende Bürgermeister E. Diepgen z. B. die Frage gefallen lassen, warum Berlin partout das Land Brandenburg „schlucken“ wolle, wo es doch derzeit so sehr um eigene Identität ringt) – sowie die täglichen Tischgespräche. Im Grunde bildeten die Tischgespräche die nahezu ideale, weil informelle Art des Austausches zwischen den Einzeldisziplinen und Künsten, zumal ihre Themen nicht selten bei anderen Formen des Zusammenseins wieder aufgegriffen werden konnten („Tischgespräche“ waren einst unter den Gebildeten Europas eine große Kommunikationsform). Themen waren im Jahrgang 1992 / 93 im Beisein des Verfassers etwa die „prekäre Kunst der Übersetzung“, der Wandel der VornamenGebung, die sozial-kulturelle Prägung des Menschen durch die Regionen, die Verarbeitung der Zeitgeschichte durch die Gerichte und ihre Grenzen (in Ostdeutschland besonders aktuell), Zustandekommen und weltweite Wirkung der „Federalist Papers“ (die Klassikertexte zur US-Bundesverfassung von 1787 darstellen), die transzendentale Dimension der Kunst, einschließlich der Frage, ob die Kunst den Menschen bessern könnte und sollte, das Verhältnis von Theorien und Wirklichkeit, die Frage nach „Ober- und Unter-Theorien“ sowie ihrer Abstraktionshöhe und Selektionsleistung, die Utopie der konfliktfreien Gesellschaft, der Unterschied von Kunst und Wissenschaft, die Ähnlichkeiten der Methoden der Interpretation von Verfassungsnormen und von Bildwerken.

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V. Ein erster Rückblick Im Rückblick läßt sich heute, im Herbst 1993, der „endgültige“ Ertrag eines Jahres am Wissenschaftskolleg noch nicht abschätzen. Er hat gewiss so manches Buch (vgl. zuletzt vom Verf.: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992), so manchen Grundlagenaufsatz reifen lassen und die Horizonte zu einer „Re-Orientierung“ eröffnet (verbunden mit „Erschütterungen“, angesichts der gewachsenen sokratischen Einsicht in das eigene Nichtwissen). Vermutlich lässt sich erst mittelfristig erkennen, was der einzelne fellow aus aller Herren Länder diesem Jahr in Berlin verdankt (nicht zuletzt auch wegen des außerordentlichen Kulturangebotes in der Stadt Berlin, das man um der eigenen Arbeit willen nur „dosiert“ und diszipliniert annehmen konnte). Das Forum des Wissenschaftskollegs gewinnt derzeit immer mehr Publizität in den Medien (vgl. etwa Zeit-Magazin vom 23. Oktober 1992, S. 12 ff.; Süddeutsche Zeitung vom 30. / 31. 1. 1993). Die seit 1981 / 82 erscheinenden „Jahrbücher“ (zuletzt 1991 / 92) enthalten die Arbeitsberichte der jeweiligen fellows. Vermutlich ist aber die langfristige Wirkung eines Aufenthalts größer und tiefer: Sie öffnet den Professoren und Künstlern auf neue Weise die Augen und Ohren für die Vielfalt der Wissenschaften und Künste und für ihre sehr persönliche Verantwortung, sie lehrt sie wieder das „Staunen“ gegenüber dem Kosmos, sie leitet zu universaler Toleranz an, sie verstärkt aber auch die Dankbarkeit für einen letztlich von allen Bürgern Deutschlands mitgetragenen (d. h. finanzierten) Aufenthalt, der dem Menschen den „aufrechten Gang“ dank Wissenschaft, Kunst und Religion, auch Nation (als Kultur) in einer ein pluralistisches Ganzes gewordenen Welt vermittelt, welcher freilich immer wieder eine „Rebarbarisierung“ droht (Ex-Jugoslawien!). Ihr ist entschlossen die Kultur der Menschheit entgegen zu setzen. Der Wissenschaftler und Künstler hat sie in jenem Geist mit zu befördern, der aus dem „kategorischen Imperativ“ Kants, jetzt weltweit (als „Umwelt“) gedacht und auch auf spätere Generationen (als „Nachwelt“) gemünzt, folgt, und den Goethe auf das Dictum gebracht hat: „Wer Kunst und Wissenschaft hat, der hat Religion; wer diese beiden nicht hat, der habe Religion“. Die Rückkehr nach Bayreuth fiel dem Verfasser dieser Zeilen bei aller Dankbarkeit für, ja Begeisterung über das Jahr in Berlin nicht schwer: lockte doch das Ziel, manches in die tägliche Lehre im Hörsaal praktisch umzusetzen, was die 10-monatige Forschungszeit im Grunewald wissenschaftlich erbracht hat.

Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre – Möglichkeiten und Grenzen der Staatsrechtslehre in der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten* Vorbemerkung Mein selbstgewähltes, z. T. schmerzliches, auch heikles, bislang vernachlässigtes Thema hat eine kleine Vorgeschichte. Vor etwa zwei Jahrzehnten, als sich unser Jubilar noch in seiner „Forschernische“ bei der Bundeswehr in München, höchst fruchtbar für Späteres, auf Großes vorbereitet hat, klagte ich ihm gegenüber wegen der allenthalben sichtbaren und „erfolgreichen“ Vermachtungsprozesse in der deutschen Staatsrechtslehre (Anlass waren neuerliche Manipulationen im Berufungsund Rezensionswesen). Ich kündigte ihm an, darüber später einmal zu schreiben, sobald alle meine sieben Schüler einen Ruf auf einen Lehrstuhl erhalten haben. Das ist jetzt der Fall. Damit sind wir schon mitten im Thema, das sich freilich nur als Seitenstück von Größerem darstellen lässt. Speziell für mich ist es jäh zum „Altersthema“ geworden, d. h. mit all dessen Unzulänglichkeiten und Irrtümern, auch „Vorverständnissen“ und „Nachverständnissen“ der Ausführung zu bezahlen. Doch ich wage es, vor einer der jetzt insgesamt drei „kleinen Staatsrechtslehrertagungen“ zu sprechen1.

* Erschienen in: Die Verwaltung 2007, Beiheft 7, S. 159 ff. (hrsgg. von H. Schulze-Fielitz). 1 Die ersten Jahrzehnte der ersten „kleinen Staatsrechtslehrertagungen“ hat der Jubilar H. Schulze-Fielitz in meinem Jahrbuch dokumentieren können (JöR 34 (1985), S. 35 ff.). Es gibt schon Nachfolgeliteratur: D. Heckmann, JöR 44 (1996), S. 237 ff., soeben F. Groeblinghoff / K. Lachmayer JöR 55 (2007), S. 429 ff. Die zweite Art „kleine Staatsrechtslehrertagung“ ist der Kreis, der von W. Hoffmann-Riem und E. Schmidt-Aßmann in vielen Jahren ungemein zielgerichtet und konsequent aufgebaut worden ist (vgl. die Bände: Innovation und Flexibilität des Verwaltungsrechts, 1994; Methoden der Verwaltungsrechtswissenschaft, 2004).

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I. Ein Theorierahmen: Sechs Thesen und eine Einschränkung Ein Theorierahmen sei vorausgeschickt. Erst vor seinem Hintergrund lassen sich die Fragwürdigkeiten, Defizite, Unzulänglichkeiten, Ärgernisse, ja Verfälschungen eines offenen Wissenschaftsprozesses beim Namen nennen. Stichworte müssen genügen. 1. Wissenschaft2 ist ewige Wahrheitssuche i.S. von W. v. Humboldt (der deutsche Protestantismus hat an dieser Sicht gewiss großen Anteil); die Abgrenzung zur Kunst liegt in der These, gute Kunst irre nicht, die Wissenschaft tut dies sehr wohl; die Abgrenzung zum Glauben hat die Brücke zu erkennen, die es etwa in Gottes-Klauseln gibt. Speziell in der Rechtswissenschaft3, insbesondere in der Verfassungslehre, kommt die ewige Gerechtigkeitssuche hinzu, auch das ständige Ringen um das Gemeinwohl. Wissenschaft lebt aus vitalen Klassikertexten und fortzuschreibenden Paradigmen, die die Aufgaben kultureller Grundierung erfüllen. „Leitbilder“ und „Schlüsselbegriffe“ haben ihre strukturierende Funktion4. Freilich gibt es auch funktionellrechtlich bedingte Grenzen: „Das Verfassungsrecht und seine Wissenschaft hören hier auf“! Aber: Wo genau? Man denke an das Luftsicherheitsgesetz (BVerfGE 115, 118 ff. ) bzw. die unmögliche Abwägung von Leben gegen Leben sowie die Konstruktion eines m. E. verfassungswidrigen Quasi-Verteidigungsfalles durch W. Schäuble (2007) oder auch an den Fall Daschner. Die „Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat“ (1995) bleiben. Wissenschaft und Judikatur altern und sterben (rascher als uns lieb ist), geltende Verfassungstexte als „Constitutional law in public action“ nicht, und: Klassiker lassen sich nicht „historisieren“5. 2. Rechtswissenschaften einschließlich der Verfassungslehre sind Kulturwissenschaften (den „Sozialwissenschaften“ fehlt die vertikale Dimension) und bei allen Zusammenhängen mit den Naturwissenschaften von deren Gegenstand, der Natur, zu unterscheiden (Zusatz: Bei der Mathematik ist freilich bis heute ungeklärt, ob sie Natur- oder Kulturwissenschaft ist). Die Rechtswissenschaften sollten übrigens 2 Zur Geschichte der Wissenschaft vom öffentlichen Recht: M. Stolleis, Geschichte des Öffentlichen Rechts in Deutschland, 3 Bde. 1988, 1992, 1999; s. auch R. Wahl, Herausforderungen und Antworten: Das öffentliche Recht in den letzten fünf Jahrzehnten, 2006. Wagemutig: H. Schulze-Fielitz, Was macht die Qualität öffentlich-rechtlicher Forschung aus?, JöR 50 (2002), S. 1 ff. 3 Dazu aus der Lit.: J. G. Schuhr, Rechtsdogmatik als Wissenschaft, 2006; s. auch H. Schulze-Fielitz, Verwaltungsrechtsdogmatik als Prozess der Ungleichzeitigkeit, in: Die Verwaltung 27 (1994), S. 277 ff. 4 Aus der Lit. etwa: C. Franzius, „Der Gewährleistungsstaat“ – ein neues Leitbild für den sich wandelnden Staat?, Der Staat 42 (2003), S. 493 ff.; A. Voßkuhle, Schlüsselbegriffe des Verwaltungsverfahrens, VerwA 98 (2001), S. 184 ff. 5 Zu Klassiktertexten im Verfassungsleben gleichnamig mein Berliner Vortrag, 1981. S. auch M. Kotzur, Die Wirkungsweise von Klassikertexten im Völkerrecht, JöR 49 (2001), S. 329 ff.

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auch gegen die nur z. T. selbst verschuldeten Gefährdungen der deutschen Universität heute Stellung nehmen6. Herr Kollege M. Kilian leistet hier viel. 3. Aufgabenbereich der Verfassungsrechtslehre ist die „Verfassung des Pluralismus“ (1980) – Pluralismus verstanden als Vielfalt von Ideen und Interessen. Die Horizonte werden durch den Kritischen Rationalismus eines Popper erschlossen und in das „Prinzip Verantwortung“ eines H. Jonas eingebunden. Ihre Maximen prägen die pluralistische Demokratie, die freilich „Toleranzgrenzen“ ziehen muss („Treue zur Verfassung“). 4. Ideales Leitbild ist die (in Brasilien mittlerweile einen festen Bestandteil des Rechtsunterrichts an den Universitäten bildende) „offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ (1975), in der die Staatsrechtslehre nur ein Teilfeld erarbeitet. Der später wirkmächtig gewordene „herrschaftsfreie Diskurs“ bzw. die Kommunikationstheorie von J. Habermas ist ein hehres Ideal, vielleicht sogar eine Utopie, die stets anzustreben, freilich nur selten zu erreichen ist. Jeder Verfassungsstaat braucht ein „Utopiequantum“, dies gilt auch für die Europäische Verfassungslehre und das sog. „Völkerrecht“. Freilich gibt es kein „Europarecht“ mehr, denn es gibt nur noch „Europäisches Verfassungsrecht“ und „Europäisches Verwaltungsrecht“ (J. Schwarze). Die Europarechtswissenschaft hat also sozusagen ihren eigenen Gegenstand verloren (diese These vertrete ich seit Jahren in den letzten Auflagen meiner Europäischen Verfassungslehre und habe sie auch bei der Festschriftenübergabe am 13. Mai 2004 im Wissenschaftskolleg Berlin gewagt; im Übrigen ist dies Konsequenz meiner fünf Jahre alten These, die nationalen Verfassungen seien im Rahmen der EU nur noch Teilverfassungen). 5. Der Generationenvertrag, seit knapp einem Jahrzehnt als in die Zeit erstreckter Gesellschaftsvertrag, als „andere Form“ des Gesellschaftsvertrag begriffen7, hat seine spezifische Funktion im wissenschaftlichen Generationenvertrag zwischen Lehrenden und Lernenden, Meistern und Schülern – das Buch von G. Steiner, Der Meister und seine Schüler (2003), dokumentiert dies eindrucksvoll –, zwischen „Riesen“ und „Zwergen“, die ihrerseits in seltenen Fällen auf Schultern zu „Riesen“ werden können, im Ganzen zwischen mehreren Generationen und ihrem epochenüberspringenden Geben und Nehmen. „Weimar“, d. h. seine Staatsrechtslehre, eines „Sextetts“ (die „klassischen Vier“ plus H. Triepel und E. Kaufmann, vielleicht auch um G. Holstein zu erweitern) hat in der Tiefe und Vielfalt seiner Ansätze bis heute trotz der „besten deutschen Verfassung“, dem GG, freilich nichts Gleichwertiges gefunden (Herr O. Lepsius8 wird mir wohl zustimmen). Im Übrigen eröffnet der „europäische Gesellschaftsvertrag“ neue Horizonte. Ausländische Dazu P. Häberle, Die deutsche Universität darf nicht sterben, JZ 2007, S. 183 f. P. Häberle, Ein Verfassungsrecht für künftige Generationen, FS Zacher, 1998, S. 215 ff., jetzt auch in englischer Sprache aktualisiert, in: J.C. Tremmel (Hrsg.), Handbook of Intergenerational Justice, 2006, S. 215 ff. 8 Vgl. die Aufarbeitung „Weimars“ in dem von ihm und M. Jestaedt hrsgg. Band: H. Kelsen, Verteidigung der Demokratie, 2006 (Einführung, S. VII ff.). 6 7

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Wissenschaftlergemeinschaften werden zu inländischen Gesprächspartnern. Goethes These: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene“, ist zu übernehmen: Wer keine fremden Rechtsordnungen kennt, kennt nicht die eigene! Wissenschaftliche Interviews unter Beteiligung verschiedener Nationalitäten vermögen hier viel zu leisten9. 6. „Vermachtung“ als Gegenstand der hier unternommen Kritik muss näher bestimmt werden. Sie führt tendenziell zu geschlossenen Gesellschaften, in diesen zu Monopolbildungen, statt zu Offenheit und Pluralismus – machtvolle Netzwerke tun ihr negatives Werk10. Vermachtung befördert Meinungen zu herrschenden Meinungen als „Meinung der Herrschenden“, sie schafft Hierarchien kraft Einfluss, statt rationaler Diskussion und fairer Gewichtung der Argumente. Sie verstärkt soziale Abhängigkeiten aller Art, die oft an – unbewusste – Korruption grenzen können: Abhängigkeit von Politikern, von Macht und der eigenen „Scientific community“. Darum ein allgemeines Wort zu „Macht“ und „Vermachtung“11; wir assoziieren sofort Nietzsches „Willen zur Macht“ sowie den korrumpierenden „Zugang zum Machthaber“. Gewiss kann hier keine politische bzw. Kultur- und Begriffsgeschichte, keine alltagssprachliche Aufschlüsselung dieser Worte skizziert werden (Synonyma sind: „Einfluss“, „Autorität“, „Potenz“), so reizvoll schon die sprachlichen Gemeinsamkeiten und Unterschiede wären: „Potestas“, „pouvoir“, „power“ – wobei die Gegenbegriffe viel aussagen könnten: auctoritas, libertas, Legitimität, Recht und Gerechtigkeit, Vernunft. Auch fehlt es nicht an einschlägigen Klassiktertexten: von der Soziologie Max Webers von 1922 („Macht ist jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung, den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht“) bis zu J. Burckhardts älterer These von 1905, dass die Macht „an sich böse“ sei (K. Jaspers hat sie in den 50er Jahren wiederholt), sowie G. Ritters jüngere „Dämonie der Macht“12 – ich hatte bei ihm in Freiburg 1955 Vorlesungen gehört – und P. Kollers „Facetten der Macht“ (1991). In der Staats- und Verfassungslehre behilft man sich mit dem Hinweis auf Zwecke und Ziele, in deren Interesse die staatliche Macht eingesetzt wird, etwa um des Gemeinwohls willen oder zum Schutze individueller Freiheit. Wir erinnern uns auch eines Montesquieu, der klassisch seine Gewaltenteilung mit dem 9 Z. B. J. J. G. Canotilho (E. Garcia), in: Annuario de Derecho Constitucional y Parlamentario, 1998, S. 7 ff.; P. Häberle, Conversacionés Académicas con Peter Häberle, Mexiko City, 2006. 10 Dazu aus der allgemeinen Lit.: K. E. Kahle / F. E. P. Wilms (Hrsg.), Effektivität und Effizienz durch Netzwerke, 2005; A. Waschkuhn, Regimebildung und Netzwerke, 2005. 11 S. die Lexikon-Artikel „Macht“ (M. Hättich), in: Staatslexikon, 3. Bd., 7. Aufl. 1995, Sp. 978 ff.; „Macht“, in: Ev. Staatslexikon, 1. Aufl. 1966, Sp. 1271 ff.; Art. „Macht“, in: Ev. Staatslexikon, Neuausgabe 2006, Sp. 1471 ff. 12 Aus der allgemeinen Lit.: H. Arendt, Macht und Gewalt, 1960; G. Zenkert, Die Konstitution der Macht, 2004; H. Popitz, Phänomene der Macht, 2. Aufl. 1992; J. Burckhardt, Weltgeschichtliche Betrachtungen, 1905.

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realistischen Hinweis bzw. der „ewigen Erfahrung“ begründete, jeder Mensch neige zum Missbrauch der Macht13. Vielleicht lässt sich sogar sagen, der Verfassungsstaat als Typus sei eine einzige fortwährende Anstrengung, das alte Motto „Macht geht vor Recht“ zu widerlegen, Macht zu begrenzen, z. B. in Gestalt der Grundrechte, der Gewaltenteilung, vor allem des Rechtsschutzes, des Prinzips Öffentlichkeit, der periodischen Wahlen und Abstimmungen. Doch ist der Verfassungsstaat eben auch eine Veranstaltung für Verfahren, Macht zu begründen, etwa in Gestalt der gesamten Kompetenzordnung, besonders glücklich in Föderalstaaten. „Macht“ ist also ambivalent. Sie kann Gutes, aber auch Schlechtes bewirken. In der Wirtschaft sehen wir allenthalben Vermachtungsgefahren, denen wir begegnen wollen: etwa bei der Drittwirkung der Grundrechte nicht nur nach Art. 9 Abs. 3 S. 2 GG, in der Pressefusionskontrolle im Kartellrecht und in allen Schutzvorkehrungen zu Gunsten des freien Wettbewerbs als „Entdeckungsverfahren“ (F. A. v. Hayek). Im Völkerrecht wird Macht, unvollkommen genug, eingedämmt, aber nicht verhindert (etwa durch das Verbot des Angriffskrieges), und es ist kein Zufall, dass man heute, nach dem „annus mirabilis“ 1989, von der „einzig verbliebenen Weltmacht“ USA spricht, die durch das „annus horribilis“ 2001 herausgefordert ist. Doch gibt es auch positive Beispiele, etwa die NGOs und manche Aktivitäten der UN. Wir erkennen: Staat, Gesellschaft, Wirtschaft sehen sich alle dem Machtproblem gegenüber. Wie steht es aber und also mit der Wissenschaft? Kann sie, soll sie ein sozusagen machtfreier Raum sein? Gibt es einen paradiesischen Natur- bzw. Kulturzustand wissenschaftlichen Forschens und Lehrens, der frei bleibt vom Problem der Macht? Wie können wir Wissenschaftsethik umschreiben?14 Gilt K. Jaspers: „Macht hat Legitimität nur im Dienst der Vernunft“? Sicher verdient nur der Macht, „der sie täglich rechtfertigt“ (D. Hammarskjöld). Wissenschaft lebt von ihrer Freiheit, ihrem Auftrag zur Wahrheitssuche, von ihrem Schutz gegen den Staat, aber auch dank des Staates, sie lebt in der vielzitierten, verantwortungsvoll wahrgenommenen Autonomie15. Aber Wissenschaft lebt auch von ihren Wissenschaftlern, und das sind Menschen und das heißt machtanfällige, z. T. machtorientierte, ehrgeizige Menschen. Das „Menschenbild“16 ist also mit in Betracht zu ziehen, wenn wir dem Problem der Macht in den Wissenschaften nachgehen wollen. Das Menschenbild ist „gedämpft optimistisch“ zu konzipieren. Freilich ist auch das anthropologisch „Besondere“ des Wissenschaftlers Aus der Lit.: A. Riklin, Machtteilung. Geschichte der Mischverfassung, 2005. Ein Teilaspekt bei M. Böhmer, Wissenschaft, Ethik, Recht und Politik – Die Quadratur der Gentechnik in Deutschland, EuGRZ 2005, S. 297 ff. Allgemein: C. Starck u. a. (Hrsg.), Verantwortung der Wissenschaft, 2005. 15 Aus der Lit.: H. Schulze-Fielitz, HdBVerfR, 2. Aufl. (1994), § 27; I. Pernice, in: H. Dreier (Hrsg.), Grundgesetz-Kommentar, 2. Aufl., Bd. I, 2004, Art. 5 Abs. 3; P. Häberle, Die Freiheit der Wissenschaften im Verfassungsstaat, AöR 110 (1985), S. 329 ff.; H.-H. Trute, Die Forschung zwischen grundrechtlicher Freiheit und staatlicher Institutionalisierung, 1994. 16 P. Häberle, Das Menschenbild im Verfassungsstaat, 1988, 3. Aufl. 2005. 13 14

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zu erkennen: seine „Egozentrik“, seine Leidenschaft und Besessenheit, Kompromisslosigkeit, Unbestechlichkeit – in manchem dem Künstler ähnlich. Wissenschaftler zu sein, ist auf eine Weise ein „Urberuf“, dem Bauer und Pfarrer verwandt. Eine tiefe Einsicht formuliert und normiert Art. 70 g Abs. 2 Verf. Ungarn (1949 / 2003): „Ausschließlich Wissenschaftler sind berechtigt, in Fragen wissenschaftlicher Wahrheiten zu entscheiden und den Wert von wissenschaftlichen Forschungen festzustellen“. Nicht nur in Ungarn wären Akkreditierungsagenturen und „Hochschulräte“ verfassungswidrig. Überdies sei die Forderung erhoben, dass jedenfalls der Staatsrechtslehrer Person und Werk in ethischen Fragen „konkordant“ halten muss – ein Künstler darf als Charakter „beliebig“, ja unsittlich sein und handeln, ein Verfassungsrechtler nicht. In dieser Welt der Wissenschaft, in ihren „Hallen“ gibt es freilich gleichwohl „soft power“ i.S. von J. Heye. Hier noch einige Klassiktertexte, etwa das Wort von Friedrich Schiller (Das Lied von der Glocke): „Doch mit des Geschickes Mächten / Ist kein ew’ger Bund zu flechten, / Und das Unglück schreitet schnell.“ Oder das Zitat von Molière (Die Schule der Frauen): „Abhängigkeit ist das Los der Frauen; Macht ist da, wo die Bärte sind.“ Von Victor Hugo lernen wir: „Keine Armee der Welt kann sich der Macht einer Idee widersetzen, deren Zeit gekommen ist.“ Schließlich Rabindranath Tagore: „Macht können wir durch Wissen erlangen, aber zur Vollkommenheit gelangen wir nur durch die Liebe“ – eine Anspielung wohl auf den Satz: „Wissenschaft selbst ist Macht“ (F. Bacon). Pessimistisch stimmt Goethe („Man hat Gewalt, so hat man Recht“, in: Faust II, V, Palast), und selbst F. Schillers Optimismus verfliegt gelegentlich („Im Leben gilt der Stärke Recht“, in: Die Weltweisen). Dem hier behandelten Problem ist also anthropologisch bzw. kulturanthropologisch nachzugehen (Verdis Oper „Macht des Schicksals“ zeigt die Präsenz des Themas auch in der Kunst), andernfalls geriete man in Idealisierungen, die an Natur und Kultur des Menschen vorbeigingen und in einen demotivierenden Pessimismus fielen. Die Entwicklungen des wissenschaftlichen Prozesses können das Machtproblem nicht ausblenden oder von vornherein perhorrezieren. Freilich sollten wir auch nicht in die gegenteilige Sicht verfallen: alles nur noch unter dem überkritischen Blick einer traurigen Machtanalyse zu sehen. Damit deutet sich eine mittlere Linie an. Die wissenschaftliche Welt hat, da von Menschen für Menschen gestaltet, wie andere Bereiche sozialen Zusammenlebens, das Problem der Macht als solches zu erkennen, nüchtern zu analysieren und darüber nachzudenken, wie Missbrauch von Macht (etwa dank Ethik-Kommissionen und vieler pluralistischer Verfahrensrechte, z. B. durch Senatskommissionen für wissenschaftliches Fehlverhalten) verhindert werden kann. Das Wissenschaftsrecht, vor allem das Hochschulrecht, gibt ja durchaus Kompetenzen zur Machtausübung (etwa in Gestalt von Prüfungen, Verteilung von finanziellen Ressourcen, etwa Stipendien etc.), aber es ist auch ein Normenensemble zur Begrenzung der Macht. (In der Schweiz müssen sich – wie die Richter – die Professoren der periodischen Wiederwahl stellen!). Vielleicht ist die Welt der Wissenschaft nur ein spezieller, besonders sensibler Ausschnitt aus der Welt der Gesellschaft und des Menschen

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insgesamt. Die Akteure freilich, d. h. wir, vor allem natürlich die Staatsrechtslehrer, sind nur etwas „ganz Besonderes“, – wie wir selbst glauben. Wir bewohnen ein „Haus mit vielen Wohnungen“, aber auch für uns (als Emeriti) – und die Politiker erst recht – gilt die Einsicht von Talleyrand: „Kein Abschied auf der Welt fällt schwerer, als der Abschied von der Macht“. Manche Staatsrechtslehrer wollen gar nicht wahrhaben, dass sie Macht ausüben (etwa in Prüfungen). Nicht nur in der Politik geht es auch um Machterwerb. Leicht und schwer macht es uns die Systemtheorie eines Parsons, der Macht versteht als Fähigkeit eines Systems, Ressourcen zur Zielerreichung zu mobilisieren – die Menschen verschwinden (wie später bei N. Luhmann). 7. Die Einschränkung: Der Theorierahmen, wie auch die Auswahl der folgenden Beispiele ist begrenzt. Zum einen können andere Teildisziplinen der Rechtswissenschaften wie das Zivil- und Strafrecht wegen meiner fehlenden Einblicke nicht analysiert werden. Speziell die „Europawissenschaft“ suchte ich 2000 in einer Denkschrift für die deutsch-ungarische Universität in Budapest wissenschaftlich und pädagogisch zu strukturieren17. Misslich ist auch die Ausblendung der Völkerrechtswissenschaft18. (Sie fehlt auch im Programm dieses großen Würzburger Kolloquiums.) Sie, die heute unter dem Stichwort ihrer „Konstitutionalisierung“ zu neuen Ufern aufbrechen muss und kann, sie, die derzeit wohl die interessanteste rechtswissenschaftliche Teildisziplin ist, sofern man sie als Dienst am „konstitutionellen Menschheitsrecht“ versteht, sie, die die Chance hat, eine neue „Schule von Salamanca“ zu entwerfen, sie, die sich dem Problem der Macht vielleicht am brutalsten gegenübersieht, kann hier ebensowenig miterörtert werden, wie – rechtsvergleichend – andere nationale Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat. Wenn also im Folgenden Gefährdungen, Defizite, Missbrauch für Deutschland unverblümt beim Namen genannt werden, so muss präsent bleiben, dass die anderen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, in die ich einen gewissen Einblick habe, etwa die Schweiz, Italien, Spanien und Portugal, neuerdings Peru, Mexiko und Brasilien, wohl nicht „besser“ sind als die deutschen. Nur verläuft dort alles in der milderen Kultur der südländischen Menschenart (in Spanien etwa konkurrieren drei Staatsrechtslehrertagungen bzw. Schulen heftig miteinander: ihre Protagonisten sind Rubio Llorente, Lopez-Guerra und F. BalaguerCallejon). Hier einige Beispiele: In kleineren Ländern sind die Vermachtungsprozesse geringer, die „kleine“ Schweiz mit ihrem starken Föderalismus und ihrer schwachen Bundesstadt Bern kennt sie kaum (übrigens erhält in der Schweiz ein amtierender Politiker niemals einen Ehrendoktor, im Gegensatz zu unserem Skandalfall Bamberg in den 80er Jahren: Verleihung des Dr. h.c. an den amtierenden bayeri17 Dazu mein Beitrag in: FS Druey, 2002, S. 115 ff.; abgedruckt auch in JöR 53 (2005), S. 354 ff. Jetzt: G. F. Schuppert u. a. (Hrsg.), Europawissenschaft, 2005. 18 Aus der Lit.: P. Kunig, Macht und Recht in den internationalen Beziehungen, VRÜ 38 (2005), S. 105 ff.

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schen Wirtschaftsminister)19. In Österreich ist die Hauptstadt Wien samt H. Kelsen wohl „gefährlicher“. Immerhin konnte sich gleichwohl die „Innsbrucker Schule“ etablieren, mit Namen wie P. Pernthaler, H. R. Klecatsky und Jüngeren. In Italien scheint „Rom“ prima vista zu dominieren (große Namen wie A. Cervati, A. D’Atena, A. Pace, P. Ridola), doch erweisen sich die zahlreichen Kulturlandschaften und Städtebilder Italiens, was die Universitäten und ihre „Schulen“ sowie die großen Verlage angeht, als höchst (außen-)pluralistisch. Man denke an die „Schule“ von Pisa (A. Pizzorusso), an Turin (G. Zagrebelsky) oder an Bologna (G. de Vergottini). In Spanien gelingt es derzeit der neuen Schule von Granada (F. Balaguer) im Verfassungsrecht mit dem Zentralismus Hochkastiliens, also Madrid, zu konkurrieren, auch was Verlage und Publikationsorgane, etwa Fachzeitschriften angeht. In Portugal gibt es eine Balance bzw. Konkurrenz zwischen den beiden Universitäten in Lissabon und dem altehrwürdigen Coimbra. In Lateinamerika blühen in Sachen Verfassungsrechtslehren buchstäblich „Tausend Blumen“: von Curitiba bis Porto Alegre (W. Sarlet), Brasilia (Mendes) und Fortalezza (P. Bonavides), von Lima (G. Belaunde / C. Landa) bis Mexiko (H. Fix-Zamudio und D. Valadés). Freilich gibt es auch hier überall offene und verdeckte Kämpfe, vor allem um die Lehrstühle. Auch parteipolitische Zugehörigkeiten spielen eine Rolle. Ist es ein Trost, dass in Deutschland Staatsrechtslehrer in der Politik fast niemals „fortune“ haben20? Anderes gilt für die Schweiz, wie wir an den Lebensleistungen eines R. Rhinow und J.-F. Aubert sehen. Im Ganzen darf man heute eine völkerrechtliche Maxime (Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut) für den Verfassungsstaat fruchtbar machen. Die dort formalisierte „Rechtsquelle“ der „Lehrmeinungen der fähigsten Völkerrechtslehrer der verschiedenen Nationen“ gilt für die Arbeit am Verfassungsstaat entsprechend für die fähigsten Verfassungsrechtler21. II. Eine fragmentarische Bestandsaufnahme – Sieben Problemfelder machtpolitischer Gefahren für den freien Wissenschaftsprozess Sieben heikle, besonders machtanfällige Bereiche seien herausgegriffen. Sie lassen sich unterscheiden, aber nicht trennen; in ihrem Zusammenwirken können sie oft wissenschaftliche Leistungen verdunkeln, menschliche Biographien negativ beeinflussen und die im Ersten Teil skizzierten Maximen verletzen: zum Schaden wissenschaftlicher Freiheit und politischer Offenheit des Verfassungsstaates, zum 19 S. auch die Glosse von Prof. Dr.Dr.h.c. (Rostock) I. v. Münch: „Runter mit den Ehrendoktorhüten“, FAZ vom 14. Juni 2005, S. 40 (aus Anlass der Göttinger Verleihung des Dr.h.c. an den damals amtierenden Bundeskanzler G. Schröder). 20 Zu den „Akteuren der Rechtspolitik“ wissenschaftlich aufschlussreich: P. Kirchhof, ZRP-Rechtsgespräch 2006, S. 269 f. Anregende Lit. auch bei I. v. Münch, Wissenschaftler und Politiker, Der Staat 45 (2006), S. 83 ff. 21 Dazu mein Festvortrag in Lissabon: Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus, EuGRZ 2006, S. 533 ff.

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Nachteil von Wahrheitssuche sowie dem Gerechtigkeits- und Gemeinwohlziel: 1) Die deutsche Staatsrechtslehrervereinigung, die in ihren Jahrestagungen freilich seit kurzem tendenziell offener geworden ist. 2) Das irrational bleibende Berufungsverfahren. 3) Die Monopolbildungen im Verlagswesen. 4) Die „parteiischen“ Herausgeberschaften wichtiger Publikationsorgane. 5) Die Verzerrungen und Fehlentwicklungen im reichen Kranz der Literaturgattungen (Stichwort: gigantische Handbuchinflation). 6) Die nahezu beliebige Gutachtenpraxis. 7) Die „nacheilende“ Unterwerfung unter das BVerfG, was zu Erscheinungen modernen Postglossatorentums führt (Klammerzusatz: Eine heikle Bemerkung: bedarf es nicht einer Maulkorbregelung für amtierende BVerfG-Richter? Eine solche schlug mir am 26. Januar 2007 in Rom ein italienischer Kollege am Rande unserer Tagung zum 50. Jubiläum der Römischen Verträge vor. Er war ganz aufgebracht darüber, dass deutsche BVerfG-Richter, vor allem Präsidenten, sich immer wieder zu verfassungspolitischen Fragen äußerten, etwa zur Neugliederung des Bundesgebietes, und über alle wissenschaftlichen „Märkte“ ziehen, um Referate zu halten (auch vor Verbänden)). Ich selbst habe schon Ende 2005 in einem Berliner Referat (EuGRZ 2005, S. 685 (688)) gerügt, dass BVerfG-Präsidenten sogar ein Wiederaufgreifen des NPD-Verbotsverfahrens „anregten“. Hier wird Macht kumuliert durch gesteigerte Öffentlichkeit. All dies wäre z. Zt. eines E. Friesenhahn, G. Müller, T. Ritterspach nie vorgekommen. Richterliche Zurückhaltung war ihnen ein ethisches Gebot. Diese „Mängel- und Schmerzliste“ sei hoffentlich ohne persönlich Blessuren abgehandelt. Sie ist auch ein Stück Wissenschaftsfreiheit aus der Sicht der Wissenschaftsoziologie i.S. von A. Blankenagel22. 1. Die dank ihrer hohen Qualität in Europa wohl einzigartige deutsche Staatsrechtslehrervereinigung – des Jubilars Lieblingsthema, mir eine „Heimat“ – war bis weit in die 80er Jahre hinein ein „Marktplatz“ für Machtvorgänge, z. T. eine Oligarchie mit aristokratischen Zügen (bis 1984 spiegelte sich dies auch im „Damenprogramm“). Das zeigte sich in der Auswahl der Referenten, z. T. wurden manche Begabungen übersehen oder kamen erst spät zum Zuge. Wurde ein Referent zu hart kritisiert, kam es zu persönlichem Traumata (mindestens in zwei Fällen, ich denke an zwei verstorbene Kollegen). Besonders klar lassen sich die Machtstrukturen bis zur Reform durch das neben G. F. Schuppert wesentlich dem Jubilar S.-F. zu verdankende „St. Galler Modell“ von 2002 in der Diskussion nachweisen23, zuerst hatte er sich durch sein Wiener Referat qualifiziert24. Privatdozenten kamen früher, wenn überhaupt, dann erst auf den „hinteren Plätzen“ zu Wort. Eröffnet wurden die Diskussionen jahrzehntelang stets durch dieselben Mitglieder, freilich meist mit großen Namen. Ich nenne sie nicht, zumal auch die Verstorbenen bis heute jedermann bekannt sind. Seit meiner Vorstandszeit (1984 – 1986) ist es geglückt, auch zunächst regelmäßig vergessenen Kollegen als Referenten, je einem 22 23 24

AöR 105 (1980), S. 35 ff. VVDStRL 62 (2003), S. 85 ff., 110. Kontrolle der Verwaltung durch Rechnungshöfe, VVDStRL 55 (1996), S. 231 ff.

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pro Tagung, eine Chance zu geben (diese Tradition ist leider trotz meiner Bitten in den letzten 18 Jahren abgebrochen). Freilich findet sich noch im Feuilleton der FAZ vom 10. August 2006, S. 36 die süffisante Bemerkung, der Journalist R. Leicht hätte „liberaler Oppositionsführer“ in der Vereinigung der Staatsrechtslehrer werden können. Bis heute denkt der jeweilige Vorstand ganz bewusst nicht an „bloße Privatdozenten“ und C3-Professoren als mögliche Referenten. Zum Glück ist heute die Vereinigung aber insgesamt auf einem guten Weg zur offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten zu werden, vor allem in den Aussprachen, wo es keine „Päpste“, „Kardinäle“ und „Bischöfe“ mehr gibt (ein Bon Mot von D. Thürer)25. Der Jubilar Schulze-Fielitz hat sich durch seine Voten auf dem wohl gefährlichsten Forum der Staatsrechtslehrertagung immer wieder „empfohlen“26. 2. Schon vor vielen Jahren wagte ich die These (freilich erst nach 6 eigenen Rufen), das deutsche Berufungsverfahren in den juristischen Fakultäten sei das „irrationalste Verwaltungsverfahren der Welt“ (übrigens auch im Ausland: aus Italien ist mir bekannt geworden, dass ein bedeutender christdemokratischer Staatsrechtslehrer ausnahmsweise zum Telefon griff, um bei einer Berufung einem erstklassigen Jüngeren zu helfen, um „Schlimmeres abzuwenden“. Ich habe dies präzise 4mal getan – kaum mit schlechtem Gewissen, auch im Interesse von Kollegen). Daran hat sich bis heute nichts geändert (übrigens war es in den 80er Jahren sehr schwer, einen sog. „68er“ zu habilitieren). Manche „Seilschaften“ sind offenkundig, etwa in Bezug auf Köln von Herrn Schulze-Fielitz 1999 / 2002 wagemutig beim Namen genannt27; andere nenne ich selbst: in den 50er Jahren Tübingen / Marburg, heute Bayreuth / München und umgekehrt sowie Augsburg / Freiburg – die Qualität der jeweils Berufenen steht außer Frage, aber es gibt bekanntlich viele gute Staatsrechtslehrer, vor allem in der jüngeren Generation. Dass man nach Tübingen und München, auch Regensburg, nur unter ganz bestimmten Voraussetzungen einen Ruf erhält, ist ein offenes Geheimnis. Mitunter muss der Wissenschaftsminister intervenieren, um Schlimmeres zu verhüten, so 2006 in München, oder um Gutes herzustellen, so in Bezug auf P. Landau in Regensburg in den 70er Jahren. „Schulen“ (am wenigsten wohl im Verwaltungsrecht), Freundschaften, parteipolitische Sympathien, „allzu Menschliches“ spielen eine große Rolle (Es gibt auch eine vierfache, z. T. indirekte Seilschaft von Bielefeld nach Karlsruhe). Manche Juristenfakultät folgt nicht dem Gebot des wissenschaftlichen (Binnen-)Pluralismus und der Offenheit (auch Bremen nicht). Vieles bleibt ganz und gar irrational. Ich könnte Ihnen groteske Berufungslisten in Göttingen Mitte der 80er Jahre nennen. Bei Universitätsneugründungen bot sich zunächst oft ein positives Bild. Genannt seien das Bochum der frühen Jahre, Bayreuth früher und heute, die Hum25 D. Thürer, VVDStRL 58 (1999), S. 81 (Aussprache). Weitere Lit.: P. Häberle, Die geschlossene (?) Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer – ihr offenes Diskussionsforum, FS Tsatsos, 2003, S. 164 ff. 26 Vgl. etwa VVDStRL 57 (1998), S. 284 – 286; 58 (1999), S. 238 f.; 60 (2001), S. 618 f. 27 Vgl. auch H. Schulze-Fielitz, Grundsatzkontroversen in der deutschen Staatsrechtslehre nach 50 Jahren, in: Die Verwaltung 32 (1999), S. 241 ff.

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boldt-Universität in Berlin in ihrer großen Anfangszeit, dank H. Hofmann, auch H. Meyer. Der übermächtige Einfluss der Max-Planck-Institute (sichtbar auch in einer über manche vergangene Jahrzehnte unausgewogenen, mindestens „lückenhaften“ Rezensionspolitik in der ZaöRV, auch in den Gründerjahren des „Staates“) sowie der Schmitt-Schule ist bekannt, früher wie heute. 3. Monopolbildungen im Verlagswesen28 sind ebenso unübersehbar wie schädlich. Der sog. führende Großverlag Beck29 betrachtet das wissenschaftliche Buch primär als Ware, als merkantiles Gut. Er setzt seine zahllosen Zeitschriften über das Rezensionswesen gnadenlos und gezielt zur raschen Vermarktung ein, lehnt z. B. Sammelbände seines vielleicht größten staatsrechtlichen Autors G. Dürig ab, so dass wir, W. Schmitt Glaeser, H. Maurer und ich 1984 zu Duncker & Humblot gehen mussten – letztlich gern. Dieses Haus gehört ebenso wie Mohr-Siebeck und der Berliner Wissenschaftsverlag zu den Verlagen, die offen Pluralität pflegen, gute Dissertationen annehmen, auch Monographien mit geringen Verkaufsperspektiven fördern. Die kultivierten Verlegerpersönlichkeiten wie die Herren Simon, G. Siebeck30 und V. Schwarz sprechen bescheiden von „Mischkalkulation“. 4. Herausgeberschaften von Fachzeitschriften verführen nicht selten zu Machtmissbrauch. Das beginnt bei den Annahme oder Nichtannahme von Beiträgen ganz bestimmter Autoren und endet bei der gezielten Vergabe von Rezensionen (der vom Jubilar S.-F. verfasste mutige Aufsatz: „Was macht die Qualität öffentlichrechtlicher Forschung aus?“, wäre wohl kaum in einer anderen Zeitschrift als dem JöR (50 (2002), S. 1 ff.) erschienen). Mir waren 37 Jahre lang die Buchanzeigen im AöR anvertraut. Ich orientierte mich bewusst an den Maximen des Pluralismus und der Generationenvielfalt, übersprang die „Schulen“ bzw. Gräben (gleiches gilt für das JöR31). Besonders pervertiert ist es, dass mitunter Autoren und potenzielle Rezensenten sich in einer „unheiligen Allianz“ an die Herausgeber wenden. Mit der Ablehnung solcher Ansinnen habe ich mir mindestens einen Todfeind gemacht. Im Rezensionswesen darf m. E. eine Zeitschrift kein „Tendenzbetrieb“ sein. Die Zeitschrift „Der Staat“ war in ihrem Programm, ihren Herausgebern und in ihrer Praxis der ersten Jahrzehnte eine bewusste Kampf-Zeitschrift32. Ich könnte dies belegen (auch in „Die Verwaltung“ gibt es noch in den 70er Jahren Verwerfungen, z. B. unterdrückte ein Mitherausgeber eine durch E. Forsthoff selbst erbetene Rezension). Heute sehen wir im „Staat“ eine glückliche personelle und inhaltliche Öffnung, nicht mehr den „Staat über alles“. Da es vielfach um Verstorbene geht, 28 Aufschlussreich im Blick auf den Verlag de Gruyter: H. Müller, Wissenschaft und Macht um 1900, 2005. 29 Eine positive Sicht wohl bei P. Lerche, Die Funktion des juristischen Verlegers in der Rechtsordnung, NJW 1985, S. 1604 ff. 30 Von ihm: Am Rande vermerkt, 2006. 31 Dazu mein Vorwort in: JöR 50 (2002), S. V – VII. 32 Zu all dem aus der Lit.: F. Günther, Denken vom Staat her, 2004. Bemerkenswert auch G. Roellecke, Eine Institution im Meer des Ungewissen, FAZ vom 5. Januar 2000, S. 9.

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versage ich mir weitere negative Beispiele. Rezensierte „Verfassungsrechtswissenschaft“33 hat große Ideale, auf sie sei verwiesen. Speziell die von K. Hesse gegründete „Freiburger Schule“ (Hesse habe ich das Wesentliche zu verdanken), wurde erstmals durch R. Herzog so genannt. 5. Wissenschaft, insonderheit die deutsche Staatsrechtslehre, lebt aus der Pluralität ihrer Literaturgattungen. Die Monographie bleibt m. E. das „Haus“, das am ersten Pionierliteratur erlaubt (auch für etablierte Wissenschaftler)34. Zu erwähnen sind Fälle, in denen vorausgegangene Monographien oder Grundsatzbeiträge nach einigen Jahren Staatsrechtslehrertagungen thematisch inspiriert haben: so im Falle der Maßnahmegesetze, der Gedächtnisschriftenbeitrag von E. Forsthoff (1955) oder im Blick auf die jeweils ersten Themen der Tagungen in Köln, Halle und Frankfurt, um einmal „selbstreferenziell“ zu sein. Was sehen wir aber „unter“ dem Grundgesetz? Neben zahllosen GG-Kommentaren einen wachsenden Markt an erstickender, kiloschwerer Handbuchliteratur – man kann sie gar nicht mehr in der „Hand“ halten, sie ist oft eher einebnende Kompilation denn kühne Innovation. Die mittlere Generation heute verausgabt sich in Kommentar- und Handbuchbeiträgen, die ältere in gegenseitigen Festschriften (Die Würzburger Festschrift Raum und Recht, 2002, ist natürlich von dieser Kritik ausgenommen). Die Handbücher verstopfen und verdecken buchstäblich die Vielfalt der ursprünglichen Informationsquellen. Zitiert wird nicht mehr das einst neue Paradigma, sondern spätere Sekundär-, ja Tertiärliteratur (jede Generation arbeitet leider primär fixiert auf die eigene Generation, darum sind maßvolle Selbstzitate wohl zulässig). Allenfalls Sammelfußnoten dokumentieren für den Kenner den Werdegang einer „wissenschaftlichen Erfindung“. Eigentlich darf ich diese Kritik nicht üben, da ich mich selbst zur Mitarbeit an mindestens zwei neuen Handbüchern habe überreden lassen. Hier einige anonyme jüngste Beispiele für Nachlässigkeiten im Zitierwesen35 in Handbüchern. Die Matadore in Sachen „rechtliche und reale Freiheit“ und Ausgestaltungsbedürftigkeit der Grundrechte aus den 60er Jahren werden nicht mehr genannt. Das einst neue Paradigma „Grundrechtsschutz durch Verfahren“ (1971) wird schlicht „vergessen“, auch mein Kampf für das „Religionsverfassungsrecht“ seit 1976. Man mag sich mit Herrn H. Dreiers These trösten, Plagiate seien die höchste Form der Anerkennung. Dies hilft aber einem Privatdozenten gerade nicht. Im Übrigen ist an die Verletzung des „wissenschaftlichen Generationenvertrags“ zu erinnern, wenn die jetzige Generation nicht mehr die ältere zitiert und die Ursprungsleistung nicht als solche anerkennt. Offenbar ist die GG-Wissenschaft in die Zeit der Postglossatoren eingetreten, dinosaurierhafte Großbände decken vieles zu, Lesefreude will sich kaum mehr einstellen. Es bleibt nur die Hoffnung, dass individuelle Lebensleistungen später dann wieder von der Wissenschaftsgeschichte Vgl. meinen gleichnamigen Band von 1982. Ein Lob der Monographie jetzt auch bei R. Zimmermann, Juristische Bücher des Jahres, NJW 2006, S. 3328 ff. 35 Vgl. meinen Beitrag: Verantwortung und Wahrheitsliebe im verfassungsjuristischem Zitierwesen, FS Schmitt Glaeser, 2003, S. 395 ff. 33 34

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anerkannt werden (in der Kunst gibt es viele Beispiele, man denke an die späte Gustav-Mahler-Rezeption). Das Ausland hat übrigens ein sensibles Gespür für „Neues“. Deutsche Sekundärliteratur vor allem in Kommentaren und Handbüchern wird einfach nicht zur Kenntnis genommen (der Dreier-Kommentar bleibt wegen seiner verfassungsvergleichenden Anlage die positive Ausnahme). Auch das lässt sich an Übersetzungen und im Zitierwesen belegen. Die Festschrift als Literaturgattung36 kann ich angesichts eigener Befangenheit in einem guten Falle nicht behandeln. H. Goerlich hat dazu jüngst Vortreffliches gesagt37. Der Jubilar – der selbst wohl alle Literaturgattungen „bedient“ bzw. erprobt hat, Ausnahme ist der Nachruf – hat wie immer das Maßgebliche und Endgültige beigesteuert38. Die Arbeit an und in Fußnoten (heute oft durch Hiwis bzw. das Internet und „Google“ verfälscht, weil nicht mehr gewertet) wäre ein eigenes Thema39. 6. Das Gutachtenwesen ist eine besondere Crux. Wenn irgendwo, dann wird hier politische und ökonomische Macht ausgeübt. Es gibt angesehene Kollegen, die immer für dieselben Auftraggeber, vor allem politische Parteien, Gutachten schreiben. Besonderes fragwürdig sind unveröffentlichte Gutachten. Es gibt in den 60er Jahren einen renommierten verstorbenen Kollegen, der vor dem BVerfG das genaue Gegenteil vor dem vortrug, was er selbst zuvor wissenschaftlich geschrieben hatte (das BVerfG durchschaute dies, auch in einem Falle unter Präsident Zeidler in den 80er Jahren). Ich fürchte vor allem die gewiss unbewusste Korruption. Mehr mag ich dazu nicht sagen. Schon vor Jahrzehnten habe ich mich mit meiner Philippika gegen Gutachten höchst unbeliebt gemacht. Der einzige positive Wert, den ich in Gutachten erblicken kann, liegt in ihrer Chance, den Wissenschaftler früh an Fälle aus der Praxis heranzuführen. Im Übrigen bleibt es dabei: „Recht für Geld“, „Geld für Recht“ tut der Wissenschaft nicht gut, jedenfalls aus meiner altmodischen Sicht nicht. Immer wieder müssen wir uns fragen, ob die Rechtswissenschaft „käuflich“ ist. Plädoyers vor dem BVerfG sind hingegen hoher Respekt zu zollen. P. Lerche hat jüngst in seinem Bayreuther Vortrag (2006) zur „Resonanz der Verfassungsrechtswissenschaft“ deren drei Aufgaben im Verhältnis zum BVerfG genannt: „Voraus-Denken, Nach-Denken und Hinaus-Denken“. Die Selbstunterwerfung der deutschen Staatsrechtslehre unter das BVerfG hat B. Schlink früh zum Thema gemacht40. Ihm ist – differenziert – zuzustimmen, freilich 36 Dazu P. Häberle, Festschriften im Kraftfeld ihrer Adressaten, AöR 105 (1980), S. 652 ff. 37 H. Goerlich, Verfassungsrecht – Verfassungsgeschichte – Verfassungspolitik. Gängige Inszenierungen einer Wissenschaft und ihre Ebenen, in: Comparativ 16 (2006), S. 171 ff. 38 Vgl. seinen Aufsatz in: DVBl. 2000, S. 1260 ff.: Festschriften im Dienst der Wissenschaft; s. auch ders., Wissenschaftliche Publikationen ehrenhalber, in: Die Verwaltung 29 (1996), S. 565 ff. – Benachbart sind weitere Forschungsthemen des Jubilars: H. Schulze-Fielitz, Zwanzig Jahre „Zeitschrift für Gesetzgebung“ als Seismograph der Gesetzgebungslehre in Deutschland, ZG 21 (2006), S. 209 ff. 39 Zu Fußnoten: P. Häberle / A. Blankenagel, Fußnoten als Instrument der Rechts-Wissenschaft, Rechtstheorie 19 (1988), S. 116 ff.

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nach folgender Maßgabe: Jede Kritik als „kommentierte Verfassungsrechtsprechung“ (1979) muss behutsam sein und darf die ganz außerordentlichen Leistungen des BVerfG nicht verdecken. Die Verfassungsrechtslehre sollte aber ihren wissenschaftlichen Selbststand behaupten. Mein großer akademischer Lehrer K. Hesse sagte mir einmal, vor schwierigen Fällen suche er gelegentlich in der Karlsruher Bibliothek nach Auskunft und Rat, finde aber selten etwas, um so mehr aber Kritik ex post (ähnlich äußerte sich einmal Herr D. Grimm). In der Tat: Die Aufgabe „wissenschaftlicher Vorratspolitik“ (1978), auch für das BVerfG, wird von unserer Seite nicht konsequent genug wahrgenommen. Die Wissenschaft sollte „Vorleistungen“ erbringen – trotz des berühmten Hegel-Zitats von der Eule der Minerva, die erst in der Dämmerung ihren Flug beginne (auch der Jubilar liebt es)41. Wir denken lieber „nach“, statt „voraus“ und sind nicht genügend wagemutig. Ein Weg für die Erfüllung dieser Forderung ist die Verfassungsvergleichung als Kulturvergleichung nach dem Programm von 1982 bzw. 1989. Freilich muss sich das BVerfG seinerseits seit langem sagen lassen, dass seine eigene Zitierpraxis auch nicht immer den Anforderungen von Offenheit und Pluralismus bzw. der Auswertung der Vielfalt der Literaturgattungen entspricht; freilich vermag seine große Zeitnot eine negative Rolle zu spielen. Allenfalls in Sondervoten wird eigene, neue und „abweichende“ Literatur zitiert. H. H. Rupp hat schon früh die Zitierpraxis des BVerfG gerügt. Vorbildlich war auch hier K. Hesse: Er hat als Verfassungsrichter bzw. Berichterstatter gerade nicht seine eigenen Schüler und Freunde zitiert, obwohl diese vielleicht Einschlägiges verfasst hatten. Schon gar nicht hat er sich selbst zitiert oder sich zitieren lassen (übrigens praktizierte K. Hesse auch stets eine idealpluralistische Berufungspolitik in Freiburg, es wurde ihm nicht gedankt). Er war ein Staatsrechtslehrer, der seine große Autorität nie als Macht einsetzte42. Es gibt auch ganz andere Beispiele! (So erkannte er spät eine Anhäufung von Machtstrukturen vor Ort: Schmittismus, Katholizismus, SPD und eine von G. Leibholz lange verhinderte Wahl zum BVerfG-Richter durch die SPD). Doch nun genug der Kritik. Eigentlich darf man sie auf einem Festkolloquium gar nicht äußern. Der Jubilar liebt freilich als „68er“ die Kritik ganz spezifisch, vor allem an Fremden und von Freunden, er sagt dies jedenfalls immer wieder. Dies hat mich heute ermutigt. Die Verfassungsrechtslehre als Wissenschaft lebt von maßvoller Kritik. Da ich als Emeritus keine Macht mehr habe, kann ich all dies auch „ungeschützt“ vortragen. Im Übrigen bin ich auf Ihre Nachsicht angewiesen. Eines sei noch festgehalten: Als deutscher Staatsrechtslehrer ist man erst 40 B. Schlink, Die Entthronung der Staatsrechtswissenschaft durch die Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Der Staat 28 (1989), S. 161 ff.; jetzt ders., in: Merkur 2006, S. 1125 ff.: Abschied von der Dogmatik, sowie die Abhandlung: Abschied von der Dogmatik, JZ 2007, S. 157 ff. 41 H. Schulze-Fielitz, VVDStRL 57 (1998), S. 284. 42 Zu ihm: P. Häberle, AöR 130 (2005), S. 289 ff.; ZevKR 50 (2005), S. 569 ff.; ZÖR 60 (2005), S. 279 f. sowie H. Goerlich, SächsVerwBl. 2005, S. 223 ff.; zuletzt: P. Lerche und E. Benda in JöR 55 (2007), S. 455 ff. bw. S. 509 ff.

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dann „etabliert“, wenn man erstens ein Ordinariat ergattert hat, zweitens ein Referat halten durfte und drittens mindestens eine Zeitschrift, einen Großkommentar oder ein Handbuch mit herausgibt. Ist man sogar einmal im Vorstand der VDStRL gewesen, und sei es auch nur als „Kassier“, so ist das Glück vollkommen! Ausblick und Schluss Mein Thema ist in den letzten Jahren zum persönlichen Wunsch unseres Jubilars gediehen, ich hätte sonst keinen Beitrag mehr geschrieben. Es soll seiner wissenschaftlichen Ehre dienen, wie das ganze Fest-Kolloquium hier in Würzburg. Ob er für die geschilderten Vermachtungsprozesse noch so sensibel ist wie früher, weiss ich nicht, denn er hat es ja dank seines Könnens weit gebracht43. Seine Prägung als Alt-68er führt zu eigenen Einfärbungen, die seine Frau und seine drei von mir präzise, Jahr für Jahr (im Rhythmus der wissenschaftlichen Stationen) vorausgesagten Söhne ausgleichen. Mein Thema stelle ich in großer Beklommenheit zur Diskussion. Verletzen wollte ich niemanden, doch geht es ja um Wahrhaftigkeit. Das Thema wird wohl immer ebenso aktuell wie schmerzlich bleiben, weil der Mensch eben nach einem Dictum von I. Kant „aus krummem Holz“ geschnitzt ist. Bei all dem bleibt die Berufung zum einsamen und freien Wissenschaftler neben der zum Künstler wohl die schönste Gestalt, die uns Sterblichen möglich ist. Professor und „Profession“ gehören zusammen. Es gibt eine – europäische – Gelehrtenrepublik. Unser Jubilar H. Schulze-Fielitz hat dies seit langem bewahrheitet. Möge es ihm auch inskünftig gelingen; auch ihm ist Rechtswissenschaft „Lebensform“44.

43 Vgl. zuletzt den ihn zitierenden Bericht in der FAZ über die Jenenser Tagung zum Thema Menschenwürde: FAZ vom 5. Januar 2007, S. 34. 44 Dazu meine Bayreuther Abschiedsvorlesung: Rechtswissenschaften als Lebensform, JöR 52 (2004), S. 155 ff.; in diesem Band: S. 275 ff.

Die deutsche Universität darf nicht sterben Ein Thesenpapier aus der Provinz* 1. Die deutsche Universität beziehungsweise ihre große Tradition seit W. von Humboldt hat zwei Weltkriege, zwei Diktaturen und sogar die 68er Revolution überstanden (letztere mit Hilfe des BVerfG und des Bundes „Freiheit der Wissenschaft“). Sie ist ein Kernstück des Kulturverfassungsrechts der deutschen Länder, Ausdruck ihrer verantwortungsvollen Kulturhoheit. 2. Ausgerechnet heute befindet sie sich jedoch in ihrer vielleicht schwersten – vor allem hausgemachten – Krise, wie wohl sonst in keinem anderen europäischen Land. Geschwätzige Sonntagsreden zur „Identität“ der deutschen Universität können darüber nicht hinwegtäuschen. 3. Drei Herausforderungen gefährden sie: – die Europäisierung und Internationalisierung, die freilich auch Chancen bietet, speziell in der Jurisprudenz etwa den „europäischen Juristen“ im Rahmen einer offenen Bildungs- und Wissensgesellschaft – das unbarmherzige Vordringen des ökonomischen Zeitgeistes in fast allen Lebensbereichen (statt uneigennütziger Wahrheitssuche augenblicksorientiertes Effizienzdenken und Nützlichkeitswahn) – die Überbetonung der Natur- bzw. Ingenieurwissenschaften auf Kosten der Geisteswissenschaften, die doch alle letztlich gemeinsam einem menschenwürdigen Dasein verpflichtet sind.

4. Eine besonders gefährliche Entwicklung stellt die sog. „Exzellenzinitiative“ des Bundes und der Länder seit 2005 dar. Ihr vollmundiges Versprechen ist es, sog. Eliteuniversitäten zu schaffen (1,9 Milliarden Euro über vier Jahre verteilt). Zu loben ist nur ihre Ferne gegenüber parteipolitischem Einfluss. Ihre Gefahren liegen aber in der Überbetonung der Naturwissenschaften, der damit verbundenen Geringschätzung der Geisteswissenschaften und der Verdrängung sog. Orchideenfächer wie z. B. der Byzantinistik oder des griechischen Rechts. Fragwürdig sind die ad hoc zusammengezimmerten Projektskizzen mit eng geführten Projektbindungen, die selbstzweckhaften Netzwerke und anmaßenden „Zukunftskonzepte“, denen weder ein neuer Aristoteles noch „Google“ gerecht werden könnten. Ostdeutschland gerät in den Runden des Exzellenzwettbewerbs * Erschienen in: JZ 62 (2007), S. 183 f.

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in ein ungerechtes Licht. Der Glaubenssatz der Drittmittelwerbung, bei dem geisteswissenschaftliche Fächer naturgemäß schlechte Chancen haben, markiert darüber hinaus eine besonders unselige Entwicklung. Die Einrichtung universitätsferner Kontroll- und Akkreditierungsbehörden sowie die wachsende Übermacht der Universitätsleitungen auf Kosten der Fakultäten sind ein Verstoß gegen die Freiheit von Forschung und Lehre gemäß Art. 5 Abs. 3 GG – wie seinerzeit die „Drittelparität“. Die Bürokratielast durch ein Übermaß an gegenseitigen „Evaluationen“ kommt hinzu. 5. Speziell die deutschen Rechtswissenschaften sind zwar vorläufig durch den unglücklichen sog. Bologna-Prozess (Bachelor / Master-System) noch nicht in gleichem Maße gefährdet wie andere Wissenschaften (anders leider in der Schweiz). Im Europa der Vielfalt das Recht und die Rechtswissenschaft verschulend in „Module“ zwingen zu wollen, träfe die genuinen Leistungen nationaler Rechtskulturen von Italien bis Großbritannien ins Herz. So sehr der „europäische Jurist“ mobil sein und auch möglichst viele verschiedene Sprachen beherrschen sollte, so sehr muss er doch bemüht bleiben, im Rahmen der gemeineuropäischen Rechtsentwicklung das je Besondere der nationalen Rechtskulturen vor Ort studieren zu können. Hier einige Beispiele: Man sollte speziell in Frankreich studieren, um den von Descartes beeinflussten Stil juristischer Kommentierung zu lernen; man sollte nach Großbritannien fahren, um vor Ort Vor- und Nachteile der common-law-Tradition zu verstehen; man sollte in Deutschland studieren, um die weit ausstrahlenden Leistungen der Weimarer Klassiker und des BVerfG zu lernen; man sollte in Österreich arbeiten, um den Positivismus eines H. Kelsen und die Verfassung von 1920 sowie die folgenreiche Geburtsstunde der Verfassungsgerichtsbarkeit in Europa zu studieren. All dies läßt sich weder quantifizieren noch modularisieren. 6. Der Wettbewerb zwischen den Fakultäten bzw. ihren Universitäten kann zwar durch Profilbildung (Stichwort Schwerpunktbereiche ab dem 4. Jura-Semester) im Sinne des bundesrepublikanischen Wettbewerbsföderalismus bereichert werden. Er muss jedoch wie jeder Wettstreit seine (kulturellen) Grenzen haben. Universitäten sind keine Wirtschaftsunternehmen und Betriebe, sondern kulturelle Foren von Jahrhunderte altem Gepräge für Lehrende und Lernende: für Bildung und Erziehung. Die sog. Exzellenzinitiative, an ihrer Spitze die heillose ehemalige Bundesministerin Bulmahn, lässt kleine (Voll-)Universitäten als nicht exzellent erscheinen und bringt sie – unterfinanziert – in ein gänzlich falsches Licht – auch bezieht sie sich nur auf einzelne Fakultäten, nicht auf ganze Universitäten. Universitäten sind gerade in Deutschland seit jeher Ausdruck landmannschaftlicher und kultureller Vielfalt, sie haben viel eigenes Profil. Alle Hochschulen hatten und haben bis heute einzelne herausragende Professorenpersönlichkeiten, die die „Einheit von Forschung und Lehre“ sowie „Einsamkeit und Freiheit“ verbinden und pädagogischen Eros (Platon) praktizieren. Engagierten Dozenten kann die Lehre ein „Jung-

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brunnen“ sein. Die Fixierung auf Gruppen statt auf einsame Forscher ist fragwürdig. Nicht wenige Fakultäten leisten schon heute Spitzenforschung, etwa im Bereich der Musikwissenschaft und der Rechtsvergleichung. Seminare eines Rudolf Smend in Göttingen oder Konrad Hesse in Freiburg wirken bis heute durch ihre Nachwuchsbildung weiter. Gleiches gilt für die Vorlesungen eines HansGeorg Gadamer in Heidelberg. 7. Freilich besteht auch Anlass zu professoraler Selbstkritik: Nicht nur in den rechtswissenschaftlichen Fakultäten greift eine Tendenz zum pausenlosen Tagungstourismus und nahezu beliebiger Gutachtenpraxis um sich. Auch ist der Veröffentlichungsstrom mitunter durch das US-amerikanische Prinzip „publish or perish“ gekennzeichnet. Das Publizieren von Sammelbänden an Stelle von Monographien ist denkbar unglücklich. Die Studenten sind ihrerseits gefordert, nicht nur auf Schnelligkeit und Effizenz ihres Studiums zu achten, sondern sie müssen bereit sein, die Grundlagen ihres Faches zu erkennen und von hier aus die Fülle des zugegebenermaßen überwältigenden Stoffes einzuordnen. Studiengebühren sind in einem sozialen Kulturstaat nur dann akzeptabel, wenn sie durch ein den Leistungen der Studenten entsprechendes Stipendium sozialverträglich gestaltet werden. Europäische Austauschprogramme wie „Erasmus“ und „Socrates“ tun ihr gutes Werk. 8. Nicht zuletzt müssten die Öffentlichkeit und vor allem die Politik, auch die Kulturbürokratien, sich wieder darauf besinnen, dass jede Wissenschaft nur bzw. primär der Wahrheitssuche dient, speziell in der Jurisprudenz zusätzlich dem Gerechtigkeitsstreben für die Bürger einer dem Gemeinwohl verpflichteten offenen Gesellschaft. Grundlagenforschung bleibt unverzichtbar. 9. Die deutsche Universität genießt im Ausland dank der humboldtschen Leitideen nach wie vor höchstes Ansehen, vor allem in Lateinamerika, Italien und Spanien, Osteuropa, Japan und Südkorea. Auch ihr Bildungs- und Erziehungsauftrag ist legendär. Die unreflektierte Kopie US-amerikanischer Modelle wie Harvard und Yale, die auf ganz anderem (privatem) Wurzelgrund gewachsen sind, ist unheilvoll. Es gab eine Zeit, in der amerikanische Studenten universitäre Vorbilder in Europa, vor allem in Deutschland suchten. 10. Humanismus und Aufklärung sind in der Kunst eines F. Schillers und J. W. v. Goethe ebenso präsent wie bei europäischen Künstlern wie Leonardo und Dürer. In Verbindung mit der geglückten Demokratie des GG und der zugehörigen Staatsrechtslehre sowie der Judikatur des BVerfG formt sich ein aktualisiertes klassisches deutsches Universitätsideal, das europa- und weltweit ausstrahlt. Weshalb sollte all dies dem flüchtigen Zeitgeist ökonomischer Nutzenmaximierung, Unitarisierung und Quantifizierung zum Opfer fallen? Gerade Europa lebt nicht von der Wirtschaft her, die zwar eine unverzichtbare, aber nur – wie der Markt im Ganzen – instrumentale Bedeutung hat: Der homo oeconomicus ist nur ein Teilaspekt der komplexen conditio humana. Europa lebt aus der Vielfalt seiner Kulturen, die in den klassischen Universitäten von Greifswald bis Tübingen ihre bis heute vor-

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nehmste Gestalt gefunden haben. Ohne diese Einsichten droht das für 2007 ausgerufene „Jahr der Geisteswissenschaften“ hochtrabender Symbolismus zu werden.

Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen – Skizze eines Projekts* Wissenschaft in Sachen Verfassungsstaat – in „weltbürgerlicher Absicht“ – hat viele Ausdrucksformen bzw. Literaturgattungen entwickelt: von der Monographie über das Lehrbuch bis zum Kommentar und der Rezension, auch den Beiträgen in einer Festschrift oder Gedächtnisschrift. Der Dialog in der heute national, regional (z. B. in Europa und Lateinamerika) und universal entstehenden „offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten“ sollte aber auch einmal eine neue Form wagen, zumal wenn er sich gezielt von einem älteren Verfassungsjuristen an einen jüngeren, vielleicht „wahlverwandten“ richtet. 1. Die Briefform eröffnet – neben den vor allem in den lateinamerikanischen Ländern üblichen wissenschaftlichen Interviews – ganz eigene Möglichkeiten: Im Brief lässt sich freier argumentieren, man ist nicht an die strengen Strukturformen z. B. des Aufsatzes gebunden, kann Systemgrenzen überspringen, Spontanes wagen und der Wissenschaft als um Erkenntnis ringende „ewige Wahrheitssuche“ im Sinne Humboldts Momente des Bekenntnishaften und Autobiographischen beimischen. In der Schönen Literatur hat die Briefform große Klassiker, man denke nur an Goethes „Werther“; auch sonst gibt es in der Weltliteratur (z. B. J. Ortega y Gasset, Brief an einen Deutschen, 1932; s. auch den Sammelband „Briefe zur Weltgeschichte“, von Cicero bis Roosevelt, hrsgg. von K. H. Peter, 1964) zahlreiche Beispiele für die Fruchtbarkeit des Briefwechsels zwischen Autoren und ihren Freunden als Medium der Kommunikation (z. B. die 2005 publizierten Briefe von S. Zweig). Brieffreundschaften waren stilisierte Formen auch unter Wissenschaftlern (vgl. den 2005 von D. Mussgnug veröffentlichen Briefwechsel (E. Levy und W. Kunkel, 1923 – 1968)). Im Folgenden sei die Briefform gewählt, um einem älteren Autor die Möglichkeit zu geben, einen jüngeren Juristen fachlich und menschlich zu erreichen, zu beraten und zu ermutigen. Zumal in Zeiten des flüchtigen e-mail-Verkehrs empfiehlt sich der Brief fast von selbst. Vielleicht kann er sogar eher in der „Provinz“ als in der Hauptstadt geschrieben werden. 2. Der „pädagogische Eros“ ist seit Platon ein „geflügeltes Wort“ im Sinne Homers und auch heute noch Wirklichkeit im Rahmen glückender Lehrer / * Erschienen in: Gilbert H. Gornig / Burkhard Schöbener / Winfried Bausback / Tobias H. Irmscher (Hrsg.), Iustitia et Pax. Gedächtnisschrift für Dieter Blumenwitz, Duncker & Humblot Verlag, 2008, S. 861 ff. D. Blumenwitz war ein leidenschaftlicher Lehrer nicht nur in seinem Seminar. Darum sei ihm dieser erste Brief gewidmet, obwohl er der erste Autor hätte sein können.

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Schüler-Verhältnisse. Auch und gerade in den Massenuniversitäten unserer Tage bleiben solche Bindungen und Verbindungen wichtig. Je mehr in Deutschland Humboldts seit 1810 praktizierten Unversitätsideale schwinden (Einheit von Forschung und Lehre, Gemeinschaft von Lehrenden und Lernenden, Einsamkeit und Freiheit, „zweckfreie Wissenschaft“), desto mehr muss darum gerungen werden, ein Stück des pädagogischen Eros auch heute noch zu leben, ja zu „erleben“. Junge Verfassungsjuristen brauchen authentische Vorbilder, sie brauchen Lehrer vom Zuschnitt eines K. Hesse, der z. B. in seinem Freiburger Seminar Werk und Person glaubhaft verbunden hat (dazu der Verf. in AöR 130 (2005), S. 289 ff.). Auch sonst gibt es in Deutschland auf dem Felde der Verfassungsrechtswissenschaft noch so etwas wie „Schulen“ und „Kreise“. E. Forsthoff hatte solches in Heidelberg bzw. Eberbach begründet, über die Weimarer Zeit hinaus bis in die Welt des GG ein R. Smend in Göttingen. In Bonn lebte E. Friesenhahn ein solches Seminar, dessen Mitglieder (mittlerweile schon pensioniert) sich noch heute regelmäßig treffen. Im europäischen Ausland denkt man an C. Esposito und V. Crisafulli in Rom (dazu D. Nocilla, in JöR 44 (1996), S. 255 ff.), in Spanien beginnt sich in Granada eine Schule von Verfassungsjuristen (angeleitet durch F. Balaguer) zu entwickeln. Das Engagement des Älteren muss dem Jüngeren gegenüber so intensiv sein, dass es sich nicht nur über den vielzitierten „pädagogischen Eros“ beflügeln lässt – in Griechenland prägte er ja ganze Akademien. Während in der Kunst, selbst Philosophie das Werk wegen ethischer Verfehlungen der Person nicht an Legitimität verliert, ist dies beim Verfassungsjuristen anders: Ein Mindestmaß an ethischem Verhalten in der Person bzw. Biographie ist m. E. unverzichtbar, denn der Dienst am Verfassungsstaat, also das Werk, verliert an Glaubwürdigkeit, z. B. durch Kollaboration mit totalitären Regimen, Falschzitaten und Formen der Korruption. Daher bleiben ein G. Radbruch, R. Thoma und E. Friesenhahn Vorbilder, in Spanien ein G. Pecès Barba und L. Sanchez Agesta. 3. Der wissenschaftliche Generationenvertrag – Teil des kulturellen – ist ein Paradigma, das den Austausch zwischen dem älteren und jüngeren Verfassungsjuristen theoretisch zu begründen vermag. Der „Generationenvertrag“ ist nichts anderes als der in die Zeit umgedachte bzw. fortgedachte klassische Gesellschaftsvertrag, seit J. Rawls wiederbelebt, jetzt speziell auf die Wissenschaft bezogen. Im Sozialrecht seit langem praktiziert, kann der wissenschaftliche Generationenvertrag helfen, Erfahrungswerte, Einsichten, erprobte Handwerks- und Kunstregeln an die junge Generation als „Vermächtnis“ weiter zu reichen. Der Verfassungsstaat ist selbst als „kulturelle Errungenschaft“ vieler Generationen zu deuten, seine Fortschreibungen in der Zeit lassen sich vertragstheoretisch darstellen. Warum sollte nicht im höchstpersönlichen Lehrer / Schülerverhältnis, sozusagen im Kleinen, ein Generationenvertrag ebenfalls möglich, ja notwendig sein. Ein gelingendes Staatsrechtslehrerleben, wie es sich im Werk selbst, aber auch in erklärten Selbstzeugnissen darstellt (vgl. etwa die Reihe im JöR mit Namen wie G. Burdeau, JöR 33 (1984), S. 151 ff.; W. v. Simson, JöR 32 (1983), S. 31 ff.; H. Klinghoffer, JöR 34 (1985), S. 71 ff.; H. Jahrreiss, JöR 35 (1986), S. 125 ff. und wie es einem G. Dürig (s. seine Dankesrede im JöR 36 (1987), S. 91 ff.), auch E. Friesenhahn, H. Mosler

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sowie R. Bernhardt hätte gelingen können), ist genügend reich, um in einzelnen Aspekten weitergegeben zu werden: nicht um epigonal nachgeahmt zu werden, sondern um kreativ als „Vorbild“ zu dienen. Handwerk und Kunst der Verfassungsrechtswissenschaft ist „geprägte Form, die lebend sich entwickelt“. Sie zeichnet sich durch eminent „personale Elemente“ aus, die oft übersehen werden (dazu W. Graf Vitzthum, in: P. Häberle, Kleine Schriften, 2004, S. 1 ff., 396 ff.). Entsprechend persönlich muss das Medium der kommunizierenden Weitergabe an einen „Jünger“ in der nächsten Generation sein. 4. Die hier noch fingierte Briefform (bei deren Niederschrift der Verfasser durchaus einzelne seiner ihm anvertrauten Schüler auch im Ausland im Blick hat) ist Ausdruck der „Verfassung als öffentlicher Prozess“, an deren Fortschreibung viele beteiligt sind, sie ist zugleich Ausdruck der „Verfassung als Kultur“. Solche (und andere) Konzepte (etwa von G. Zagrebelsky in Turin: „Diritto mite“, 1992) sind dem jungen Verfassungsjuristen im In- und Ausland nahe zu bringen: möglichst schon vom Studium an, etwa in denkbar frühen (z. B. ab dem 2. Semester besuchten) Seminaren (nicht nur Doktorandenkursen), in Graduiertenkollegs, in gemeinsamen Besuchen öffentlicher Verhandlungen von Verfassungsgerichten wie dem BVerfG, dem BayVGH, dem EuGH oder dem EGMR; in Lateinamerika wäre der Menschenrechtsgerichtshof in Costa Rica einschlägig, entsprechend oder der Supreme Court in den USA, in Mexiko oder Brasilien sowie das Verfassungsgericht in Peru. Solche Vorschläge richten sich im Grunde an ältere Staatsrechtslehrer, denn die jüngeren verfügen oft noch nicht über die Möglichkeit, sich tatsächlich, etwa in „Klassenform“, Zugang zu großen Gerichtsprozessen zu verschaffen. Den Studenten sollte schon vom ersten Semester an empfohlen werden, Tageszeitungen pluralistisch zu verarbeiten, d. h. das Abonnement von Zeit zu Zeit zu wechseln. „Ratschläge für Erstsemester“ wären ein Thema für einen „zweiten Brief“. 5. Der Verfassungsstaat ist heute ein universales Ideal bzw. (Entwicklungs-)Projekt, wenngleich er in der Praxis erst in einer Minderheit der den UN angehörenden 191 Mitgliedern bzw. Staaten schon Realität ist. So wie das Völkerrecht als „werdendes Menschheitsrecht“ sich im Grunde langsam aus und zu einer offenen Gesellschaft der Völkerrechtsinterpreten entwickelt (so groß das Gewicht der Staaten noch bleibt, so ermutigend aber auch das Wirken der NGO’s bei der Rechtsbildung schon ist), so lässt sich der Gedanke von Art. 38 Abs. 1 lit. d IGH-Statut („Lehrmeinung der fähigsten Völkerrechtler“) vom Völkerrecht übertragen auf den Verfassungsstaat und seine Interpreten weltweit. Es gab und gibt vor allem nationale Verfassungsjuristen, die diesen Ehrentitel für sich in Anspruch nehmen könnten: ein H. Kelsen über Österreich hinaus bis heute vor allem in Lateinamerika, von der philosophischen Seite her derzeit ein J. Habermas, ein H. Jonas. Sie sind auf eine Weise „fähigste Verfassungsrechtler“. Ihre Lehrmeinungen entwickeln den Verfassungsstaat weltweit mit. 6. Dem jungen Verfassungsjuristen sind viele Lebensformen und Foren zu seiner Bildung und Ausbildung zu empfehlen. Herzstück bleibt das ständige Seminar, in

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dem viele Studienjahrgänge unterschiedlicher Altersgruppen zusammenarbeiten – der Verf. hat seit 1969 ein solches Forum in Marburg, Augsburg und Bayreuth begründet und hier bis heute weitergeführt. Manche seiner Schüler setzen diese Idee fort. Charakteristisch sind die zuvor vom Leiter entwickelten strengen Gliederungen, sodann die (jüngste Aktualisierungen des Themas, Übung im freien Sprechen enthaltende) „Einstimmung“ des Referenten zu seiner Arbeit, die acht Tage lang vorher schriftlich vorliegt, Fragen zur Information und zum Verständnis und sodann die mehrstündige Diskussion. In Deutschland sind die Smend- und Hesse-Seminare berühmt geworden, mit in Wissenschaft und Praxis greifbaren Nachwirkungen bis in die Gegenwart. Damit werden die „Blockseminare“ entschieden abgelehnt, sie lassen keine „Seminarkultur“ heranwachsen, bleiben oft beim eiligen, den Hörer meist überfordernden Verlesen vieler Referate an einem einzigen Wochenende stehen: ein öffentlicher Diskussionsrahmen kann hieraus nicht geschaffen werden. Besonders ergiebig ist der Brauch, das Seminar am späten Abend auf eher lockere Weise beim Ausklang in einem Restaurant fortzusetzen. Nicht wenige Lebensfreundschaften können aus solchen Seminargemeinschaften erwachsen (der Verf. durfte dies bei seinen Schülern beobachten). Vereinzelt gibt es auch „Praktikerseminare“ (mit einem professoralen und einem aus der Praxis kommenden Leiter). Gemeinsame Exkursionen bilden weitere Möglichkeiten, den wissenschaftlichen Generationenvertrag zu leben. Denkbar sind viele Reiseziele: Neben den schon erwähnten hohen Gerichten auch Fahrten zu Seminaren ausländischer Staatsrechtslehrer (so vom Verf. etwa praktiziert in Bezug auf die Schweiz: mit Bern, d. h. P. Saladin und J. P. Müller, und mit St. Gallen). In Frage kamen bzw. kommen auch Bonn- bzw. Berlinfahrten zu den dortigen Verfassungsorganen mit Fragestunden an die Adresse von Parlamentariern oder hohen Ministerialbeamten. Die Lehrer sollten überdies die ihnen anvertrauten jungen Verfassungsjuristen auf eigene Vortragsreisen ins Ausland mitnehmen, um neue Kontakte zu eröffnen (J. Esser in Tübingen war hier ein Vorbild). Gemeinsame Fahrten mit privaten Arbeitskreisen oder Organisationen wie der ELSA seien empfohlen. Ein studentischer Juristenkreis besonderer Art besteht an der Bundesuniversität Brasilia. Bemerkenswert ist, dass es in Peru zwei von Jura-Studenten herausgegebene Fachzeitschriften gibt. 7. Der Studienaufenthalt im europäischen „Ausland“ gehört im heutigen Europa als Verfassungsgemeinschaft eigener Art zu den wichtigsten Möglichkeiten einer Ausbildung zum Verfassungsjuristen. Die 25 EU-Mitglieder sind einander nicht mehr „Ausland“ im klassischen Sinne, sie sind Inland: Die Jellineksche Staatselementenlehre bedarf der Revision. Der Verf. hat sich in seiner Europäischen Verfassungslehre (1. Aufl. 2001 / 02, 5. Aufl. 2008) darum bemüht. Staatenübergreifende, Ländergrenzen überspringende wissenschaftliche Seminare mehrerer Lehrer, die ihre nationalen Seminare auf Zeit zusammenführen, empfehlen sich als besonders glückliche Lehr- und Lernform (zum Beispiel die vom Verf. zusammen mit M. Kotzur in Leipzig / Bayreuth derzeit durchgeführten Seminare). Überdies sei das individuelle, zeitlich begrenzte Studium (nicht nur „Praktikum“) im Ausland eigens erwähnt („Wahlstation“). Der europäische Jurist wird nur dann zur Realität,

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wenn der Studierende mehr als nur eine einzige nationale Rechtskultur kennenlernt. Das Studium mehrerer Sprachen gehört heute zum selbstverständlichen Rüstzeug. Goethes Satz: „Wer keine fremden Sprachen kennt, kennt nicht die eigene“, gilt auch für die verschiedenen nationalen Rechtskulturen. Nur so kann die Rechtsvergleichung zur „fünften Auslegungsmethode“ i.S. des Verfassers reifen. Die Pflege des Deutschen als Wissenschaftssprache in Deutschland sollte nicht weiter vernachlässigt werden. 8. Ein eigenes Wort verdient der Impuls zur Gründung einer europäischen Juristenfakultät in Budapest, wie ihn der Verf. unternommen hat. Die Denkschrift vom 21. 11. 2000 lautet (FS Druey 2002, S. 115 ff. bzw. JöR 53 (2005), S. 354 ff.; in diesem Band S. 183 ff.) in ihren Kernaussagen: – Das Projekt könnte über West- bzw. Ost(mittel)europa hinaus pionierhaft wirken, indem es die eigene (integrierte) Disziplin „Europawissenschaft“ kreiert (an der Historiker, Juristen und Ökonomen mitwirken). – Stichworte und Schwerpunkte könnten aus meiner Sicht die wissenschaftlichen Erkenntnisse sein, die in den letzten Jahren seit dem „annus mirabilis“ 1989, der „Weltstunde des Verfassungsstaates“, z. B. vom Unterzeichneten entwickelt worden sind: „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“, „Gemeineuropäisches Verfassungsrecht“, „Europäische Rechtskultur“, „Rechtsvergleichung als kulturelle Verfassungsvergleichung“ bzw. als „fünfte“ Auslegungsmethode sowie das „Europäische Verwaltungsrecht“ i.S. von J. Schwarze. – Ungarn bietet sich als besonders günstiger „Standort“ an, da hier auch ein Land des alteuropäischen Kulturerbes wiedergeboren ist und mit dem für bald zu erhoffenden EU-Beitritt die unvergessliche historische Grenzöffnung von 1989 dazu führt, dass Ungarn „Freundesland“ wird. Die Grenzöffnung hat das klassische Element der Allgemeinen Staatslehre, die „Staatsgrenze“, ein Stück weit gegenstandslos werden lassen (spätestens seit „Schengen“). – Bei allem Respekt vor dem, was die USA seit mehr als 200 Jahren zum Typus „Verfassungsstaat“ beigetragen haben: Bayern bzw. Deutschland sowie Ungarn und seine Nachbarländer sollten durch die Profilierung eines deutschsprachigen Studienganges dem entgegenwirken, was US-amerikanische „Law firms“ „verkaufen“: der weltweite Produktions- und Rezeptionszusammenhang in Sachen Verfassungsstaat (Stichwort: Transformations- und Rezeptionsforschung) sollte heute vom alten Europa aus selbstbewusster befördert werden, d. h. innereuropäisch konzipiert sein. – Ungarn gehört derzeit „nur“ zum Europa(recht) im weiteren Sinne von Europarat und OSZE. Durch seinen EU-Beitritt wird es Teil des Europa(rechts) im engeren Sinne. Gerade dieser „Seitenwechsel“ könnte besonders lehrreich sein und verlangt viel Juristenhandwerk und -kunst in Ungarn selbst. – Im Ganzen könnte Leitbild des Studienplans das sein, was der Verfasser seit Jahren als „europäischer Jurist“ propagiert und in seinem 1999 in Bayreuth

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gegründeten „Institut für europäische Rechtskultur“ zusammen mit hiesigen Kollegen zu verwirklichen sucht“. Weitere Stichworte lauteten: a) Die spezifisch juristische „Europawissenschaft“ als Kulturwissenschaft b) Die Lehre von den internationalen Beziehungen im Lichte der „Europawissenschaft“ c) Die ökonomische Dimension der juristischen Europawissenschaft. Ein eingehender Stundenplan konkretisierte das Memorandum des Verfassers. 9. Darum wird auch ein „kräftiges Wort“ zum bzw. gegen den unseligen „Bologna-Prozess“ notwendig. Ganz abgesehen von dem ihn prägenden vordergründigen Effizienzdenken, seinem ökonomistischen, quantifizierenden Ansatz und seinem Nützlichkeitswahn ist er aus vielen Gründen fragwürdig: Wissenschaftsbzw. Rechtskulturen lassen sich nicht in Punktesysteme zerlegen und in das Korsett von Modulen zwängen. Die nationale Vielfalt als Kennzeichen des vereinten Europa wird durch solche Egalisierungen im Kern getroffen. Für den jungen Verfassungsjuristen gesagt und geschrieben (und ähnliches gilt wohl für andere Geistes- bzw. Kulturwissenschaften): Man studiert mit Gewinn eben gerade in Wien, um H. Kelsen kennenzulernen und das, was er auf Dauer in Österreich prägend hervorgebracht hat (von der Verfassung von 1920 bis zur „Wiener Schule“). Man fährt nach Pisa, um die Schule von A. Pizzorusso zu studieren. Man lernt in Bologna, um einen Ursprung europäischer Rechtskultur (seit 1100) vor Ort zu erleben und den Kreis um G. de Vergottini zu erfahren. Gleiches gilt für die Schülerkreise um A. D’Atena, A. A. Cervati und P. Ridola in Rom. In den 1950er und 60er Jahren schrieb man als Student sich in Tübingen ein, um G. Dürig und O. Bachof kennenzulernen. Von 1965 bis 1992 wollte man in Gestalt des legendären Hesse-Seminars die vielzitierte „Freiburger Schule“ (so ein feststehender Begriff seit R. Herzog, 1971) kennenlernen. Es kam zur produktiven Konkurrenz der Universitäten untereinander, auch dank des deutschen Kulturföderalismus. All dies droht im Bologna-Prozess verloren zu gehen. Er schmückt sich mit einem großen Namen, den er selbst zerstört. Dieser Abschnitt im „Brief an einen jungen Verfassungsjuristen“ ist besonders wichtig, er müsste vertieft und erweitert werden. Was die 68er Revolution in Deutschland in der Universitätskultur nicht hat zerstören können, droht nun heute bei uns z. B. wegen der Entscheidungsbefugnisse für externe „Hochschulräte“, blinder Übernahme des US-amerikanischen Modells, wegen der Ökonomisierung (Universität als wirtschaftliches Unternehmen und Betrieb) und Modularisierung zerstört zu werden (man vergegenwärtige sich auch die sprachliche Verhunzung in Worten wie „Exzellenzcluster“ und die Infragestellung von „Orchideenfächern“ wie der Papyrologie). Stiftungen wie die an der Universität St. Gallen 2004 gegründete (den Namen des Verf. tragend) in Sachen „Verfassungslehre als Kulturwissenschaft“ können Foren für die Weitergabe von Wissen und Können an junge Verfassungsjuristen werden. Hier kann

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(nicht quantifizierbare, „zweckfreie“) Grundlagenforschung entstehen, die sich nicht an kurzfristigen Erfolgen messen lässt. Das Berliner „Manifest Geisteswissenschaft“ von 2005 (kritisch leider W. Schieder, Die Zukunft der geisteswissenschaftlichen Forschung liegt jenseits der Universität, FAZ vom 4. Januar 2006, S. 32) ist zu begrüßen. 10. Zusammenfassend lässt sich in dieser ersten al fresco skizzierten Briefform, der viele Einzelbriefe zu speziellen (z. T. schon erwähnten) Themen folgen müssten, dieses sagen: Der Verfassungsstaat als Idealtypus ist heute eine tendenziell universale Errungenschaft. Er muss in „weltbürgerlicher Absicht“ von vielen nationalen Wissenschaftlergemeinschaften gesamthänderisch entwickelt und fortgeschrieben werden. Verfassungsstaatliches Völkerrecht als „Menschheitsrecht“ ist eine komplementäre „konkrete Utopie“ i.S. von E. Bloch, an der heute Völkerrechtler und Verfassungsrechtler arbeiten müssen. In der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten haben heute vor allem die jungen Verfassungsjuristen einen besonderen Auftrag und große Verantwortung. Sie müssen sich dabei von der älteren Generation „anleiten“ lassen. In diesen Prozessen entwickeln sich auch Klassiker zu solchen. Sie sind ein Ergebnis der Arbeit aus vielen wissenschaftlichen Generationenverträgen (z. B. in Sachen der „Weimarer Riesen“). Dabei ist wissenschaftlicher Optimismus unverzichtbar, so wie der Verfassungsstaat und das Völkerrecht als „Menschheitsrecht“ ein unverzichtbares „Utopiequantum“ brauchen, um sich weiter zu entwickeln. Briefe der hier versuchten Art müssten von vielen älteren Staatsrechtslehrern und Völkerrechtlern an viele junge Juristen möglichst vieler Kulturkreise geschrieben und praktiziert werden. Denn die einzelnen Rechts- und Wissenschaftskulturen sind höchst vielfältig, sie sollten nicht eingeebnet werden. Jede nationale Rechtsgemeinschaft kann etwas zur „Weltliteratur in Sachen Verfassungsstaat“ und zum Völkerrecht als „Menschheitsrecht“ beitragen. Dazu bedarf es aber eines weltweit gelebten und erlebten Generationenvertrages und vieler intensiver Kommunikationsformen. Die vergleichsweise altmodische Form des Briefes ist nur ein Anfang. D. Blumenwitz könnte sie, gerade auch als Völkerrechtler, gefallen haben. Anleitungen zum Verfertigen einer Dissertations- und Habilitationsschrift (vgl. auch I. von Münch, Promotion, 2. Aufl. 2003) hätte er leicht schreiben können. Sie wären gewiss Gegenstand einer seiner ersten Briefe gewesen bzw. geworden.

Recht und Literatur – Eine Präsentation von B. Schlink* Es ist eine Ehre und Freude, das heutige Geburtstagskolloquium zu Ehren von Hasso Hofmann (und seiner Frau Bärbel) mit der Präsentation von Herrn B. Schlink als Referenten zu eröffnen. Dieser ist mindestens eine Doppelbegabung: Staatsrechtslehrer und Schriftsteller. Auf eine Weise fügt sich dies in das Bild unseres Jubilars, der Staatsrechtslehrer und Musiker ist. Zunächst zu B. Schlink als Jurist: Er nahm die drei klassischen Hürden: eine Dissertation über „Abwägung im Verfassungsrecht“ (1976) mit heftiger Kritik an mir, ich habe diese jedoch zum Glück überlebt, da Herr Schlink damals noch kein Dichter war, die Habilitationsschrift (1982) über „Amtshilfe“ und schließlich das Staatsrechtslehrerreferat (1990) über die Bewältigung der wissenschaftlichen und technischen Entwicklungen durch das Verwaltungsrecht. Schlink wurde 1982 nach Bonn berufen, 1992 an die HumboldtUniversität Berlin, die in ihrer Juristenfakultät eine bekannt vorbildliche, weil pluralistische Berufungspolitik praktiziert hat. Später folgten Arbeiten über „Heimat als Utopie“ (2000) oder „Vergangenheitsschuld und gegenwärtiges Recht“ (2002), zuvor gab es Publikationen über C. Schmitt (1991), offenbar unvermeidlich, und glücklicherweise zu Lessing (1983). Besonders reizvoll ist die Arbeit zum „Duell“ (2002), Zeichen für künstlerische Sensibilität. Eine mathematische Begabung zeigte sich in Arbeiten zur Spieltheorie (1977) und zum Computer (1984). Mehrere Aufsätze sind in englischer Sprache erschienen, erwähnt seien auch Gastprofessuren in New York. B. Schlink ist heute nicht nur Co-Autor des wohl erfolgreichsten Kurzlehrbuchs zu den Grundrechten, er prägte auch für unsere Zunft wichtige Stichworte wie „Die Enthronung der Staatsrechtswissenschaft durch das BVerfG“ (1989). Was kann er dazu durch sein Amt als Verfassungsrichter in NRW beitragen? (seit 1988). B. Schlink hat sich zum anderen durch seinen Erstling „Der Vorleser“ seine eigene – literarische – Öffentlichkeit geschaffen, auch im Ausland. Sogar die FAZ übernahm das suggestive Wort-Bild kürzlich in anderem Kontext (FAZ vom 9. Juni 2004, S. 53), das Wort „Nachdenker“ blieb dem Geburtstagsblatt (FAZ vom 6. Juli 2004, S. 34) vorbehalten. Der „Vorleser“ ist also fast ein geflügeltes Wort geworden. Sogar über Verfilmungsrechte sei einem on dit zufolge schon verhandelt worden. Kriminalromane (wie „Selbs Justiz“, 1987, „Die gordische * Bisher unveröffentlichte Einführung des Referenten B. Schlink durch den Verfasser aus Anlass des Kolloquiums zu Ehren des 70. Geburtstags von Hasso Hofmann am 7. August 2004 in Berlin. Der Ertrag des Kolloquiums ist publiziert in: Horst Dreier (Hrsg.), Rechtsund staatstheoretische Schlüsselbegriffe: Legitimität – Repräsentation – Freiheit: Symposion für Hasso Hofmann zum 70. Geburtstag, Duncker & Humblot, Berlin, 2005.

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Schleife“, 1988, „Selbs Betrug, 1992) folgten, 2003 das Bundesverdienstkreuz. Welcher Staatsrechtslehrer kann all das von sich behaupten? Erneut zeigt sich: Kunst kann unsterblich machen, Wissenschaft vergeht, wir Juristen arbeiten nur für den Tag, aber das ist nicht wenig. So freuen wir uns nicht zuletzt auf die subtilen künstlerischen Spuren im Vortrag unseres wissenschaftlichen Referenten B. Schlink und danken ihm schon vorweg für seine „Ouvertüre“ in Sachen „Gerechtigkeit“, die zugleich Aspekte eines „Finale“ beinhalten könnte, vielleicht auch ein Stück „literature as law“ ist.

Nachruf auf Konrad Hesse (1919 bis 2005)* Konrad Hesse, seit 2004 korrespondierendes Mitglied der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, starb am 15. März 2005 in seinem Privathaus in Freiburg nach langer schwerer Krankheit, von seiner Familie, vor allem seiner Frau Ilse mit besten, fast übermenschlichen Kräften umsorgt. Damit endet ein einzigartig authentisches Staatsrechtslehrer- und Bundesverfassungsrichterleben, das Wissenschaft und Praxis weit über Deutschland hinaus viel Ehre geschenkt hat. Eine angemessene Würdigung ist auch in diesem Gedächtnisblatt kaum möglich. Doch seien einige Aspekte von Konrad Hesses gelingendem Leben in Erinnerung gerufen. I. Am 29. Januar 1919 in Königsberg geboren, im Professorenhaus seines geliebten Vaters, eines bekannten Ökonomen, in Breslau aufgewachsen, wurde K. Hesse unmittelbar nach dem Abitur zum Arbeits- und Kriegsdienst gerufen; verwundet überstand er diese Katastrophe (oft von ihm geäußert: „Wir sind noch einmal davon gekommen.“ „Ich habe sieben wichtige Jahre verloren.“). Sein juristisches Studium absolvierte er danach in kürzester Zeit in Göttingen, er promovierte (1950) bei R. Smend über den Gleichheitssatz (AöR 1951 / 52, S. 167 ff.), war als Assistent in dessen Kirchenrechtlichem Institut tätig und habilitierte sich mit seinem bekannten Buch „Der Rechtsschutz durch staatliche Gerichte im kirchlichen Bereich“ (1955). Schon 1956 nach Freiburg berufen, dem er (trotz Rufen nach München und Bonn) treu blieb, entfaltete sich sein Werk in konsequent strukturierten Stufen, die sich fast alle durch zu geflügelten Worten gereifte Stichworte kennzeichnen lassen: „Die normative Kraft der Verfassung“ (1959), „Der unitarische Bundesstaat“ (1962), „Freie Kirche im demokratischen Gemeinwesen“ (1964). Den wissenschaftlichen Gipfel erreichte K. Hesse mit, in und seit seinen „Grundzügen“ (R. Smend gewidmet: 1. Aufl. 1969, 20. Aufl. 1995). Sie sind längst ein moderner Klassiker, was sich nicht nur an den vielen Nachdrucken, sondern auch an zahlreichen Übersetzungen zeigt, zuletzt ins Portugiesische (1999), bald auch ins Chinesische. Noch jüngst titelte „Die Zeit“ vom 14. Oktober 2004, S. 72: „Lesen!“. An der Rezeptionsgeschichte dieses Werkes (dazu P. Häberle in: H.-P. Schneider / R. Steinberg (Hrsg.), Verfassungsrecht zwischen Wissenschaft und * Erschienen in: Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (2005), S. 339 ff.

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Richterkunst, 1990, S. 113 ff.) lässt sich zeigen, wie sehr dieses Buch zur politischen Kultur unserer Republik gehört. Kein Wort zu viel, stets ins Grundsätzliche zielend und in einzigartiger Strukturierungskunst wird hier das geltende Verfassungsrecht dargestellt und zugleich schöpferisch mitgeprägt. K. Hesses einzige Koketterie lag vielleicht darin, dass er stolz war, dass das Buch von Auflage zu Auflage schlank blieb – ein eindrucksvoller Kontrapunkt zur abundanten anschwellenden Handbuch- und Kommentarliteratur heute (das schmale Handbuch des Verfassungsrechts, 1. Aufl. 1983 (2. Aufl. 1994) hat er mit betreut). Begriffsprägungen wie „praktische Konkordanz“ bilden heute ein gelebtes Verfassungselement, die „Offenheit der Verfassung“ ist ein Prädikat des GG geworden. In Freiburg war es auch, wo Hesse sein berühmtes ständiges Seminar von 1956 an aufbaute. Er führte es zuletzt mit E. Benda gemeinsam bis 1992 weiter. Viele ausländische Gastwissenschaftler aus Japan, Korea, Spanien und Portugal gingen hier „zur Schule“. Das freundschaftliche Verhältnis zu H. Ehmke und später zu W. von Simson ist für jene Jahre charakteristisch (zuletzt gewann er in W. Müller-Freienfels einen Freund vor Ort). II. Zur „rechten Zeit“ wurde K. Hesse in den Ersten Senat des BVerfG gewählt (1975 bis 1987, Nachfolge T. Ritterspach), und zwar jenseits aller vorherigen parteipolitischen Einbindungen und Anbindungen (Stichwort von W. Maihofer: „Äquidistanz“). Hier prägte er die Judikatur nachhaltig, etwa im Mitbestimmungsurteil und in den Entscheidungen zur Meinungs- und Pressefreiheit, vor allem schrieb er mehrere Fernsehurteile. Er war es auch, der den Begriff „Grundversorgung“ erfand. Frau Präsidentin J. Limbach hat K. Hesses großes Wirken in Karlsruhe anlässlich seines 80. Geburstages gebührend gewürdigt (Privatdruck 2000). Man darf wohl sagen: In K. Hesse waren Wissenschaft und verfassungsrichterliche Praxis einander „kongenial“. Unvergesslich ist dem Verf., wie K. Hesse, wegen des Schleyer-Beschlusses übernächtigt, zur Beerdigung von Erik Wolf auf dem Friedhof in Oberrottweil im Kaiserstuhl spät zur Trauergemeinde stieß (1977). Diese Entscheidung des Gerichtes war ihm wohl sehr schwer gefallen.

III. K. Hesse publizierte in vielen Zeitschriften, etwa in der ZevKR, im JöR, in der DÖV, der JZ, den VBlBW, der EuGRZ sowie der KritV; er beherrschte viele Literaturgattungen: vom Aufsatz über den Festschriftenbeitrag (z. B. für Geb. Müller, 1970, FS Scheuner, 1973, FS W. Weber, 1970, FS D. Schindler, 1989, FS Lerche, 1993), über den Handbuchbeitrag bis zu „ewigen“ Lexikonartikeln. Seine staatskirchenrechtlichen Beiträge verdienten eine eigene Würdigung. Dem AöR aber war K. Hesse durch Rat und Tat verbunden. Viele seiner Beiträge erscheinen hier;

Nachruf auf Konrad Hesse (1919 bis 2005)

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zitiert sei nur: AöR 98 (1973), S. 1 ff., zur Bundesstaatsreform, AöR 97 (1972), S. 345 ff., zur Vereinigung der Deutschen Staatsrechtslehrer (später in den „Ausgewählten Schriften“, 1984); A. Hollerbach gewann ihn für Artikel im „Staatslexikon“ der Görres-Gesellschaft. Als Vorsitzender der Deutschen Staatsrechtslehrervereinigung von 1971 bis 1973, im Vorstand waren auch P. Lerche und H. H. Rupp, nachhaltig als Referent auf der Wiener Tagung (VVDStRL 17 (1959), S. 11 ff.) und hochkonzentriert als Diskutant (z. B. in Innsbruck und Regensburg) wirkte er auch auf diesem bekanntlich schwierigen, aber dank des hohen Niveaus einzigartigen Forum intensiv. Als langjähriger Rechtsberater des Rektors in Freiburg und als Mitglied der Parteienrechtskommission (1956) engagierte er sich ehrenamtlich. IV. Die Familie war K. Hesses menschliche Basis. Seine Frau, seine beiden Kinder Regine und Albrecht sowie die jetzt fünf Enkelkinder in Lahr bzw. München erfuhren jene Liebe, die in der Traueranzeige mit einem Zitat des Heiligen Augustinus angedeutet wird. Wer an der Beerdigung am 23. März 2005 in Merzhausen teilnehmen konnte, wird den tiefen Schmerz der Familie, auch der Enkelkinder, nicht vergessen. Eine gemeinsame Reise mit der ganzen Familie nach Paris (1990) empfand er ebenso als Glück wie die Einladung nach Japan (1979), zusammen mit seiner Frau. Vorausgegangen waren gemeinsame Reisen, auf die das Ehepaar Hesse den Verf. dieses Gedächtnisblattes mitgenommen hatte (Paris 1967, Burgund 1969, in den 80er und 90er Jahren fast jährlich in die Schweiz). K. und I. Hesses gemeinsame Liebe zu T. Fontane und T. Mann, zu J. S. Bach und J. Brahms (wie der Vater Albert) prägten die allgemeine Hinwendung der Familie zu Kunst und Kultur. Die Flöte liebte K. Hesse als Instrument über alles, weniger die „Streichquartette“(!). So war es nur konsequent, dass die Kinder Musik gerade für dieses Instrument (Bach und Vivaldi) zur Beerdigung in Merzhausen ausgesucht hatten. V. Konrad Hesse als Mensch zeichnete sich durch Bescheidenheit, Edelmut, Lauterkeit und Wahrhaftigkeit aus, wie dies selten ist. Laute Polemiken und stille Komplotte waren ihm ebenso wie jeder Opportunismus zutiefst zuwider. Kritik äußerte er schon. Doch waren auch hier die Töne moderat: etwa „Schaf“ oder „Kamel“ (in Bezug auf einen versagenden Institutsassistenten), auch „Schlangennest“ (hinsichtlich eines benachbarten Lehrstuhls). U. Scheuner sprach einmal von „sanfter Unnachgiebigkeit“ (es ging um das Eintreiben von überfälligen AöR-Manuskripten bei säumigen Autoren). Ausdruck seiner Bescheidenheit war auch die Ablehnung jeder Festschrift für sich selbst, E. Friesenhahn ähnlich (Orden lehnte er ab, indes war er über seine Wahl zum Korrespondierenden Mitglied der Bayeri-

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schen Akademie der Wissenschaften, 2003, glücklich.) Immerhin durften die Schüler mehrere Bibliographien (1979, 1999) und viele Kolloquien (zum 60., 65., 70. und 75. Geburtstag) ausrichten. Hier setzte sich der klassische Seminarstil fort. Zu ihnen gehörten auch des Meisters dichte „Zusammenfassungen“ am Ende: Dabei konnte man mitunter auch eine gewisse Strenge spüren. Von den Weimarer „Riesen“ verehrte er seinen Lehrer R. Smend, respektierte er H. Kelsen, schätzte er besonders H. Heller (lange vor dessen „Renaissance“). Die derzeitige glorifizierende Restaurierung eines C. Schmitt war ihm stets unverständlich geblieben, er teilte seine Haltung mit Schweizer Kollegen, die unverblümt von der Faszination bzw. „Brillanz“ des Bösen sprechen. Die Schweiz bedeutete ihm überhaupt sehr viel; er war buchstäblich ein Freund der Schweiz. Der Ehrendoktor von Zürich (1983) erfreute ihn sehr (auch der von Würzburg, 1989). Die deutsche Wiedervereinigung erschien auch ihm als Glücksfall in unserer Verfassungsgeschichte, die fortschreitende Europäische Einigung integrierte er sogar noch in die späten Auflagen seiner „Grundzüge“. Freilich schrieb er mir am 11. Mai 1992: „Nicht nur insoweit bin ich in einiger Sorge. Was ist das für ein klägliches Bild auf einem Höhepunkt deutscher Geschichte. Wenn man den Medien glauben soll, so ist das deutsche Volk zu einem Volk von Jammerlappen geworden, überall Kleinmut und nackter Egoismus.“ Man darf wohl sagen: „K. Hesse war ein Gerechter“. Person und Sache sind eins. Er lebte nach der Maxime des älteren Cato: „Rem tene – verba sequentur“. Die Kinder und Enkelkinder sagten mir im Kontext der Beerdigung im März 2005, sie hätten den „besten Vater“ bzw. „besten Großvater der Welt“ verloren; die Schüler trauern um ihren Lehrer als unerreichbares Vorbild, menschlich und wissenschaftlich. K. Hesse selbst schrieb in Bezug auf E. Benda von „Skepsis und Zuversicht“ (FS Benda, 1995, S. 1 ff.); sie waren wohl auch ihm selbst eigen. Er wusste um das „dünne Eis“, auf dem wir alle gehen, vom Verfassungsrecht her hat er aber bleibende Fundamente gelegt. A. Hollerbach (dem er eine ehrenvolle Laudatio gewidmet hat (AöR 126 (2001), S. 1 ff.)), ebenso wie er dem Verf. dieses Blattes ein bewegendes „Grußwort“ schrieb (Liber amicorum, 2004, S. 1) sagte kürzlich zu Recht: „Wir, die Schüler können dankbar sein, einen solchen Meister gekannt zu haben und von ihm geprägt worden zu sein“. So ist wohl große Dankbarkeit und Zuneigung, bei aller Trauer heute, das Grundgefühl all derer, die ihn kannten, aller Schüler im engeren und weiteren Sinne (auch des AöR, das den Verf. um diesen Nachruf gebeten hat, zum 70. Geburtstag noch zuversichtlich: ders., AöR 114 (1989), S. 1 – 6; s. auch A. v. Campenhausen, ZevKR 35 (1990), S. 121 ff.; vgl. auch den Nachruf v. A. López Pina in: EL PAI¯S vom 20. April 2005, S. 51).

Bibliographisches (zweite Folge) I. Selbständige Arbeiten Die Wesensgehaltgarantie des Art. 19 Abs. 2 Grundgesetz, 1962; 2. spanische Übersetzung: La Garantía del Contenido Esencial de los Derechos Fundamentales, Madrid 2003. Öffentliches Interesse als juristisches Problem, 1970 (Freiburger Habilitationsschrift); 2. Aufl., Berlin, 2006. Verfassung als öffentlicher Prozess. Materialien zu einer Verfassungstheorie der offenen Gesellschaft, Berlin, 1978, 2. erw. Aufl. 1996, 3. Aufl. 1998 (brasilianische Ausgabe i.V. für 2009 / 2010). Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft. Zwei Studien, 1980 (Auszug aus: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 1 ff. und 427 ff.); auch in: Revista de Estudios Politicos, Madrid, Juli-September 2004, S. 9 – 37. Feiertagsgarantien als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, Berlin, 1987, portugiesische Übersetzung, Porto Alegre, 2008. Das Menschenbild im Verfassungsstaat, Berlin, 1988; 2. ergänzte Auflage 2001; 3. Auflage 2005; 4. Auflage 2008; in spanischer Übersetzung, La Imagen del Ser Humano Dentro del Estado Constitucional, Lima (Peru), 2001. Der Sonntag als Verfassungsprinzip, Berlin, 1988; Teilabdruck in: J. Wilke (Hrsg.), Mehr als ein Weekend?, 1989, S. 27 – 74; 2. Aufl. 2006. Grundrechte im Leistungsstaat, in: VVDStRL 30 (1972), S. 43 ff.; als selbständiger Band erschienen in japanischer Übersetzung, „Kihonken-ron“, 1993; in koreanischer Übersetzung, in: Dong-A Law Review Vol. 26, Pusan (Korea), 1999, S. 231 – 338; auch in: HyoJeon Kim (Hrsg.), Zum Verständnis der deutschen Grundrechtstheorien, Seoul 2004, S. 181 ff.; brasilianische Ausgabe in portugiesischer Übersetzung, in Vorbereitung. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, 2. Aufl. 1998, japanische Teilübersetzung, in: Kobe Law Journal, Vol. 50, No. 4, March 2001. Wahrheitsprobleme im Verfassungsstaat, Baden-Baden, 1995; Extrakt in griechischer Übersetzung, in: Almenopoulos 4, Etos 51, Thessaloniki, 1997, S. 465 – 474; vollständig in japanischer Übersetzung, in: Kobe Law Journal Vol. XLVII, March 1998, N° 4, S. 763 – 821 (1. Teil); Vol. XLVIII, June 1998, N° 1, S. 125 – 182 (2. Teil); in italienischer Übersetzung, Diritto e verità, Turin, 2000; in spanischer Übersetzung, Verdad y Estado constitucional, Mexico City, 2006; brasilianische aktualisierte und erweiterte Auflage, Porto Alegre, 2008. El Estado Constitucional, Serie Doctrina Juridica, Núm. 47, Mexiko 2001, 2. Aufl., Mexiko 2003; Neuausgabe Lima 2003; französische Übersetzung (L’Etat Constitutionnel, Paris 2004); argentinische Ausgabe, Buenos Aires, 2007; kolumbianianische Ausgabe, i.V. 2009 / 2010.

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Bibliographisches (zweite Folge)

Hermenêutica Constitucional – A sociedade dos intérpretes da constituição Contribuição para a intrepretação pluralista e „procedemental“ da Constituição, Porto Alegre (Brasilien), 1997, Nachdruck 2002. Europäische Verfassungslehre, Baden-Baden, 2001; 2. Auflage 2004; 3. Auflage 2005; 4. Auflage. 2006; 5. Auflage 2008; 6. erw. Aufl. 2009. Der Verfassungsstaat in kulturwissenschaftlicher Sicht, Aufsatzsammlung (Japan 1999), Tokio 2002, Neudruck 2006. Cultura dei diritti e diritti della cultura, Milano, 2003. Haben Spanien und Europa eine Verfassung?, Sevilla, 2004. El Tribunal Constitucional como Tribunal Ciudadano, Mexiko, 2005. Peter Häberle (zusammen mit K. Hesse): Estudios sobre la Jurisdicción Constitucional, Mexiko, 2005. Lo Stato costituzionale, Istituto della Enciclopedia Italiana fondata da Giovanni Treccani, Rom, 2005. Nueve ensayos constitucionales y una lección jubilar (Lima 2004), Nachdruck 2007. Conversaciones Académicas con Peter Häberle, Comp. D. Valadés, Mexico City, 2006; portugiesische Übersetzung, Brasilia, 2008. Costituzione e identità culturale, Mailand, 2006. Estado Constitucional Cooperativo, Rio de Janeiro / São Paolo, 2007. Nationalhymnen als kulturelle Identitätselemente des Verfassungsstaates, Berlin, 2007. Nationalflaggen: bürgerdemokratische Identitätselemente und internationale Erkennungssymbole, Berlin 2008, portugiesische Übersetzung i.V., spanische Übersetzung i.V. Ausgewählte Schriften, Tiflis, 2010, i.E.

II. Aufsätze Verfassungsprozessrecht als konkretisiertes Verfassungsrecht, in: JZ 1976, S. 377 – 384 (auch in: Verfassung als öffentlicher Prozess, 1978 / 1996 / 1998); in spanischer Übersetzung, in: Pensamiento Constitucional, Año VIII N.° 8, Peru 2001, S. 25 – 59, auch in: Revista Iberoamericana de Derecho Procesal Constitucional, Nr. 1 / 2004, S. 15 – 44. Verfassungsgerichtsbarkeit als politische Kraft, in: Josef Becker (Hrsg.), Dreißig Jahre Bundesrepublik – Tradition und Wandel, 1979, S. 53 – 76 (auch in: Kommentierte Verfassungsrechtsprechung, 1979, S. 427 ff., sowie in: Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Politik und Rechtswissenschaft, 1980, S. 55 ff.); portugiesische Übersetzung, in: Justiça Constitucional, (coord. A.R. Tavares), 2007, S. 57 – 81. Die Menschenwürde als Grundlage der staatlichen Gemeinschaft, in: Handbuch des Staatsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Josef Isensee / Paul Kirchhof (Hrsg.), Bd. I, C. Heidelberg u.a., 1987, S. 815 – 861; 2. Auflage 1995, S. 815 – 861; 3. Auflage 2004, II, § 22, S. 317 – 367 (auch in spanischer und italienischer Übersetzung); portugiesisch, in: I. W. Sarlet (Org.), Dimensiões de Dignidade, Porto Alegre, 2005, S. 89 – 152; spanische Übersetzung, in: F. F. Segado (coord.), Dignidad de la Persona, Madrid, 2008, S. 175 – 237.

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Verfassungslehre im Kraftfeld der rechtswissenschaftlichen Literaturgattungen: zehn Arbeitsthesen, in: Francis Cagianut / Willi Geiger / Yvo Hangartner / Ernst Höhn (Hrsg.), Aktuelle Probleme des Staats- und Verwaltungsrechts, FS für Otto K. Kaufmann, 1989, S. 15 – 27 und in japanischer Übersetzung, in: Jurist Nr. 976 (1991), S. 58 ff. (auch in: Rechtsvergleichung im Kraftfeld des Verfassungsstaates, 1992, S. 122 ff.); auch in koreanischer Übersetzung, in: Seoul Law-Journal, Vol. XLVI, No. 1, 2005. 3., S. 581 – 597. Soziale Marktwirtschaft als „Dritter Weg“. Ein Vorschlag für die Einbringung der sozialen Marktwirtschaft in das Grundgesetz – Sieben Thesen zu einer Verfassungstheorie des Marktes, in: ZRP 1993, S. 383 – 389; in italienischer Übersetzung, in: R.A. Dahl / G. Ferrara / P. Häberle / G.E. Rusconi (Hrsg.), La democrazia alla fine del secolo, a cura di M. Luciani, 1994, S. 135 – 173; in Modifikation: Konsequenzen für die Verfassunggebung in Polen, in polnischer Übersetzung, in: Konstytucja i Gospodarka, P. Kaczanowski (Hrsg.), Warszawa 1995, S. 7 – 33; in spanischer Übersetzung: Incursus. Perspectiva de una doctrina constitucional del mercado: siete tesis de trabajo, in: Pensamiento Constitucional Año N° 4, 1997, S. 13 – 29, sowie in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 3, Número 5, 2006, S. 1 – 23; auch in: Constitución Económica del Perú (Foro APEC), coord. C. Landa, 2008, S. 31 – 49, in russischer Sprache in: Galina A. Vera Giryaeva (Hrsg.), The concept of the „economic constitution‘‘: Modern researches, Moskau, 2008, S. 47 – 49. Die europäische Verfassungsstaatlichkeit, in: KritV 1995, S. 298 – 312; auch in: Karl Weber / Irmgard Rath-Kathrein (Hrsg.), Neue Wege der Allgemeinen Staatslehre, FS für Peter Pernthaler, 1996, S. 29 – 43; auch in: Arno Baruzzi / Akihiro Takeichi (Hrsg.), Ethos des Interkulturellen, 1998, S. 222 – 237; in spanischer Übersetzung, in: Cuestiones Constitutionales, Revista Mexicana de Derecho Constitucional Número 2, Enero-Junio de 2000, S. 87 – 104 (auch in: Das Grundgesetz zwischen Verfassungsrecht und Verfassungspolitik, 1996, S. 477 ff.; sowie auch in: Europäische Verfassungslehre in Einzelstudien, 1999, S. 64 ff.); spanische Übersetzung in: P. Häberle u. a., La Constitutionalización de Europa (ed. M. Carbonell, P. Salazar), Mexiko 2004, S. 23 – 43. Erwartungen an die Pädagogik – Aus der Sicht des Verfassungsrechts, in: Andreas Gruschka (Hrsg.), Wozu Pädagogik?, 1996, S. 142 ff., 2. Aufl. 2005. Die Verfassungsbeschwerde im System der bundesdeutschen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: JöR 45 (1997), S. 89 – 135; in spanischer Übersetzung, in: Domingo G. Belaunde / Francisco Fernández Segado (Coord.), La Jurisdiccion Constitucional en Iberoamerica, Madrid, 1997, S. 225 – 282, und in: Revista Jurídica de Macau, N.° Especial, O Direito de Amparo em Macau e em Direito Comparado, 1999, S. 175 – 236; in koreanischer Übersetzung, in: Jahrbuch des koreanischen Verfassungsgerichtes, Seoul (Korea), 2000, S. 481 – 568; in erweiterter Fassung in italienischer Übersetzung als selbständiger Band (s. I.); in portugiesischer Übersetzung, in: Direito Público 2 / 2003, S. 83 – 137; in revidierter Fassung in Spanisch: H. FixZamudio u. a. (Coord.), El Derecho de Amparo en el Mundo, Mexiko, 2006, S. 695 – 760. Kulturhoheit im Bundesstaat – Entwicklung und Perspektiven, in: AöR 124 (1999), S. 549 – 582; auch in: Bundesrat (Hrsg.): 50 Jahre Herrenchiemseer Verfassungskonvent – Zur Struktur des deutschen Föderalismus, 1999, S. 55 – 88, auch in: Jahrbuch für Kulturpolitik 2001, Bd. 2, S. 115 – 138; in span. Übersetzung, Soberanía cultural en el Estado federal: desarrollos y perspectivas, in: Patrimonio Cultural y Derecho Nr. 9, 2005, Madrid, S. 43 – 77. Methoden und Prinzipien der Verfassungsinterpretation – ein Problemkatalog, in: ERPL / REDP, vol. 12, no. 3, 2000, S. 867 – 895 (mit Zusammenfassung auf Englisch, Französisch und Italienisch); spanische Übersetzung, in: E. Ferrer / Mc Gregor (Coord.), Inter-

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pretación Constitucional, Mexiko, 2005, Bd. I. S. 673 – 700; russische Übersetzung, in: G?97 ê?%!=3+ 7?=EG3GI¨33 % 'CI133î !C;+=33 3!1+C#!5)/!=+: G+?C3a 3 AC!7G37!, 2007, S. 53 – 78. Das Verständnis des Rechts als Problem des Verfassungsstaates, in: Rechtshistorisches Journal 20 (2001), S. 602 – 611; in italienischer Übersetzung i.E.; auch in: Recht verstehen, Die Sprache das Rechts, hrsg. von K.D. Lerch, 2004, S. 155 – 165. Das Bundesverfassungsgericht als Muster einer selbständigen Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS 50 Jahre Bundesverfassungsgericht, Tübingen, 2001, S. 311 – 331; spanische Übersetzung, El Tribunal Constitucional Federal como Modelo de una Jurisdicción Constitucional Autónoma, in: Anuario Iberoamericano de Justicia Constitucional 9, Madrid, 2005, S. 113 – 151. Gemeinwohl und Gemeinsinn im internationalen verfassungsstaatlichen und europarechtlichen Kontext, in: H. Münkler / K. Fischer (Hrsg.), Gemeinwohl und Gemeinsinn im Recht, Bd. III, 2002, S. 99 ff.; auch in: FS Kassiamatis, 2004, S. 615 – 645. Kommentar zu Art. 6 BV (Individuelle und gesellschaftliche Verantwortung), in: Bernhard Ehrenzeller / Philippe Mastronardi / Rainer J. Schweizer / Klaus A. Vallender (Hrsg.), in: Die schweizerische Bundesverfassung, 2002, S. 67 – 73; 2. Aufl. 2008, S. 137 – 146. Die Herausforderungen des europäischen Juristen vor Aufgaben unserer Verfassungs-Zukunft: 16 Entwürfe auf dem Prüfstand, in: DÖV 2003, S. 429 – 443; in italienischer Übersetzung: Il giurista europeo di fronte ai compiti del nostro futuro costituzionale comune: 17 progetti sotto esame, in: I diritti fondamentali e le Corti in Europa, Neapel 2005, S. 107 – 196; auch in: I Costituzionalisti e la Tutela dei Diritti nelle Corti Europee, Milano 2007, S. 25 – 37, 48 – 51. Die Vorbildlichkeit der spanischen Verfassung von 1978 aus gemeineuropäischer Sicht, in: JöR Bd. 51, 2003, S. 587 – 605; auch in: The Spanish Constitution in the European Constitutional Context, 2003, S. 559 – 577, sowie in: Cathedra, Lima, den Año VI, N° 10, 2003, Rd. Nr. 19 – 30. (Rechts-)Wissenschaften als Lebensform, in: JöR 52 (2004), S. 155 – 164; in spanischer Übersetzung, Las ciencias (del Derecho) como forma de vida, in: Revista Peruana de Derecho Público, 2002, S. 11 – 25, sowie in: Pensiamento Constitucional, 2003, S. 45 – 59; in griechischer Übersetzung, in: Revue Hellénique des Droits de l’Homme, Bd. 20, 2003, S. 1035 – 1052. Die Verfassungsgerichtsbarkeit auf der heutigen Entwicklungsstufe des Verfassungsstaates, EuGRZ 2004, S. 117 – 125, auch in: Pensiamento Constitucional, Lima, Año X N.° 10, 2004, S. 17 – 42, auch in: Direito Público, Porto Alegre, Ano III – N° 11, 2006, S. 73 – 96, auch in: Revista internacional de Derecho Constitucional, III, 2009, S. 56 – 79. Verfassunggebung in Europa, in: Revista Latino-Americana de Estudios Constitucionais, São Paulo 2004, S. 35 – 70. Verfassungslehre als Kulturwissenschaft (Beitrag), in: Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, 2004, S. 139 – 152. Widmungsblatt für Papst Johannes Paul II, in: Giovanni Paolo II, Le vie della Giustizia, FS für Papst Johannes Paul II, 2003, S. 497 – 498. Palabras del Prof. Peter Häberle, Doctor honoris causa de la P.U.C.P., 17. Febr. 2004, S. 3 – 43 (Lima).

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Verfassungslehre als Kulturwissenschaft, in: G. Blümle u. a. (Hrsg.), Perspektiven einer kulturellen Ökonomik, 2004, S. 139 – 152; auch in: Revista Latino-Americana, 2004, Nr. 4, S. 99 – 115. Die Repräsentation in der europäischen Union, in: Fundamentos 3 / 2004, S. 247 bis 278 (Coord. J. Bastida Freijedo). Europa como comunidad constitucional en desarrollo, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Nr. 1, 2004, S. 11 – 24. La Constitución de la Unión Europea de Junio de 2004 en el Foro de la Doctrina del Derecho Constitucional Europeo, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, 2004, Nr. 2, S. 9 – 24. Menschenwürde und pluralistische Demokratie – ihr innerer Zusammenhang, in: FS Ress, Köln u. a., 2005, S. 1163 – 1173; portugiesische Übersetzung, in: I.W. Sarlet (Hrsg.), Direitos Fundamentais, Informática e Cumunicaçao, 2007, S. 11 – 28; kroatische Übersetzung, Ljudsko dostojanstvo i pluralisticka demokracija, in: politicka misao, 02 / 2006, God. 43, br. 2, S. 3 – 40. Die europäische Stadt – Das Beispiel Bayreuth, in: BayVBl. 2005, S. 161 – 164. Nationales Verfassungsrecht, regionale „Staatenverbünde“ und das Völkerrecht als universales Menschheitsrecht: Konvergenzen und Divergenzen, in: FS Zuleeg, Baden-Baden, 2005, S. 80 – 91. Möglichkeiten und Grenzen der Zusammenarbeit nationaler Wissenschaftlergemeinschaften in Sachen Verfassungsstaat, in: JöR 53 (2005), S. 345 – 357. Verfassungstheorie für Europa – eine Skizze, in: ZSE 2 (2005), S. 235 – 244; in portugiesischer Übersetzung, in: Jurisdição e Direitos Fundamentais, Anuário 2004 / 2005, S. 335 – 343; in spanischer Übersetzung, in: Revista de Derecho Político, 2005, Nr. 64, S. 15 – 24. A Constitutional Law for Future Generations – The „other“ Form of the Social Contract: The Generation Contract, in: Intergenerational Justice Review 3 / 2005, S. 28. La Comparazione Giuridica al Servizio dello Sviluppo Costituzionale L’Esempio della Distinzione tra Federalismo e Regionalismo, in: Estudos Juridicos, Vol. 10 – n°1, 2005, S. 243 – 252. El Estado constitucional europeo, in: La constitucionalización de Europa, Mexiko, 2004, S. 23 – 43. Funktion und Bedeutung der Verfassungsgerichte in vergleichender Perspektive, EuGRZ 2005, S. 685 – 688, in englischer Übersetzung, in: I. Pernice u. a. (eds.), The Future of the European Judicial System in a Comparative Perspective, Baden-Baden, 2006, S. 65 – 75; in spanischer Übersetzung: Justicia Constitucional, Ano II, Nr. 3, Lima 2006, S. 269 – 281. Juristische und politische Konsequenzen des doppelten Neins von Frankreich und den Niederlanden zur EU-Verfassung, in: W. Bausback u. a. (Hrsg.), Recht und Menschlichkeit, Gedächtnisfeier Blumenwitz, Würzburg, 2006, S. 29 – 38; in span. Übersetzung: Consecuencias jurídicas y políticas del doble „no“ francés y holandés al la Constitucioón Europea, in: Revista de derecho Constitucional Europeo, Año 2, número 4, 2005; auch in: Das alte Europa in neuer Verfassung?, Forum Constitutionis Europae, Baden-Baden, 2007 – Band 8, S. 43 – 51.

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Bibliographisches (zweite Folge)

Verfassunggebung in Europa, in: JöR Bd. 54 (2006), S. 630 – 654, spanische Übersetzung, in: ed. M. A. G. Herrera, Constitución y Democracia, Vol. I (2006), S. 29 – 58. Föderalismus / Regionalismus – eine Modellstruktur des Verfassungsstaates – Deutsche Erfahrungen und Vorhaben – Memorandum für ein spanisches Projekt, in: JöR Bd. 54, 2006, S. 569 – 582; spanische Übersetzung, in: Revista Espanola de Derecho Constitucional, 77, 2006, S. 9 – 25. Textstufen in österreichischen Landesverfassungen – ein Vergleich, in: JöR 54 (2006), S. 367 – 383. Aspectos de una Teoria Constitucional Para Europa – Un Bosquejo, in: El Derecho Procesal Constitucional Peruano, FS Belaunde, 2005, Lima, Bd. II, S. 1261 – 1271. Menschenrechte und Globalisierung, JöR 55 (2007), S. 397 ff. Verfassungsrechtliche Aspekte der kulturellen Identität, JöR 55 (2007), S. 317 ff.; in spanischer Übersetzung in: Revista Derechos y Libertades, Bd. 14, 2006, S. 89 – 101; auch in: Valadés / Carbonell (Coord.), El Estado constitucional contemporáneo, Bd. I, Mexiko, 2006, S. 431 – 442; auch in: Revista Peruana de Derecho Público, 16, 2008, S. 13 – 25. El federalismo y el regionalismo, in: Derecho Constitucional, 77 Ano 26 (2006), S. 9 – 25. A constitutional law for future generations – the ‘other’ form of the social contract: the generation contract, in: Handbook of Intergenerational Justice, ed. J.C. Tremmel, Cheltenham, 2006, S. 215 – 229. Neue Horizonte und Herausforderungen des Konstitutionalismus, in: EuGRZ 2006, S. 533 – 540. Verfassungsgerichtsbarkeit in der offenen Gesellschaft, in: R. C. von Ooyen / M. H. W. Möllers (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht im politischen System, Wiesbaden, 2006, S. 35 – 46. Der Sinn von Verfassungen in kulturwissenschaftlicher Sicht, in: AöR 131 (2006), S. 621 – 642; auch in: C. Mongardini (a cura di), Il senso delle Costituzioni, Rom, 2008, S. 25 – 50. Rechtskultur und Entwicklung, in spanischer Übersetzung, in: Diálogo Científico, Bd. 15, Nr. 1 / 2, 2006, S. 11 – 25. Verfassungsprozessrecht (Deutschland), in: Belaunde / Barrera, Encuesta sobre Derecho Procesal Constitucional, Mexiko, 2006, S. 3 – 10, auch in: Derecho Procesal Constitucional, Lima, 2006, S. 21 – 29. Legal Comparison for Constitutional Development – The Relevance of Federalism and Regionalism, in: J. Luther u. a., A World of Second Chambers, Mailand, 2006, S. 47 – 61. Die deutsche Universität darf nicht sterben – Ein Thesenpapier aus der Provinz, JZ 2007, S. 183 f.; in portugiesischer Übersetzung, in: direito e justiça, 2007, Curitiba (Brasilien), S. 12; englische Übersetzung in: Stellenbosch Law Review, 2007, Vol. 18 No. 1, S. 3 – 5. Beschränkung und Missbrauch der Grundrechte im Kontext des europäischen Verfassungsvergleichs – eine Problemskizze, in: Liber amicorum Wildhaber, Kehl, 2007, S. 313 – 321. Ciudadania a través de la educación como objetivo europeo in: Academia Ano 4 – número 7 2006, S. 103 – 122.

Bibliographisches (zweite Folge)

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Föderalismus-Modelle im kulturellen Verfassungsvergleich, in: ZÖR 62 (2007), S. 39 – 59; spanische Übersetzung, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Nr. 8, 2007, S. 171 – 188. Rechtsvergleichung im Dienste der Verfassungsentwicklung – an Beispielen des Föderalismus / Regionalismus bzw. von Zweikammersystemen, in: Wege gelebter Verfassung in Recht und Politik, FS für Rupert Scholz zum 70. Geb., Berlin, 2007, S. 583 – 594. Rechtskultur und Entwicklung, in: Kultur und Entwicklung, A. Boeckh u. a. (Hrsg.), BadenBaden, 2007, S. 39 – 50. Vermachtungsprozesse in nationalen Wissenschaftlergemeinschaften, insbesondere in der deutschen Staatsrechtslehre, in: Die Verwaltung, 2007, Beiheft 7, S. 159 – 174. Bürgerschaft durch Bildung als europäische Aufgabe, in: Verfassungen Zwischen Recht und Politik, FS für Hans-Peter Schneider zum 70. Geb., Baden-Baden, 2008, S. 460 – 474. A Sociedade Aberta dos Intérpretes da Constiuição – Considerações do Ponto de Vista Nacional-Estatal Constitucional e Regional Europeu, Bem Como sobre o Desenvolvimento do Direito Internacional, in : Direito Público, 18 / 2007, Brasilia, S. 54 – 79. Neuere Schweizer Kantonsverfassungen – eine Einführung mit Dokumentationen, JöR 56 (2008), S. 279 – 477. Juristische Kultur in Katalonien, JöR 56 (2008), S. 503 – 521. Die deutsche EU-Ratspräsidentschaft (1. Januar 2007 bis 30. Juni 2007), JöR 56 (2008), S. 523 – 559. Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen, in: Iustitia et Pax, Gedächtnisschrift für D. Blumenwitz, Berlin, 2008, S. 861 – 868. „Gemeinwohl“ und seine Teil- und Nachbarbegriffe im kulturellen Verfassungsvergleich, in: M. Morlok / U. v. Alemann / H. Merten (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, 2008. Verfassungsstaatliche Textstufen in Sachen kommunaler Selbstverwaltung – eine Skizze, in: FS Siedentopf zum 70. Geb., Berlin, 2008, S. 411 – 427. Nachhaltigkeit und Gemeineuropäisches Verfassungsrecht – Eine Textstufenanalyse, in: W. Kahl (Hrsg.), Nachhaltigkeit als Verbundbegriff, Tübingen, 2008, S. 180 – 203. El Tratado de Reforma de Lisboa de 2007, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 5, Número 9, 2008. Rectas y Rodeos, Caminos de Ida y Vuelta en la Dogmática Alemana de Los Derechos Humanos, in: FS Peces-Barba, Band III, 2008, S. 685 – 693. Gedächtnisblatt für J. G. Encinar: Der Beitrag der spanischen Staatsrechtslehre zum gemeineuropäischen Verfassungsgespräch, GS für Encinar, Madrid, 2009, i.E. Italienisch-deutsche Begegnungen – aus der Sicht eines deutschen Staatsrechtslehrers – ein Geburtstagsblatt für A. A. Cervati, FS Cervati, Rom, 2009, i.E. Geburtstagsblatt für G. Valadés, FS Valadés, Mexico City, 2009, i.E. Das „eigene Gesicht“ der Verfassung Georgiens von 1995 – eine Skizze, in: Proceedings of the Georgian Academy of Sciences. Law Series, Heft 2, 2007, S. 5 – 12. El valor de la autonomia como elemento de la cultura constitucional común europea, in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 5, Número 10, 2008.

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Bibliographisches (zweite Folge)

Verfassung „aus Kultur“ und Verfassung „als Kultur“ – ein wissenschaftliches Projekt für Brasilien (2008), portugiesische Übersetzung: Constituição „a partir da cultura“ e Constituição „enquanto cultura“ – un projeto cientifico para o Brasil, in: J. Pinheiro Faro Homen de Siqueira et al. (Hrsg.), Homenajem dos 20 anos de Constituição Brasileira, 2008. La jurisdicción constitucional en la sociedad abierta, in: FS Fix Zamudio, 2009, S. 125 – 127. Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen (2. Folge), FS Fiedler, 2010, i.E. Pädagogische Briefe an einen jungen Verfassungsjuristen (3. Folge), und ein Konzept der Vorlesung „Rechtsphilosophie“, FS Mendes, 2009, i.E. Verfassung – Kultur – Gottesklauseln, FS Pace, 2009, i.E.

III. Buchbesprechungen und Buchanzeigen Buchanzeige von: O. Depenheuer / M. Heintzen / M. Jestaedt / P. Axer (Hrsg.): Nomos und Ethos. Hommage an Josef Isensee zum 65. Geburtstag von seinen Schülern, 2002, in: AöR 128 (2003), S. 496 – 499. Buchbesprechung von: Klaus Lüderssen: Produktive Spiegelungen. Recht in Literatur, Theater und Film, in: JZ 2004, S. 193 – 194. Buchanzeige von: Herrmann Huba: Theorie der Verfassungskritik, 1996, in DVBL 2004, S. 1014 f. Buchanzeige von: Heiko Faber / Götz Frank (Hrsg.): Demokratie in Staat und Wirtschaft. FS für Stein, Ekkehart zum 70. Geb., in: AöR 129 (2004), S. 444 – 446. Buchanzeige von: Michael Brenner / Peter M. Huber / Markus Möstl (Hrsg.): Der Staat des Grundgesetzes – Kontinuität und Wandel. FS für Peter Badura zum 70. Geb., in: AöR 129 (2004), S. 484 f. Buchanzeige von: Robert Theissen: Der Ausschuss der Regionen (Art. 198 a-c EG-Vertrag). Einstieg der Europäischen Union in einen kooperativen Regionalismus?, in: AöR 129 (2004), S. 450 – 452. Besprechung von: A. Peters, Elemente einer Theorie der Verfassung Europas, 2001, in: EUR 2004, S. 823 f. Buchanzeige von: Jürgen Meyer (Hrsg.), Kommentar zur Charta der Grundrechte der Europäischen Union, 2003, in: JZ (2005), S. 456 f. Buchanzeige von: Carl-Eugen Eberle / Martin Ibler / Dieter Lorenz (Hrsg.), Der Wandel des Staates vor den Herausforderungen der Gegenwart. FS für Winfried Brohm zum 70. Geb., in: AöR 130 (2005), S. 297 – 299. Buchanzeige von: Horst Dreier / Hans Forkel / Klaus Laubenthal (Hrsg.), Raum und Recht. FS 600 Jahre Würzburger Juristenfakultät, in: AöR 130 (2005), S. 319 – 322. Buchanzeige von: H. de Wall u. a. (Hrsg.), Festschrift für Link, 2003, in: AöR 131 (2006), S. 499 – 501. Buchanzeige von: Stefan Muckl (Hrsg.), Kirche und Religion im sozialen Rechtsstaat. FS für Wolfgang Rüfner zum 70. Geb., in: AöR 131 (2006), S. 679 – 680.

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Buchanzeige von: Oliver Scheytt, Kommunales Kulturrecht. Kultureinrichtungen, Kulturförderung und Kulturveranstaltungen, in: AöR 132 (2007), S. 152 f. Buchanzeige von: Lerke Osterloh / Karsten Schmidt / Hermann Weber (Hrsg.), Staat, Wirtschaft, Finanzverfassung. FS für Peter Selmer zum 70. Geb., in: AöR 132 (2007), S. 150 – 152. Buchanzeige von: Walter Krebs (Hrsg.), Liber amicorum Hans-Uwe Erichsen. Zum 70. Geb., in: AöR 132 (2007), S. 147 f. Buchanzeige von: Klaus Grupp / Ulrich Hufeld (Hrsg.), Recht-Kultur-Finanzen. FS für Reinhard Mußgnug zum 70. Geb. (2007), in: AöR 132 (2007), S. 307 – 309. Buchanzeige von: Klaus Dicke / Stephan Hobe / Karl-Ulrich Meyn / Anne Peters / Eibe Riedel / Hans Joachim Schütz / Christian Tietje (Hrsg.): Weltinnenrecht. Liber amicorum Jost Delbrück in: AÖR 132 (2007), S. 482 – 483. Buchanzeige von: Metin Akürek / Gerhard Baumgartner / Dietmar Jahnel / Georg Lienbacher / Harald Stolzlechner (Hrsg.), Staat und Recht in europäischer Perspektive, FS für Heinz Schäffer, in: AÖR 132 (2007), S. 628 – 629. Buchanzeige von: Jörg Menzel, Landesverfassungsrecht, Verfassungshoheit und Homogenität im grundgesetzlichen Bundesstaat, in: AÖR 133 (2008), S. 142 – 143. Buchanzeige von: Karl Weber / Norbert Wimmer (Hrsg.), Vom Verfassungsstaat am Scheideweg. FS für P. Pernthaler, 2005, in: AöR 133 (2008), S. 299 – 301. Buchanzeige von M. Anderheiden: Gemeinwohl in Republik und Union, 2004, in: Die Verwaltung 2009, S. 141 – 144. Buchanzeige von: S. Grote / Marauhn (Hrsg.), Konkordanzkommentar zum europäischen und deutschen Grundrechtsschutz EMRK / GG, in: JZ 2009, i.E. Buchanzeige von: FS Bartelsperger, 2006, AöR 2009, i.E.

IV. Sonstiges Diskussionsbeiträge in: VVDStRL 63 (2004), S. 77 f., 199, 445 f.; 64 (2005), S. 86 f., 186 f., 426; 65 (2006), S. 88 f., 226 f., 336 f.; 66 (2007), S. 84 f., 97, 190 f., 340 f., 423 f.; 67 (2008), S. 95 f., 202 f., 218, 463 f.; 68 (2009) i.E. Geleitwort zum ELSA-Jahresbericht 2002 / 2003, S. 3. Schlusswort zur Gedächtnisfeier W. Mößle, hrsg. von R. Streinz und M. Möstl, 2004, S. 61 – 64. Geleitwort zum ELSA-Jahresbericht 2003 / 2004, S. 1. Análisis Comparativo del Sistema Constitucional Alemán y el Fenomeno de la Globalización, Interview P. Häberle / D.G. Belaunde, in: Derecho & Sociedad, Año XV N° 22, 2004, S. 54 – 59. Schriftliche Beantwortung der Fragen zur öffentlichen Anhörung zum Thema „Kulturelle Staatszielbestimmungen“, K.-Drs. 15 / 165 (2004), Bundestag Berlin. Forschen für Europas Verfassungszukunft, in: Spektrum Nr. 1 / 05, S. 6 – 8 (Bayreuth). Nachruf zum Tode von Konrad Hesse (1919 bis 2005), in: AöR 130 (2005), S. 289 – 293; auch in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Numero 3 (2005), S. 293 – 297; auch

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in ZÖR 60 (2005), S. 279 – 280; weitere Nachrufe in ZevKR 50 (2005), S. 569 – 574 und im Jahrbuch der Bayerischen Akademie der Wissenschaften (2005), S. 339 – 343; chinesische Übersetzung 2007. Grußwort zum Symposium „Die Öffnung des Verfassungsrechts“ für J. P. Müller zum 65. Geburtstag, in: Sonderheft „recht“ 2005, S. 5. Vorwort zu Francesca Rescigno, I diritti degli Animali, Turin, 2005, S. 8 – 15. Vorwort zu J. Brage Camazano, Los limites a los derechos fundamentales en los inicios del constitucionalismo mundial y en el constitucionalismo histórico español, Mexiko City, 2005, S. XV – XVII. Teoria Constitucional Juridico-Comparativa, Interview in: Revista Juridica Consulex, ANO X Nr. 232, 2006, S. 9 – 12. Horst Ehmke zum 80. Geburtstag, in: AöR 131 (2006), S. 507 – 509. Interview mit Professor Posavec, in: Politicäka misao, 2006, God. 43, br. 2, S. 43 – 52. Interview mit Professor H. Kuriki (Nagoya-shi), Über die Verfassungsgerichtsbarkeit (Übersetzung ins Japanische durch Prof. I. Hatajiri), in: Revue de Droit Comparé Comparative Law Review, Vol. XL. No. 3 (139), 2006, S. 49 – 77. Interview mit M.A. Maliska, Estado Constitutional Cooperativo, in: Cadernos da Escola de Direito e Relações Internacionais da UniBrasil, 2007, N° 7, S. 75 – 81. Zum 70. Geb. von J. P. Müller, AöR 133 (2008), S. 432 f. Laudatio zum 75. Geb. von D. T. Tsatsos, in: P. Brandt (Hrsg.), Festkolloquium in Hagen, 2009, i. E. Vorwort zu M. Azpitarte, Cambiar el Pasado, 2008, S. 15 – 17. Diskussionsbeiträge in: B. Ehrenzeller u. a. (Hrsg.), Präjudiz und Sprache, Zürich / St. Gallen, 2008, S. 77 f., 150 – 152, 241 – 245. Geleitwort zum ELSA-Jahresbericht 2007 / 08. Diskussionsbeiträge in: M. Morlok u. a. (Hrsg.), Gemeinwohl und politische Parteien, 2008, S. 69 f., 75. Interview O mentor do STF, in: Valor, 21, 22, 23 de novembro de 2008, S. 12 f. Vorwort zu Rubén Sánchez, El legado del caso „Lüth“, Mexico City, 2009, i.E. Pequeño concierto, CD Mexico City, 2004.

V. Alleinherausgebertätigkeit Jahrbuch des öffentlichen Rechts, N.F., seit Band 32 (1983) – zuletzt Band 51 (2003), 53 (2005), 54 (2006), 55 (2007), 56 (2008), 57 (2009).

VI. Bibliographien u. a. über Peter Häberle Gerardo Eto Cruz, Peter Häberle: El Estado Constitutional: Un grandioso aporte al constitutionalismo ecuménico, in: Nuevo Norte, 11. November 2003, S. 9 und 2. November 2003, S. 9; ebd. 14. Februar 2004, S. 9.

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Rafael Caiado Amaral, Peter Häberle e a Hermenêutica Constitucional, 2004, 197 Seiten. J. Brage Camazano, in: P. Häberle, Nueve Ensayos Constitucionales, 2004, S. 9 – 19. I. Hatajiri, Eine Studie über die Verfassungslehre von P. Häberle und ihre Rezeption in Japan, in: FS für Prof. Takeshi Yamashita, Tokyo 2004, S. 143 – 175. I. Hatajiri, Die Theorie über die Verfassungsgerichtsbarkeit von P. Häberle, in: FS Hisao Kuriki, Bd. I, Tokyo 2003, S. 231 – 250. I. M. Coelho, As Idéias de Peter Häberle e a Abertura da Interpretacao Constitucional no Direito Brasileiro, in: Direito Público, 2004, Nr. 6, S. 5 – 15. D. B. Vargas, O Constitucionalismo e a Esperança . . . , in: Direito Público, 2004, Nr. 6, S. 123 – 135. M. Stolleis, Ins Offene, Zum 70. Geburtstag von P. Häberle, FAZ vom 13. Mai 2004. D. G. Belaunde / G.E. Cruz / F.J. Del Solar / H.D. Haro, Homenaje a Peter Häberle, in: Revista Peruana de Derecho Público, Año 5, N° 8, Enero-Junio, Lima 2004, S. 185 – 201. A. Blankenagel / I. Pernice / H. Schulze-Fielitz (Hrsg.), Verfassung im Diskurs der Welt, Liber Amicorum für P. Häberle, 2004. F. Balaguer Callejón (Hrsg.), Derecho Constitucional y Cultura, Estudios en Homenaje a P. Häberle, 2004. C. Landa, Discurso de orden en la ceremonia de incorporación de Peter Häberle, in: Pensamiento Constitucional, 2005, Nr. 11, Peru, S. 471 – 501. M. Kotzur, Präjudiz und Sprache – Erstes Forschungskolloquium der „Peter Häberle Stiftung an der Universität St. Gallen“ (28. / 29. Oktober 2005), DVBl. 2006, S. 353 f. Laudatio von Prof. Mendes anlässlich des Dr.h.c. an der Bundesuniversität in Brasilia, in: Universidade de Brasilia, Cerimônia de Entrega, 16. Sept. 2005, Brasilia. Angelo Antonio Cervati, El Derecho constitucional entre método comparado y ciencia de la cultura (El pensamiento de Peter Häberle y la exigencia de modificar el método de estudio del Derecho constitucional), in: Revista de Derecho Constitucional Europeo, Año 3, Numero 5, 2006. E. M. Mikunda, Peter Häberle en Calidad de Iusfilosofo Pionero del Constitucionalismo Europeo, in: Questiones Constitucionales, Num. 15, 2006, S. 193 – 221. Enciclopedia Italiana Treccani, Lo Stato Costituzionale ( . . . ), (Beiträge von Capotosti, Lanfranchi, Caravale, Cheli, Elia, Onida, Zagrebelsky, Dogliani, Rescigno), Rom, 2006, 110 S. J. L. López González, Häberle, Peter: Teoria de la Constitución como ciencia de la cultura, in: Asamblea, Revista Parlamentaria de la Asamblea de Madrid, Nr. 5, Dez. 2001, S. 193 – 196. J. F. Palomino Manchego, Peter Häberle en Córdoba, uno de los más reconocidos constitucionalistas del mundo, in : juridica (Peru), Ano 4, 2007, Número 171, S. 3 – 5. Peter Häberle, Beitrag von M. Spörl, Profile aus Bayreuth – Stadt und Land, 2008, S. 134 f. E. Mikunda, Filosofia y teoria del Derecho en Peter Häberle, 2009, i.E.