Verfassungsmischung Und Verfassungsmitte: Moderne Formen Gemischter Verfassung in Der Politischen Theorie Des Beginnenden Zeitalters Der Gleichheit (German Edition) [1. Aufl] 3428039122, 9783428039128


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German Pages 250 [251] Year 1977

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Verfassungsmischung Und Verfassungsmitte: Moderne Formen Gemischter Verfassung in Der Politischen Theorie Des Beginnenden Zeitalters Der Gleichheit (German Edition) [1. Aufl]
 3428039122, 9783428039128

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VIKTOR WEMBER

Verfassungsmischung und Verfassungsmitte

Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 27

Verfassungs mischung und Verfassungsmitte Modeme Formen gemischter Verfassung in der politischen Theorie des beginnenden Zeitalters der Gleichheit

Von

Dr. Viktor Wemher

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Gedruckt mit Unterstützung der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Freiburg i. Br. CIP-Kurztitelaufnahme der Deutschen Bibliothek Wember, Viktor

Verfassungsmischung und Verfassungsmitte: moderne Formen gemischter Verfassung in d. polit. Theorie d. beginnenden Zeitalters d. Gleichheit. - 1. Auf!. - Berlin: Duncker und Humblot, 1977. (Beiträge zur Politischen Wissenschaft; Bd. 27) ISBN 3-428-03912-2

Alle Rechte vorbehalten 1977 Duncker & Humblot, Berl1n 41 Gedruckt 1977 bei Buchdruckerei Bruno Luck, Berl1n 65 Printed in Germany ~

ISBN 3 428 03912 2

Inhalt (grobe Vbersicht) Einleitung Historischer Teil Erster Abschnitt

Das Theorem der gemischten Verfassung von der Antike bis zur frühen Neuzeit Gemischte Verfassung gleich mittlere Verfassung ................................ 23 2. Kap.: Kurzer überblick über die Geschichte des Theorems der gemischten Verfassung bis zur frühen Neuzeit .................................... 39 1. Kap.: Aristoteles -

Zweiter Abschnitt

Die Verfassungsmischung von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Gleichgewicht der Stände und funktionale Gewaltenteilung ........................ Rousseau Individualistisches Staatsdenken und die Ablehnung der gemischten Verfassung.. Der Federalist Die Vielfalt der Interessengruppen gegen die übermacht einer einzigen .......... Konservative und Romantiker - Der Ständestaat: die radikalisierte Verfassungsmischung ............ Tocqueville Verfassungsmischung unter den Bedingungen des Mehrheitsprinzips ..........

3. Kap.: Montesquieu 4. Kap.: 5. Kap.: 6. Kap.: 7. Kap.:

8. Kap.: Liberale Denker 9. Kap.: Robert Mohl 10. Kap.: Marx und Engels -

56 74 85 106 118

Die durch die Freiheit bedingten Ungleichheiten und die Proportionalität der gesellschaftlichen Schichten . . . . . . . . . . .. 135 Ausgleich der Gruppen in der pluralistischen Volksvertretung .................. 156 Zur Gleichheit durch den Klassenkampf: die radikalisierte Verfassungsmitte ...... 182

6

Inhalt

Systematischer Teil 11. Kap.: Die modernen Mischungskonzeptionen ...................... 199 12. Kap.: Die verschiedenen Nachfolger des Theorems der gemischten Verfassung ................................................. ". 212 13. Kap.: Der Zweck der gemischten Verfassung und ihrer Nachfolgetheoreme .................................................... 230

Zusammenfassung in drei Thesen

233

Literaturverzeichnis

235

Inhalt (detaillierte Gliederung der einzelnen Kapitel) Einleitung I. Ausgangssituation ................................................ 15 11. Fragestellung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16

UI. Vorgehensweise, zeitliche und sachliche Eingrenzung ..............

17

IV. Zum Begriff der Verfassungsmitte ................................

18

V. Literatur

19

HISTORISCHER TEIL

Erster Abschnitt Das Theorem der gemischten Verfassung von der Antike bis zur frühen Neuzeit 1. Kapitel

ARISTOTELES -

Gemischte Verfassung gleich mittlere Verfassung

23

I. Was bedeutet gemischte Verfassung? .............................. 23 1. Reine und gemischte Verfassungen; gute und schlechte Verfas-

sungsmischungen .. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 23 2. Mischung von Staatsformen und Mischung von Bevölkerungsgruppen ...................................................... 24 3. Gemischte Verfassung als mittlere Verfassung........ . .. .. ..... 25 U. Die gemischte Verfassung als beste Verfassung. .. ...... .. ..... ....

28

UI. Der Zweck: der gemischten Verfassung............................ 30 1. Grundsätzliches zur politischen Argumentation bei Aristoteles .. 30 2. Die Eintracht ist der Zweck: der gemischten Verfassung. . ... ... 32 3. Die Komponenten der Eintracht ................................ 34 a) Verträglichkeit ......... ...... ........... .... .. ... .. . ... ... b) Politische Freundschaft .................................... c) Gemeinsame Ansichten ...................................... 4. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

34 36 37 37

Inhalt

8 2. Kapitel

Kurzer Uberblirk über die Geschichte des Theorems der gemischten Verfassung bis zur frühen Neuzeit....... .......... ....................... 39 A. PLATON -

Mischung von Freiheit und Herrschaft ..............

39

B. POLYBIOS und CICERO - Zuordnung der Bevölkerungsschichten zu den verschiedenen Staatsorganen .............................. 41 C. THOMAS von AQUIN - Gemischte Verfassung gleich gemäßigte Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 D. Englische Autoren vom 16. bis zum 18. Jahrhundert - Verbindung von gemischter Verfassung mit Gewaltenteilung .................. 46 E. BODIN und HOBBES -

Souveränität contra gemischte Verfassung 49

Zweiter Abschnitt

Die Verfassungsmischung von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts 3. Kapitel

MONTESQUIEU - Gleichgewicht der Stände und funktionale Gewaltenteilung ............................................................ I. Verfassungsmischung und Gewaltenteilung ........................ 1. Die Staatsfunktionen und ihre Träger .......................... 2. Der Volksbegriff .............................................. 3. Die zwei verschiedenen Gewaltenteilungs-Schemata ............ 4. Montesquieus Gewaltenteilung zwischen altem Ständestaat und modernem Staat gleicher Bürger . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

56 57 57 57 59 61

II. Die gemäßigte Verfassung im System der Staatsformen............ 1. Montesquieus Schema der Staatsformen ........................ 2. Die Bedeutung der gemischten Verfassung..... ....... ... ....... 3. Zusammenfassung (für die Abschnitte I und II) ................

62 62 64 67

III. Der Zweck der gemäßigten und gemischten Verfassung............

67

1. Freiheit ...................................................... 2. Gleichgewicht und Harmonie (der poietisch-konstruktivistische Aspekt bei Montesquieu) ...................................... 3. Tugenden und "Prinzipien" .................................... 4. Zur Verfassungsmitte bei Montesquieu .......................... 5. Zusammenfassung

67 69 70 71 73

4. Kapitel

ROUSSEAU ....... Individualistisches Staatsdenken und die Ablehnung der gemischten Verfassung... ............................................. 74

I. Die Ablehnung der gemischten Verfassung........................

74

Inhalt 1. Die Ausschließlichkeit des unmittelbaren Verhältnisses zwischen

9

Individuum und Staat; Verbot aller Zwischengruppen ..........

74

2. Die gemischten Regierungsformen ..............................

78

11. Reste der Verfassungsmischung ....................................

82

5. Kapitel DER FEDERALIST - Die VielfaU der Interessengruppen gegen die Vbermacl1t einer einzigen ............................................ 85 I. Der Abbruch des Zusammenhangs zwischen gemischter Verfassung

und Gewaltenteilung

. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85

II. Die Bedeutung von Klassenunterschieden für die Verfassung...... 1. Verfassungs-Relevanz der Bevölkerungsschichten auch im Gemeinwesen mit staatsbürgerlicher Gleichheit .................. 2. Die Klassenstruktur ............................................ 3. Die Art des Einflusses der Klassenstruktur auf die Zusammensetzung des Parlaments ........................................ III. Die neue Form der gemischten Verfassung........................ 1. Die Vielfalt der Gruppen ...................................... 2. Das Besondere dieser Mischungs-Konzeption .................... 3. Vergleich mit früheren gemischten Verfassungen................ 4. Des Federalist Ablehnung anderer Lösungen zum Problem der Interessengruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 5. Die grundsätzlich positive Einstellung des Federalist gegenüber den Interessengruppen ........................................

89 89 91 92 93 93 95 97

98 99

IV. Der Zweck der Verfassungsmischung .............................. 100 Rückblick: JOHN ADAMS - Zwischen der alten Identifikation von gemischter Verfassung mit Gewaltenteilung und dem modernen Abbruch der Zuordnung von Staatsorganen zu sozialen Gruppen ................ 101 6. Kapitel KONSERVATIVE und ROMANTIKER - Der Ständestaat: die radikalisierte Verfassungsmiswung .......................................... 106 A. EDMUND BURKE - Die gemischte Verfassung in ihrer tradierten Form ., ................................. '" ...................... 106 B. F. SCHLEGEL, J. GÖRRES, A. MüLLER, F. BAADER, F. J. STAHL 108 I. Die Stände als Voraussetzung für die Möglichkeit einer gemischten Verfassung ...................................................... 108 11. Einzelne direkte Bezüge zur Verfassungsmischung und Verfassungs-

mitte

............................................................ 109

III".Die Verschiedenheit von romantischer Organismusvorstellung und gemischter Verfassung ............................................ 113

Inhalt

10 7. Kapitel

TOCQUEVILLE - Verfassungsmiscl1ung unter den Bedingungen des Mehrheitsprinzips .................................................... 118 I. Tocquevilles Stellungnahme zur Theorie der gemischten Verfassung 118 1. Die Unmöglichkeit einer gleichmäßig gemischten Verfassung .... 118 2. Das Erfordernis der gemäßigten Verfassung .................... 119

11. Das Grundprinzip der modernen Gesellschaftsstruktur: Gleichheit oder Ungleichheit? ................................................ 1. Die Herrschaft der Mehrheit als Herrschaft der Armen ........ 2. Die Fortschreitende Egalisierung .............................. 3. Die bleibende Ungleichheit ....................................

121 121 121 122

111. Die Besonderheiten der neuen Formen von Gruppen im Staat ...... 1. Vereine ........................................................ 2. Parteien 3. Soziale Schichten ..............................................

124 124 124 125

IV. Die Mischungs-Konzeption ........................................ 1. Die Macht der nicht dominierenden Gruppen .................. 2. Die Mischung aller Gruppen und das Mittelmaß ................ a) Mischung der Klassen ...................................... b) Mittlere Lebensform ........................................ c) Mittlerer Besitz ............................................

126 126 128 128 128 130

V. Der Zusammenhang von Mischung und Mitte VI. Der Zweck der Mischung der Klassen und des Mittelmaßes

131 133

8. Kapitel

LIBERALE DENKER - Die durcl1 die Freiheit bedingten Ungleicl1heiten und die Proportionalität der gesellscl1aftlicl1en Schicl1ten .......... 135 A. Das Verhältnis der Grundthesen liberalen Staatsdenkens zur gemischten Verfassung und überblick über die behandelten Autoren .. 135 B. KARL von ROTTECK - Proportionale Vertretung der nach Besitz unterschiedenen Bevölkerungsschichten ............................ 138 I. Die Prinzipien der gemischten Verfassung gegen die abstrakte Gleichheit .............................................................. 138 11. Die Volksvertretung als Ort der Verfassungsmischung .............. 139 111. Besonderheiten von Rottecks Konzept; die Unterscheidung von "separativer" und "interner" Mischung .............................. 144 C. JOHN STUART MILL - Proportionale Vertretung der nach Grad der Bildung unterschiedenen Bevölkerungsschichten .............. 146 I. Demokratie, Proportionalität und gemischte Verfassung ............ 147

Inhalt

11

II. Wahlrecht und gemischte Verfassung

148

III. Gewaltenteilung und Mischung von Entscheidungsstrukturen ...... 152 D. HEINRICH AHRENS - Trennung zwischen atomistischem und ständischem Staatsaufbau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 153 9. Kapitel

ROBERT MOHL - Ausgleich der Gruppen in der pluralistischen Volksvertretung ............................................................ 156

I. Das Ausgangsproblem: Aufbau der Gesellschaft auf abstrakter Gleichheit oder auf den Interessengruppen ........................ 156 II. Die Konzeption einer gemischten Verfassung für die Gesellschaft des 19. J~hrhunderts .................................................. 1. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und der funktionale Charakter der gesellschaftlichen Gruppen . . . . . . . . . . . . . . .. a) Die Bedeutung des Unterschieds von Staat und Gesellschaft bei Mohl .................................................... b) Die sich überschneidenden "gesellschaftlichen Kreise" ........ 2. Das Repräsentativsystem ...................................... a) Darstellung von Mohls System der Volksvertretung .......... b) Vergleich mit der späteren Entwicklung ....................

158 158 158 161 162 162 168

III. Der Ausgleich zwischen Fabrikarbeitern und Kapitalisten .......... 171 1. Grundsätzliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter ........................................................ 171 2. Die alte und die neue Form des Mittelstands .................... 174 IV. Der Zweck von Mohls Konzeptionen zu Verfassungsmischun~ und Verfassungsmitte ................................................ 177 1. Zusammengehörigkeit der zwei Reformüberlegungen ............ 177 2. Alte Zweckorientierung trotz veränderter ökonomisch-sozialer Probleme ...................................................... 179 10. Kapitel

MARX und ENGELS - Zur Gleidlbeit durch den Klassenkampf: die radikalisierte Verfassungsmitte .......................................... 182 I. Die unversöhnlichen Klassengegensätze ............................ 182

1. Die Unterscheidung der Staatsformen entsprechend der Klassen-

herrschaft ...................................................... 2. Die spezifisch moderne Klassenstruktur im Zeitalter der nur imaginären staatsbürgerlichen Gleichheit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 3. Die Feindschaft zwischen den Klassen und die Ablehnung jeglicher Schritte zu einer Verfassungsmischung .................... 4. Die historischen Ausnahmesituationen von Zuständen gemischter Verfassung .................................................... 5. Parallelen zu einer Mittelstands-Konzeption .................... 6. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . ..

182 183 186 188 189 191

12

Inhalt

II. Die Bedeutung der ökonomischen Fundierung einer Klassentheorie für die 'Überlegungen zur Verfassungsmischung .................... 192 III. Zusammenstellung alter, im Zusammenhang der gemischten Verfassung wichtiger Topoi in ihrer veränderten Bedeutung bei Marx und Engels ............................................................ 195

SYSTEMATISCHER TEIL 11. Kapitel Die modernen Mischungskonzepiionen ................................ 199

I. Der veränderte Bezugsrahmen für die Verfassungsmischung durch die neue Gesellschaftsstruktur .................................... 199 1. Das Verhältnis von Gleichheit zu Ungleichheit in den verschiede-

nen Staatstheorien ............................................ 199 2. Zuordnung der Mischungskonzeptionen zu den Theorien über den Staatsaufbau .................................... . . . . . . . . . . . . .. 205 II. Systematik der Mischungsformen ................................ 208 1. Separative und interne Mischung .............................. 208 2. Direkte und indirekte Mischung 209 12. Kapitel

Die verschiedenen Nachfolger des Theorems der gemischien Verfassung 212 I. Mischung von Entscheidungsstrukturen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .. 214 1. Die Zahl der Herrschenden als Kriterium für die verschiedenen Staatsformen .................................................. 214 2. Exkurs über den Gruppenbegriff im Hinblick auf die gemischte Verfassung ..............•..................................... 217 11. Gewaltenteilung .................................................. 223 III. Mischung von Bevölkerungsgruppen - neue Begriffe für ein altes Problem .......................................................... 225 13. Kapitel

Der Zweek der gemischten Verfassung und ihrer Nachfolgeibeoreme

230

I. Die Verselbständigung von Teilaspekten der Eintracht ............ 230 II. Die Unterscheidung der verschiedenen Nachfolgetheoreme der gemischten Verfassung nach ihrem Zweck ............................ 231

Zusammenfassung in drei Thesen

233

Literaturverzeidmis

235

EINLEITUNG

I. Ausgangssituation "Welche Regierung ist besser, die einfache oder die gemischte? Diese Frage hat die Politiker stets erregt, sie muß auf dieselbe Weise beantwortet werden, wie ich es früher bei der Frage über die Regierungsformen getan habe. Die einfache Regierungsform ist schon um ihrer bloßen Einfachheit willen an und für sich die beste", sagt Rousseau im "Contrat Social"l. - "Gemischt", das heißt zusammengesetzt aus Demokratie, Aristokratie und Monarchie; und "einfach" bedeutet: jeweils eine dieser drei genannten Regierungsformen allein und ohne Zusätze. John Adams verficht in seiner Verteidigung der amerikanischen Verfassungen eine gegenteilige Auffassung: "Ohne drei Stände (orders) und eine wirkungsvolle Balance zwischen ihnen in jeder amerikanischen Verfassung kommt es zwangsläufig zu häufigen unvermeidlichen Revolutionen ... Die Vereinigten Staaten von Amerika sind große und stark bevölkerte Nationen ... und deshalb können sie kaum durch eine einfache Regierung zusammen gehalten werden2 ." Der "einfachen Regierung" stellt Adams die Balance zwischen drei Ständen gegenüber. Damit nennt er das, was jene drei Regierungsformen ausmacht. Denn die drei Arten meinen nicht nur den bloßen Zahlenunterschied zwischen dem einen, den wenigen und den vielen; sondern die Frage: wer herrscht? ist sozial zu verstehen: die Aristokraten oder das Volk; die Reichen oder die Armen; oder beide Gruppen unter einem Königtum? Das ist eine seit der Antike überkommene Staatsformen-Einteilung, und ebenso alt wie diese Einteilung ist die Frage, welche von ihnen die beste ist, worauf die wohl beliebteste Antwort lautet, dies sei die aus allen Staatsformen gemischte. Wenn aber die Staatsformen für den Machtanteil der Bevölkerungsschichten stehen, dann heißt gemischt: Beteiligung aller Gruppen an den politischen Rechten. Rousseau sagt: "diese Frage hat die Politiker stets erregt", und in der Tat erregte die Frage, ob die gemischte Regierung besser sei als eine einfache, noch die Politiker seiner Zeit. John Adams gibt in der ge1 Rousseau, Du Contrat Social 117 f. (117). Daß Rousseau von Regierungsformen spricht und nicht von Staats- oder Verfassungsformen, ist für ihn terminologisch zwar sehr wichtig, und wir werden auf diesen theoretisch gravierenden aber letztlich doch fiktiven Unterschied noch näher zu sprechen kommen, vorerst allerdings diese Unterscheidung vernachlässigen, zumal Rousseau selbst mit seiner Aussage Autoren einbezieht, die diese Unterscheidung nicht machen. 2 Adams, Defense 112.

16

Einleitung

nannten Schrift die Stellungnahme Turgots wieder, in der dieser über die Amerikaner sagt: "sie streben, diese verschiedenen Gewalten zu balancieren, als ob dies Gleichgewicht, das in England ein notwendiges bremsendes Element gegen den enormen Einfluß des Königtums sein mag, von irgend einem Nutzen sein könnte in Republiken, die auf der Gleichheit aller Bürger basieren; und als ob die Einrichtung von verschiedenen Ständen von Menschen nicht eine Quelle von Spaltungen und Streitigkeiten wären3." Für einen Staat, der auf der Gleichheit basiert, spricht Turgot dem Problem und Anliegen der Verfassungsmischung jegliche Daseins-Berechtigung ab. Gleichgewicht und Balance haben ihre Berechtigung in England, das heißt im alten System; nicht dagegen in Amerika, in Republiken, dort wo es Gleichheit der Bürger gibt, und das würde als historische Konsequenz bedeuten: nicht im neuen System, nicht in der Zeit nach der französischen Revolution. Denn Mischung, Gleichgewicht und Balance haben ihren Sinn nur dort, wo es verschiedene Stände gibt, die man mischen kann, und wo es etwas auszugleichen oder auszubalancieren gibt, wenn man aber die Gleichheit eingeführt hat, was soll dann noch ein Gleichgewicht, es hieße doch: Wiedereinrichtung verschiedener Stände, und das bedeutet nach Turgot nichts als Spaltungen. 11. Fragestellung

Ohne Zweifel: Turgots Auffassung hat gesiegt, die staatsbürgerliche Gleichheit hat sich überall durchgesetzt und es entstanden die Demokratien. Wenn es aber nur noch Demokratie gibt und eine Alternative nicht mehr ernsthaft in Frage kommt, dann entbehrt das Problem einer Verfassungsmischung in der Tat jeder Grundlage. Diese Entwicklung hatte zur Folge, daß das Theorem der gemischten als der besten Verfassung, das von der Antike bis zur frühen Neuzeit die politischen Denker beschäftigte und zeitweise beinahe den Charakter eines Dogmas gehabt hatte·, verschwand. Dies Theorem hatte zweierlei geleistet, denn zum einen war es staatstheoretisch von Nutzen: mit der Formel der gemischten Verfassung ließ sich die jeweilige politische Realität begreifen, man hatte einen Maßstab, der einen leicht die faktischen Elemente einer jeden Verfassung erkennen ließ. Andererseits war es auch von praktischer Bedeutung: die gemischte Verfassung war eine Antwort auf die normative Frage nach dem besten Verfassungs-Zustand. a Anne Robert Jacques Turgot, Brief an Dr. Price, 1778; hier zitiert nach J. Adams S. 122. 4 Mason Hammond bezeichnet sie stets als "orthodoxe Theorie", gegen die sich andere Vorstellungen nicht durchsetzen konnten; s. S. 6, 16, 23, 26 f., 45 usw.

Einleitung

17

Kann man demgegenüber mit der Formel staatsbürgerlicher Gleichheit die Realität jetzt besser in den Griff bekommen? Unbestreitbar gibt es auch nach der französischen Revolution, nach der Einführung der staatsbürgerlichen Gleichheit soziale Gruppierungen, die - wenn auch zum Teil von erheblich anderem Charakter als die alten Stände nichtsdestoweniger von Belang für die politischen Verhältnisse sind. Und was die praktische Bedeutung der neuen Formel angeht: Die Antwort auf die Probleme der jetzt existierenden menschlichen Gruppierungen, die lediglich heißt: abschaffen!, hin zu größerer Gleichheit!, kann wohl kaum die einzige sein. Das Mischungsproblem muß doch irgendwie die politischen Denker weiterbeschäftigt haben. - Das ist die Frage, die hier gestellt wird: welche Bedeutung hat im beginnenden Zeitalter der Gleichheit das Mischungsproblem, und zwar der Sache nach, das heißt: Mischung der tatsächlich jeweils vorhandenen verschiedenen Bevölkerungsgruppen, wobei es gleichgültig ist, unter welchem Titel dies Problem abgehandelt wird. Dabei ist von vornherein klar, daß eine solche Fragestellung mit dem Vorwurf konfrontiert ist, eine Verfassungsmischung - auch wenn sie so berechtigte Ziele verfolgt wie Beteiligung aller sozialer Gruppen und Frieden und Eintracht zwischen diesen - stelle nur eine Verschleierung der Aufrechterhaltung von Ungleichheit dar, gemischte Verfassung heißt doch im Effekt: nicht gleiche Rechte für alle, und das ist Vorenthaltung von Rechten, zumindest aber keine wirkliche Gleichheit5• 111. Vorgehensweise, zeitliche und sachliche Eingrenzung

Als Ausgangsbasis für die Untersuchung soll dargelegt werden, was das Theorem der constitutio mixta in der Antike bedeutet hat und welchem Zweck es diente. Stellvertretend für andere soll das insbesondere bei Aristoteles gezeigt werden. Die Behandlung des Zeitalters der Gleichheit wollen wir mit Montesquieu beginnen, als einem Autor, der sich noch direkt auf jenen alten Gedanken bezieht, bei dem sich aber schon Gedanken der modernen Gleichheit anzeigen; und verfolgen wollen wir unsere Frage über ein Jahrhundert bis hin zu Tocqueville, Marx, R. Mohl und J. S. Mill, d. h. zu Denkern, die einerseits die sich durchsetzende oder bereits errungene Gleichheit reflektieren, und sich andererseits mit neuen Ungleichheiten auseinandersetzen. 5 Hans-Gerd Schumann S. 87: "Die gesamte Theorie vom Gleichgewicht der gemischten Verfassung verhüllt nichts anderes als eine· aristokratische Republik und die tatsächliche Herrschaft einer ausgewählten Adelsoligarchie."; vgl. auch: Wolf-Dieter Narr, Edmund Burke als Gleichgewichtstheoretiker, S. 150.

2 Wember

18

Einleitung

In diesem Zeitraum - d. h. von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts - soll aufgezeigt werden, in welcher Form und von welchem Gewicht das Mischungs-Problem bei bedeutenden politischen Denkern behandelt wird. Dabei kann es nicht darum gehen, lückenlos darzustellen, bei wem überall das Stichwort der constitutio mixta auftaucht; - daß dieses Theorem vom Mischen der Staatsformen bei den meisten Autoren zur Bedeutungslosigkeit herabsinkt, oder aber als bloßes Schulbuchproblem mitgeschleppt wird, davon geht diese Arbeit aus, Das Stichwort selbst kann bei der Suche nach dem, was der Sache nach mit Problem und Anliegen der Verfassungsmischung zusammenhängt, oft lediglich als Ausgangspunkt hilfreich sein. Um keine falschen Erwartungen zu wecken: es handelt sich nicht um eine ideen-geschichtliche Arbeit in dem Sinn, daß eine geistige Beeinflussung von einem Denker zum anderen herausgefunden oder das Weitergeben eines alten Theorems bewiesen werden soll. Das Gegenteil: die oft nicht vorhandene direkte Herleitung aus dem alten Topos der consitutio mixta wird vorausgesetzt; sehr wohl aber gilt es die sachliche Fortsetzung der Verfassungsmischung aufzuzeigen, genauer gesagt: eine ganz bestimmte sachliche Fortsetzung, von der nicht behauptet wird, es sei die einzige. Bekanntlich wird die Gewalteinteilung vielfach im Zusammenhang mit der gemischten Verfassung gesehen: aus den drei Ständen hätten sich die drei Staatsgewalten entwickelt. Zweifellos besteht ein solcher Zusammenhang, aber das heißt nicht, daß eine Identität oder wenigstens eine Verwandschaft auch im Hinblick auf das Anliegen der gemischten Verfassung gegeben ist. - Wir werden sehen, daß es mehr als nur einen "Nachfolger" gibt, unsere Bemühungen sollen sich aber möglichst dicht am Kern der ursprünglichen Absicht der Verfassungsmischung als Beteiligung verschiedener sozialer Gruppen an der Herrschaft halten. IV. Zum Begriff der Verfassungsmitte

So viel zur Fragestellung, zum Vorgehen und zur Eingrenzung; das Gesagte bezog sich bisher allerdings nur auf das erste Wort des Titels: die Verfassungsmischung, nicht auf die Verfassungsmitte. Für die Fragestellung als solche spielt dieser zweite Begriff auch keine Rolle, wohl aber für deren Beantwortung. - Die Untersuchung beschäftigt sich mit dem Zeitalter der Gleichheit und erhält dadurch ihre Problemstellung; aber die Gleichheit ist nicht nur als Gegensatz zur gemischten Verfassung mit den von ihr vorausgesetzten Gruppen, und d. h. Ungleichheiten zu verstehen, sondern sie ist auch ein geradezu notwendiger Bestandteil der Verfassungsmischung selbst, weil Mischung auch das Vermischen der Gruppen und damit die Konvergenz der Gegensätze bedeutet. Mit diesem Spannungsverhältnis wird sich die Arbeit

Einleitung

19

zu befassen haben, und zur Benennung dieses eigentümlichen Gegenpols zur Verfassungsmischung verwenden wir den Ausdruck der Verfassungsmitte in Anlehnung an die antike Vorstellung von der mittleren Verfassung: diese ist ein Synonym für die gemischte Verfassung, weil sie sich in der Mitte zwischen zwei extremen Verfassungen befindet und aus diesen gemischt ist, was allerdings gleichbedeutend ist mit der Aufhebung der Gegensätze zwischen den Verfassungen und den sie konstituierenden sozialen Gruppen, und was in Verlängerung dieses Prinzips auf Gleichheit hinausläuft.

v. Literatur Die Literaturlage sieht für unseren Gegenstand folgendermaßen aus: Die Geschichte der Theorie der gemischten Verfassung ist umfassend nur für das Altertum abgehandelt (G. J. D. Aalders, Die Theorie der gemischten Verfassung im Altertum, 1968); für den Zeitraum bis hin zu Montesquieu und John Adams gibt es Skizzen6, zu einzelnen Autoren auch eingehendere Untersuchungen1 • Für die dann folgende Zeit schildert die Schrift von Kägi "Zur Entstehung, Wandlung und Problematik des Gewaltenteilungsprinzips" (1937) die Gewaltenteilung als Nachfolger der gemischten Verfassung. Wie aber bereits angedeutet wird in der vorliegenden Arbeit die Gewaltenteilung nur als ein Nachfolgetheorem der Mischverfassung betrachtet, und Gegenstand unserer Untersuchung ist ein anderer Nachfolger: die soziale Mischung. Dabei stützt sich die Arbeit in erster Linie auf die Texte der im genannten Zeitraum behandelten Autoren selbst; die Sekundärliteratur zu diesen Theoretikern ist oft sehr hilfreich, betrachtet aber die Autoren unter dem speziellen Gesichtspunkt der Verfassungsmischung nur in Ausnahmefällen8•

• s. die Studie von Hasbach; bei Kägi S. 13 - 68; speziell zur Geschichte der Mischverfassung in England s. a. die weitere Literatur zur Geschichte der Gewaltenteilung. 1 Als Monographien seien erwähnt die Arbeit von C. M. Walsh über das mixed government bei John Adams und die Arbeit von W. Kuhfuß über Mäßigung und Politik bei Montesquieu. - Auf die Mischverfassung wird ferner häufig eingegangen in gesonderten Abschnitten (meist über die Staatsformen oder die beste Verfassung) der sonstigen Sekundärliteratur zu den Autoren des genannten Zeitraums; (s. dazu in den betreffenden Kapiteln). - Mit dem Zusammenhang zur Mischverfassung beschäftigt sich ferner regelmäßig die Literatur zur Geschichte der Gewaltenteilung; (s. Kap. 12, Anm. 23).

8 So spielt das Theorem der Mischverfassung gelegentlich eine Rolle in der Sekundärliteratur zum Federalist und zu den Romantikern; (s. die betreffenden Kapitel).

HISTORISCHER TEIL

Erster Abschnitt

Das Theorem der gemischten Verfassung von der Antike bis zur frühen Neuzeit 1. Kapitel ARISTOTELES

Gemischte Verfassung gleich mittlere Verfassung I. Was bedeutet gemischte Verfassung? 1. Reine und gemischte Verfassungen; gute und schlechte Verfa,ssungsmischungen

Die "Politik" des Aristoteles ist voll von einer Menge von Einzelheiten des politischen Lebens, und kaum eine Behauptung wird aufgestellt, ohne daß nicht Aristoteles selbst ein oder gar mehrere Gegenbeispiele aufzählt. Bei einem so ausgeprägten Sinn für die ungeheure Vielfalt politischer Erscheinungen wundert es nicht weiter, daß die konkreten Verfassungen nicht genau in das Schema der sechs Staatsformen hineinpassen. Für Aristoteles ist es eine Trivialität, daß die meisten Verfassungen gemischt sind, "gemischt", wenn man von jenem Schema der drei guten und drei schlechten Staatsformen ausgeht (Monarchie, Aristokratie, Politie; Tyrannis, Oligarchie, Demokratie). So beschreibt Aristoteles die Verfassung von Sparta als eine Mischung von Demokratie und Aristokratie1, und die karthagische als eine Mischung von Demokratie und Oligarchie2 • Aristoteles spricht von den Verbindungen von Demokratie und Aristokratie3, von der Aristokratie mit oligarchischem und der Politie mit demokratischem Anstrich'; die Beispiele ließen sich beliebig vermehren, doch erscheint dies entbehrlich, heißt es doch an einer Stelle ganz allgemein, daß die meisten Verfassungen aus Demokratie und Oligarchie gemischt seien5• 1 Aristoteles, Politik, (67 mitte) 1270 b 17; bei (141 f.) 1294 b 14 - 39 wird sie als Mischung (mixis) von Demokratie und Oligarchie bezeichnet. 2 (74 mitte) 1273 a 6 3 (185 oben) 1308 b 40 ff. t (207 mitte) 1317 a 1 ff. s (146 mitte) 1296 a 22

24

1. Kapitel

Wie gesagt, diese Erkenntnis vom gemischten Charakter der meisten Verfassungen ist trivial; an keiner Stelle wird sie als aufklärende Entdeckung vorgetragen. Trotzdem gibt es hierbei für Aristoteles ein Problem, das darin besteht, ob die Verfassungsmischung gut oder schlecht gelungen ist6• Eine Verfassung ist dann richtig gemischt, wenn alle Teile des Staates am Fortbestand eben dieser Verfassung interessiert sind7• Als Definition klingt das sehr einfach, aber wieso dies überhaupt etwas mit Mischung zu tun hat, wird erst deutlich, wenn man sich die Implikationen klar macht. 2. Mischung von Staatsformen und Mischung von Bevölkerungsgruppen

Der Satz geht davon aus, daß es im Staat verschiedene gesellschaftliche Gruppen gibt, und ferner wird vorausgesetzt, daß reine, ungemischte Verfassungen von der Art sind, daß nur eine einzige Gruppe die Macht im Staat hat: die tugendhaften Aristokraten, die reichen Oligarchen oder das minderbemittelte Volk. In solchen Staaten sind die jeweils nicht an der Macht beteiligten Gruppen am Bestand der Verfassung nicht interessiert; entweder arbeiten sie für den Umsturz, oder aber sie nehmen die Verfassung nur notgedrungen hin, in jedem Fall sind sie mindestens eine latente Gefährdung für die bestehende Ordnungs. Daß im Gegensatz zu diesen reinen Verfassungsformen in der gemischten Verfassung alle Gruppen am Bestand dieser Verfassung ein • (141)

1294 b 14 eu memeichthai (das Gut-gemischt-sein) 17 memeichthai kalös (das Schön-gemischt-sein) 35 politeia memeigmene kalös (150 mitte) 1297 a 39 mignynai dikafös (gerecht bzw. richtig mischen) (180 mitte) 1307 a 40 eu memeigmene (182 mitte) 1307 b 30 eu kekramene politeia (die gut gemischte Verfassung) (218 unten) 1320 b 21 eukratos (gut gemischt); zu den schlecht gemischten Verfassungen s. (148 ff.) 1297 a 7 - 1297 b 1 (179 mitte) 1307 a 6ff.; siehe hierzu Aalders, Aristoteles 219; Aalders, Altertum 57. 7 (67 mitte) 1270 b 22 f. (142 mitte) 1294 b 35 - 39 s. ferner dazu, daß alle Gruppen die Verfassung tragen müssen: (72 oben) 1272 a 32 f. (77 unten) 1274 a 18 (102 unten) 1281 b 28 ff. (163 oben) 1301 a 37 (184 unten) 1308 b 24 - 32 (217 oben) 1320 a 15 f. 8 Dazu siehe die meisten Stellen der vorigen Anmerkung. Daß reine Verfassungen grundsätzlich ungerecht sind, weil nur ein Teil regiert - und seien es die Tugendhaften oder sei es der Beste - und die anderen der Ehrenrechte, d. h. der Möglichkeit zur Bekleidung von Staatsämtern beraubt sind, dazu siehe: (100 unten) 1281 a 27 - 34.

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Interesse haben, ist nur dadurch zu erreichen, daß sie alle an der Verfassung - d. h. den Verfassungsrechten - beteiligt werden. Diese gleichzeitige Herrschaft verschiedener Gruppen oder Stände wird Mischung genannt, wobei Mischung von Staatsformen und Beteiligung der verschiedenen Gruppen auf dasselbe hinausläuft. Während also die reinen Verfassungen in sich selbst eine potentielle Ursache zu ihrem Umsturz tragen, ist die gemischte Verfassung beständig, geradezu per definitionern, weil niemand ihre Abschaffung betreibt. - Wenn nun Aristoteles behauptet, daß die beständigste Verfassung auch die beste sei, so legt das den Verdacht des Positivismus nahe: Wie kann man die bloße Beständigkeit als solche zum Kriterium der Qualität der Verfassung machen, unabhängig vom Inhalt? Schauen wir, ob dieser Vorwurf gerechtfertigt ist. In der Tat wird die Beständigkeit einer Verfassung von Aristoteles sehr hoch geschätzt; aber seine Argumentation verläuft nicht derart, daß die Dauerhaftigkeit zum Kriterium gemacht wird, sondern umgekehrt; erst bringt Aristoteles die Argumente für die beste Verfassung vor, und dann stellt er fest: sie ist noch obendrein die weitaus beständigste9 • 3. Gemischte Verfassung als mittlere Verfassung

Wie eine richtig gemischte Verfassung konkret aussieht, erschließt sich einem besonders leicht, wenn man neben dem Begriff der gemischten Verfassung auch den anderen Schlüsselbegriff sieht, den der mittleren Verfassung. An vier Stellen skizziert Aristoteles den Gegensatz von Demokratie als Herrschaft der Armen einerseits und Oligarchie als Herrschaft der Reichen andererseits, und an diesen vier Stellen entwickelt Aristoteles eine ganze Typologie von Verfassungsformen, die sich zwischen den beiden Extremen, der krassen Oligarchie und der krassen Demokratie befinden. Manchmal nennt Aristoteles je drei Typen von Demokratie und Oligarchie, meist je vier solcher Typen, die man als Reihenfolgen zwischen jenen Extremen auffassen kann10• Die gemischte Verfassung ist nun - unter dem wichtigen Gesichtspunkt des Besitzes - diejenige, die aus Oligarchie und Demokratie gemischt ist; das bedeutet aber gleichzeitig, daß sie die mittlere zwischen diesen bei8 Zur Dauerhaftigkeit der gemischten Verfassung durch das Prinzip, keinen Bevölkerungsteil von den Staatsgeschäften auszuschließen, s. Aalders, Aristoteles 212; Aalders, Altertum 62. 10 Arten der Demokratie: Arten der Oligarchie: (132 unten ff.) 1291 b 32 ff. (134 unten) 1292 a 39 ff. (135 unten f.) 1292 a 25 ff. (136 unten f.) 1293 a 11 ff. (152 f.) 1298 a 10 ff. (153 mitte) 1298 a 35 ff. (212 - 215) 1318 b 6 ff. (218 f.) 1320 b 19 ff. Daß dies als Reihenfolgen mit der Politie in der Mitte zu verstehen sind, am deutlichsten auf S. (218 unten f.) 1320 b 19 ff.

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1'. Kapitel

den Staatsformen istl1• Diese Mischung kann im konkreten verschieden aussehen, entweder sind heide Gruppen gleichmäßig an der Regierung beteiligt, so daß weder die Reichen die Armen unterdrücken, noch die Armen die Reichen berauben12 ; oder aber - und das wäre eine weit bessere Lösung, auf die die Begriffe der Mischung und der Mitte in noch viel größerem Maße zutreffen - es gibt einen Mittelstand, der weder arm noch reich ist, sondern über mittleren Besitz verfügt, und dieser Mittelstand stellt im optimalen Fall die größte Bevölkerungsgruppe dar, zumindest aber ist er größer als jene Extreme13 • Jene Mitte in der kontinuierlichen Reihe von Staatsformen zwisChen den Extremen reiner Demokratie und reiner Oligarchie ist also gleich11 (139 mitte) 1293 b 34: "Die Politie ist eben, kurz gesagt, eine Mischung (mixis) von Oligarchie und Demokratie."; s. a. (140 mitte) 1294 a 23: "So ist offenbar, daß man die Mischung derbeiden Elemente, der Reichen und Armen, Politie. nennen muß." Die Formen der Mischung (mixis; 1294 a 36), bzw. der Zusammensetzung (synthesis; 1294 a 36) oder der Verknüpfung (syndyasm6s; 1294 b 2) von Demokratie und Oligarchie zur Politie: (141) 1294 a 36 - 1294 b 13. Daß diese Mischung etwas Mittleres ist: 1294 a 41; 1294 b 2, 5, 18 (jeweils: to meson)~ Zum Begriff der "mittleren Verfassung" s. a. Anm. 13. Der aristotelischen "Politik" liegen zwei Staatsform-Schemata zu Grunde. Zum einen das Schema der drei guten und drei schlechten Staatsformen: (93 f.) 1279 a 22 - 1279 b 10 NE (243 f.) 1160 a 31 - 1160 b 21; zum anderen das soeben dargelegte Schema von zwei extremen schlechten Staatsformen, der Demokratie. und der Oligarchie, mit der Politie" als guter Staatsform in der Mitte zwischen diesen Extremen. Aristoteles selbst reflektiert über den Gegensatz dieser beiden Einteilungs-Schemata: (127 unten ff.) 1290 a 13 - 1290 b 20 (131 unten f.) 1291 b 2 - 13, und gibt ausdrücklich dem ersteren den Vorzug; aber Aufbau und Gedankengang seines Werkes orientieren sich zu einem großen Teil am zweiten Schema. - Siehe zu den verschiedenen Schemata: Aalders, Aristoteles 210 f.; Ryffel 178 f. Zur Entstehungsgeschichte der verschiedenen Staatsform-Einteilungen im Werk des Aristoteles: Schächer 12 ff. 12 Die Politie als gleichmäßige Beteiligung von Armen und Reichen in IV 9 (140 ff.); dort über " 1294 a 36 ff. - die verschiedenen Formen der Zusammensetzung - Sparta als Beispiel guter Mischung 1294 b 19 ff. - den Grundsatz, wann eine Verfassung gut gemischt ist 1294 b 35 ff. Zu den Beispielen für Politien s. Anm." 21. - Zu den Formen der Zusammensetzung s. im einzelnen die Ausführungen von Egon Braun. Eine Rangfolge der von Aristoteles aufgezählten gesetzestechnischen Arten von Verfassungsmischung aufzustellen (Aall:lers, AI~ertum 58 f.; Braun 85) ist rn. E. wenig sinnvoll, da diese von sozHilen Strukturen. aphängen, d. h. von der Größe der Bevölkerungsschichten - etwa die von Aristoteles genannte zweite Mischungsart ist bei großer Kluft zwischen den Klassen bzw. bei fehlendem Mittelstand gar nicht möglich -; und über die Rangfolge der sozialen Strukturen und die Maßstäbe dafür äußert sich Aristoteles sehr deutlich in den nachfolgenden Abschnitten. 13 Zur Staatsform mit großem Mittelstand als der Mitte zwischen Demokratie und Oligarchie: IV 11; daß der mittlere Besitz das beste ist: 1295 b 3 f., 1295 b 35 ff.; daß dieser die Bedingungen der Gleichheit erfüllt: 1295 b 26 f.; daß auch diese

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zeitig ganz konkret als Mitte des Vermögens zu verstehen; und zu diesen beiden Charakteristika (mittlere Staatsform; mittleres Vermögen) kommt die Mitte als Tugend hinzu. Aristoteles bleibt weder bei einer formalen Staatsform-Betrachtung noch bei dem Aspekt der Besitzverhältnisse stehen, sondern mit jenen verknüpft er den Gesichtspunkt der Tugend auf folgende Weise. Die Tugend charakterisiert Aristoteles als eine "Mitte", d. h. als ein mittleres Verhalten zwischen extremen schlechten Verhaltensweisen. Das ist eine der zentralen Aussagen der Nikomachischen Ethik; und was liegt bei der aristotelischen Verknüpfung von Ethik und Politik näher, als daß die Tugend des Staates eine "mittlere Verfassung" ist1'. Aber wohlgemerkt folgert Aristoteles dies nicht in einem Analogieschluß, denn das würde zwar geistreich klingen, wäre aber kaum mehr als eine Metapher, denn was soll man sich schon unter einer "Tugend des Staates" vorstellen? Tugend ist eine Verhaltensqualität von konkreten Menschen, und wenn der Begriff der Tugend des Staates einen Sinn haben soll, dann nur den der praktizierten Verhaltensweisen seiner Bürger15 • Im vorliegenden Fall verläuft die Argumentation so, daß Aristoteles darlegt, inwiefern ein mittlerer Besitz am ehesten dazu geeignet ist, die Tugenden der Menschen zu fördern16• Das ist genau die politische Argumentationsweise, die Aristoteles durchgehend in seinem Werk anwendet: er untersucht, ob eine bestimmte Einrichtung, eine Institution, ein Gesetz oder eine Regel eine bestimmte Tugend - heute würde man sagen: eine Mentalität oder eine Verhaltensqualität - fördert und unterstützt; oder aber ob durch solche Institutionen und Regeln negativen Verhaltensweisen Vorschub geleistet wird. - Welche Verhaltensweisen Aristoteles durch die Verfassungsmischung im allgemeinen und den mittleren Besitz im besonderen gefördert sieht, soll uns noch beschäftigen. Vorerst wollen wir zusammenfassend festhalten, daß die richtig gemischte Verfassung dadurch gekennzeichnet ist, daß alle Bevölkerungsgruppen in gleicher Weise an den Verfassungsrechten beteiligt sind, was gleichbedeutend ist mit einer Mischung von Staatsformen. Die Mischung läßt sich auch begreifen als eine Mitte zwischen den extremen einseitigen Staatsformen; und d~ die Staatsformen wesentStaatsform Politie genannt wird: 1296 b 40; der Begriff "mittlere Verfassung" (mese politeia): 1296 a 7; 1296 a 37. Knappe Ausführung dafür, daß es zunächst um gleiche Beteiligung von Armen und Reichen geht, aber wenn möglich um Förderung des Mittelstands: (184 unten) 1308 b 24 - 32. Zur Bedeutung des Mittelstands für die Politie s. Aalders, Aristoteles 213 ff.; Aalders, Altertum 62 ff. 14 (144 mitte) 1295 a 63 - 1295 b 1. Ober das Wiederkehren der ethischen Konzeption von der Mitte in der Politik des Aristoteles: Kalchreuter 3 - 5. 15 (229 unten) 1324 a 24 (254 oben) 1332 a 34 f. 11 (144 unten) 1295 b 5 - 33; s. dazu Anm. 32.

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lich gekennzeichnet sind durch die Besitzverhältnisse, d. h. durch die Herrschaft einer durch großen oder geringen Besitz ausgezeichneten Gesellschaftsgruppe, fällt die mittlere Verfassung (im günstigsten Fall) mit der Mitte des Besitzes zusammen. 11. Die gemischte Verfassung als beste Verfassung Während wir bisher von unserer Frage nach der gemischten Verfassung ausgegangen waren und untersucht hatten, was dieser Begriff bei Aristoteles bedeutet, läßt sich derselbe Gedankengang auch von einer anderen Seite her aufrollen, nämlich von der Frage des Aristoteles nach der besten Verfassung. Für Aristoteles ist "politische" Herrschaft etwas grundsätzlich anderes als despotisclle Herrschaft17 • Sein Politik-Begriff ist enger als der unsere, aber dafür auch spezifischer, d. h.: eine Polis (ein "politisches" Gemeinwesen) ist etwas anderes als ein orientalisches Großkönigtum, das Charakteristikum des politischen Zusammenlebens ist das Abwechseln der Bürger im Regieren und Regiert-Werden, und der "Politiker" (im Gegensatz zum Despoten) ist derjenige, der über seinesgleichen regiert1s. - Die Gleichheit ist also eine Grundvoraussetzung dafür, daß - nach aristotelischem Verständnis - überhaupt von Politik die Rede sein kann, und daraus folgt, daß ein Gemeinwesen um so besser ist, je mehr Bürger an der Regierung teilhaben. Warum aber ist für Aristoteles die Demokratie dennoch nicht die beste Verfassung? - Nach allgemeinem antikem Verständnis verwirklicht die Demokratie keineswegs oder doch nur sehr bedingt die Gleichheit, denn Demokratie ist Herrschaft des Volkes im Sinn des einfachen, niederen Volkes, der Plebs bzw. der Armen; dementsprechend ist eine 17

Hennis, Demokratisierung 25 f.; ders., Ende der Politik 512 f.; Mandt

49ff.-

(15 mitte) (72) (76 oben)

(7)

1252 a 1254 b 1272 b 1273 b

(231 oben)

1325 a 33.

(209) (233 mitte) (118 mitte) (121 mitte)

1317 b 1325 b 1287 a 1288 a

7 -17 3 ff. 3; 10 ff. 13: es ist "mehr politisch" (polik6teron), wenn mehr

an den Regierungsämtern teilhaben;

IS Das Abwechseln von Regieren und Regiert-Werden als Charakteristikum der Politik: (7) 1252 a 16 f. (38 unten) 1261 b 3-7 (93 mitte) 1279 a 9-11 (109 mitte) 1283 b 41 - 1284 a 3 (131 unten) 1291 b 2 - 6

2 7 10 -18 2; 14.

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Herrschaft dieses Teils der Bevölkerung meist gleichbedeutend mit der Herabsetzung, Beraubung oder gar Vertreibung eines anderen Teils der Bevölkerung: der Wohlhabenden19. Sie ist insofern ein Extrem, und zwar meist genauso wie auf der anderen Seite die Oligarchie ein gewalttätiges Extrem, wie die Beispiele des Thukydides äußerst anschaulich zeigen20 • Die einzig realistische Form von Gleichheit sieht Aristoteles als Gleichheit in der Mitte zwischen arm und reich, verwirklicht in der vom Mittelstand geprägten Staatsform der Politie. Eine radikale Gleichheit ist das freilich nicht, sondern eher so etwas wie Ausgewogenheit, denn die Existenz von ganz Reichen und ganz Armen wird nicht ausgeschlossen, soll sich aber in möglichst kleinem Rahmen halten, und der Mittelstand soll so groß sein, daß diese Extreme bedeutungslos werden. Diese Form von Gleichheit ist immerhin noch schwierig genug zu erreichen!1. Aristoteles' Sinn für Realität setzt nicht einfach ein Optimum als Ziel an, nicht einmal ein erwiesenermaßen für Menschen mögliches Optimum wie die eben genannte Politie, sondern er fragt auch, was unter den jeweils gegebenen Umständen möglich ist. Insofern gibt es bei Aristoteles mehrere beste Verfassungen22 • Wir erwähnten schon oben die Kataloge von solchen Demokratien und Oligarchien, die von den äußersten Extremen bereits abrücken. Sie gehören in diesen Zu18 Zum Volks- und Demokratie-Begriff s. insbes. (132 f.) 1291 b 15 ff. Zu den sozialen Kriterien für die Demokratie s. Schächer 17 f. - Daß der Demokratiebegriff in Griechenland nicht immer so eng gefaßt war, und zur späteren Bedeutung des Begriffs politeia als einer Ordnung, die auf der Gesamtheit der Bürger beruht, s. Christian Meier 562 ff. (zum aristotelischen Demokratiebegriff 567). Der Demokratie-Begriff ist also nicht mit dem heutigen identisch, sondern vielfach trifft auf diesen der aristotelische Begriff der Politie zu. Daß beide Begriffe auch im Griechischen nicht einheitlich verwendet werden,: (151 oben) 1297 b 24. Aber auch für die Demokratie im aristotelischen Sinn gilt, daß sie noch besser ist als die Oligarchie, weil dort der Mittelstand größer ist bzw. mehr Leute zu den Ehrenämtern gelangen: (146 mitte) 1296 a 13 - 16. s. zu Aristoteles' Einstellung zur Demokratie: Aalders, Aristoteles 215 f.; Aalders, Altertum 67 f. 10 Thukydides, Der Pe1oponnesische Krieg, III 82 - 84. 21 (146 unten f.) 1296 a 24 - 37 Beispiele für die Politie: Sparta (141 unten f.) 1294 b 19 - 34 Syrakus (171 oben) 1304 a 28 Massalia (175) 1305 b 11 Thurioi (180) 1307 a 26. 22 Darauf wird von Aristoteles ausdrücklich hingewiesen: (123 unten) 1288 b 22 ff. (126 mitte) 1289 b 14 ff. (144 oben) 1295 a 25 ff. (147 mitte) 1296 b 2 ff.

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sammenhang, es sind den Umständen entsprechend beste Verfassungen. Es sind Milderungen der Extreme, es handelt sich um den Beginn von gemischter Verfassung. Diese Staatsformen kommen durch kleine Beimischungen anderer Verfassungs-Elemente, durch Beteiligung anderer Gruppen zustande, wobei· diese Beteiligungen durchaus ambivalent gesehen werden können: Negativ beurteilt "als Trostpflaster" oder "Stillhalte-Bonbon" für im Grunde nicht voll beteiligte soziale Gruppen, deren Aufruhr man hierdurch verhindern will; positiv gesehen als Weg zu einer besser ausgewogenen Mischung. Aristoteles' Realismus ist nämlich keineswegs als bloßes Sich-Begnügen mit den Umständen zu verstehen. So sehr eine realistische Sicht der Politik es verbietet, die konkreten Umstände außer acht zu lassen, so wenig darf dies daran hindern, Besseres aus dem Auge zu verlieren. Dies Bessere ist die Gleichheit in der Politie, aber auch dabei bleibt Aristoteles nicht stehen, sondern entwirft nach der erwiesenermaßen möglichen auch noch die denkbar beste Verfassung23: Es ist sein Konzept der drei Stände, die nicht mehr :verschiedene, sich gegenseitig ausschließende Bevölkerungsgruppen darstellen, sondern in zeitliche Funktionen aufgelöst werden. Diese Konzeption wird nicht mehr unter dem Begriff von Mischung und Mitte abgehandelt; aber der Sache nach wird beides aufs äußerste erfüllt: Mischung, weil alle Stände an der Verfassung teilhaben24, und Mitte, weil es sich nicht mehr lediglich um eine additive Beteiligung handelt, sondern die Stände letztlich aufgelöst werden in gleiche Bürger, die von einem in den anderen Stand hinüberwechseln, weil die Tätigkeiten der verschiedenen Stände zeitlich begrenzte Funktionen sind. ID. Der Zweck der gemischten Verfassung 1. Grundsätzliches zur politischen Argumentation bei Aristoteles

Die in den vorangegangenen Abschnitten gegebenen Hinweise auf den Zweck der Verfassungsmischung blieben bisher nur unvollkommene Andeutungen. Eine etwas breitere Behandlung scheint aber gerechtfertigt, denn es handelt sich bei der gemischten Verfassung nicht nur um ein Problem der Erfassung, d. h. darum, wie man einen Verfassungs-Zustand am sinnvollsten beschreibt, sondern in erster Linie geht es um ein Handlungs-Problem, um die Frage, wie die Verfassung aussehen soll. Die gemischte Verfassung zu behandeln ohne die Frage nach Begründung und Zweck, hieße also, das Kernstück, das dem ganVII 4 ff.; für diesen Zusammenhang insbes. VII 8 - 9 (241- 245). Das bezieht sich auch hier nur auf die Personen mit Bürgerrecht, von denen Sklaven und Handwerker ausgeschlossen sind. 23

2C

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zen erst einen Sinn gibt, ausklammern. Um aber die spezifischen Zwecke der Verfassungsmischung zu erläutern, ist es nötig, wenigstens in groben Zügen darzulegen, wie überhaupt die politische Argumentation bei Aristoteles aussieht, wie politisches Handeln begründet werden kann, d. h. welcher Art die Zwecke. sind, die die eine oder andere politische Einrichtung rechtfertigen. Neben einigen etwas ausführlicheren Passagen gibt es in der "Politik" ständig Hinweise darauf, was der Zweck der Politik ist und was dementsprechend die Anforderungen an eine gute Verfassung sind: Eine gute Verfassung bemißt sich danach, ob sie für die Menschen das am meisten wünschenswerte Leben ermöglicht, und jenes wünschenswerte Leben besteht darin, daß die Menschen ihre besten Fähigkeiten und Qualitäten entfalten und praktizieren25• Diese besten Verhaltensweisen sind in der aristotelischen Terminologie die Tugenden. - Als gelebte Verhaltensweisen sind sie selbst Ziel und Zweck, und zwar die letzten Zwecke mit denen argumentiert werden kann; andere Zwecke wie etwa Beständigkeit der politischen Verhältnisse, außenpolitische Stärke einer Polis, auch die Verfassungsmischung usw. haben nur im Hinblick auf diese einen Sinn, nicht umgekehrt26• Die Anwendung dieser Erkenntnis auf die Politik ist zwar nicht so zu verstehen, daß es Aufgabe des Staates sei, nach Art eines eindeutigen Verhältnisses von Ursache und Wirkung bestimmte Mittel einzusetzen, um tugendhafte Menschen zu "produzieren", sondern eher in der Art, daß bei jeder Verfassungseinrichtung danach zu fragen ist, ob und wieweit sie die Tugenden, d. h. positive Verhaltensweisen ermöglicht, begünstigt, fördert. Aber nichtsdestoweniger ist die Ermöglichung und Förderung der besten Lebensweise die Hauptaufgabe des Staates und das wichtigste Kriterium für politisches Handeln. Für Aristoteles macht die Erfüllung dieser Aufgabe den Staat erst zum Staat; sie ist der eigentliche Staatszweck und geht deshalb in die Staats-Definition mit ein: eine Polis ist definiert als eine Gemeinschaft zum "guten Leben", und das bedeutet nichts anderes als die gelebten Tugenden; "und daraus ist denn klar, daß ein Staat, der in Wahrheit so 26 VII 1 (226 - 228); als Beispiele für die ständigen Hinweise auf die Tugenden als Zweck der Politik: (45 unten) 1263 b 7 ff. (51 oben) 1265 a 35 (69 mitte) 1271 b 2 - 10 (97 unten - 99) 1280 a 32 - 1281 a 10 (109 mitte) 1284 a 2 (138 mitte) 1293 b 13 1295 a 36 - 1295 b 1 (144 mitte) 1328 a 36 ff. (242 mitte) VII 13 (252 - 254). 28 Als Beispiel dafür s. (69 unten) 1271 biO.

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zu heißen verdient, und es nicllt bloß dem Namen nacll ist, sich die Tugend zur angelegentlichen Sorge machen muß"27; und an anderer Stelle heißt es, "daß das beste Leben sowohl für den einzelnen für sich genommen als auch für die Staatsgemeins~aft das Leben in einer mit den äußeren Mitteln in dem Grade ausgerüsteten Tugend ist, daß dadurch auch die Ausübung tugendhafter Handlungen ermöglicht wird"28. 2. Die Eintracht ist der Zweck der gemischten Verfassung

Soviel zur allgemeinen ethiscllen Argumentation für die Politik. hn folgenden wollen wir uns der Frage zuwenden, wieso die Verfassungsmischung diesem Ziel dient; welche Verhaltensweisen durch sie nach der Auffassung des Aristoteles gefördert werden29 . Vom Gegenteil her wird das Ziel vielleicht am scllnellsten deutlich: die ungemischten Verfassungen oder auch schlecht gemischten tragen zumindest den Keim zur Zwietracht und zum Streit zwischen den Bürgern in sich. Und wie oft es infolgedessen, d. h. durch Neid, Verachtung und Haß tatsächlich zum Streit kommt, dafür gibt Aristoteles eine Fülle von Beispielen30• Die Abhilfe, die gemischte Verfassung, ist nicht ein einziges Rezept, sondern je nach den gegebenen Voraussetzungen gibt es verschiedene Mittel; aber alle Schritte in diese Richtung, von der Gewährung eines gewissen Anteils an der Macht bis zu wirklich gleichmäßiger Verteilung, dienen einem Ziel, das Aristoteles mit "Freundschaft" bezeichnet31 • Das gilt am meisten für die Mischung durch Aufhebung der Ge(98 oben) 1280 b 6 - 8. (228 mitte) 1323 b 41 - 1324 a 2. Dazu, daß es Aufgabe des Staates ist, die Tugenden zu ermöglichen, s. die Zitate bei Anm. 25. 29 Aalders geht hierauf nicht näher ein; bei Zillig S. 39 - 42 eine Darstellung !7

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des Zwecks der gemischten Verfassung bei Aristoteles, aber nur mit Hinweisen auf eine Analogie zur Tugendlehre und die allgemeine Förderung der Tugenden durch mittleren Besitz (s. o. Abschn. I 3.). 30 (163 oben) 1301 a 38 V2f. (173 unten) 1305 a 23 passim (174 unten) 1305 a 39 ff. (179 oben) 1306 b 34 ff. (188 oben) 1310 a 1 ff. 31 Die gemischte Verfassung als (gleichmäßige) Verteilung der Macht auf verschiedene Gruppen schafft die Voraussetzung dafür, daß diese sich nicht hassen: (142 mitte) 1294 b 35 ff.; siehe dazu auch die Stellen bei der vorigen Anmerkung über den Haß und Streit zwischen den Bevölkerungsteilen, wo das Gegenteil der einseitigen Machtverteilung entweder miterwähnt wird, oder aber aus dem Zusammenhang klar ist, warum Aristoteles diese Beispiele anführt. Im Zusammenhang der Einrichtungen, die die Verfassung Kretas als gemischte Verfassung ausweisen, spricht Aristoteles vom Charakter der Gemeinschaftlichkeit (71 mitte) 1272 a 16. Das Verhältnis von Reichen zum Volk in Karthago bezeichnet er als Freundschaft (218 oben) 1320 b 5. s. ferner die folgende Anm.

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gensätze im Mittelstand. Aristoteles sagt in einer Gegenüberstellung von Staaten mit politischer Freundschaft und solchen, die von Haß geprägt sind: "Und so entsteht denn (bei großer Kluft zwischen Armen und Reichen) nicht ein Staat von Freien, sondern von Herren und Sklaven, wo die einen beneiden und die anderen verachten. Das aber ist sehr weit entfernt von Befreundung und staatlicher Gemeinschaft. denn jede Gemeinschaft beruht auf Befreundung, da man ja mit seinen Feinden nicht einmal den Weg teilen mag. Vielmehr will der Staat möglichst aus gleichen und ähnlichen bestehen, und diese Bedingungen erfüllt am meisten der Mittelstand ... Denn sie (die Bürger des Mittelstands) begehren weder ihrerseits nach fremdem Gut wie die Armen, noch andere nach dem ihrigen wie die Armen nach dem der Reichen, und so bringen sie, indem sie weder Nachstellungen ausüben noch erleiden am ungefährdetsten ihre Tage ZU32 ." Das Hauptgewicht der Argumentation liegt auf der Befreundung; sagt doch Aristoteles hier, daß ein Gemeinwesen, in dem die Befreundung nicht vorhanden ist, weit entfernt sei von dem, was man staatliche Gemeinschaft nennt, m. a. W. den Namen Polis nicht zu Recht verdient. Das deckt sich mit mehreren anderen Aussagen, nach denen die Freundschaft das Wichtigste der staatlichen Gemeinschaft ist und daher für Aristoteles mit zur Definition des Staates gehört33 • In den eben zitierten Sätzen stellt Aristoteles der Befreundung zweierlei ausdrücklich gegenüber: Das Beneiden und das Verachten. Bei allen dreien handelt es sich zunächst einmal um menschliche Gefühle, dies aber hier in einem ganz bestimmten Sinn: Gefühle, die die Verhaltensweisen zu den Mitbürgern bestimmen; beides zusammen, die Empfindungen und die daraus hervorgehenden Handlungsweisen machen das aus, was Aristoteies die Tugenden nennt. Jene "Gefühle" sind also nicht etwas aus dem bloß subjektiven Bereich, sondern als Einstellungen zum Mitmenschen mit den daraus resultierenden Verhaltensweisen prägen sie den Charakter des Gemeinwesens. Die gemischte, die mittlere Verfassung korrespondiert also mit der inneren Verfassung der Freundschaft, häufig auch als politische Freundschaft oder als Eintracht bezeichnet. Man könnte auch von Brüderlichkeit oder Solidarität34 sprechen, wichtig ist nur, welcher Art der Inhalt ist, was man konkret darunter verstehen soll: (145 mitte) 1295 b 22 - 33, eingeklammerte Erläuterungen vom Verfasser. n (42 mitte) 1262 b 8 f. - (99 mitte) 1280 b 33 ff. 84 Der Begriff der Brüderlichkeit wäre eine passende Übersetzung der aristotelischen philia für eine Stadt mit gleichen Bürgern, denn Aristoteles vergleicht das Freundschafts-Verhälnis dort mit dem zwischen Brüdern: 82

NE (245) 1161 a 2 - 6; -

NE (246) 1161 a 25 - 30.

Der bei Anm. 42 wiedergegebene Satz könnte auch eine Übertragung durch das Wort Solidarität rechtfertigen. 3 Wember

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3. Die Komponenten der Eintraeht

"Eintracht" bedeutet im deutschen zunächst einmal das Gegenteil von Zwietracht, und wenn letzteres ein Streit im Inneren eines Staates ist, unter Umständen bis hin zum Bürgerkrieg, dann ist Eintracht das Fehlen eines solchen Streits oder zumindest ein realistisch denkbares Minimum davon. Aber über dieses geradezu objektiv feststellbare Fehlen oder Minimum von Streit hinaus schwingt in dem Wort ·etwas anderes mit; lind es ist die Frage, ob es sich dabei um etwas substantiell anderes, etwas Zusätzliches handelt, oder aber ob das Wort Eintracht nur eine gefühlvolle Verbrämung für das Nicht-Vorhandensein von Streit darstellt; Am ehesten wäre man noch geneigt, jenes Zusätzliche in einer gemeinsamen Auffassung36 oder einer Staats-Ideologie zu suchen; und der griechische Ausdruck homonoia - Gleichgesinntheit scheint diese Möglichkeit nahezulegen. Eine solche Staats-Ideologie oder religion civil wäre vielleicht etwas sehr Wichtiges, aber mit dem im vorangehenden Absatz behandelten Problem der Tugenden als praktizierter Verhaltensweisen der Bürger hätte das nicht viel zu tun. Wenn man aber letzteres annimmt, daß es sich um etwas Praktisches handelt, also um Tugenden oder Mentalitäten, die den Bürgern eigen sind, dann stellt sich die folgende Frage: Besteht die Eintracht als Zustand der politischen Gesellschaft darin, daß die Bürger eine ganze Anzahl von verschiedenen Tugenden besitzen, die alle für ein friedliches Zusammenleben erforderlich sind, also etwa Gerechtigkeit, Ehrlichkeit, Bescheidenheit usw., oder aber handelt es sich bei der Eintracht um eine spezielle Tugend? Es ist völlig klar, daß man nicht von Eintracht sprechen kann, wenn in einer Gesellschaft Ämter-Neid, Mißgunst, Habgier, Bestechung und Korruption das Zusammenleben prägen. Demzufolge wäre aber die Eintracht keine spezielle Tugend, sondern lediglich das Resultat von allen möglichen anderen. Zur besseren übersichtlichkeit der Darstellung sei die Antwort auf die Frage gleich vorweg genannt: Bei Aristoteles setzt die Eintracht zwar eine Reihe anderer Tugenden voraus, trotzdem hat sie einen eigenständigen Bereich, zu dem man die "Verträglichkeit" einerseits .und die "politische Freundschaft" andererseits zählen kann:

a) Verträglichkeit Von der Tugend der Verträglichkeit, zuweilen auch Freundschaftlichkeit genannt, sagt Aristoteles, eigentlich habe diese Tugend keinen 85 Zur Eintracht als geistiger Grundlage eines Gemeinwesens s. Hennis, Zum Begriff der öffentlichen Meinung 39 ff.; ders., Motive des Bürgersinns 220 ff.

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eigenen Namen, aber sie ähnele am meisten der Freundschaft (philia)3t. Ob jedoch irgendeine bei Aristoteles genannte Tugend einen eigenen Namen hat od~r picht, ist von keinem größeren Belang, denn eine übersetzung vom Wort her hilft ohnehin weit weniger, als eine Erfassung aus der von Aristoteles gegebenen "operationalen Definition", einer Bestimmung der gemeinten Verhaltensweise als Mitte zwischen zwei Extremen. Im vorliegenden Fall steht als Extrem auf der einen Seite ein Mensch, der niemals widerspricht und der aus dem Bedürfnis heraus, den anderen zu gefallen, meint, niemals bei seinen Mitmenschen anecken zu dürfen. Konformismus könnte man diese Verhaltensweise nennen. Das entgegengesetzte Extrem wird beschrieben als ein M~nsch, der stets widerspricht. und dem es gleichgültig ist, ob er jemanden dadurch verletzt: em Streitsüchtiger. Daraus läßt sich ersehen, worum es bei der richtigen, der mittleren Verhaltensweise geht: um das richtige Maß an Vehemenz, mit der man seine eigenen Ideen und Auffassungen vertritt und verficht. - Diese Tugend der Freundschaftlichkeit oder Verträglichkeit ordnet Aristoteles in die Gruppe der Tugenden des Zusammenlebens, genauer gesagt, des menschlichen Umgangs und Verkehrs; und er weist ausdrücklich auf den engen Zusammenhang zur philia hin. Eingangs hatten wir uns gefragt,. ob das Wort Eintracht nur eine gefühlvolle Verbrämung sei für den Zustand eines Minimums von Streit. Was diese erste genannte Komponente der Eintracht angeht, lautet die Antwort: ganz im Gegenteil, der Streit gehört mit zur Eintracht, denn eine Gesellschaft, die nur aus Konformisten und Leisetretern besteht, wird kaum zu irgendeiner Art von politischer Freundschaft gelangen. Denn was sollte man an seinen Mitmenschen schätzen? den Konformismus sicher nicht; eigene Ideen gehören schon dazu37 . Aber genauso wenig läßt sich eine Gesellschaft aufbauen auf dem Grundsatz: Gegensätze müssen ausgekämpft werden, um jeden Preis und ohne Komprorniß! - Das ist freilich der Unterschied der aristotelischen Ethik zu einer Werte-Ethik: Dieser zufolge wird eine Gesellschaft um so besser, desto vollkommener. der angesetzte Wert erreicht wird. Einen solchen Wert der Eintracht oder des inneren Friedens kennt Aristoteles aber nicht. Seine Tugenden sind menschliche Verhaltensweisen und ihre Vollkommenheit liegt nicht im Extrem, sondern in der Mitte, d. h. dem richtigen Maß. Zweifellos ist dies schwierig zu NE (94 mitte) 1108 a 26 - 30 NE IV 12 (145 f.) 1126 b .11 -. U27 a 12. Die Freundschaftlichkeit wird also nicht im Kapitel über die philia - NE VIII - IX - abgehandelt; aber auf den Zusammenhang wird ausdrücklich hingewiesen. Raimund Ritter spricht von "Liebenswürdigkeit und Umgänglichkeit" S. 131. 37 s. dazu auch die Bemerkungen von Moulakis, daß es sich bei der aristotelischen Freundschaft um Harmonie und nicht um Einheit handelt: S. 101 f. 31

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1. Kapitel

definieren, aber darum geht es überhaupt nicht; als objektiver Zustand oder als präzise Definition eines Zustands ist - in unserem Fall die Eintracht - ohnehin uninteressant; sie interessiert nur als Habitus der Menschen. b) Politische FTeundschajt

Das Sich-Vertragen und Nicht-Streiten basiert also auf einer bestimmten Tugend, der eben beschriebenen Verträglichkeit, die hier als ein erster Bestandteil der Eintracht bezeichnet werden soll. Auf ihre nahe Beziehung zur Freundschaft wurde mehrfach hingewiesen; aber was soll man unter Freundschaft im politischen Bereich verstehen, wenn es nicht eine Metapher oder gar nur bloße Phrase sein soll? Mit philia bezeichnet Aristoteles nicht nur die Liebe, sondern jede menschliche Zuneigung. Jede Art von menschlicher Gemeinschaft basiert auf einer für die jeweilige Gemeinschaft spezifischen Zuneigung. In der Ehe ist es die Liebe, unter Freunden die Freundschaft, die philia ist jeweils eine andere unter Fahrtgenossen, Kriegsgenossen, Stammesund Bezirksgenossen, Geselligkeits-Vereinen38 und ebenso ist sie eine besondere in der Polis, in der Stadt, hier spricht Aristoteles von der philia politike. Dabei ist zu beachten, daß Aristoteles an die Stadt seiner Zeit denkt, und ausdrücklich erwähnt, daß die Bürger einander kennen38 • Allgemein könnte man über die verschiedenen Arten von philia sagen, daß sie darin bestehen, daß die Menschen einer jeweiligen Gemeinschaft die anderen Mitglieder in ihren besonderen Aufgaben anerkennen und schätzen, und sich auch entsprechend gegen die Mitmenschen verhalten'o. Für die Polis heißt das: philia besteht hier in gegenseitiger Anerkennung der verschiedenen Bevölkerungsteile je nach ihrer Funktion für die Gesamtheit. Aristoteles sagt, daß das Glück einer Polis in einer Tätigkeit besteht, die er als Wechselwirkung zwischen den Teilen der Stadt bezeichnetU; wenn er diese Bemerkung an der genannten Stelle auch nicht weiter ausführt, so ist außer Frage was gemeint ist: die Praxis, im Sinn einer gegenseitigen Unterstützung und Hilfe. Über die Eintracht sagt Aristoteles ausdrücklich, sie bestehe im gemeinsamen Handeln in Dingen, die allen nützen42 • 38 NE VIII 11 (242 f.) 1159 b 25 ff.; "den jeweiligen Gemeinschaften entsprechen die jeweiligen Freundschaften" NE 1160 a 29 f. Allgemein zur Freundschaft zwischen Ungleichen: NE (238 f.) 1158 b 11 - 28; zu den Freundschaften in verschiedenen Verwandtschafts-Verhältnissen: NE VIII 14 (246 ff.). SI (236 unten) 1326 b 17. 40 NE (238 unten f.) 1158 b 17 - 28. 41 (234 oben) 1325 b 27. 4t NE (264 oben) 1167 a 28 - 30.

Aristoteles

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c) Gemeinsame Ansichten

Zu Anfang hatten wir die Vermutung geäußert, daß die Eintracht noch am ehesten in einer gemeinsamen Auffassung, einer Art StaatsIdeologie bestehen könne. Was blieb nun von dieser Vermutung übrig? Der griechische Begriff der hom6noia, der Gleichgesinntheit, hatte diese Annahme nahegelegt. Aristoteles spricht von der Eintracht als einer Gleichheit der Ansichten, und wenn man will, mag man dies als eine weitere Komponente der Eintracht bezeichnen. Die gemeinsame Staats-Auffassung wäre dann eine Gemeinsamkeit der Bürger, vergleichbar manchen anderen Gemeinsamkeiten (Sprache, Abstammung, Kultur o. ä.), die als Staatsgrundlage von Wichtigkeit sind. Aber das Gewicht liegt bei Aristoteles nicht auf dieser Komponente43 ; sie wird vielmehr als Bestandteil der Praxis angesehen, denn es heißt, daß eine Stadt dann einträchtig sei, "wenn die Bürger über das Zuträgliche einer Meinung sind und dasselbe wünschen und das tun, was gemeinsam beschlossen wurde. Man ist also einträchtig im Handeln"44. Mehr hat Aristoteles über die gemeinsamen Auffassungen der Bürger nicht zu sagen, und dies wenige bezieht sich auf das Handeln. Eine Abhandlung über eine Staatsideologie, wie sie aussehen soll und wie nützlich sie ist, gibt es bei Aristoteles nicht, sondern die Gemeinsamkeit, das gemeinsame geistige Band, das die Bürger zusammenhält und die Eintracht ausmacht, ist keine Lehre oder Doktrin, sondern Praxis selbst, verstanden als Tugend, die ein bestimmtes Bewußtsein und ein konkretes Verhalten umfaßt". 4. Zusammenfassung

Wenn also die Tugenden der Verträglichkeit und der politischen Freundschaft der Inhalt der Eintracht sind, die Eintracht aber der Zweck der gemischten Verfassung, dann bedeutet das, daß die gemischte Verfassung der Inbegriff von Verfassungs-Einrichtungen ist, die diese Tugenden ermöglichen und fördern sollen. Und so, wie es sich bei der gemischten Verfassung nicht um ein einziges Rezept handelte, sondern um eine Reihenfolge von Maßnahmen - angefangen bei einer vorsichtigen Beimischung etwa eines demokratischen Elements in eine aristokratische Verfassung, d. h. einem gewissen Mitspracherecht des einfachen Volkes, über eine gleichgewichtige Mischung ver43 Moulakis formuliert dies noch schärfer und betont, daß die aristotelische Homonoia nicht Homodoxia sei, und mit gemeinsamen Ansichten gar nichts zu tun habe: S. 102 mitte. Siehe dazu auch Raimund Ritter 98 f. " NE (263 unten) 1167 a 26 - 28; 1167 a 22 - 26 darüber, daß die bloße Gleichheit der Ansichten die Eintracht nicht zustande bringt. 45 " ••• Philia ist Tat, eine Vereinigung von Wille und Gedanke in ethischer Betätigung." Ernst Hoffmann S. 172.

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1. Kapitel

schiedener Elemente bis hin zur größtmöglichen Mischung, der oben beschriebenen Verfassungsmitte - so verhält es sich mit dem Zweck nicht anders: Er reicht von einer Verträglichkeit im Sinn eines wohlwollenden Respektierens zwischen ungleichen sozialen Gruppen bis hin zur politischen Freundschaft, moderner gesprochen zur Brüderlichkeit. Zu Anfang des Kapitels über Aristoteles war vom Unterschied der schlecht und gut gemischten Verfassungen die Rede, und von den letzteren wurde eine reichlich formal wirkende Definition gegeben. Jetzt nach der Behandlung des Zwecks ließe sich definieren, daß gute Verfassungsmischungen diejenigen sind, die dem Zweck der Eintracht dienen.

2. Kapitel

Kurzer Überblick über die Geschichte des Theorems der gemischten Verfassung bis zur frühen Neuzeit 1 A)PLATON Mischung von Freiheit und Herrschaft Sehr viele Themen der politischen Philosophie finden ihre erste grundlegende Bearbeitung bei Platon; der Gedanke der gemischten Verfassung spielt bei ihm jedoch keine überragende Rolle, und auf die Bezüge, die sich in Platons Werk zu diesem Thema aufzeigen lassen, soll hier nur kurz hingewiesen werden!. Ernst Forsthoff interpretiert das Verfassungsgebäude der drei Stände in Platons Politeia als Machtbegrenzung und Teilhabe mehrerer an der Macht3• Aber die Existenz von verschiedenen Ständen bedeutet als solche noch keine Verfassungsmischung im Sinn möglichst gleichmäßiger Beteiligung aller Bevölkerungsgruppen an der Herrschaft, im Gegenteil: dieses Ziel wird bei Platon gerade nicht angestrebt. Der Akzent liegt nicht auf der Herrschaftsbeteiligung der Stände, sondern auf der eindeutigen Hierarchie, vor allem aber auf der Zuweisung spezifischer Aufgaben für jeden Stand mit der Maßgabe, sich hierauf zu beschränken'. - Diesen Sachverhalt, daß ein Ständestaat als solcher nicht unbe1 Die Geschichte der Theorie der gemischten Verfassung im Altertum ist ausführlich abgehandelt von Aalders; die ältere Arbeit von Zillig berücksichtigt auch solche Autoren wie Solon, Aischylos und Xenophon, die nicht ausdrücklich von einer Mischung von Staatsformen reden, deren Konzeptionen aber wegen der sachlichen Ähnlichkeit zu den Theorien anderer Autoren von Zi1lig als gemischte Verfassungen hingestellt werden; dies lehnt Aalders ab (Aalders, Altertum 3 f.), womit er aber nur insofern recht hat, als es sich dann nicht um eine "Theorie der gemischten Verfassung" handelt. - Ein geraffter Gesamtüberblick über die Entwicklung der Mischverfassung bei politischen Denkern bis hin zu Montesquieu findet sich bei Hasbach und bei Kägi (Kägi, Entstehung 13 - 68). 2 Den Bemerkungen Platons zur Verfassungsmischung in den Nomoi mißt allerdings Aalders einen hohen Stellenwert bei; Aalders, Altertum 38 (mit Verweis auf andere); s. a. Zillig 35. 3 Forsthoff, Gewaltenteilung 656. 4 Platon, Politeia: über die Stände mit ihren spezifischen Aufgaben und darüber, daß die Gerechtigkeit in der Beschränkung auf diese Aufgaben besteht, s. insbes. 111 414 c - 415 d; IV 427 d - 434 c.

2. Kapitel

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dingt etwas mit gemischter Verfassung zu tun haben muß, werden wir noch eingehend im Kapitel über die Romantiker darlegen5• Auf einen anderen Aspekt von Verfassungsmischung verweisen Aalders und andere: In den Nomoi beabsichtigt Platon, die relativ beste Verfassung durch die richtige Mischung der verschiedenen "Prinzipien des Staatslebens" zu sichern'. Hier spricht Platon in der Tat ausdrücklich von Zusammensetzung der Verfassungen7 , dazu ist aber folgendes zu bemerken: Die Verfassungen oder Staatsformen kann man nach sehr verschiedenartigen Kriterien unterscheiden, und es sind so viele Sorten von Verfassungsmischungen denkbar, wie es Gesichtspunkte zur Unterscheidung von Verfassungen gibt. Die vorliegende Untersuchung beschäftigt sich jedoch nur mit der Verfassungsmischung in einem ganz bestimmten Sinn, - wie gesagt - der Beteiligung aller Bevölkerungsschichten an der Herrschaft, im Gegensatz zu den reinen Verfassungen: der jeweils einseitigen Gruppenherrschaft. Im angesprochenen Abschnitt in Platons Nomoi handelt es sich bei der Mischung von Demokratie und Monarchie um die Mischung von Freiheit und Herrschaft - zwei Prinzipien, die Platon mit jenen Staatsformen verknüpft8 • Die Mischung dieser beiden Komponenten ist zweifellos ein wichtiges Problem, aber mit unserer Fragestellung hat es unmittelbar nichts zu tunt. - Über den Zusammenhang der Mischung derartiger Prinzipien zur gemischten Verfassung im Sinne der Mischung verschiedener Bevölkerungsschichten wird im Kapitel 12 noch genauer zu handeln seinlo . Kap. 6 Abschn. B lII. Aalders, Altertum 43 unten, vgl. auch 48; Kägi spricht von der Mischung der politischen Formprinzipien: Kägi, Entstehung 14; Zillig von der Mischung der Formen der Ausübung staatlicher Gewalt: S. 3I. 7 Platon, Nomoi I1I693 d. 8 Der Abschnitt, in dem Platon über den Gegensatz von Herrschaft und Freiheit und deren Verbindung handelt: Nomoi III 691 e -701 e. 9 Entfernt besteht insofern ein Zusammenhang, da es Platon um das richtige Maß an Herrschaft und an Freiheit geht; insofern wird auch eine Herrschafts-Beschränkung (metri6teta: 701 e) impliziert, wodurch ein Zusammenhang mit der Gewaltenteilung (691 d - 692 a) gegeben ist; aber ein Bezug zu den Bevölkerungsgruppen wird nicht hergestellt. - Ferner ließe sich die Beteiligung der vier verschiedenen Vermögensklassen an der Wahl zur boule (Nomoi VI 756 b ff.) und zu sonstigen staatlichen Ämtern (zusammengestellt bei Aalders, Altertum 46) als Verfassungsmischung interpretieren; die Verwendung verschiedener Amtsbestellungsverfahren (Wahl und Los) wird von Platon selbst als Mischung bezeichnet (756 e), aber die von Platon verfolgte Absicht liegt - ähnlich wie in der Politeia - in der herauszuhebenden Stellung einer bestimmten gesellschaftlichen Gruppe und in der Gerechtigkeit im Sinn einer verhältnismäßigen Ungleichheit. - Daß eine Mischung von sozialen Gruppen vorliegt, lehnt Aalders entschieden ab (47 f.). - Zum Zusammenhang von Platons gemischter Verfassung zur Gewaltenteilung s. a. Hippel, Staatsformen bei Platon, S. 19. 10 Kap. 12 Abschn. I. ö I

B) Polybios und Cicero

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In sachlich viel größerer Nähe zu unserer Fragestellung steht ein ganz anderer Gedanke Platons: die Bemerkung, daß zu großer Reichtum und zu große Armut verhindert werden müssen, wenn man der Krankheit bzw. der Auflösung des Staates vorbeugen willll . Diese Forderung bezieht sich auf die Bevölkerungsschichten und hat zum Ziel, daß zwischen ihnen ein Gleichgewicht bestehen soll, bzw. daß die Bevölkerungsstruktur selbst möglichst ausgeglichen ist und keine zu krassen Extreme vorhanden sind; insofern besteht eine große Ähnlichkeit zu dem, was Aristoteles mit der mittleren Verfassung meint. Mit diesem Postulat einer ausgeglichenen Verfassung ist noch am ehesten ein Bezug zur Mischverfassung gegeben, insgesamt jedoch ist die gemischte Verfassung im oben dargelegten Sinn für Platon kein Anliegen. B) POLYBIOS und CICERO

Zuordnung der Bevölkerungsschicb.ten zu den verschiedenen Staatsorganen Polybios und Cicero erblicken in der römischen Republik eine gemischte Verfassung: Während die reinen Verfassungen nie von langem Bestand sind12, stets durch Umsturz in eine ihnen entgegengesetzte Verfassung umschlagen und es zu einem geradezu naturgesetzlichen WechseP3 der Verfassungen kommt, vermag die gemischte Verfassung diesem Wechsel zu entgehen, und wird deshalb als die beste Verfassung betrachtet1'. Polybios, der sich mit seinen Ausführungen auf die römische Republik in der Zeit vor und während des zweiten punischen Krieges bezieht und hinzufügt, daß diese Verfassungsverhältnisse auch für seine 11 Nomoi V 744 d -745 a; vgl. a. Politeia IV 421 c - 422 a (während die Vorschläge in den Nomoi ausdrücklich die Freundschaft und den Frieden im Gemeinwesen zum Zweck haben, liegt jedoch der genannten Stelle der Politeia eine andere Argumentation zu Grunde; auch bezieht sie sich nur auf die Arbeiter). - s. hierzu Aalders, Altertum 48 oben, 63 oben. 11 Polybios, Historiai VI 3 - 9; Cicero, De re publica I c 27 f. § 43 f. 13 Polybios VI 10; Cicero II c 37 § 62. Zum Verhältnis der gegensätzlichen Thesen von der Dauerhaftigkeit der gemischten Verfassung und dem naturgesetzlichen Kreislauf (anakyklösis) der Verfassungen bei Polybios s. Zillig 53 ff.; Ryffel 208 - 221; Graeber 75 ff.; Fritz 86 ff., 419 ff.; Aalders, Altertum 101 -106. In Ciceros Theorie besteht keine derartige Gegensätzlichkeit, weil das Werden und Vergehen der Verfassungen bei ihm nicht den Charakter naturgesetzlicher Notwendigkeit besitzt; s. Zillig 60; Aalders, Altertum 114. a Bezeichnung für die gemischte Verfassung bei Polybios: politeia synestösa (ek pantön tön proeiremenön idiömatön), VI 3; Bezeichnungen bei Cicero: genus rei publicae moderatum et permixtum (ex tribus generibus rerum publicarum), I c 29 § 45; genus rei publicae conflatum ex omnibus (bzw.: forma rei publicae conflata), I c 35 § 54; genus rei publicae aequatum et temperatum (ex tribus primis rerum publicarum modis), I c 45 § 69; iuncta moderateque permixta constitutio rei publicae, ibid.; genus civitatis modice temperatum (e tribus primis), II c 39 § 65.

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2.

Kapitel

Gegenwart (Mitte bzw. 2. Hälfte des 2. Jh. v. Chr.) gelten15, schreibt, "daß auch von den Einheimischen niemand mit Bestimmtheit hätte sagen können, ob die ganze Verfassung aristokratisch, demokratisch oder monarchisch war. Und so mußte es jedem Betrachter ergehen. Denn wenn man seinen Blick auf die Machtvollkommenheit der Konsuln richtete, erschien die Staatsform vollkommen monarchisch und königlich, wenn auf die des Senats, wiederum aristokratisch, und wenn man auf die Befugnisse des Volkes sah, schien sie unzweifelhaft demokratisch" 18. Cicero bezieht sich auf die Zeit vor den Gracchischen Reformen17 ; er beschreibt die römische Verfassung als eine, die von Generation zu Generation geschaffen wurde18, und die von Anfang an gemischt war, jedoch in keinem guten Mischungsverhältnis19• Die Verfassungsentwicklung vollzieht sich im wesentlichen im Kampf zwischen den Patriziern und Plebejern, wobei zunächst die Patrizier ein klares Übergewicht haben, und erst im Laufe der Zeit ertrotzt sich das Volk genügend Machtbefug·nisse, bis es zu einer Staatsform kommt, "die aus den drei ersten maßvoll gemischt"20 ist, bzw. gegenüber allen Ständen des Staates ausgewogen ist21 • Bei der Beschreibung dieser Verfassungsentwicklung ist für Cicero die Herrschaft des Senats gleichbedeutend mit der Herrschaft der Patrizier bzw. mit Aristokratie, und Machtbefugnisse der Volksversammlungen und der Tribune mit Herrschaft der Plebs bzw. mit Demokratie. Die verschiedenen Bevölkerungsgruppen sind also durch je eigene Staatsorgane an der Verfassung beteiligt, und dies bei der gemischten Verfassung in gleich starker Weise. Diese Zuordnung von Bevölkerungsgruppen zu bestimmten Organen der Verfassung unterscheidet die gemischte Verfassung bei Polybios und Cicero von der des Aristoteles, denn dieser bringt die gemischte Verfassung ~e in Zusammenhang mit den Verfassungsorganen. Zwar beschäftigt sich Aristoteles auch ausführlich mit den Organen und deren KompePolybios VI 11. ibid. '17 Der Dialog von Ciceros De re publica spielt im Jahre' 129 v. Chr. 18 Cicero II c 1 § 1 f. 18 II C 12 § 23, C 23 § 42, C 28 § 50. 20 II C 39 § 65. 21 II C 37 § 62; Buch II von De re publica stellt eine Beschreibung der Entwicklung der gemischten Verfassung Roms dar: Gemischt war die Verfassung von Anfang an, aber nicht gut gemischt, sondern bestimmte Elemente dominierten (s. o. Anm. 19). So beschreibt Cicero die Verfassungsentwicklung über die Stadien: Königtum, Tyrannis, Aristokratie, Oligarchie. Der eigentliche Teil über die Zeit der römischen Republik im Zustand einer gut gemischten Verfassung fehlt im Fragment; aber es gibt genügend Hinweise auf diesen Verfassungszustand und Begründungen, daß die gemischte Verfassung die beste ist: I c 29 § 45, c 35 § 54, c 45 § 69, II c 33 § 57, c 37 § 62, c 39 § 65. 1$

1&

B) Polybios und Cicero

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tenzen22, aber daß die Organe etwas mit den verschiedenen Elementen einer gemischten Verfassung zu tun hätten,oder daß die unterschiedl~chen Organe den verschiedenen Bevölkerungsgruppen entsprächen, davon kann keine Rede sein. Gemischte Verfassung besteht bei Aristoteles darin, daß alle Gruppen an allen Ämtern und an allen Verfassungsrechten Anteil haben, aber Ausgewogenheit der Gruppen ist nicht identisch mit einer Balance von Staatsorganen. Das Modell von Polybios und Cicero mag demgegenüber anschaulicher und einprägsamer wirken, und sicher kommt es nicht von ungefähr, daß dieses zum Prototyp der gemischten Verfassung in der Vorstellung späterer Denker wurde, zumal der durch die verschiedenen Organe gegebene, insbesondere von Polybios herausgearbeitete Gewaltenteilungseffekt große Ähnlichkeit zur späteren Gewaltenteilungslehre aufweist. Auch hinsichtlich des Zwecks besteht ein Unterschied in der Argumentation bei Aristoteles einerseits und Polybios und Cicero andererseits. Gemeinsam ist ihnen das Ziel: ein Interesse aller Bevölkerungsgruppen am Bestand der Verfassung zu erreichen; aber der Akzent liegt bei den römischen Staatsdenkern viel weniger auf dem Ausgleich der Gruppen als auf deren Gleichgewicht23 • Gewiß wird ein einträchtiges Verhalten der unterschiedlichen Gruppen nicht ausgeschlossen- von Cicero auch angestrebt24 - , aber die Argumentation besitzt nicht eine ethische Fundierung im Sinn der Förderung bestimmter Tugenden; machtpolitische Kategorien mit starken Anklängen an konstruktivistische Vorstellungen, und mit Betonung der Balance, die auch durch ein Gegeneinander der Gruppen erreicht werden kann, prägen jedenfalls bei Polybios den Gedankengang25•

U Aristoteies, Politik, 1291 a 22 - 1291 b 1, 1297 b 36 - 1301 a 15 über das beratende, regierende und richterliche Organ (tria m6ria tön politeiön). Siehe hierzu und zum Unterschied zwischen Aristoteles und den römischen Staatsdenkern: Kägi, Entstehung 15; Hammond 76; Tsatsos 113 -122; Aalders, Aristoteles 209, 214, 219,243; Aalders, Altertum 59 - 64,93; kurze und präzise Darstellung auch bei Pangle 118 - 121. 23 Zum Gleichgewicht beiPolybios s. Hammond 75; Fritz Kap. 8 und S. 308 - 310, 327 - 329; Aalders, Altertum 94 ff. - bei Cicero: znlig 60; Aalders, Altertum 113. 24 Polybios VI 18; Cicero II c 42 § 69. s. ferner zur Homonoia bei Polybios: Aalders, Altertum 89. - Über die von Polybios und Cicero verschieden akzentuierte ethische Begründung der gemischten Verfassung s. a. Kuhfuß 193. - Zum Concordia-Programm in Ciceros Realpolitik s. die Schrift von Strasburger. 25 Über die wechselseitige Behinderung der Gruppen und die Balance auf Grund gegenseitiger Furcht s. Polybios VI 10, VI 18; vgI. auch Aalders, Altertum 95, 97. Bei Cicero III c 13 § 23 die Entstehung der gemischten Verfassung aus der Furcht.

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2. Kapitel

C) THOMAS von AQUIN Gemischte Verfassung gleich gemäßtigte Verfassung

Thomas von Aquin bringt in der Summa Theologiae eine kurze Aufzählung der Verfassungsarten (species regiminis)26 - mehr oder weniger eine Wiedergabe des aristotelischen Schemas -, und er beschließt diese mit dem knappen Satz: "Es gibt auch eine Verfassung, die aus diesen gemischt ist, welche die beste ist" (Est etiam aliquod regimen ex istis eommixtum, quod est optimum), die Thomas dadurch charakterisiert, daß die Gesetze sowohl von den Adligen wie vom gemeinen Volk ratifiziert werden (et seeundum hoe sumitur lex, "quam maiores natu simul eum plebibus sanxerunt", ut Isidorus dicit27). Der Terminus für diese Verfassung heißt bei Thomas: regimen eommixtum oder, den griechischen Verfassungsbegriff wörtlich übernehmend, politia eommixta28• Im wesentlichen übernimmt Thomas die Verfassungslehre des Aristoteles in ihrer Systematik und ihrer Bewertung: der Einteilung in drei gute und drei schlechte Verfassungen und der Auffassung, daß das Königtum an sich die beste Verfassung sei, aber wegen der großen Gefahr, in die schlechteste aller Verfassungen, die Tyrannis, umzuschlagen, sei die gemischte Verfassung zu bevorzugen!D. Trotz der Übernahme aristotelischer Gedankengänge ist die Form der von Thomas empfohlenen Mischverfassung auf die mittelalterlichen politischen Verhältnisse zugeschnitten, was zwar von Thomas nicht detailliert ausgearbeitet wird, aber doch seinen knappen Bemerkungen zu entnehmen ist: Das Wahlkönigtum, die Beteiligung von Adel und Volk am Gesetzgebungsprozeß und insbesondere das Recht des Volkes 28 In der Summa Tbeologiae sind für die Staatsformen und die gemischte Verfassung im wesentlichen zwei Stellen wichtig: (a) I-lI Q 95 Art. 4 c (b) I-lI Q 105 Art. 1 e. Jede Verfassung (auch die Aristokratie und Demokratie) wird von Thomas als "regimen" bezeichnet (a). Die "Staatsformen", besser übersetzt man allerdings wörtlicl) mit "Verfassungsarten" bzw. "Arten von Herrschaftsordnung", heißen "species regiminis". Gleichbedeutend mit "regimen" verwendet Thomas den Ausdruck "ordinatio principum" oder "ordinatio prineipatuurn" (b). "Staat" heißt bei Thomas "civitas" (a), meist jedoch in stehender Redewendung "civitas vel regnum" (auch "civitas vel provincia"). "Respubliea" kommt nur als Zitat anderer Autoren vor. - Zur Einteilung der Verfassungen und zur gemischten Verfassung s. die Schrift von Demongeot. 17 Zitat (a). 28 Genauer gesagt kommt der Ausdruck "gemischte Verfassung" nicht als verselbständigter Begriff vor, sondern das Wort "gemischt" erscheint nur in der ursprünglichen partizipialen Konstruktion: "regimen ex istis commixturn" (a); "politia, bene eommixta ex ..." (b). 29 Wiedergabe des aristotelischen Schemas am klarsten in: de reg. pr. I, 1; I, 3. - Zur Gefahr des Abgleitens der Monarchie in die Tyrannis s. bes.: deo reg. pr. I, 4; I, 6; vgl. auch: S. Tb. I-lI Q 105 Art. 1 ad 2.

C) Thomas von Aquin

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auf Wahl der Principes verweist auf den Kontext der Verfassungsstruktur des Mittelalters3o • Die von Thomas befürwortete Verfassung läßt sich als "konstitutionelle Monarchie" bezeichnen31 ; das trifft die Sache, obwohl dieser Begriff nicht ganz glücklich gewählt ist, weil er seine zeitliche Herkunft kaum verleugnen kann: er entsteht als Gegensatz zum Absolutismus und bezeichnet ursprünglich die Bindung des Monarchen an eine geschriebene Verfassung. In der Tat geht es Thomas um die Bindung des Königs, die Einschränkung seiner Gewalt. Man könnte es eingeschränkte Monarchie nennen, aber am sinnvollsten ist es, an Thomas' eigener Terminologie anzuknüpfen, indem man von gemäßigter Monarchie spricht3!. - Für Thomas fällt dies mit der gemischten Verfassung zusammen, denn unter den Voraussetzungen der mittelalterlichen ständischen Gesellschaft ist institutionelle33 Einschränkung bzw. Mäßigung der monarchischen Gewalt mit Zustimmungsrechten der Stände, und d. h. mit deren Herrschaftsbeteiligung gleichbedeutend34 • Insofern kann Thomas beidem gerecht werden: seiner (bei ihm im wesentlichen theologisch begründeten) These von der Monarchie als an sich bester Staatsform, denn seine gemäßigte Verfassung bleibt Monarchie; und dem Erfordernis der gemischten Verfassung, denn indem die Monarchie gemäßigt ist, fällt sie mit der Herrschaftsbeteiligung aller Stände und d. h. dem regimen commixtum zusammen3&. Von der Begründung her sind beides zwei verschiedene Aspekte derselben Verfassung, und bei Thomas haben beide ihr eigenständiges Gewicht: die Monarchie muß gemäßigt sein, weil die an sich beste Verfassung sonst zu wenig gegen die Tyrannis gesichert ist; und die Verfassung muß gemischt sein, weil alle Bürger an der Regierung teilhaben sollen; beide Argumente sind zwingend, für Thomas folgt auch aus dem letzten Postulat bereits als solchem, daß die Mischung aller Verfassungen besser ist als die einfachen species regiminis36 • 30 Thomas interpretiert auch die Verfassung im alten Israel unter Moses und seinen Nachfolgern als gemischte Verfassung (b). 11 Matz, Thomas von Aquin 141. 32 Auch dies nicht als verselbständigter Begriff, sondern in der verbalen Konstruktion: "Simul etiam sie eius temperetur potestas, ut in tyrannidem de faeili declinare non possit." de reg. pr. I, 6. 11 Der Ausdruck "durch Institution" bei Thomas (" ... ut regi iam institutio tyrannidis substrahatur oeeasio. ") ibid. U 'Ober den gesellschaftlichen Hintergrund (ständischer Art) von Thomas' Aussagen zur Politik s. Matz, Nachwort S. 81. 35 Zur Frage, ob Monarchie und gemischte Verfassung dasselbe sein kann, s. MeCoy S. 216 f., und dort die Anm. 55, 58, 69. 38 Zitat (b); das Argument der Beteiligung aller Bürger auch in: de reg. pr. I, 4; s. a. MeCoy Anm. 51.

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2. Kapitel

Wie Aristoteles sieht auch Thomas im Hinblick auf eine stabile Gesellschaft den Zusammenhang zwischen Verfassungsordnung und Eigentumsverteilung; er empfiehlt den möglichst gleichmäßigen Besitz, d. h. er plädiert wie jener für eine "Mittelstandspolitik"37; eine ausgeglichene Verfassung und ausgeglichene Eigentumsverhältnisse entsprechen also einander. D) Englische Autoren vom 16. bis zum 18. .Jahrhundert

Verbindung von gemischter Verfassung mit Gewaltenteilung Das Ideal der gemischten· Verfassung fand· bei englischen Denkern seit der frühen Neuzeit eine vielfältige Resonanz; es stellt einen Topos dar, der weitergegeben wird, um je nach politischen Situationen und Erfordernissen verschieden akzentuiert zu werden. Dieser Topos kann geradezu als spezifischer Bestandteil einer englischen Tradition betrachtet werden, die direkt zu Montesquieu und John Adams führt, welche sich ausdrücklich auf dies englische Gedankengut beziehen. Im 16. Jahrhundert befürwortet der schottische Humanist Georg Buchanan als Gegner des Absolutismus die Gewaltenteilung und er-

blickt in der überkommenen englischen Verfassung die drei Gestaltungsprinzipien, die die gemischte Verfassung ausmachen38• Ebenfalls im 16. Jahrhundert wendet Thomas Smith die Lehre von der gemischten Verfassung mit großer Sorgfalt auf England an311 • - Aus der Erfahrung mit dem Langen Parlament (1640 - 1653), das Gesetzgebung und Regierung in sich vereinigt hatte, setzten sich Denker wie Isaak Pennington40, Marchamount Needham 41 und John Locke'2 für eine Gewal37 s. McCoy S. 215; Matz, Thomas von Aquin S. 142 (jeweils mit Angabe der Fundstellen). 38 Georg Buchanan, De iure regni apud Scotos, 1578. Hasbach 563; Imboden, Montesquieu 17; Kägi, Entstehung 39. SI Thomas Smith, De republica Anglorum, 1583. Imboden, Montesquieu 17; Friedrich, Verfassungsstaat 746; Allen 264 ff.; Fink 23, 55 n. 15, 99 n. 51, 183. 40 Isaak Pennington, A Word for theCommonweal, 1650. Hasbach 563. - Zur nahezu allgemeinen Anerkennung der Lehre von der gemischten Verfassung in England um die Mitte des 17. Jhs. s. den Aufsatz von Weston. 41 Marchamount Needham, The Excellency of a Free State, 1656. Hasbach 563f. 4! John Locke, The Second Treatise of Government, 1690. In Lockes Terminologie ist die gemischte Regierungsform diejenige, bei der die Legislative gleichzeitig monarchisch, oligarchisch und demokratisch organisiert ist: § 132, s. dazu Rostock 103 f.; daß LockesKonzept der Gewaltenteilung dieser Mischverfassung entspricht, s. § 213, dazu Rostock 137; und daß dies mit der gemäßigten Monarchie zusammenfällt, s. Rostock 142. Bei der Interpretation von Lockes Gewaltenteilung als gemischter Verfassung ist allerdings die im Montesquieu-Kapitel Anm. 21 genannte Schwierigkeit zu beachten. - Zur Unterschiedlichkeit von Lockes Gewaltenteilungslehre zur antiken Mischverfassung wegen Lockes Gleichheitslehre und wegen seiner Auffassung, daß die

D) Englische Autoren

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tentrennung ein: die Gesetzgeber sollen nicht die Kompetenz zur Ausführung besitzen, da ihnen dies die Möglichkeit gibt, die Gesetze ihrem persönlichen Vorteil anzupassen. James Harringtons 43 politische Vorstellungen entspringen ebenfalls aus der Unzufriedenheit mit dem Langen Parlament; er sieht das Mittel gegen die Korruption eines allmächtigen Parlaments darin, daß neben dem Unterhaus ein Oberhaus besteht; hierdurch soll ein Gleichgewicht zwischen den verschiedenen Ständen herbeigeführt werden, d. h. vor allem den zwei Hauptständen: der "natürlichen Aristokratie" und dem Volk. Um ein Gesetz zu schaffen, müssen beide zusammenwirken, so daß ein Gleichgewicht entsteht zwischen einem beantragenden Senat, dem beschlußfassenden Volk, und - als einer dritten Kraft - dem ausführenden Magistrat. Noch deutlic;ner als die vorgenannten Gleichgewichts-Theoretiker beziehen sich Algernon Sidney 44 und Richard Temple t5 unmittelbar auf die Lehre von der Mischverfassung. Letzterer ist der Auffassung, daß in den verschiedenen Staatsgewalten jeweils eins der drei politischen Formprinzipien dominierend ist, und er verbindet dies Nebeneinander monarchischer, aristokratischer und demokratischer Strukturen mit einer Mischung der Stände. Auch Jonathan Swift~6 knüpft bei seiner Lehre von der Machtbalance direkt an der antiken Mischverfassung an; Rapin-Thoyras 41 charakterisiert die englische Verfassung in ähnlicher Weise wie Polybios die römische: die Gewalten des Königs, der Großen und des Volkes beschränken sich gegenseitig. Auch Bolingbroke 48 hält die Balance dreier Stände für erforderlich; Vorbild ist ihm allerdings nicht die römische Verfassung, die er für zu einseitig hält, sondern wie später auch MonSouveränität immer beim Volk liegt und nur zwischen Regierungsformen unterschieden werden kann, siehe den allerdings zu vordergründigen Vergleich bei Zillig 70 -77. 4S James Harrington, The Commonwealth of Oceana, 1656. Hasbach 564 - 566; Friedrich, Verfassungsstaat 198; Fink 55 - 57, 61; zur Abhängigkeit der Staatsformen von den Eigentumsvethältnissen und zur Balance der Macht s. Jürgen Gebhardt, Harrington, 99 - 102. 44 Algernon Sidney (auch: Sydney), Discourses concerning Government, 1698. - Hasbach 572; Kägi, Entstehung 42; Fink 55 n. 15, 155; Kuhfuß 194196.

46 Richard Temple, An Essay on Government calculated for the Meridian of England, 1660. - Kägi, Entstehung 43. " Jonathan Swift, Discourse of the Contests and Dissentions, 1701. Hasbach 574; Imboden, Montesquieu 17; Fink 185 f.; Rostock 128. 41 Paul de Rapin-Thoyras, Histoire d'Angleterre, 1717. Hasbach 574; Vile 79 f. es Henry St. John, Viscount Bolingbroke, A Dissertation upon Parties, 1733/34; Remarks on the History of England, 1743; The Idea of a Patriot King, 1749. - Hasbach 566 f., 574 - 577; Kägi, Entstehung 43; Vile, bes. 72 - 74; Jäger 119 - 122.

48

2. Kapitel

tesquieu betrachtet er die aus drei Gewalten gemischte Staatsform als die von den Sachsen überlieferte Verfassung. Bei aller Verschiedenheit der angeführten politischen Theoretiker läßt sich doch verallgemeinernd sagen, daß es ihnen ein zentrales Anliegen ist, die politische Gewalt zu begrenzen; sie alle engagieren sich gegen den Absolutismus, sei es den eines Parlaments, dessen Erlebnis in der Mitte des 17. Jahrhunderts viele dieser Denker nachhaltig geprägt hatte, oder den Absolutismus der Monarchie, wie er von den Stuarts versucht wurde. Erreicht werden soll die angestrebte Machtbegrenzung durch das gleichzeitige Bestehen verschiedener Machtträger. - Was auch immer die Herkunft solcher Gedankengänge sei: eine direkte geistige Beeinflussung durch das Studium antiker Autoren; die Lehre aus dem common law, daß niemand Richter in eigener Sache sein darf'8; oder ob in erster Linie der Kampf gegen absolutistische Entmachtungsversuche die bisherige Verfassungsstruktur als ideales Gleichgewicht erscheinen ließ -, jedenfalls findet eine Verbindung mit der klassischen Theorie der gemischten Verfassung statt, eine Verbindung von Gewaltenteilung und constitutio mixta. Dies ist von der Sache her leicht möglich, weil hier wie dort die Stände - Adel und Volk Machtträger verschiedener Staatsorgane sind, zu denen eine monarchische Institution hinzukommt, und die Gewaltenverteilung mit der gegenseitigen Gewaltbegrenzung von Polybios bereits theoretisiert worden war. Gewiß liegen, wie der kurze überblick erkennen ließ, die Akzente je nach Autor verschieden, z. T. mehr auf der Beteiligung der verschiedenen Stände an der Herrschaft, z. T. auf Gleichgewicht und Machtballance der Institutionen. Diese beiden Aspekte lassen sich auseinanderhalten und werden auch von Bolingbroke50 und von Pale y 61 ausdrücklich unterschieden. - Im Effekt jedoch kommt die Wirkung dieser Aspekte auf dasselbe heraus, Gewaltenteilung und gemischte Verfassung sind unter den politischen Verhältnissen dieser Zeit im Ergebnis identisch. Wohlgemerkt nur unter den Voraussetzungen jener Zeit, d. h. dann, wenn die Institutionen von verschiedenen Ständen getragen werden. Daß diese zwei Aspekte keineswegs notwendig gekoppelt sind, damit wird sich diese Arbeit noch ausführlich beschäftigen. In die Reihe der genannten Denker gehört auch Montesquieu, der in England die Vorzüge eines gewaltenteiligen Systems kennenlernte, dem wir ein eigenes Kapitel widmen wollen; und in der gleichen TradiKluxen, bes. prägnant auf S. 142. Kluxen 135. 51 William Paley, The Principles of Moral and Political Philosophy, 1785. Hasbach 581; Vile 106 f. 4t

50

E) Bodin und Hobbes

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tion - inzwischen wiederum von Montesquieu beeinflußt - sollen außer Paley noch Blackstone52 und de Lolme53 erwähnt werden, die in starker Anlehnung an Montesquieu ein Gleichgewicht der Gewalten, d. h. der zwei Kammern und der Krone befürworten. Ehe wir uns nun mit Montesquieu beschäftigen, ist es nötig, darauf hinzuweisen, daß diese Tradition bisher unter Ausklammerung ihrer Gegner dargestellt wurde, d. h. ungebrochen war sie keineswegs, sondern die Gegenseite hatte auch ihre Theoretiker: insbesondere Hobbes und Bodin. E) BODIN und BOBBES

Souveränität contra gemischte Verfassung

Die Geschichte der Lehre von der Mischverfassung bis in die Neuzeit hinein zu verfolgen, heißt zwei Strömungen betrachten: zum einen die Geschichte vom Fortleben, Weiterreichen und Weiterentwickeln jenes Theorems, zum anderen aber die Geschichte ihres Niedergangs und Verschwindens. Für das Verschwinden des Theorems gibt es in der Neuzeit zwei Gründe prinzipieller Art. - Wenn jemand ein Gegner der gemischten Verfassung ist, weil er diese wenig schätzt und er einer anderen Staatsform den Vorrang gibt, dann ist das weiter nicht Besonderes, sondern es ist dieser Lehre inhärent, daß die gemischte Verfassung nur eine Möglichkeit unter anderen ist, und auch Aristoteles, Cicero und Thomas geben ihr keineswegs vorbehaltlos den ersten Rang, sondern schätzen an sich die Monarchie am meisten, geben aber wegen der großen Gefährdung der Monarchie jener dann doch den Vorzug. Dagegen sind prinzipielle Gründe für ein Verschwinden der Lehre von der Verfassungsmischung solche, die dieser Theorie den Boden vollkommen entziehen: neue Fakten, auf Grund deren es überhaupt nicht mehr möglich ist, jene Staatsform zu errichten, oder aber Argumente, die beweisen, daß ein Gemeinwesen mit gemischter Verfassung gar kein Staat ist. Solche fundamentalen Gründe gegen die constitutio mixta erwachsen zum einen aus dem neuzeitlichen Souveränitätsprinzip, zum anderen aus dem Gleichheitsgedanken. Aus dem Souveränitätsprinzip, weil die höchste Gewalt unteilbar ist und demzufolge eine Beteiligung verschiedener Träger an dieser Gewalt dem Prinzip selbst widersprechen würde; aus dem Gleichheitsgedanken, weil dieser keine unterschiedlichen und für die Verfassung relevanten Gruppen zuläßt, auf die die Macht verteilt werden könnte. In der politischen Realität der Neuzeit gewinnt das Souveränitätsprinzip große Bedeutung seit dem Absolutismus, der Gleichheits61 William Blackstone, Commentaries on the Law of England, 1765 - 1769. - Hasbach 579; Kägi, Entstehung 103 f.; Harrison, Conflict 107 f. G3 Jean Louis de Lolme, Constitution de l'Angleterre, 1771 (bzw. The Constitution of England, 1772). - Hasbach 566, 579 ff.; Fink 189; Vile 105 f.

4 Wember

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2. Kapitel

gedanke seit der französischen Revolutionj in der politischen Theorie haben beide Prinzipien freilich eine lange Vorgeschichte. - Die InFrage-Stellung der gemischten Verfassung durch das Gleichheitsprinzip wird von zentraler Bedeutung für den Zeitraum sein, mit dem sich die vorliegende Arbeit beschäftigt: die Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhundertsj der Angriff auf die Mischverfassung durch das Prinzip der Souveränität soll hier in diesem zuvor gegebenen Übersichtskapitel an Hand der klaren Ausformulierung dieser Theorie bei Bodin und Hobbes skizziert werden, wobei sich im Konzept von Thomas Hobbes auch schon eine theoretische Vorwegnahme des individualistischen Gleichheitsgedankens zeigt. Bodin und Hobbes sind nicht lediglich Monarchie-Anhänger oder Rechtfertiger des Absolutismus, sondern beide ringen grundsätzlich um das Problem der Einheit eines Gemeinwesens angesichts der 10Frage-Stellung dieser Einheit durch insbesondere religiöse Parteigegensätze, die letztlich das Gemeinwesen im Bürgerkrieg zu zerstören drohen. Zwar befürworten beide die monarchische Staatsform am meisten, aber die Monarchie ist nicht prinzipiell das einzige, was in Frage kommt5'j bei Hobbes ist es sogar eine stehende Redewendung, daß der Souverän "ein Einzelner oder eine Versammlung" ist56, an einer Stelle erläutert er ausdrücklich: "Es macht keinerlei Unterschied, ob sie (die souveräne Gewalt) ein Einzelner innehat - wie in der Monarchie oder eine Versammlung - wie in einer Demokratie oder Aristokratie"58, entscheidend ist nur, daß dies Herrschaftsorgan die souveräne Gewalt besitzt, und d. h. Gesetzgebung, Regierung und was sonst alles zu den höchsten Entscheidungen in einem Staat gehört57 • Souveränität bedeutet für Bodin Lösung von der Unterordnung an einen fremden Willen oder den Konsens der Untertanen, d. h. insbesondere die Gesetze können auch ohne Zustimmung der Stände erlassen werden58 • Sie ist zwar nicht gleichbedeutend mit völliger Schrankenlosigkeit, aber ihre Grenzen sind äußerst weit gefaBt: bei Bodin im natürlichen und göttlichen Recht sowie den Fundamentalgesetzen59, bei Hobbes im Zweck des Staates, der im Auftrag des Gesellschaftsvertrags begründet liegt: den Frieden im Gemeinwesen aufrecht zu erhalten60 • Vor allem Bodin, Republik Ir, 1; Hobbes, Lev. XIX. z. B. Lev. S. 136, 137, 138, 140, 143, 146, 152. 58 Lev. 163 - Erläuterung in der Klammer vom Verf. ST Bodin, Republik I, 10; Hobbes, Lev. S. 138 ff. 58 Scheuner, Theorie Bodins S. 386, 388. 69 ibid. 386 ff.; s. hierzu auch: Preston King 145 ff. BO Wenn der Souverän nicht fähig ist, den Frieden zu garantieren, enden alle Verpflichtungen der Bürger; s. z. B. Lev. XXIX, 258. - Leo Strauss verweist darauf, daß Hobbes ursprünglich auch rechtliche Schranken der ober54

55

E) Bodin und Hobbes

51

aber bedeutet Souveränität: Unteilbarkeit61, und diese richtet sich ausdrücklich gegen jede Art von Gewaltenteilung oder gemischter Verfassung. Bodin lehnt eine Verteilung der Souveränität, wie er sie. bei Polybios sieht, ab, weil sie den Frieden nicht sichern könne62, und Hobbes sagt: "Wenn aber die Rechte nicht geteilt werden, kann skh auch das Volk nicht teilen und zwei verschiedene Lager bilden. Und wenn nicht in England in weiten Kreisen die Meinung um sich gegriffen hätte, daß die oberste Gewalt geteilt werden müsse zwischen dem König und dem Ober- und Unterhaus, so hätte es keine Spaltung des Volkes gegeben und folglich auch keinen Bürgerkrieg: zuerst zwischen den Gegnern in politischen Fragen und dann zwischen denen, die um die Religionsfreiheit stritten63." Hobbes räumt auf mit den Mischverfassungen und ihren endlos verschiedenen Möglichkeiten von Mischungsverhältnissen. Entweder gibt es doch jemanden unter den Teilhabern der Macht, der rein faktisch imstande ist, die oberste Gewalt zu übertragen: dieser ist dann der Souverän, und es handelt sich bei solchen Verfassungen nur um Scheinmischungen64 ; oder aber es liegt tatsächlich eine Teilung der obersten Gewalt vor: das bedeutet aus Hobbes' Perspektive den Zerfall des Staates, ist also überhaupt kein Staat. "Alles andere (als die Bestellung von Vertretern des Souveräns zu nur begrenzten Geschäften) hieße eine doppelte Herrschaft gründen. Wann immer aber die Person des Volkes durch zwei Handelnde repräsentiert wird, werden sich zwei einander widerstreitende Parteien bilden, die jene Gewalt spalten werden, welche doch (zur Erhaltung des Friedens) ungeteilt sein muß; und das Volk wird zurückfallen in den Bürgerkrieg - entgegen dem Ziel aller Staatsgründung6li." sten Gewalt angenommen hat und "erst allmählich zur rücksichtslosen Verwerfung der Idee einer gemischten Verfassung fortgeschritten" ist; Strauss, Hobbes S. 72 f. 81 In Republik H, 1 nennt Bodin die Unteilbarkeit der Souveränität als Grund für die Unmöglichkeit der gemischten Verfassung; Hobbes, Lev. 143 f., s. a. die Ausführungen gegen die Gewaltenteilung: Lev. 252 - 256, De cive c. 12 § 5 (S. 196 unten). 82 Bodin, Methodus, c. 6 p. 177 -181; zur Ablehnung der gemischten Verfassung und dazu, daß Bodin die Beschreibung der römischen als einer gemischten Verfassung durch Polybios für historisch falsch hält: Scheuner, Theorie Bodins S. 380; Denzer 237; R. J. Schoeck 412; Salmon 371; J. H. Franklin 31 f.; Preston King 306; Tsatsos 126. 83 Hobbes, Lev. 144 mitte. " ibid.151. 85 ibid. 147, Erläuterung in der ersten Klammer vom Verf.; s. a. die Stellungnahme gegen die gemischte Verfassung in De cive c. 7 § 4 (S. 150 unten f.) und die in der Fußnote von Hobbes vertretene These, daß gemischte und gemäßigte Verfassung im Hinblick auf den Effekt der Teilung der Herrschaft dasselbe sei. - (Über die im Lev. doch zugelassene Möglichkeit der beschränkten Monarchie s. Tönnies 253 unten f.).

,.

2. Kapitel

52

Allerdings bringt Bodin eine interessante Unterscheidung, gewissermaßen einen gedanklichen Kunstgriff, der es ihm erlaubt, doch noch eine Mäßigung der Staatsgewalt einzuführen, ohne mit seinem zunächst aufgestellten Grundsatz der Souveränität in Widerspruch zu geraten86 : Er unterscheidet zwischen Staatsform und Regierungsform67, und er sagt, daß jede Staatsform monarchisch, aristokratisch und demokratisch regiert werden könne. Letzteres richtet sich danach, wer alles an der Regierung beteiligt ist, und dies sei ohne Einfluß auf die Frage, wer die Souveränität innehat. Was ihm also hinsichtlich der Staatsform verwehrt ist, nämlich eine Mäßigung der Herrschaft bzw. eine Beteiligung vieler Kreise der Bevölkerung an der Herrschaft, das kann auf diese Weise hinsichtlich der Regierungsform nachgeholt werden. "Gute Regierung ist für ihn gemäßigte Regierung, die alle sozialen Gruppen oder Stände harmonisch zusammenschließt und entsprechend ihrer Leistung und Bedeutung für den Staat an der Regierung beteiligt. In der gemäßigten Regierungsform sollen im Idealfall Elemente monarchischer, aristokratischer und demokratischer Regierung verbunden sein." Es heißt in Bodins Republik: "Es genügt nicht zu sagen, daß die königliche Monarchie die beste Staatsform ist. Man muß hinzufügen, daß sie gemäßigt werden muß durch die aristokratische und demokratische Regierungsform. Dadurch ist es möglich, daß die Staatsform Monarchie einfach ist, die Regierungsweise dagegen zusammengesetzt und gemäßigt, ohne irgendwelche Vermischung der drei Staatsformen." Bodins Lehre bringt also im Ergebnis nur eine kleine Änderung zu älteren Denkern, die die gemäßigte Monarchie befürworten; aber in der Art der Argumentation ist der Unterschied doch gewaltig. Auf eine kritische Bewertung der Unterscheidung von Staats- und Regierungsform wollen wir hier verzichten, im Kapitel über Rousseau wird dazu Gelegenheit sein68 • Da die gemischte Verfassung verschiedene Gruppen im Staat voraussetzt, sollten wir nach der kurzen Darstellung der Ablehnung der gemischten Verfassung durch Bodin und Hobbes auch noch einen Blick darauf werfen, welche Rolle diese Autoren den Gruppen, d. h. - bei der politischen Struktur jener Zeit - den Ständen zuweisen. Sind die Stände in einem Staatsgebäude mit derart starker Macht der souveränen Gewalt schlichtweg überflüssig? - Weder Hobbes noch Bodin sind so kurzsichtig, als daß sie nicht wüßten, daß Herrschaft auf Zustimmung basiert. Die Stände waren keineswegs nur Gegenkräfte gegen88 Im folgenden eine Wiedergabe von Denzers Ausführung S. 238 f., der auch die zwei nächsten Zitate entnommen sind. 87 s. Scheuner, Theorie Bodins 389; zur Unterscheidung von Staats- und Regierungsform bei Bodin s. a. Hennis, Politik und praktische Philosophie

S.72. 88

Kap. 4, Abschn. I 2. und Anm. 39.

E) Bodin und Hobbes

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über der monarchischen Gewalt, sondern auch unentbehrlich im Herrschaftsaufbau; sie waren durch die mit ihrer Zustimmung endenden Verhandlungen mit dem Fürsten die Garanten dafür, daß herrschaftliche Entscheidungen verbindlich in die Tat umgesetzt werden konnten. Wie lösen nun die Souveränitäts-Theoretiker dies Problem? Bodin und Hobbes geben verschiedene Antworten: Bodin läßt die Stände zwar nicht an den obersten Entscheidungen teilhaben, aber er erkennt ihre Existenz an und hält sie für eine sichere Grundlage des Königtums. "Sie dienen zu Schutz und Verteidigung des Fürsten, bewilligen ihm Steuern, sichern die Aushebung von Truppen. Sie ermöglichen, daß der Fürst die Beschwerden seiner Untertanen hört und die Schäden in seinem Land erfährt ... In den wohlgeordneten Aristokratien und Monarchien gehört die Rücksicht auf die corps et colleges zu der in jedem Staat löblichen Mäßigung (mediocrite). Denn alle solche Gemeinschaften und Korporationen aufzuheben, würde den Staat ruinieren und aus ihm eine barbarische Tyrannei machen89." - Bodin glaubt also, mit einer Anerkennung des Bestehens der Stände und mit ihrer Berücksichtigung im Sinn einer Anhörung auszukommen, um die Vorteile der Stände für den Verfassungsbestand nutzen zu können, ohne dabei den "Nachteil" echter Mitbestimmung der ständischen Vertretungen in Kauf nehmen zu müssen. Hobbes geht einen völlig anderen Weg. Vereinigungen können genehmigt, wenn sie schädlich sind auch verboten werden; Hobbes nennt sie zwar Teile des Staates, aber im Staatsaufbau spielen sie keine irgendwie bedeutsame positive Rolle70• Statt dessen entwirft Hobbes ein anderes Konzept hinsichtlich der Zustimmung zur Herrschaft, das vielleicht seine folgenreichste und politiktheoretisch größte Leistung war. Hobbes bringt es fertig nachzuweisen, daß die Entscheidungen des Souveräns nichts anderes sind als der Wille der Untertanen; entsprechend Hobbes' Konzept der Repräsentation sind die Repräsentierten die Urheber jeder Handlung des Souveräns bis hin zu der Schlußfolgerung, daß ein Unrecht des Herrschers nicht vorkommen kann, da es einerseits unmöglich ist, sich selbst ein Unrecht zuzufügen, andererseits aber das Tun des Herrschers der eigene Wille ist7!. Dies Konzept der Zustimmung ist prinzipiell verschieden von aller ständischen Mitbestimmung, es ist das Grundschema für spätere demokratische Willensbildungsmodelle72• Scheuner, Theorie Bodins 395 f. Lev. XXII und S. 258 oben. 71 Lev. 141; vgl. den prägnanten Satz aus De cive c. 12 § 8 (S. 199 oben): "Das Volk herrscht in jedem Staate, selbst in der Monarchie"; und die Bemerkung, daß "der WiIle der einzelnen Bürger in dem Willen des Staates mit enthalten ist". c. 12 § 4 (S. 195 mitte). 72 s. hierzu (wenn auch mit etwas anderer Akzentuierung) Mayer-Tasch, Autonomie 36 ff. GI

70

2. Kapitel

54

Das Konzept ist individualistisch, da es von den einzelnen Menschen

in der Urversammlung ausgeht, die den Vertrag eines jeden mit jedem

schließen, und auf dem Willen des je einzelnen aufbaut; und für diese Willensbildungstheorie ist es unerheblich, ob der Repräsentant, der Souverän, ein einzelner oder eine Versammlung ist, wie immer wieder bemerkt wird73. - Trotz der geistigen Nähe zum Absolutismus hat Hobbes damit einen, wenn nicht den entscheidenden Beitrag zu späteren Demokratie-Theorien geleistet; oder umgekehrt ausgedrückt: eben wegen Hobbes' Nähe zum Absolutismus ist bei ihm die totalitäre Komponente der "demokratischen Fiktion"74 besser sichtbar als bei den eigentlichen Demokratie-Theoretikern, die freilich am Hobbesschen Schema nichts wesentliches zu ändern brauchten. Bodins Lehre ist also gekennzeichnet durch die Souveränität, bei gleichzeitiger Beibehaltung der Stände, wenn auch deren Rechte stark beschnitten werden; Hobbes teilt das Souveränitäts-Konzept, entwirft aber darüber hinaus ein individualistisches Staatsmodell, eine Vorstellung, die in den folgenden Kapiteln von großer Relevanz sein wird.

73 74

s. o. Anm. 55.

Zu diesem Begriff s. Stemberger S. 9 und 119.

Zweiter Abschnitt

Die Verfassungsmischung von der Mitte des 18. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Wie das letzte Kapitel in den Ausführungen über Bodin und Hobbes zeigte, beginnt spezifisch neuzeitliches Staatsdenken mit einer starken Tendenz gegen die Prinzipien der Verfassungsmischung. So werden wir auch in dem eigentlichen Zeitraum unseres Themas einerseits solchen Autoren begegnen, für die jene Prinzipien nach wie vor relevant sind, andererseits aber vielen Denkern, die derartige Vorstellungen ablehnen, oder aber bei denen die ganze Problematik keine Rolle spielt. Da wir jedoch auf der Suche nach dem positiven Nachfolger der Mischverfassung sind, d. h. die modernen Formen dieser Institution aufzeigen wollen, werden wir den erstgenannten Autoren breiten Raum widmen. Die Gegenströmungen sollen allerdings nicht mit Stillschweigen übergangen werden, sondern die Gründe und die Art der Gegnerschaft gilt es wenigstens zu skizzieren. Dementsprechend wird im folgenden meist abwechselnd ein Kapitel einen Autor mit einer eigenen Mischungskonzeption ausführlich und mit eingehender Textinterpretation behandeln, dem ein Kapitel folgt über einen Gegner bzw. über Vertreter einer ganzen geistigen Richtung, bei denen die Verfassungsmischung zumindest nicht von so großer Bedeutung ist, und dies soll mehr kursorisch geschehen.

3. Kapitel MONTESQUIEU

Gleichgewicht der Stände und funktionale Gewaltenteilung Montesquieu gilt als der geistige Vater der modernen Gewaltenteilung, doch betrachtet er selbst diese Gewaltenteilung weder als eigene Erfindung noch als etwas Modernes; vielmehr beschreibt er mit dem Begriff der "distribution des trois pouvoirs" nur die bestehenden Verfassungsverhältnisse Englands zu seiner Zeit. Obwohl es den Fortschrittsgedanken bei Montesquieu gibt, ist Montesquieu nicht im mindesten bestrebt das Regierungssystem Englands als besonders fortschrittlich hinzustellen, im Gegenteil, er sagt, daß das herrliche System der Gewaltenteilung in den Wäldern Germaniens gefunden wurde1 • Dieses germanische Regierungssystem betrachtet Montesquieu als eine "gemischte" Regierung, zunächst nur aus Aristokratie und Monarchie (mele de l'aristokratie et de la monarchie), später kam die "bürgerliche Freiheit des Volkes" als weiteres Element hinzu2• Trotz mancher Abhebung dieser mittelalterlichen Erfindung gegenüber der Antike fehlt ein Hinweis auf die drei Gewalten in der aristotelischen Politie nicht3 • Ferner wird der Zusammenhang zur römischen Verfassung, die gemeinhin als Inbegriff einer gemischten Verfassung galt, schon dadurch augenfällig, daß Montesquieu der römischen Befugnisaufteilung im gleichen Buch XI des "Esprit des Lois" ebensoviel Raum widmet wie der kurz zuvor behandelten englischen Verfassung'. Der Gedanke der Verfassungsmischung scheint also auf den ersten Blick bei Montesquieu von einiger Bedeutung zu sein. Wenn es nun darum geht, herauszufinden, ob tatsächlich die alten Vorstellungen von Form und Zweck einer Verfassungsmischung lebendig sind, oder aber ob alte Begriffe zwar noch Verwendung finden, die damit verbundenen Vorstellungen aber wesentlich andere geworden sind, so scheint ein 1 Montesquieu, De l'Esprit des Lois, 228; zu Montesquieus These der Entstehung der Gewaltenteilung bei den Germanen s. Merry 321 ff.; Struck 182 ff.; Kuhfuß verweist auf dieselbe Auffassung bei Sidney und Ramsey: 195 f., 200. ! 231 (175 f.). 3 234. , Englische Verfassung: XI 6; römische Verfassung: XI 11-19.

Montesquieu

57

Einstieg über den uns vertrautesten Gedanken Montesquieus, die Gewaltenteilung, durchaus angebracht.

I. Verfassungsmischung und Gewaltenteilung 1. Die staatsfunktionen und ihre Träger

Montesquieu geht (in Kapitel XI, 6) davon aus, daß es in jedem Staat drei Gewalten gibt: Legislative, Exekutive und Richterliche; und er untersucht, ob diese Gewalten in der Hand ein und derselben Person oder Körperschaft liegen, oder ob sie auf verschiedene verteilt sind. Die tatsächlichen oder potentiellen verschiedenen Träger dieser Befugnisse sind Monarch, Parlament und Gerichte; aber mit bloßer Nennung der Staatsorgane ist es nicht getan, denn welche gesellschaftlichen Kräfte konstituieren diese Organe? Daß es Montesquieu nicht um die bloße Differenzierung der Staatsfunktionen und ihre Zuweisung zu verschiedenen Organen geht, sagt er ziemlich zu Anfang des Kapitels in aller Deutlichkeit am Beispiel Venedigs: Zwar liegen Legislative, Exekutive und Judikative bei verschiedenen Personen und Organen, "das Übel aber ist", so kritisiert Montesquieu diesen Zustand, "daß diese verschiedenen Tribunale von den Beamten der gleichen Körperschaft gebildet werden"; gemeint ist die Aristokratie5 • Der Frage der sozialen Zugehörigkeit der Amtsinhaber kommt also eine größere Bedeutung zu, als der bloßen BefugnisDifferenzierung. - Wie aber soll das genannte Übel beseitigt werden? Geht der Vorwurf in die Richtung, daß nur eine Körperschaft, nämlich die Geburts-Aristokratie zum Zuge kommt, und statt dessen auch andere gesellschaftliche Gruppen beteiligt werden sollen; oder ist die Verknüpfung von staatlichen Organen mit sozialen Schichten überhaupt verwerflich? 2. Der Volksbegriff

Beim Lesen der im "Esprit des Lois" unmittelbar folgenden zwei Seiten möchte man dem letzteren zuneigen. Denn hier ist die Rede davon, daß die Richter aus dem Volkskörper (corps du peuple) stammen sollen und das die Gerichts-Befugnis überhaupt nicht mit einem bestimmten Stand (etat) verbunden sein so1l6. Über die legislative Befugnis heißt es, sie ist der allgemeine Wille des Staates (volonte generale de l'~tat), und die Exekutive wird als dessen Vollzug aufgefaßt7. Ferner sagt Montesquieu wenig später, daß die Legislative dem Volk als Ge5 217 • 217 7 217

oben. mitte (165 unten). unten (166 oben).

58

3. Kapitel

samtkörper zusteht8,. und daß es zweckInäßig ist, wenn das Volk zur Ausübung dieser Befugnis Repräsentanten wählt. Bei diesen Aussagen assoziiert man unwillkürlich die moderne Vorstellung von einem einheitlichen Staatsvolk, . das in Willensbildungs-Prozessen verschiedene Organe hervorbringt, und unterschiedliche soziale Stände als verfassungsrelevante Organe nicht kennt. Montesquieus Volksbegriff ist jedoch ein anderer. Dem Volk (peuple) wird nämlich der Adel (nobles) gegenüber gestellt. "Zu allen Zeiten gibt es im Staat Leute, die durch Geburt, Reichtum oder Ehrenstellungen ausgezeichnet sind. Würden sie mit der Masse des Volkes vermengt und hätten sie nur eine Stimme wie alle übrigen, so würde die gemeinsame Freiheit ihnen Sklaverei bedeutenD." Dieser Adel wird nicht nur zur Kenntnis genommen, etwa in der Art, daß man sich mit seiner Existenz abfinden müsse, sondern seine hervorragende Stellung wird gutgeheißen: "Ihr Anteil an der Gesetzgebung muß also den übrigen Vorteilen angepaßt sein, die sie im Staate genießen10." Dem Adelwird eine für die Freiheit des gesamten Staates sehr wichtige Aufgabe zugesprochen: die Mäßigung der exekutiven Gewalt und der aus dem "Volk" gewählten Körperschaft. Zu diesem Zweck soll der Adel eine eigene Körperschaft bilden, die einen Zweig der Legislative darstellt, und "berechtigt ist, die Unternehmungen des Volkes anzuhalten, wie das Volk das Recht hat, den ihrigen Einhalt zu gebieten"l1. Das Volk ist also ein anderer sozialer Stand als der Adel, und die Gewaltenteilung präsentiert sich als gemischte Verfassung im herkömmlichen Sinn: beide Stände sollen durch Verfassungsorgane an der Macht beteiligt sein. - Hier bei Montesquieu vielleicht mit einer veränderten Zielsetzung: einer stärkeren Akzentuierung des gegenseitigen Behinderns und In-Schach-Haltens als des Zusammenarbeitens. Weitere Beispiele zum Volksbegriff und auch zur Zuweisung von Verfassungsorgane~ an das Volk als einem besonderen Stand bestätigen diese Sehweisel !. 8 218 unten, "le peuple en corps" (166 unten): Zur Interpretation der letzten drei Zitate und zur Frage, ob daraus gefolgert werden kann, daß Montesquieu ein Anhänger der Volkssouveränität ist, s. Struck 154 ff.; Kägi, Entstehung 55. 9 220 mitte. 10 ibid.; Struck erklärt Montesquieus Eintreten für die Sonderrechte des Adels aus einer "ständischen Selbstsucht, für die der eigene Vorteil das Ausschlaggebende ist". S. 164 f.; Merry dagegen verweist auf Montesquieus Argumente der Unabhängigkeit und MittelsteIlung des Adels, S. 231 mitte; s. a. Kuhfuß 221. 11 220 mitte; zur Stellung des Adels als ausgleichender und stabilisierender Faktor s. Merry 232 - 234; Lakebrink 84 f. 12 Z. B.: 221 oben, 224 unten, 225 f.

Montesquieu

59

Aber wird dadurch unsere zuerst so selbstverständlich erscheinende Annahme von einem einheitlichen Staatsvolk als einer Gesamtheit aller Bürger, das verschiedene Organe hervorbringt, völlig abwegig? 3. Die zwei verschiedenen Gewaltenteilungs-Schemata

Bei genauerem Zusehen drängt sich der Eindruck auf, daß bei Montesquieu zwei Schemata, zwei verschiedene Vorstellungen zum Begreifen der politischen Realität miteinander konkurrieren. Da ist das eine von den drei Befugnissen: der Legislative, Exekutive und Judikative, eben jenes Schema, das als das für Montesquieu typische jedermann präsent ist; zum anderen das - insbesondere englische - altherkömmliche Schema von drei politischen Kräften: von König, Adel und Volk. Um Mißverständnissen vorzubeugen: Hier geht es nicht darum, etwaige Widersprüche bei Montesquieu aufzuzeigen. Keineswegs, die funktionalen Begriffe von drei verschiedenen staatlichen Kompetenzen und die Existenz dreier wichtiger Staatsorgane (König, Oberhaus und Unterhaus) widersprechen einander nicht, auch dann nicht, wenn die Zuordnung beider Komplexe zueinander höchst kompliziert ist. Dies betrifft das Problem, ob die Gewaltenteilung exakt durchgeführt ist, oder ob es sich um ein System von "checks and balances" handelt; und in der Tatsache, daß Montesquieu für letzteres plädiert, also dafür, daß jedes Staatsorgan in wohlüberlegtem Ausmaß an den Funktionen des anderen teilhat, darin wird hier nichts problematisches gesehen. Das alles bezieht sich auf das Verhältnis der Funktionen einerseits zu den Machtträgern andererseits18• Demgegenüber betrifft das hier angesprochene Problem die Frage, wer diese Machtträger sind: Handelt es sich um einander gegenüberstehende Bevölkerungsteile, um Stände, deren errungene oder erkämpfte Macht sich in den Kompetenzen einer Institution manifestiert? Oder sind es Organe im eigentlichen Sinn dieses Wortes: Organe ein und desselben Körpers, Staatsorgane, die als Beauftragte eines einheitlichen Staatsvolkes gedacht sind. Ganz so abwegig kann unsere ursprüngliche Annahme im Sinn dieser letzteren Konzeption nicht gewesen sein. Denn die Vorstellung, daß funktionale Staatsorgane aus einem gleichen Volk hervorgehen, die in späterer Zeit zur Selbstverständlichkeit wird, schwingt bei Montesquieu sehr wohl mit, wenn er sagt: "Da in einem freien Staate jeder 13 Siehe dazu, daß Montesquieus Gewaltenteilung nicht nur Gewaltentrennung sondern auch Gewaltenverschränkung beinhaltet: Struck 159, 174 -181; Imboden, Montesquieu 7 ff.; Maier 280; Tsatsos 135 ff.; Vile 85 f.; Kuhfuß 139; Kägi, Entstehung 54, auf S. 64 Textbelege geordnet nach Gewaltentrennung, -teilung und -hemmung.

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Mensch, dem man einen freien Willen zuerkennt, durch sich selbst regiert sein sollte, so müßte das Volk als Ganzes die gesetzgebende Gewalt haben. Das aber ist in den großen Staaten unmöglich, in den kleinen mit vielen Mißhelligkeiten verbunden. Deshalb ist es nötig, daß das Volk durch seine Repräsentanten das tun läßt, was es nicht selbst tun kann14. " Unter dem gleichen Aspekt kann man die schon erwähnte Aussage über die Judikative sehen: sie "muß von Personen ausgeübt werden, die zu bestimmten Zeiten des Jahres in gesetzlich vorgeschriebener Weise aus dem Volk als Ganzem entnommen werden ... Sie ist weder mit einem bestimmten Stand noch mit einem Beruf verbunden"15. Diese Aussagen werden an den betreffenden Stellen ohne jede Einschränkung vorgetragen. Erst später kommt die Bemerkung, daß die richterliche Befugnis gewissermaßen gar keine seP'; und was bleibt, ist ein anderes Bild von drei Gewalten: der Monarch, der Adel und das Volk, die beiden letzten repräsentiert in Oberhaus und Unterhaus. Noch ganz im ersten Funktionsschema denkend bemerkt Montesquieu, daß es sich nach Abzug der richterlichen Befugnis nur noch um zwei Befugnisse handelt, wenngleich auf drei Träger verteilt; was ihn nicht hindert, später von eben diesen drei Trägern, dem Monarchen und den zwei Parlamentskörperschaften, als den drei Befugnissen zu sprechen17. - Die Balance dieser drei Kräfte erscheint in Montesquieus Resümee als das eigentliche Problem der Gewaltenteilung; so als ob nie von der Judikative und überhaupt von Staatsfunktionen die Rede gewesen wäre. Es handelt sich hierbei, wie gesagt, um den alten Gedanken der gemischten Verfassung18, wie er in der englischen Tradition oft vorgetragen wurde, so bei Buchanan, Sidney, Swift und Bolingbroke19, und den Montesquieu in seinen folgenden Ausführungen über das Mittelalter 218 unten (166) - Hervorhebungen vom Verf. 217. 18 220 unten. 17 226 mitte. 18 tlbereinstimmend beurteilen Montesquieus System der Gewaltenteilung als soziale Mischung im Sinn der herkömmlichen constitutio mixta: Zillig 83 - 85 (der Vergleich mit der Antike hinsichtlich der Staatsfunktionen ist hier allerdings zu oberflächlich); Kägi, Entstehung 66 f.; Pangle 125 -129; Rostock 117; Maier 277; Vile 83; s. a. zur Beurteilung bei Merry und bei Kuhfuß unten Anm. 35. 19 über die literarischen Vorlagen für Montesquieus Gewaltenteilungslehre s. Kluxen 134 -136; Struck 224 - 306; Vile 79 - 81; Imboden, Montesquieu 17; Tsatsos 132; Kuhfuß berücksichtigt neben dem Einfluß der englischen Autoren auch das Verhältnis von Montesquieus Lehre zu Chevalier de Ramsey und zu Burlamaqui: S. 193 - 207. 14

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und insbesondere in den acht Kapiteln über die römische Verfassung darlegt. 4. Montesquieus Gewaltenteilung zwischen altem Ständestaat und modernem Staat gleicher Bfirger

Es sei noch einmal betont, daß hier kein eigentlicher Widerspruch im Esprit des Lois behauptet wurde; allerdings zeigte es sich, daß Montesquieu mit zwei verschiedenen Schemata operiert, wobei er sich entweder nur im einen oder nur im anderen bewegt, nie den Versuch unternehmend, beide aufeinander abzustimmen2o• Jedoch kann kaum etwas die Umbruchssituation der Zeit, in der Montesquieu schreibt, besser widerspiegeln als das Nebeneinander von zwei nicht ganz deckungsgleichen Vorstellungen: Das Schema von König, Adel und Volk ist die Formel für die alte Verfassung. Das Schema der funktionalen Staatsorgane aus einem einheitlichen Staatsvolk, - das sind neue Gedanken für eine neue Wirklichkeit: für die Gleichheit aller Staatsbürger2!. Es gibt eine Menge von Gründen, die eine Gewaltenteilung in einer Zeit, in der es keine Stände mehr gibt, nach wie vor rechtfertigen; aber dann verändern und verlagern sich notwendig Bedeutung, Zweck und Verständnis dieser Institution. Jetzt werden auf einmal die Funktionen der Staatsorgane interessant. An sich kann man an die Verfassung jeder Epoche und jedes Volkes mit der analytischen Frage herantreten, auf welche Institutionen sich die Funktionen von Legislative, Exekutive und Judikative verteilen oder nicht verteilen; aber Denker früherer Zeiten taten es nicht. Man ging von den vorhandenen Ständen aus; und daß jede Bevölkerungsgruppe auf jede Entscheidung Einfluß haben wollte, war selbstverständlich. Interessant war die Frage, wie sich die Zuständigkeiten für die zwar vielfältigen aber nicht a-priorisch wesensverschiedenen staatlichen Tätigkeiten durch Verfahrensregeln verteilen und verzahnen ließen; nur denkerisch zu trennende Staatsfunktionen wären ein müßiges Problem gewesen. Wenn allerdings die unterschiedlichen Stände als politische Mächte wegfallen, dann gewinnt die Suche nach neuen Kriterien zur Vertei20 Struck formuliert dies schärfer: er sieht in Montesquieus "unausgeglichener Verbindung der zwei Gedankenreihen" einen Widerspruch, 151 f. und Anm. 56 mit Literaturhinweisen, vgl. a. 184. Ganz im Gegensatz zu solcher Beurteilung sieht Ernst von Hippel bei Montesquieu bereits eine systematische Scheidung zwischen einer Funktionenlehre und der politischen Gewaltenfrage, was Kägi zu Recht für eine Projektion moderner Systematik hält: Kägi, Entstehung 54; s. hierzu auch Pangle 122 mitte. 21 Bei Locke gibt es eine Parallelität zu diesen zwei Schemata: Einerseits das funktionale Gewaltenteilungsschema (Second Treatise § 143 ff.); andererseits die drei Machtträger König, Adel und Volk (§ 213). Rostock nennt dies "zwei verschiedene, sich widersprechende Ausprägungen" der Gewaltenteilungstheorie S. 137.

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lung der Macht an Bedeutung. Insofern ist der moderne Gedanke der drei Staatsfunktionen aufs engste verknüpft mit der modernen Vorstellung von einem gleichen Staatsvolk mit seinen Staatsorganen, im Gegensatz zum alten Schema der drei Stände, mit dem sich der Gedanke der Staatsfunktionen nur theoretisch verbinden läßt.

11. Die gemäßigte Verfassung im System der Staatsformen 1. Montesquieus Schema der Staatsformen

Wie nennt Montesquieu selbst "seinen Staat", d. h. ein Gemeinwesen, in dem die Aufteilung der Befugnisse verwirklicht ist? - Wenn man die Gewaltenteilung, wie heutzutage üblich, für ein Charakteristikum der Demokratie hält, kann man mit einigem Erstaunen feststellen, daß der gewaltenteilige Staat von Montesquieu als Monarchie bezeichnet wird22• Demnach handelt es sich hierbei um eine bestimmte Staatsform und nicht um eine Mischung von mehreren. Hätte also die Gewaltenteilung doch nichts mit unserem Problem der gemischten Verfassung zu tun? Eine Betrachtung der Staatsform-Begriffe bei Montesquieu soll das Problem klären. Montesquieu unterscheidet drei Staatsformen: die republikanische, die monarchische und die despotische, und er stellt dem zweiten Buch des Esprit des Lois eine Definition voran: "Die republikanische Regierung ist diejenige, in der das Volk als Ganzes oder auch nur ein Teil des Volkes die oberste Gewalt innehat; die monarchische ist die, bei der ein einzelner,. aber nach festbestimmten Gesetzen regiert, während bei der despotischen ein einzelner ohne Recht und Gesetz alles nach seinem Willen und seinen Launen lenkt28." Diese Einteilung - erweitert um die Differenzierung der Republik in Aristokratie und Demokratie - wird auch im weiteren Verlauf des Esprit des Lois von Montesquieu beibehalten, und die Kapitel-Einteilung orientiert sich an ihr. Aber schon bei der zitierten Definition fällt auf, daß diese Einteilung der Staatsformen auf zwei ungleichen Kriterien beruht: Zum einen ist die Zahl der Regierenden, bzw. die Zahl derer, die Anteil an der Macht haben, das Kriterium für die Un22 229 unten f.; Montesquieus Auffassung, daß es sich um eine Monarchie handelt, wird ferner deutlich: 231 unten f.; 234 oben. 23 18. Wenn Montesquieu von Arten der Regierungen (especes de gouvernements) spricht, ist damit nicht wie bei Bodin oder Rousseau die Regierung im engeren Sinn gemeint, sondern Gouvernement ist für ihn gleichbedeutend mit der Staatsverfassung; vgl. Zillig 78. - Vile (S. 84) meint zwar eine Ähnlichkeit zu Bodins Unterscheidung von Staats- und Regierungsform bei Montesquieu zu finden, aber die von ihm angeführten Belegstellen rechtfertigen eine solche Gedankenkonstruktion nicht.

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terscheidung von Monarchie und Republik (und ebenso für die Differenzierung der letzten in Aristokratie und Demokratie), zum anderen aber liefert die Art und Weise der Herrschaft das Kriterium für die Unterscheidung von Monarchie und Despotie24 . Diesem Schema zufolge wird also nur die Einherrschaft25 nach dem Modus der Herrschaft unterteilt; bei Betrachtung der sachlichen Aussagen zu Demokratie und Aristokratie sieht man allerdings, daß Montesquieu auch hier jeweils eine maßvolle und eine entartete Variante kennt: "Die Aristokratie entartet (corrompt), wenn die Macht des Adels willkürlich wird26." Die Entartung besteht darin, daß die regierenden Familien sich nicht an die Gesetze halten; die schlimmste Entartung tritt ein, wenn der Adel erblich wird, und Montesquieu parallelisiert den Gegensatz der entarteten und der nicht entarteten Aristokratie ausdrücklich mit den zwei Formen der Einherrschaft: im einen Fall handelt es sich um "mehrere Despoten", im anderen um "mehrere Monarchen"27. - Nicht anders verhält es sich bei der Demokratie: Ihre Entartung nennt Montesquieu den Despotismus aller28 . Montesquieus Staatsformen-Schema schien auf den ersten Blick vom Gegensatz zwischen Monarchie und Republik geprägt zu sein - eine moderne Sehweise, die sich an der Art der Willensbildung orientiert, weniger an der Qualität der Herrschaft -; aber letztlich durchzieht doch ein anderer Gegensatz das ganze Werk, nämlich der zwischen guter und schlechter Verfassung, und das heißt bei Montesquieu: zwischen gemäßigter und nicht gemäßigter (bzw. entarteter) Verfassung, wobei dieser letztere Gegensatz für Montesquieu das wichtigere Unterscheidungs-Kriterium ist: "Es entsteht kein Nachteil, wenn ein Staat von der einen gemäßigten Regierungsform (gouvernement modere) zu einer anderen, zum Beispiel von der Republik zur Monarchie oder von der Monarchie zur Republik übergeht, wohl aber, wenn er sich von einer gemäßigten Regierungsform her dem Despotismus in die Arme wirft29 ." 2C Zu den zwei verschiedenen Unterscheidungskriterien in Montesquieus Staatsform-Einteilung s. Struck 46 oben, 57 n 5; Levin 61- 63; Morkel 30 unten; Kuhfuß 116 -118; Merry 223, zu Merrys Erklärung hierfür s. u. Anm. 30. 25 Dieser Oberbegriff für Monarchie und Despotismus wird von Montesquieu selbst gebraucht: "gouvernement d'un seul" 232 oben mitte (176 unten), 234 oben (178). 28 160 unten (122). 27 160 f. 28 162 mitte (124 oben); dazu, daß jede Staatsform eine entartete bzw. despotische Variante kennt: Morkel 28 f., 31 oben; allgemein zum Gegensatz zwischen Despotismus und gemäßigter Staatsform: Kuhfuß 122 -125, 137 f.,. 143, 199; vgl. a. Anm. 34.

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Eine gewisse Parallelität zu unserer Differenzierung im ersten Abschnitt zwischen einem Schema, das von Montesquieu ausdrücklich als solches vorgestellt wird, und einem weiteren, mit dem er über weite Strecken tatsächlich arbeitet, ist unverkennbar. Dort war es die Unterscheidung des modernen fun~tionalen Gewaltenteilungs-Schemas, das die drei Gewalten in einem Willensbildungs-Prozeß als Organe des Volkes entstehen läßt, im Gegensatz zur alten Vorstellung der Verteilung der Macht auf die Stände. Jetzt haben wir auf der einen Seite ein modernes Staatsform-Schema, das an der Willensbildung orientiert ist, und auf der anderen Seite eine antike Unterteilung der Staatsformen nach ihrer Qualität, d. h. nach der Art und Weise der Herrschaft30• 2. Die Bedeutung der gemischten Verfassung

Verändert hat sich im Unterschied zur Antike nur folgendes: der Gegensatz von guter und schlechter Herrschaft ist bei Montesquieu ersetzt durch den Gegensatz von gemäßigter und nicht gemäßigter Herrschaft. D. h.: die institutionelle Seite der guten Herrschaft wird von Montesquieu in den Vordergrund der Unterscheidung gerückt. Während bei Aristoteles das Kriterium für die gute Herrschaft war, daß sie zum Nutzen von Regierenden und Regierten ausgeübt wird, im Gegensatz zur schlechten Herrschaft, die nur den Regierenden nützt, so sichert Montesquieu dieses Ziel dadurch, daß die jeweils Regierten von vornherein mit an der Macht beteiligt sind. Denn was bedeutet "gemäßigt" bei ihm konkret: Gemäßigt ist die Aristokratie dann, wenn das Volk möglichst viel an der Regierung beteiligt ist. Im Gegensatz dazu ist die unvollkommenste tu 164 (125). - Kuhfuß spricht von der Überlagerung des einen Staatsformschemas durch das andere, S. 117 f., 138. 30 Eine andere Interpretation desselben Sachverhalts liefert Merry: Er interpretiert den ganzen ersten Teil des Esprit des Lois (Buch II - X) nicht als Abhandlung von verschiedenen Staatsformen, sondern als die Beschreibung der politischen Rollen der verschiedenen Klassen in der von Montesquieu befürworteten gemischten bzw. gemäßigten Verfassung (166 -176). Demzufolge meint Montesquieus Staatsformschema weniger die verschiedenen Verfassungstypen als vielmehr die politischen Klassen als Bestandteile der Mischverfassung (223 ff., bes. 230). Was die Beurteilung der Bedeutung der gemischten Verfassung bei Montesquieu anbelangt, laufen die von Merry gelieferte und die hier gegebene Interpretation freilich auf dasselbe hinaus: Hier wird die Existenz zweier Schemata behauptet, von denen eines leichter greifbar, das andere aber für Montesquieus Argumentation wichtiger ist; von Merry dagegen wird jenes wichtigere als das einzige hingestellt und als der eigentliche Inhalt in das dem Wortlaut nach so andere Schema hineininterpretiert, was eine Überbeanspruchung der Interpretationsmöglichkeit darstellt. Maiers Behauptung, Montesquieu habe im Gegensatz zur Antike ein neues Staatsformschema gebracht (S. 275, 278), ist zwar richtig, aber verkennt, daß durch ein geringfügiges Wegschaben der Oberfläche auch das alte Schema voll zum Vorschein kommt.

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aller Aristokratien die, "worin der gehorchende Teil des Volkes als Sklaven von der herrschenden Schicht abhängt"31, denn hier gibt es zwei Teile, die "in der größten Uneinigkeit von der Welt einander gegenüber stehen"32, und das nennt Montesquieu Despotismus. Die Monarchie unterscheidet sich als gemäßigte Staatsform vom entarteten Despotismus dadurch, daß sie die Körperschaften und Städte ihrer Vorrechte nicht beschneidet33 ; und die Demokratie ist dann gemäßigt, wenn das Volk nicht meint, alles selbst machen zu müssen, sondern dem Senat, den Beamten und den Richtern ihre Funktionen beläßt34 • Montesquieu füllt also den Begriff der gemäßigten Verfassung derart, daß inhaltlich das gemeint ist, was in dieser Arbeit als gemischte Verfassung bezeichnet wurde s5• Der Akzent bleibt freilich mehr auf der Mitbeteiligung jeweils anderer sozialer Gruppen als auf Mischung im Sinn völliger Gleichberechtigung, aber letzteres wird keineswegs ausgeschlossen: Montesquieu sagt im Zusammenhang von Mäßigung und Entartung: "Je mehr sich eine Aristokratie der Demokratie nähert, um so vollkommener ist sie"." Wohlgemerkt bezieht sich diese Aussage nicht auf die schlechthin beste Verfassung, sondern auf die beste Aristokratie! Und eben diese wird dadurch vollkommener, daß sie sich einer anderen Staatsform nähert. - Dieser Gedankengang ist nur schlüssig, wenn man weiß, daß die Vollkommenheit einer Staatsform in ihrer Mäßigung besteht, und Mäßigung die Einbeziehung der jeweils ande28, vgI. 25 unten; s. a. Levin 92 - 94. 161 oben. 33 162 mitte. 3. 156 (119 mitte), 162 (123 unten); zu den konkreten Ausgestaltungen der Mäßigung der einzelnen Staatsformen s. Merry 224 f.; Zillig 78 f. 31

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35 Dazu, daß bei Montesquieu gemäßigte und gemischte Verfassung im Ergebnis dasselbe bedeutet, s. Merry 157 mit 191 n. 4, 190; - Vile hält zwar auch das System der Gewaltenteilung bei Montesquieu für eine gemischte Verfassung, sieht aber nicht, daß dies der gemäßigten Verfassung in den vorausgehenden Büchern des Esprit des Lois entspricht (83 f.). - VgI. auch den treffenden Beweis der Identität zwischen beidem bei Hobbes (Kap. 2, Anm. 65), s. ferner bei Thomas von Aquin Kap. 2, Abschn. C. - Kuhfuß legt den Akzent darauf, daß Montesquieu die Notwendigkeit des Zusammenhangs zwischen gemischter Verfassung und Gewaltenteilung jedenfalls nicht mehr expressis verbis formuliert; aber Kuhfuß weist darauf hin, daß der Grund dafür, daß Montesquieu den gewaltenteiligen Staat als Monarchie hinstellt, obwohl er die Mischverfassung meint, in den Zensurbestimmungen seiner Zeit liegen könnte, S. 204 - 206. Zur These von Struck (S. 68 f.), daß Montesquieu die Möglichkeit eines gemischten Staates verneine, ist folgendes zu bemerken: Ganz abgesehen davon, daß Struck aus der kompositorisch geSchickten Einleitung zu Kap. VIII, 21 S. 176 viel zu weitreichende logische Schlußfolgerungen zieht, ist festzustellen, daß eine gemischte Verfassung selbstverständlich nicht die Mischung der drei Staatsformen Republik, Monarchie und Despotismus verlangt, denn die Unvereinbarkeit von Monarchie und Despotismus beweist diesbezüglich gar nichts. - vgI. hierzu Vile 83 mitte und Anm. 1. 3. 28 mitte.

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ren Be'Völkerungsschicht bedeutet; Verbesserung der Aristokratie heißt also: möglichst nahe zur Demokratie! - Das geht bei weitem über bloße Mitbeteiligung hinaus; das ist auch keine nur formale Mischung von Staatsformen, sondern es ist eine Mischung, die den Ausgleich zweier sozialer Gruppen im Auge hat, und die an den aristotelischen Gedankengang der Reihenfolge von Mischungen erinnert: von einer gewissen Mäßigung bis hin zu größerer Gleichheit. Die Monarchie, von der unsere Fragestellung ausgegangen war, ist als Gegenpol zum Despotismus für Montesquieu der Prototyp einer gemäßigten Verfassung, stellt doch die Macht verschiedener Körperschaften nicht etwa irgendein fernerliegendes Attribut der Monarchie dar, sondern "das Vorhandensein untergeordneter und abhängiger Zwischengewalten (pouvoirs intermediaires) macht die Natur der monarchischen Regierungsform aus"31, und die Abschaffung solcher Körperschaften hebt die Monarchie auf38• "Warum die Alten keine hinreichend klare Vorstellung von der Monarchie hatten", überschreibt Montesquieu eines der Kapitel, die dem über die Gewaltenteilung unmittelbar folgen, und er führt dort aus, daß die Monarchien der Antike kein Adels-Korps und keine Volksvertretung kannten; das war erst eine Erfindung der Germanen, gemeint ist das von Montesquieu gepriesene System der Gewaltenteilung, das also aus vorgenannten Gründen als Monarchie bezeichnet wird. - Gewaltenteilung, so könnte man sagen, ist für Montesquieu die vollkommenste Form von gemäßigter Verfassung; wenn Mäßigung, dann aber der Sache nach auch VerfassungsmischungS'.

31 ibid. 38 29 oben; zur Monarchie als Inbegriff eines gewaltenteiligen und gemäßigten Staates s. Merry 229, 323 f.; Vile 81 f.; Kuhfuß 148 - 152; zu den Zwischengewalten s. bei Frommer 102 f., 104 - 109. Frommer weist darauf hin, daß es in den verschiedenen Passagen des Werks von Montesquieu hinsichtlich der Zwischengewalten einen Unterschied macht, ob sich Montesquieu am Vorbild der englischen oder der französischen Monarchie orientiert (S. 113 - 116); da Montesquieu sich aber - wie Frommer zeigt - auch die französische Monarchie in einem idealen Gleichgewicht vorstellt, ergibt sich für unseren Zusammenhang, daß die Monarchie für Montesquieu in jedem Fall eine ausbalancierte und gemäßigte Verfassung bedeutet. Vgl. auch Kuhfuß 148, 228. 3D Daß der Geist der Mäßigung (l'esprit de moderation) das wichtigste Anliegen von Montesquieus gesamter Schrift ist, s. Bd. 2 S. 350 (Bd. 2 S. 279). Inwiefern auch Montesquieus Ausführungen über die Prinzipien, über die Erziehung, das Gerichtswesen und über ökonomische und geographische Faktoren beweisen, daß sein Ziel die gemischte Verfassung ist, s. Merry 227229, 368 ff. Zur prinzipiellen Bedeutung der Mäßigung für Politik, Sozialordnung, Lebensform der Bürger und Bestimmung der Werte: Kuhfuß 217229.

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3. Zusammenfassung (fOr die ~bsdmitte I und D)

Fassen wir zUsammen: die Verfassungsmischung im überlieferten Verständnis als Verteilung der Regierung auf die verschiedenen v.orhandenen Stände .oder V.olksschichten, spielt bei M.ontesquieu in genau diesem herkömmlichen Sinn eine zentrale R.olle, allerdings handelt er dies Pr.oblem meist unter dem Namen der gemäßigten Verfass1,J.ng ab; der Begriff "gemischt" k.ommt im Vergleich dazu selten v.or. Die Gewaltenteilung wird v.on M.ontesquieu weitgehend in diesem Sinn verstanden, als Zuweisung v.on Befugnissen an verschiedene Instituti.onen, die die Stände repräsentieren. Daneben gibt es, wenn auch nicht ganz s.o klar v.on M.ontesquieu herausgearbeitet, eine Gewaltenteilung in dem m.odernen funkti.onalen Sinn, die die drei Gewalten als Organe eines Staatsv.olks gleicher Staatsbürger begreift. Wie weit bei einer s.olchen Gewaltenteilung n.och ein echter Zusammenhang zum alten Pr.oblem der Verfassungsmischung als einer Mischung v.on s.ozialen Gruppen besteht, blieb bisher völlig .offen. Da sich allerdings jene neue Sehweise aufgrund der neuen Situati.on der Gleichheit der Staatsbürger bei M.ontesquieu erst andeutet und n.och nicht klar durchgearbeitet ist, läßt sich diese Frage anhand der Ausführungen nur dieses Aut.ors n.och nicht beantw.orten; aber eine Klärung dessen, welche Ziele M.ontesquieu mit der Gewaltenteilung und der Mäßigung der Herrschaft verf.olgt, kann uns dabei ein gutes Stück weiterhelfen.

m. Der Zweck der gemäßigten und gemischten Verfassung Mehrere Ziele für die Mäßigung der Herrschaft und die Gewaltenteilung lassen sich aufzählen: Harm.onie und Gleichgewicht b:lw. Balance nennt M.ontesquieu als Ziele für die Aufteilung der Befugnisse und mißt hieran, .ob die Mäßigung der Herrschaft gelungen ist .oder nkht40 • Als Zweck der Gewaltenteilung wird v.on M.ontesquieu die Freiheit .oder "politische Freiheit" immer wieder ausdrücklich erwähnt, ferner spricht er v.on p.olitischer Selbstbestimmung, und auch die Sicherheit wird als Ziel angegeben. - Gibt es einen Gesichtspunkt, nach dem sich diese Ziele .ordnen? 1. Freiheit

Die Freiheit als Resultat der Gewaltenteilung entsteht dadurch, daß die Macht begrenzt und gebremst wird. Begrenzt ins.ofern, als einer Instituti.on nur ganz bestimmte Machtkompetenzen zugeteilt werden; 40 234 unten (179 .oben), 249 unten (190 mitte), 250 unten (191 mitte), 254 .oben (193 unten).

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und gebremst insofern, als anderen Institutionen soviel Macht zugewiesen wird, daß sie sich gegen Übergriffe jener ersten Institution wehren können und umgekehrt. "Um den Mißbrauch der Macht zu verhindern, muß vermöge einer Ordnung der Dinge die Macht der Macht Schranken setzen41 ." Verhinderung von Mißbrauch der Macht bedeutet: keine staatliche Macht soll in die Freiheit der Bürger eingreifen und tyrannisch werden. "Wenn in derselben Person oder der gleichen obrigkeitlichen Körperschaft die gesetzgebende Gewalt mit der vollziehenden vereinigt ist, gibt es keine Freiheit; denn es steht zu befürchten, daß derselbe Monarch oder derselbe Senat tyrannische Gesetze macht, um sie tyrannisch zu vollziehen'2." Auch wenn Montesquieu meist von "politischer Freiheit" spricht, meint er doch im wesentlichen eine abwehrende, eine die Staatsmacht zurückhaltende Freiheit. Die Freiheit in diesem abwehrenden Sinn durchzieht das ganze Kapitel über die Gewaltenteilung; Montesquieu setzt die zuletzt genannten Überlegungen fort: "Es gibt ferner keine Freiheit, wenn die richterliche Gewalt nicht von der gesetzgebenden und vollziehenden getrennt ist. Ist sie mit der gesetzgebenden Gewalt verbunden, so wäre die Macht über Leben und Freiheit der Bürger willkürlich, weil der Richter Gesetzgeber wäre"; und im gleichen Sinn heißt es immer wieder: lIes gäbe keine Freiheit mehr ... "43. Zwar fehlt die Freiheit im positiven Sinn, d. h. als Freiheit der Bürger, sich selbst am Regieren zu beteiligen, bei Montesquieu nicht. Er spricht von ihr auch im Zusammenhang mit der Gewaltenteilung, und zwar bei jener schon in anderem Zusammenhang zitierten Aussage, daß in einem freien Staat jeder Mensch, dem man einen freien Willen zugestehe, durch sich selbst regiert werden solle: daher müsse das Volk als Gesamtkörper die legislative Befugnis innehaben44• Auch die Erwähnung der "Freiheit des Volkes" bei der im Mittelalter aufkommenden Gewaltenteilung kann man in diesem Sinn interpretieren45 • Insgesamt jedoch ist die Freiheit als Selbstbestimmung wesentlich weniger ausgeprägt als jene abwehrende Freiheit, die mit dem Ziel der Sicherheit zusammenfällt, denn diese meint nichts anderes als gesicherte Freiheit, sowohl gegenüber der Staatsmacht, als auch gegenüber den anderen Mitbürgern46 • 213 mitte. 215 mitte. - Zur gegenseitigen Hemmung der Gewalten als Bedingung für die Freiheit s. Struck 146 f. 43 221 unten, 222 oben, 226 oben, 227 oben. 44 s. Anm. 14. 45 231. 48 215 oben; eine andere Akzentuierung allerdings auf S. 441. 41

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2. Gleichgewicht und Harmonie (der poietisch-konstruktivistiscbe Aspekt bei Montesquieu)

Das Regierungssystem bewerkstelligt also, daß kein Bürger einen anderen zu fürchten braucht47 , und daß die mit Macht ausgestatteten Institutionen einander im Gleichgewicht halten. - Ist das das gleiche Ziel, das auch Hobbes verfolgte und das jetzt lediglich mit anderen Mitteln erreicht wird? Bei noch so verschiedenen Mitteln wäre beiden Konzeptionen die konstruktivistische Machttechnik gemeinsam. Was bei Hobbes durch die einheitliche Staatsgewalt, die mit aller Machtfülle ausgestattet ist, erreicht wurde, soll hier durch ein kompliziertes Machtgleichgewicht zustande gebracht werden. Ist also Harmonie und Balance für Montesquieu ein derart konstruktivistisches Ziel? In der Tat ist in seiner Anschauung ein gewisser Bestandteil von solchem mechanistischem Denken mit enthalten. Bei der vorhin zitierten Stelle, daß die Macht die Macht bremse, hieß es, daß dies durch die Ordnung der Dinge bewirkt werde48 ; von dazu nötigen Eigenschaften der Menschen war nicht die Rede. - In Montesquieus Zusammenfassung über die Gewaltenteilung, in der er aufs knappste die gegenseitige Machtbegrenzung und Verschränkung der drei Gewalten skizziert, sagt er: "Aus diesen drei Gewalten müßte ein Zustand der Ruhe oder Untätigkeit hervorgehen. Aber da sie durch die notwendige Bewegung der Dinge gezwungen sind, fortzuschreiten, werden sie genötigt sein, dies gemeinsam zu tun49 ." Wer zwingt eigentlich? Da ein menschlicher Wille ausdrücklich ausgeschlossen wird, kann eigentlich nur an eine absolute Gesetzmäßigkeit gedacht werden, die vom Staatskonstrukteur geschickt ausgenutzt wurde. Daß Montesquieu solchen konstruktivistischen Vorstellungen wenigstens in einigen Gedankengängen anhängt, sagt er am deutlichsten in einer Stelle, die an Mandeville oder A. Smith erinnert. Sie steht nicht in direktem Zusammenhang mit der gemäßigten Herrschaft oder der Gewaltenteilung, sondern handelt von der "Ehre" als dem "Prinzip der Monarchie", d. h. der Kraft, die die verschiedenen Menschen und Körperschaften in dieser Staatsform bewegt. Da jedoch die Gewaltenteilung, wie gezeigt, von Montesquieu als das Zusammenspiel einigermaßen selbständiger Körperschaften in der Monarchie verstanden wird, ist es durchaus angebracht, sie hier zu zitieren: "Man könnte hier einen Vergleich ziehen zu der Ordnung des Weltalls, wo es eine Kraft gibt, die alle Körper ständig vom Mittelpunkt fliehen läßt, und die Schwerkraft, die sie dahin zurückzieht. Die Ehre setzt alle Glieder des Staats215 mitte. s. Anm. 41. " 226 mitte. 47 48

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körpers in Bewegung, sie verbindet sie durch ihr Wirken, und schließlich ergibt sich, daß jeder zum Gemeinwohl beiträgt, auch wenn er glaubt, nur seine Sonderinteressen zu verfolgen. Philosophisch gesehen ist freilich diese Ehre, die alle Glieder des Staates lenkt, eine falsche Ehre; aber diese falsche Ehre erweist sich für die Allgemeinheit als ebenso nützlich, wie es die wahre Ehre für den einzelnen sein würde, wenn er sie erlangen könnte 50." Das ist zweifellos poietisch-konstruktivistische Argumentation, womit freilich nicht behauptet ist, dies sei der Grundzug in Montesquieus Denken. Jedenfalls vermitteln einige Stellen den Eindruck, daß die Gleichgewichtsvorstellung als solche Montesquieu fasziniert. - Aber ein Gleichgewicht für garantierte Sicherheit bzw. für private Freiheit ist etwas ganz anderes als die Verfassungsmischung zum Zweck der Eintracht. Der nächstliegende Zweck eines Gleichgewichts der politischen Kräfte ist in jedem Fall die Erhaltung der gegenwärtigen Staatsform. Das kann erreicht werden durch ein Gleichgewicht des Gegeneinander oder sogar durch ein Gleichgewicht des Hasses. Für das bloße Funktionieren des Gleichgewichts ist es unerheblich, auf welchen menschlichen Leidenschaften es basiert; nicht dagegen für unsere Frage nach dem Zweck. Sie will herausfinden, welche Leidenschaften und Mentalitäten angestrebt werden; und an der Frage, welche Leidenschaften, Verhaltensweisen und Tugenden nach Montesquieus Auffassung durch die Gewaltenteilung und die gemäßigte Verfassung hervorgebracht oder zumindest begünstigt werden, soll sich zeigen, wie stark die Intention einer gemischten Verfassung zum Ausgleich und zur Eintracht bei ihm ausgeprägt ist, oder ob das Funktionieren eines Gleichgewichts im Vordergrund steht. 3. Tugenden und "Prinzipien" Die verschiedenen Regierungsarten unterscheiden sich nach Montesquieu nicht nur durch ihre "Natur" - das ist die äußere Form der Regierung, sozusagen die in Kompetenzen angebbare Machtverteilung -, sondern auch durch ihr "Prinzip" - das ist die vorherrschende Leidenschaft, Triebkraft und Tugend ihrer Bürgers1 • Wenn wir einmal für unseren Zusammenhang das Staatsformschema von Monarchie, Republik und Despotismus mit den drei von Montesquieu angegebenen zugehörigen "Prinzipien" beiseite lassen, und nach dem anderen Schema von entarteten und gemäßigten Staatsformen vorgehen, das ja, wie so 41 unten. 51 Über diesen Gegensatz die Bücher II - VIII; knappe Zusammenfassung

auf S. 33.

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oben dargelegt, dem Werk Montesquieus letztlich zugrunde liegt und auch für ihn das wichtigere ist, dann ergibt sich, daß die Entartung keineswegs nur die "Natur" einer Regierung betrifft, sich also in übermäßigen Kompetenzen der jeweiligen Machthaber zeigt, sondern auch und gerade in den "Prinzipien" ihren Ausdruck findet: Die entartete oder krasse Aristokratie ist gekennzeichnet durch Zwietracht, Haß und Neid62• Das Gegenteil von Entartung, die Mäßigung und die Verfassungsmischung und deren Mittel wie Gewaltenteihing und Gleichgewicht zielen auf die überwindung derartiger Leidenschaften. Es heißt über die gemischte Verfassung des frühen Roms: "Die Verfassung war monarchisch, aristokratisch und demokratisch. Die Ausgeglichenheit der Macht war derartig, daß es in den ersten Regierungen weder Eifersucht noch Streit gab 53 ." Das ist keine Harmonie im Sinne eines Gleichgewichts als Selbstzweck. Nicht die Gewaltenteilung als solche ist wichtig, sondern daß es auf die Tugenden ankommt, macht das folgende Beispiel aus der Geschichte der römischen Republik deutlich: "Wenn eine Republik entartet ist, kann man die entstandenen übel nur durch Beseitigung der Verdorbenheit und Wiederbelebung der Prinzipien heilen; jeder andere Besserungsversuch ist entweder nutzlos oder gar ein neues übel. So lange Rom seine Prinzipien bewahrte, konnte das Richteramt ohne Gefahr eines Mißbrauchs in den Händen der Senatoren sein. Aber als Rom entartete, da konnte man das Richteramt jedem anderen beliebigen Stand anvertrauen, den Senatoren, den Rittern oder den Schatzmeistern, zwei Behörden zugleich oder allen dreien gemeinsam oder irgendeiner beliebigen anderen Behörde: immer mußte man schlecht damit fahren. Die Ritter besaßen nicht mehr Tugend als die Senatoren, die Schatzmeister nicht mehr als die Ritter und diese ebensowenig wie die Zenturionen54." Deutlicher kann es kaum gesagt werden: Gewaltenteilung allein hilft nichts. 4. Zur Verfassungsmitte bei Montesquieu

Wenn aber der Zweck der gemischten bzw. gemäßigten Verfassung bei Montesquieu auch auf Ausgleich zwischen den um die Macht streitenden Gruppen zielt, dann müßte auch Platz sein für jenen Kernbestand von Verfassungsmischung, den wir (nach Aristoteles) mit dem Ausdruck der Verfassungsmitte bezeichnet hatten. - Schon oben sahen wir, daß Mäßigung einer Regierung bei Montesquieu nicht bei einer SI s. o. Anm. 32; zu den Ursachen für Neid, Haß und Eifersucht zwischen den Klassen vgl. 25, 69, 234. - Siehe auch bei Morkel S. 19 über die Freundschaft als Gefahr für die Despotie. 53 234 f. 54 168 f.; Kägi, Entstehung S. 51 f. darüber, daß Montesquieu nicht Institutionen-gläubig ist, und die Gewaltenteilung allein die Freiheit nicht bewirkt.

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Einräumung politischer Rechte an die Nichtregierenden stehen bleibt, sondern der Tendenz nach auf eine Verringerung oder Aufhebung der Unterschiede zwischen diesen Gruppen zielt. Das zeigte die These, daß sich die gemäßigte Aristokratie der Demokratie nähern muß; für den intendierten Zweck ist folgende Aussage aufschlußreich: "Da es aber dort, wo die Vermögen der Menschen so ungleich sind, selten viel Tugend gibt, müssen die Gesetze möglichst bestrebt sein, einen Geist der Mäßigung hervorzurufen, und danach trachten, die Gleichheit wiederherzustellen, die durch die Staatsverfassung zwangsläufig beseitigt wurde'5." Der Ausgleich der Gegensätze dient also dem Zweck der Tugend. Er richtet sich gegen Eifersucht und Haß, wie die folgende Stelle zeigt: "Es gibt zwei Hauptquellen für die Störung der Ordnung in aristokratischen Staaten: zu große Ungleichheit zwischen den Regierenden und Regierten und zu große Ungleichheit unter den einzelnen Mitgliedern des Regierungskörpers. Aus dieser doppelten Ungleichheit entstehen Haß und Eifersucht, denen die Gesetze vorbeugen oder Einhalt gebieten müssen56• " Die Ungleichheit selbst ist es, die Montesquieu abgebaut sehen will, und ihre Aufhebung wird ganz konkret als gleicher und d. h. mittlerer Besitz verstanden: "Die Gesetze müssen das Erstgeburtsrecht beim Adel aufheben, damit die Vermögen durch die ständigen Erbschaftsteilungen immer auf das gleiche Maß gebracht werden57 ." Über den Unterschied von Armen und Reichen heißt es: "Es ist die Aufgabe besonderer Gesetze, die Ungleichheiten durch Lasten, die sie den Reichen auferlegen, oder Erleichterungen, die sie den Armen gewähren, sozusagen auszugleichen58 ." Und ferner: "Der zufriedene Sinn und das Glück der einzelnen beruht großenteils auf der Mittelmäßigkeit ihrer Begabungen und ihres Vermögens. Besteht eine Republik, in der die Gesetze viele Durchschnittsmenschen (gens mediocres) erzogen haben, aus klugen Leuten, so wird sie sich weise regieren59 ." - Wohlgemerkt beziehen sich diese zwei letzten Stellen nur auf die Demokratie, 65 75; vgl. auch 38 oben: Eine große Tugend soll bewirken, daß der Adel gewissennaßen mit dem Volk gleichgestellt ist. 58 57

76. 79 unten; über die Ähnlichkeiten bei Aristoteies zu Montesquieus Auf-

fassung der Korruption der Aristokratie wegen zu großer Ungleichheit s. Levin 287f. 58 69 oben. 59 64 unten. Zu den antiken Parallelen dieser These: Levin 76; zur wirtschaftlichen Gleichheit in der Demokratie: Struck 63. Vgl. a. Zilligs Ausführungen über Mittelstand und Gleichheit; die Auslegung der entsprechenden Passagen bei Montesquieu als Forderung nach absoluter Gleichheit für die Demokratie ist allerdings stark überzogen, 80 f. Zu Montesquieus Eintreten gegen zu große Ungleichheiten und dazu, daß der gemäßigte Staat vom Mittelstand getragen werden soll, s. a. Kuhfuß 223..

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aber nachdem gezeigt wurde, daß die Mäßigung der Aristokratie in Erreichung von Gleichheit und gleicl1em Besitz, ja letztlich in Angleichung an die Demokratie besteht, dürfen diese Stellen auch in diesem Zusammenhang gesehen werden. Mäßigung ist eben Mischung von Staatsformen, und Mischung ist letztlich die Mitte zwischen den Extremen, was nicht ohne mittleren Besitz und großen Mittelstand zu denken ist. 5. Zusammenfassung

Fassen wir nun unsere Antwort auf die oben gestellte Frage nach der Ordnung der bei Montesquieu angegebenen Zwecke für die Verfassungsmischung bzw. Verfassungsmäßigung zusammen: Gleichgewicht und Harmonie sind Zwecke, die nur im institutionellen Bereich bleiben. - Die Freiheit ist, wenn sie als garantierter Freiraum für die Bürger verstanden wird, ebenfalls ein institutionelles Anliegen, und wenn dies dadurcl1 erreicht werden soll, daß die sozialen Gruppen einander in Schach halten, dann hat das nichts mit der gemischten Verfassung zum Zweck der Eintracht zu tun. Der Sache nach ist die Freiheit zweifellos die Voraussetzung für alle Tugenden, d. h. für das, was die Menschen mit dieser Freiheit machen, - aber eben nur Voraussetzung für die Verhaltensweisen als eigentliche Zwecke. Daß die Tugenden der Bürger für Montesquieu wichtiger sind als jene anderen Ziele, wurde gezeigt; ebenfalls, welche Bedeutung dabei die Eintracht hat. Diesen Begriff arbeitet Montesquieu zwar nicht deutlich heraus, aber die Überwindung von Haß und Neid und die Liebe zur Gleichheit bedeuten praktisch dasselbe. Die gemischte Verfassung kann von ambivalentem Charakter sein. Gleiche Verteilung der Macht kann bedeuten, daß von verschiedenen Gruppen jede ihren Anteil besitzt, um dadurch die jeweils anderen überwachen zu können, wobei das Ganze e~n in Kontrolle gehaltenes Gegeneinander darstellt. - Gleiche Beteiligung kann aber auch auf Ausgleich und Eintracht tendieren. Bei Montesquieu gibt es beides, aber die Verfassungsmischung zum Zweck der Eintracht stuft er als das wichtigere Ziel ein.

4. Kapitel ROUSSEAU

Individualistisches Staatsdenken und die Ablehnung der gemischten Verfassung I. Die Ablehnung der gemischten Verfassung 1. Die Aussdllie8licbkeit des unmittelbaren Verhältnisses zwisdlen Individuum und staat; Verbot aller Zwisdlengruppen

Rousseau unterscheidet in einem Staat die Beziehung der Glieder untereinander und die Beziehung der Glieder zum ganzen Körper; nach seiner Auffassung soll die erste Beziehung möglichst schwach, die zweite dagegen möglichst bindend sein, "so daß jeder Staatsbürger von allen anderen vollkommen unabhängig ist und sich dem Gemeinwesen gegenüber in äußerster Abhängigkeit befindet"!. Diesen zitierten Halbsatz könnte man geradezu als Kurzformel von Rousseaus Staatsdenken einschließlich der zu Grunde liegenden Anthropologie betrachten, wobei die Prinzipien, die Rousseaus Einstellung zur gemischten Verfassung bestimmen, in dieser Kurzformel ebenfalls enthalten sind. Rousseaus Menschenbild ist individualistisch, auffallend ist die grundsätzliche Skepsis gegenüber jeder Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen. Die Gesellschaft ist etwas künstliches, sie ist von den an sich freien und unabhängigen Menschen durch einstimmigen Vertrag geschaffen zu dem Zweck, daß die Freiheit um so besser garantiert werde2 • Die zitierte "äußerste Abhängigkeit" gegenüber dem Gemeinwesen bedeutet für Rousseau insofern keinen Verlust der Freiheit, weil diese Abhängigkeit für alle gleich ist, denn "während sich ... jeder allen übergibt, übergibt er sich damit niemandem, und da man über 1 CoSo 91 oben (91 oben). Daß Rousseau noch weitere Relationen im Gemeinwesen unterscheidet, und die genannten als zwei Aspekte einer Relation zusammenfaßt, kann hier unberücksichtigt bleiben. ! Zur Skepsis gegenüber jeder Abhängigkeit des Menschen von anderen Menschen siehe: OdI 213 mitte, 221 mitte; Zur anthropologischen Grundlegung des Individualismus siehe: OdI 197 unten (in Verbindung mit 81 oben), 265 unten; CoSo 37 mitte; Zur individualistischen Grundlage des Staates bzw. zu dessen einstimmiger Vertragsgrundlage siehe: CoSo 42 oben, 59, 91 oben.

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jeden Gesellschaftsgenossen das nämliche Recht erwirbt, das man ihm über sich gewährt, so gewinnt man für alles, was man verliert, Ersatz und mehr Kraft, das zu bewahren, was man hat"3. Die größtmögliche Freiheit kann also nur bei völliger Gleichheit erreicht werden, und demzufolge dürfen sich die Individuen im Gemeinwesen nicht zu Sondergesellschaften, d. h. zu Gruppen irgendwelcher Art zusammenschließen, da solche Sondergesellschaften neue Ungleichheiten bedeuten würden. Es soll ausschließlich die unmittelbare Beziehung vom Individuum zur Gesamtheit bestehen4, und von allen anderen Mitmenschen soll das Individuum "vollkommen unabhängig" sein; die Unmittelbarkeit des Verhältnisses Staat - Bürger läßt keinen Platz für Zwischengebilde wie Vereinigungen, Genossenschaften oder Stände. - Dies wird von Rousseau ausdrücklich formuliert in einem Abschnitt, der etwas ausführlich wiedergegeben werden soll, weil in ihm deutlich wird, wie Rousseau einerseits dem Anliegen der gemischten Verfassung sehr nahe steht, glekhzeitig aber wegen seines Individualismus die gemischte Verfassung scharf ablehnen muß. "Hätten bei der Beschlußfassung eines hinlänglich unterrichteten Volkes die Staatsbürger keine feste Verbindung untereinander, so würde aus der großen Anzahl kleiner Differenzen stets der allgemeine Wille hervorgehen, und der Beschluß wäre immer gut. Wenn sich indessen Parteien, wenn sich kleine Genossenschaften zum Nachteil der großen bilden, so wird der Wille jeder dieser Gesellschaften in Beziehung auf ihre Mitglieder ein allgemeiner und dem Staate gegenüber ein einzelner; man kann dann sagen, daß nicht mehr so viel Stimmberechtigte wie Menschen vorhanden sind, sondern nur so viele, wie es Vereinigungen gibt. Die Differenzen werden weniger zahlreich und führen zu einem weniger allgemeinen Ergebnis5." Die dem Gemeinwohl durch Partikularinteressen drohende Gefahr ist ein allen Zeiten präsent gewesenes Problem, neu ist hier allerdings zum einen, daß das Gemeinwohl ersetzt bzw. einseitig zugespitzt wird auf die Entstehung eines einheitlichen Willens, ferner entspricht diesem formalisierten, d. h. dem als Willensbildungsprozeß greifbaren Gemeinwohl, daß die Ursache für seine mögliche Bedrohung nicht in charakterlichen Eigenschaften der Gruppen - ob sie egoistisch sind oder sich am. Gemeinwohl orientieren -, sondern in etwas objektiv faßbarem gesehen wird: ob der Wille von Gruppen oder von unverbundenen Individuen ausgeht, wobei letzteres für die· Entstehung eines allgemeinen Willens wesentlich besser ist. Rousseau fährt fort: CoSo 44 oben (51 unten), s. a. 64 oben. , s. hierzu bei Friedrich Müller insbes. S. 44, 55, 219. 5 CoSo 59 (66 f.). 3

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"Wenn endlich eine dieser Vereinigungen so groß ist, daß sie über alle anderen das Übergewicht davonträgt, so ist das Ergebnis nicht mehr eine Summe kleiner Differenzen, sondern eine einzige Differenz; dann gibt es keinen allgemeinen Willen mehr, und die Ansicht, die den Sieg davonträgt, ist trotzdem nur eine Privatansicht8 ." Auch dies Problem ist uns vertraut, sieht man einmal von der etwas mathematisch klingenden Darstellungsweise ab, so könnte dieser Satz auch bei manchem früheren Vertreter der Theorie der gemischten Verfassung zu lesen sein, denn hier wird exakt das ihr zu Grunde liegende Problem formuliert: das mögliche Übergewicht einer Gruppe im Staat, die fähig ist, ihr Gruppeninteresse zum Staatsinteresse zu machen, wogegen alle übrigen Bevölkerungsteile machtlos sind; aber Rousseaus Lösung unterscheidet sich ~rheblich von den meisten bisherigen Antworten, der im Text folgende Satz lautet: "Um eine klare Darlegung des allgemeinen Willens zu erhalten, ist es deshalb von Wichtigkeit, daß es im Staate möglichst. keine besonderen Gesellschaften geben und jeder Staatsbürger nur für seine eigene Überzeugung eintreten soIF." Radikal ist diese Lösung im wahrsten Sinn des Wortes, das Problem wird bei der Wurzel gepackt, indem die Gruppen, d. h. diejenigen, von denen die Gefahr ausgeht, überhaupt nicht mehr existieren sollen. Die gemischte Verfassung war eine Antwort auf dasselbe Problem, aber sie rüttelte nicht an den Vereinigungen, Parteien oder sonstigen Gruppenbildungen als solchen, sondern suchte diese miteinander in Einklang zu bringen; dabei konnte, wie wir gesehen haben, der Abbau der Gruppenunterschiede durchaus ein Bestandteil des Ziels der gemischten Verfassung sein, jedoch ging diese Theorie von der Realität verschiedener Bevölkerungsgruppen aus. Wenn dagegen Gruppen überhaupt nicht existieren, ist der gemischten Verfassung die Grundlage entzogen. Es läßt sich eine Reihe weiterer Belege für Rousseaus ablehnende Haltung gegenüber den Parteien, Vereinigungen usw. anführen8, die natürlich nicht isoliert betrachtet werden dürfen, um dann als Gruppen- oder gar Gemeinschaftsfeindlichkeit mißverstanden zu werden, sondern sie sind im Zusammenhang von Rousseaus Engagement gegen CoSo 59 (66 f.). CoSo 59 (67). 8 CoSo 147 mitte; 150 - 154; CdI (hier beziehen sich Rousseaus Ausführungen meist allgemein auf die Nachteile von gesellschaftlichen Ungleichheiten) 77, 213, 217 f., 223 f., 227 f., 251, 257, 261, 269. Zu Rousseaus Ablehnung aller Teilverbände: Friedrich Müller 42 - 85; s. ferner Kägi, Entstehung 70; Fetscher, Rousseau 159 f.; Cobban betont auf S. 46 - 48, daß Rousseau in den Werken, die sich mehr mit konkreten politischen Problemen beschäftigen, seine Meinung modifiziere. - In der Tat lassen sich Rousseaus Zugeständnisse an die Praxis auch im Contrat Social aufzeigen, aber dies ändert nichts an Rousseaus Theorie; s. dazu Abschnitt II dieses Kapitels. 8

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die Ungleichheit zu sehenD. - Auch auf einige weitere Parallelen zum Anliegen der gemischten Verfassung soll nur in den Anmerkungen verwiesen werden1o, denn wie schon oben beziehen sich ähnlich klingende Problemstellungen oder zuweilen auch Antworten nie auf die Gruppen im Staat sondern nur auf die Individuen. Die radikale Haltung gegenüber den Teilverbänden im Staat bedeutet im Effekt, daß eine Vielzahl von Problemen eines Gemeinwesens wegdiskutiert bzw. weginterpretiert werden, und zwar a11 die Fragen, die mit Abstimmungen, dem Verhältnis von Mehrheit zu Minderheit und natürlich dem Verhältnis der Gruppen zueinander zusammenhängen. Dies wird besonders deutlich an einer Stelle, wo Rousseau über das Verhältnis vom Teil zum Ganzen schreibt: "das Ganze, dem ein Teil entzogen ist, ist nicht mehr das Ganze; und solange dies Verhältnis fortbesteht, gibt es kein Ganzes mehr, sondern es sind zwei ungleiche Teile vorhanden; daraus folgt, daß der Wille des einen in bezug auf den andern ... kein allgemeiner ist"l1. Daraus wiederum folgert Rousseau, daß eine Entscheidung dieses "Ganzen, dem ein Teil entzogen ist", niemals ein Gesetz sein kann. Der Gedankengang ist in sich konsequent, kann aber in der Praxis kaum etwas anderes bedeuten, als daß eine Menge von Gesetzen, nämlich alle die, denen nur ein Teil der Gesellschaft - und sei es die Mehrheit - zugestimmt hat, als Nicht-Gesetze interpretiert werden. Eine solche Auffassung verbaut den Weg zur gemischten Verfassung aus zweierlei Gründen. In sachlicher Hinsicht, weil das Gemeinwesen als Gefüge verschiedener Gruppen überhaupt nicht in den Blick kommen kann; hinsichtlich der Art der Argumentation, weil mit rein begrifflichen Konstruktionen operiert wird, und das betreffende politische Problem nicht als eine praktische Fragestellung begriffen wird, was für ein Thema wie das der gemischten Vere Rousseaus Ablehnung der Teilverbände wegen der Gefahr der übermacht einer Interessengruppe: ·Fetscher, Rousseau 159; Cobban 48; Friedrich Müller 62 - 65. 10 Wenn alle Bürger an den Verfassungsrechten in gleicher Weise teilhaben sollen, bzw. umgekehrt: wenn keiner stärker belastet werden soll als andere, dann macht es einen großen Unterschied, ob dies als Argument für eine Ausgewogenheit der verschiedenen Bevölkerungsgruppen gemeint ist im Sinn des Anliegens der gemischten Verfassung -, oder aber als Argument gegen die Existenz von Bevölkerungsgruppen (bzw. ob deren NichtExistenz vorausgesetzt wird, und entsprechende Bemerkungen sich auf größere Gleichheiten bzw. Ungleichheiten in einer an sich atomisierten Gesellschaft beziehen). Dies ist zu beachten bei folgenden Stellen: OdI 257 oben, CoSo 64 mitte, 86 mitte, 127 mitte. Aber auch dann, wenn sich entsprechende Argumente ausdrücklich auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen beziehen, macht es einen Unterschied, ob damit verschiedene Stände oder Klassen gemeint sind, oder ob der Gegensatz zwischen Obrigkeit und Volk angesprochen wird. Das ist zu berücksichtigen bei: OdI 245 - 24.7. Siehe ausführlich zu letzterer Differenzierung im Kapitel 12 Abschn. I 2. 11 CoSo 69 mitte (74 mitte); vgl. auch 56 oben.

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fassung notwendige Voraussetzung ist. Am genannten Beispiel stellt sich dieser Unterschied folgendermaßen dar: Gesetze, die nur von einem Teil der Bevölkerung stammen, kann man kritisieren, indem man entweder sagt, daß solche Gesetze schlecht, ungerecht und möglichst zu vermeiden seien, oder aber indem man erklärt, daß es sich um gar keine Gesetze handele. Letzteres bedeutet, mit Hilfe der Logik Realitätsbereiche wegzukonstruieren, während die erstgenannte Art der Argumentation von der Realität ausgeht, sie als besser oder schlechter beurteilt, und Maßnahmen nennt, um sie - entsprechend den Umständen nur schrittweise oder aber forciert - zu verändern, anstatt ihre Nicht-Existenz zu beweisen. - In der Tat ist Rousseaus Konstruktion erforderlich für ein Gemeinwesen, in dem die Gesetze nur Verzeichnisse der Willensmeinungen der Bürger sind, wo es ungerechte Gesetze nicht geben kann, und wo Freiheit und Gesetzesgehorsam nur identisch sein können12 ; - dies alles setzt eine unbedingte Einheitlichkeit des Willens voraus, denn ein möglicher Dissens zwischen Bevölkerungsteilen ließe jene Charakteristika des Rousseauschen Staates in sich zusammenbrechen. 2. Die gemisdlten Regierungsformen

Das Theorem der gemischten Verfassung scheidet aber bei Rousseau nicht nur wegen anthropologischer und staatstheoretischer Grundannahmen aus, sondern eine Betrachtung der Regierungsformen führt zu ähnlichem Resultat. Im Zusammenhang ihrer Einteilung geht Rousseau ausdrücklich auf die gemischte Regierung ein, und daß nicht diese, sondern "die einfache Regierungsform ... schon um ihrer bloßen Einfachheit willen an und für sich die beste" ist, wurde bereits im Einleitungskapitel zitiert13 • - Wenn hier von Regierungsformen und nicht von Staats- oder Verfassungsformen die Rede ist, so deshalb, weil dies der Terminologie Rousseaus entspricht, und nicht etwa nur eine Äußerlichkeit darstellt, sondern die von ihm unterschiedenen Regierungsformen beziehen sich lediglich auf die Regierung im engeren Sinn, auf die Form der Exekutive14• Verschiedene Staats- oder Verfassungsformen kennt Rousseau nicht; um überhaupt von einem Staat reden zu können, muß der Gesellschaftsvertrag einstimmig angenommen worden sein, und es muß auch die Gesetzgebung, die mit dem Willen des Staates gleichbedeutend ist, permanent beim Staatsoberhaupt, d. h. beim Volk liegen. Eine solche Staatsform würde man heute eine Demokratie nen:nen, das ist aber nicht die Begrifflichkeit Rousseaus; für ihn gibt es CoSo 70 mitte. CoSo 117 f. (117); vgl Einleitung Anm. 1. 14 Dies im Gegensatz zum Sprachgebrauch der Monarchien seiner Zeit: Fetscher, Rousseau 147. I!

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nur diesen einen Staat bzw. die Republik, in der das Volk die Gesetzgebung innehat, alles andere bedeutet den Bruch des Gesellschaftsvertrages und ist somit überhaupt kein Staat15• - "Demokratie" in Rousseaus Verständnis ist demgegenüber eine bestimmte Regierungsform, und zwar die, in der neben der legislativen Gewalt auch die Exekutive beim Volk liegt, im Unterschied zu Aristokratie und Monarchie, wo die ausführende Gewalt von wenigen bzw. nur einem Beauftragten des Volkes ausgeübt wird16 • Kriterium für die Unterscheidung ist die Zahl der an der Exekutive beteiligten Personen17, ferner ist eine Zuordnung der Regierungsformen zu unterschiedlichen Größen von Bevölkerung und Staatsgebiet möglich18 ; dagegen besteht ein Zusammenhang zu irgendwelchen dominierenden Gesellschaftsschichten im Prinzip nicht, allerdings sieht Rousseau die Möglichkeit, daß die Regierung der wenigen zu einer erblichen Herrschaft der Geldaristokratie entartet, die Rousseau als die schlechteste aller Regierungen bezeichnet111• Zum besseren Verständnis von Rousseaus eigentümlichem Gebrauch der Begriffe der Regierungsformen sei sein Schema - soweit wie möglich - in das herkömmliche transponiert: Alle verschiedenen Regierungsformen sind zwar nur Unterteilungen der einzigen Verfassungsform, der Republik, dennoch gibt es einen Gegensatz zur Republik: den Despotismus, dem freilich nach Rousseau die Bezeichnung Staat nicht zukommt20 • Diese grundsätzliche Unterscheidung zwischen Staat und Nicht-Staat bzw. zwischen Republik und Despotismus hat einiges gemeinsam mit der alten primären Einteilung der Staatsformen, dem Unterschied zwischen politischen und nichtpolitischen (d. i. despotischen) Verfassungen, denn auch in dem rousseauschen Gegensatz wird in der einen nach Gesetzen, in der anderen nach Willkür regiert, und die eine dient nur dem Vorteil des Herrschers, die andere ist charakterisiert durch die Beteiligung aller an den 15 Zum Staats- und Republik-Begriff: CoSo 44 unten f. (52); daß im Fall der übertragung der Gesetzgebung auf ein anderes Organ der Gesellschaftsvertrag gebrochen ist: CoSo 130 mitte; siehe dazu auch Anm. 24. - Rousseau unterscheidet also wie Bodin zwischen Staatsform und Regierungsform, allerdings mit dem Unterschied, daß für Rousseau nur eine einzige Staatsform in Betracht kommt. (Zur Unterscheidung bei Bodin s. Kap. 2, S. 52; bei Locke Kap. 2, Anm. 42.) 18 CoSo 103 f. 11 CoSo 99 fi. 18 CoSo 104; s. a. 80 unten, 95, 96 mitte, 109 oben, 112 oben, 120 mitte. über die Ahbängigkeit der Regierungsform von der Größe der Bevölkerung: Jouvenel, Rousseau 490 ff. ("dynamische Theorie der Regierungsformen"); Fetscher, Rousseau 150; Masters 393 f., 396 f. 1t CoSo 107 unten f. 20 Despotismus als Staatsauflösung: CoSo 94, 130; diese Terminologie wird von Rousseau allerdings nicht völlig konsequent durchgehalten, auf S. 121 mitte (120 oben) ist von "despotischen Staaten" die Rede.

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Verfassungsrechten21 • - Wie erwähnt, sagte auch Aristoteles von der Tyrannis, diese sei genau genommen überhaupt keine Verfassung22 • Außer dem Despotismus kennt Rousseau eine zweite Art von NichtStaat: die Anarchie, in der sehr viele Personen die Regierungsgewalt je einzeln ausüben wollen. Hierbei lassen sich Ochlokratie, Oligarchie und Tyrannei unterscheiden23, während Demokratie, Aristokratie und Monarchie verschiedene Regierungsformen der Republik darstellen. Rousseaus Regierungsformen setzen also die Unterscheidung von Staatsoberhaupt und Regierung, bzw. von Legislative und Exekutive voraus; das läßt uns zwangsläufig einen Blick auf die Gewaltenteilung werfen. Die Trennung von Gesetzgebung und Ausführung ist ein fundamentaler Bestandteil der rousseauschen Republik, aber interessanter Weise gibt es bei ihm kein eigenes Kapitel über Gewaltenteilung, ja er benennt jene Trennung nur gelegentlich und beiläufig mit diesem Ausdruck!4. Der Grund war schon in den Bemerkungen über die Regierungsformen impliziert: es gibt nach Rousseau für ein Gemeinwesen nicht die Wahl, ob Gewaltenteilung besser sei als ihr Gegenteil; es ist konstituierend für einen Staat schlechthin, daß die Gesetzgebung als allgemeiner Wille immer beim Volk liegt, und daß die Ausführung dieses Willens von ihm selbst getrennt sein muß, da Wille und Kraft zwei verschiedene Fähigkeiten sind25• Die Ausnahme der Demokratie, in der das Volk beide Gewalten selbst ausübt, wurde schon erwähnt, ist jedoch nach Rousseau nur als reines Gedankengebilde eine Ausnahme; in der Realität ist echte Demokratie in diesem Verständnis auch nach Rousseau nicht möglich26 • So sehr aber die Gewaltentrennung zum notwendigen Staatsfundament wird, und so häufig Rousseau im Contrat Social die Pflicht dieser Trennung betont - um eine Gewaltentrennung im Sinne Montesquieus und der Tradition handelt es sich nicht. Mit z. T. erstaunlicher Realitätsferne theoretisiert Rousseau die Gesetzgebung, als Willensäußerung von ausschließlich allgemeinem Charakter und die Exekutive als bloße 21 Ausdrückliche Bemerkung, daß die Gesetzmäßigkeit des Regierens das Kennzeichen der Republik ist: CoSo 70 unten; auf S. 121 mitte (120 oben) gibt es den Begriff der guten Verfassung (la bonne politie) als Gegensatz zu den Begriffen Despotismus und Barbarei. 22 s. Christian Meier S. 569, Anm. 60. 28 CoSo 130 unten. 2t Zur notwendigen Trennung von Staatsoberhaupt und Regierung bzw. von gesetzgebender und vollziehender Gewalt: CoSo 54 - 58 (über die Voraussetzungen für jene Trennung), 62 unten, 71 Anm., 92 f., 96 oben, 98, 108 mitte, 118 oben, 137, 141 oben, 143 oben. Zur Bezeichnung dieser Trennung: CoSo 96 oben (100 oben) le diverses parties de l'~tat, 108 oben (109 unten) la distinction des deux pouvoirs. 25 CoSo 92. 28 CoSo 105 mitte.

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Ausführung der Gesetze, die keinen eigenen Willen haben darf27 • Diese Gewaltentrennung ist streng funktional, an irgendeinen Bezug zu den verschiedenen Bevölkerungsteilen ist auch nicht entfernt zu denken, sie hat nicht einmal den Zweck einer Eigenständigkeit zweier Gewalten, die sich gegenseitig hindern können, denn im Unterschied zu einer bloßen - wenn auch für Rousseau sehr wichtigen - Funktionentrennung im Sinn von Wille und Ausführung wird eine Verteilung der Macht des Staatsoberhaupts an verschiedene Träger aufs schärfste abgelehnt: Dies käme der Auflösung des Staates gleich, denn Beschränkung der höchsten Gewalt ist Vernichtung derselben28, ähnlich wie für Hobbes die Teilung der souveränen Gewalt den Rückfall in den Bürgerkrieg bedeutet29• Wie das Staatsoberhaupt nicht eingeschränkt oder zerstückelt werden darf, so auch die Regierung nicht; die einfachen Formen sind besser als die gemischten30, wenngleich Rousseau hier den Realismus besitzt zu sehen, daß genau genommen alle Regierungsformen gemischt sind, denn "ein Alleinherrscher muß untergeordnete Beamte, und eine Volksregierung ein Oberhaupt haben. In der Verteilung der vollziehenden Gewalt gibt es deshalb stets eine Abstufung von der größeren Anzahl zur kleineren"31. Ferner konzidiert er, daß in gewissen Fällen die gemischte Regierungsform vorzuziehen ist, und zwar wenn "die vollziehende Gewalt nicht genug von der Gesetzgebenden abhängig ist"32. Dem Bestreben nach Selbständigkeit der Regierung kann man durch Teilung der Regierung abhelfen, damit sie insgesamt dem Staatsoberhaupt gegenüber schwächer wird. Die Mischung besteht dann darin, daß man in einem solchen Fall nicht mehr von reiner Monarchie oder reiner Aristokratie sprechen kann, sondern die Regierung auf mehrere 21 CoSo 100, s. ferner Anm. 24. Dazu: Kägi, Entstehung 74; Fetscher, Rousseau 148; Jouvenel, Rousseau 490. 28 CoSo 56 f., 97 unten, 139 unten, 143 unten; zu Rousseaus Ablehnung einer echten Gewaltenteilung, und dazu, daß in seiner Theorie in keiner Weise Platz für eine soziale Gewaltenteilung ist: Kägi, Entstehung 73 ff. (auf S. 76 bezeichnet er Rousseaus Funktionentrennung als "sekundäre Gewaltenteilung"); Friedrich Müller 56, 64. 28 s. Kap. 2, Anm. 65. 30 s. Anm. 13; s. als Analogien dazu auch Rousseaus anderweitige Behauptungen, daß Einfachheit bzw. Einheitlichkeit für den Staat das beste sind: CoSo 185 mitte, 186 oben, 188 oben. 31 CoSo 117 mitte (116 unten). a2 CoSo 118 oben (117 mitte); weitere Hinweise auf die Möglichkeit von gemischten Regierungen und auf Beispiele dazu: CoSo 103 unten f., 129 Anm., 157. Sehr gut und übersichtlich dargestellt bei Fetscher 165 -167, s. a 154, 157; Fetscher berücksichtigt allerdings, wie auch die weitere angegebene Sekundärliteratur, den Ausnahmecharakter von Rousseaus Billigung der gemischten Regierungsformen nicht. - Kägi, Entstehung 77, s. a. zum Tribunat S. 79; Friedrich Müller 79; s. ferner Cobban 82; Jouvene1, Rousseau 493 f.; Masters 395.

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Behörden verteilt ist. Dies sind wohlgemerkt nur Ausnahmen, aber ihrer Bedeutung wollen wir noch etwas genauer nachgehen: ß. Reste der Verfassungsmisehung

Die bisherigen Untersuchungen ergaben im Prinzip eine Ablehnung der gemischten Verfassung. Interessanterweise findet man aber bei genauerem Hinsehen ein paar "Reste" von Verfassungsmischung, denn an den Stellen, wo Rousseau sich mehr zur konkreten Praxis äußert, ist er durchaus bereit, leichte Abstriche von seinem an sich so klaren Konzept zumachen. Hinsichtlich der Gewaltenteilung sieht Rousseaus Vorstellung als solche ./lehr präzise aus: Die Exekutive hat keine Selbständigkeit und ist auf die bloße Ausführung der Gesetzgebung beschränkt. Aber wie es sich eben im Abschnitt über die gemischte Regierungsform schon zeigte, erkennt Rousseau die Tendenz der Regierung, selbständig zu werden und ihre Macht auszudehnen. Dies ist eine Einsicht aus der Erfahrung; und um dem übel abzuhelfen, bleibt kaum etwas anderes, als ein Gegengewicht zu schaffen, und dementsprechend tauchen dann auch bei Rousseau die Theoreme vom Gleichgewicht und Gleichmaß zwischen den Gliedern bzw. Teilen des Staates aufs8• Das bezieht sich auf die Staatsorgane, aber auch was gesellschaftliche Schichten angeht, sieht sich Rousseau aus Erwägungen solcher Abhilfe von Schlimmerem zu Konzessionen genötigt: Zwischen der Regierung, d. h. im vorliegenden Fall dem Königtum und der Beamtenschaft einerseits und dem Volk andererseits soll ein möglichst geringer Abstand bestehen; wenn jedoch eine große Kluft vorhanden ist, fehlt dem Staat ein fester Zusammenhang, und um diesen herzustellen sind "Mittelglieder" erforderlich. Gemeint ist hier ein ständischer Mittelbau aus Edelleuten, Grafen und anderen Adligen34 • Ganz ausdrücklich bezieht sich ein weiterer derartiger Vorschlag auf die Gruppen innerhalb des Staates, die Rousseau an sich ablehnt. Er sagt, wenn nun einmal solche besonderen Gesellschaften bestünden, solle man ihre Anzahl vermehren, damit alle möglichst gleich groß CoSo 172 f. (163): une exacte proportion entre les parties constitutives de l'equilibre. - Zu der in mathematischen Kategorien ausgedrückten Gleichgewichtstheorie bei Rousseau: Masters 340 - 348, 393; s. ferner zum Gleichgewicht zwischen Souverän und Regierung und zur Bezeichnung der Regierung als Zwischenorgan bzw. als Vermittler: Kägi, Entstehung 74, 76; Friedrich Müller 78 f.; Fetscher, Rousseau 148 ff., 166 f. 3' CoSo 112 mitte (113 oben): ordres intermediaires; zu Mittelgliedern (termes intermediaires, magistrats intermediaires, pouvoir moyen) s. a. CoSo 90 mitte (90 unten), 97 mitte (101 oben), 118 mitte (117 mitte), 138 oben (133), 172 (163). Vgl. Friedrich Müller 78 f. 88

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seien". Eine Ähnlichkeit zur gleichmäßigen Beteiligung der Bevölkerungsgruppen an der Macht zeigt sich hier am deutlichsten". Solche Beispiele sind kleine Reste von Gedankengängen, die in Bezug auf Form und Argumentationsweise aus dem Bereich der überlegungen zur gemischten Verfassung stammen. Zwar sind. es nur Reste, trotzdem scheinen sie von einiger Bedeutung, denn sie tauchen stets dann auf, wenn Rousseau nicht nur abstrakt über sein Gemeinwesen redet, sondern realistisch auf tatsächliche Verhältnisse eingeht31 ; d. h. wenn Rousseau auf handfeste politische Sachverhalte, wie rivalisierende Interessengruppen, wie die Kluft zwischen Herrschenden und Beherrschten oder den Drang zur Machtausdehnung zu sprechen kommt, fallen auch ihm keine anderen Mittel und Wege ein als die, die bisher unter dem Namen der gemischten Verfassung bekannt waren. Wenn man bedenkt, daß diese auch von Rousseau gesehene Realität das normale ist, und dann Rousseaus eigentliche Thesen mit den wenigen notgedrungen zugestandenen "Resten" vergleicht, erscheint das erstere als eine heile Welt der Gedanken, der bloßen Interpretation38 ; und zwar ist nicht nur das individualistische und die Gruppen ausklammernde Konzept eine Fiktion, sondern auch die Unterscheidung von Staatsund Regierungsform39, da die Regierung mit ihrer tatsächlichen Macht 35 CoSo 60 oben; als weitere Beispiele für ein Gleichgewicht zwischen verschiedenen Bevölkerungsgruppen bzw. dafür, daß Mittel zu größerer Ausgewogenheit gutgeheißen werden, s. CoSo 167 oben, 168 unten f. Zum Gleichgewicht der Vereinigungen: Friedrich Müller 75 ff.; Cobban 46 - 48, dieser übersieht allerdings den Ausnahmecharakter der genannten Maßnahme. 38 Es sei hier noch einmal darauf verwiesen, daß Rousseaus Engagement für die Gleichheit aus demselben Anliegen wie die gemischte Verfassung entspringt (vgI. oben S. 76); Rousseaus Konzept will die ideale Gleichheit im Mittelstand verwirklichen, und Rousseau befürwortet Maßnahmen zum Ausgleich der Besitzverhältnisse auf dieses Mittelmaß hin; darin kann man einen weiteren Zusammenhang zum Anliegen der alten Mischverfassung erblicken, was allerdings wegen der Ausschließlichkeit dieser Bevölkerungsgruppe und den vielfach abstrakten Äußerungen über die Gleichheit einigermaßen unkenntlich wird. Zum Mittelstand bei Rousseau: Fetscher, Rousseau 156, 214228,131,235; Cobban 138 ff. 31 Dieser Gegensatz wird noch deutlicher, wenn man den Contrat Social mit Rousseaus mehr Praxis-bezogenen Schriften vergleicht; dazu: Cobban 47; Fetscher, Rousseau 160. 38 Imboden formuliert: "Was Rousseau geflissentlich übergeht, ja leugnet, nämlich das Gewicht der Mittelinstanzen und der innerstaatlichen Gruppen, wird hier (gemeint ist: in Rousseaus Beschäftigung mit den Verfassungen Korsikas, Polens oder Genfs) unvermittelt zum zentralen Gegenstand politischen Ordnens .•• Die Distanz zwischen gedanklicher Deutung und praktischer Gestaltung tritt unverhüllt hervor. Mit der politischen Wirklichkeit konfrontiert, scheint sich Rousseau selbst zu widerlegen." Imboden, Rousseau 21. 3t Zur Unterscheidung von Staats- und Regierungsform bei Locke, aber mit Berücksichtigung von Hobbes und Rousseau, bemerkt Rostock zutreffend, daß nur die konkreten Institutionen und nicht die theoretische Herleitung

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und ihrem Bestreben, diese auszuweiten, eine reale Größe ist, während für den Willen des eigentlichen Souveräns die Befehle eben jener Regierung gelten können, wenn der Souverän zu ihnen lediglich schweigt4o• Diese Überlegungen lassen die beiden ersten Abschnitte des Kapitels mit ihren so krassen Ergebnissen in einem veränderten Licht erscheinen, denn wenn Rousseau sein eigentliches Konzept jeweils in Anbetracht solcher soeben genannter Probleme, die das politische Geschehen bestimmen, relativieren muß, könnte man das, was das "eigentliche Staatskonzept" ist, und was "konzidierte Reste" sind, gegeneinander vertauschen.

des Staatswillens (die in jedem Fall demokratisch konstruierbar ist) den Maßstab für eine Typologie abgeben kann. "Die ,Staatsform' ist als ,Regierungsform' zu bestimmen." Rostock 102 f. 40 CoSo 55 mitte.

5. Kapitel DER FEDERALIST

Die Vielfalt der Interessengruppen gegen die übermacht einer einzigen I. n,r Abbruch des Zusammenhangs zwischen gemischter Verfassung und Gewaltenteilung

Der Federalist1 steht als eifriger Verfechter der Gewaltenteilung unter direktem geistigen Einfluß Montesquieus2 • Zu Beginn der Ausführungen über die Gewaltenteilung, diesen "unschätzbaren Lehrsatz der politischen Wissenschaft"3, bezieht sich der Federalist ausdrücklich auf jenen "großen Kritiker der politischen Zustände"', und ihm ist einiges an dem Nachweis gelegen, daß er Montesquieu richtig interpretiert5 • In der Tat teilt er mit diesem die Auffassung, daß es nicht nur auf die Gewaltentrennung, sondern auch auf die Gewalten-Verschränkung ankommt; er teilt mit Montesquieu die Hauptstoßrichtung der Gewaltenbegrenzung: sie gilt der Gefahr einer übermächtigen Legislative; und ferner wird die Dreiteilung der politischen Gewalten wie im "Esprit des Lois" nicht als logische Deduktion vorgeführt, sondern pragmatisch als Erfordernis zur Sicherung der Freiheit hingestellt'. Die Gewaltenteilung war den amerikanischen Verfassungsvätern ein zentrales Anliegen und entsprechend nimmt sie in der Rechtfertigung des Entwurfs der amerikanischen Bundesverfassung, in den Federalist-Papers, großen Raum ein. Aber wenn sich der Federalist auch selbst als Schüler oder gar als Verehrer Montesquieus betrachtet und von skh der Meinung ist, mit1 Für den vorliegenden . Zusammenhang ist die Differenzierung zwischen den verschiedenen Autoren der einzelnen Artikel· der Federalist Papers nicht von großer Bedeutung; s. dazu Anm. 33. I s. hierzu die Arbeiten von Knust und von Spurlin; zu den theoretischen Vorlagen über Gewaltenteilung, die die Autoren der Federali5t Papers beeinflußten, s. Oppen-Rundstedt 142 n. 9. 3 47,277. , 278. 5 ibid. "Um sicher zu gehen, daß wir seine Ansichten in diesem Falle nicht mißverstehen, wollen wir uns an die Quelle begeben, aus der die Maxime, die wir zu untersuchen haben, entspringt." e Kägi, Entstehung S. 96 f.

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zuhelfen, diese Lehre in die Realität umzusetzen, so besteht doch gerade in Bezug auf die Gewaltenteilung zwischen dem "Esprit des Lois" und den Federalist-Papers ein fundamentaler Unterschied: die soziale Grundlage der Gewaltenteilung ist weggefallen. Das ist keine beliebige Nebensächlichkeit bzw. ein Traditionsrest, den Montesquieu noch nicht überwunden hatte, sondern Montesquieus Gewaltenteilungslehre ist wie wir gesehen haben - nicht von ihren sozialen Voraussetzungen ablösbar. Die Tatsache, daß alle ältere Gewaltenteilungslehre auf einem sozialen Fundament ruhte, d. h., daß die verschiedenen Gewaltenträger verschiedenen Ständen bzw. gesellschaftlichen Schichten zugeordnet waren, während dies in der späteren Gewaltenteilungslehre keine Rolle mehr spielt, wurde oft gesehen, es fragt sich aber, wie dieser Unterschied in seiner Bedeutung einzuschätzen ist, welche Sicht zutreffender ist: handelt es sich bei der Gewaltenteilungslehre um eine relativ junge (- etwa mit Locke oder Montesquieu beginnende -) und noch ungebrochene Tradition; oder aber um eine sehr alte Tradition, die eben jetzt, zwischen Montesquieu und dem Federalist, einen einschneidenden Bruch erfahren hat? Scllauen wir uns das System der Gewaltenteilung beim Federalist etwas genauer an: Die legislative Gewalt wird ausgeübt vom Repräsentantenhaus (Art. 52 - 61) und vom Senat (62 - 66), der Präsident stellt den exekutiven Zweig der Regierung dar (67 - 77), und die richterliche Gewalt ist den Bundesgerichten übertragen (78" - 84). Die allgemeinen Grundsätze des Verhältnisses dieser Zweige der Regierung (departments of government, oder auch: the different powers of government)1 zueinander wird zuvor in den Artikeln 47 bis 51 dargelegt. Mit Gewaltenteilung ist keine völlige Trennung gemeint; Gewaltentrennung und -verschränkung könnte mit der Formel wiedergegeben werden: getrennt so weit wie möglich, aber Anteil einer Gewalt an den Befugnissen der anderen so weit wie nötig (Art. 47). Diese gegenseitigen Beziehungen sind erforderlich, denn es ist der Zweck einer guten Gewaltenteilung. jeden Zweig der Regierung daran zu hindern, seine Macht auszudehnen (Art. 48), und das geeignete Mittel hierzu ist die Förderung der rivalisierenden Interessen (Art. 51)8. "Zu welchem Auskunftsmittel sollen wir also greifen, um die notwendige TrennJlng der Gewalten, wie sie in der Verfassung. niedergelegt ist, in der Praxis aufrechtzuerhalten? Die einzige .f\.ntwort, die auf diese Frage gegeben werden kann, lautet: Da sich alle äußerlichen Maßnahmen als unzweckmäßig erwiesen haben, muß dem Mangel abgeholfen werden, indem man den inneren Aufbau der Regierung so gestaltet, daß die Teile, aus s. etwa 51, 295 (321). Der nicht erwähnte Abschnitt von Art. 48, 2. Hälfte bis Art. 50 handelt von den ungeeigneten Mitteln. 7

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denen sie besteht, sich kraft ihrer gegenseitigen Beziehungen selbst an dem ihnen zukommenden Platz erhalten9 ." Worauf aber basiert die Eigenständigkeit und Unabhängigkeit dieser Staatsorgane, die alle "einen eigenen Willen haben müssen"lO, die ein "Interesse daran haben sollen, sich gegen übergriffe der anderen zu wehren"l1, und die "sich gegenseitig in Schach halten"l2? Die verschiedenen Zweige der Regierung je verschiedenen Bevölkerungsgruppen zuzuordnen l3, kommt für den Federalist nicht in Frage: Alle Bürger haben das gleiche Wahlrecht, alle Staatsorgane leiten sich vom Volk herl4, und ausdrücklich wird dem Verdacht entgegengetreten, daß jemals eine Bevölkerungsschicht bei der Wahl bevorzugt werden könntelS. Wenn aber die Staatsgewalten unabhängig voneinander sind, und diese Unabhängigkeit nicht durch Schichten oder Stände begründet wird, dann läßt sie sich nur erreichen, indem man verschiedene Herleitungsverfahren ersinnt: "Das Repräsentantenhaus wird unmittelbar vom Volk und der Senat von den Legislaturen der Staaten gewählt, während die Wahl des Präsidenten durch Wahlmänner erfolgt, die zu diesem Zweck vorher vom Volk gewählt werdenl8 ." - "Mit Hilfe verschiedener Wahlmethoden und verschiedener Grundsätze für ihre Tätigkeit versucht man zu erreichen, daß die Verbindung zwischen diesen Körperschaften so gering wird, als es das Wesen ihrer gemeinsamen Funktion und ihrer gemeinsamen Abhängigkeit von der Gesellschaft zulassenl7 ." Ganz allgemein wird als das zugrunde liegende Prinzip formuliert, "daß alle Ernennungen für die höchsten Ämter des gesetzgebenden, vollziehenden und richterlichen Zweiges sich aus der gleichen Autoritätsquelle - dem Volk - herleiten, und zwar durch Kanäle, die keine wie immer geartete Verbindung miteinander haben"l8. Dadurch ist der Zusammenhang der Gewaltenteilung zur gemischten Verfassung abgebrochen. Die Staatsgewalten sind definiert durch ihre Funktionen bzw. Zuständigkeiten. Zwar· sind sie nicht in dem Sinn srikt getrennt, daß keine Gewalt Anteil am Sachbereich der anderen 51,295. 296 oben. 11 296 unten. 1! 297 mitte. 13 Das Problem der Elite wird hier absichtlich ausgeklammert; s. dazu Kap. 12 Abschn. I 2. 14 s. u. Anm. 18. lS 57,323 unten f.; 60, 338 - 343. 11 60, 339 oben. 17 Bezieht sich auf die zwei Teile der Legislative; 51, 297 mitte. 18 296 oben. D

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hätte, sondern es existiert ein kompliziertes System der GewaltenverschränkunglI, auf das hier nicht im einzelnen eingegangen wurde, aber nichtsdestoweniger handelt es sich um eine funktionale - nicht eine soziale - Gewaltenteilung. Die Wahl aller Staatsorgane erfolgt durch das gleiche Volk nach dem Prinzip sich ausschließender Amtsbestellungs-Verfahren. Die Gewaltenteilung hatte sich aus der gemischten Verfassung, bei der es um die gleichmäßige Beteiligung verschiedener Bevölkerungsschichten an der Macht ging, entwickelt, und eine geradezu genealogische Nachfolge ist durch die Staatsorgane gegeben: die Machtverteilung zwischen König, Oberhaus und Unterhaus wird zur Gewaltenteilung zwischen Präsident, Senat und Repräsentantenhaus20• Aber der Zweck der Errichtung mehrerer höchster Staatsorgane hat sich geändert. Geht es bei der Gewaltenteilung um Aufteilung einer im Prinzip einheitlichen Staatsgewalt, so ist der Zweck der gemischten Verfassung die Einbeziehung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in das politische System. - Gewiß war bei jeder gemischten Verfassung ein gewaltenteilender Effekt eo ipso mitgegeben und auch gewollt. Aber es war nicht der einzige Zweck dieser Einrichtung, nicht einmal der Hauptzweck, sozusagen nur ein Aspekt der gemischten Verfassung; demgegenüber bleibt jetzt bei der modernen Gewaltenteilung dieser Aspekt als einziger übrig. Vom alten Kernproblem, der Existenz verschiedener Gruppen im Staat und dem Einbau aller dieser Gruppen in die Verfassung, hat sich die Gewaltenteilung losgelöst21 • - Dies eigentliche Problem der gemischten Verfassung muß nun an anderer Stelle gesucht werden. Das ist die Aufgabe für unsere weitere Beschäftigung mit den Federalist Papers; sie sollen nach den sozialen Gruppen und deren Bedeutung für die Verfassung befragt werden. 1. s. hierzu: Oppen-Rundstedt 84; Jürgen Gebhardt, Federalist 98 f.; Kägi, Entstehung 96. %0 W. P. Adams schildert die Argumentation der Kolonisten, die das englische Schema der gemischten Verfassung trotz der anderen sozialen Bedingungen auf die politische Ordnung in den Kolonien übertrugen und dabei meist nur auf den Aspekt der Beschränkung der Gewalt abstellten (S. 261 263, 266); es gab allerdings auch die Argumentation, das Zwei-Kammer-System in den Einzelstaaten mit der Existenz auch in Amerika bestehender Stände (der "natürlichen" Aristokratie und dem einfachen Volk) zu rechtfertigen, diese Auffassung wurde aber von republikanisch gesinnten Autoren bekämpft und steht in scharfem Gegensatz zur Auffassung des Federalist bezüglich des Zwei-Kammer-Systems in der Bundesverfassung (S. 178 f., 268270). %1 s. Jürgen Gebhardt, Federalist S. 99 f. dazu, daß die ständischen Voraussetzungen für eine gemischte Verfassung in den USA fehlten, und der Federalist Amerika als eine ungemischte Republik versteht; s. a. Oppen-Rundstedt zum Gegensatz zwischen der Gewaltenteilung und der Theorie der gemischten Verfassung: S. 142 f. n 9. - Allerdings war die ursprüngliche Intention von Hamilton die Mischverfassung im herkömmlichen Sinn mit den,

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11. Die Bedeutung von Klassenunterschieden für die Verfassung 1. Verfassungs-Relevanz der Bevölkerungsschichten auch im Gemeinwesen mit staatsbürgerlicher Gleichheit

Ausgeschlossen ist eine verfassungsrechtliche Stellung der Gruppen in einem ständischen Sinn. Reichtum, Herkunft, Religion oder Beruf spielen weder beim aktiven noch beim passiven Wahlrecht eine Rolle22 • "Wer sind die Wähler der Mitglieder des Repräsentantenhauses? Sind es eher die Reichen als die Armen? Eher die Gebildeten als die Unwissenden? Eher die stolzen Erben berühmter Namen als die schlichten Söhne der Unbekannten und vom Schicksal wenig begünstigten? Nein, es ist die große Masse des Volkes der Vereinigten Staaten2S." - Dies wird entschieden abgehoben von den Verhältnissen in England, d. h. vom Wahlrecht zum britischen Unterhaus, wo nur derjenige ein Abgeordneter einer Grafschaft werden kann, der Ländereien mit einem jährlichen Ertrag von sechshundert Pfund Sterling besitzt und wo man nur wahlberechtigt ist, wenn der Jahresertrag des eigenen Grundbesizes mehr als zwanzig Pfund Sterling beträgtu . - Für die republikanischen Grundsätze ist es wesentlich, "daß die Regierung von der großen Masse der Gemeinschaft ausgeht, und nicht von einem unbeträchtlichen Teil oder einer begünstigten Klasse derselben"25. Adelstitel sind mit der Gleichheit unvereinbar und deshalb von der Verfassung verboten26. Die Gleichheit wird also mit Nachdruck als eine neue und spezifisch amerikanische Errungenschaft herausgestellt, aber sie wird nicht mit Pathos vorgetragen in dem Sinn, daß alle Probleme der Ungleichheit verschwunden wären und für die Verfassung überhaupt nicht bestünden. Der Blick für die Realität wird nicht entstellt, sondern es steht außer Zweifel, daß die Gesellschaft aus verschiedenen Klassen besteht, "und natürlich haben die verschiedenen Klassen verschiedene Interessen"27. Dabei ist es "in einer Republik von großer Wichtigkeit, nicht nur die Gemeinschaft gegen Unterdrückung seitens der die Regierung wenn auch nicht erblichen Komponenten von König und Lords, so doch der Amtsdauer auf Lebenszeit für Präsident und Senat. Dementsprechend verstand er auch die Republik ursprünglich als gemischte Regierung, so jedenfalls noch in seiner Argumentation im Verfassungskonvent, nicht dagegen in den Federalist Papers; Stourzh 46, 49, 52. n 57, 323 unten f. u. 326 oben. 23 323 unten f. 24 327 oben; s. a. Art. 60. - Die Gleichheit des Wahlrechts auch im Gegensatz zu den Zensusbestimmungen in den Einzelstaaten der Union: W. P. Adams 197 - 207; Oppen-Rundstedt 51; Siegfried Georg 24 und Anm. 28. 25 39, 221 mitte. n Verfassung der USA Art. I, Section 9; Federalist 39,222 mitte. 27 51,298 mitte; s. a. 10, 74 oben; 51, 298 unten; 60, 339 - 341.

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ausübenden Männer zu schützen, sondern auch den einen Teil der Gemeinschaft gegen Ungerechtigkeit von seiten des anderen Teiles zu schützen"28. Zwar regelt nicht die Verfassungsurkunde die Beziehungen der 1,1nterschiedlichen Klassen zueinander; in diesem engeren Sinn sind die Bevölkerungsschichten keine Verfassungssubjekte. Es handelt sich um eine moderne geschriebene Verfassung, die von der Gleichheit der Bürger ausgeht, die die Beziehungen zwischen der Staatsgewalt und den Bürgern regelt, und die insbesondere von der Amtsbestellung und den Kompetenzen der Staatsorgane handelt. Nichtsdestoweniger ist die Rolle der Bevölkerungsklassen ein zentrales Problem in den Verfassungsüberlegungen. Konkret findet das seinen Ausdruck in einer Aussage wie etwa der, daß die Interessen der Landwirtschaft im Gegensatz zu denen der Kaufleute in den Volksvertretungen der Staaten und im Senat der Union das übergewicht haben sollen29• Oder etwa in dem ungemein realistischen und anschaulichen Beispiel, wie die verschiedenen Klassen nach Klassengesichtspunkten die Gesetzgebung bestimmen: "Ob und in welchem Ausmaß die inländischen Fabrikanten gegen die ausländische Konkurrenz geschützt werden sollen, ist eine Frage, die von den Grundbesitzern anders beantwortet wird als von den Fabrikanten, und wahrscheinlich weder von den einen noch von den anderen ausschließlich im Hinblick auf die Gerechtigkeit und auf das Wohl der Allgemeinheit. Die Aufteilung der Steuern auf die verschiedenen Bevölkerungsklassen der Besitzenden ist eine Aufgabe, die sicherlich strengste Unparteilichkeit zu erfordern scheint, und doch gibt es wahrscheinlich keinen Akt der Gesetzgebung, bei dem eine überlegene Partei mehr Gelegenheit hätte und leichter in Versuchung geriete, die Gerechtigkeit mit Füßen zu treten. Jeder Penny, den sie der Minderheit auflastet, ist ein Gewinn für ihre eigene Tasche30• " - Die Klassenstruktur der Gesellschaft schlägt sich demnach in den Verfassungsorganen nieder. Aber bevor wir dem weiter nachgehen, muß geklärt sein, wie diese Gesellschaftsstruktur aussieht. Welches sind die wichtigsten Gruppierungen, aus denen sich die Bevölkerung zusammensetzt?

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2'

51, 298 mitte.

6.0,340 mitte.

10, 75. - zu Hamiltons Gleichgewichtsgedanken hinsichtlich der Besteuerung s. Walter Gerhard 69 -71: Hamilton lehnt die Kopfsteuer als ungerecht ab, weil sie die Reichen nicht höher belastet als die Armen, aber er befürwortet die indirekten Steuern. Dazu, daß der Staat die Interessen aller Klassen zu schützen hat, vgl. a. Siegfried Georg 31; Irving Brant, Bd. 3, 17430

176.

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2. Die Klassenstruktur

Im eben zitierten Artikel 10, der ersten Behandlung der Probleme, die die Gruppenbildungen31 für ein Gemeinwesen aufwerfen, stellt der Verfasser der Federalist-Papers ganz allgemein fest, daß sich die Menschen zu Interessen zusammenschließen, was sich aus der Verschie~ denheit der Meinungen und Fähigkeiten ergibt. Hieraus gehen insbesondere die unterschiedlichen Eigentumsverhältnisse hervor: "Aus dem SChutz verschiedener und ungleicher Fähigkeiten zum Erwerb von Eigentum ergibt sich unmittelbar der Besitz von Eigentum verschiedener Art und verschiedenen Ausmaßes, und aus seinem Einfluß auf die Gefühle und Meinungen der Besitzer folgt eine Spaltung der Gesellschaft in verschiedene Interessengruppen und Parteien ... Die Hauptquelle aller Spaltungen bildet stets die ungleiche Verteilung des Eigentums. Die Besitzenden und die Besitzlosen haben von jeher zwei verschiedene Interessengruppen gebildet32." Eine andere Strukturierung der Gesellschaft scheint aber nach der Auffassung des Federalist von mindestens ebenso .großer Bedeutung zu seinal: die Gliederung der Gesellschaft nach den Sachzusammenhängen 31 Der Federalist benutzt nebeneinander die Ausdrücke: classes, parties, interests, sects, parts of citizens, s. etwa (78 t; 324 f.); alle diese Begriffe sind wertneutral im Gegensatz zum Begriff der faction; die gegenteilige Behauptung (Dietze 119 n 47; Hofstadter 360 n 22; Oppen-Rundstedt 55), daß party und faction für Madison identisch seien, ist schwerli.ch vereinbar mit der These Madisons, daß die Parteien mit der Gesellschaft selbst ("society itself") identisch sind (51, 325); Madison ist keineswegs den Parteien als solchen gegenüber negativ eingestellt (s. dazu unten Abschn. III 5.), seine Aversion richtet sich nur gegen einen bestimmten Typ von Parteien: den ausschließlich am Eigeninteresse orientierten factions. Zwar besteht immer die Gefahr, daß parties zu factions werden, insofern kann Madison. durchaus parties und· factions gelegentlich in einem Atemzug nennen, W:;lS aber nicht eine Identität der Begriffe beweist. s. a. Anm. 43. - über den Gebrauch des Wortes classs. Oppen-Rundstedt S. 57 n. 88, S. 91. 32 10, 74; s. a. 60, 339 unten f.; zur Gesellschaftsstruktur entsprechend den ~eSitzverhältnissen (arm/reich) vgl.: Siegfried Georg 20 mitte und Anm. 14; Oppen-Rundstedt 63, 89. Oppen-Rundstedt stellt diese Sicht der Gesellschaft als spezifisch für HamiIton dar, im Gegensatz zur Möglichkeit der Ausbalancierung der Vielfalt von Interessengruppen als spezifisch für Madison; eine derartige Zuordnung der Gedanken zu den verschiedenen Autoren ist jedoch unzutreffend; s. die folgende Anmerkung. l!3 Der unterschiedlichen Autorenschaft der einzelnen Artikel kann dabei trotz der ursprünglich gegensätzlichen politischen Konzeptionen zur Bewältigung der Klassengegensätze von Hamilton (s. Adair 66 - 68) und Madison (ibid. 69· f.) nicht viel Bedeutung zugemessen werden, denn sowohi in Art. 10 (Madison) wie Art. 60 (Harnilton) wird die Gesellschaftsgliederung in arm und reich angesprochen, und in beiden Artikeln wird die große Vielfalt der Gruppen als Mittel zur Überwindung ins Feld geführt (- darüber im einzelnen weiter unten -); ferner stammen die auch noch genauer zu behandelnden auf den ersten Blick etwas unterschiedlichen Ausführungen über die Gruppenstruktur von Art. 35 u. 60 - in einem ist von drei Gruppen die Rede, im anderen von einer großen Vielzahl - beide von Hamilton.

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der Erwerbstätigkeiten, wobei sich Gewerbe, Handwerk und Handel auf der einen Seite und die Landwirtschaft auf der anderen einander gegenüberstehen, jeweils zu einer echten Interessengemeinschaft zusammengeschlossen34• Die Gliederung der Gesellschaft ist also durch zwei verschiedene Strukturen bestimmt, die einander überlagern, beide Strukturen - die nach Menge des Besitzes und die nach Erwerbstätigkeit - schließen sich nicht gegenseitig aus. Aber es fragt sich, ob einer der Gegensätze dominiert: der zwischen arm und reich, oder der zwischen Gewerbe und Landwirtschaft. Die Antwort wird sich aus der Betrachtung der tatsächlichen Organisation der Gesellschaft ergeben, denn welcher der genannten Gegensätze für die Menschen von größerer Relevanz ist, bzw. welche Gemeinsamkeit den Menschen am meisten bedeutet - entsprechend dieser werden sie. sich zusammenschließen, und demzufolge wird sich auch der dominierende Gegensatz in der gesellschaftlichen Organisation niederschlagen. 3. Die Art des Einflusses der Klassenstruktur auf die Zusammensetzung des Parlaments

Die unterschiedlichen Gesellschaftsschichten haben für die Verfassung unmittelbare Bedeutung, und es ist für den Federalist völlig selbstverständlich, daß die Repräsentation des Volkes eine Repräsentation eben jener Gesellschaftsschichten ist. Im Parlament sind konkrete Gruppen vertreten, und der Federalist redet nicht abstrakt von einer Repräsentation, die aus der Vielheit gleicher Individuen zustande kommt. Wie allerdings die Gruppenvertretung im Parlament entsteht, verdient für unseren Zusammenhang genauere Aufmerksamkeit. Eine berufsständische Lösung wird ausdrücklich abgelehnt: "Der Gedanke, daß tatsächlich. alle Bevölkerungsklassen durch je eine oder mehrere Personen im Repräsentantenhaus vertreten sein sollten, ist völlig phantastisch. Außer wenn die Verfassung ausdrücklich vorschriebe, daß jeder Beruf eines oder mehrere seiner Mitglieder zu entsenden habe, würde so etwas in der Praxis niemals vorkommen38." Die Praxis, die der Federalist dabei im Auge hat, ist die freie und gleiche Wahl. Diese bedeutet in ihrem Gegensatz zum ständischen Parlamentarismus keineswegs, daß der konkrete Bezug zu den gesellschaftlichen Kreisen abgeschnitten wird, sondern als freie und gleiche wählen die Bürger un34 35, 197 - 36, 200; 60, 340. Robert E. Brown betont im Gegensatz zu Charles Beards Interpretation, daß Madison nicht nur eine "horizontale Einteilung" der Gesellschaft kennt, sondern auch eine "vertikale", S. 29 f.; OppenRundstedt 61 f., 91; Jürgen Gebhardt, Federalist 96. 3S entfällt. 31 35, 197 mitte; s. a. 198 unten.

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gleich: je nachdem, welches Interesse ihnen das wichtigste scheint und mit welchem sie sich am ehesten identifizieren können, bestellen sie Personen bestimmter Gruppen zu ihren Repräsentanten. "Handwerker und Gewerbetreibende werden, mit wenigen Ausnahmen stets eher geneigt sein, ihre Stimme den Kaufleuten zu geben statt Angehörigen ihres eigenen Berufs. Diese urteilsfähigen Bürger sind sich wohl bewußt, daß sie mit ihren Erzeugnissen das Material liefern, das der kaufmännische Unternehmungsgeist verwertet ... Wir müssen daher den Kaufmann als den natürlichen Vertreter aller dieser Volksschichten betrachten37." Eine ähnliche Interessengemeinschaft sieht der Federalist bei allen Berufen, die mit der Landwirtschaft zusammenhängen. "Die Grundbesitzer halte ich in politischer Hinsicht und insbesondere in Bezug auf die Besteuerung für völlig miteinander einig - vom reichsten Grundbesitzer bis hinunter zum ärmsten Pächters8." Ferner glaubt der Federalist auf Grund seiner Beobachtungen in den Einzelstaaten sagen zu können, daß als dritte große Gruppe die geistigen Berufe im Parlament vertreten sein werden, wobei diese nicht im gleichen Sinn wie die beiden anderen eine Interessengemeinschaft darstellen, sondern zwischen den zwei Berufszweigen die Rolle eines Neutralen oder eines Schiedsrichter.s übernehmen könnens,. Ob diese Einschätzung der wichtigsten Gruppen im Parlament zutreffend ist oder nicht, - die Art und Weise wie sie ins Parlament gelangen, klingt geradezu selbstverständlich.

111. Die neue Form der gemischten Verfassung 1. Die Vielfalt der Gruppen

Die Tatsache, daß sich die parlamentarischen Körperschaften de facto aus verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen zusammensetzen, ist nicht ohne Probleme, denn wenn eine der Gruppen zahlenmäßig dominiert, könnte sie die andere permanent majorisieren, und die ganze Regierungsform wäre nichts als die Herrschaft einer Klasse über eine andere. - Alte gemischte Verfassungen, in denen verschiedenen Bevölkerungsgruppen eigene Verfassungsorgane zugeordnet waren, hatten den Vorteil, daß keine der, jedenfalls institutionell beteiligten Gruppen schlichtweg übergangen werden konnten. Wenn demgegenüber alle Gruppen in ein und demselben Organ vertreten sind4o, und wenn ferner wegen der rechtlichen Gleichheit nach dem Mehrheitsprinzip entschieden werden kann, verlagert sich das Problem der Klassenherrschaft 17 38

18 4Q

35,197 f.

ibid.

198 f. ZU diesem Unterschied s. Kap. 8, Abschn. III und Kap. 11, Abschn. II 1.

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und damit auch das der gemischten Verfassung. Während noch Montesquieu das Problem von Mehrheiten nicht kennt, wird es vom Federalist mehrfach angesprochen41 , und er ringt um eine Lösung dafür, alle Gruppen - nach Möglichkeit gleichmäßig - an der Herrschaft zu beteiligen4l!. Sein wichtigster Gedanke hierzu ist der, daß eine möglichst große Vielfalt von Klassen, Parteien43 und Interessengruppen die Majorität einer einzigen Gruppe verhindern wird. "Während alle Autorität von der Gemeinschaft ausgeht und von ihr abhängt, ist die Gemeinschaft selbst in so viele Teile, Interessen und Klassen aufgesplittert, daß den Rechten der Einzelnen oder einer Minorität von einer Interessengemeinschaft der Majorität kaum Gefahr droht ... Diese Sicherung besteht in der Vielzahl der Interessen"." Dies gilt ganz allgemein für die Zusammensetzung einer Gesellschaft, sodann für die sich daraus ergebende Organisation des Parlaments. Im Gegensatz zu kleinen Republiken wird nach der Auffassung des Federalist eine solche Gruppenvielfalt durch eine große Föderation wie die zu schaffenden Vereinigten Staaten besonders begünstigt: "Erweitert man ... den Bereich, so umfaßt er eine größere Vielfalt von Parteien und Interessengruppen, und es ist dann weniger wahrscheinlich, daß sich innerhalb der Gesamtheit eine Majorität durch ein gemeinsames Motiv angetrieben fühlen wird, die Rechte der übrigen Bürger zu verletzen45." - "In der Republik der Vereinigten Staaten mit ihrer großen Ausdehnung und ihrer Vielfalt von Interessen, Parteien und Sekten wird es kaum zur Bildung einet Mehrheit der Gemeinschaft kommen, es sei denn auf der Grundlage der Gerechtigkeit und des Gemeinwohls48." Die Vielfalt in der Zusammensetzung der Gesellschaft schlägt sich konkret in der Struktur des Parlaments, und zwar besonders des Repräsentantenhauses nieder und führt dort zu einer "richtigen Mischung der Interessen und Meinungen aller Teile der Gemeinschaft"47. 41

10, 75; 35, 299 mitte.

Zwar lagen die Sympathien - jedenfalls bei Hamilton - 1;>ei einer bestimmten sozialen Schicht, und zwar bei den Reichen (s. Siegfried Georg 21; Caldwell 15 f.); aber die Autoren der Federalist Papers wenden sich stets entschieden gegen die Herrschaft nur einer Gruppe (s. S. Georg 21. 23; OppenRundstedt 87; vgl. a. oben Anm. 30). 43 Der Begriff "parties" bedeutet beim Federalist nicht mehr als "parts of citizens", die Parteien haben keine spezifische FUnktion bei Wahlen oder in den Parlamenten. " 51, 298 unten f. 4S 10, 78 mitte . .. 51, 299 unten. - Hofstadter legt dar (S. 354 - 359), daß der Pluralismus der religiösen Gruppen in Amerika einigen Einfluß auf Madisons Konzept des Pluralismus im Bereich der Interessen hatte. 41 35, 197 (214): to combine the interests and feelings of every part of the community. 42

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"Die Vielfalt, die in den verschiedenen Teilen der Union in bezug auf die Vermögenslage, den Charakter, die Sitten und Gebräuche desVolkes herrscht, ist groß genug, um auch bei den Volksvertretern eine wesentliche Vielfalt der Einstellung zu den unterschiedlichen Gesellschaftsklassen und sozialen Bedingungen hervorzurufen ... Weil in diesen nationalen Körperschaften eine weit größere Vielfalt von Interessen und in einer viel bunteren Mischung vertreten sein wird, als dies je in einer lokalen Körperschaft möglich wäre, so wird dort auch eine viel geringere Neigung als in den lokalen Körperschaften bestehen, für die eine oder andere Interessengruppe Partei zu nehmen48 ." 2. Das Besondere dieser Mischungs-Konzeption

An das alte Theorem der constitutio mixta knüpft der Federalist nicht ausdrücklich an, aber von der Sache her ist es die alte Fragestellung und die alte Antwort: Es soll nicht eine Klasse die anderen beherrschen, sondern alle sollen Verfassungsrechte haben, und zwar so, daß es der stärksten Gruppe weitgehend unmöglich gemacht wird, die anderen zu unterdrücken oder ihrer Rechte zu berauben. Dies wird zu einem Wesensbestandteil des Begriffs free government und auch des Republik-Begriffs; insofern wird dies als eine einheitliche Staatsform und nicht als eine Mischung von mehreren begriffen49, allerdings war der Begriff free government vielfach geradezu ein Synonym für die gemäßigte oder gemischte Verfassung gewesen". 48 60,339 f. (367 ff.): a greater variety of interests and in much more various proportions ... über die Vielfalt der Interessengruppen als Mittel zur Verhinderung der Ubermacht einer einzigen Gruppe s. Jürgen Gebhardt, Federalist 95; Kägi, Enstehung 97. Adair und Oppen-Rundstedt behaupten, dies Konzept des Federalist sei das Gegenteil von gemischter Verfassung. Adair stellt die Vielfalt der Gruppen als Kernstück von Madisons politischen Vorstellungen dar; hieraus lasse sich ein Gleichgewicht formen, das die Notwendigkeit einer gemischten Verfassung im Sinne von Adams und Hamilton überflüssig mache (S. 106). Oppen-Rundstedt steigert diese These zu folgender Behauptung: "Madison hat mit dieser seiner Idee das mixed government ad absurdum führen wollen, indem er die Union entwarf, in der sich nicht mehr drei Schichten und Interessengruppen gegenüberstehen, so wie sie die Theorie des mixed government vorausgesetzt hatte; er glaubte, daß in der more perfect Union diese drei Schichten durch eine Vielzahl verschiedenartiger, ökonomischer Interessen abgelöst würden." (S. 60). Oppen-Rundstedt verkennt, daß sowohl der negative Zweck der Verhinderung der Tyrannei einer bestimmten Gruppe bei Madisons Idee und bei der alten Mischverfassung derselbe ist, ferner daß der positive Zweck der Beteiligung aller sozialer Gruppen an der Herrschaft in beiden Fällen gleich ist, und darüber hinaus, daß der Unterschied zwischen drei Gruppen im einen Fall und einer unbegrenzten Vielzahl von Gruppen auf der anderen Seite keineswegs prinzipieller Art ist, denn gerade beim Federalist ergänzen sich die Konzeptionen des Gleichgewichts dreier Gruppen und der unbegrenzten Vielzahl; darüber mehr in Abschn. 5. 49 Insofern widerspricht der Begriff der "unmix~ republies" (14, 101 oben) nicht der hier aufgestellten These.

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Die Lösungsvorstellungen des Federalist nehmen auf einen anderen Kontext der politisch-sozialen Verhältnisse Bezug als dies die alten Modelle der constitutio mixta taten; insofern muß sich seine Konzeption, was die Form angeht, von den früheren unterscheiden. Sahen die älteren gemischten Verfassungen meist so aus, daß die verschiedenen Stände je ein eigenes Verfassungsorgan hatten, so werden jetzt alle Bevölkerungsschichten an ein und demselben Verfassungsorgan beteiligt, und auch das nicht in ständischer Form, was der Fall wäre, wenn im Parlament verschiedene Abgeordneten-Gruppen von vornherein als Vertreter bestimmter Bevölkerungsgruppen erschienen, sondern man könnte eher von einer impliziten Berücksichtigung der gesellschaftlichen Schichten sprechen, und zwar impliziert in einem Wahlmodus und in einem obersten Verfassungsorgan, das der Form nach die verschiedenen Gruppen als solche gar nicht kennt. Das neue dieses Verfassungssystems ist eine gewisse Zweigleisigkeit. Formal geht der Staatsaufbau von der Gleichheit der Bürger aus und dem ausschließlichen direkten Verhältnis zwischen Individuen und Gesamtheit; nur die Individuen bilden den Staat. Die Bevölkerungsgruppen treten als Gruppen nicht in Erscheinung, sie sind keine Träger irgendwelcher Verfassungsrechte. Dennoch können sie in dem individualistischen Staatsaufbau implizit zur Geltung kommen, ja sogar de facto - wie die ganzen Ausführungen gezeigt haben - die Struktur der politischen Gesellschaft wesentlich bestimmen. Dieses seltsame Nebeneinander von einerseits nicht - andererseits doch hängt zusammen mit dem Hauptproblem unserer Untersuchung: daß Verfassungsmischung im Zeitalter der Gleichheit nicht ohne weiteres möglich ist, da beide - wenn nicht im Widerspruch zueinander so doch in einem nicht leicht zu lösenden Spannungsverhältnis stehen. Hier wird versucht, beidem Rechnung zu tragen: der Gleichheit durch den individualistischen Staatsaufbau mit den gleichen Rechten aller Bürger bei der Wahl; der Relevanz der Gruppen und dem Anliegen der Verfassungsmischung durch ihre de-facto-Berücksichtigung im Parlament. Verknüpft wird beides - gemäß der individualistischen Grundstruktur - dadurch, daß die Individuen über Bedeutung, Umfang und 50 s. Stourzh 40 - 44 dazu, daß der Begriff free government den der gemischten Verfassung ersetzt, und daß entgegen der ursprünglichen Terminologie erst im Verlauf der amerikanischen Revolution free government mit representative government identifiziert wird; vgI. a. Oppen-Rundstedt 52. Die Verwendung des Republik-Begriffs ist allerdings nicht einheitlich: während die einen darunter das Gegenteil von gemischter Verfassung verstehen, beinhaltet er für andere die Mischung verschiedener Elemente; W. P. Adams 101 - 109, 264 f. (Zur Verwendung von Republik- und Demokratie-Begriff speziell beim Federalist und seiner für die Zeit durchaus untypischen scharfen Entgegensetzung dieser Begriffe: ibid. 108; Siegfried Georg 23; Oppen-Rundstedt 50 - 52; Stourzh 49, 55.)

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Macht der Gruppen selbst und stets erneut bestimmen können. Auf die Besonderheit dieser Verknüpfung werden wir noch bei einem Vergleich mit anderen Konzeptionen zurückkommenG1 • - Was den spezifischen Effekt der Verfassungsmischung angeht, so ergibt er sich, wie dargelegt, nicht durch das bloße Faktum, daß verschiedene Gruppen im Parlament vertreten sind, denn dadurch wird die Übermacht einer einzigen Gruppe noch nicht verhindert, sondern es muß eine bestimmte Art und Weise hinzukommen, das "Mischungsverhältnis" ist entscheidend. Ein erster in diese Richtung wirkender Faktor ist das ausbalancierende Moment der geistigen Berufe zwischen den zwei Hauptgruppen der Bevölkerung. Als dritte Kraft können jene eine ausgleichende Funktion erfüllen, der Federalist spricht von einer SchiedsrichterrolleG2• Dieses Prinzip, daß mehr Kräfte vertreten sein müssen als nur die zwei Hauptblöcke der Gesellschaft, führt der Federalist dann noch konsequenter weiter zu seinem spezifischen Modell einer Verfassungsmischung: es soll insgesamt eine so große Vielfalt bestehen, daß alle Gruppierungen beteiligt sind, keine ein Übergewicht besitzt und damit jede Unterdrückung durch eine einzige Gruppe ausgeschlossen wird. Damit ergibt sich auch die Antwort auf unsere früher gestellte Frage, welche Gesellschafts-Struktur die dominierende sei, die Gliederung der Gesellschaft nach Besitz oder nach Erwerbstätigkeiten. Der Gegensatz von arm und reich, der - so lange dieser allein die GesellschaftsStruktur bestimmt - meist die Herrschaft der einen über die anderen bedeutet, kann überlagert werden durch die Struktur der Erwerbszweige, und ein Gegenüber von zwei Blöcken dieser letzteren Art kann noch weiter aufgehoben werden durch Berücksichtigung der wesentlich vielfältigeren Interessenlage der Bevölkerung. 3. Vergleich mit früheren gemischten Verfassungen

Verglichen mit den gemischten Verfassungen aus der Zeit kurz zuvor, etwa den Vorstellungen bei Bolingbroke oder Montesquieu, hat diese Konzeption des Federalist ein äußerlich sehr anderes Erscheinungsbild. Aber eine Parallele zur ersten von uns behandelten gemischten Verfassung ist kaum von der Hand zu weisen. Als Verfassung, die der Gefahr der Herrschaft von nur einer Gruppe entgeht, kennt Aristoteles außer der Möglichkeit, daß beide Gruppen gleich stark sind, und dem Ziel, daß die Unterschiede weitgehend ausgeglichen sind, vor allem die Verfassung, die durch die Existenz einer starken dritten Gruppe zwischen den beiden Extremen der Gesellschaft gekennzeichnet ist. Dies ist sehr wohl vergleichbar der Schiedsrichterrolle, die der Federalist 51 I!

Kap. 11, Absehn. I. 35,199.

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der Bevölkerungsgruppe der geistigen Berufe zuweist; und wenn der Federalist dann diese Verfassungsstruktur dreier Gruppen zur prinzipiellen Vielzahl ausbaut, so liegt immer noch die gleiche Konzeption zu Grunde, was wiederum erkennen läßt, daß auch eine Vergleichbarkeit mit Bolingbrokes oder Montesquieus Gleichgewichtsvorstellung nicht ganz so abwegig ist, wie es zunächst den Anschein haben mag. 4. Des Federalist Ablehnung anderer Lösungen zum Problem der Interessengruppen

Auch mit anderen Lösungsmöglichkeiten auf die Frage der Bewältigung der Probleme, die das Bestehen verschiedener Interessengruppen aufwirft, setzt sich der Federalist auseinander. Das Übel der Interessengruppen abzustellen, gibt es zwei radikale Möglichkeiten: "entweder man schafft die Freiheit ab, die zu seiner Existenz notwendig ist, oder man gibt allen Bürgern die gleichen Ansichten, Leidenschaften und Interessen"63. Beide Lösungen lehnt der Federalist ab. Die Forderung "nach gleichmäßiger Aufteilung des Besitzes"54 wird als undurchführbar und unsinnig abgetan, und auch weniger radikale Vorstellungen, die irgendwie auf eine Angleichung der Gegensätze hinauslaufen, werden nicht weiter in Betracht gezogen. Das würde auch gar nicht in sein Konzept passen, denn nach der Auffassung des Federalist wirkt das Heilmittel der Vielfalt der Gruppen im wesentlichen durch das Vorhandensein rivalisierender Interessen. Die andere radikale Lösung lehnt er mit ebensolcher Entschiedenheit ab, geht aber darauf näher ein. Den Interessengruppen die Freiheit zu nehmen, ist gleichbedeutend damit, daß man eine von ihnen losgelöste Autorität schaffen muß. Dies hält der Federalist für möglich; betrachtet es aber als nicht wünschenswert. - Einen Zustand, in dem ein Teil der Parteien oder Gruppen die anderen beliebig beherrschen oder unterdrücken können, vergleicht der Federalist mit dem Naturzustand. Und wie in diesem bei den Individuen das Bedürfnis nach seiner Beendigung entsteht, "werden sich ... die mächtigeren Interessengruppen oder Parteien aus den gleichen Gründen mit der Zeit veranlaßt sehen, eine Regierung herbeizuwünschen, die alle Parteien zu schützen vermag, die schwächeren ebenso wie die stärkeren". Es wird "der Ruf nach einer vom Volk gänzlich unabhängigen Autorität von den gleichen Interessengruppen erhoben werden ... , die durch ihre Übergriffe eine solche Autorität notwendig gemacht haben"56. Dies wäre das der gemischten Verfassung entgegengesetzte Konzept, das zwar auf das 53 54 55

10, 73 mitte. 10,79. 51,299 unten.

Der Federalist

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gleiche Problem der Verhinderung einseitiger Gruppenherrschaft antwortet, aber die Lösung nicht in einem Ausgleich zwischen den Gruppen, sondern in einer Macht oberhalb aller Interessen zu finden glaubt. 5. Die grundsätzlich positive Einstellung des Federalist gegenüber den Interessengruppen

Aufschlußreich ist die Begründung des Federalist für seine Abneigung gegen eine unabhängige Autorität der genannten Art. Zweimal betont er, daß ein von den großen Parteien und der Majorität unabhängiger Wille gleichbedeutend ist mit seiner Unabhängigkeit von der Gemeinschaft selbst56 • An kaum einer Bemerkung des Federalist wird seine grundsätzlich positive Einstellung zur Existenz von Gruppen im Staat deutlicher. - Entsprechend der ganzen Fragestellung, wie man den ungezügelten Eigennutz, die Herrschsucht und Unterdrückung von einzelnen Klassen oder Interessengruppen verhindern kann, mochte der Eindruck entstehen, als ob die negativen Seiten des Gruppenwesens in den Augen des Federalist überwiegen. In zwei der oben angeführten Zitate mochte es fast scheinen, als ob die gutgeheißene bunte Mischung und Vielfalt der Gruppierungen dazu führen soll, überhaupt nicht "für die. eine oder andere Interessengruppe Partei zu nehmen", oder die Bildung von Mehrheiten nach Möglichkeit ganz zu verhindern57 • Diese skeptische Einstellung bezog sich aber nie auf Parteien oder Interessengruppen als solche, sondern immer nur auf die Gefahr des hemmungslos eigennützigen Verhaltens solcher Gruppen, insbesondere auf die Gefahr, daß eine einzige Gruppe, die zahlenmäßig die Mehrheit erringt, eben dadurch instand gesetzt wird, ihren eigenen Willen uneingeschränkt durchzusetzen. In einem solchen Fall spricht der Federalist von "factions". "Unter einer Clique (faction) verstehe ich, daß sich eine Gruppe von Bürgern - es kann die Mehrheit oder eine Minderheit sein - unter dem Antrieb von Leidenschaften oder Interessen zusammenschließt, die im Gegensatz zu den Rechten der übrigen Bürger oder zu den dauernden und allgemeinen Interessen der Gemeinschaft stehen5s." Ihre Beschlüsse werden nur zu oft "nicht in Übereinstimmung mit den Forderungen der Gerechtigkeit und den Rechten der Minderheit gefaßt, sondern auf Grund der überlegenen Macht einer selbstsüchtigen und anmaßenden Majorität"59. Den factions gegenüber nimmt der Federalist in der Tat eine durchweg ablehnende Haltung ein, aber mit diesem Wort bezeichnet er nicht 51, 298; 300. s. Anm. 46 u. 48. 58 10, 73. 72; s. zum Begriff der faction bei Jürgen Gebhardt S. 94 f.; Oppen-Rundstedt 52 - 59; zu einer Parallele bei Montesquieu: Merry 235 oben. 58

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5.

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5. Kapitel

alle Gruppierungen, sondern "faction" ist ein Attribut für Gruppen mit einem negativ zu beurteilenden Verhalten, gemessen an den Werten der Gerechtigkeit und dem Interesse der Gesamtgemeinschaft, wovon im folgenden Abschnitt über Zwecke und Ziele noch zu sprechen sein wird. - Grundsätzlich jedoch steht für den Federalist die Notwendigkeit der Gruppen außer Frage, diese selbst sind die Gemeinschaft, wie die angeführten Zitate zeigen; sie erscheinen nicht etwa als notwendiges übel, sondern als die selbstverständlichen Bestandteile der Gesellschaft, auf ihnen basiert die beschriebene Art einer modernen gemischten Verfassung. IV. Der Zweck der Verfassungsmischung

Das vorgeführte Konzept der Vielfalt der gesellschaftlichen Gruppen dient dazu, die übermacht einer einzigen zu verhindern; aber soll dies dadurch erreicht werden, daß die Vielzahl der Gruppen sich gegenseitig behindert, d. h. daß die Interessen der einen Gruppe dazu ausgenutzt werden, diejenigen einer anderen nicht zum Zuge kommen zu lassen? Das widerspräche einem Ausgleich zwischen den Bevölkerungsteilen, den wir als den eigentlichen Zweck jedenfalls früherer gemischter Verfassungen erkannt hatten. Tatsächlich spielt die Vorstellung des Gleichgewichts einer gegenseitigen Behinderung beim Federalist eine nicht geringe Rolle. Zur Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen hat er seine diesbezüglichen Gedanken klar formuliert80 ; und daß eine zu große Macht von sozialen Gruppen in vergleichbarer Weise durch Entgegensetzung und Behinderung anderer sozialer Gruppen erfolgen soll, ging aus den Passagen über die Vielfalt als Mittel gegen die Entstehung von Majoritäten hervor61 • Aber bei der gemischten Verfassung des Federalist handelt es sich nicht ausschließlich um eine konstruktivistische Interessen-Balance, 51,296 f. Zum Konstruktivismus beim Federalist im Sinn des Ausnutzens entgegengesetzter Interessen s. Oppen-Rundstedt 86 f. - Ein konsequenter Konstruktivismus würde eine genaue Kalkulierbarkeit des menschlichen Verhaltens voraussetzen, und das heißt absolute Gesetzmäßigkeiten. Die Ausführungen Dahls (S. 4 - 33) über die "Madisonian Democracy" unterstellen Madisons Aussagen über menschliches Verhalten stets solch einen Absolutheitscharakter; tatsächlich aber bedeuten Madisons Behauptungen, daß sich Menschen unter gegebenen Voraussetzungen in einer bestimmten Weise verhalten, die auf Grund der menschlichen Natur unbestreitbar vorhandene Möglichkeit zu solchem Verhalten, und eine auf Grund der Erfahrung große Wahrscheinlichkeit zu solchem Verhalten, mit der die Politik zu rechnen hat, und die in jegliche Überlegungen zu politisch-gesellschaftlichen Institutionen einzubeziehen ist. - Zu den völlig deterministischen Interpretationen der Gedanken Madisons und zur Widerlegung dieser Interpretationen s. OppenRundstedt 56 unten, 61 f.; Irving Brant, Bd. 3, 173 f.; vgl. a. Hennis, Politik und praktische Philosophie S. 114. 10 11

Rückblick: John Adams

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die starr mit mehr oder weniger konstanten Interessengegensätzen rechnet62 • Für den Federalist steht außer Zweifel, daß es stets Verschiedenheiten und gegensätzliche Interessen geben wird63 , aber das bedeutet nicht, daß Mißtrauen und Mißgunst auf allen Seiten für das soziale Gleichgewicht erforderlich seien, und daß eine gegenseitige Anpassung ausgeschlossen wird8'. Zwar äußert der Federalist große Skepsis, ob sich das Wohl der Allgemeinheit (public good), die Gerechtigkeit (justice), der Ausgleich der Interessen (adjustment), und - was dem Begriff der Eintracht sehr gut entspricht - das öffentliche Vertrauen (public faith) durchsetzen65, wenn eine Gruppe ungestraft dagegen verstoßen kann. Da er weiß, daß Menschen keine Engel sind66 , sucht er ein Mittel, jene Verstöße von vornherein unmöglich oder wenigstens unwahrscheinlich zu machen; das aber bedeutet, daß dies Mittel, nämlich sein der gemischten Verfassung entsprechendes Konzept, gerade jenen von ihm wie selbstverständlich anerkannten Zielen dient. Rückblick: JOHN ADAMS

Zwischen der alten Identifikation von gemischter Verfassung mit Gewaltenteilung und dem modernen Abbruch der Zuordnung von Staatsorganen zu sozialen Gruppen Irgendwo findet - zeitlich gesehen - zwischen Montesquieu und dem Federalist die Ablösung der modernen Gewaltenteilung von ihrem bisherigen sozialen Substrat statt. Wo genau, läßt sich natürlich nicht sagen; aber nachdem wir beim Federalist bereits der vollendeten Trennung begegnet sind, wollen wir noch einen Blick zurück werfen, mitten in diesen Ablösungsprozeß hinein. Ein politischer Autor darf nämlich nicht ungenannt bleiben, dessen ganzes literarisches Werk geradezu ein einziges Engagement für die gemischte Verfassung ist, und der die "Republik" mit der Mischverfassung identifiziert: John Adams67• Aber 81 Jürgen Gebhardt legt dar (S. 85), daß das Modell des Federalist nicht ausschließlich auf einem Pluralismus sich gegenseitig balancierender Interessen beruht, von dem sich allein alle Ordnung herleitet, sondern daß ferner Qualitäten aus dem rationalen Bereich des Menschen von entscheidender Bedeutung sind.

10,73 f. " 60,339. es 10,72 (76); 75 (80); zum Begriff "public good" s. Siegfried Georg 21 unten; zur Gerechtigkeit als Ziel der Regierung: Jürgen Gebhardt, Federalist 85; Oppen-Rundstedt 87. ee 51, 296 unten. 13

87 Von Sternberger als einer der wenigen der Epoche der entstehenden modernen Demokratie gepriesen, der an der ehrwürdigen Idee der gemischten Verfassung festhielt, S. 79 - 81 - (zur von Sternberger angeschnittenen Pro-

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so leidenschaftlich auch sein Engagement ist, so unklar bleibt der Zusammenhang zwischen den sozialen Gruppen und den drei Staatsgewalten. Aus unserer Perspektive kann dies Werk nicht anders erscheinen als ein Dokument dafür, daß sein Autor zwischen den Zeiten steht, ohne daß es ihm gelingt, den Gegensatz zwischen altem und neuem und die spezifischen Probleme aus der veränderten Situation theoretisch in den Griff zu bekommen. Adams hält im Grunde an der Identifikation von gemischter Verfassung und Gewaltenteilung fest, für ihn sind die Zweige der Regierung weiterhin Repräsentanten verschiedener gesellschaftlicher Gruppen, aber daß beides nicht mehr so recht zusammen paßt, wird ihm nicht bewußt, wenngleich es sich an seinem Werk ablesen läßt. Bevor wir dies näher erläutern, kann allerdings auf eine theoretisch verdienstvolle Differenzierung aus Adams' Werk hingewiesen werden: Während bei Montesquieu die Gewaltenteilung nach Staatsfunktionen begrifflich nicht von der Gewaltenteilung zwischen den Staatsorganen getrennt war, obwohl der Sache nach Legislative, Exekutive und Judikative einerseits, und König, Oberhaus und Unterhaus andererseits keineswegs kongruent waren, herrscht bei Adams diesbezüglich Klarheit. Das erstere heißt bei ihm "separation of the departments", das zweite "separation of the three branches" (bzw."orders"), und diese letztere Dreiteilung bezieht sich ausdrücklich nur auf die Legislative, ist also in Adams' Schema eine weitere Unterteilung eines der drei Departments (= Staatsfunktionen) aus der ersten Dreiteilung: die Legislative soll auf drei verschiedene Träger verteilt werden, auf die zwei Kammern und die Spitze des Magistrats (also den Gouverneur bzw. Präsidenten). Da einer dieser drei Träger der Legislative mit der Spitze der Exekutive identisch ist, besteht zwar sachlich eine Verquickung mit der erstgenannten Unterteilung in drei Departments, aber das tut der begrifflichen Klarheit keinen Abbruch68• Problematisch ist allerdings, wer die ·drei "orders" sind. - Adams' leidenschaftlicher Eifer in der Verteidigung der gemischten Verfassung ist zu einem guten Teil damit zu erklären, daß die Entdeckung des Gesetzes der Balance für ihn eine Erkenntnis von naturwissenschaftlicher Gültigkeit ist89• Die Anwendung dieser Erkenntnis über die blematik des gemischten Charakters der modemen "Demokratien" hinsichtlich ihrer repräsentativen und plebiszitären Komponenten s. u. Kap. 12 Abschn. I 1.). - Dazu, daß John Adams den Republik-Begriff weitgehend mit dem Inhalt der gemischten Verfassung füllt: Walsh 27 - 32, insbes. 30; W. P. Adams 108 f.; Stourzh 47. 88 Adams, Defense 109; Walsh 20 - 22. 8. Walsh 4, 43 f.; Handler 27, 48 f.; Adair 113 f. Dieser mechanische Charakter von Adams' gesellschaftlicher Gleichgewichts-Vorstellung bedeutet nicht, daß Adams dem Problem der Tugenden der Menschen keine Bedeu-

Rückblick: John Adams

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Balance ist ein absolut sicheres Heilmittel gegen gesellschaftliche Unordnung, und dieses Mittel ist gleichermaßen zwingend erforderlich wie auch in zwingender Weise erfolgreich. - Der springende Punkt seiner Erkenntnis über die Balance der gesellschaftlichen Kräfte ist die Notwendigkeit dreier Kräfte; nur zwei können keine Balance halten, da stets eine Kraft obsiegen wird, während sich bei dreien jeweils zwei gegen den Versuch der Machtüberschreitung der dritten zur Wehr setzen können70 • Die drei Kräfte sind die drei Staatsorgane (orders/branches), die sich die legislative Gewalt teilen, wobei Adams den Akzent auf die zwingend erforderliche Beteiligung der Exekutive an der Gesetzgebung und zwar durch ein absolutes Vetorecht - legt71 • Auch verlangt die Balance drei Stände (orders) in der Gesellschaft, denen jene Staatsorgane entsprechen72 • Das aber klingt nur in dieser Abstraktheit plausibel, denn so sehr auch die Erkenntnis vom Gleichgewicht dreier Kräfte einen Absolutheitscharakter besitzt, so unklar bleibt ihre Anwendung. Die drei "orders" des Government und die gesellschaftlichen Stände sind keineswegs kongruent, denn in der Gesellschaft gibt es nur zwei "orders": die Ober- und die Unterschicht, denen im Government die zwei Kammern entsprechen, während die Exekutive hier als drittes hinzutritt. - Zwar spricht Adams zuweilen auch in der Gesellschaft von drei Ständen, die zum Gleichgewicht erforderlich sind: der Ober-, Mittel- und Unterschicht7 3, aber diese finden keine Entsprechung im tung beimessen würde, im Gegenteil: siehe etwa: Thoughts 51 f., 55 f.; aber er ist der Auffassung, daß sich die Tugenden der Menschen als notwendige Folge des von ihm angestrebten Balance-Zustands der Verfassung einstellen. 70 Walsh 43 - 45; eine Kritik an den Erfolgsaussichten der mechanischen Balance von Adams' Konzept bei Handler S. 25, 54 unten f. 71 Diese Akzentsetzung bezieht sich entsprechend der von Walsh vorgenommenen Einteilung der publizisitischen Schaffensperioden von John Adams - auf die zweite Periode (d. h. die Zeit, in der insbesondere der "Defense" erschienen ist), im Gegensatz zur ersten Periode (Hauptpublikation: Thoughts on Government), in der Adams den Senat als Mittler zwischen den zwei anderen Zweigen der Legislative hinstellt. Walsh 78 f.; s. a. Adair 113; - zur früheren Argumentation von Adams s. Thoughts 54; W. P. Adams 268f. 72 Zur bei Adams prinzipiell vorhandenen Vorstellung von einer Entsprechung zwischen Regierungsorganen und bestimmten Bevölkerungsschichten siehe bei Walsh besonders: 44 unten f., 76 ff., 149; darüber, daß Adams die Existenz von Ständen auch für Amerika annimmt, s. Handler 25, 45; Walsh 46 - 48, 57 unten f. 73 Walsh 49; die aufsührliche Darstellung der Inkongruenzen zwischen den verschiedenen Stände-Schemata und ihren Entsprechungen zu den Regierungsorganen auf S. 48 - 59. - Oppen-Rundstedt bemerkt, daß Adams die "verschiedenen Voraussetzungen der beiden Theorien (gemeint sind: Gewaltenteilung und gemischte Verfassung) nicht erkannt und beide Ideen miteinander verwechselt hat". S. 142 n 9.

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5. Kapitel

Government, es sei denn, man wechselt diesbezüglich zu einer ganz anderen Art von gesellschaftlicher Grundlage für die drei Staatsorgane über, und akzeptiert Adams' Hinweise darauf, daß die Anhänger der monarchischen Gewalt das soziale Substrat für die dritte Staatsgewalt seien7', eine solche Anhängerschaft hat allerdings nicht unbedingt etwas mit einer der drei Bevölkerungsschichten zu tun. Hier geht es nicht darum, viele Widersprüche und Unklarheiten in Adams' Werk aufzuzeigen - solches findet sich zur Genüge in der detaillierten Studie von Correa Moylan Walsh über das mixed government bei Adams -, aber auch das (von Walsh herausgearbeitete)15 verbleibende bzw. von Adams meist benutzte Konzept ist hinsichtlich unseres Problems reichlich widersprüchlich. Selbst wenn man die Inkonsequenz der Gleichgewichtstheorie mit zwei gesellschaftlichen Schichten, aber drei Staatsorganen akzeptiert, bleibt die Ungereimtheit, daß John Adams die Trennung der Kammern damit begründet, daß Adel und Commons zwei getrennte Organe brauchen, weil in einer einheitlichen Versammlung zu befürchten steht, daß die Aristokraten das Heft in die Hand bekommen und eine einseitige Herrschaft ausüben78. Als Konsequenz bleibt eigentlich nur, jeden der zwei Stände auch tatsächlich auf seine eigene Kammer zu beschränken, aber entsprechend den sachlichen Aussagen von John Adams ist das nicht der Fall: auch diese zwei Kammern entsprechen gar nicht den zwei Ständen, denn Adams beläßt den Aristokraten eine doppelte Einflußnahme, da sie ihre eigene Kammer wählen und auch für die der Commons sowohl das aktive wie das passive Wahlrecht besitzen. Dies widerspricht obendrein der von Adams stets beschworenen "equal mixture", und Walsh spricht von einer "flagranten Verletzung der Redlichkeit"77. - Man kann auch milder urteilen, aber dann muß man Adams' Konzept als wenig reflektierten Niederschlag einer Epoche im Übergang zwischen zwei Zeiten interpretieren: Ein nationales Repräsentations-Organ hat sich bereits entwickelt, ein Parlament, das alle Bürger ohne Unterschied repräsentiert, und auch Adams will die Oberschicht nicht davon ausschließen; aber gleichzeitig hält er an der Theorie einer ständischen Mischverfassung fest, die jenes Parlament nicht anders als das Organ der unteren Bevölkerungsschicht begreifen kann. In der Tat gibt es eine Reihe von Äußerungen, an denen deutlich wird, daß Adams die veränderte Situation bemerkt. So etwa stellt er fest, in Amerika gebe es im Unterschied zu anderen Ländern verschie74 75

71 77

Walsh 55. ibid.58. ibid. 65 f., 141, 151, zur Furcht vor zu starker Aristokratie s. a. 269. ibid. 142.

Rückblick: John Adams

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dene "orders" nur von Ämtern, nicht von Menschen78 ; das spricht eindeutig für die moderne Sicht der Verfassungsorgane, aber es führt nicht dazu, sein Grundkonzept der ständischen Mischverfassung aufzugeben.

18

Adams, Defense 127: "In America there are different orders of offices,

but none of men." - Als weiteres prägnantes Beispiel s. hierzu: Walsh 149.

6. Kapitel KONSERVATIVE UND ROMANTIKER

Der Ständestaat: die radikalisierte Verfassungsmischung A) EDMUND BURKE

Die gemischte Verfassung in ihrer tradierten Form John Adams' Verteidigung der überkommenen Art der Mischverfassung gegen die französischen Aufklärer wie Turgot und Condorcet war konservativ; Edmund Burke, der seine "Reflections on the French Revolution" (London 1790) nur wenig später schrieb als Adams seinen "Defense of the Constitutions of Government of the United States of America" (London 1788/89) - wenngleich das Ereignis der französischen Revolution zeitlich dazwischen liegt -, verteidigt ebenfalls das bisherige Gleichgewicht der Stände; dennoch sind die Argumentationsweisen beider Denker zwei verschiedene Welten. Während Adams' Theorie der Balance mit allgemeingültigen Kategorien und mechanistischen Analogien zur Newtonschen Physik operiert, verteidigt Burke einen sozialen Zustand, weil dieser einer bestimmten Gesellschaft besonders angepaßt ist, und weil man das historisch Gewachsene riicht abrupt umstoßen darf; seinem politischen Denken sind Gesetzmäßigkeiten, die man nur anzuwenden braucht, um die gewünschte Sozialordnung zu errichten, völlig fremd 1 • Burke stellt der Gleichheit der neuen Demokratie die Vorteile des alten Systems gegenüber; dabei hält er an dem Gedanken fest, daß ein "gemischtes und gemäßigtes Regierungssystem"2 besser ist als ein ungemischtes, weil sich auch eine Demokratie, wenn sie unvermischt ist, im Effekt nicht von einer Tyrannis unterscheidet, und "die Majorität der 1 Diese Gegenüberstellung von Adams und Burke bei Handler 27, 48 f. Siehe ferner darüber, daß Burke die gemischte Verfassung nicht als mechanisches Gleichgewicht begreift, sondern in geistiger Nachfolge Montesquieus argumentiert, daß diese Verfassung dem Temperament eines Volkes angepaßt sein muß: Courtney 77; H.-G. Schumann 36 - 38; O'Gorman 49. - Zu beachten ist auch, daß Burkes Organismus-Denken nicht wie bei den Romantikern eine wesensmäßige übereinstimmung zwischen physischem und politischem Organismus annimmt, sondern das organische Wachstum des Geschichtsprozesses meint: Schieferdecker 26. 2 "mixed and tempered government", Burke, Reflections 197 (120 unten) ~~ Writings Bd. 3, 396 oben.

A) Edmund Burke

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Bürger die Minorität aufs grausamste zu unterdrücken imstande ist"3. Aber Burke entwickelt kein Konzept für eine gemäßigte oder eingeschränkte Demokratie, es finden sich keine Ansätze zu neuen Formen für den alten Gedanken, sondern Burke beharrt auf der Mischverfassung in ihrer alten, ständischen Form von Monarch, Adel und Volk4 , auch mit ihren erblichen Ungleichheiten5• Jeden Versuch abwehrend, eine der tatsächlichen Struktur der Bevölkerung adäquate Repräsentation herbeizuführen, oder gar eine Vertretung des "vierten Standes" im Parlament zuzulassen', hilft er dadurch gerade nicht, die alten Einsichten veränderten Zeiten weiterzugeben, obwohl seine Theorie mit der Betonung von historisch Gewachsenem und nur schrittweisen Veränderungen den Weg in diese Richtung nicht prinzipiell verbauen muß7. Gewiß führt Burke ein wichtiges Argument gegen die genannten Bestrebungen ins Feld: Es komme nicht auf die aktuelle, sondern auf die virtuelle Repräsentation ans, d. h. die Auffassung, daß im Prinzip ohnehin alle Gruppen im Parlament vertreten sind, und es vor allem wichtig ist, daß dies Organ das eine Interesse der Gesamtnation verkörpert, was nicht unbedingt durch kleinliche Aufrechnung aller Gruppenanteile herbeigeführt wird. Jedoch ist Burkes Hinweis auf die virtuelle Repräsentation zumindest insofern unzureichend, weil ja auch seine Verteidigung der Mischverfassung darauf basiert, daß die verschiedenen Stände je ihre eigene Vertretung haben sollen: die oberen das House of Lords und die unteren das House of Commons. Es leuchtet wenig ein, warum dies Argument der Korrelation von Repräsentanten und sozialen Gruppen nur im Verhältnis von Ober- und Unterhaus gelten soll, Reflections 199 oben (121 unten f.) = Writings Bd. 3, 397. Beschreibungen der Burkeschen Mischverfassung bei: Christern 83 - 88; H.-G. Schumann 62 - 93, zum Gleichgewicht zwischen den Verfassungsorganen insbes. 79 - 82; O'Gorman 49 - 51; Courtney 76 -78, 165, auf S. 156 -158, daß die gemischte Verfassung - in Anlehnung an Montesquieu - als eine Mitte qualifiziert wird; (Franz Schneider bringt auf S. 77 - 90 eine Darstellung der Staatsorgane entsprechend dem Schema der funktionalen Gewaltenteilung). 5 Burke spricht zwar auch von "natürlicher Aristokratie" (Burke, Appeal 74f. = Writings Bd. 4, 174ff.; hierzu: Franz Schneider 52-54) und davon, daß sich der Adel aus allen Schichten der Gesellschaft rekrutieren kann (s. H.-G. Schumann 58 unten f.), aber in Anbetracht der von Burke betonten Erfordernisse des Großgrundbesitzes und der Abstammung aus alten Familien bleiben die genannten Einschränkungen reichlich theoretisch. Zur Rechtfertigung des auf Landbesitz basierenden erblichen Adels s. Fennessy 124127; H.-G. Schumann 54 - 59; O'Gorman 39, 53 f. , H.-G. Schumann 83 - 87. 7 Zum Gegensatz zwischen Burkes prinzipieller Offenheit für Reformen einerseits, und seiner tatsächlichen Verabsolutierung der englischen Mischverfassung andererseits: Christern 87 f.; Fennessy 122; H.-G. Schumann 3942. 8 Hierzu: H. Brandt 31 f.; H.-G. Schumann 81, 84. 3

4

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6. Kapitel

aber die Frage, ob das Unterhaus auch tatsächlich die untere Bevölkerungsgruppe repräsentiert, mit dem Hinweis auf die virtuelle Repräsentation abgetan werden kann. - Die Antwort auf dies Problem blieb Burke schuldig; wir werden im weiteren Verlauf der Arbeit sehen, wie andere Denker sich darum bemühten, aktuelle Repräsentation aller Gruppen und zugleich einen einheitlichen nationalen Willen möglich zu machen. B) F. SCHLEGEL. J. GURRES. A. MVLLER. F. BAADER. F. J. STAHL

I. Die Stände als Voraussetzung für die Möglichkeit einer gemischten Verfassung Die Theorie der gemischten Verfassung hat schon deshalb im Zeitalter der Gleichheit nur eine geringe Chance, weil mit der Auflösung der Stände in eine moderne Gesellschaft die Bevölkerungsgruppen als Teile der Verfassung verschwinden, die eine Voraussetzung für jenes Theorem gewesen sind. Bei Rousseau als einem Vertreter einer atomistischen Staatsvorstellung hatte sich dies in aller Deutlichkeit gezeigt. - Entsprechend müßte man im Umkehrschluß folgern können, daß bei denjenigen Denkern, die an der alten Auffassung der Gliederung des Staates in Stände festhalten. wegen der Erfüllung jener Voraussetzung eine gewisse Wahrscheinlichkeit für das Weiterbestehen der Lehre von der gemischten Verfassung gegeben ist. Diejenigen Staatstheoretiker zu Beginn des 19. Jahrhunderts, die man als Romantiker oder Konservative bezeichnet, halten nicht nur an der Notwendigkeit einer ständischen Gliederung der Gesellschaft fest, sondern es wird eine zeitlose Gültigkeit der Ständetheorie behauptet. Als Beispiel ein Zitat von Joseph Görres: "Wo in der bürgerlichen Gesellschaft die Verfassung versagt, tritt das rein Menschliche hervor, auf dem ... alle Form beruht, und das in allem Wechsel dieser Form immer unwandelbar dasselbe bleibt. Wie die ganze Mannigfaltigkeit der verschiedenen Naturkörper sich zuletzt in wenige Naturelemente auflösen läßt, so liegt allen Bildungen in der Gesellschaft gleicherweise eine Zahl von politischen Elementen zum Grunde, die ... immer unverwüstlich dieselben ... bleiben ... Diese Elemente sind die verschiedenen Stände in der Gesellschaft, und die entgegengesetzten Interessen, die sie bedingen. Bei dem Entstehen aller Staatsverfassung tritt der Gegensatz von Lehr-, Wehr- und Nährstand als ein uranfänglicher hervor, und die stärkste Umwälzung, die alles bis zum Grunde zerstört, muß doch endlich diese Wurzeln als unzerlegbar anerkennen ... "9. Die Auffassung bezüglich der Gruppen- bzw. Klassen-Struktur einer Gesellschaft ist meistens entscheidend für das Verhältnis eines Denkers • Joseph Görres, Deutschland und die Revolution, S. 187.

B) F. Schlegel, J. Görres, A. Müller, F. Baader, F. J. Stahl

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zur gemischten Verfassung; hier besteht dies Verhältnis nicht nur in einem positiven Sinn, sondern die Ambivalenz im Hinblick auf unseren Zusammenhang kommt bereits im angeführten Zitat zum Ausdruck: Einerseits wird gesehen, daß unabhängig von irgendwelchen zeitbedingten Formen in einem Gemeinwesen stets Gruppen existieren; das ist eine gute Voraussetzung für den Gedanken der Verfassungsmischung. Andererseits aber wird diese allgemeine Einsicht mit einer sehr begrenzten untrennbar verknüpft, nämlich ganz bestimmten Gruppen, dem Lehrstand, Wehrstand und Nährstand wird der Charakter der Zeitlosigkeit zugesprochen. Die diesen Ständen zu Grunde liegenden Funktionen mögen in allen menschlichen Gesellschaften ausgeübt werden, aber ihre Fixierung auf bestimmte getrennte Stände entspringt einer zeitbedingten Vorstellung, die für die Erarbeitung einer Theorie der gemischten Verfassung unter den modernen Gleichheits-Bedingungen keineswegs förderlich ist. Hinzu kommt etwas, das ebenfalls im oben genannten Zitat anklingt: der Vergleiclt der Stände mit Naturelementen bzw. die übertragung einer Organismusvorstellung auf die Gesellschaft mit ihren Gruppen - ein Gedanke, der, wie wir sehen werden, auch nicht unbedingt zur Theorie der gemischten Verfassung paßt, der sich sogar zu letzterer konträr verhalten kann.

11. Einzelne direkte Bezüge zur Verfassungsmischung und Verfassungsmitte In unmittelbarem Zusammenhang mit der gemischten Verfassung lassen sich Görres' überlegungen zum Ständeparlament interpretieren. Die drei Stände sollen gleichgewichtig am Organ der Volksvertretung beteiligt sein, und dabei geht es nicht nur um gleiche Machtverteilung10, sondern der Zweck ist die Schaffung einer echten Verbindung zwischen den Ständen. "Nicht trennend und scheidend soll die Abteilung der Stände im Staate wirken; nicht soll jeder ein unabhängiges Leben bloß in sich selber leben; sondern wie die Glieder des Körpers, obgleich jedes für sich scharf bezeichnet, doch alle durch Nerven und Blutadern miteinander in dem ununterbrochensten Wechselverkehre stehen, also soll auclt hier alles vereinigt sein, äußerlich durch Staatseinrichtungen, innerlich durch Eintracht .. ."11. Aus diesem Grund wird von Görres das Zweikammersystem abgelehnt, denn dies käme zwei entgegengesetzten Kräften gleich, die sich gegenseitig aufheben, und fördere in Siehe dazu im einzelnen: ibid. 153 -156. Joseph Görres, Die künftige deutsche Verfassung, S. 411. Zum "Ausgleich" bzw. der "Versöhnung" der Gegensätze s. a.: Deutschland und die Revolution, S. 106, 138, Anhang S. 191. Zur Eintracht s. a. bei Adam Müller, Elemente der Staatskunst, I. Halbband S. 175. Hier wird ähnlich wie bei Aristoteles gesehen, daß die Eintracht "Krieg" voraussetzt; vgI. oben Kap. 1, Abschn. 111 3. a). 10

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6. Kapitel

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keiner Weise die Verbindung der Stände untereinander l2 • Demgegenüber würde bei einer einzigen Kammer, in der sich die Hauptelemente der Verfassung beisammenfinden, "eine gewisse Heilkraft in das Ganze kommen, vermöge welcher die entzweiten Gegensätze ihre Beruhigung finden und Streitigkeiten, die sich erhoben, nicht wie bei dem Zweikammersystem auf sich beruhen oder durch die Gewalt geschlichtet werden müssen, sondern innerlich sich vergraten lassen"13. - Bei den genannten Streitigkeiten hat Görres die Interessenkonflikte zwischen Adel und Gemeinen als den zwei Hauptelementen der Verfassung im Auge; der Lehrstand wird als "drittes beruhigendes" Element bezeichnet, der insofern ein Schiedsrichteramt versehe14• Nach Form und Intention entspricht das der gemischten Verfassung: den verschiedenen Ständen kommt ein gleicher Machtanteil zu, und das hat nicht den Charakter eines Gegeneinander, sondern die Verfassung soll so eingerichtet sein, daß das Verhältnis zwischen den Ständen durch Verbindung und Eintracht bestimmt wird. "Was also in sich getrennt ist durch verschiedene Beziehungen, wird wieder vereinigt erscheinen durch das Verständnis zum gemeinen Wohle I5 ". Der Vergleich mit den Gliedern des Körpers tut hier nicht viel zur Sache, im übrigen trifft er gar nicht zu, weil die Aufgaben und "Machtanteile" der Glieder des Körpers ohnehin feststehen und kein Gegenstand menschlicher "Überlegungen sind, denen zufolge die Rechte der Glieder auf verschiedene Weise festgelegt werden könnten, und weil von Interessenkonflikten im eigentlichen Sinn keine Rede sein kann. Aber davon, und zwar insbesondere von den Auswirkungen eines konsequenten Organismusgedankens im Bereich der Politik, soll später noch zu handeln sein. Auch was die Einbeziehung unterprivilegierter Gruppen., und das heißt insbesondere der Vermögenslosen, in die Gesellschaft angeht, bzw. was den Abbau der Vermögensunterschiede betrifft, gibt es eine Reihe von Überlegungen, Vorschlägen und Forderungen der Romantiker, die als Maßnahmen zur Verfassungsmischung und Verfassungsmitte angesehen werden können. Schlegel beschäftigt sich mit der Ungleichheit zwischen arm und reich, die aus dem System der Geldwirtschaft und des Handels hervorgeht, und der Tatsache, daß die Reichen "immer einen großen Einfluß 12

Görres, Deutschland und die Revolution, S. 152.

13 ibid. S. 155.

14 ibid. 156 oben. Zur Bedeutung von Mittelgliedern, wenngleich in weniger direktem Zusammenhang zur gemischten Verfassung, s. a. S. 144, Anhang 188 (eine "abgestufte Reihe von Mittelmächten"); und zum Gleichgewicht: Anhang S. 191 f. 15 Görres, Die künftige deutsche Verfassung, S. 411.

B) F. Schlegel, J. Görres, A. Müller, F. Baader, F. J. Stahl

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auf die Staatsgewalt selber haben"16. Eben deswegen scheint ihm "eine mächtige Einschränkung" der Garantie des Eigentums erforderlich, zumal sich beim Handel "das Geld immer in sich selbst vermehrt", und das Steigen des Reichtums ins Unermeßliche geht, ferner "durch Anhäufung des Reichtums in den Händen weniger Personen eine allzu große Ungleichheit zwischen Armen und Reichen und ein bedeutendes Übergewicht dieser letztern im Staate" entstehtl7 • Sowohl die Dominanz der Reichen im Staat, als auch das Übel eines großen Unterschieds zwischen Armen und Reichen müssen verhütet werden. Dies bezieht sich ganz konkret auf das gesellschaftliche Problem des beginnenden 19. Jahrhunderts: die Industrialisierung. Die Einschränkung der Möglichkeit, mit Geld das Geld zu vermehren, ist im Hinblick auf das Fabriksystem konzipiert und wendet sich dagegen, auf Grund von großem Vermögen eine Menge von Leuten in Fabriken wie Knechte arbeiten zu lassen18. Adam Müller sieht bei seinen Überlegungen zur Behebung der sozial benachteiligten Stellung der Arbeiter, daß ihre Armut mit der liberalistischen Geldverfassung zusammenhängt, und er erkennt, daß ihre soziale Situation - und d. h. für ihn: Sklaverei - die Kehrseite der individualistischen Freiheit und Gleichheit ist l9 • Die Abhilfe erblickt er in einer ständischen Eingliederung der Arbeiter in die Gesellschaft; ein Mittel dazu sind die Sparbanken, "sie sollen dem einzelnen Arbeiter die Hand bieten, was er durch das Fabriksystem verloren hat, nämlich einen zuverlässigen Stand in der bürgerlichen Gesellschaft (un etat, status) wieder zu erwerben"20. - Von Joseph Görres läßt sich in diesem Zusammenhang des Ausgleichs zwischen den Ständen anführen, daß er die Forderungen des dritten Standes gegenüber dem Adel nach Abbau der Rangunterschiede für berechtigt hält; dabei warnt er freilich vor Übertreibungen: "alles Menschliche aber ist aus entgegengesetztem gemischt, und in milden Übergängen temperiert, und seine Natur haßt wie Gift alles Unmäßige"21. - Franz Baader bemerkt zu diesem Thema, daß die verschiedenen Stände einander widerstreitende Interessen haben, daß aber der Zweck des Staates "nicht in dem Wohlstande einzelner, sondern aller Stände, und nicht in dem Reichtume Friedrich Schlegel, Bd. 13 S. 120 oben. ibid. 129 oben. 18 ibid. 155 f.; Friedrich Müller 123 f. 18 Adam Müller, Ausgewählte Abhandlungen, S. 126 ff. 20 ibid. 131. Zu A. Müllers Kritik am kapitalistischen System und an der Spaltung der Gesellschaft in zwei Klassen: Baxa, romantische Staatswissenschaft 214 - 226; Baxa, Müllers Philosophie 96 - 98; Friedrich Müller 124 f. 21 Görres, Deutschland und die Revolution, S. 169. Zu Görres' Kritik an der Spaltung des sozialen Ganzen durch die nach Besitz unterschiedenen Klassen: Brüggemann 108. 18

17

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6. Kapitel

einzelner weniger, sondern in der Wohlhabenheit der größtmöglichen Anzahl Bürger besteht"!!. Es ist ein solches Verhältnis zwischen den Ständen anzustreben, daß sich der wirtschaftliche Gewinn "gleichförmig durch alle drei Stände verteilt", was nach Baaders Meinung erreicht werden kann durch die "Gleichheit ihrer relativen Abhängigkeit"!s. An ein Vermengen der Stände wird dabei nicht gedacht, wohl aber an ein Gleichgewicht24 • - Zur besonderen Problematik der Proletarier ist Baaders Auffassung zu erwähnen, es komme darauf an, daß diese nicht außerhalb der Gesellschaft stehen, sondern in der Ständeversammlung vertreten sein sollen; darauf werden wir aber noch genauer zu sprechen kommen26• Auch Friedrich Julius Stahl erblickt im großen Gegensatz zwichen Geldfürsten und Proletariern, bzw. der Anhäufung von Reichtum einerseits und der Verarmung der größeren Massen andererseits einen gesellschaftlichen übelstand; er sieht "die Ausgleichung" darin, daß die große Masse des Volkes einen Mittelstand von selbständigen kleinen Landwirten bilden soll "im Gegensatz zu großen Güterbewirtschaftern und Tagelöhnern", und von kleinen bemittelten Gewerbetreibenden "im Gegendsatze zu Fabrikherren und Fabrikarbeitern"l8.

11 Franz von Baader, Schriften zur Gesellschaftsphilosophie, S. 10; s. a. S. 11 ff., besonders S. 19. IS ibid. S. 17. !6 ibid. S. 18; s. a. S. 15 Anmerkung. t5 s. u. S. 115. Zur Wichtigkeit der Eingliederung der Proletarier in die Gesellschaft siehe besonders: Franz von Baader, Gesellschaftslehre S. 241, 243; auf S. 239 f. wird deutlich, daß Baader diese soziale Problematik als ein Verfassungsproblem betrachtet: während die Proletarier die Verfassung hassen, sind die Fabrikherren im Parlament Partei und Richter in einer Person. Zu Baaders sozialreformerischen Vorschlägen und seiner Kritik am liberalistischen Wirtschaftssystem: Baxa, romantische Staatswissenschaft 254 - 258; Benz, Franz von Baaders Gedanken über den "Proletair"; Siegl 49 - 51; Friedrich Müller 125 - 127. !I Friedrich Julius Stahl, Rechtsphilosophie S. 55 § 15 ff.; zum übelstand eines zu großen Gegensatzes der Klassen S. 58 f.; daß jedoch die Kluft von Natur aus unvertilgbar ist und auch fortbestehen soll: S. 46 ff.; zum Mittelstand S. 61, 65, 72. Auf S. 62 f. bringt Stahl eine interessante Aufzählung verschiedener geschichtlicher Methoden, eine Kluft zwischen den Klassen zu verhindern: in der Antike die Mittel der Beschränkung des Besitzes und das Verbot des Geldes; bei den Juden die Vermögensverteilung; im germanischen Recht das Verbot der Veräußerung des Besitzes, dies schützt zwar vor übermäßigem Reichtum, aber da es denen nichts hilft, die noch nichts besitzen, führt dies nach Stahl zur freien Konkurrenz des Liberalismus, wodurch jener übelstand beseitigt werden soll, der Liberalismus aber führt de facto zur Verschlingung der Schwächeren durch die Stärkeren, was wiederum die sozialistische Theorie hervorbringt.

B) F. Schlegel, J. Görres, A. Müller, F. Baader, F. J. Stahl

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m. Die Verschiedenheit von romantisclter Organismusvorstellung und gemiscltter Verfassung Die angeführten Beispiele stellen die gesellschaftlichen Vorstellungen der Romantiker in die Tradition der Verfassungsmischung, trotzdem muß klargestellt werden, daß das Ständestaats-Konzept als solches nichts mit gemischter Verfassung zu tun hat. Der leitende Gedanke des Ständestaats ist der, daß jeder Teil bzw. jedes Glied der Gesellschaft an seinem Ort seine spezifische Funktion erfüllt. Dabei wird vorausgesetzt, daß die Menschen in verschiedenen Ständen zu leben haben und an den ihnen zugewiesenen P1ätzen bleiben; ferner ist impliziert - und das wird augenfällig durch den Vergleich mit dem biologischen Organismus -, daß die Harmonie des Ganzen dadurch erreicht wird, daß viele eine lediglich dienende Funktion haben, während anderen leitende Aufgaben zukommen, d. h. daß zwischen den Ständen eine Hierarchie vorhanden sein muß. Ein solches Organismusdenken27 zielt gerade nicht auf das, was hier Verfassungsmischung genannt wird, nicht auf Gleichberechtigung zwischen den gesellschaftlichen Gruppen, nicht auf gleichgewichtigen Anteil an der Herrschaft. Zu Schlegels Vorstellung über die organischen Glieder der Gesellschaft bemerkt Friedrich Müller, der bei den Romantikern den Charakter der gesellschaftlichen Teilverbände eingehend untersucht: "es sind fixierte, geschlossene, hierarchisch angeordnete Stände"28. Stahl spricht sich immer wieder für die "natürliche Gliederung der Gesellschaft"29 aus, diese Gliederung hat aber äußerst wenig mit dem Anliegen der gemischten Verfassung zu tun, denn es ist nicht Stahls Ziel, verschiedene Gruppen am Staat zu beteiligen, sondern im Vordergrund steht für ihn der umge27 Zum Organismus-Gedanken bei Görres s. o. Anm. 9 und 11; ferner: Deutschland und die Revolution S. 136, 144, 151; bei A. Müller: Die Elemente der Staatskunst, I. Halbband S. 181. Siehe zum romantischen Organismusgedanken und zur organischen Staatsanschauung bei Schlegel: Baxa, romantische Staatswissenschaft 238; Hendrix 20 - 24, 119, 126; Heiner, Friedrich Schlegels organisches Ganzheitsdenken; speziell zur Uber- und Unterordnung: Baxa, romantische Staatswissenschaft 69 unten. Bei MüHer: Busse, Die Lehre vom Staat als Organismus; Baxa, Müllers Philosophie 77 - 83; Friedrich Müller 99, 107 ff. Bei Görres: Brüggemann 70 ff.; Dörr 59; Friedrich Müller 97; speziell dazu, daß der Akzent auf der je besonderen Aufgabe und der Hierarchie liegt: Brüggemann 107; Dörr 61 f. im Vergleich mit Platons Ständelehre; dazu auch: Dempf 97, 100 ff. Bei Baader: Siegl23 - 28, 35 ff., 65 ff.; Friedrich Müller 97. 28 Friedrich Müller 96 mitte, über die Starrheit des Ständesystems bei Schlegel auch S. 131, vgl. ferner S. 94 zum fixierten Charakter der Stände in den romantischen Staatskonzeptionen allgemein. !e Stahl, Die gegenwärtigen Parteien, S. 328 unten; s. a. 310 f.; Rechtsphilosophie S. 61 mitte über die "gesunde Gliederung der vermögenerzeugenden Stände"; Reden 1850, S. 15 über die "einheitlich gegliederte Existenz" im Gegensatz zu den Dezembergesetzen, die das Volk "in seine Atome pulverisiert" haben.

8 Wember

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6. Kapitel

kehrte Gedankengang: den Menschen sollen verschiedene Stellungen zugewiesen werden30 • Hinzu kommt ein zweites wichtiges Argument gegen den Mischungscharakter des romantischen Ständestaats. Denn wer sind eigentlich die Stände, die Säulen, die diesen Staat tragen, verglichen mit den tatsächlichen Gruppen der Bevölkerung? Selbst wenn zwischen den Priestern, dem erblichen Adel und dem Bürgertum ein politisches Gleichgewicht besteht, und wenn man feststellen kann, daß bezogen auf diese drei Gruppen die Verfassung nach der Konzeption mancher Autoren tatsächlich eine gemischte Verfassung ist, so bedeutet doch ein Gleichgewicht zwischen diesen drei Ständen keineswegs ein Gleichgewicht zwischen den gesellschaftlichen Gruppen der damaligen Zeit; die Verfassungsvorstellungen sind bei den genannten Autoren durchweg altständisch31• - Es ist ein gewaltiger Unterschied, ob es jemandem darum geht, die verschiedenen Gruppen an der Verfassung zu beteiligen, oder ob man die Absicht verfolgt, künstliche Gruppenschranken zu errichten, bzw. überkommene Gruppenschranken künstlich aufrecht zu erhalten. Wenn man nur nach der rein äußerlichen Erscheinungsform geht, mag beides große Ähnlichkeiten aufweisen, aber so einfach kann man bei der Beurteilung von Verfassungsverhältnissen nicht verfahren; die 30 Mit dieser Auffassung, daß an erster Stelle die Einheit des Staates steht und dann erst deren Gliederung erfolgt, und daß sich nicht umgekehrt die Gemeinschaft aus den Ständen zusammensetzt, steht Stahl im Gegensatz zu den eigentlichen Romantikern: "Sie (die Richtung der Anhänger der ständisch konstitutionellen Monarchie, zu der sich Stahl bekennt) ist im Gegensatz gegen die bloß Ständischen gegen die Annahme, daß die Stände völlig in sich geschlossene Körper sind, welche die ganze Stellung des Menschen ausmachen, und erst verbunden werden zu Einem Volk oder Staat; es soll die Gemeinschaft der Nation das erste sein, das alles andere trägt, in welchem alles seine Wurzel und seinen Zusammenhang hat. Erst auf dieser Grundlage und nur für einzelne gewisse Beziehungen sollen die Menschen sich in Klassen und Stände sondern und gruppieren." (Die gegenwärtigen Parteien, S. 329 unten). - Zum Verhältnis von Gleichheit und ständischer Gliederung s. a. Reden 1850, S. 24, 52. 31 Eine Zusammenstellung der Ständelehren der romantischen Staatsdenker bei Friedrich Müller S. 119 Anm. 140. - Zur ausdrücklichen Rechtfertigung der altständischen Ordnung und zur Verteidigung der Erblichkeit des Adels s. Görres, Deutschland und die Revolution 105 unten, 150, 170 f.; Schlegel Bd. 13 S. 151 - 154; Stahl, Reden 1850, S. 23. - Darstellungen und Kritiken der Ständelehren finden sich in der Sekundärliteratur für Schlegel: Baxa, romantische Staatswissenschaft 138 -140; Hendrix 28 - 36, 125 -129; H. Brandt 72 f. (zu den insgesamt nur geringen Mitwirkungsrechten der Stände); für A. Müller: Baxa, romantische Staatswissenschaft 168, 185; Baxa, Müllers Philosophie 80; E. R. Huber 63 - 67; H. Brandt 67 - 69; Friedrich Müller 107 f., 120; für Görres: Baxa, romantische Staatswissenschaft 195 - 197; Brüggemann 66 f., 104 - 109 (inwiefern die Stände bei Görres nicht mehr altständisch, sondern als Berufs- bzw. Leistungsstände konzipiert sind); Dörr 61 f.; Dempf 96 f., 99; für Baader: Baxa, romantische Staatswissenschaft 252 f.; Friedrich Müller 118, 119 f.; für Stahl: D. Grosser 88 - 94; Heinrichs 90 - 92 (daß die Aufrechterhaltung der bestehenden Ordnung zum Begriff der Gerechtigkeit gehört); H. Brandt 106 -112; Friedrich Müller 117, 121 f.

B) F. Schlegel, J. Görres, A. Müller, F. Baader, F. J. Stahl

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gemischte Verfassung ist nicht an äußerlichen Kriterien ablesbar: die Existenz verschiedener Gruppen und deren Beteiligung an den Verfassungsrechten reichen ohne Berücksichtigung des Zwecks nicht hin; im Gegenteil, das bloße Aufrechterhalten von Gruppenunterschieden dient nicht dem Gruppenausgleich und der Eintracht, es pervertiert den Zweck der gemischten Verfassung. In diesem Fall wird ein Aspekt oder ein Bestandteil der gemischten Verfassung herausgenommen und als Selbstzweck verfolgt, insofern könnte man auch von einer Radikalisierung der Verfassungsmischung sprechen. - Bei der gemischten Verfassung in ihrem eigentlichen Sinn ist vorausgesetzt, daß die zu beteiligenden Gruppen die wirklich vorhandenen Gruppen der Gesellschaft sind; wenn aber umgekehrt rechtlich existierende Gruppen gegen die realen aufrechterhalten werden müssen, dann ist das Sicherung von Privilegien und kein Mittel zur Verfassungsmischung. Oben wurde darauf hingewiesen, daß sich die Romantiker im Zusammenhang der sozialen Frage mit der Eingliederung der mittellosen Arbeiter in die Gesellschaft beschäftigen. Franz Baader schlägt die Vertretung der Proletarier in der Ständeversammlung vor, und zwar sollen sie "das Recht der Repräsentation als Advokatie" erhalten32, das bedeutet konkret, daß die Geistlichen deren Bitten und Beschwerden vortragen sollen, jene bekommen hierdurch ein Recht, das früher Leibeigenen und Hörigen zustand; mit gleichen politischen Rechten wie denen der anderen Stände hat das nichts zu tun, von gleichem politischen Gewicht ganz zu schweigen. So muß gefragt werden, was bei diesem Konzept überwiegt, die Beteiligung einer weiteren großen gesellschaftlichen Gruppe und damit ein Schritt zur Verfassungsmischung, oder aber die Vorenthaltung von gleichen Rechten. Eindeutig ist diese Frage bei Friedrich Julius Stahl beantwortet: Er spricht sich gegen eine große Kluft zwischen den Klassen aus und für eine Verbesserung der Situation der Arbeiter, aber er will dieser Gruppe - von ihm selbst als Klasse bezeichnet - nicht einmal innerhalb seines ständischen Systems eine Organisation zur politischen Vertretung ihrer Interessen zugestehen, wie es immerhin andeutungsweise Baader fordert. Nach Stahl soll die Abhängigkeit der Arbeiter von den Fabrikherren noch durch obrigkeitliche Rechte der letzteren abgesichert werden33• Eine materielle Verbesserung der Situation der Arbeiter 31 Franz Baader, Gesellschaftslehre S. 241; zum Recht der Repräsentation als Advokatie: Baxa, romantische Staatswissenschaft 257; Benz 109 ff.; Siegl 51 unten; Friedrich Müller 126. 31 Stahl, Rechtsphilosophie S. 74; s. a. S. 63 unten (hier wird dies als erweitertes germanisches Prinzip gefordert); Die gegenwärtigen Parteien, S. 283285. Zur Verbesserung der Situation der Arbeiter im einzelnen: Rechtsphilosophie S. 73.

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6. Kapitel

kann zweifellos dadurch erreicht werden, daß den Fabrikherren eine Fürsorgepflicht für jene auferlegt wird, aber eben daran wird deutlich, daß eine Verbesserung der materiellen Lage einer minderbegünstigten Schicht der Bevölkerung und auch der Abbau einer allzu großen Kluft zwischen den Klassen nicht schon deshalb etwas mit gemischter Verfassung zu tun hat. Stahls Konzept ist das Gegenteil von möglichst gleichmäßiger Beteiligung aller Gruppen, es ist ein Konzept zur Befestigung der Herrschaft der Reichen3'. - Auch die Bemerkungen Stahls zum Mittelstand liegen nicht auf der Ebene dessen, was hier Verfassungsmitte genannt wird, denn der von Stahl angestrebte große Mittelstand hat nicht die Funktion eines Mittlers zwischen den Extremen oder gar eines Standes als Ausgangsbasis für eine allgemeine Nivellierung. Für den Mittelstand gilt das ständische Prinzip, die Mitglieder des Mittelstands sollen über die Angehörigen niederer gesellschaftlicher Gruppen zu sagen haben; das ständische Prinzip ist nach Stahl aristokratisches Prinzip: die Unterschiede sollen verfestigt werden und das jeweils Höhere soll dominieren85 • Unberücksichtigt blieben in unserer Darstellung die Passagen in den Werken der Romantiker, wo von der Mischung von Verfassungsprinzipien gehandelt wird, ohne daß diese Prinzipien bzw. die daraus resultierenden Arten von Mischungen in direktem Zusammenhang zu den verschiedenen Bevölkerungsgruppen stehen86, denn dies betrifft nicht die Themenstellung der vorliegenden Untersuchung, allerdings wird hierauf noch genauer eingegangen im Kapitel 12. 3& Siehe dazu auch: Stahl, Reden 1850, S. 15; zur Kopfzahlwahl heißt es: "Es ist eine unerträgliche Tyrannei, daß die gebildete und besitzende Klasse der Mehrzahl der Besitzlosen Preis gegeben werden soll." Diese Klasse wird als "die eigentliche Nation" und als der "Kern der Bevölkerung" (S. 17) bezeichnet. Zu den Herrschaftsrechten des Grundadels, der auf Vermögen beruht, s. S. 23. 35 s. Friedrich Müller 128, vgl. a. S. 137. 38 Bei Görres siehe hierzu: Deutschland und die Revolution S. 128, 143 unten, 146 ff., 151, 152 oben. 'Ober Görres' Verbindung von republikanischem und despotischem Prinzip (bzw. die Mitte zwischen Freiheit und Bindung): Brüggemann 62 - 65, 85 unten, 109 unten; Dempf 98 f.; Dörr 59 - 61. (Beachte aber die relative Unwichtigkeit des Staatsformproblems für Görres: Hendrix 22 f., 120; Anette Kuhn 142 unten f., 149.) - 'Ober den Ausgleich und das Gleichgewicht der verschiedensten Prinzipien und Gegensätze: Dörr 62 - 65, Würtenberger 281; Brüggemann 112. - Bei A. Müller siehe zur Notwendigkeit von monarchischen und demokratischen Elementen in einer guten Verfassung: Die Elemente der Staatskunst, I. Halbband S. 180. über die soziale Harmonie als richtige Proportion zwischen den Geschlechtern und den Lebensaltern (als den gegensätzlichen Prinzipien, aus denen sich alle anderen Unterschiede herleiten): Baxa, romantische Staatswissenschaft 168. - 'Ober Schlegels Vorstellung von der vollkommenen Republik als Mischung der drei Staatsformen im Sinn einer Verbindung von Gleichheit, 'Ober- und Unterordnung und Ganzheit: Baxa, romantische Staatswissenschaft 69, 136 f.; Hendrix 21; Anette Kuhn 141 f. Die Interpretation der mittelalterlichen Verfassung als gemischter Verfassung: Baxa, romantische Staatswissenschaft 243 f.

B) F. Schlegel, J. Görres, A. Müller, F. Baader, F. J. Stahl

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Zusammenfassend ist festzustellen, daß ein ständischer Staatsaufbau mit gliedhafter, fixierter, hierarchisch eingeordneter Stellung der Stände nicht dem Konzept der gemischten Verfassung entspricht, und selbst wenn im Gegensatz zu einer starren Hierarchie ein Gleichgewicht der Stände besteht, bezieht sich dies Gleichgewicht bei den romantischen Staatsdenkern auf die drei altherkömmlichen Stände des erblichen Adels, der Geistlichkeit und des Bürgertums, eine gemischte Verfassung besteht also nur unter Abstraktion der neuen gesellschaftlichen Struktur und bei Ausklammerung neuer gesellschaftlicher Gruppen, und die Beschäftigung mit der Frage der Einbeziehung dieser neuen Gruppen und des Ausgleichs zwischen Reichen und Armen zeitigte nur sehr unzureichende Antworten. - Wer an einer ehemals gültigen Form der gemischten Verfassung lediglich festhält, liefert keinen Beitrag zu ihrer Anwendung im Zeitalter der Gleichheit; es werden nur alte Formen gegen die Gleichheit ins Feld geführt und keine neuen Mischungsformen bei gleichzeitiger staatsbürgerlicher Gleichheit gesucht. Wenn man alte Formen auch unter neuen Bedingungen festhalten will, wirken sie z. T. noch starrer als früher; eben wegen ihrer Stoßrichtung gegen die Gleichheit werden die Unterschiede als solche betont, was dann u. U. so weit geht, daß unterschiedliche Rechte künstlich aufrechterhalten werden müssen, oder gar politische Mitwirkungsrechte bestimmten Gruppen wieder entzogen werden, was auf eine Radikalisierung eines einzigen Aspekts der gemischten Verfassung - die vorausgesetzte Existenz unterschiedlicher Gruppen - hinausläuft.

7. Kapitel TOCQUEVILLE

Verfassungsmischung unter den Bedingungen des Mehrheitsprinzips I. Tocquevilles Stellungnahme zur Theorie der gemischten Verfassung 1. Die Unmöglichkeit einer gleichmißig gemischten Verfassung

Tocqueville ist ein Denker, der sich wie kaum ein anderer mit den Problemen beschäftigte, die daraus entstanden, daß die moderne Demokratie die Gleichheit der Staatsbürger gebracht hat. Ihm fiel das Neue und Andersartige der Gleichheit auf, und zwar deshalb, weil er mit dem Gedankengut des Ständestaates noch vertraut war. Dieser Gegensatz war geradezu der Anstoß für sein Werk "Über die Demokratie in Amerika", und die Gegenüberstellung von moderner Demokratie und alter Aristokratie zieht sich wie ein Leitfaden durch sein Buch. Deshalb können wir uns gerade von Tocqueville einiges zur Beantwortung unserer Frage erhoffen, ob die gemischte Verfassung im modernen Gleichheits-Staat überhaupt noch von irgendeiner Bedeutung ist. Im Gegensatz zu vielen Denkern seiner Zeit setzt er sich expressis verbis mit dem "gouvernement mixte" auseinander. Beginnen wir gleich mit dieser Stelle: "Ich meine, daß man zum Erhalten der Freiheit nicht mehrere Grundsätze in der gleichen Regierung vermischen kann, so daß sie einander in Wirklichkeit entgegen stehen. Die Regierung, die man die gemischte nennt, ist mir stets als ein Hirngespinst erschienen. Es gibt in Wahrheit keine gemischte Regierung (in dem diesem Wort unterlegten Sinne), denn in jeder Gesellschaft entdeckt man schließlich eine Richtlinie des HandeIns, die alle anderen beherrscht. England, auf das man als Beispiel einer solchen Art von Regierung besonders hingewiesen hat, war im letzten Jahrhundert ein von Grund auf aristokratischer Staat, obwohl sich einzelne bedeutende demokratische Züge darin vorfanden; denn gemäß der dort bestehenden Gesetze und Sitten mußte die Aristokratie mit der Zeit immer den Vor-

Tocqueville

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rang erhalten und die öffentlichen Angelegenheiten nach ihrem Willen lenken. Der Irrtum entstand dadurch, daß man angesichts des ständigen Ringens zwischen den Interessen der Großen und denen des Volkes nur an den Kampf statt an das Ergebnis dieses Kampfes dachte, auf das es ankam. Bildet sich in einer Gesellschaft wirklich eine gemischte, d. h. eine durch zwei gegnerische Grundsätze gleichmäßig gespaltene Regierung, so beginnt die Revolution, oder die Gesellschaft löst sich auf. So denke ich, daß man immer irgendwo eine soziale Macht allen anderen überordnen mußl." Die gemischte Verfassung gibt es also gar nicht; nur ein Prinzip kann regieren. Das klingt sehr modern, der vorletzte Satz erinnert sogar ein wenig an Hobbes: wenn es zwei Souveräne gäbe, dann wäre das nicht etwa eine besondere Staatsform, sondern schlichtweg der Beginn des Bürgerkriegs2• 2. Das Erfordernis der gemlßigten Verfassung

Aber sehr im Gegensatz zu Hobbes ist Tocqueville mit der Schlußfolgerung aus seiner Erkenntnis, daß eine soziale Macht immer allen anderen übergeordnet werden muß, keineswegs zufrieden, sondern er fährt fort: "Ich halte jedoch die Freiheit für bedroht, wenn diese Macht auf kein Hindernis stößt, das ihren Schritt aufhalten und ihr Zeit lassen kann, sich zu mäßigen ... Sehe ich also, daß irgendeiner Macht das Recht und die Befugnis, alles zu tun, eingeräumt wird, nenne man sie Volk oder König, Demokratie oder Aristokratie, werde sie in einer Monarchie oder einer Republik ausgeübt, so sage ich: hier ist der Kern zur Tyrannei3." Die Ablehnung der gemischten Verfassung beruhte auf der ihr von Tocqueville gegebenen ungemein engen Definition; gemischt ist für ihn identisch mit: gleichmäßig gemischt; und seine Behauptung, eine gemischte Verfassung gäbe es gar nicht, bezieht sich nur auf die Gleichmäßigkeit der Mischung. Dagegen sind Mischungen in geringerem Ausmaß nicht nur erwünscht, sondern zwingend erforderlich, wenn der Staat nicht zur Tyrannei werden soll. Aber solche Mischungen in geringerem Ausmaß entsprechen nicht der Terminologie Tocquevilles; davon zu sprechen verbietet, wie gesagt, seine Definition. Statt dessen gebraucht er den uns inzwischen ebenfalls geläufigen Begriff der Mäßigung. 1

2 3

1/290. Thomas Hobbes, Leviathan, S. 147 (vgl. Kap. 2 Anm. 65). Tocqueville 11290 f.

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7. Kapitel

Aber wie der Ausdruck auch lautet, von einer Frontstellung gegen das Anliegen selbst kann keine Rede sein, im Gegenteil, dies ist von geradezu selbstverständlicher Bedeutung; und was Tocqueville hiermit erreicht sehen will, ist nicht nur ein Ziel unter anderen, sondern fällt mit der für ihn wichtigsten Aufgabe zusammen: Der Sicherung der Freiheit unter den Bedingungen der Gleichheit. - Fahren wir mit dem Zitat fort; Tocqueville spricht von der geringen Gewähr gegen die Tyrannei und sagt: "Erfährt ein Mensch oder eine Partei in den Vereinigten Staaten eine Ungerechtigkeit, an wen soll er sich wenden? An die öffentliche Meinung? Sie ist es, die die Mehrheit bildet; an die gesetzgebende Versammlung? Sie stellt die Mehrheit dar und gehorcht ihr blind; an die ausübende Gewalt? Sie wird durch die Mehrheit ernannt und dient ihr als gefügiges Werkzeug; an das Heer? Das Heer ist nichts anderes als die Mehrheit in Waffen; an das Geschworenengericht? Das Geschworenengericht ist die mit dem Recht zum Urteilsprechen bekleidete Mehrheit ... Stellt euch dagegen eine gesetzgebende Körperschaft vor, die in ihrer Zusammensetzung die Mehrheit vertritt, ohne notwendig Sklave ihrer Leidenschaften zu sein; eine ausübende Gewalt, die eine ihr eigene Stärke besitzt, und eine Gerichtsgewalt, die von den beiden anderen Gewalten unabhängig ist; ihr habt noch immer eine demokratische Regierung, aber die Tyrannei hat da fast keine Aussichten'." Das letztere klingt bekannt: Gewaltenteilung zur Mäßigung der Herrschaft. Aber der Absatz davor wirft für unseren Zusammenhang einige Probleme auf: der potentielle Tyrann ist die Mehrheit. Früher war das immer eine bestimmte Person oder eine konkrete, abgrenzbare soziale Gruppe. Auch für Tocqueville geht es bei der Frage der Verfassungsmischung am Anfang des Zitats um soziale Mächte; und der Zweck der Verfassungs-Mäßigung lautet, der dominierenden Macht ein Hindernis entgegen zu setzen. Das Beispiel Englands vom Gegensatz von Aristokraten und dem Volk gab den anschaulichen Hintergrund für die allgemeinen Aussagen. Kann man aber die Mehrheit, die offenbar die dominierende soziale Macht in den Vereinigten Staaten ist, und die möglicherweise zum Tyrann wird, auch als eine bestimmte Bevölkerungsschicht verstehen? Oder ist die Mehrheit, die doch in einer Demokratie gleicher Staatsbürger nicht mit einem bestimmten Personenkreis auf Dauer identisch ist, ein modernes Verfassungsprinzip, das zwar nach wie vor Probleme der Tyrannei aufwirft, aber wegen der anderen Staatsstruktur auch andere und neue Wege zur Mäßigung oder Verfassungsmischung erforderlich macht? , 1/291 f.

Tocqueville

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11. Das Grundprinzip der modemen Gesellscl1aftsstruktur: Gleichheit oder Ungleichheit? 1. Die Herrschaft der Mehrheit als Herrschaft der Armen

Die Beantwortung der Frage, was man unter "Mehrheit" verstehen soll, führt uns zur Klarstellung eines wichtigen Problems über die Struktur der modernen Gesellschaft. Für die erste Annahme, daß die Mehrheit als bestimmte Bevölkerungsschicht aufgefaßt werden muß, sprechen Tocquevilles Ausführungen über die drei Klassen (classes), die es in jedem Volk gibt. Als solche nennt Tocqueville: die Reichen, die mittlere Klasse oder den Wohlstand und die Armen, die wenig oder nichts besitzen und die von der Arbeit leben, die ihnen die beiden anderen verschaffen. Die Klassen sind je nach Gesellschaftsordnung verschieden zahlreich, "niemand aber könnte bewirken, daß es diese Gruppen nicht gibt"'. Tocqueville spielt gedanklich die drei Möglichkeiten durch, daß jeweils eine dieser Gruppen allein die Gesetze macht, und in diesem Zusammenhang heißt es: "Man wendet mir noch ein: wer hat jemals daran gedacht, die Armen allein mit dem Erlassen von Gesetzen zu betrauen? Wer? Diejenigen, die das allgemeine Stimmrecht eingeführt haben! Macht die Mehrheit oder die Minderheit die Gesetze? Ohne Zweifel die Mehrheit; und wenn ich nachweise, daß die Armen stets die Mehrheit bilden, hätte ich dann nicht Recht, beizufügen, daß die Armen in den Ländern, wo sie das Stimmrecht haben, das Gesetz allein machen? Nun ist es sicher, daß bis jetzt in allen Nationen der Welt die größere Zahl sich immer aus den Besitzlosen zusammensetzte oder aus solchen, deren Besitz zu klein ist, als daß sie ohne zu arbeiten im Wohlstand leben könnten. Das allgemeine Stimmrecht gibt also tatsächlich den Armen die Regierung der GesellschaftS." Das ist eine klare Antwort auf unsere Frage: die "Mehrheit" ist eine Bevölkerungsschicht, die sich in der sozialen Stufenleiter genau lokalisieren läßt. Aber wenn das stimmt, dann gibt es keine Gleichheit, und das widerspräche doch dem Ausgangspunkt für Tocquevilles ganzes Werk. Dies beginnt mit der Gleichheit der Bedingungen (l'egalite des conditions)1, die Tocqueville in den Vereinigten Staaten vorfindet, und deren Auswirkungen er untersuchen will. 2. Die fortscltreitende Egalisierung

In einem kurzen Abriß schildert Tocqueville die gesamte Geschichte seit dem Mittelalter als einen Prozeß zunehmender Egalisierung: er 6

6 7

11240 (1/216). 11241.

1/5 (1/1).

7. Kapitel

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vergleicht diese Entwicklung sogar mit den Bahnen der Sterne, und er erkennt, daß sich diese Entwicklung auch gegen Bürger und Reiche wendet, also zu einer völligen Egalisierung führt8 • Für Amerika spricht Tocqueville davon, daß die Gesellschaftsordnung höchst nivelliert seio, und dies äußere sich in ziemlich gleichem Besitz und gleicher Ausbildung lO, gleichen Interessen und gleichen Lebensbedingungenll • Die Gleichheit läßt sich überhaupt nicht verhindern, weil es sich um einen Prozeß von geradezu naturgegebener Gesetzlichkeit handelt; und dies stellt Tocqueville nicht nur fest, sondern er begrüßt diese Entwicklung, weil die Gleichheit gerechter sei als die Ungleichheit. Das einzig verbleibende Problem ist die Frage, ob es sich um eine Gleichheit in Freiheit oder eine Gleichheit im Despotismus handeJt12. Diesem Problem gelten alle seine Untersuchungen, von denen das ganze Buch lebt, und die permanent nach den Auswirkungen der Gleichheit fragen, und zwar sowohl auf die politischen Verhaltensweisen, als auch auf das Denken, das Fühlen und die Sitten. 3. Die bleibende Ungleidlheit

Gleichheit ist also vorhanden; aber trotzdem zeigen gerade die Stellen, in denen Tocqueville dies darlegt, daß die Gleichheit in gewissem Sinn doch nicht erreicht wurde. So sagt er, daß es sozusagen keine Klassen (classes) mehr gebe, und die noch bestehenden in ihrer Zusammensetzung so unbeständig seien, daß die Körperschaft (corps) nicht wirkliche Macht über ihre Mitglieder habe13 • Das heißt doch, daß es sehr wohl Klassen gibt, wenn auch deren Charakter gegenüber früheren Gemeinschaftsformen sehr verschieden ist: Unbeständigkeit und andere Machtstruktur werden angedeutet. - Ferner heißt es, daß die Gleichheit in den Vereinigten Staaten ein bewegtes und zugleich einförmiges Bild biete. Einförmig, weil Geburt, Stand und Beruf nicht oder nur kaum unterscheiden; und bewegt deshalb, weil die Gleichheit in Form von jedermanns Anstrengung für einen persönlichen Aufstieg zu sehr sichtbaren Unterschieden führt, Unterschiede nach Geld, die einige über jeden Vergleich erheben14• - Auch ist zu lesen, daß es trotz der Gleichheit eine Trennung der Menschen gebeU, und daß die Gleichheit die 1/6-9. I/54. 10 1/60.

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1/69, 76, 282, 286. 1/61, 364; 2/311 f. 2/16 (2/12). 2/246 f.

2/19.

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Amerikaner naturgemäß in eine Menge kleiner Sondergesellschaften teiIt1'. Die Gleichheit selbst ist es, d. h. die Tatsache, daß niemand von Gesetzes wegen einem bestimmten Stand zugeordnet ist, die zu neuer Ungleichheit führt: niemandem sind prinzipielle Schranken gesetzt, seinen Reichtum vergrößern zu wollen, und hierbei sehen sich die Menschen in einem Wettkampf einander gegenüber17• Das führt sehr wohl zur Ausbildung des Gegensatzes von Armen und Reichen18. Tocqueville sagt zwar, daß die Reichen keine Körperschaft darstellen19, aber trotzdem vergleicht er sie mit der alten Aristokratie und stellt fest, daß sie inmitten des Staates eine Gesellschaft für sich bilden!o. Überdies vertritt Tocqueville die Auffassung, daß wirkliche Gleichheit wegen der natürlichen Ungleichheit der Menschen nicht möglich ist!1; und beides zusammen, die ungeheure Macht der Gleichheitsforderung, die nach Tocqueville den gesamten Geschichtsprozeß prägt, und die Unmöglichkeit, vollständige Gleichheit zu erreichen, bringt er auf die Formel, daß die Gleichheit nahe genug ist, um vertraut zu sein, aber fern genug, um ungenossen zu bleiben2!. Wohlgemerkt ist diese Auffassung Tocquevilles von den bestehenden Ungleichheiten im Staat der rechtlichen Gleichheit keineswegs identisch mit der Marxschen Entlarvung der Ungleichheit. Nach Marx hat die bürgerliche Gleichheit nur formalen Charakter; faktisch ist die Gesellschaft vom Klassengegensatz geprägt. Demgegenüber sieht Tocqueville zwar ebenfalls die Unterschiede, aber das, was an Gleichheit da ist, ist nach seiner Meinung von immenser Bedeutung, und zwar einerseits als Gleichheitsidee, die das Streben der Menschen tagtäglich prägt, ferner als vorhandene Chancengleichheit, aber auch als tatsächliche Nivellierung in bisher ungekanntem Ausmaß. - Auf eine Formel gebracht: Marx hält Gleichheit grundsätzlich für möglich, sieht aber für seine Zeit nur krasse Ungleichheit; Tocqueville dagegen glaubt nicht, daß wirkliche Gleichheit möglich sei, betrachtet aber den tatsächlich erreichten Grad von Gleichheit als sehr groß. Die Grundpositionen zur Beurteilung ihrer Zeit sind also bei beiden Denkern sehr verschieden; 16 2/234; zu Tocquevilles Sicht der modemen sozialen Differenzierungen: Feldhoff 27 f.; Zetterbaum 126; Live1y 77. 17 1/62; 2/50; 2/155; 2/246f. 18 Zu Tocquevilles Behauptung der nicht aufhebbaren Existenz dieser Klassen siehe oben bei Anm. 6; ansonsten zum Gegensatz der Reichen und Armen: 1/228,234, 273; 2/50 f., 120, 207, 271; zur speziellen Situation des Klassengegensatzes im industriellen Bereich s. u. Anm. 52. 18 2/172. 10 I/2M. 21 1/227 f., 240; 2/50, 155, 234. 22 1/227.

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gemeinsam ist aber - wie gesagt -, daß sie die Unterschiede der Menschen trotz der rechtlichen Gleichheit sehen; und welcher Art die Unterschiede sind, was die Besonderheiten moderner Gruppierungen ausmachen im Gegensatz zu den Ständen früherer Gesellschaften, das ist wichtig für die Frage nach einer entsprechenden neuen Form für die Verfassungsmischung.

111. Die Besonderheiten der neuen Formen von Gruppen im Staat 1. Vereine

Daß etwas Neues an die Stelle der alten Korporationen trat, wird von Tocqueville mehrfach dargelegt: Beständige und zwangsmäßige Körperschaften gaben früher der Gesellschaft ihren Zusammenhalt; jetzt aber sind die Menschen infolge der Gleichheit zusammenhanglos und schwach, deshalb machen sie sich stark durch Zusammenschlüsse in Form von freien Vereinen23 • Die Charakteristika der modernen Vereinigungen sind ihre freie Entstehung durch den Willen einzelner, ihre Unbeständigkeit, zum einen bedingt durch den jederzeit mögliehen Ein- und Austritt der Mitglieder, die nicht mehr zwangsmäßig zusammengehalten werden, ferner bedingt durch die häufig nur begrenzte Zielsetzung, nach deren Erreichen die Vereinigung sich wieder auflöst24 • Diese Mobilität und Funktionalität braucht aber der Wirksamkeit der Vereine keinen Abbruch zu tun, und zwar weder dann, wenn es sich um Zusammenschlüsse im bürgerlichen Leben (associations dans la vie civile) handelt, noch um die oft so mächtigen politischen Vereine (associations politiques)25. 2. Parteien

Eine weitere neuartige Organisationsform sind die Parteien, die sich in Wahlen um die Gunst der Wähler bemühen und die Mehrheit der Stimmen gewinnen wollen. Tocqueville grenzt sie nicht scharf gegen 13 21124; weitere Gegenüberstellungen der Stände der aristokratischen Gesellschaft und der Vereine der modernen Demokratie: 1/220; 21127, 135. Siehe ferner dazu, daß im modernen Staat der Gleichheit die ständischen Gewalten fehlen: 1/100, 109, 361 ff.; 2/305, 314, 322, 327 f. - Zur These Tocquevilles von der übernahme der Funktionen, die die Adligen oder großen Vasallen in der alten Gesellschaft ausübten, durch die modernen Vereinigungen vgl. a. Zetterbaum 30; Lively 142; Mayer, Tocqueville und Marx 8; Rau 46 f. 24 Zu den Grundlagen moderner Vereinigungen bei Tocqueville s. Rau 4749; Feldhoff 97 (zum Zusammenhang zwischen dem Prinzip der Gleichheit und der Assoziation). 25 Zu den positiven Funktionen der Vereinigungen allgemein: Helmut Göring 117; Zetterbaum 89 - 96; Rau 50 - 57,75 -79,110 f.; - zu den speziellen Funktionen der politischen Vereinigungen s. u. Abschn. IV 1.

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die politischen Vereine ab28, denn auch von diesen sagt er, daß sich ihre Größe in den allgemeinen Wahlen zeige27 • Beiden ist das Ziel gemeinsam, Einfluß auf die Gestaltung der politischen Verhältnisse zu gewinnen; bei den Parteien aber konzentriert sich die Tätigkeit vornehmlich auf die Wahlen; was jedoch nicht bedeutet, daß sie für die Abhaltung von Wahlen in dem Maß zwingend erforderlich wären, wie uns das heute geläufig ist. Nur bei den Präsidentschaftswahlen behandelt Tocqueville die Rolle der Parteien28• Nicht dagegen bei den Wahlen zu den gesetzgebenden Körperschaften, was davon zeugt, daß hier die unmittelbare Persönlichkeitswahl von zumindest größerer Bedeutung ist. Als Hauptunterschied, nach dem sich die Parteien voneinander unterscheiden, nennt Tocqueville die Frage, ob sie die öffentliche Gewalt beschränken oder erweitern wollen. Dieser Unterschied verknüpft sich allerdings mit dem Gegensatz der reichen und ärmeren Bevölkerungsgruppen. Bei den amerikanischen Verhältnissen zur Zeit Tocquevilles sieht das so aus, daß die Partei der Oberschicht die Stärkung der öffentlichen Gewalt befürwortet, die Partei der Unterschicht sich dagegen für größere Freiheit einsetzt; und der Leser kann zum Eindruck gelangen, daß dieser Unterschied nach arm und reich für Tocqueville doch mindestens ebenso wichtig ist wie jener andere29 • 3. Soziale Schichten

Vereine und Parteien sind Gemeinschaftsformen neuer Art. Betrachten wir aber auch noch das ganz alte und meist primäre Unterscheidungskriterium für Gruppenbildungen innerhalb einer Gesellschaft, die soeben mitangesprochene Unterscheidung nach der Menge des Besitzes. Wie oben mehrfach dargelegt, existieren selbstverständlich soziale Schichten dieser Art nach wie vor, aber auch diese Gruppen haben neue Charakteristika: Das Unterscheidungsmerkmal ist jetzt sozusagen ausschließlich das Geld3o, denn weil Geburt, Stand und Beruf nicht oder Z8 Feldhoff interpretiert Tocqueville dahin, daß die Parteien als Sonderform von politischen Vereinigungen anzusehen sind (S. 100); Rau arbeitet als Unterscheidungsmerkmale der politischen Vereinigungen im Gegensatz zu den Parteien heraus (S. 143 - 146): 1. die übereinstimmung in den politischen Vereinigungen besteht nur hinsichtlich eines ganz bestimmten Gegenstands, 2. sie gründen sich auf die konkreten Meinungen der Mitglieder und nicht auf Weltanschauungen, Rassen, Interessen. (- letzteres dürfte aber so allgemein als Unterscheidungskriterium kaum zutreffen.)

27 28

!9 80

1/223. 1/152. 1/198 ff.

s. besonders 2/247.

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nur kaum unterscheiden, gibt es keinerlei feste und vor allem keine dauerhaften Schranken zwischen den Schichten. Zu welcher Gruppe jemand gehört, hängt zum großen Teil von ihm selbst ab. - Die nur in Geld angebbaren Unterschiede stehen zwar im Zusammenhang mit den jeweils ausgeübten Tätigkeiten, aber gerade diese bestätigen noch mehr den mobilen Charakter der Gesellschaft und ihrer Schichten, denn die Arbeitsverhältnisse haben rein funktionalen Charakter, sie sind im Werdegang des einzelnen zeitlich begrenzt und begründen keine dauerhaften Unterschiedes1 . Mobilität und Funktionalität waren also wesentliche Eigenschaften bei allen von Tocqueville angesprochenen modernen sozialen Formen. IV. Die Mischungs-Konzeption

Wie sieht nun das Zusammenleben dieser Gruppen aus, d. h. für unseren Zusammenhang gefragt: spielt das Mischungs-Problem dabei irgendeine Rolle, ist eine Mischung der genannten Sozialgebilde für die Lösung der Probleme des Zusammenlebens von Nutzen oder sogar unbedingt erforderlich? 1. Die Macht der nicht dominierenden Gruppen

Was das Verhältnis des politischen Gewichts der einzelnen Gruppen zueinander angeht, ist die Schicht der ärmeren Bürger wie gesagt in der Mehrzahl und verfügt deshalb auf Grund des gleichen Wahlrechts über das größte politische Gewicht. Das wird von Tocqueville nicht nur als Realität der amerikanischen Demokratie zur Kenntnis genommen, sondern diese dominierende Stellung der ärmeren Bevölkerungsschicht wird von ihm gutgeheißens2 • Es besteht allerdings die Gefahr, daß diese Bevölkerungsgruppe, die auch Tocqueville - ähnlich wie Montesquieu - zuweilen als "Volk" bezeichnet33 , auf Grund ihrer Mehrheit allmächtig wird. Das wäre das Gegenteil vom Konzept der Beteiligung aller Gruppen an den Verfassungsrechten, das Gegenteil von gemischter Verfassung. Diesem Übel zu entgehen gilt Tocquevilles größtes Anliegen. Dem "Volk" spricht er deshalb eine Allmacht über die Minderheit ab, und weist ihm die Aufgabe eines Geschworenen-Gerichts zu, das die Gesellschaft in ihrer Gesamtheit zu vertreten habe34• Wie aber soll dies institutionell abgesichert werden, wer soll die Allmacht des Volkes 31

2/195 - 207; allerdings verhält sich dies im Bereich der Industrie anders

(s. Anm. 52).

Insbes.: 1/268 ff. Zum Volksbegriff s. z. B.: 1/205 (184); 1/289 f. (261 f.). u 1/289. 32

31

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bremsen, d. h. die Tyrannei der Mehrheit, die sich in jeglichen Verfassungs-Organen wiederfindet, wie Tocqueville es so eindrucksvoll geschildert hatte36, und wogegen deshalb mit einer Gewaltenteilung im Sinn einer bloßen Funktionstrennung noch nicht viel getan ist? Die Aufgabe einer solchen Schranke kann und muß von den modernen Vereinigungen wahrgenommen werden. "In unserer Zeit stellt die Vereinigungsfreiheit eine notwendige Sicherung gegen die Tyrannei dar ... Die Allmacht der Mehrheit erscheint mir als eine so große Gefahr für die amerikanischen Republiken, daß das gefährliche Mittel (der Vereinigungsfreiheit), dessen man sich zu ihrer Einschränkung bedient, mir noch immer als etwas Gutes vorkommtS6 ." Mit Hilfe dieser politischen Vereinigungen wehren sich die Menschen gegen das despotische Handeln der Mehrheit31 • Tocqueville gibt sich nicht der Hoffnung hin, daß eine Regierungsform allen sozialen Gruppen wirklich gerecht werden könnte. Wie wir schon oben gesehen hatten, scheidet eine wirklich gleichmäßig gemischte Regierung für ihn von vornherein aus. An anderer Stelle heißt es: "Die politische Form, die in gleicher Weise die Entwicklung und das Wohl aller Klassen der Gesellschaft fördert, ist bis jetzt nicht gefunden worden"; was ihn aber nicht hindert fortzufahren, es sei gefährlich, einer von ihnen, sei es den Armen oder den Reichen, das Los aller übrigen anheimzugeben38• Die Mittel, die Tocqueville für geeignet hält, die Macht der Ärmeren, d. h. der Mehrheit, zu mildern, sind mehrere: Die vertikale Gewaltenteilung, verbunden mit der Dezentralisation der Verwaltung, die horizontale Gewaltenteilung und die indirekte Wahl gehören hierher; aber die gerade beschriebene Institution der Vereinigungs-Freiheit, die von Tocqueville mit solcher Unbedingtheit als Voraussetzung gegen die Tyrannei der Mehrheit hingestellt wird3o, ist in unserem Zusammenhang von besonderer Bedeutung, weil dieses Mittel direkt darauf abstellt, den nicht dominierenden sozialen Gruppen politische Macht zu geben. Wirksam wird dies Mittel durch die moralische Kraft, die von der Stärke der Mitgliederzahl ausgeht, durch die Fähigkeit, weitere Mitglieder zu gewinnen und die bisherige Mehrheit zu schwächen, und durch die faktische Möglichkeit, die als unausgesprochene Drohung immer vorhanden ist, daß im äußersten Fall der völligen Mißachtung s. o. Anm. 4. 11220 (Klammer von Verfasser). 17 2/123 f.; zu den politischen Vereinigungen als Mittel gegen die Tyrannei der Mehrheit: Rau 135 -143; Feldhoff 92; Lively 142; Helmut Göring 115 -118. 38 1/268. ae Auch von Rau als wichtigstes Mittel ("Kern der Lösung") bezeichnet (S. 136, 148). 3&

38

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der Interessen einer großen politischen Vereinigung deren organisierte Spitze zu einer Nebenregierung wird40 • 2. Die Mischung aller Gruppen und das Mittelmaß

a) Mischung der Klassen

Verfassungsmischung gibt es aber bei Tocqueville in noch viel direkterem Sinn. Die oben aufgezeigten modernen gesellschaftlichen Kennzeichen der Funktionalität vieler Organisationen und der Mobilität ermöglichen eine Annäherung in Form von direktem Kontakt zwischen Mitgliedern verschiedener gesellschaftlicher Kreise, ein tatsächliches Vermischen aller Schichten, und auch die Herausbildung einheitlicher Lebensformen. "In demokratischen, gebildeten und freien Zeitaltern gibt es nichts, was die Menschen trennt oder was sie an ihrem Platz festhält; sie steigen und sinken mit einer eigentümlichen Schnelligkeit. Alle Klassen sehen siro unablässig, weil sie einander sehr nahe sind. Sie verkehren und mischen sich täglich, ahmen sich nach und beneiden sich41 ." Mehrfach bemerkt Tocqueville, daß die Klassen sich vermischenu, und hier wird aus Mischung das, was wir im Verlauf dieser Arbeit als Mitte bezeichnet hatten. Beide Begriffe tauchen bei Tocqueville auf, und der Gedanke der Mitte wird bei ihm von ganz herausragender Bedeutung, freilich ohne ausdrücklich an die alte Theorie anzuknüpfen. Mitte als mittlere Lebensform, als mittlerer Besitz und als gleicllmäßig verteilte politische Rechte hat bei Tocqueville die Bedeutung von Mittelmäßigkeit. Es fehlen die glänzenden und bedauernswerten Extreme in die eine wie die andere Richtung, aber diese Mittelmäßigkeit wird von ihm als neues und besseres Ziel angepriesen. b) Mittlere Lebensform

Die Herausbildung eines mittleren Lebensstils beginnt bei den äußeren Umgangsformen. "In den Demokratien sind die Umgangsformen niemals so verfeinert wie in den aristokratischen Völkern; nie aber erscheinen sie auch so roh. Man vernimmt weder die derben Worte des Pöbels noch die edle und gewählte Ausdrucksweise der großen Herren. Die Sitten haben oft etwas Gewöhnliches, aber sie sind weder brutal noch unterwürfig43 ." - "Es gibt sehr wenig verfeinerte und ganz grobe 40 41

42 4S

Ober die Stufen der Vereinigungsfreiheit: 1/217 - 219.

2/51.

1/362; 2/114, 146. 2/238.

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Vergnügungen, Höflichkeit im Benehmen kommt wie Rohheit im Geschmack selten vor44 ." über den Kontakt zwischen Menschen verschiedener Gruppen heißt es: "die neuen politischen Einrichtungen und die neuen Sitten führen dann Menschen an den gleichen Orten zusammen und zwingen sie oft zu gemeinschaftlichem Leben, die sich nach Erziehung und Gewohnheiten in höchstem Grade unähnlich sind; das erzeugt fortwährend ein buntscheckiges Gemiscll der Ausdrucksweise45 ." Zu diesem einheitlichen Lebensstil trägt insbesondere die allgemeine Schulbildung bei, was zu einem ähnlichen Mittelmaß führt: "Ich glaube, in keinem Land der Welt gibt es im Verhältnis zur Bevölkerung so wenig Unwissende und so wenig Gelehrte wie in Amerika ... (dort) herrscht durchweg ein Mittelmaß allgemeinen Wissens48 ." - "Wer den Bildungsstand unter den Angloamerikanern beurteilen will, wird Gefahr laufen, den gleichen Gegenstand von zwei verschiedenen Gesichtspunkten aus zu sehen. Achtet man nur auf die Gelehrten, so enttäuscht ihn deren kleine Zahl; und zählt er die Unwissenden, so erscheint ihm das amerikanische Volk als das bestunterrichtete auf Erden. Die ganze Bevölkerung steht zwischen diesen beiden äußersten Punkten47 ." Was nun die eigentlichen Sitten angeht, beobachtet und befürwortet Tocqueville eine vergleichbare Entwicklung. Es gibt weder große Tugenden noch grobe Sittenverderbnis, sondern die Sitten sind mild, die Gewalttätigkeiten selten, die Gesetzgebung menschlich48 • - Hier deutet Tocqueville die Vorstellung an, daß eine solche Mitte in Bezug auf die Sitten dem "Allgemeinmenschlichen" näherkommt. Die Begründung dafür, daß es sich hierbei um einen Fortschritt für die Menschheit insgesamt handele, findet sich in seinem Kapitel über die Ehre, in dem Tocqueville darlegt, daß die von ihm als Inbegriff von Sittenregeln verstandene "Ehre" in ausgeprägten Ständen die extremsten Formen annimmt und dadurch eine die Menschen trennende Wirkung bekommt, während diese Sittenregeln sich beim Verschwinden solcher Stände einem allgemeinmenschlichen Maßstab nähern49• u 2/356. 2/237. 46 1/60. 41 1/349. 48 2/140,356. 4' 2/257 f.; - Insofern läßt sich diese Gesellschaft auch als Mitte zwischen der Aristokratie und der (übersteigerten) Demokratie (wie sie in der französischen Revolution errichtet wurde) begreifen: Helmut Göring 94 - 97; Tocqueville aber spricht nicht von einer Mischung von Demokratie und Aristokratie, insofern ist Feldhoffs Charakteristik sehr treffend, der diese Gesellschaft als eine Demokratie mit Ersatzstrukturen für die freiheitssichernden Funktionen aus der alten Aristokratie bezeichnet (S. 127). 45

9 Wember

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Eine Zusammenfassung für dies Mittelmaß in allen Bereichen gibt Tocqueville in seinem Schlußkapitel: "Die Gegensätze sind fast durchweg gemildert und verwischt, fast alle hervorragenden Punkte verschwinden, um einem Mittelmaß zu weichen, das weniger hoch und weniger niedrig zugleich ist." In der Beurteilung kommt er zu folgendem Ergebnis: Im Vergleich mit dem Zustand, in dem es "sehr große und sehr kleine, sehr Reiche und sehr Arme, und sehr Gelehrte und sehr Unwissende gibt", kann man sich jeweils nur an dem ersteren erfreuen; aber nicht das besondere Wohlergehen einiger, sondern der Wohlstand aller ist der Maßstab; "die Gleichheit ist vielleicht weniger erhaben; sie ist aber gerechter und ihre Gerechtigkeit macht ihre Größe und Schönheit aus"50. c) Mittlerer Besitz

Oben war gesagt worden, daß die ärmeren Bevölkerungsschichten das größte politische Gewicht im Staat haben. Diese Aussage muß nach den Ausführungen über das Mittelmaß relativiert werden: Denn wer sind diese Ärmeren in einer Gesellschaft, in der es "weder großen Reichtum noch große Not" gibt, die gekennzeichnet ist durch die "große Zahl der kleinen Vermögen"51. Der Sache nach handelt es sich bei diesen relativ ärmsten um eine Art Mittelstand; denn daß die Extreme in der einen und anderen Richtung fehlen, gilt für die Vermögensverhältnisse nicht weniger als für die vorhin beschriebenen Bereiche. Zwar weist Tocqueville ausdrücklich auf eine unheilvolle Ausnahme hin: die entstehende Großindustrie, in der die Extreme auseinander klaffen52 ; aber ansonsten heißt es immer wieder, daß es sich in Amerika um eine Gesellschaft handelt mit wenig Not, allgemeinem Wohlstand, ansteigenden Löhnen, die zur Angleichung des Besitzes führen, zu einer Verringerung der gesellschaftlichen Unterschiede, alles in allem um einen großen Mittelstand53 . - Nicht zu vergessen die häufigen und zum 60 2/356 f.; s. a. die Argumentation auf S. 1/267 ff., 286. Vossler, der die These aufstellt, Tocqueville sehe die Entwicklung zu Gleichheit und Nivellierung nur als Dekadenz (S. 15), übersieht insbesondere die oben referierten Aussagen Tocquevilles zur sittlichen Bewertung des Mittelmaßes; s. a. Zetterbaum 21 - 40 zur Rechtfertigung der Demokratie, und zwar wegen der Ungerechtigkeit der Aristokratie (22 - 27), und wegen der allgemein-menschlichen bzw. natürlichen Moral, die in der Demokratie ermöglicht wird (34 ff.). 61 1/184; 2/356. Vgl. zu Tocquevilles Einschätzung eines mittleren Besitzes auch: Rau 76, 79 (Verteilung des Eigentums auf die Industriearbeiter); Feldhoff 71 (Tocquevilles Eintreten für eine Umverteilung der Steuerlasten). 52 2/175 -178, 208 f.; zu den Klassengegensätzen im Bereich der Großindustrie: J. P. Mayer, Tocqueville und Marx 5; Feldhoff 64 - 72; Rau 63 - 67, 7275 (dies letztere bezieht sich auch allgemein auf die Klassengegensätze nach einer Revolution).

63

1160 f., 202, 242, 274, 282. 323; 2/146, 173, 208, 271 f., 355 ff.

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Teil ausführlichen Hinweise Tocquevilles auf das amerikanische Erbrecht, das die Entstehung dieses Mittelstands und dieses Vermögensausgleichs stark begünstigt54• V. Der Zusammenhang von Mischung und Mitte Unter den modernen Gegebenheiten sind also zwei Mischungskonzeptionen möglich oder sogar erforderlich: Zum einen die Beteiligung aller Gruppen an der Macht, zwar nicht gleichmäßig, sondern mit Dominanz einer Gruppe: der Mehrheit; diese ist mehr oder weniger mit einer bestimmten sozialen Schicht identisch, aber sie ist keineswegs scharf abgegrenzt, und vor allem ist sie nicht allmächtig, sondern die Macht anderer Gruppen insbesondere in der Form von politischen Vereinigungen setzt ihr Schranken. Zum anderen ist das direkte Vermischen aller Gruppen für Tocqueville von großer Bedeutung, und zwar in Form von Kontakt zwischen diesen Gruppen, als Austausch und Durchlässigkeit zwischen den Schichten, und nicht zuletzt als Verschmelzen aller Schichten in einen großen Mittelstand mit gleichem Besitz und gleichem Lebensstil - dies alles ermöglicht durch die rechtliche Gleichheit und die Mobilität. Wie hängt beides miteinander zusammen? Die eine Art von Verfassungsmischung zielt auf Beteiligung aller Gruppen und auf Verhinderung der Allmacht einer einzigen, und das ist trotz neuer Probleme, wie einer wechselhaften Mehrheit, und neuer Formen, wie der Vereine und Parteien, das alte Konzept der gemischten Verfassung. Das andere zielt auf wirklichen Ausgleich, auf ein Vermischen im Sinne unseres Begriffs der Mitte. - Beides weist in die gleiche Richtung von verträglichem Zusammenleben oder "politischer Freundschaft". Aber dennoch bleiben beide Arten der Mischung etwas Verschiedenes. Denn das Hinwirken auf Vermischung, auf Gleichheit und Abbau aller Unterschiede ist etwas anderes, ja sogar das Gegenteil der Berücksichtigung der vorhandenen Unterschiede. Wäre nicht die einfachste Lösung des Zusammenhangs zwischen beidem ein zeitliches Nacheinander, bzw. ein Zweck-Mittel-Verhältnis? Bei zunächst vorhandener Ungleichheit soll eine Verfassungsmischung alle Gruppen beteiligen, um dadurch die Gegensätze zu entschärfen mit dem letzten Ziel einer völligen Aufhebung der Unterschiede, einer wirklichen Gleichheit, die dann freilich eine Mischung im ersten Sinn der Berücksichtigung aller gegebenen Unterschiede überflüssig macht. Eine solche Lösung mochte im Verlauf dieser Arbeit manchmal als das Naheliegende erscheinen, aber die Beschäftigung mit Tocqueville 54



1/55 ff., 324, 362, 405; 2/273.

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läßt uns zu einer anderen Schlußfolgerung kommen. Denn zeitlich läßt sich beides nicht trennen. Im Werk Tocquevilles haben wir hinreichend deutlich gesehen, daß es auch nach der Vermischung aller Schichten und nach Erreichung der Gleichheit immer irgend welche Unterschiede gibt. Gegensätze, die zu allen möglichen Spannungen und Kämpfen führen, mögen ausgeglichen werden, aber in der neuen Gleichheit tun keineswegs alle Menschen dasselbe, wohnen nicht am selben Ort, haben nicht denselben Beruf, und es gibt Verschiedenheiten mannigfacher Art. "Die Zeit läßt im gleichen Volk auf die Dauer stets unterschiedliche Interessen entstehen und bekräftigt verschiedenartige Rechte55." Dabei handelt es sich nicht um die resignierte Feststellung, daß eine wirkliche Gleichheit unmöglich ist. Denn auch ein eindeutiges Zweck-Mittel-Verhältnis läßt sich nicht konstruieren. Ein solches würde, wie gesagt, bedeuten, daß das Programm der politischen Beteiligung verschiedener Gruppen ausschließlich dem Zweck eines Ausgleichs diene, um letztlich die Unterschiede zwischen jenen Gruppen aufzuheben. Das aber scheidet schon deshalb aus, weil eine völlige Homogenität überhaupt kein Anliegen ist. Der Zweck ist ein sinnvolles Zusammenleben im Sinne der Eintracht oder der politischen bzw. gesellschaftlichen Freundschaft, wie wir es oben genannt hatten. Soweit faktische Gleichheit diesem Ziel dient, ist sie erforderlich und diesem Ziel hinderliche Unterschiede gilt es zu beseitigen, aber sinnvolle Unterschiede gilt es angemessen zu berücksichtigen. Das bedeutet, daß Berücksichtigen und Ausgleichen, Mischung und Mitte, stets gleichzeitig ihre Bedeutung haben. Man könnte einwenden, daß dieses Sowohl-als-auch auf eine seltsame Sisyphusarbeit von einem Beseitigen, dann aber einem Anerkennen der Unterschiede und wieder einem erneuten Gleichmachen hinauslaufe, wobei mal dieses Zweck für jenes, mal jenes Zweck für dieses sei. Demgegenüber mag eine allgemeine Bemerkung zum Verhältnis von Zweck und Mittel angebracht sein: Wenn man - i. S. der Abgrenzung von Handeln (praxis) und Herstellen (poiesis) - poietisch argumentiert, dann können institutionelle Formen mit ihrem Zweck identisch werden. Dann kann sowohl die Gleichheit ein Selbstzweck sein, als auch das Gleichgewicht zwischen verschiedenen Gruppen, dem dann jeweils alles andere als Mittel untergeordnet wird. Wenn aber der Zweck eine Praxis selber ist, dann kann diese nicht mit einer der institutionellen Formen, sei es Mischung oder Mitte, zusammenfallen; als verschiedene Mittel schließen sie sich im Hinblick auf einen solchen Zweck nicht gegenseitig aus. Dies führt uns in die Zweck-Problematik hinein.

55

1/134.

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VI. Der Zweck der Mischung der Klassen und des Mittelmaßes Interessanterweise schildert Tocqueville oft seine Beobachtung, daß trotz der Vermischung der Gesellschaftsschichten und trotz des Verschwindens der Gegensätze häufig kein gegenseitiges Wohlwollen entsteht, im Gegenteil, sich zuweilen sogar ein Haß verfestigt. Das gilt sowohl für abgeschaffte alte Standesgegensätze, die die bisherigen Aristokraten zu innerer Absonderung treibt, "und im Schoß der Gleichheit verewigt sich der Haß"58. Ein ähnliches Problem gibt es aber auch für einander wirklich Gleichgestellte: "Da jede Klasse sich den übrigen nähert und mit ihnen vermischt, werden ihre Angehörigen gleichgültig und einander gleichsam fremd 57 ." "Die Auf teilung des Besitzes hat den Abstand zwischen arm und reich verringert; aber diese Annäherung bringt ihnen neuen Anlaß sich zu hassen"58, wegen der Sucht nach noch größerer Gleichheit. - Tocqueville ist also kein Theoretiker der glaubt, durch institutionelle Veränderungen könne ohne weiteres so etwas wie Sich-verstehen, Freundschaft oder Eintracht erreicht werden. Dennoch ist außer Zweifel, daß es bei den genannten Mitteln um eben solche Ziele geht. Der gleiche Besitz und die gleichen politischen Rechte sollen und können zu gegenseitiger Achtung führen 59, die abgeschafften Rangstufen ermöglichen das Vertrauen, die politischen Einrichtungen bringen die Bürger aller Klassen miteinander in Verkehr, und wegen der gemeinsamen Unternehmungen liegt ihnen daran, sich zu vertragenso. Der große Mittelstand, d. h. "eine Gesellschaftsordnung, in der jeder etwas zu bewahren und wenig zu nehmen hat", dient dem Friedens1 . - Vor allem bringt Tocqueville das Argument, daß es bei der Existenz von Klassen gegenseitige Hilfe und wirkliches Mitgefühl nur innerhalb einer Klasse gibt; bei einem "gesellschaftlichen Ausgleich" aber überträgt sich das, was dort innerhalb einer Klasse gilt, auf das ganze Volk82• Es drängt sich die Frage auf, was denn überwiegt: das Erreichen des Ziels einer Solidarität, oder aber das Nicht-Erreichen und das Verbleiben in Mißgunst, Gegeneinander und Fremdheit. Eine präzise Antwort gibt Tocqueville nicht, und solange man das Verhältnis von Mittel und Zweck in der Politik nicht poietisch auffaßt, ist eine präzise Antwort auch nicht möglich. 68 57

58 51

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11 82

2/116 f. 2/114; s. a. 2/197. 1113; s. ferner: 11202 f., 228; 2/19. 1/274 f. 2/190. 2/271. 2/181 ff., 193 f.

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Tocqueville läßt keinen Zweifel daran, daß die Verhaltensweisen und Sitten wichtiger sind als Gesetze und Institutionen63 ; er sagt auch deutlich, daß die überwindung von Individualismus und Vereinsamung zu den wichtigsten Aufgaben der modernen Gesellschaft gehört64, und ferner, daß Ausgleich und Berücksichtigung Mittel zu diesem Zweck sind. Aber realistischerweise sieht er auch die Möglichkeit vom Fortleben der Klassenresentiments, von modernem Individualismus und von menschlichen Beziehungen als bloßen Geld- und Geschäftsverhältnissen; eine exakte Wirkung in nur eine Richtung kommt den Mitteln zur Verbesserung solcher Zustände trotz ihrer unbedingten Erforderlichkeit nicht zu .

.'8 1/357. 84

2/113 - 122.

8. Kapitel LmERALE DENKER

Die durch die Freiheit bedingten Ungleichheiten und die Proportionalität der gesellschaftlichen Schichten A) DAS VERHÄLTNIS DER GRUNDTBESEN LmERALEN STAATSDENKENS ZUR GEMISCHTEN VERFASSUNG UND 'UBERBLICK 'UBER DIE BEHANDELTEN AUTOREN

Entsprechend einer üblichen Einteilung gibt es im 19. Jahrhundert drei große geistige Richtungen: den Konservativismus, den Liberalismus und den Sozialismus. - Unter dem Blickwinkel der vorliegenden Untersuchung gibt es auch drei Gruppen, jedoch von anderer Art: Politische Denker, die auf die Gleichheit der Staatsbürger fixiert sind, und denen schon deshalb der Zugang zum Problem der Verfassungsmischung verbaut ist; ferner solche Denker, die auf die Unterschiede der gesellschaftlichen Gruppen fixiert sind, und denen wegen der überbetonung dieser Ungleichheiten ein Zugang zur Verfassungsmischung ebenfalls fehlt. Die dritte Gruppe schließlich sind die Autoren, die Gleichheit und Ungleichheit verbinden können, d. h. sie befürworten die Gleichheit, aber sprechen der Existenz von Ungleichheiten nicht jede Berechtigung- ab, und insofern ist ihnen ein Zugang zu unserem Problem möglich. - Ganz grob skizziert gibt es zwischen den Gruppen beider Einteilungen gewisse Affinitäten: bei den Konservativen die Betonung der Unterschiede, bei individualistisch denkenden Liberalen die Gleichheit als Ausgangspunkt und bei den Sozialisten eine Spaltung der Argumentation, insofern sie einerseits die Unüberbrückbarkeit der Klassenunterschiede betonen, andererseits mit dem Ziel einer radikalen Gleichheit operieren. Allerdings lassen sich diejenigen politischen Theoretiker, die sich den Prinzipien der Mischverfassung verpflichtet fühlen, keiner der großen geistigen Strömungen zuordnen; sie gehören meist nicht exakt einer der großen Richtungen an, jedenfalls besteht keine notwendige Verbindung mit einer von diesen. Das gilt auch für den Liberalismus, obwohl aus dem Umkreis liberalen Denkens die meisten Fortsetzungen oder Weiterentwicklungen des Theorems der gemischten Verfassung stammen. Kennzeichnend für liberalistisches Denken ist die Betonung der Freiheit, und zwar einer Freiheit im modernen individualistischen

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8. Kapitel

Sinn. Ausgangspunkt aller Überlegungen zum Gemeinwesen ist das Individuum mit seinen Freiheitsrechten, der Staat soll in diese so wenig wie möglich eingreifen. Diese Vorstellung führt oft zu einer stark ausgeprägten staatsabwehrenden Haltung, und es versteht sich, daß das liberale Staatsdenken mit seiner individualistischen und freiheitlich-staatsabwehrenden Komponente nicht als solches irgend etwas mit den Zielen der gemischten Verfassung zu tun hat. - Wenn sich dennoch für viele liberale Denker ein Zugang zu diesem Problem öffnet, so deshalb, weil die liberalistische Gesellschaftsvorstellung Ungleichheiten nicht ausschließt und nicht notwendig einer individualistischen GleichheitsvorsteIlung verhaftet bleibt, die jegliche Gruppenbildungen übersieht, wie bei Rousseau oder Wilhelm von Humboldtl. Selbstverständlich ist bei ihr kaum PI~ltz für gesellschaftliche Ungleichheiten in der Art vorgegebener oder althergebrachter Ordnungen und Stände wie bei den politischen Romantikern oder Konservativen, aber da die Freiheit auf Können, Verdienst und Leistung des einzelnen abstellt; impliziert sie eben dadurch die größten gesellschaftlichen Unterschiede, wie wir schon an Hand der Ausführungen Tocquevilles2 gesehen hatten. Solange· der Staat lediglich als Institution zur Aufrechterhaltung ge·sellschaftlicher Spielregeln angesehen wird, erscheinen derartige Ungleichheiten als rein gesellschaftliches Phänomen, das mit einer dem NewtonschenWeltbild entlehnten Gleichgewichtsvorstellung als harmonisch hingestellt werden kann, oder mit dem Leistungsprinzip gerechtfertigt werden kann, d. h. mit dem Hinweis, daß jeder seine gesellschaftliche Stellung seiner eigenen Anstrengung zuzuschreiben habe. Wer aber nicht bei nur staatsabwehrenden Überlegungen stehen bleibt, sondern sich Gedanken über den Aufbau des Staates macht, und dabei insbesondere über die Beteiligung der Bürger am Staat, für den ist das Phänomen der gesellschaftlichen Ungleichheiten nicht mit einer wie immer gearteten· oder gerechtfertigten Harmonievörstellung zu Ende, sondern der muß Antwort geben auf die Frage, ob für den Staatsaufbau jenes Ausgangsprinzip der Gleichheit gelten soll, oder aber ob hier- etwa entsprechend dem Leistungsprinzip - der Grundsatz gilt, daß sich Einfluß und Macht nach der konkreten gesellschaftlichen Stellung bemesSen. Die Beschäftigung liberaler Denker mit der Frage nam dem Staatsaufbau, also nach StaatsfotIIi, Wahlrecht, Zusammensetzung des Parlaments USW. läßt sich geradezu charakterisieren als ein Ringen um das Verhältnis von Gleichheit und Ungleichheit, 1 Zu Wilhelm von Humboldts Auffassung über Gruppen im Staat s. Friedrich Müller S. 174 f., 228 - 231. 2 Kapitel 7, Abschn. II 3; s. a. Rotteck, Staatslexikon, Bd. 1, Demokratisches Prinzip, S. 260 (darüber, daß die Gleichheit der Erwerbsrechte zu Ungleichheiten führt); Bd. 7, Gleichheit, S. 67 "das materielle Recht wird, eben wegen der Gleichheit des formalen, notwendig ein ungleiches werden".

A) Grundthesen liberalen Staatsdenkens

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bzw. darum, wie beides institutionelle Formen annehmen kann und soll. Die verschiedenen möglichen Antworten ergeben sich erstens daraus, welcher gesellschaftliche Unterschied als der wesentliche angesehen wird, zweitens daraus, wem mehr Bedeutung beigemessen wird: der prinzipiell angenommenen Gleichheit oder den faktischen Ungleichheiten mit den entsprechenden Gruppenunterschieden. Was den ersten Punkt betrifft, kann entweder der Besitz als das wesentliche Unterscheidungskriterium angesehen werden (hier gezeigt an Karl von Rotteck), oder die Bildung (John Stuart Mill), oder es werden Konzeptionen entwickelt, nach denen möglichst viele Unterschiede in der staatlichen Organisation berücksichtigt werden: außer den genannten auch Arbeitsstellungen, lokale Gliederungen, Religionen usw. (Robert Mohl; Heinrich Ahrens), oder frei sich bildende politische Vereinigungen sollen als Korrektiv zur Gleichheit mit ihren Mehrheitsentscheidungen wirken (Tocqueville). Der zweite Punkt, d. h. die Frage, ob mehr Gewicht auf die Gleichheit oder die Ungleichheit gelegt wird, läßt sich am besten am Zustandekommen und an der Zusammensetzung der Volksvertretungen ablesen, und die Antworten reichen von im Vorhinein festgelegten Gruppenanteilen (Mohl), über Wahlen mit ungleichen Stimmengewichten (Rotteck; Mill), bis zu völliger Gleichheit bei Wahlen mit lediglich implizierter de-facto-Berücksichtigung gesellschaftlicher Gruppen im Parlament (Tocqueville), und bis zu dem Vorschlag, zwei Parlamente nebeneinander zu errichten, von denen eins nach dem Grundsatz der staatsbürgerlichen Gleichheit zustande kommt, das andere entsprechend den Machtanteilen der gesellschaftlichen Gruppierungen (Ahrens). Wo aber die Relevanz der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen für den Aufbau des Staates gesehen und berücksichtigt wird, da ist zu vermuten, daß sich auch die Frage nach der gemischten Verfassung stellt, d. h. die Frage, ob die Gruppen gleichmäßig an der unmittelbaren Herrschaftsausübung oder zumindest am Einfluß auf den Staat beteiligt werden sollen3 , aber auch wenn nicht gleichmäßig, so muß doch in jedem Fall auf die Frage geantwortet werden, was den Schlüssel für das "Mischungsverhältnis" der Gruppen abgibt. 3 Zwischen direkter Herrschaftsausübung und bloßem Einfluß auf diese besteht ein zwar nicht immer klar formulierter, meist aber doch spürbarer Unterschied zwischen den deutschen Autoren und denen, die sich auf die angelsächsischen Verhältnisse beziehen, da in Deutschland im betreffenden Zeitraum die alte Vorstellung noch besteht oder zumindest nachwirkt, daß die Stände oder sonstigen Gruppen auch in ihrer Gesamtheit nicht mit dem Staat identisch sind, sondern diesem gegenüberstehen; dies wird selbst bei Rotteck deutlich, obwohl er dem Parlament im Prinzip all die Funktionen zuschreibt, die Rousseau dem Souverän überträgt. - Deutlich formuliert etwa bei: Ahrens, Enzyklopädie, S. 775. - Die überlegungen zur Verfassungsmischung haben insofern bei den deutschen Autoren von vornherein eine geringere Reichweite.

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8. Kapitel

Bei dieser Untersuchung werden die Überlegungen von Tocqueville und Mohl in je eigenen Kapiteln behandelt (Kap. 7 und 9); hier im 8. Kapitel wollen wir uns etwas geraffter mit Karl von Rotteck, Heinrich Ahrens und J ohn Stuart Mill beschäftigen. B) KARL VON ROTTECK

Proportionale Vertretung der nach Besitz unterschiedenen Bevölkerungsschichten I. Die Prinzipien der gemischten Verfassung gegen die abstrakte Gleichheit Überall wo Klassen existieren, ist es nach Rottecks Auffassung erforderlich, "selbst bei gesetzlicher Anerkennung einer vollkommenen politischen Gleichheit aller Bürgerklassen ... über das Zahlenverhältnis der aus den einzelnen Ständen zu Wählenden etwas Positives zu verfügen, damit nicht etwa faktisch, durch Umtriebe oder Gewalt, ein Stand, eine Klasse, oder eine Partei im Volke auf das Wahlgeschäft vorherrschenden Einfluß erhalte ... ". Es muß dafür gesorgt werden, daß die Glieder aller Klassen in verhältnismäßiger Zahl im Volksausschuß vertreten sind'. - Rotteck behauptet also, daß die Klassen direkt die Verfassungsstruktur bestimmen sollen, und darüber hinaus teilt er eine Grundthese der gemischten Verfassung, da er eine verhältnismäßig gleiche Beteiligung der Klassen verficht und den "vorherrschenden Einfluß" einer einzigen ablehnt. Dies stellt Rotteck deutlich jener Auffassung gegenüber, nach der das Volk "als eine reine, aus politisch durchaus gleichen Elementen bestehende Gesamtheit"5 betrachtet wird. Rotteck erkennt zwar jenen "allgemeinen Begriff eines Staates ... , wonach jeder Bürger nur als Gesellschaftsglied überhaupt, ohne irgend eine individuelle Verschiedenheit oder bestimmtes Verhältnis persönlicher Rechte und Besitzungen, - jeder als gleiche Größe oder Einheit in einer gegebenen Zahl betrachtet würde", als Idealbild an, aber dies ist nur "reine Abstraktion", und in der Wirklichkeit kommen keine Beispiele vor; so etwas gibt es nur "in Partikulargesellschaften zu irgend einem besonderen Zweck"'. Hier werden Rousseaus Gedanken insofern umgedreht, als bei , Rotteck, Landstände S. 110 f. S. 109; s. zu dieser Gegenüberstellung auch S. 74. e 104 f. H. Brandt nennt die Form des Repräsentativsystems, die auf bürgerlicher Gleichheit aufbaut und insofern keine verschiedenen Klassen berücksichtigen muß, Rottecks "eigenes System" (S. 264); d. i. zumindest irreführend, denn Rotteck bemerkt immer wieder ausdrücklich, daß solche problemlosen sozialen Verhältnisse die Ausnahme sind, nicht den Verhältnissen 5

B) Karl von Rotteck

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Rousseau jenes Idealbild das Staatsdenken beherrscht, während den Gruppen mit ihren Ungleichheiten darin nur subsidiär Platz eingeräumt wird; bei Rotteck dagegen wird zwar das Rousseausche Prinzip geteilt, jedoch wird das, was bei Rousseau nur einschränkungsweise zugegeben wird, als Normalzustand hingestellt, und dem Prinzip bleibt lediglich der Charakter einer idealen Abstraktion. - Rotteck sagt im Hinblick auf jenes gespannte Verhältnis von politischer Gleichheit einerseits und Existenz der Klassen andererseits, daß die Natur der Dinge stärker sei als jede Fiktion: eine auch rechtlich abgesicherte politische Gleichheit reicht ihm nicht aus, eine freie und gleiche Wahl für sinnvoll zu erachten: "Es bleibt also die Gestattung einer unbeschränkten (aktiven und passiven) Wahlfreiheit nur bei denjenigen Völkern möglich, unter welchen nicht nur eine allgemeine und reine politische, sondern auch eine bürgerliche Gleichheit herrscht; z. B. bei einem Volk von lauter Ackerbauern oder von lauter Hirten. Wo es aber auch nur diese beiden Klassen der Beschäftigung oder des Besitzes gibt, da muß schon dafür gesorgt werden, daß Glieder von beiden Klassen in verhältnismäßiger Zahl in den Ausschuß kommen; sonst würden (nach der Natur der Dinge, welche stärker ist als jede Fiktion) die etwa zufällig (oder auch durch Zusammenschwörung der Zahlreicheren) ausgeschlossene Klasse unausbleiblich in ihren höchsten Interessen gefährdet sein7."

ll. Die Volksvertretung als Ort der Verfassungsmiscltung Wenn Rotteck von Wahlen, vom Ausschuß oder insbesondere von den Landständen spricht, bezieht er sich damit auf die ständischen Volksvertretungen der deutschen Länder in der Zeit nach dem Wiener Kongreß, aber die Landstände sind nur so etwas wie ein Anknüpfungspunkt, etwas seinen Zeitgenossen Sichtbares, von dem er ausgehen kann; jedoch der eigentliche Inhalt, über den Rotteck schreibt, sind die Landstände in ihrer "idealen Reinheit und Allgemeinheit", d. h. eine Volksvertretung, wie sie nach dem "allgemeinen Vernunft-Gesetz" auszusehen hat8 • Das bedeutet zweierlei: Was die Zuständigkeit der Volksvertretung angeht, besitzt sie alle die Kompetenzen, die sich das Volk bei der Übertragung der Regierungsgewalt vorbehalten hat, oder die unveräußerlich sind9 ; das meint konkret die Gesetzgebung, das seiner Zeit entsprechen und nicht der Gegenstand seiner verfassungsrechtlichen Bemühungen sind; Landstände 112; Staatsrecht Bd. 2, 2 S. 174; Vernunftrecht Bd. 2 S. 260. 7 Landstände 110. 8 73; eine Definition der Landstände gibt Rotteck auf S. 77 f. Das Wort kann auch beliebig durch ..Volksrepräsentation" oder .. Parlament" ersetzt werden: Herdt 155, 161 oben. 9 Landstände 87.

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8. Kapitel

Recht über Krieg und Frieden, die Befugnis, auswärtige Verträge abzuschließen, die Steuerbewilligung usw. 10. Die Landstände "haben mit dem gesamten Volk alle Interessen und Wünsche gemeinsam, und sprechen also natürlich, ja fast notwendig ... den wahren Volkswillen aus"l1. - Was die Zusammensetzung der Landstände anbelangt, läßt sich Rottecks Vorstellung auf einfache Weise wiedergeben: Er denkt sich den Staat als eine Aktiengesellschaft von Grundeigentümern: wie in der Aktiengesellschaft ein jeder entsprechend der Menge seines eingeleg~en Vermögens mitzubestimmen hat, so bemißt sich das Gewicht der Stimmen der "Aktionärs der Gesellschaft"12 am "Maß des individuellen Interesses am Gemeinwohl oder des Beitrags zu demselben"13, was nach Rottecks Auffassung konkret ablesbar ist an der Größe des jeweiligen Grundbesitzes. - Diese Staatsauffassung ist eine eigentümliche Verbindung der altherkömmlichen Vorstellung, nach der das Gemeinwesen als Föderation der Häuser bzw. Höfe - im Gegensatz zum modernen individualistischen Einwohner-Staat - verstanden wird, mit einer neuartigen und spezifisch liberalistischen Komponente: nicht eine vorgegebene Ordnung prägt die Gesellschaftsstruktur, sondern die Individuen, die es auf Grund ihrer je persönlichen Leistung zu so und soviel Grundbesitz bringen. Bei Stadtbewohnern kann es sich außer um Grundbesitz auch um anderes Vermögen handeln, denn hier räumt Rotteck die Vergleichbarkeit von Industrie- mit Grundeigentum ein, was bereits in seiner frühen Schrift über die Landstände eine erste Abkehr vom Prinzip des Grundbesitzes als Kriterium des Beitrags zum Gemeinwohl darstellt in Richtung auf ein allgemeines VermögensKriterium14• Wenden wir uns der organisatorischen Form zu. Rotteck entwickelt die Institutionen alter ständischer gemischter Verfassungen weiter. Die Mitglieder der landständischen Versammlung repräsentieren verschieden große Anzahlen von Bürgern; Maßstab ist ein Grundbesitz, der wegen eines bestimmten Umfangs "als hinreichend zu einer Aktie oder zu einer Stimme erscheinen mag"16. Das kann z. B. ein einzelnes 92 ff.; zu den Funktionen der Volksvertretung: Herdt 173 ff. Landstände 91; s. a.: 82 Anm., 89, 126 unten, 141. - Über die Landstände als Organ des Volkswillens: Herdt 154 f.; über das Verhältnis zwischen Regierung und Volksvertretung (scharfe Entgegensetzung): H. Brandt 257 - 259; Herdt 154, 161 - 163. I! Landstände 122 unten. 13 111 oben; auf S. 118 wird der Grundbesitz als "Bürgschaft für die Teilnahme am gemeinen Wohl" bezeichnet; s. a. S. 144 unten. 14 Landstände, 122; auf S. 124 werden der Grundbesitz oder das direkte Steuerkapital alternativ als Bemessungsgrundlage angegeben. - Zur späteren Änderung seiner Auffassung s. u. Anm. 23. - "Industrie" bedeutet bei Rotteck soviel wie Gewerbe und Handel. 10

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B) Karl von Rotteck

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Rittergut sein. "Ein Bauerngut dagegen ist ein nach seinem beschränkteren Umfang zur Bewirtschaftung durch eine Familie geeignetes ... Gut, dessen Inhaber demnach nur in eigenem Namen, nicht aber auch im Namen von untergeordneten Colonen erscheint, und also wohl zur Führung einer Stimme in der allgemeinen Nationalversammlung (z. B. als Wähler), in dem Ausschuß derselben oder den Landständen aber nur kollektiv mit so vielen andern, als etwa zur Darstellung eines vollen Ritterguts oder einer vollen Aktie gehören, berechtigt ist. Es würden also die einzelnen Bezirke, welche die erforderliche Zahl von solchen freien Bauerngründen oder gemeinen Allodialbesitzern - ob einzelnen Wohnern oder Dorf-Gemeindsgliedern - enthalten, jeder eine Stimme bei den Landständen haben, und durch einen gewählten Repräsentanten führen lassen16." Unter diesem Gesichtspunkt betrachtet Rotteck die verschiedenen bisherigen Stände; er verneint jeweils die herkömmlichen Berechtigungsgrunde wie Geistesbildung oder Priesteramt beim Lehrstand, Tapferkeit, Kampf für's Vaterland oder adlige Herkunft beim Wehrstand als Grund für Sitz und Stimme im Parlament17 • Aber er legt dar, wie auch die alten Stände in seiner neuen Verfassung vertreten sein können18, d. h. jeweils entsprechend dem Grundbesitz mit einer Modifizierung bei den Bürgern: ihre Vertretung ist gerechtfertigt entwederwie schon erwähnt - wegen der Industrie, oder aber wegen ihrer Teilnahme am städtischen Gemeinds-Gut. Die kollektiven Stimmen kann man mit den "Bänken" altständischer Parlamente vergleichen, etwa dem deutschen Reichstag, wo erst eine Mehrzahl von Grafen das Gewicht einer Fürstenstimme ergibt. Auch die grundsätzliche Einteilung in Kurien findet bei Rotteck eine Entsprechung, nämlich bei der Frage, ob es mehrere Kammern oder 16 Landstände S. 120 f. Die These von H. Brandt (S. 263), Rotteck hätte in den "Landständen" jede finanzielle Qualifikation für das aktive Wahlrecht abgelehnt, ist nicht richtig, weil dies mit Rottecks Aussagen auf S. 138 und 146 nicht zu vereinbaren ist. Rottecks Bemerkung auf S. 145 (die Brandt als Beleg anführt), läßt das unbeschränkte aktive Wahlrecht nur als Möglichkeit zu, um darauf hinzuweisen, was eine solche Regelung für Konsequenzen für die Beschränkung des passiven Wahlrechts hat. (Zur Interdependenz von aktivem und passivem Wahlrecht s. Herdt 134). 11 Landstände 121; dazu, daß einzelne Bürger wegen des zu geringen Kapitals nur zu mehreren eine Stimme haben können, S. 138. n Landstände 113 - 115. Ungleichheiten sind nicht berechtigt, wenn sie auf dem historischen Recht begünstigter Klassen beruhen, wohl aber, wenn sie Folge der freien rechtlichen Wechselwirkung sind: Staatslexikon, Bd. 4, Demokratisches Prinzip, S. 262; s. a. S. 256 u. Bd. 7, Gleichheit, S. 71. 18 Landstände, 116 -123; auf S. 120 prägnant formuliert, daß die Anspruchsgrundlage bei allen Ständen die gleiche ist, und Unterschiede nur auf der unterschiedlichen Größe des Grundeigentums beruhen; das gleiche auch in: Vernunftrecht Bd. 2 S. 263.

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8. Kapitel

nur eine einzige geben soll. Rotteck sprkht sich zwar grundsätzlich für das Ein-Kammer-System aus, denn er will nicht entsprechend dem Prinzip des Gleichgewichts die Kräfte der Volksklassen durch Entgegensetzung gegenseitig aufheben, sondern er will die Vereinigung aller Gruppen in einer einizgen Kammer1'; aber in gewissen historisch bedingten Fällen kann eine ·Teilung in Kammern dennoch von Vorteil sein. "Wenn nämlich in einem Staat ein sehr zahlreicher, oder durch großes Besitztum zu vielen Stimmen berechtigter ... Adel vorhanden wäre, so möchte zu befürchten sein, daß er in der vereinten Kammer ... die Oberhand erringe, und durch die Majorität der zusammengezählten Stimmen aristokratische Gesetze gebe; während in der rein bürgerlichen Kammer die Majorität ihrer Natur nach demokratisch ist, und durch ihren bloßen Willen die ihr nachteiligen Bestrebungen der Adelskammer vereitelt20." - In jedem 'all ist eine Trennung in mehrere mit je gleichem Gewicht stimmende Kammern ohne Ungerechtigkeit nur möglich, wenn "in jeder einzelnen Kammer ungefähr gleich viele Staats-Aktien, d. h. eine gleiche Masse des Staatsgebiets oder des direkten Steuerkapitals, vertreten erscheint"21. Das wiederum hat zur Voraussetzung, daß das Staatsgebiet oder das Steuerkapital unter die in Frage kommenden Klassen in ungefähr gleiche Teile verteilt ist22 • Die Auffassung, daß das Grundeigentum die wesentliche Qualifikation für das Wahlrecht abgibt, läßt Rotteck später fallen; der Gesetzgeber soll einen bestimmten Steuersatz als Berechtigungsgrundlage festlegen, wobei als Maßstab eine selbständige Existenz zu gelten hat23 . - Auch relativiert Rotteck den Vergleich mit der Aktiengesellschaft, da im Staat die Gesamtmasse der Kräfte und Mittel nicht nur aus dem Landstände 128, 132, s. a. 135; siehe hierzu: Herdt 166 f.; H. Brandt 261. Landstände 133. Dieselbe Argumentation für die Trennung der Kammern bei J. Adams, s. Kap. 5, Anm. 76. - Zur grundsätzlich negativen Einstellung Rottecks gegenüber der Aristokratie s. Herdt 99 f., 165 unten f. 21 Landstände 124. 22 ibid.; dies ist aber normalerweise nicht der Fall, und eine Trennung in Kammern könnte daher nur sinnvoll sein, wenn Adel und Geistlichkeit eine Kammer bilden und die Gemeinen zwei, etwa die der Bürger und die der Bauern. - Zu den Ausnahmesituationen, die ein Zwei-Kammer-System rechtfertigen (und zum Zwei-Kammer-System in nicht-monarchischen Staaten, wo dies jedoch mit unterschiedlichen Ständen nichts zu tun hat), s. Herdt 167 f. 23 Im Staatsrecht, Bd. 2, 2 1828, heißt es noch: "Vermögen, zumal Grundvermögen" (S. 169, 172), aber das Kriterium besteht bereits in der "Selbständigkeit der bürgerlichen Stellung"; im Staatslexikon, 1. Aufl. Bd. 3 1836 (S. 381) und im Vernunftrecht, 2. Auf!. Bd. 2 1840 (S. 262), wird nur noch auf die Selbständigkeit abgehoben. Zu diesem Wandel der Auffassung Rottecks s. Herdt 140 -143. - Die Vermögenslosen bleiben also entsprechend dem genannten Kriterium ohne eigene Vertretung (ausgenommen die Volksentscheide - s. u. Anm. 25); dazu, daß Rotteck kein Verhältnis zu den schweren sozialen Problemen des 19. Jahrhunderts fand, s. Ehmke, Rotteck 28 n. 7. . 19 20

B) Karl von Rotteck

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Steuerkapital besteht, sondern auch aus den persönlichen physischen, intellektuellen und moralischen Kräften24 • Aber nur als Argument für verschiedene Stimmgewichte wird der finanzielle Beitrag zur Staatskasse relativiert2S ; an der Höhe des Steuerkapitals als einzigem tatsächlichem Kriterium für die zu treffenden Unterschiede ändert sich nichts. Die ganz großen Eigentümer erhalten Virilstimmen, und die großen Eigentümer das Recht, in verhältnismäßig kleinen Versammlungen einen Deputierten zu wählen, während die kleinen Eigentümer zu so vielen einen Wahlbezirk bilden, daß ein vergleichbares Steuerkapital repräsentiert wird26 , so daß - organisatorisch gesehen - der Vergleich mit der Aktiengesellschaft bestehen bleibt. Interessant ist jedoch bei Rottecks stets erneutem Bemühen um dies Problem, bei seinen Modifikationen und neuen Begründungen: ihm geht es nicht um eine Patentlösung für die Bestimmung des Zensus, ihm ist es auch nicht darum zu tun, einem bestimmten Faktor, sei es dem Grundbesitz oder der gewerblichen Industrie, die nötige Geltung im organisatorischen Staatsaufbau zu verschaffen, auch nicht um eine bestimmte Höhe des Zensus, - das alles sind nur Äußerlichkeiten, die man in Rechnung stellen muß bei dem eigentlichen Problem: der Gefahr zu begegnen, daß nur die Reichen die Staatsgeschäfte bestimmen, und ebenso die Gefahr der Herrschaft der Vermögenslosen abzuwenden, die bei einem gleichen Stimmrecht gegeben wäre 27 ; oder anders ausgedrückt: daß nicht nur jene, die in der Majorität sind, eine Vertretung erhalten, sondern alle Hauptklassen, die im Volk bestehen28 • Zensus, Besitz als Qualifikation des Stimmrechts und auch der Vergleich des Staates mit einer Aktiengesellschaft gehören zum Standard 24 Den Vergleich mit der Aktiengesellschaft wiederholt Rotteck noch im Staatsrecht, Bd. 2, 2 1828, S. 173. - Die neue Argumentation: Staatslexikon Bd.3 1836, Census, S. 368 - 370; (Herdt spricht sogar von einer Ablehnung der Parallelisierung des Staates mit einer Aktiengesellschaft, S. 138). 25 Die einzig praktische Konsequenz ist die wenig überzeugende Differenzierung von Sachentscheidungen und Personenwahlen, der zufolge für Sachentscheidungen alle Bürger ohne Unterschied den nötigen Sachverstand besäßen und die Gewichte aller Stimmen gleich sein sollten, während bei Personenwahlen Unterschiede hinsichtlich der Klassen gemacht werden müßten; Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 375 f. 28 Vernunftrecht Bd. 2 18402 S. 265 f.; (sehr ähnlich wie im Staatsrecht Bd. 2, 2 S. 182 f.). Die Rechtfertigung des Vorrechts der Reichen auch in: Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 373, 377 f., 381 f.; s. ferner zur direkten Bedeutung der wirtschaftlichen Ungleichheit für den staatlichen Bereich: Staatslexikon Bd. 4, Demokratisches Prinzip, S. 259; Bd. 7, Gleichheit, S. 68; auf S. 72 oben wird das unterschiedliche Stimmgewicht mit dem Verhältnis von Empfang und Leistung hinsichtlich der Steuern begründet. 27 Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 371 f. 28 Vernunftrecht Bd. 2, S. 260 f.; zur notwendigen Reduktion der vielfältigen Interessen auf die Hauptklassen der Gesellschaft: S. 263; sehr ähnlich in: Staatsrecht Bd. 2, 2 S. 176 -178; vgl. a. Herdt 138 unten f.

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8. Kapitel

politischer Vorstellungen der meisten Liberalen gegen Ende des 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts; insbesondere den französischen Liberalen wie AbM Sieyes und Turgot, deren Rechtfertigungen des Zen~us in der Revolution eine Rolle spielten, und Benjamin Constant, der jene Argumente nach 1815 übernahm, ist Rotteck verpflichtet29 • Aber weil der Zensus für ihn keinerlei Eigenwert besitzt, ferner kein Mittel ist, um die Herrschaft einer bestimmten Klasse zu sichern - wenngleich ein stärkeres Gewicht für die Mittelklasse beabsichtigt ist30 - sondern weil bei ihm besonders gut sichtbar wird, daß derlei Institutionen nur Vehikel zur "wechselseitigen Verständigung oder Ausgleichung"31 zwischen den Hauptklassen der Bevölkerung sind, sollte Rottecks Konzeption als Beispiel vorgeführt werden. III. Besonderheiten von ,Rottecks Konzept; die Unterscheidung von "separativer" und "interner Mischung" Die beschriebene Verfassungsstruktur wird von Rotteck selbst als eine Mischung von Staatsformen angesehen. Im Gegensatz zur reinen Demokratie, bei der nur das allgemeine Staatsbürgerrecht entscheidend ist, ist in Rottecks Konzept die Demokratie "durch einen Zusatz von Aristokratie (zum al Vermögensaristokratie)"32 beschränkt. Oder von der umgekehrten Seite her betrachtet, bedeutet die Tatsache, daß die Ärmeren überhaupt beteiligt werden, eine "Annäherung zur möglichst reinen demokratischen Repräsentation", und zwar als "Vorbeugungsmittel gegen die, bei völligem Ausschluß der Armen schwer zu hemmende Aristokratie des Reichtums"33. - Das demokratische Element bedeutet demnach, daß der Vermögens-Gesichtspunkt weniger berückHerdt 130 - 133, 142. Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 383 unten f.; Herdt 136,139,143. 31 Vernunftrecht Bd. 2, S. 264. 32 Landstände 123 unten. as 139; über die "Teilung oder Mischung der Herrschaft" zwischen Aristokratie und Demokratie: Staatslexikon Bd. 4, Demokratisches Prinzip, S. 256 f. - Erwähnung der "gemischten Staatsform" bei der Aufzählung der Staatsformen: Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 374; Bd. 4, Demokratisches Prinzip, S. 252. - Hinweise auf die gemischte Verfassung der Antike: Staatslexikon Bd. 3, Census, S. 368; Bd. 3, Constitution, S. 763.Herdt verweist darauf, daß in Rottecks ausdrücklich vorgetragenem Staatsformschema die Mischverfassung keine Rolle spielt (S. 94), aber die Beschränkung jeder Staatsform durch Beimischung einer anderen gehört für Rotteck zur notwendigen Verhinderung des Despotismus (S. 98 f., 102 f., 107, 110). Rottecks Verwendung der Staatsformbegriffe ist allerdings nicht immer einheitlich; er benutzt diese Ausdrücke auch im Sinn von Prinzipien, die mit den Bevölkerungsgruppen nicht unbedingt etwas zu tun haben (vgl. unten Kap. 12 Abschn. I), z. B. im Staatsrecht Bd. 2, 2, S. 176 billigt Rotteck nur dem demokratischen Interesse Anspruch auf Herrschaft zu, und definiert jenes als Gesamtinteresse; (vgl. auch: ibid. S. 178 -181). zu

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B) Karl von Rotteck

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sichtigt wird, was im Effekt eine stärkere Partizipation der armen Bevölkerungsschicht darstellt3~. Der Form nach ist Rottecks Verfassung kein völlig neuer Ansatz zu einer gemischten Verfassung unter neuen Bedingungen, wie etwa beim Federalist oder bei Tocqueville, sondern eine Weiterentwicklung bisheriger Formen: es gibt verschiedene Stände, die als solche an der Volksvertretung beteiligt werden, wobei die Institutionen zur Herstellung der Ausgewogenheit der Stände und zur Zusammenfassung mehrerer weniger gewichtiger Stimmen unmittelbar an den früheren Institutionen der Kurien und Bänke anknüpfen. Verändert haben sich die Stände insofern, da ihre Legitimation eine andere geworden ist, bzw. von früheren Legitimationen nur eine übrig geblieben ist: die des Grundbesitzes, - eine Veränderung, die keineswegs gering zu veranschlagen ist, da sich auf Grund der individuellen Möglichkeit des Besitzerwerbs eine Wandlung in Richtung auf eine Mobilität zwischen den Klassen eröffnet. Folgende Differenzierung zwischen möglichen Formen von Verfassungsmischung wird an Rottecks Ausführungen deutlich. Die klassische gemischte Verfassung, etwa nach Polybios oder Cicero, ist dadurch gekennzeichnet, daß die verschiedenen Stände je ein eigenes Verfassungsorgan besitzen; die von uns so bezeichneten modernen Verfassungsmischungen beim Federalist oder bei Tocqueville zeigen im institutionellen Bereich die Mischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen in einem einzigen Verfassungsorgan, dem Parlament, oder sogar in mehreren Verfassungsorganen, in keinem Fall aber findet eine klare Zuordnung von Ständen zu bestimmten Institutionen statt. Rotteck kennt beides: die Verfassungsmischung mit nach Ständen getrennten Organen ("separative Mischung") und die Mischung innerhalb eines Verfassungsorgans ("interne Mischung")36. Grundsätzlich befürwortet er die Form der "internen Mischung" mit seiner Stellungnahme für eine einheitliche Volksvertretung, die alle Stände vereinigen, die Scheidewände möglichst verringern und zur Eintracht38 führen soll, wobei er mit seiner fast polemischen Ablehnung konstruktivistischer Balance-Vorstellungen37 den Faden der Verbindung vom Problem der 3' Zur genaueren Unterscheidung zwischen Vermögenslosigkeit und geringem Besitz s. Landstände S. 138. - Auch ein gutes passives Wahlrecht muß sich zwischen den schlechten Extremen der Wählbarkeit von allen und der Wählbarkeit von nur Reichen befinden: S. 145 unten f. 35 s. dazu: Landstände 124 unten; 132 pass.; zu den Begriffen s. Kap. 11, Abschn. II 1. 38 "Eintracht": Landstände 135; "Scheidewände verringern": 143 unten; dort auch für das Verhältnis zwischen den Ständen die Begriffe: Liebe, Vertrauen, unmittelbare Berührung; auf S. 86 mitte spricht Rotteck von "harmonischer Verbindung". 17 128 unten.

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8. Kapitel

Verfassungsmischung zur Gewaltenteilung oder auch zur sozialen Gewaltenteilung im Sinn der Entgegensetzung der Kräfte abschneidet. In Form getrennter Kammern, die bestimmten Ständen zugeordnet sind, und die als Kammern dann jeweils gleiches Stimmgewicht haben, kennt Rotteck auch die "separative Mischung", aber - wie ausgeführt - will er sie nur unter bestimmten historischen Voraussetzungen3S gelten lassen, wodurch die These unterstützt wird, daß es sich hierbei um eine historische Form der Verfassungsmischung handelt. C) JOHN STUART MILL

Proportionale Vertretung der nach Grad der Bildung unterschiedenen Bevölkerungsschichten

Wenn wir von Rotteck gleich zu J ohn Stuart Mill übergehen, so mag dieser Sprung verwundern, aber hier geht es nicht um eine möglichst chronologische Darstellung. Entsprechend den hier zu Grunde gelegten sachlichen Gesichtspunkten lassen sich die Gedanken beider Autoren erstaunlich gut nebeneinander vorführen. Trotz der verschiedenen historisch-politischen Gegebenheiten - im einen Fall die neue Konstituierung ständischer Landtage in Deutschland zur Zeit der Restauration, im anderen Fall die englische Wahrrechtsdiskussion zwischen der ersten und zweiten Parlamentsreform89 - sind die Problemstellungen sehr ähnlich: Die Ausgangssituation ist für beide das Bestehen bzw. Noch-Bestehen privilegierter Gruppen, die den weitaus größten Einfluß auf die politischen Entscheidungen haben, wogegen sich beide energisch wenden; und das Problem für die Zukunft lautet sowohl bei Rotteck wie bei Mill, daß nicht eine "rücksichtslose, äußere oder handgreifliche" Gleichheit" bzw. eine "absolute Gleichheit" mit "numerischen Gewichten"41 geschaffen wird, die de facto nichts anderes bedeutet, als Vorrechte oder gar Alleinherrschaft für eine neue privilegierte Gruppe. Das Ziel schließlich besteht für beide in der Proportionalität: das heißt in Rottecks Sprache, daß der Landtag "aus Mitgliedern aller Stände und in verhältnismäßiger Zahl gebildet wird"42, während Mill es so ausdrückt, daß jede Gruppe proportional vertreten sein so1143 • 126; 130 unten. 1. Parlamentsreform 1832: Wahlberechtigte: HauseigentÜIner, deren Besitz mindestens 10 Pfund im Jahr abwirft (das bewirkt: Verdoppelung der Wahlberechtigten von 0,5 auf 1 Million) 2. Parlamentsreform 1867: Wahlberechtigte: Inhaber einer städtischen Wohnung (das bewirkt: Vermehrung der Wahlberechtigten auf 1,5 Millionen). 4~ Rotteck, Staatslexikon, Bd. 4, Demokratisches Prinzip, S. 259. 41 Mill, Repr. Gov. S. 121; 154 unten .. 42 Rotteck, Landstände 142 unten, s. a. 82 unten, 110, 141; Staatslexikon, Bd. 4, Demokratisches Prinzip, 255. 38 39

C) John Stuart Mill

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I. Demokratie, Proportionalität und gemischte Verfassung Bei diesen in Problemstellung und Ziel so ähnlichen Gedankengängen gibt es allerdings einen begrifflich markanten Unterschied: das anzustrebende Ziel der Proportionalität besteht nach Rottecks Terminologie aus verschiedenen Elementen: das wenig bemittelte Volk ist ein demokratisches Element und die uneingeschränkte Gleichheit ein demokratisches Prinzip; die Vermögenden sind ein aristokratisches Element und der Gesichtspunkt des Besitzes ein aristokratisches Prinzip"; Proportionalität - d. h. die verhältnismäßige Beteiligung dieser Gruppen - ist demnach als Mischung verschiedener Elemente und als Mischung von Staatsformen zu begreifen. Bei Mill dagegen spielt sich die ganze Diskussion innerhalb des einen Begriffs der "Demokratie" ab45, was zur Folge hat, daß jene Unterscheidungen an anderer Stelle wieder auftauchen und zwar in Gestalt von Differenzierungen der Demokratie: Mill unterscheidet zwischen einer wahren und einer falschen Art dieser Staatsform46. Mit falschen Demokratien meint er "die gegenwärtig bestehenden Demokratien, (die) nicht nach dem Prinzip der Gleichheit, sondern nach systematischer Ungleichheit zugunsten der herrschenden Klasse aufgebaut sind"47. Diese Ungleichheit beruht entweder auf einem beschränkten Stimmrecht oder aber auf einem Wahlsystem, das die Klasse, die die zahlenmäßige Mehrheit bildet, bevorzugt und Minderheiten völlig entrechtet48. Knapp ausgedrückt handelt es sich um eine Verfassung, in der "nur ein Teil herrscht"49, was für uns bedeutet, daß mit jenem Begriff die ungemischten und insbesondere die entarteten Verfassungen gemeint sind. Demgegenüber entspricht die "wahre" oder "reine Demokratie" dem, was wir die gemischte Verfassung nennen: ihrer Definition nach handelt es sich um Regierung "durch das ganze, zu gleichen 4S Mill, Repr. Gov. S. 122 mitte (257 mitte): "every or any seetion would be represented, not disproportionately, but proportionately". U Rotteck, Staatslexikon, Bd. 4, Demokratisches Prinzip, 257. U Jedenfalls dann, wenn man Mills endgültige Gedanken d. h. seine Schrift "Representative Government" (1861) - zu Grunde legt; eine Bemerkung aus dem Diary vom 18. 3. 1854 läßt darauf schließen, daß Mill hier ein System mit konkurrierenden Gewalten als gemischte Staatsform betrachtete: Mill's Diary - January 8 to April 15, 1854, in: The Letters of John Stuart Mill, 2. Bd., S. 357 ff., hrsgg. v. Hugh S. R. Eiliot, London 1910, S. 379 f.; zitiert nach: Jacobs 151 unten f . • 1 "true and false democracy", auch: "really equal democracy" oder "pure idea of democracy", Repr. Gov. (256 f.). 47 Mill, Repr. Gov. 121 mitte. 48 ibid. 4. 122 mitte; daß dies der "entarteten Verfassung" entspricht, s. Repr. Gov. 133 oben.

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8. Kapitel

Teilen repräsentierte Volk"50, oder m. a. W. um die proportionale Vertretung jeder Gruppe51• Entsprechend der Zielsetzung dieser Arbeit dürfen wir uns nicht durch Begriffe irritieren lassen; es geht um die Sache und nicht um eine Vokabel. - Auf die Ausweitung des Demokratie-Begriffs werden wir später zu sprechen kommen52. Schauen wir uns vorerst Mills Demokratie-Begriff noch genauer an. Als erstes Prinzip der Demokratie wird die zahlenmäßig proportionierte Repräsentation bezeichnet, und diese ist auch der Inhalt des Begriffs der "wahren Gleichheit"53. Da sich die Verhältnismäßigkeit, die das Spezifische der Demokratie ausmacht, auf die im Gemeinwesen vorhandenen Klassen bezieht, ist die Existenz von Klassen ein konstituierender Bestandteil des Demokratie- und des Gleichheits-Begriffs. Daß die Proportionalität der Klassen das Kernstück der wahren Demokratie ausmacht, ist im Vergleich mit der vorherrschenden Auffassung, nach der sich die demokratische Gleichheit nur auf die Individuen bezieht, alles andere als eine Selbstverständlichkeit. Mills These zur Gleichheit ließe sich auf die Formel bringen, daß eine völlige politische Gleichheit der Individuen zu einer Ungleichheit bei der Vertretung der Klassen führt; d. h., daß sich die individualistische Gleichheit und die proportionale Gruppengleichheit wiedersprechen, wobei letztere als die wahre Gleichheit bezeichnet wird. John Stuart Milliehnt die falschen oder ungleichen Demokratien ab, aber er ist der Auffassung, daß auch die wahren, auf dem Prinzip der Gleichheit aufgebauten Demokratien entarten können, was eine neue Klassenherrschaft bedeuten würde. Gemeint ist mit diesen, sicherlich von Tocqueville beeinflußten Gedanken, daß eine zahlenmäßige Mehrheit der Arbeiter darauf hinausläuft, den anderen Klassen jeden Einfluß auf die politischen Entscheidungen zu nehmen54• Dies zu verhüten, gelten Mills politische Bestrebungen.

ß. Wahlrecht und gemischte Verfassung John Stuart Mills Überlegungen konkretisieren sich in zwei Vorschlägen: 1. dem Verhältniswahlrecht, 2. dem "abgestuften Wahlrecht". GO

51

121 mitte. 122 mitte; zu Mills Absicht, allen Klassen eine proportionale Vertre-

tung zu geben, bzw. jede einseitige Klassen-Tyrannei abzuwenden, s. Jacobs 125 -129,154; Ryan 208; Duncan 265. 6! s. Kap. 12, Abschn. 111. G3 Mill, Repr. Gov. 125 f.; s. a. 128 unten. GC Repr. Gov. 123 unten; 150.

C)

John Stuart Mill

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zu 1) Das in England gültige Mehrheitswahlrecht, bei dem das ganze Land in Wahlkreise eingeteilt wird, und jeder Kreis denjenigen Bewerber als Abgeordneten ins Parlament entsendet, der in diesem Wahlkreis die meisten Stimmen auf sich vereinigt, hat nach Mills Auffassung insbesondere den Nachteil, daß die Wähler, die nicht auf seiten der örtlichen Mehrheit stehen, gar nicht vertreten werden65, und eine Demokratie, "in der nicht alle Bürger, sondern nur die lokalen Majoritäten repräsentiert sind", ist als falsche Demokratie zu bezeichnen66 • Dies System hätte für den Fall der Ausdehnung des Wahlrechts auf die gesamte Bevölkerung57 folgende Konsequenz: Es "würde in jedem Wahlkreis die Mehrheit aus Arbeitern bestehen, und wenn Probleme anstünden, in denen die Arbeiterklasse mit der übrigen Bevölkerung nicht übereinstimmte, könnte sich keine andere Klasse bei der Wahl irgendwo durchsetzen"S8. Mill unterstützt deshalb mit vielen ins einzelne gehenden Argumenten ein von Thomas Hare entwickeltes Wahlsystem, auf das wir hier nicht genauer eingehen wollen, das jedenfalls im Effekt ein Verhältniswahlrecht darstellt59• Für Mill ist es ein Mittel zur Beseitigung der Klassenherrschaft, das überdies verhindert, "die Klassenherrschaft der Reichen durch die der Armen zu ersetzen", sondern dem Ziel dient, "beide Klassen auf eine Ebene miteinander" zu stellen80 • Die Wahlrechtsfragen sind von Mill unter dem Gesichtspunkt der Funktionsfähigkeit: der Mehrheitsbildung im Parlament und der Regierbarkeit sicherlich zu wenig durchdacht worden61 ; es kommt im 124. 131. 57 Das meint auch noch bei Mill (selbstverständlich) nur die Vollbürger: Kriterium ist das Steuerzahlen, bzw. es sind zumindest die Almosenempfänger vom Wahlrecht ausgeschlossen: Repr. Gov. 146 - 149; s. hierzu mit Kritik an Mills Auffassung: Ryan 210 f. - (Im Unterschied zu früheren Vorstellungen besitzen aber nach Mills Konzept - mit Nachdruck vertreten - die Frauen das Wahlrecht: Repr. Gov. 157 - 160). 58 ibid. 123 unten. Das bedeutet keine prinzipiell negative Einstellung Mills gegenüber der Arbeiterklasse, im Gegenteil: Mill hält diese für nicht so korrupt wie die anderen Klassen (Jacobs 127), und Mill hatte sich vor 1840 für die Emanzipation der Arbeiterklasse eingesetzt (was - seinem damaligen Konzept nach - durch ein Bündnis mit der Mittelklasse zu realisieren sei), s. hierzu: Holtoon 100 ff.; speziell mit diesem Konzept befaßt sich die Arbeit von Hamburger. Zur Verbesserung der Stellung der Arbeiter s. a. Anm. 71. 5' über das Wahlsystem von Thomas Hare: Repr. Gov. 126 -142; Ryan 209; Duncan 264 f. und 368 n. 18. 80 Repr. Gov. 135. 11 s. Shell19; Ryan 207. Mill hat noch keine klare Vorstellung von einer Parteien-Demokratie, sein Denken ist noch ziemlich stark am HonoratiorenParlament orientiert, s. etwa Repr. Gov. 137 -139; zu Mills Abneigung gegenüber Parteien s. Ryan 203 f. 55

58

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8. Kapitel

gegenwärtigen Zusammenhang auch nicht darauf an, diesen Fragen weiter nachzugehen, aber folgender Hinweis gehört zur hier behandelten Problematik: Mill stellt eine Verbindung her zwischen dem Verhältniswahlrecht und der gemischten Verfassung im Sinn der gleichmäßigen Herrschafts-Partizipation aller Gruppen. So plausibel diese Verbindung auch erscheint -, aus ihr darf weder gefolgert werden, daß jede moderne Realisierung von Verfassungsmischung notwendig durch das Verhältniswahlrecht erfolgen müsse, noch daß dieses eine gemischte Verfassung gewährleiste. Wie schon mehrfach gesagt, gilt auch hier, daß bestimmte Institutionen zwar dem Ziel der Verfassungsmischung dienen können, aber nicht als solche hiermit identisch sind. Das Verhältniswahlrecht entspricht in der Tat der gemischten Verfassung, aber nur unter der Voraussetzung von Klassenparteien, oder dann, wenn jedenfalls nach Klassengesichtspunkten gewählt wird. Bei einem anderen Parteitypus - so etwa bei dem der offenen Volkspartei - kann sich die Sache anders verhalten.

zu 2) Nun zu Mills zweitem Vorschlag, dem "abgestuften" oder "Pluralwahlrecht"82. Auch in der wahren Demokratie mit proportionaler Repräsentation "läge die absolute Gewalt, wenn sie in Anspruch genommen würde, bei der zahlenmäßigen Mehrheit, und diese bestünde ausschließlich aus Vertretern einer Klasse ... Das Regierungssystem trüge insofern noch immer die negativen Kennzeichen einer Klassenherrschaft - allerdings in weit geringerem Maße als jene ausschließliche Herrschaft durch eine Klasse, die gegenwärtig den Namen Demokratie usurpiert hat"83. Mills Ziel ist aber, Reiche und Arme auf eine Ebene miteinander zu stellen und die Dominanz einer Gruppe zu verhindern. Eine mögliche Abhilfe glaubt er darin zu sehen, daß die Ausdehnung des Stimmrechts auf alle Bürger nicht notwendig bedeuten müsse, daß jeder die gleiche Stimme hat". - Auf die Frage, welcher Unterschied beim Wahlrecht zur Geltung kommen soll, lehnt Mill "einen überlegenen Einfluß mit Rücksicht auf den Besitz" als völlig unzulässig ab85 • Dagegen scheint es ihm nötig, die Unterschiede der Bildung für die politischen Entscheidungen zu berücksichtigen, was keineswegs bedeutet, daß er dies nicht im Zusammenhang der Klassenunterschiede sähe: "Doch wie die Dinge liegen, würden (bei Ausdehnung des Wahlrechts) in den meisten Ländern und besonders bei uns die Arbeiter die große It "graduated suffrage" z. B. (290); "plural voting" z. B. (287); s. hierzu: Jacobs 132, 157,255 f.; Ryan 210 - 212. 83 Repr. Gov. 143. 64 150 mitte. 85 151 unten.

C) J ohn Stuart Mill

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Mehrheit der Wähler stellen; und die doppelte Gefahr eines zu niedrigen Standards der politischen Bildung und einer einseitigen Klassengesetzgebung bestünde weiterhin in äußerst bedenklichem Maße"." Mills Pluralwahlrecht sieht vor, daß Wähler mit größerer Bildung mehrere Stimmen bekommen. Das Kriterium für die Abstufung sind die Ausbildungsnachweise; solange aber ein allgemeines und verläßliches Prüfungssystem nicht existiert, sollen die Beschäftigungen der Menschen den Anhaltspunkt geben67, was im Effekt dann doch sehr nahe an eine Unterscheidung nach Besitzverhältnissen herankäme 68. Daß das Ziel einer gemischten Verfassung eine Balance bzw. eine Mitte zwischen zwei Extremen ist, wird deutlich an Mills Äußerungen, daß eine Klassenherrschaft verhindert werden soll, aber die Gefahr des Umschlags in die Herrschaft einer anderen Klasse gegeben ist. Wie schon gesagt, soll dies System "ein übergewicht der Arbeiterklasse im Parlament verhindern"89; aber "das Pluralwahlrecht darf unter keinen Umständen so weit getrieben werden, daß die Individuen, die dieses Vorrecht genießen, bzw. die Klasse (falls es eine solche gibt), der diese Individuen angehören, mit seiner Hilfe das ganze übrige Gemeinwesen majorisieren. Die schon an sich richtige Differenzierung zugunsten der Bildung ... darf ... nicht so weit gehen, daß sie es den Gebildeten ermöglicht, ihrerseits zum eigenen Vorteil Klassengesetzgebung zu praktizieren"70. Auf eine spezifisch liberalistische Rechtfertigung dieses abgestuften Wahlrechts soll noch hingewiesen sein: Die Privilegien, die hierdurch vergeben werden, hängen nach Mills Auffassung letztlich nur vom einzelnen selbst ab, da es niemandem versagt ist, den Nachweis zu bringen, daß er die entsprechenden Voraussetzungen erfüllt; sie brauchen also "das Rechtsgefühl keines Menschen zu verletzen"71. Wenn man fragt, wieso das abgestufte Wahlrecht mit Mills entschiedenem Engagement gegen Vorrechte und gegen ungleiche Demokratien vereinbar ist, müssen wir auf das zu Anfang festgestellte zurückkommen: Gleichheit bedeutet von vornherein Proportionalität. Wenn sich aber die Gleichheit als Proportionalität auf unterschiedliche Klassen 11

e?

150 oben. 152 f.

68 s. dazu auch S. 154: solange jenes Wahlrecht mit einem zuverlässigen Kriterium für die Bildung noch nicht eingeführt ist, soll auf ein Zensuswahlrecht nach Vermögensverhältnissen nicht verzichtet werden. 10 155; s. a. Anm. 54. 70

71

153. 154 oben. Dabei muß freilich gesehen werden, daß Mills Ziel sowohl eine

möglichst große Gleichheit hinsichtlich der Erziehung als auch eine breite Streuung des Eigentums ist; s. Jacobs 125 - 129, 220.

152

8. Kapitel

bezieht, ist es durchaus konsequent, in einer "gleichen Demokratie" zwischen ungleichen Gruppen zu unterscheiden.

m. Gewaltenteilung und Misdlung von Entsdleidungsstrukturen Wenn man nicht der Problematik der Bedeutung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen für die Verfassung nachgeht - wie hier geschehen -, sondern sich am Stichwort des "mixed government" orientiert, findet man bei J. S. Mill etwas ganz anderes als das hier dargestellte: In durchaus ähnlichen Formulierungen wie bei Montesquieu72 und bei Tocqueville73 kommt J. S. Mill auf das Thema des "mixed and balanced government" zu sprechen. Aber während Tocqueville, auf den Mill mit der Umschreibung einer "bedeutenden Autorität" verweist, in seinen überlegungen, daß man die Gewichte in einer Verfassung nie völlig gleichmäßig balancieren kann, ausdrücklich von den gegensätzlichen Klassen handelt, spricht Mill in diesem Zusammenhang nur von den drei Gewalten der britischen Verfassung: der Krone, dem Parlament und der Regierung; und wenn Mill ähnlich wie Montesquieu Gedanken darüber anstellt, daß eine extensive Ausnutzung der Kompetenzen zu einem Stillstand führen würde, fehlt seinen Regierungsorganen das soziale Substrat, das bei Montesquieu den Hintergrund für solche Gedankengänge abgibt. Mill beabsichtigt erstens eine Gewaltenteilung zwischen Volksvertretung und Regierung: die Volksvertretung muß unbedingt die letzte Kontrolle in der Hand haben74 , aber sich andererseits auch hierauf beschränken und nicht selbst die Regierungsgeschäfte ausführen wollen75 • Zweitens betont Mill die Notwendigkeit folgender Differenzierung: die politischen Angelegenheiten sollen nicht durch das direkte Votum des Volkes entschieden werden, sondern durch dessen Repräsentanten; aber diese Wenigen gilt es den Vielen verantwortlich zu machen78• Mit diesem Hinweis wollen wir uns begnügen, weil diese zweifellos auch sehr wichtige Art von Verfassungsmischung nicht Gegenstand unserer Erörterung ist77 •

12 Vgl. Montesquieu, De l'Esprit des Lois 226 mitte (172 mitte) mit Mill, Repr. Gov. 89 unten (228 mitte). 13 Vgl. Tocqueville, De la Democratie en Amerique, 1/290 mit Mill, Repr. Gov. 89 mitte, 90 mitte (228 mitte, 229 mitte). 14 Wobei Mill geradezu inhaltsleer die Souveränitäts-These repetiert, diese höchste Gewalt, die die letzte Kontrolle besitzt, müsse ungeteilt sein, Repr. Gov. (228). 15 Repr. Gov. 91 ff. 16 Jacobs 152 -156; Duncan 266. 71 s. Kap. 12, I.

D) Heinrich Ahrens

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D) HEINRICH ABRENS

Trennung zwischen atomistischem und ständischem Staatsaufbau Nach den geschilderten Bemühungen, der Gleichheit der Bürger gerecht zu werden und zugleich die gesellschaftlichen Unterschiede in die politische Willensbildung einzubauen, soll eine andere Konzeption erwähnt sein, die politische Gleichheit und gesellschaftliche Ungleichheit nicht miteinander vermengen will, sondern zwischen beiden einen Trennungsstrich zieht, und das Gemeinwesen auf zwei nebeneinander stehenden Säulen aufbaut. Heinrich Ahrens entwirft eine Verfassung mit zwei Parlamenten: der Volkskammer und der Ständekammer78 . Beide Häuser werden auf verschiedene Weise gewählt. "Das Erstere geht aus Wahlen hervor, welche ohne Rücksicht auf die ständische Gliederung der Gesellschaft, nach bestimmten örtlichen Abteilungen der Persönlichkeitskreise vor sich gehen und bei welchen nur allgemeine auf die Persönlichkeit sich beziehende natürliche und geistig-sittliche Bedingungen zur Ausübung des Wahlrechts und zur Wählbarkeit aufzustellen sind. Das Ständehaus wird dagegen durch ständische Wahlen gebildet79." Für letzteres werden Bedeutung und Gewichtigkeit der Interessen durch gesetzliche Bestimmungen zu Grunde gelegt8o. Hier werden die verschiedenen Berufskreise und auch sonstige "gesellschaftliche Kulturgruppen" vertreten81 . Im Gegensatz zum "organischen Wahlsystem" ist die "direkte" Wahl zur ersten Kammer ein "mechanisch-arithmetisches"82 bzw. ein "abstraktes individualistisches und atomistisches System"83. - Später modifiziert Ahrens allerdings sein Konzept: er lehnt das atomistische Wahlsystem völlig ab; die erste Kammer soll sich statt dessen aus den Gesamtverbänden, d. h. den lokalen Gliederungen des Staates aufbauen84 • Das (damalige) Zustandekommen des amerikanischen Senats 78 Ahrens, Organische Staatslehre, Besonderer Teil, Kap. 3 (S. 161-166); Enzyklopädie, 4. Buch § 6 (S. 773 -781); die spätere Modifizierung in: Naturrecht, Bd. 2 § 118 (S. 374 - 395). 79 Enzyklopädie 780 oben; zum Begriff des Persönlichkeitskreises s. Enzyklopädie 776; später wird dies von Ahrens als "Gesamtverband" bezeichnet: Naturrecht 385. 80 Organische Staatslehre 165 oben; diese Bestimmungen sind allerdings nicht starr, sondern "in der Art, daß auch ein gewisser Spielraum für die Bewegung dieser Interessen, für das Steigen und Fallen derselben, gelassen und für entsprechende Änderungen in der repräsentativen Stellung dieser Interessen, vorhergesehen würde". 81 Aufzählung im einzelnen: Naturrecht 386; zur Gliederung der Gesellschaft bei Ahrens s. Klüver 96 - 103; Angermann, Robert von Mohl 338 - 342. 82 Organische Staatslehre 161, 165. 88 Naturrecht 377. 84 Naturrecht 384 ff.; s. bes. die Fußnote auf S. 385. Die Bezeichnungen "Erste" und "Zweite Kammer" verwendet Ahrens durchgehend so, daß die

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8. Kapitel

ist ihm hierfür eine "letzte praktische Rechtfertigung"85. - Aber an seinem Prinzip der "Zweiteilung der Vertretung"88 ändert sich dadurch nicht viel, denn nach wie vor erscheint das Volk in ersterer Hinsicht "als Einheit, in letzterer Hinsicht in der Verschiedenheit der sozialen Berufsgenossenschaften oder Stände"87. Für die zweite Kammer macht Ahrens die Ziele der gemischten Verfassung geltend, wenn er in dieser Kammer die Prinzipien der Mäßigung und Vermittlung vertreten sieht, ihr die Aufgabe zuweist, die verschiedenen Interessen auszugleichen und jedes maßlose Hervordringen eines Standes politisch zurückzuhalten, bzw. wenn er "eine zu überwiegende Vertretung" eines einzelnen Standes ablehnt88. Zwar spielen solche dem Zweck der gemischten Verfassung entsprechende Argumente bei Ahrens keine überragende Rolle, aber es ist bei diesem Konzept doch von einigem Interesse, an welchem Ort die Mischung der gesellschaftlichen Gruppen stattfindet: nur in der einen Hälfte der Organisation der Gesellschaft, in einer Volksvertretung, die eigens für die Probleme der unterschiedlichen Gruppen geschaffen ist, während die politische Gleichheit ihre eigene Institution erhält89• Gewiß mochten die im 19. Jahrhundert bestehenden Zweikammersysteme eine solche Theorie nahelegen0o, es ist aber zu beachten, daß ein Zweikammersystem auch aus völlig anderen Gründen gerechtfertigt Volkskammer (gleichgültig ob diese atomistisch oder als Vertretung der Provinzialstände organisiert ist) als erste, die Ständekammer (Vertretung der Berufsstände) als zweite bezeiclmet wird. 85 Naturrecht 389. M Enzyklopädie 778. 87 Organische Staatslehre 161 mitte; s. a. Enzyklopädie 779; Naturrecht 385. Zur Teilung der Volksvertretung (nach Ahrens' späterer Konzeption) entsprechend den Prinzipien der Einheit und Verschiedenheit s. Klüver 129 -133. 88 Organische Staatslehre 162; auf S. 163 gegen den Despotismus der Majorität; s. a. die Gleichgewichtsvorstellung in: Naturrecht 392. 8t Die Trennung zweier institutionalisierter Wege der Willensbildung hat für Ahrens nichts mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu tun; nach seiner Terminologie sind beide Vertretungen keine staatlichen Organe, sondern gesellschaftliche Körperschaften. Eine Trennung von Staat und Gesellschaft lehnt Ahrens entschieden ab, für ihn ist der Staat das Rechtsorgan der Gesellschaft im Gegensatz zu anderen Sphären gesellschaftlicher Tätigkeit; s. Klüver 116, 134 f.; Friedrich Müller 326 f. (Zu anderen Bedeutungen, die der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu Grunde gelegt werden können s. Kap. 9, Abschn. II 1. a; auch in der vorliegenden Untersuchung wird sich die Begrifflichkeit von Staat und Gesellschaft nicht an Ahrens Terminologie, sondern - in Anlehnung an R. Mohl - an der Unterscheidung von individualistischer Gleichheit im Gegensatz zur Ungleichheit organisierter Gruppen orientieren.) - Zu den Funktionen der Volksvertretung bei Ahrens und zum Verhältnis zwischen ihr und der Regierung s. Klüver 127129; H. Brandt 248. 80 Verweis auf bestehende Zweikammersysteme: Enzyklopädie 779, Fußnote; Naturrecht 386, 389 f.

D) Heinrich Ahrens

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werden kann, und daß in einem solchen System keineswegs eins der beiden Häuser notwendigerweise nach Prinzipien der Verfassungsmischung aufgebaut sein muß, - ein Faktum, das von Ahrens selbst reflektiert wird91 • Dies Konzept von Heinrich Ahrens hatte seinen Einfluß auf Robert Mohl92, dessen politisches Denken stärker vom Problem der gemischten Verfassung bestimmt ist, und der dies auf wiederum andere Weise ins Spannungsfeld zwischen Gleichheit und Ungleichheit stellt:

81 Enzyklopädie S. 778 über die verschiedenen historischen Gründe für ein Zwei-Kammer-System und die häufige Unterscheidung nach aristokratischem und demokratischem Element. S2 Angermann, Robert von Mohl S. 343; s. a. die Hinweise von Ahrens auf Mohl: Enzyklopädie 779 Fußnote; Naturrecht 384 Fußnote.

9. Kapitel ROBERT MOHL

Ausgleich der Gruppen in der pluralistischen Volksvertretung I. Das Ausgangsproblem: Aufbau der Gesellschaft auf abstrakter Gleichheit oder auf den Interessengruppen Beginnendes Zeitalter der Gleichheit nannten wir den Zeitraum, mit dem sich diese Arbeit befaßt. Dies bedeutet für die europäischen Staaten um die Mitte des vorigen Jahrhunderts, daß das gleiche Wahlrecht und das "System der Volksvertretung nach bloßer Kopfzahl"1 immer mehr Anhänger findet. Robert Mohl hält diese Gleichheit als AufbauPrinzip des Staates für schlecht, da sie den anstehenden Problemen das sind insbesondere die Klassengegensätze - überhaupt nicht gerecht werde. Wenn ein Parlament durch gleiche Wahl zustande kommt, sind alle Abgeordneten Repräsentanten der ganzen Nation und nicht Vertreter der konkreten verschiedenen Gesellschaftsgruppen. Durch das gleiche Wahlrecht wird nicht der Bezug der Abgeordneten zu den vorhandenen Interessen hergestellt, sondern ganz im Gegenteil, dieser Bezug wird abgeschnitten, und die tatsächlichen Strukturen der Gesellschaft werden ignoriert!. Zwar läßt sich behaupten, das gleiche Wahlrecht, der Charakter der Abgeordneten als Repräsentanten des gesamten Volkes und die Tatsache, daß die Interessengruppen nicht als solche ins Parlament kommen, sei ein Vorteil, weil dies eine einheitliche Willensbildung und die Integration der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen erleichtere. Dieser Argumentation ist aber entgegenzuhalten, daß ein von den Interessengruppen absorbiertes Parlament nur den äußerlichen Eindruck einer Integration erweckt, denn von wirklicher Gleichheit kann gar keine Rede sein, und ein Parlament, das echte Integration bewirken soll, muß davon ausgehen, woraus die Gesellschaft wirklich besteht: den konkreten Gruppen. Diese von Mohl vorgebrachte Argumentation kann man nicht als lediglich ständisch und altmodisch abtun. Im Gegenteil, die Behaup1 Repräsentativsystem 200 mitte; zu Mohls Kritik des allgemeinen Wahlrechts s. Angermann, Robert von Mohl 271. 2 s. hierzu im einzelnen unten S. 165 f.

Robert Mohl

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tung, daß man unbedingt von den tatsächlichen Interessen ausgehen müsse, ist auch ein tragender Gedanke bei allen sozialistischen Denkern der Zeit. Die Voraussetzung jeder Klassentheorie ist die Existenz von Bevölkerungsgruppen mit verschiedenen Interessen, und das Erkennen dieser Interessen ist für das Klassenbewußtsein zwingend erforderlich; eine Gleichheit, die von den Interessengegensätzen absieht, wird als bloß formal abgelehnt, eben weil sie die tatsächlichen Differenzen verschleiert. Wenn auch aus diesen Überlegungen völlig verschiedene Konsequenzen gezogen werden, - die Argumentation ist in einem schmalen Ausgangsbereich die gleiche bei sozialistischen Denkern und bei Mohl, den man als Liberalen mit sozialreformerischem Engagement bezeichnen könnte. - Zwar spielen bei ihm auch ganz andere Erwägungen eine Rolle: Das System der Vertretung nach der Kopfzahl stößt auf Skepsis wegen der im damaligen gehobenen Bürgertum verbreiteten Ansicht, dies sei ungerecht wegen der Ungleichheit zwischen den wenigen Gebildeten und der Masse der Ungebildeten. Tragendes Argument ist aber für Mohl jenes andere von der Notwendigkeit des direkten Bezugs zu den Interessen, und auf Grund dessen kommt er zu einer eigenen und sehr eigenwilligen Konzeption für den Aufbau der Gesellschaft und der Bildung von Parlamenten; eine Konzeption, die - gesprochen in den Begriffen dieser Untersuchung - zu Recht als gemischte Verfassung bezeichnet werden kann, und die für unseren Zusammenhang hoch interessant ist. Das nicht deshalb, weil sie in manchen Punkten seltsam erscheint und als ein Kuriosum vorgeführt werden soll, sondern weil Mohls Gedanken aus dem Kern unserer Problematik geboren sind: der Frage nach der unmittelbaren Bedeutung von verschiedenen Gruppen für den Aufbau eines Gemeinwesens gegenüber einem reinen Gleichheitskonzept; und weil seine Gedanken entstanden sind in der Auseinandersetzung mit den aktuellsten Problemen der Mitte des vorigen Jahrhunderts: der Industrialisierung, der sozialen Frage und den Klassengegensätzen. Auf Grund von Mohls Gedankenführung werden wir zu prinzipiellen Überlegungen gelangen: über Möglichkeitsbedingung und Form von Verfassungsmischung in Anbetracht zweier neuartiger Strukturen der Gesellschaft: a) der Klassenstruktur des vorigen Jahrhunderts auf Grund der industriellen Revolution und des Kapitalismus, b) der Differenzierung von Staat und Gesellschaft; ferner über den veränderten Charakter und die Rolle des Mittelstands.

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9. Kapitel

11. Die Konzeption einer gemischten Verfassung für die Gesellschaft des 19. Jahrhunderts 1. Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft und der funktionale Charakter der gesellschaftlichen Gruppen a) Die Bedeutung des Unterschieds von Staat und Gesellschaft bei Mohl

Anstelle der Gleichheit und des einheitlichen Staatswillens propagiert Mohl nicht schlichtweg die Macht der Interessen, sondern er entwirft ein durchdachtes Sowohl-als-auch von direkter politischer Macht der gesellschaftlichen Gruppen einerseits und der Überordnung einer Gesamtvertretung andererseits. Die Art und Weise dieser Doppelstruktur der Volksvertretung mit den zum Teil sehr feinen Unterscheidungen kann man allerdings nur begreifen, wenn man Mohls Vorstellungen über den Unterschied von Staat und Gesellschaft kennt3 • "Gesellschaft" ist für Mohl der Inbegriff all derjenigen Gemeinschaften, die auf Sonderinteressen gleich welcher Art beruhen. Dazu zählt er die aus Arbeits- und Besitzverhältnissen herrührenden wirtschaftlichen Gliederungen der Gesellschaft, also die Klassen und die Berufsgruppen, ferner gehören die Volksstämme und die Rassen in diesen Bereich, ebenso die Städte und Gemeinden, des weiteren die Religionen, und auch die gesellschaftlichen Gruppierungen, die sich nach dem Grad ihrer Bildung unterscheiden, sind hierher zu rechnen4• Gemeinsam ist allen diesen von Mohl zur Gesellschaft gezählten Gruppen, daß sie einen nur fragmentarischen Lebenszweck verfolgen. - Demgegenüber bedeutet der Staat die "Verwirklichung des Einheitsgedankens im Volke"5, er nimmt das umfassende Gemeinschaftsinteresse wahr'. Dieser Gegensatz von nur fragmentarischem Lebenszweck und dem umfassenden Gemeinschaftsinteresse rechtfertigt aber bei Mohl nicht eine Folgerung, nach der es sich im einen Fall um das Gegeneinander der vielen Sonderinteressen handelt, im anderen Fall um das Gemeinschaftsprinzip; keineswegs, denn bei Mohl ist die Sphäre der Gesellschaft nkht der status naturalis, nicht das ungehemmte Gegeneinander von jedem denkbaren Eigennutz, während der Staat den geordneten Herrschaftsverband darstellt. 3 Zusammenhängend dargestellt bei Angermann, Robert von Mohl 330387, insbes. 343 - 354 u. 363 - 368; s. ferner 213, 224, 304 f., 307, 326. , Gesellschafts-Wissenschaften 35 - 41; Staatswissenschaften 94 - 97; Angermann, Robert von Mohl 347 - 351. 5 Gesellschafts-Wissenschaften 47 unten; Staatswissenschaften 99 unten; vgl. Angermann, Robert von Mohl 346 oben. e Angermann, Robert von Mohl 352 mitte.

Robert Mohl

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Eine solche Vorstellung über den Unterschied von Staat und Gesellschaft hatte als ihren Erfahrungsanlaß die Verschiedenheit zweier Bereiche: die Wirtschaft, das kulturelle Schaffen und die Privatsphäre, d. h. Tätigkeitsfelder, in denen die Menschen sich frei betätigen, und wo sich das Zusammenleben von selbst regelt und nur den immanenten Gesetzen dieser Tätigkeiten unterworfen ist, im Gegensatz zum Staat, der als Königtum, als Militär, Bürokratie und Gerichtswesen in Erscheinung tritt, der sich aus jener anderen Sphäre herauszuhalten hat, und im wesentlichen nur für äußere und innere Sicherheit sorgen soll, damit der Bereich der Gesellschaft ungestört funktioniert. Die vom Liberalismus propagierte Lehre der sich selbst regulierenden Wirtschaft und den eng zu begrenzenden Funktionen des Staates förderte eine solche Trennung der Bereiche und die entsprechende gedanklich scharfe Unterscheidung von Staat und Gesellschaft. Ein weiterer Aspekt dieser Gegenüberstellung sei kurz skizziert, um Mohls hiervon verschiedene Auffassung dann um so klarer herauszustellen. Historisch gesehen bedeutet diese Unterscheidung - in der politischen Philosophie Hegels - den Unterschied von spätmittelalterlichem Gesellschaftszustand und modernem Staat. "Gesellschaft" ist der Zustand der vielen unabhängigen und untereinander rivalisierenden Stände, die nur durch Verträge Streitigkeiten schlichten bzw. ordnende Regeln einführen können. Diesen Zustand gilt es zu überwinden durch den modernen Staat, der etwas "objektives, notwendiges, von der Willkür und dem Belieben unabhängiges"7 ist, und erreicht wird durch eine einheitsbildende Macht oberhalb der Gesellschaft. Beide Bedeutungen der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft: die im Sinn von historischen Stufen und die von zwei Sphären, d. h. von zwei gleichzeitig nebeneinander und als verschieden erlebbaren Strukturen der gesamtgesellschaftlichen Verhältnisse, werden in der HegeIschen Philosophie zusammengefaßt; Gesellschaft und Staat werden hier als Momente eines dialektischen Prozesses begriffen: die historisch frühere Stufe bringt die folgende hervor, aber jene wird dadurch nicht aufgehoben, sondern wird zu einem Bestandteil der späteren. Die Gesellschaft wird dabei als Sphäre der Bedürfnisse und der Besonderheit charakterisiert, der Staat als die Sphäre des Notwendigen, der Einheit und des Allgemeinen8 • 7 Hegel, Württemberg S. 183. Auf den Begriff "Staat und Gesellschaft" hat Hegel seine Unterscheidung erst in der Rechtsphilosophie (1821) gebracht; aber das, was er sachlich unterscheiden wollte, wird auch in den früheren Schriften z. T. sehr gut deutlich. 8 Zur Charakterisierung der beiden Sphären: Rechtsphilosophie § 181 ff., Enzyklopädie3 523 - 534 (vgl. Enzyklopädie1 433, 437); Rechtsphilosophie 257 ff., Enzyklopädie3 535 - 546 (vgl. Enzyklopädie1 438 - 442). s. hierzu: Riedel, Der Begriff der "Bürgerlichen Gesellschaft"; Riedel, bürgerliche Gesellschaft S. 771 - 783; Friedrich Müller insbes. S. 158, 190 - 193, 196 f.; Bullinger 69 f.

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Dieser Hegeischen Vorstellung von Staat und Gesellschaft steht Mohl ablehnend gegenüber; er betrachtet Hegels Schema nur als "Teil eines logischen Prozesses"9. Auch ist sein Erfahrungsanlaß nicht der vom ungeordneten Gegeneinander der Menschen· im Bereich der Wirtschaft einerseits und der staatlichen Einheit andererseits. Mohl kommt auf folgende Weise zu seiner Unterscheidung: Ursprünglich begreift er das menschliche Zusammenleben als einheitliches System; das atomistische und individualistische Prinzip gilt für alle wichtigen Lebensbereiche: Der staatliche Bereich ist vom Rechtsstaatsgedanken geprägt, der von der Gleichheit der Individuen ausgeht, und mit dieser atomistischen Vorstellung "stimmt die Lehre A. Smith's in ihrem innersten Wesen überein. Sie ist nichts anderes als das Prinzip des Rechtsstaates, angewendet auf die Wirtschaftslehre"lo. - Dann aber stellt Mohl fest, daß sich sehr wichtige Fakten in diese Vorstellung nicht einordnen lassen, so die Klassenunterschiede, und so insbesondere die Assoziationen, d. h. Gemeinschaften, .die sich frei bilden und ihre Mitglieder aus der Hilflosigkeit und der Vereinzelung der bloßen Individualität befreien wollen. Eine solche Abhilfe gegen die Vereinzelung erscheint Mohl eine wichtige Aufgabe. Er macht sich deshalb die Überwindung des atomistischen Charakters des Rechtsstaats zum eigenen Anliegen; und mit dem Begriff der Gesellschaft bezeichnet Mohl jene genannten sozialen Formen. "Gesellschaft" steht also für das Gemeinschaftsprinzip, gerade im Gegensatz zum atomistischen Prinzip des Staates. Mohls Begriffsbildung entstand aus dem Problem, eine tatsächlich neuartige Realität zu begreifen: Der Staat ist die umfassende Gemeinschaft und übergreifende Einheit, aber das ihm zu Grunde liegende Aufbauprinzip ist atomistisch. Demgegenüber gibt es viele verschiedene sich u. U. widersprechende Interessengruppen, aber deren Aufbauprinzip ist das der Assoziation. - Mohls Formel von Staat und Gesellschaft hebt sich gegen zweierlei ab. Zum einen gegen das mechanistisch-atomistische Gesellschaftsbild vom Staat der Rechtsgleichheit und der liberalistischen Wirtschaftsgesellschaft, das die Assoziationen überhaupt nicht richtig zu fassen bekommt; zum anderen aber auch gegen das ständische Gesellschaftsbild, das den modernen Rechtsstaat der gleichen Individuen nicht begreift, und auf Grund der korporativen Vorstellung den modernen Charakter der Assoziationen ebenfalls nicht erfaßtl l . 9 Gesellschafts-Wissenschaften 18 mitte; vgl. Angermann, Typen des Ausgleichs 192 f.; ders., Robert von Mohl332 f. 10 Politische Ökonomie 21 mitte; vgl. Angermann, Robert von Mohl 335 .unten; Friedrich Müller 224 unten. 11 Manches wurde hier vereinfacht dargestellt, so insbesondere, daß Mohl insgesamt drei Sphären unterscheidet: neben denen von Staat und Gesellschaft noch die des Individuums. s. Angermann, Robert von Mohl 353.

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b) Die sich überschneidenden "gesellschaftlichen Kreise" In der ständischen Gesellschaft sind die Individuen nur Mitglieder der untersten sozialen Einheiten, d. h. der Familien und der Berufsgenossenschaften; aber in allen höheren, und d. h. politischen Gemeinschaftsformen sind die Individuen keine unmittelbaren Mitglieder. Die politischen Gemeinwesen setzen sich nicht aus ihren Einwohnern zusammen, sondern sie bilden sich und bestehen als Zusammenschlüsse der Stände, also der jeweils kleineren Organisationen, d. h. zum Beispiel, daß ein Fürstentum sich als Föderation seiner Städte und Grafschaften versteht, nur diese erscheinen auf dem Landtag, diese aber vertreten die nächst kleineren Stände. Im Gegensatz zu dieser einreihig hierarchischen Ordnung gibt es im neuen, nicht mehr ständischen System ein Sowohl-als-auch: die Individuen sind unmittelbar Bürger des Staates (und seiner Untergliederungen), ferner sind sie Mitglied in anderen Organisationen und sozialen Formen: in Vereinigungen, Parteien, Verbänden und Klassen. Diese sind von großer Bedeutung für das wirtschaftliche und auch das politische Leben, aber der Staat begreift sich nicht als ein Zusammenschluß solcher Organisationen, im Gegenteil, diese sind überhaupt keine Träger von Verfassungsrechten. Der Staat wird verstanden als Gemeinschaft seiner Bürger, denen unmittelbar über das Abstimmungs- und Wahlrecht die Mitwirkung an staatlichen Entscheidungen zukommt. Die anderen sozialen Organisationen sind formal nicht in die staatliche Struktur eingebaut. Aber nicht nur im Hinblick auf ihre Position in der politischen Gemeinschaft unterscheiden sie sich von den früheren Korporationen; ihre eigene Struktur ist eine wesentlich veränderte. Im Kapitel über Tocqueville hatten wir schon einige Eigenschaften betrachtet, die das Besondere der modernen Assoziationen ausmachen: Der freie Ein- und Austritt bedeutet, daß solche Organisationen ihren Mitgliedern grundsätzlich zur Disposition stehen, womit zusammenhängt, daß Vereinigungen auf einen bestimmten und umgrenzten Zweck festgelegt und ausgerichtet werden können. Diese modernen Charakteristika werden auch von Mohl gesehen12 • Er hat darüber hinaus u. a. folgende Eigenschaft hervorgehoben: die mögliche gleichzeitige Mitgliedschaft in mehreren Organisationen, d. h. in verschiedenen konkreten Vereinigungen, aber auch grundsätzlich - was die Voraussetzung hierfür ist - in verschiedenen gesellschaftlichen Sphären, die die Möglichkeit förmlicher Organisationen bieten13 • 12 s. zur Vereinigungsfreiheit bei Mohl: Friedrich Müller 277 unten f.; zum Zusammenhang von sozialer Frage und Vereinigungsfreiheit S. 290 f.; zu den Vorteilen der freien Vereine 294 f.; zu den politischen Vereinen 303 f. 13 Gesellschafts-Wissenschaften 44; Staatswissenschaften 97 unten; vgI. Angermann, Typen des Ausgleichs 194, 202; ders., Robert von Mohl 347 oben.

11 Wembel"

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Welche das im einzelnen sind, wird uns gleich noch beschäftigen. Jedenfalls leuchtet ein, daß gerade dieses letzte Charakteristikum der gleichzeitigen Mitgliedschaft in verschiedenen gesellschaftlichen Gruppierungen von tiefgreifender Bedeutung für die Problematik der Verfassungsmischung ist. Wenn man es in einem Gemeinwesen nicht mehr mit klar sich gegenseitig ausschließenden Gruppen zu tun hat, sondern wenn die Bürger potentiell Mitglied in verschiedenen Gruppen sind, dann muß auch die Mischung solcher Gruppen einen veränderten Charakter bekommen, wie auch die Differenzierung der politischen Gemeinschaft in Staat und Gesellschaft nicht ohne Auswirkungen auf die Struktur einer möglichen gemischten Verfassung ist, denn dies ist eine erste und grundlegende Differenzierung der Gemeinschaft in verschiedene Sphären, in denen die Menschen gleichzeitig Mitglied sind. 2. Das Repräsentativsystem a) DaTstellung von Mohls System deT VolksveTtTetung

Ein Parlament nach der Mohlschen Konzeption ist eine Mischung im wahrsten Sinn des Wortes: die Volksvertretung ist zusammengesetzt aus allen gesellschaftlichen Gruppen, und zwar unter Berücksichtigung der modernen Arten der Organisationen. Es sollen unter anderem vertreten sein der Grundbesitz, der Handel, die Lohnarbeiter, die Kirchen, die Bildungsberufe, die Beamten und die Gemeinden. Dabei handelt es sich nach Mohl um drei verschiedene gesellschaftliche Sphären, denen die genannten Gruppen zuzuordnen sind: die materiellen Interessen, die geistigen und die lokalen1". - Jeder Bürger hat zumindest potentiell Anteil an allen Bereichen, und keineswegs ist die Interessenlage zwischen diesen immer kongruent. Die vertretenen Teile der Bevölkerung ergänzen sich also nicht lediglich additiv, sondern entsprechend der tatsächlichen Organiastionsstruktur der Gesellschaft werden dieselben Bürger nach verschiedenen Sachzusammenhängen u. U. mehrfach vertreten. Wie eingangs gesagt, ist dieses System konzipiert gegen die nach der bloßen Kopfzahl gewählten Volksvertretungen. Daß freilich aus einer Zusammenwürfelung von Interessengruppen noch nicht mit Notwendigkeit eine Vertretung eines Gesamtinteresses entsteht, ist Mohl durchaus bewußt. Seine Volksvertretung baut sich in drei Stufen auf. "Es bestehen dreierlei Arten von vertretenden Versammlungen: (1) die Sondervertretungen, bestimmt zur Wahrung der Rechte und Interessen einzelner, von der Verfassung nach ihrer Bedeutung besonders anerkann14 Repräsentativsystem 198 f.; s. a. Angermann, Typen des Ausgleichs 199; Angermann, Robert von Mohl 422.

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ter gesellschaftlicher Kreise; (2) die zusammengesetzten Vertretungen, beauftragt mit der gemeinschaftlichen Besorgung der für mehrere solcher Kreise bedeutsamen Angelegenheiten; (3) endlich die Vereinigung sämtlicher Sondervertretungen zu einer allgemeinen oder Gesamtvertretung, zur Verteidigung aller der Gesamtheit des Volkes als Einheit oder jedem einzelnen Bürger ohne Unterschied zustehenden Rechte und Interessen16•" Die Gattungen von "gesellschaftlichen Kreisen" sind oben schon benannt worden; zu denen auf materieller Grundlage zählt Mohl vier solcher Kreise: den großen Grundbesitz, den kleinen Grundbesitz, Gewerbe und Handel und die Lohnarbeiter. Die gesellschaftlichen Kreise mit geistigen Interessen sind die Kirchen, die wissenschaftliche Bildung und die Kunst; schließlich begründet das räumliche Zusammenleben - ausgebildet zu Gemeinden - einen weiteren gesellschaftlichen Kreis18• Die Zahl der Kreise ist nicht ein für allemal festzulegen, "ein solcher Kreis ist vorhanden, wenn ein bleibendes und wichtiges Interesse der Mittelpunkt gemeinschaftlicher Zustände und Forderungen an den Staat ist"1? (I) Jeder dieser Kreise hat eine eigene Vertretung 18 ; diese besteht ausschließlich aus Mitgliedern des betreffenden gesellschaftlichen Vereins. "Die Zahl der Mitglieder richtet sich in den einzelnen Versammlungen nach der Ausdehnung des Vereins; jedoch muß sie unter allen Umständen zahlreich genug sein, um die verschiedenen Abschattungen und Ansichten enthalten zu können1'." - Die Zuständigkeiten dieser Sondervertretungen bei der Mitwirkung an der Gesetzgebung oder zur Abwehr ungerechtfertigter Staatshandlungen ist in allen Fällen gegeben, "welche unmittelbar und ausschließlich den Zweck eines verfassungsmäßig anerkannten gesellschaftlichen Kreises betreffen"20. (2) Die zusammengesetzten Vertretungen bestehen aus Ausschüssen

der Sondervertretungen. "Die Zahl der Mitglieder des Ausschusses ist für jede Sondervertretung ein für allemal gesetzlich bestimmt, und zwar in verschiedener Größe und unter Zugrundelegung der Wichtigkeit der Zwecke und Gegenstände eines jeden Kreises ... Die vereinigten Ausschüsse bilden eine Versammlung, welche nach einfacher Stimmenmehrheit entscheidet. Eine itio in partes ist nicht

15 18

17 18

18 !O

Repräsentativsystem 176 mitte. ibid. 198 f. 175 unten. ibid. 176 unten. 178 mitte.

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gestattet!!." - Die Kompetenzen erstrecken sich auf "diejenigen Angelegenheiten, welche einen unmittelbaren Einfluß auf die Rechte und Interessen mehr als eines gesellschaftlichen Kreises haben; also wo Gesetze zu befolgen sein sollen in mehreren Kreisen, oder wo eine Staatshandlung den Zweck verschiedener Kreise gleichmäßig verletzte"!! . (3) "Die Gesamtvertretung besteht aus den Ausschüssen sämtlicher

Sondervertretungen. Auch hier wird nicht nach Abteilungen, sondern mit der für die verschiedenen Gegenstände verfassungsmäßig vorgeschriebenen Stimmenzahl entschieden. Ebenso können die einzelnen Ausschüsse keine Instruktionen von ihren Abteilungen erhalten. In der allgemeinen Versammlung erscheinen überhaupt die Mitglieder nicht als Abgeordnete ihres besonderen Gesellschaftskreises, sondern als Vertreter der Gesamtheit des Volkes23 ." - Die Gegenstände der ausschließlichen Tätigkeit dieser Gesamtvertretung sind genau aufgezählt. Dazu gehören die auswärtigen Angelegenheiten, die Verfassungsfragen, die Organisation der Staatsverwaltung, das Budget, die allgemeinen staatsbürgerlichen Rechte, die Gesetzgebung über die Rechtspflege und die "allgemeinen Maßregeln zur Förderung des Vermögenserwerbs"24.

Mohls Vorstellung über den Unterschied von Staat und Gesellschaft hat in diesem Repräsentativsystem seine organisatorischen Auswirkungen: Was die Abgrenzung zwischen Staat und Gesellschaft angeht, führt Mohl verschiedene Gremien ein mit getrennten Zuständigkeiten für staatliche und für gesellschaftliche Aufgaben. Dies nicht als zwei gleichberechtigte Institutionen nebeneinander - Mohls Forderungen gehen ja auch, wie dargelegt, nicht dahin, daß staatlicher und gesellschaftlicher Bereich säuberlich zu trennen seien und nichts miteinander zu tun hätten - sondern es ist sein Anliegen, beide so miteinander zu verbinden, daß das Gemeinschaftsprinzip im Gegensatz zum Individualismus auch im staatlichen Bereich zur Geltung kommt. - Die Sondervertretungen und die zusammengesetzten Vertretungen sind für gesellschaft!:'che Belange zuständig, die Gesamtvertretung dagegen für die staatlichen. Eine Verknüpfung existiert bezüglich der Kompetenzzuweisung insofern, als die Gesamtvertretung die Gesetzentwürfe der 21

22 t8

176 unten f. 178 ODen. 177 mitte. 178 oben; zum

2' hier nicht weiter behandelten Verhältnis zwischen Parlament und König s. die Ausführungen von H. Brandt (242 - 254), der herausstellt, daß Mohl im Gegensatz zu vielen deutschen Staatsdenkern (wie Dahlmann, L. v. Stein, H. Ahrens) den politischen Primat des Monarchen brechen will.

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anderen billigen muß und im Streitfall entscheiden kann, wodurch eine Überordnung der gesamtstaatlichen Belange gewährleistet wird. Was Aufbau und Zustandekommen der Parlamente angeht, bedeutet Mohls Konzept unter dem Gesichtspunkt der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, daß der staatliche Bereich zwar etwas Eigenständiges ist, aber nur aus den gesellschaftlichen Gruppierungen entstehen kann bzw. aus diesen hervorgeht, also nicht unabhängig von diesen und auf einem gesonderten Weg der Willensbildung, wie es bei scharfer Trennung von Staat und Gesellschaft der Fall wäre, indem das Parlament durch direkte Wahl der einzelnen Bürger zustandekommt, während gesellschaftliche Gremien aus den verschiedenen Organisationen aufgebaut werden25 • Im Vergleich mit Mohls Auffassung, daß das Gemeinwesen aus seinen Gruppen besteht, und daß diese auch die Bausteine der staatlichen Organisation sein müssen, wirkt jene andere Vorstellung, bei der bezüglich der Willensbildung nur von den Individuen und vom Staatswillen die Rede ist, sehr abstrakt und übersieht die konkreten Aufgaben eines Staates, die doch nichts anderes als bestimmte Probleme und Nöte der vorhandenen Bevölkerunggruppen betreffen. Diese Gegenüberstellung zweier Arten des Staatsaufbaus ist für Mohl keineswegs eine theoretische Erwägung, sondern er sucht die Ursache für einen offenkundigen Mißstand: In den Parlamenten seiner Zeit werden mit ungeheurem Aufwand allgemein-politische Fragen und Fragen der persönlichen Freiheit behandelt, aber die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme bleiben liegen. "Die Rechte der Pressefreiheit, des Schutzes der Person gegen ungerechten Verhaft ... sind längst in allen konstitutionellen Staaten verhandelt, festgesetzt, verändert, oft der Mittelpunkt jahrelanger heftiger Kämpfe, die Banner der Parteien gewesen; , .. es regt die Billigung eines Staatsvertrages das parlamentarische Meer oft bis in seine tiefsten Tiefen auf; die Anlegung einer Straße oder die Richtung einer Eisenbahn wird bis auf das Blut gefordert oder bekämpft: dagegen bleiben Gesetze über die Ordnung des Landbaues, der Gewerbe, oder gar eigentlich gesellschaftliche Fragen z. B. über Pauperismus, Kinderarbeit, Teilbarkeit oder Gebundenheit des Bodens, von einem Jahr auf das andere liegen2'." - "Wo liegen die großen Übelstände unserer Zeit? Die Antwort ist, daß der Staat die Interessen großer Lebenskreise nicht zu ordnen und nicht zu fördern weiß. Die Bemühungen und Kämpfe in unseren Staaten drehen sich um politische allgemeine Fragen, indessen leiden ... die Haupt25 28

Wie bei Heinrich Ahrens, s. Kap. 6, Abschn. D. Repräsentativsystem 170.

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betandteile unseres ganzen gesellschaftlichen Lebens27 ." Mohl führt Beispiele über die verschiedenen Bevölkerungsgruppen an, z. B.: "In dem Fabrikwesen steht eine völlige Umänderung nicht nur der Gewerbetätigkeit, sondern eines guten Teils der Gesellschaft vor uns, und es hat dasselbe, neben unberechenbar nützlichen und glänzenden Vorteilen, einen ganz neuen, bereits nach Millionen zu zählenden Stand erzeugt, welcher ein menschenwürdiges Dasein und eine Sicherstellung seiner unentbehrlichsten Bedürfnisse immer lauter verlangt. Auch hier haben unsere Gesetzgeber und Vertreter keinen Gedanken, als etwa den der Freiheit, d. h. der Fortdauer der Ursache des ungeheuren tl'bels28." Als einen der wichtigsten Gründe dafür, daß die zentralen gesellscl1aftlichen Probleme nicht angefaßt werden, betrachtet Mohl den Umstand, daß die Leute, die die Probleme am ärgsten spüren, gar nicht in den Parlamenten vertreten sind. Er stellt fest, daß das allgemeine gleiche Wahlrecht folgendes parlaments-soziologische Ergebnis nach sich zieht: Die Volksvertretung setzt sich im wesentlichen ·aus Advokaten, Beamten und "mißgelaunten Studirten" zusammen29• Dies Wahlrecht läßt es zu, daß die Abgeordneten überhaupt keine Verbindung zu den von ihnen zu vertretenden Rechten und Interessen haben; das aber bedeutet, daß bei Fragen über die Freiheits- oder staatsbürgerlichen Rechte und bei Fragen über die große Politik alle mitreden oder jedenfalls glauben, mitreden zu können. "Allein um so schlimmer sieht es um alles aus, was zwischen diesen beiden Extremen liegt, also um die Rechte und Interessen der einzelnen gesellschaftlichen Kreise"30, denn was die Angelegenheiten beispielsweise von Gewerbe und Industrie angeht, sind weder Kenntnis noch Interesse vorhanden. - Demgegenüber gibt Mohls eigenes Konzept den verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen eigene Institutionen bzw. Anteile in den Gremien der Volksvertretung. Als Kriterien, die dem Mohlschen Repräsentativsystem den Charakter einer gemischten Verfassung geben, können wir zusammentragen: (1) die Tatsache, daß die Gruppen als Gruppen die Elemente des Staatsaufbaus sind, als Voraussetzung für die Verfassungsmischung; (2) die Beteiligung aller Gruppen, d. h. aller derjenigen, die ein "bleibendes und wichtiges Interesse"31 verkörpern, als Erfordernis einer gemischten Verfassung in dem spezifischen Sinn, daß diese sich nicht auf irgendwelche willkürlich ausgewählten Gruppen bezieht, sondern auf die tatsächlich relevanten und auf alle diese; (3) die Vertretung der Grup27 28 IV

30

172. ibid. 167. 168.

31 S.

oben S. 163, Anm. 17.

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pen entsprechend ihrer "Größe und unter Zugrundelegung der Wichtigkeit der Zwecke und Gegenstände"32. als Kriterium für die Ausgewogenheit der Mischung. - Zweifellos hängt die Ausgewogenheit von Bewertungen ab: welche Gruppen die relevanten sind, und welche wichtiger sind als andere. Dazu noch folgende Hinweise. Gerade weil Mohl eine Ausgewogenheit unter Berücksichtigung der Relevanz der gesellschaftlichen Kreise erreichen will, lehnt er das gleiche Wahlrecht ab, das nur numerische Relationen widerspiegelt33, aber aus dem gleichen Grund wendet er sich auch heftig gegen das Zensuswahlrecht, weil es die gesellschaftliche Struktur nur unter einem einzigen Gesichtspunkt, dem des Reichtums betrachtet34, während er selbst die oben aufgezählte Vielzahl gesellschaftlicher Unterscheidungskriterien berücksichtigt wissen will. Ferner verfolgt Mohl trotz mancher äußerlicher Ähnlichkeiten nicht die ständische Richtung konservativer Denker, eben weil er eine echte Verfassungsmischung, d. h. eine Beteiligung derjenigen Gruppen, die tatsächlich die Gesellschaft ausmachen, für notwendig erachtet35• Von jenen Denkern setzt er sich entschieden ab: "Warum trete ich nicht einfach unter das Banner, das weiland Haller trug, und das jetzt von Gerlach und Stahl gehalten wird? Auch diese reden ja von der natürlichen Gliederung der Gesellschaft, spotten über Vertretung nach Kopfzahl, usw.? - Ich schlage mich nicht zu diesen, weil ich keine ungerechteren Gegner des wirklich bestehenden Rechtes, keine verkehrteren Ratgeber kenne, als eben sie36." - Sein Repräsentativsystem will auch nichts mit den zu seiner Zeit bestehenden ständisch organisierten Institutionen zu tun haben, den zweiten Kammern der Parlamente. Diese vertreten in Mohls Augen privilegierte und völlig überflüssige Interessen37 • Schließlich ist noch ein Hauptanliegen Mohls hervorzuheben: Sein System soll dazu dienen, daß auch die Lohnarbeiter, die inzwischen zu 31 s. oben S. 163 f., Anm. 21; s. zur Verhältnismäßigkeit auch: Repräsentativsystem 167. 33 Diese prinzipielle Ablehnung ist aber keine Ablehnung um jeden Preis, im Gegenteil: Mohl erkennt, daß dies Wahlrecht - wenn einmal eingeführt - nicht mehr abschaffbar ist, und er findet sich damit ab; s. Arbeiterfrage 580 f., 603 unten. 34 Angermann, Robert von Mohl 424. 36 H. Brandt stellt Mohls Konzept, "das Parlament fernab jedes ständischen Traditionalismus zu einer Vertretung der empirisch erfaßbaren Gesellschaft zu machen", den verschiedenen Konservativen, Liberalen und Vernunftrechtlern gegenüber, die durch Zensusbestimmungen nur das besitzende Bürgertum vertreten sehen wollen. S. 247 f. 34 Repräsentativsystem 174. 37 ibid. 166; 169 oben. Zum Problem, ob die in der gemischten Verfassung zu berücksichtigenden Gruppen die wirklich relevanten Gruppen der Gesellschaft sind, s. in Kap. 6 (Romantiker) Abschn. III.

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einer großen Gruppe herangewachsen sind, aber bisher keine Chance haben, repräsentiert zu werden, einen angemessenen Platz in den Vertretungsorganen einnehmen. - Wie es meistens bei der gemischten Verfassung insbesondere um das Verhältnis zweier ganz bestimmter Gruppen ging: der Armen und Reichen, so ist auch bei Mohl dies Problem von entscheidender Bedeutung. Zweierlei hält Mohl für erforderlich, um der ärmsten Bevölkerungsgruppe seiner Zeit, den Lohnarbeitern, einen Platz in der Gesellschaft zu geben: eine grundsätzliche Verbesserung der tatsächlichen Verhältnisse dieser Gruppe - darauf werden wir noch im Abschnitt III genauer eingehen -, und das eben genannte Erfordernis eines angemessenen Gewichts in den politischen Gremien des Gemeinwesens. Mohls Repräsentativsystem entspricht also dem, was in dieser Arbeit gemischte Verfassung genannt wird; das Neue hinsichtlich der Form der Mischung ist gegenüber früheren Konzeptionen, daß Gruppen ganz verschiedener Kategorien berücksichtigt werden, d. h. in den aufgezählten Gremien findet keine altständische additive Zusammensetzung statt, sondern da die Gruppen nach verschiedenartigen Gesichtspunkten unterschieden werden, überschneiden sich deren Mitgliederschaften, und insofern wird der modernen funktionalen Interessenstruktur mit den sich nicht gegenseitig ausschließenden gesellschaftlichen Kreisen Rechnung getragen. - Die Besonderheiten dieser Art von Mischung können freilich nur in Gegenüberstellung zu anderen Formen der Verfassungsmischung deutlich gemacht werden; dies sei der Erörterung im systematischen Teil vorbehalten. b) Vergleich mit der späteren Entwicklung

Wenn man sich nach der Beschreibung von Mohls Entwurf für ein Repräsentativsystem vergegenwärtigt, wie anders die Entwicklung gelaufen ist, erscheint einem Mohls Vorstellung als eine recht seltsame Konstruktion, die nichts mit der Bildung tatsächlicher Parlamente zu tun hat. Soll das bedeuten, daß es diese Art einer modernen gemischten Verfassung nur in den Köpfen von Gelehrten gab? Ein etwas tiefergehender Verglekh zwischen diesem Entwurf und der späteren Realität soll klären, ob Mohls Konzept, das er an der Anschauung damaliger Verfassungen von Universitäten, Kirchen und Ritterschaften entwickelt hatte38, wirklich so weltfremd war; oder ob man als Beobachter aus einer Zeit, in der das gleiche Wahlrecht zur Selbstverständlichkeit geworden ist, und das Denken an daraus abgeleitete Modellvorstellungen vom Staatsaufbau gewöhnt ist, gar nicht richtig merkt, wie sehr man die Realität entsprechend dieser Denkgewohnheit interpretiert. 38

Angermann, Robert von Mohl 421.

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Der Gegensatz von Gemeinwohl oder Gesamtinteresse einerseits und den Partikularinteressen andererseits ist als spannungsreiches Problem in jedem Gemeinwesen vorhanden, aber für Aufbau und Organisation eines modernen Gemeinwesens ist es von einiger Bedeutung, wie sich der genannte Gegensatz mit einem anderen verbindet: dem, was vereinfacht und etwas schematisch als die "zwei Wege der Willensbildung" bezeichnet werden soll, d. h. der Durchbrechung der eindeutigen Hierarchie der ständischen Gesellschaftsordnung. In dieser führte der Weg der Willensbildung von den jeweils kleineren ständischen Einheiten zu den größeren, bis hin zum umfassenden Gemeinwesen. Die Zerschlagung der politischen Macht der Stände schafft einen neuen Weg: den direkten von den einzelnen Bürgern, die unmittelbar Mitglieder im umfassenden Gemeinwesen sind und durch Wahl oder Volksabstimmung direkt über die politische Richtung entscheiden. De facto aber ersetzt dieser neue Weg den alten nicht vollständig, sondern es gibt zwei: den ebengenannten neuen und einen, der dem alten entspricht: es bilden sich nämlich Verbände und Organisationen verschiedener Art, und diese treten mit ihren Forderungen an den Staat, oder. wollen diesen sogar nach ihren Vorstellungen gestalten, und nehmen zu diesem Zweck Einfluß auf die staatlichen Organe, die ihrerseits über den erstgenannten Weg zustandegekommen sind. Da die eine Art der Willensbildung von den Individuen ausgeht, wollen wir vom "individualistischen Weg" sprechen, im Gegensatz zum "ständischen Weg", bei dem die Bürger nicht unmittelbar, sondern mediatisiert, d. h. als Gruppenmitglieder in Erscheinung treten; zwischen beiden Wegen finden Wechselwirkungen statt: die Organisationen nehmen Einfluß auf die Staatsorgane, wie auch umgekehrt der Staat keineswegs nur direkt die Bürger durch Gesetze regiert, sondern auch durch Verhandlungen mit den z. T. sehr mächtigen "neuen Ständen". Der Gegensatz von Gemeinwohl und Partikularinteressen verknüpft sich auf folgende einfache Weise mit den zwei Wegen der Willensbildung: der individualistische Weg führt zur Bildung einer Gesamtvertretung, die das Gesamtinteresse repräsentiert, und insofern dem Gemeinwohl verpflichtet ist, während der ständische Weg nur tauglich ist, um Sonderinteressen zu artikulieren und durchzusetzen. In dieser Vorstellung wurde und wird oft mit großer Selbstverständlichkeit gedachtaD, und die Realität wird - ob mit diesen oder ähnlichen Begriffen - entsprechend dem skizzierten Modell beschrieben: Das primäre ist das Zustandekommen der Staatsorgane durch die Wahl der Bürger; 3. Dies hat keineswegs notwendig etwas mit der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft zu tun, sondern lediglich damit, daß die demokratische Wahl und der Willensbildungs-Prozeß der Verbände bzw. sonstigen Organisationen rein sachlich zwei verschiedene Vorgänge sind.

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das sekundäre ist die Bildung von Verbänden aller Art und deren Einflußnahme auf die gesamtstaatlichen Entscheidungen. Robert Mohl zweifelt die Berechtigung dieser Verknüpfung von individualistischem Weg mit dem Gemeinwohl und vom ständischen Weg mit den Partikularinteressen an. Das seinen Überlegungen zu Grunde liegende Argument besagt, daß der ständische Weg besser geeignet ist, das Gemeinwohl zu sichern, denn dieses besteht inhaltlich aus nichts anderem als dem besten Zustand der konkreten Bevölkerungsgruppen, und es geht insbesondere darum, daß nicht eine Gruppe die anderen übervorteilt. Das aber soll dadurch erreicht werden, daß alle Gruppen als solche auf das Gemeinwohl verpflichtet und dementsprechend in den Aufbau der Gesamtvertretung einbezogen werden, anstatt die Repräsentation des Gesamtinteresses ausschließlich auf der Wahl der Bürger aufzubauen mit dem Effekt, daß die Gruppen aus der Verantwortung für das Gesamtinteresse entlassen werden, und erst hierdurch ein lediglich selbstbezogenes Verfolgen der Partikularinteressen ermöglicht wird. Die direkte Einbeziehung der Gruppen führt dazu, daß Mohl das Problem der Verfassungsmischung noch klarer als andere Autoren angehen kann; und der Einwand, sein auf gesellschaftlichen Kreisen gegründetes Gemeinwesen sei gegen echte Staatlichkeit als solche gerichtet40 - ein Einwand, der in veränderter Form auch gegen frühere gemischte Verfassungen geführt worden war - trifft nicht, denn eine einheitlich wirkende Staatsrnacht verdeckt nur all zu leicht, daß es sich in Wahrheit um einseitige Gruppenherrschaft handelt, und dagegen wendet sich in der Tat jede gemischte Verfassung. Soviel zu einem formalen Vergleich zwischen der Vorstellung, die Mohl von einem zukünftigen Repräsentativsystem hat, und der Vorstellung, die oft entsprechend der verfassungsrechtlichen Regelung über die repräsentative Demokratie existiert. Wenn man aber Mohls System damit vergleicht, wie sich die Realität tatsächlich entwickelt hat, so ist leicht zu sehen, daß auch in den "individualistischen Weg", der Einsetzung der Staatsorgane und insbesondere der Parlamente durch die Wahl der Bürger, der Einfluß der Verbände mit eingebaut ist, und zwar durch Aufstellung der Kandidaten, Beeinflussung der Wähler und in Form von fraktionsähnlichen Gruppierungen von Abgeordneten. Auch die Parlamente selbst verstehen sich keineswegs als unabhängige Instanz oberhalb aller Gruppeninteressen, sondern sie betrachten 40 Repräsentativsystem 202 f.; s. dazu Angermann, Robert von Mohl 423 f. H. Brandt hält das Problem der Integration bei Mohl für nicht gelöst; aber die Ausschließlichkeit der Alternative, daß die Integration eines Gemeinwesens nur durch einen Monarchen oder eine Versammlung durch Wahl bestellter Angeordneter möglich sei, ist nicht zwingend. (5. 253 f.).

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sich normalerweise als Zusammensetzung aller Teile der Bevölkerung; und die Parlamente achten bei der Einsetzung vieler staatlicher Gremien, wie den Parlaments-Ausschüssen, oder manchen Beratungs- und Verwaltungsorganen sorgsam darauf, daß möglichst alle Gruppierungen in wirtschaftlicher, ideologischer und konfessioneller Hinsicht berücksichtigt werden. - Darüber hinaus haben sich in der Gesellschaft eine Fülle von parlamentsähnlichen Gremien mit Sonderzuständigkeiten für bestimmte Sachbereiche gebildet, gemeint sind Gremien wie Wirtschaftsräte, Rundfunkräte, Landesplanungsbeiräte oder Verwaltungsausschüsse von Institutionen wie beispielsweise der Arbeitsämter, deren Mitglieder von den verschiedenen Organisationen und Verbänden entstandt werden, die sich also nicht viel anders zusammensetzen als Mohl es für die "Sondervertretungen" und die "zusammengesetzten Ausschüsse" konzipiert hatte. D. h. es handelt sich um wohl ausgewogene Mischungen von allen jeweils betroffenen und beteiligten Gruppen, die durch ihre Organisationen unter Berücksichtigung der verschiedenen Funktionen und dem Grad ihrer Bedeutung in entsprechenden Organen vertreten sind.

m. Der Ausgleich zwischen Fabrikarbeitern und Kapitalisten 1. Grundsitzliche Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der :Arbeiter

Robert Mohl betrachtet es' als Notwendigkeit, daß die Arbeiter einen wirklichen Platz in der Gesellschaft erhalten. Wie er sich das vorstellt, wurde bei der Beschreibung des Repräsentativ-Systems z. T. schon erwähnt; mit einem weiteren Plan hierzu wollen wir uns noch beschäftigen, denn Mohls Ziele bleiben als echte Mischungs-Konzeption nicht bei einer gleichberechtigten Berücksichtigung aller Gruppen stehen, sondern beabsichtigen auch eine faktische Vermischung der Bevölkerungsgruppen, d. h. den Abbau der Gegensätze und Unterschiede zwischen diesen. Die besondere Problematik des Gegensatzes zwischen Arbeitgebern und Arbeitnehmern im industriellen Bereich war auch von Tocqueville behandelt worden, aber er hatte darin einen abgesonderten Bereich der Gesellschaft gesehen, einen kleinen Ausnahme-Bereich schroffer Gegensätze innerhalb einer insgesamt nivellierten Gesellschaft. - Mohl erkennt die gesamtgesellschaftliche Relevanz dieses Bereichs, und das Problem gewinnt bei ihm zentrale Bedeutung. Für den Proletarier gibt er folgende Definition: "Ein solcher ist derjenige, dessen Erwerbsmittel zu gleicher Zeit unsicher und kärglich sind, weil er nur eine vielfacher Konkurrenz ausgesetzte Arbeitskraft, nicht auch ein deren beständige Anwendung sicherndes Kapital oder Recht besitzt, somit vollständig von der Ver-

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wendung anderer abhängt. In der Regel ist dabei nur von physischer Arbeitskraft die Rede; es fallen aber auch niedere geistige Arbeiten in diese Kategorie. Absoluter Mangel ist kein wesentliches Merkmal des Proletariers, da er im Augenblicke verwendet und, vielleicht sogar nicht schlecht, bezahlt sein kann; wohl aber die Möglichkeit, zu jeder Zeit in völlige Erwerblosigkeit zu verfallen; also gänzliche Unsicherheit der wirtschaftlichen Existenz41 ." Die Proletarier bilden eine Klasse, die von Armut getroffen wird "ohne Schuld des einzelnen Individuums und ohne außergewöhnliche Zufälle, sondern infolge der ganzen Gestaltung der Vermögens- und Einkommens-Verhältnisse einer solchen Abteilung der Gesellschaft"42. Dieser neue Typus einer Gesellschaftsschicht ist bedingt durch das Fabriksystem und durch eine neuartige Wirtschaftsstruktur, und ist vor allem gekennzeichnet durch das Faktum, daß für die einzelnen Proletarier überhaupt keine Möglkhkeit besteht, ihre Lage aus eigener Kraft zu verbessern, während die Fabrikbesitzer auf Grund des kapitalistischen Wirtschaftssystems in der Lage sind, immer größeren Reichtum zu akkumulieren4'. Die Erkenntnis, daß es sich. bei der sozialen Situation nicht nur um das Faktum verschiedener Bevölkerungsgruppen mit verschieden großem Besitz handelt, sondern daß die soziale Struktur bedingt ist durch ein bestimmtes Wirtschaftssystem, führt bei vielen Denkern der Zeit dazu, das Problem des Gegensatzes zwischen den Klassen als ein Problem ökonomischer Gesetzmäßigkeiten zu betrachten. In der Tat wirken Abhandlungen über die Arbeiterfrage, die diese lediglich als Problem von Armut und Reichtum betrachten und die zu Grunde liegenden ökonomischen Gesetze nicht durchschauen, möglicherweise gut gemeint, aber nichtsdestoweniger flach, hilflos, wenn nicht gar lächerlich··. Wenn man allerdings die Gesellschaftsstruktur als Abhängige der verselbständigten ökonomischen Gesetzmäßigkeiten betrachtet, steht das Verhältnis der Gruppen zueinander nicht zur Disposition des Handelns und der politischen Zielsetzung, und dann ist konsequenterweise auch kein Platz für die Problematik der Verfassungsmischung, denn Polizei-Wissenschaft 353; vgI. Angermann, Robert von Moh1274. Mohl, Die Polizei"'Wissenschaf~ nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, 18442 Bd. 1, S. 416 f., zit. nach Angermann, ibid.; s. a. die Abgrenzung des Arbeiterbegriffs in: Arbeiterfrage S. 512 - 515. 43 Zum Mißverhältnis zwischen Arbeitern und Unternehmern hinsichtlich des Besitzes, der Angewiesenheit auf einander, und der Fähigkeit, dem eigenen Willen Nachdruck zu verleihen, s. insbes. Nachteile 167; Arbeiterfrage 516 ff. (4 So kritisiert auch Mohl die Vorschläge zur Behebung der Arbeiterfrage, die den Grund des übels nicht erkennen: Nachteile 161 ff.; Arbeiterfrage 555 ff.; oder gar in der Quelle des übels, nämlich der unbeschränkten Gewerbefreiheit, ein Heilmittel sehen: Nachteile 159 ff. . 41

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diese ist ein politisches Ziel und setzt Veränderbarkeiten, Entscheidungsmöglichkeiten und einen Handlungsspielraum voraus; aus der Sicht dieser letzteren Position können ökonomische Gesetze nur den Charakter von Instrumentarien haben. So gesehen hätte der Klassengegensatz des vorigen Jahrhunderts wegen der Industrialisierung und der kapitalistischen Wirtschaftsweise zwar eine spezifische Qualität, wäre aber nach wie vor das Problem des Gegensatzes von arm und reich, wenn auch in erheblich veränderten Formen. Aus dieser Sicht geht auch Mohl an die Frage eines Ausgleichs zwischen den Schichten heran. Ebenso wie manche andere, die sich mit der sozialen Frage beschäftigen, hält Mohl folgende Mittel für erforderlich: die Einführung von Strafen für Unternehmensbesitzer bei Mißbräuchen bezüglich der Kinderarbeit oder zu langer Arbeitszeit'5; die Beschränkung der freien Konkurrenz46• Die freie Konkurrenz ist die Ursache der sozialen Frage, aber sie ist nach Mohls Auffassung für den Wirtschaftsprozeß nicht schlichtweg entbehrlich, sondern auch von ziemlichem Nutzen. Deshalb kommt ihre Abschaffung für Mohl nicht in Frage, wohl aber eine Einschränkung. Dazu scheinen ihm drei Mittel geeignet: eine Beschränkung der Betriebsgröße, die Einrichtung neuer Betriebe nur bei vorhandenem Bedürfnis und eine Festsetzung der Mindestpreise durch einen Kongreß der Beteiligten, d. h. der Produzenden und Konsumenten, dem auch die eben genannte Feststellung eines Bedürfnisses nach neuen Betrieben zusteht. - Alles Mittel, die notwendig sind, die aber - worüber sich Mohl völlig im klaren ist das Problem nicht an der Wurzel packen, sondern nur Auswüchse abschneiden können. Einer grundsätzlichen Verbesserung und einem wirklichen Abbau der Gegensätze dient die Gewinnbeteiligung, die den Mittelpunkt von Mohls Vorschlag ausmacht47 • Diesem Konzept zufolge wird die Beteiligung der Arbeiter am Reingewinn durch staatliche Gesetzgebung erzwungen. Durch eine gerechte Verteilung des Gewinns soll erreicht werden, daß das Mißtrauen und die Feindschaft zwischen den Besitzenden und den Arbeitern beseitigt wird, und daß der Arbeiter die Vorteile für den Eigentümer wünscht, weil sie auch seine eigenen sind. Nicht nur den besonders tüchtigen werden Prämien gegeben, "weil die gesamte Masse der in der Fabrik Beschäftigten, nicht bloß einzelne von ihnen, mit dem Eigentümer ausgesöhnt und verbunden werden soll"48. Daß dazu auch Opfer der besitzenden Klasse nötig sind, ist Mohl als Nachteile 175; Arbeiterfrage 573 ff. Politische Ökonomie 66 ff., wiedergegeben nach Angermanns Zusammenfassung: Angermann, Robert von Mohl 300 - 303. 47 Nachteile 179 f. 48 Nachteile 180 oben. 45

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Schwierigkeit bewußt49, ebenso wie das Problem der Konkurrenzfähigkeit gegenüber dem Ausland, aber er hält es für besser, auf den ausländischen Absatz zu verzichten. "Lieber keinen gewinnbringenden Handel, als Fortsetzung solch unverantwortlicher und überdies noch gefährlicher Grausamkeit6o ." Damit die Gewinnbeteiligung nicht neue Gelegenheit zu Argwohn und Zwiespalt gibt, ist vorgesehen, daß eine Abordnung von Arbeitern Einsicht in die Bücher zur Berechnungsgrundlage für den Reingewinn hat. - Ferner bezieht sich die Gewinnbeteiligung nicht nur auf den Unternehmergewinn, sondern auch auf den Kapitalgewinn, was durch Aktienbesitz der Arbeiter mit entsprechenden Vorkaufsrechten gesichert werden so1161 • - Es ist nicht unsere Aufgabe, die Vorschläge Mohls unter den Gesichtspunkten der Durchführbarkeit und der ökonomischen Stichhaltigkeit im einzelnen zu kritisieren62• Hier ist vor allem die Bedeutung einer solchen Konzeption im Hinblick auf die gesamtgesellschaftliche Struktur von Interesse. 2. Die alte und die neue Form des Mittelstands

Wenn wir - orientiert an der Problematik und Terminologie unserer bisherigen Arbeit - Mohls System der Gewinnbeteiligung betrachten, leuchtet ein, daß es sich bei dem beschriebenen Besitz-Ausgleich der Sache nach um die Schaffung eines Mittelstands handelt. Die Proletarier sollen auf dem Weg der Gewinnbeteiligung zu eigenem Besitz kommen, und gemessen an der Skala von Besitzlosigkeit bzw. großer Armut einerseits und großem Reichtum andererseits, wird für die Arbeiter ein mittleres Vermögen angestrebt. Aber interessanterweise unterliegt das Mittelstandsproblem in einem neuen Zeitalter einer nicht geringen Veränderung, die sich an den Aus-

4' Zu diesen Opfern gehören auch Steuern, die ausschließlich den Reichen auferlegt werden sollen, worin Mohl ein geeignetes Mittel zur Umgestaltung der Vermögensverhältnisse sieht. Arbeiterfrage 568 unten, 577 unten, 579 unten, 586 unten, 594, 602. 50 Politische Ökonomie 63 mitte; vgl. Angermann, Robert von Moh1284. 51 Nachteile 179 unten; Politische Ökonomie 64; Angermann, Robert von Moh1298. 52 Siehe dazu die Ausführungen von Angermann, Robert von Mohl S. 283 ff. - Mohl selbst schätzt in der "Arbeiterfrage" (S. 562 - 566; 581 - 583) das Mittel der Gewinnbeteiligung einigermaßen skeptisch ein; seine Bedenken beziehen sich allerdings nicht auf die Gewinnbeteiligung als solche, sondern nur auf ihre Ausführbarkeit. Nichtsdestoweniger bleibt sie auch hier das wichtigste Mittel, da Mohl das größere Einkommen der Arbeiter zum Kernproblem erklärt, und er dafür kein anderes Mittel anbietet. - Mohls These geht in dieser späten Schrift dahin, die Gewinnbeteiligung erst einmal in Versuchen zu erproben, um die Einzelheiten herauszufinden, ehe man dies zum allgemeinen Gesetz erhebt; was die Gewinnbeteiligung für den Bereich der Landwirtschaft angeht, hält Mohl die Angelegenheit für völlig unproblematisch (592 f.).

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führungen Mohls gut ablesen läßt. Mohl ist nämlich zunächst an der herkömmlichen Vorstellung vom Mittelstand orientiert als dem Stand der kleinen Selbständigen, die eigenes Haus und eigenen Betrieb besitzen. Genau wie anderen Liberalen erscheint es ihm erstrebenswert, den Fabrikarbeitern einen Aufstieg zu einer selbständigen Existenz zu ermöglichen, und er hält es für den Wunsch der Arbeiter, in den bäuerlichen oder gewerblichen Mittelstand aufzusteigen53 • Da die Arbeiter dies aus eigener Kraft nicht können, müssen die Bedingungen hierfür durch staatliche Gesetzgebung geschaffen werden. Das Gewinnbeteiligungs-System, verbunden mit einem entsprechenden Sparkassenwesen soll die Arbeiter zu einem Aufstieg befähigen, oder die Chance geben, daß ein Arbeiter zu einem Geschäftspartner eines Unternehmers wird. Zu solchen Zwecken soll der Staat Darlehen geben54 • Aber Mohl läßt es nicht mit dieser dem liberalen Gedankengut entspringenden Vorstellung bewenden. Er weiß, daß ein solcher Aufstieg vom Arbeiter zum Selbständigen für manchen zwar die erwünschte Verbesserung seiner Situation bedeuten mag, daß aber insgesamt dieser Weg untauglich ist, die Probleme einer industriellen Gesellschaft zu beheben, denn eine große Zahl von Menschen, die in den Fabriken körperlich arbeiten, sind im industriellen System erforderlich, und der Ausweg aus dem sozialen Elend zu einem derartigen Mittelstand ist nur ein Ausweg für ganz wenige. Für die Masse der Arbeiter kann das Ziel nur innerhalb des industriellen Arbeitsbereichs gesucht werden, und weil dort kein Platz für viele kleine Selbständige ist, kann sich die anzustrebende Veränderung nur auf eine neue Verteilung von Kompetenzen und Vermögensanteilen beziehen. Ein größeres Maß an Rechten und die Gewinnbeteiligung, die bei Mohl das Hauptstück der Reformen darstellen, machen aus den Arbeitern keine Selbständigen, aber sie machen aus Proletariern besitzende und am Betrieb interessierte Arbeiter. Für unseren Zusammenhang dürfen wir nicht dem Irrtum verfallen, daß der Mittelstand identisch ist mit kleinen selbständigen Land-, Betriebs- oder Geschäftsbesitzern. Gewiß wird der Begriff im Sprachgebrauch so verwendet; aber für uns ist Mittelstand alles, was sich zwischen den Schichten der Armen und der Reichen befindet. So betrachtet lassen sich zwei Arten von Mittelstand unterscheiden: der herkömmliche, bei dem die zu ihm zählenden Personen Besitzer mittlerer Unternehmen sind; und eine moderne Form in der Art, daß nicht-selbständige Arbeiter über mittlere Vermögensanteile verfügen. Die eine $3 Der kleine Selbständige als von Mohl unterstelltes Ideal: Nachteile 144 mitte, 145 oben, 181 ff.; Arbeiterfrage 518, 523 mitte, 531 oben, 586 oben!, 595 unten f. 5( Nachteile 181 - 183; Arbeiterfrage 585f.

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Form bezieht sich auf die alten ökonomischen Verhältnisse, die auch die politische Struktur geprägt hatten, und Bürger derjenige war, der über eine ökonomische Einheit verfügte, sei es der Hof oder das Gewerbe oder der Betrieb; die neue Form bezieht sich auf die Verhältnisse der Industrie-Gesellschaft, in der das funktionale Zusammenwirken einer großen Anzahl von Menschen erforderlich ist, auf die "vergesellschaftete Produktion", wobei die politischen Rechte - wenn man nicht gleich zum Kopfzahlwahlrecht übergeht - von einem differenzierten Maßstab abhängen müssen, wie es im Abschnitt über das Repräsentativsystem deutlich wurde. Mohl plädiert für beide Formen des Mittelstandes. Für die herkömmliche, weil ihm entsprechend seiner liberalen Herkunft dies Ziel als das eigentlich wünschenswerte erscheint; für die moderne Form, weil er einsieht, daß jenes andere insgesamt gesehen an den neuen ökonomischen Verhältnissen vorbeigeht und deshalb zu einer umfassenden Verbesserung ungeeignet ist. Das, was hier als moderne Form des Mittelstands bezeichnet wurde, wird freilich gemeinhin nicht mit diesem Begriff belegt, das Wort haftet normalerweise an seiner altherkömmlichen Gestalt. Das ist mit ein Grund dafür, warum die Rolle des Mittelstands kein zentrales politisches Problem mehr ist - und schon gar nicht mehr mit dem der gemischten Verfassung zusammenhängt -; denn der Mittelstand im überlieferten Verständnis ist in der modernen Gesellschaft tatsächlich von nur geringer Bedeutung; nicht dagegen die Angleichung der Vermögenslage der Arbeiter an die besitzende Klasse. Dies ist eine unbestritten wichtige politische und ökonomische Angelegenheit, die aber schon wegen des Selbstverständnisses der Arbeiterklasse unter einer anderen Begrifflichkeit abgehandelt wird. - Im Zusammenhang mit den politischen Theorien der Sozialisten wird uns dies noch beschäftigen. Wenn in diesem Abschnitt bisher nur von den Fabrikarbeitern die Rede war, deren Verhältnisse es zu ändern gelte, so deshalb, weil dies der spezifisch neue Aspekt im Verhältnis zwischen armen und reichen Klassen ist, und auch weil dies den größten Raum in Mohls Ausführungen zur Arbeiterfrage einnimmt; aber es geht Mohl nicht um ein Spezialproblem einer neuartigen Gesellschaftsschicht, sondern um eine "wesentliche Änderung in dem ganzen sozialen Gebäude"55, und dabei um eine Änderung der Position der unteren Bevölkerungsschicht insgesamt. Zu dieser gehören nicht nur die Fabrikarbeiter, sondern auch die Handwerksgesellen und die Landarbeiter; Mohl kritisiert mehrfach, daß letztere meistens vergessen werden, in eine Konzeption zur Lösung der Arbeiterfrage aber unbedingt einbezogen werden müssen". Zwar 55 •8

Nachteile 158 unten . Arbeiterfrage 512 f., 520 - 524, 529 f., 587 - 600.

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sind die erforderlichen Mittel zur Veränderung der Lage jeder dieser Teilgruppen der Arbeiterschaft verschieden, aber das Anliegen ist ein und dasselbe: die unterste Klasse soll eine anerkannte gesellschaftliche Stellung erhalten, und ihre Arbeits- und Besitzverhältnisse gilt es entscheidend zu verbessern. Die dazu nötigen Schritte hinsichtlicll der Handwerker und der Landarbeiter sollen hier nicht im einzelnen erwähnt werden, aber eine These Mohls ist für uns sehr aufschlußreich: Er wirft die Frage auf, ob das System des Großgrundbesitzes abgeschafit werden soll (denn nur in diesem - im Gegensatz zu Ländern mit freier Teilung des Eigentums - existieren "Schaaren von bettelhaften Taglöhnern", die keine Möglichkeit und Hoffnung haben, je eigenen, wenn auch nur kleinen Grund zu erwerben)67. Dazu bemerkt Mohl, daß es nicht richtig sei, diese Frage allein aus dem Gesichtspunkt einer Besserstellung der Taglöhner zu entscheiden, und "daß der wünschenswerteste Zustand eine Mischung von großen, mittleren und kleinen Grundbesitzern ist"58. Hieran wird zum einen deutlich, daß Mohls Ideal für den Zustand des sozialen Gebäudes die gemischte Verfassung ist, d. h. die Ausgewogenheit der drei nach Besitz unterschiedenen Gesellschaftsschichten69 ; zum anderen, daß sich Mohls Ideal für den agrarischen Bereich nicht von den früheren, sogar den antiken Vorstellungen über die Mischverfassung unterscheidet. Wir haben es also nicht nur mit zwei verschiedenen Produktionssektoren - dem agrarischen und dem industriellen - zu tun, sondern gewissermaßen mit zwei gleichzeitig nebeneinander bestehenden Kulturstufen. Das Anliegen der gemischten Verfassung ist für beide das gleiche, aber die Formen können nur im einen Bereich die alten bleiben.

IV. Der Zweck von Mohls Konzeptionen zu Verfassungsmischung und Verfassungsmitte 1. Zusammengehörigkeit der zwei Reformüberlegungen

Der erste Teil von Mohls Vorstellungen bezog sich auf das Repräsentativsystem, wobei ein zentraler Gesichtspunkt war, daß die Arbeiter eine echte Mitwirkung im Staat erhalten; der zweite Teil handelte von der Verbesserung der Lage der Arbeiter. Für das erstere hatten wir 57 Arbeiterfrage 521 f. Vgl. Tocquevilles Ausführungen zur Bedeutung eines Erbrechts, das Erbteilung vorsieht, für die Entstehung eines Mittelstands: Kap. 7, Anm. 54. 58 Arbeiterfrage 589. oB Zu Mohls Ziel, den Mittelstand zu verbreitern, s. Angermann, Robert von Mohl S. 292. - Bemerkungen Mohls über das bedauerliche Zurückdrängen des Mittelstands durch die wenigen Reichen einerseits und die Massen der Proletarier andererseits: Nachteile 142 unten f., 157.

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gezeigt, daß es den Charakter der Verfassungsmischung besitzt, da es darum geht, allen Gruppen in der Gesellschaft einen anerkannten und mitbestimmenden Platz zu geben; was das zweite anbetrifft, ist Mohls Ziel die Verbreiterung des Mittelstands. Dies Konzept ist gleichbedeutend mit unserem Begriff der Verfassungsmitte: Ausgleich zwischen den Gruppen durch "Vermischen", durch Schaffung einer großen mittleren Gruppe. Im Verlauf der Arbeit hatte sich gezeigt, daß sich diese beiden Ziele zuweilen im Gegensatz zueinander befinden, zuweilen unverbunden nebeneinander stehen und der Zusammenhang vom Autor nicht reflektiert wird; bei Mohl aber fügt sich beides wie selbstverständlich ineinander. Daß die unterste Schicht der Gesellschaft, die Proletarier, eine anerkannte Stellung und dementsprechend einen Platz in den Parlamenten bekommen sollen, ist die eine Hälfte eines Programms, dessen zweiter Teil in der tatsächlichen Verbesserung der Vermögensverhältnisse dieser Gesellschaftsschicht besteht, denn ohne diese faktische Änderung wäre jenes zuerst genannte Ziel ohne Fundament". - Auf uns wirken die zwei Ziele wie zwei Aspekte derselben Sache, aber aus der damaligen Zeit betrachtet, sind die Reformideen nicht so selbstverständlich, und zwar weder die zwei Konzepte für sich genommen, noch der Zusammenhang zwischen beiden. Im Gegenteil: die Liberalen befürworten zwar die Gleichheit bezüglich der politischen Rechte aber eine tatsächliche Veränderung der Vermögensstruktur wie durch eine Gewinnbeteiligung, die - wenn überhaupt - nur vom Staat durchgesetzt werden kann, lehnen die meisten Liberalen entschieden ab. - Die Konservativen sind zwar gegen Unterdrückung der Arbeiter und gegen alle damit zusammenhängenden Auswüchse, aber sie sind großteils dermaßen an den alten ständischen Formen orientiert, daß ihnen die untergeordnete Stellung der Arbeiter vollkommen natürlich erscheint, und selbst in einer ständischen Organisation wollen viele die Arbeiterklasse nicht als eigenen Stand vertreten sehen. - Die Sozialisten hingegen kämpfen für eine grundsätzliche Verbesserung der Lage der neuen untersten Schicht, des Proletariats, aber für einen Platz der Arbeiterklasse in der Gesellschaft kämpfen sie nicht, ihr Ziel ist deren Alleinherrschaft. - Eine Lösung nach Art der gemischten oder ausgeglichenen Verfassung mit ihren beiden Bestandteilen ist also keineswegs das normale, d. h. mit dem Bestandteil der Verfassungsmischung, was bedeutet: einen Ausgleich herbeizuführen, indem man alle Gruppen möglichst gleichmäßig beteiligt, und nicht die 80 Die anerkannte Stellung in der Gesellschaft als Zweck der Verbesserung der wirtschaftlichen Lage der Arbeiter: Nachteile 145 oben, 184; Arbeiterfrage 537 mitte, 556 mitte, 559 oben.

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"Bevorzugung eines Standes auf Kosten aller übrigen" betreibt81 , und mit ihrem Bestandteil der Verfassungsmitte, was bedeutet: zusätzlich einen tatsächlichen Ausgleich zu fördern, was auf ein Mittelmaß in Besitz und Rechten hinausläuft. 2. Alte Zweckorientierung trotz veränderter ökonomiseh-sozialer Probleme

Die zwei sich ergänzenden Teile von Mohls Konzept dienen auch ein und demselben Zweck, und zwar weder einem gesellschaftlichen Gleichgewicht, noch der bloßen wirtschaftlichen Verbesserung der Lage eines Teils der Bevölkerung oder sonstwie einem besseren und mehr reibungslosen Funktionieren des neuen industriellen Wirtschaftssystems, sondern mit der gleichen Klarheit wie bei manchen alten gemischten Verfassungen ist hier die Eintracht zwischen den Bevölkerungsgruppen der wesentliche Zweck der ganzen Konzeption82 • Die Ausrichtung auf ein solches Ziel ist alles andere als selbstverständlich, wenn man betrachtet, wie andere Denker an das Problem des Klassengegensatzes herangehen, und ferner ist dies nicht selbstverständlich, wenn man sich klar macht, daß in der veränderten Situation eines industriellen Systems die Frage nach dem Zweck gesellschaftspolitischer Aufgaben ganz anders gelagert ist, weil andere Zwecke in den Vordergrund treten. Da ist zunächst einmal das Problem, daß die Gesundheit der Menschen wegen des neuen Arbeitsysstems nicht mehr als Gegebenheit betrachtet werden kann, sondern daß es zur vordringlichen Aufgabe wird, akute Gesundheitsschäden zu beheben und zu vermeiden, die durch die Arbeitsweise an den Maschinen entstehen, durch die unmenschlichen Arbeitszeiten und durch die Kinderarbeit; ferner gilt es die wirtschaftliche Lage der Arbeiter zu verbessern nicht einer Ungerechtigkeit wegen, sondern weil schlichtweg Mangel am lebensnotwendigen besteht. - Wenn die Lebensbedingungen der Menschen so sind, daß die Sicherung des bloßen Lebens bzw. Überlebens zur vordringlichen Aufgabe wird, ist jedenfalls die Gefahr groß, weitergehende Ziele in den Hintergrund geraten zu lassen. - Was sodann die psychischen Auswirkungen der Industrialisierung und des kapitalistischen Systems angeht, stehen Probleme wie die, die Marx unter dem Begriff der Entfremdung beschrieben hat, an erster Stelle. Auch für Robert Mohl stellen sich die genannten Probleme und Aufgaben. Er beschäftigt sich mit den Folgen davon, daß eine Maschine nie 81 Dies klassische Argument für die gemischte Verfassung verwendet Mohl gegen Lassalle: Arbeiterfrage 553 unten. 82 Mohl stellt seine Vorschläge dar als das Ergebnis seiner Suche nach einem Mittel, "den giftigen Samen der Feindschaft auszurotten." (Nachteile 179); s. a. die gesamte Argumentation auf den vorherigen Seiten (174 ff.).

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rastet, mit der Wichtigkeit von Spiel und Erholung für Kinder, mit den Problemen, daß ein Arbeiter ein ganzes Leben als Tagelöhner für den Vorteil anderer schafft, und damit, daß die Hoffnungslosigkeit auf eine Verbesserung seinem Charakter jegliche Spannkraft nimmt. Die oben beschriebenen konkreten Veränderungen, die Mohl anstrebt, sind als Mittel für Verbesserung dieser übel konzipiert, für Gewährleistung der Gesundheit, für gesicherte wirtschaftliche Existenz, und für Selbstbewußtsein und Selbständigkeit. Von größter Bedeutung bei den sittlichen Auswirkungen sind ihm aber die menschlichen Empfindungen und Verhaltensweisen, die sich auf das Verhältnis zwischen den zwei großen Klassen der Bevölkerung beziehen; und bei deren Benennung und Beschreibung tauchen bei Mohl all die Begriffe auf, die früher zur Kennzeichnung von entarteten Verfassungen bzw. von deren Gegenteil dienten: Das Lohnwesen führt zu Neid und Erbitterung, die Schuld tragen die Unternehmer, die nicht mit Wohlwollen und Billigkeit auf eine Versöhnung aus sind, sondern aus ungezügelter Habsucht auf eine Schmälerung des Lohns und eine Erhöhung der Arbeitszeit drängen, wobei der Zustand der höheren Klassen den Arbeitern als Ergebnis des an ihnen begangenen Raubes erscheinen muß. Die schädlichen Folgen für die Gesellschaft sind Haß und Neid; es sind statt der natürlichen Gefühle der gegenseitigen Abhängigkeit die gegenseitige Abneigung, die Furcht, Beleidigungen, Angriffe und ein halber Kriegszustand, in dem sich die Gruppen todfeindlich gegenüberstehen83 . 83 Zusammenstellung der Begriffe für die Zwietracht (den "Riß", Nachteile 149) zwischen den Klassen: a) die Leidenschaften, die das Verhältnis zur anderen Klasse bestimmen: Mißtrauen, Furcht Nachteile 149,162,173 unten gegenseitige Abneigung Nachteile 149 Erbitterung, Bitterkeit Nachteile 146, 162, 163, Arbeiterfrage 519, 562 mitte Arbeiterfrage 536 unten Mißgunst Nachteile 146, 149, 151, Arbeiterfrage Neid 518,536 unten Nachteile 149, 173 unten, 174 mitte, 179, Haß Arbeiterfrage 518, 522, 536 unten Nachteile 146, Arbeiterfrage 519 Schadenfreude, Gehässigkeit Nachteile 149, 179, Arbeiterfrage 518,532 feindselige Gesinnung, Feindseligkeit, todfeindliches Gegenüberstehen Arbeiterfrage 532 Rachegefühl b) Verhalten gegenüber der anderen Klasse: Übervorteilung Nachteile 174 Ausbeutung Arbeiterfrage 575 mitte, 576 unten, 601 unten Plünderung Nachteile 156 Nachteile 175 oben, Arbeiterfrage 578 (Habsucht) Nachteile 151 Raub

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Mohl will als Abhilfe nicht eine Mildtätigkeit für die Arbeiter, sondern daß diese auf Grund ihrer Leistung den ihnen zukommenden Platz in der Gesellschaft einnehmen. Zweck seiner Veränderungsvorschläge ist die Beseitigung der genannten Arten von Zwietracht durch ein Vertrauensverhältnis, durch das natürliche Gefühl des Wohlwollens und eine positive Zuneigung; die Klassen sollen ausgesöhnt und verbunden werdenS'. Der Erlangung des anerkannten Platzes dient das Recht zur Mitbestimmung der gesellschaftlich-politischen Belange im Repräsentativsystem; der Entfernung des Hasses eine gerechte Verteilung des Besitzes; die positive Zuneigung und Verbindung der Klassen aber soll durch das System der Gewinnbeteiligung ermöglicht werden.

Unterdrückung Sklaverei Mißhandlung langsamer Mord, Zerstörung von Menschenleben tätliche Angriffe Kriegszustand 14 Zusammenstellung der Begriffe Wohlwollen freundliches Verhalten positive Zuneigung, gegenseitige Anhänglichkeit versöhnen, aussöhnen, Gegensätze ausgleichen enge Verbindung, verbunden, gemeinschaftliches Interesse (Dankbarkeit)

Nachteile 156 Nachteile 162 Arbeiterfrage 529 Arbeiterfrage 573 unten, 578 Nachteile 149 Nachteile 149, 151 für die Eintracht zwischen den Klassen: Nachteile 148, 173 unten Nachteile 174 Nachteile 149,174 Nachteile 148, 173 unten, 180 oben Nachteile 173, 178, 180 Arbeiterfrage 519

10. Kapitel MABX und ENGELS

Zur Gleichheit durch den Klassenkampf: die radikalisierte Verlassungsmitte Das Thema dieser Arbeit bewegte sich stets in der Spannung zwischen der Ungleichheit der Klassen und dem Ziel der Gleichheit, wobei Radikalisierungen des einen wie des anderen den Zugang zum Problem der Verfassungsmischung unmöglich machten. Wenn wir zum Abschluß des historischen Teils noch einen Blick auf den Sozialismus, d. h. einer Radikalisierung des Gleichheitsgedankens werfen, kann dies nicht bezwecken, etwas Neuartiges über die gemischte Verfassung zu finden, und es geht auch nicht darum, irgendwelche neuen Erkenntnisse über Marx und Engels zu gewinnen, sondern es soll lediglich skizziert werden, wie sich die bekannten Thesen von Marx und Engels aus der Perspektive der Verfassungsmischung darstellen.

I. Die unversöhnlimen Klassengegensätze 1. Die Unterscheidung der Staatsformen entsprechend der Klassenherrschaft

Daß sich die Staatsformen im wesentlichen nach der jeweils dominierenden Klasse unterscheiden, war eine seit der Antike bestehende Auffassung, wenngleich diese Einsicht zuweilen von mehr formalistischen Vorstellungen überlagert wurde; bei Marx und Engels ist jene Einsicht eine Selbstverständlichkeit, ebenso wie die Auffassung, daß das Ringen um die Staatsformen ein Ringen zwischen den Bevölkerungsschichten ist, allerdings wird die Auffassung. dahingehend radikalisiert, daß die Staatsformen nur als illusorische Formen aufgefaßt werden, unter denen sich die Klassenauseinandersetzungen abspielen: über den Staat heißt es, daß er als selbständige Gestaltung des gemeinsamen Interesses auftritt, aber insbesondere auf der Grundlage "der durch die Teilung der Arbeit bereits bedingten Klassen, die in jedem derartigen Menschenhaufen sich absondern und von denen eine alle anderen beherrscht. Hieraus folgt, daß alle Kämpfe innerhalb des Staates, der Kampf zwischen Demokratie, Aristokratie und Monarchie, der Kampf um das Wahlrecht etc. etc., nichts als die illusorischen Formen sind, in

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denen die wirklichen Kämpfe der verschiedenen Klassen untereinander geführt werden"l. Ferner wird jene Auffassung insofern einseitig zugespitzt, da alle bisherigen politischen Formen nichts anderes darstellen als die Herrschaft einer Klasse über eine oder mehrere andere, wogegen sich die jeweils Beherrschten auflehnen; eine gleichzeitige und gleichgewichtige Herrschaft mehrerer Bevölkerungsgruppen gibt es nicht!, stets handelt es sich um Herrschaft auf der einen und Unterdrückt-sein auf der anderen Seite. Der Staat wird dabei als Mittel, als Instrument in der Hand der jeweils herrschenden Klasse verstanden. "Da der Staat entstanden ist aus dem Bedürfnis, Klassengegensätze im Zaum zu halten, da er aber gleichzeitig mitten im Konflikt dieser Klassen entstanden ist, so ist er in der Regel Staat der mächtigsten, ökonomisch herrschenden Klasse, die vermittelst seiner auch politisch herrschende Klasse wird und so neue Mittel erwirbt zur Niederhaltung und Ausbeutung der unterdrückten Klasse. So war der antike Staat vor allem Staat der Sklavenbesitzer zur Niederhaltung der Sklaven, wie der Feudalstaat Organ des Adels zur Niederhaltung der leibeignen und hörigen Bauern und der moderne Repräsentativstaat Werkzeug der Ausbeutung der Lohnarbeit durch das Kapitals." 2. Die spezifisch moderne Klassenstruktur im Zeitalter der nur imaginiren staatsbürgerlichen Gleichheit

Art und Form der Klassen und des Klassengegensatzes sind im Laufe der Geschichte sehr verschieden, mehrfach lassen Marx und Engels die unterschiedlichen Ausgestaltungen Revue passieren, wobei die spezifischen Unterschiede der jeweiligen Klassenstruktur herausgestellt werden; insbesondere werden die Unterschiede zwischen der Klassenstruktur der Zeit vor der französischen Revolution und der nachfolgenden Zeit mit ihrer staatsbürgerlichen Gleichheit einander gegenübergestellt: "Welches war der Charakter der alten Gesellschaft? Ein Wort charakterisiert sie. Die Feudalität. Die alte bürgerliche Gesellschaft hatte unmittelbar einen politischen Charakter, d. h. die Elemente des bürgerlichen Lebens, wie z. B. der Besitz oder die Familie oder die Art und Weise der Arbeit, waren in der Form der Grundherrlichkeit, des Standes und der Korporation zu Elementen des Staatslebens erhoben4." Deutsche Ideologie, MEW 3, 33 unten. Kommunistisches Manifest, MEW 4, 462; zur Klassenherrschaft und zur Unmöglichkeit eines gleichgewichtigen Nebeneinander der Klassen siehe die Anmerkungen 12; 13; 22. a Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staates, MEW 21,166 unten f.; vgl. a. Anm. 20. , Zur Judenfrage, MEW 1, 367 unten f.; zum Vergleich mit der ständischen Gesellschaft s. a.: Deutsche Ideologie, MEW 3, 76; Der achtzehnte Brumaire des Louis Bonaparte, MEW 8, 202 mitte. 1

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10. Kapitel

Mit diesen Elementen der Gesellschaft und insbesondere der Frage, ob sie einen unmittelbar politischen Charakter besitzen oder nicht, hatten wir uns im Verlauf dieser Arbeit immer wieder beschäftigt, denn dieser politische Charakter hatte die gemischten Verfassungen im herkömmlichen Sinn ermöglicht, und seine Aufhebung bedeutete die InFrage-Stellung jeglicher Verfassungsmischung. - "Die politische Revolution, welche diese Herrschermacht stürzte und die Staatsangelegenheiten zu Volksangelegenheiten erhob, ... zerschlug notwendig alle Stände, Korporationen, Innungen, Privilegien ... Die politische Revolution hob damit den politischen Charakter der bürgerlichen Gesellschaft aufS." Im politischen Bereich kam das Prinzip der Gleichheit zur Geltung, da hier die gesellschaftlichen Unterschiede nicht mehr von Belang waren: "Der Staat als Staat annulliert z. B. das Privateigentum, der Mensch erklärt auf politische Weise das Privateigentum für aufgehoben, sobald er den Zensus für aktive und passive Wählbarkeit aufhebt, wie dies in vielen nordamerikanischen Staaten geschehen ist. Hamilton interpretiert dies Faktum von politischem Standpunkte ganz richtig dahin: ,der große Haufen hat den Sieg über die Eigentümer und den Geldreichtum davon getragen'. Ist das Privateigentum nicht ideell aufgehoben, wenn der Nichtbesitzende zum Gesetzgeber des Besitzenden geworden ist? Der Zensus ist die letzte politische Form, das Privateigentum anzuerkennenG." Diesen neuen Charakter des politischen Bereichs mit seinem Gleichheitsprinzip leugnet also Marx so wenig wie Tocqueville oder Mohl. Interessant ist für uns allerdings die Frage, welche Funktion die de facto verbliebenen gesellschaftlichen Unterschiede haben. Diesbezüglich erblickt Marx - in der hier zitierten Schrift ,Zur Judenfrage', in der er sich mit Hegel auseinandersetzt - ähnlich wie Mohl, aber mit z. T. noch größerer Schärfe, die Trennung der Bereiche von Politik und Gesellschaft; dabei ist die wirkliche Bedeutung, die dem politischen Bereich mit seiner Gleichheit zukommt, äußerst gering, ja sie sinkt - was die Schriften von Marx und Engels insgesamt angeht - zur Bedeutungslosigkeit herab, und dementsprechend wird der Klassencharakter der Gesellschaft um so deutlicher offengelegt: "Dennoch ist mit der politischen Annullation des Privateigentums das Privateigentum nicht nur nicht aufgehoben, sondern sogar vorausgesetzt. Der Staat hebt den Unterschied der Geburt, des Standes, der Bildung, der Beschäftigung in seiner Weise auf, wenn er Geburt, Stand, Bildung, Beschäftigung für unpolitische Unterschiede erklärt, wenn er ohne Rücksicht auf diese Unterschiede jedes Glied des Volkes zum gleichmäßigen Teilnehmer der Volkssouveränität ausruft, wenn er alle Elemente des wirklichen Volks6 Zur Judenfrage, MEW 1, 368 mitte. s ibid. 354 oben.

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lebens von dem Staatsgesichtspunkt aus behandelt. Nichtsdestoweniger läßt der Staat das Privateigentum, die Bildung, die Beschäftigung auf ihre Weise, d. h. als Privateigentum, als Bildung, als Beschäftigung wirken und ihr besonderes Wesen geltend machen. Weit entfernt, diese faktischen Unterschiede aufzuheben, existiert er vielmehr nur unter ihrer Voraussetzung, empfindet er sich als politischer Staat und macht er seine Allgemeinheit geltend nur im Gegensatz zu diesen seinen Elementen7." Die unverminderte Existenz der Besonderheiten führt zum Problem des Lebens in zwei Sphären, wobei die politische nur einen "imaginären" Charakter hat: "Wo der politische Staat seine wahre Ausbildung erreicht hat, führt der Mensch nicht nur im Gedanken, im Bewußtsein, sondern in der Wirklichkeit, im Leben ein doppeltes, ein himmlisches und ein irdisches Leben, das Leben im politischen Gemeinwesen, worin er sich als Gemeinwesen gilt, und das Leben in der bürgerlichen Gesellschaft.... Der politische Staat verhält sich ebenso spiritualistisch zur bürgerlichen Gesellschaft wie der Himmel zur Erde8 ." Die faktischen Ungleichheiten bleiben nicht nur bestehen, sie können sich noch ungehemmter ausbilden, eben weil sie nicht mehr in die Politik eingebunden sind9• Dabei ist der alles andere überlagernde Unterschied der Klassengegensatz zwischen Bourgeoisie und Proletariat: "Die aus dem Untergang der feudalen Gesellschaft hervorgegangene moderne bürgerliche Gesellschaft hat die Klassengegensätze nicht aufgehoben. Sie hat nur neue Klassen, neue Bedingungen der Unterdrükkung, neue Gestalten des Kampfes an die Stelle der alten gesetzt. Unsere Epoche, die Epoche der Bourgeoisie, zeichnet sich jedoch dadurch aus, daß sie die Klassengegensätze vereinfacht hat, die ganze Gesellschaft spaltet sich mehr und mehr in zwei große feindliche Lager, in zwei große einander direkt gegenüberstehende Klassen: Bourgeoisie und Proletariat1o." In allen zivilisierten Ländern sind "Bourgeoisie und Proletariat die beiden entscheidenden Klassen der Gesellschaft, der Kampf zwischen beiden der Hauptkampf des 'rages geworden"l1. 7 ibid. 354 mitte; zur Interpretation dieser Stelle vgl. Fredrichs / Kraiker 13 f. 8 Zur Judenfrage, MEW 1, 354 unten f.; zum Staat als nur illusorischer Gemeinschaft s. Friedrich Müller, Entfremdung 84 n. 283; Basso 17, 43f. n.21; Fredrichs / Kraiker 14. 9 Zur Judenfrage, MEW 1, 369; s. a. Engels, Grundsätze des Kommunismus, Frage 11, MEW 4, 368: zwar wurden alle Vorrechte und Privilegien aufgehoben, aber die Einführung der freien Konkurrenz bedeutet, "daß von nun an die Mitglieder der Gesellschaft nur noch insoweit ungleich sind, als ihre Kapitalien ungleich sind". Zum Gegensatz von politischer und gesellschaftlicher Macht s. a. Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 43 oben. 10 Kommunistisches Manifest, MEW 4, 463 oben. 11 Grundsätze des Kommunismus, Frage 19, MEW 4, 374; als besonders prägnante Stellen zur Polarisierung zweier Klassen siehe ferner: ibid. Frage

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3. Die Feindschaft zwischen den Klassen und die Ablehnung jeglicher Schritte zu einer Verfassungsmischung

Die durch den Klassengegensatz geprägte politische Situation wird in vergleichbarer Weise und mit denselben Ausdrücken beschrieben, wie man früher den Zustand einer entarteten Verfassung beschrieb. Die eine Klasse ist die herrschende, die andere die unterdrückte. Die Beziehung wird als Herrschaft, Knechtschaft, Despotie bezeichnet und mit der Sklaverei verglichen12. Wurde früher von den entarteten Verfassungen gesagt, daß die jeweils herrschende Klasse die andere beraube, so wird hier von Plünderung, Bereicherung, Habsucht und Ausbeutung gesprochen13. Der Klassengegensatz wird dabei als dermaßen prinzipielle Feindschaft gesehen, daß eine Versöhnung nicht möglich ist14• Es kommt unausweichlich zum Kampf zwischen den Klassen, was mit dem Sieg der einen Seite endet. Der zu erwartende Kampf zwischen Bourgeoisie und Proletariat wird die Form eines Weltkrieges annehmen15. - Aber beachtlicherweise wird auch der dann folgende Zustand in der Art charakterisiert, daß seine Beschreibung auf genau den Zustand paßt, den man früher eine entartete Verfassung nannte. Die Diktatur des Proletariats wird bezeichnet als Gewalt einer Klasse zur Unterdrükkung einer anderen; das Proletariat wird eine herrschende Klasse genannt, die despotische Eingriffe vornimmt und gewaltsam vorgeht18. In der später folgenden "höheren Phase der kommunistischen Gesellschaft"17 ist dann allerdings keine herrschende Klasse mehr nötig; alle Klassenunterschiede sind vernichtet, sie werden zum Anachronis4, S. 364 unten f.; Deutsche Ideologie, MEW 3, 456 unten f.; Kommunistisches Manifest, MEW 4, 470 unten. - Zur inneren Struktur der Klassen s. Fetscher, Marxismus 482 - 495; Mauke 68 ff., 75 ff., 123 ff. I! Siehe dazu beispielsweise: Deutsche Ideologie, MEW 3, 33 unten; ibid. S. 46; Grundsätze des Kommunismus, Frage 7, MEW 4, 366; ibid. Frage 15, S. 371 mitte; Kommunistisches Manifest, MEW 4, 464 - 469; 473 mitte; 480 unten; Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 26 oben; Das Kapital, Bd. 1, MEW 23, 790 unten; Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 799 unten. 13 Kommunistisches Manifest, MEW 4,469 unten; 480 unten; Der Ursprung der Familie ... , MEW 21, 164 oben; Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 403 mitte. 14 Siehe die ausdrücklichen Hinweise auf die Unversöhnlichkeit in der soeben zitierten Stelle: Der Ursprung der Familie ... , MEW 21, 164 oben; 165 oben. 1$ Zum gewaltsamen Kampf zwischen den Klassen s. z. B.: Kommunistisches Manifest, MEW 4, 473; 493; Lohnarbeit und Kapital, MEW 6, 397 unten f.; Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 34; 79; Zirkularbrief an BebeI, Liebknecht u. a., MEW 19, 162 oben; Der Ursprung der Familie ..., MEW 21, 164 mitte. lS Kommunistisches Manifest, MEW 4, 481 f.; Zur Wohnungsfrage, MEW 18,267 unten f.; Kritik des Gothaer Programms, MEW 19, 28 unten. 17 ibid. S. 21.

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mus; die Teilung der Arbeit, die Ursache für die Spaltung der Gesellschaft in Klassen, hört auf, und es besteht eine gemeinschaftliche Kontrolle der Produktion, da sich die Produktionsmittel in Gemeineigentum befinden. Auf dies Ziel einer kommunistischen Gesellschaft werden wir noch zu sprechen kommen. - Jedenfalls handelt es sich bei der Marxschen Sicht der Geschichte, bei der Einschätzung der Gegenwart und auch was die nächstliegende Zielvorstellung anbelangt stets um das krasse Gegenteil von gemischter Verfassung. Es gibt nicht einmal das bloße Miteinander-Auskommen verschiedener Bevölkerungsgruppen, ein Nebeneinander ist nicht möglich, sondern feindliche Lager stehen sich gegenüber18• Diese Gruppenfeindschaft prägt den Politikbegriff als solchen im Sinn einer kämpferischen Auseinandersetzung. "Die politische Gewalt im eigentlichen Sinn ist die organisierte Gewalt einer Klasse zur Unterdrückung einer anderen19." Auch der Staatsbegriff ist ähnlich eng gefaßt; der Staat ist das Machtinstrument der jeweils herrschenden Klasse20• Konsequenterweise ist in der klassenlosen Gesellschaft weder Platz für die Politik noch für den Staat. "Sind im Laufe der Entwicklung die Unterschiede verschwunden ..., so verliert die öffentliche Gewalt den politischen Charakter21 ." Alle Bestrebungen, die auf "Vermittlung" und "Aussöhnung" zwischen den Klassen abzielen, werden scharf abgelehnt, ebenso alle Personen heftig attaktiert, die sich mit ihren Verbesserungsvorschlägen an "die ganze Gesellschaft ohne Unterschied wenden", die "gesellschaftliche Harmonie" verkünden, und "ihr Ziel auf friedlichem Weg" erreichen wollen, denn alle diese Sätze "drücken bloß das Wegfallen des Klassengegensatzes aus"!!. 18 Magnis arbeitet heraus, daß der prinzipielle Gegensatz der Klassen bereits als Notwendigkeit in den von Marx definierten Begriffen der Klassen angelegt ist, s. bes. S. 74, 231 f. 19 Kommunistisches Manifest, MEW 4, 482 oben. 20 z. B.: Deutsche Ideologie, MEW 3, 62 mitte; Kommunistisches Manifest, MEW 4, 464 mitte; s. ferner Anm. 3; - vgl. hierzu: Friedrich Müller, Entfremdung 74; Basso 14 - 18. 21 Kommunistisches Manifest ibid.; s. a. ibid. S. 471 oben; s. a. Das Elend der Philosophie, MEW 4, 182 oben. !! Kommunistisches Manifest, MEW 4, 488 oben; 490 f.; Die Klassenkämpfe in Frankreich, MEW 7, 19 unten; Zirkularbrief an Bebei, Liebknecht u. a. MEW 19, 163 f. - Das schließt nicht jegliche Reformen aus, sondern es ist zu unterscheiden zwischen solchen Reformen, die eine Milderung, und solchen, die eine Verschärfung der gesellschaftlichen Widersprüche bedeuten: Fredrichs / Kraiker 122 - 124. - s. ferner zum Unterschied zwischen gewaltsamen Revolutionen und den auch von Marx für bestimmte Verhältnisse zugestandenen friedlichen Revolutionen: Haufschild 94; Basso 35.

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10. Kapitel 4. Die bistoriscllen Ausnabmesituationen von Zuständen gemiscllter Verfassung

Das Geschichtsmaterial legt jedoch nahe, daß es auch mehrere Klassen nebeneinander gab und ein Gleichgewicht möglich ist. Damit beschäftigen sich Marx und Engels in einigen Passagen ihrer Schriften: "Ausnahmsweise indes kommen Perioden vor, wo die kämpfenden Klassen einander so nahe das Gleichgewicht halten, daß die Staatsgewalt als scheinbare Vermittlerin momentan eine gewisse Selbständigkeit gegenüber beiden erhält. So die absolute Monarchie des 17. und 18. Jahrhunderts, die Adel und Bürgertum gegeneinander balanciert; so der Bonapartismus des ersten und namentlich des zweiten französischen Kaiserreichs, der das Proletariat gegen die Bourgeoisie und die Bourgeoisie gegen das Proletariat ausspielte. Die neueste Leistung in dieser Art, bei der Herrscher und Beherrschte gleich komisch erscheinen, ist das neue Deutsche Reich Bismarckscher Nation: Hier werden Kapitalisten und Arbeiter gegeneinander balanciert und gleichmäßig geprellt zum Besten der verkommenen preußischen Krautjunker23." Bezeichnenderweise sind solche gesellschaftlichen Gleichgewichtszustände verbunden mit einer Selbständigkeit der Staatsgewalt; diese ist jetzt nicht mehr als bloßes Unterdruckungsmittel bzw. als Ausschuß der dominierenden Klasse zu verstehen. Auch stellt sich bei derartigen Balanceverhältnissen wie von selbst die Vorstellung von einer dritten, unabhängigen und vermittelnden Klasse ein. So ist bei der Verfassung Deutschlands, die als Kompromiß zwischen Adel und Kleinbürgern hingestellt wird, davon die Rede, daß die Verwaltung in Händen einer dritten Klasse, der Bürokratie liege24 • Von Frankreich unter Napoleon IH. heißt es, daß der Staat sich gegenüber Bourgeoisie und Proletariat verselbständigt habe; diese Selbständigkeit beruhe aber auf einer weiteren Klasse, nämlich den Parzellenbauern20 • - Auch in Preußen sei die Grundbedingung des modernen Bonapartismus gegeben: das Gleichgewicht zwischen Bourgeoisie und Proletariat (im Gegensatz zur Grundbedingung der alten absoluten Monarchie: dem Gleichgewicht zwischen Grundadel und Bourgeoisie). Träger der Staatsgewalt aber ist eine dritte Kraft: die Offiziers- und Beamtenkaste. Dann aber kommt die Einschränkung, daß es sich nur um eine scheinbare Selbständigkeit handle, wie überhaupt die ganze preußische Verfassung als Scheinkonstitutionalismus zu bezeichnen sei26• Auch bei dem Beispiel des bonapartistischen Frankreich und in dem zuerst angeführten Zitat wurde die Verselbständigung des Staates als nur scheinbar hingestellt27• Fer23

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Der Ursprung der Familie ..., MEW 21, 167 oben. Der Status quo in Deutschland, MEW 4, 44 unten. Der 18. Brumaire ..., MEW 8, 197 unten f. Zur Wohnungsfrage, MEW 18, 258 mitte f.

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ner heißt es allgemein über die bürgerliche Gesellschaft: "Eine solche Gesellschaft konnte nur bestehen entweder im fortwährenden offenen Kampf dieser Klassen gegeneinander, oder aber unter der Herrschaft einer dritten Macht, die, scheinbar über den widerstreitenden Klassen stehend, ihren offnen Konflikt niederdrückte und den Klassenkampf höchstens auf ökonomischem Gebiet, in sogenannter gesetzlicher Form, sich ausfechten ließ28." Ein gesellschaftliches Gleichgewicht wird demnach als nur scheinbar verstanden; und im übrigen handelt es sich, soweit ein solches Gleichgewicht - wenn auch stark eingeschränkt - konzidiert wird, um ein Gleichgewicht des Gegeneinander, mit gemischter Verfassung im Sinne der Eintracht haben auch diese Ausnahmen nichts zu tun. 5. Parallelen zu einer Mittelstands-Konzeption

Die Marxsche These von der Polarisierung der Klassen wird noch ergänzt durch die Aussagen über den Mittelstand. - Für die Verwirklichung einer ausgeglichenen Verfassung wurde die Existenz eines Mittelstands bei früher behandelten Autoren oft als günstige oder gar notwendige Voraussetzung angesehen, liegt doch seine ausgleichende Funktion zwischen zwei extrem verschiedenen Gruppen geradezu auf der Hand; ferner wurde er betrachtet als günstige Voraussetzung fast könnte man sagen als Keimzelle - für die Gleichheit, d. h. für eine Gleichheit im Sinn wirklich ausgeglichener Verhältnisse, da es sich hier um eine Bevölkerungsschicht handelt, die weder arm noch reich ist. In der Marxschen Theorie ist dafür kein Platz. Obwohl Marx sieht, daß der Mittelstand zu seiner Zeit alles andere als klein ist, hält er fest an seiner Theorie der Polarisierung und interpretiert die Existenz der mittleren Bevölkerungsschichten dahin, daß sie stets neu entstehen, aber wieder ins Proletariat hinabfallen. "In den Ländern, wo sich die moderne Zivilisation entwickelt hat, hat sich eine neue Kleinbürgerschaft gebildet, die zwischen dem Proletariat und der Bourgeoisie schwebt und als ergänzender Teil der bürgerlichen Gesellschaft stets von neuem sich bildet, deren Mitglieder aber beständig durch die Konkurrenz ins Proletariat hinabgeschleudert werden, ja selbst mit der Entwicklung der großen Industrie einen Zeitpunkt herannahen sehen, wo sie als selbständiger Teil der modernen Gesellschaft gänzlich verschwinden29• " 27 Den nur relativen Charakter der Autonomie der Regierungsgewalt für die genannten historischen Situationen betont auch Basso (21 - 30, 43 f. n. 21), überdies hält er Marx' Auffassung für eine historische Fehleinschätzung (22 oben, 30 unten). 28 Der Ursprung der Familie ..., MEW 21, 164 mitte. 29 Kommunistisches Manifest, MEW 4, 484 mitte; zum Verschwinden des Mittelstands siehe ferner: ibid. S. 469 unten; 472 oben; Zur Kritik der Hegel-

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Die Gleichheit kann nur durch das Proletariat herbeigeführt werden, nämlich dadurch, daß diese Klasse alle übrigen besiegt und als einzige bestehen bleibt. - Dabei kann der proletarische Charakter der kommunistischen Gesellschaft nur im Hinblick auf ihre Entstehung gemeint sein, denn es leuchtet ein, daß in der vollendeten kommunistischen Gesellschaft das Proletariat nicht mehr Proletariat im Sinne dieses Wortes sein kann und sein soll. Es handelt sich weder um eine Bevölkerungsschicht, die knapp über dem Existenzminimum lebt, noch um eine in Luxus und überfluß; der Sache nach handelt es sich um Mittelstand, weil nichts anderes denkbar noch wünschbar ist; zwar nicht um Mittelstand in den herkömmlichen Besitzvorstellungen30, aber was die Kompetenzen, d. h. Entscheidungs- und Verfügungsgewalten anbelangt, kann faktische Gleichheit dann nur bedeuten, daß alle gleichmäßig beteiligt sind und nicht die einen viel und die anderen wenig, d. h. daß alle einen mittleren Anteil besitzen. Diese an sich triviale überlegung gibt zu denken über den Grund dafür, warum nur das Proletariat fähig sein soll, diese neue Gesellschaft der Gleichheit herbeizuführen, und warum der Sieg dieser Klasse nicht auf Dauer zu einer lediglich neuen Klassenherrschaft führt, sondern zur endgültigen überwindung aller Klassenunterschiede. Tragendes Argument ist für Marx, daß diese Klasse nicht für sich selbst und ein klassenspezifisches Interesse kämpft, sondern für das menschliche Interesse schlechthin, denn es ist eine Klasse, auf die "kein besonders Unrecht, sondern das Unrecht schlechthin ... verübt wird, welche nicht mehr auf einen historischen, sondern nur noch auf den menschlichen Titel provozieren kann, ... welche mit einem Wort der völlige Verlust des Menschen ist, also nur durch die völlige Wiedergewinnung des Menschen sich selbst gewinnen kann"31. D. h. mit anderen Worten, daß die Umstände, unter denen das Proletariat lebt, diesem ein Bewußtsein ermöglichen, das nicht egoistisch ist, sondern allgemein menschlich. - Wir erinnern uns, daß Aristoteles in sehr ähnlicher schen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, 391 oben; Grundsätze des Kommunismus, Frage 4, MEW 4, 364 unten; zur von Marx erwarteten schnellen Durchsetzung der Tendenz des Verschwindens dieser Übergangsklasse s. Mauke 61 - 68; Hofmann / Abendroth 145 f. (mit Kritik an der Theorie des Verdrängungs-Vorgangs). - Zur neueren Diskussion um die Existenz einer "neuen Mittelklasse" (verstanden als die nicht direkt Mehrwert produzierenden Lohnarbeiter, entsprechend der Marxschen Unterscheidung von produktiver und unproduktiver Arbeit: Theorien über den Mehrwert, MEW 26, I S. 122 ff.) siehe den Aufsatz von G. Armanski. so Vgl. Kap. 9, Abschn. III 2. 31 Zur Kritik der Hegeischen Rechtsphilosophie, Einleitung, MEW 1, 390; s. a.: Die Heilige Familie, MEW 2, 38; Deutsche Ideologie, MEW 3,68 oben.s. zum "universalen Bewußtsein" dieser Klasse als Begründung für ihre Fähigkeit, alle Klassenverhältnisse aufzuheben: Magnis 70 -72, 229 - 231, 298 - 302, 368 f., 404 f.; Fredrichs I Kraiker 79 - 84.

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Weise argumentiert hatte, zwar nicht für die ärmste Bevölkerungsschicht, sondern er macht für den Mittelstand geltend, daß dieser am wenigsten habsüchtig, herrschbegierig, ämtersüchtig, nicht verzärtelt wie die Reichen und nicht unterwürfig wie die Armen ist, und am ehesten geneigt, der Vernunft zu gehorchen32 • Das sind ethische Kategorien, und der wesentliche Unterschied liegt nur darin, bei welcher Bevölkerungsschicht die entscheidenden Vorzüge gesehen werden. Interessanterweise wird der ethische Kern der - jedenfalls ursprünglichen - Marxschen Argumentation noch durch seine Charakterisierung des Mittelstands unterstützt, bei dem er die genau entgegengesetzten Eigenschaften - verglichen mit dem Proletariat vorfindet: Charakterlos sucht es seine Interessen zu sichern, denn "das ewige Hin- und Hergerissensein zwischen der Hoffnung, in die Reihen der wohlhabenderen Klasse aufzusteigen, und der Furcht, auf das Niveau von Proletariern oder gar Paupers hinabgedrückt zu werden ... macht das Kleinbürgertum äußerst wankelmütig in seinen Anschauungen. Demütig und kriecherisch unterwürfig unter einer starken feudalen oder monarchischen Regierung, wendet es sich dem Liberalismus zu, wenn die Bourgeoisie im Aufstieg ist; sobald die Bourgeoisie ihre eigene Herrschaft gesichert hat, wird es von heftigen demokratischen Anwandlungen befallen, versinkt aber jämmerlich in Furcht und Zagen, sobald die Klasse unter ihm, das Proletariat, eine selbständige Bewegung wagt"33. 6. Zusammenfassung

Wir nannten zu Anfang des Kapitels den Sozialismus eine Radikalisierung des Ziels der Gleichheit. Genauer gesagt müßte es heißen: es handelt sich um zwei Radikalisierungen; zum einen für Vergangenheit, Gegenwart und nahe Zukunft um eine Radikalisierung des Unterschieds zwischen den Bevölkerungsgruppen. Das Erkennen und Anerkennen ihrer Unterschiede war stets eine Voraussetzung für die Verfassungsmischung; die Radikalisierung der Unterschiede führt jedoch zum Gegenteil: jetzt ist die Klassentheorie ausschließlich eine Konflikttheorie. - Zum zweiten, was das Endziel der Gesellschaftszustände anbelangt, haben wir es mit einem Extrem in umgekehrter Richtung zu tun: eine Gleichheit, bei der alle sozialen und politischen Unterschiede verschwunden sind. "Verbunden" sind die zwei Extreme nur durch den dazwischen liegenden großen Umsturz, die Revolution mit der Diktatur des Proletariats; beide Zustände sind also scharf in ein zeitliches Hintereinander Aristoteles, Politik, 1295 b 2 - 20 (144 unten f.). aa Revolution und Konterrevolution in Deutschland, MEW 8, 10.

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getrennt, während es für das Anliegen der gemischten Verfassung wesentlich war, beides nicht gegeneinander auszuspielen, sondern zu vereinen. Der Zusammenhang der Marxschen Theorie zur gemischten Verfassung ist im wesentlichen nur ein negativer, es handelt sich um ihr genaues Gegenteil; positiv besteht ein gewisser Zusammenhang lediglich im Hinblick auf das Ziel der Gleichheit, wie gesagt aus unserer Perspektive einer Radikalisierung der Verfassungsmitte, und zwar radikalisiert, weil erstens überhaupt keine Unterschiede mehr bestehen bleiben, und zweitens der Weg hier nicht von der Ungleichheit über die Verfassungsmischung zur Verfassungsmitte verläuft, sondern im Kampf soll allein das eine Extrem siegen. - Die Sozialisten würden diese Begrifflichkeit selbstverständlich weit von sich weisen, mit Mitte hat ihre Gleichheit nichts zu tun, sie wollen die Gleichheit des Proletariats, nicht die eines Mittelstands; wir haben aber gezeigt, daß auch ihre Gleichheit letztlich als Mitte charakterisiert werden kann, und dieser Begriff den Sachverhalt schlichtweg besser trifft. 11. Die Bedeutung der ökonomischen Fundierung einer Klassentheorie für die Vberlegungen zur Verfassungsmischung Was das Verhältnis der Klassen zueinander angeht, mochte bei der bisherigen Darstellung vielleicht der Eindruck entstehen, es seien alle möglichen Stellen, die dies Verhältnis als Feindschaft und Kampf cllarakterisieren, aus dem Werk von Marx und Engels herausgepickt worden, ohne dabei genügend zu würdigen, daß der Klassenkampf nur ein Mittel zum Zweck ist, nämlich Mittel zur klassenlosen Gesellschaft und zur Überwindung von Feindschaft und Kampf, und ohne Berücksichtigung der Gründe, die Marx zu der Gewißheit kommen lassen, daß jener bessere Gesellschaftszustand ausschließlich auf dem Weg über den Klassenkampf erreicht werden kann. Ferner konnte die Art der Zusammentragung all der Zitate, die das Gegenteil von gemischter Verfassung deutlich machen, die Vermutung aufkommen lassen, hier sei unterstellt, daß Vermittlung und Kompromiß grundsätzlich besser seien als politische Gegnerschaft. Demgegenüber sei darauf verwiesen, daß bereits früher herausgearbeitet wurde, daß die Eintracht, die durchgängig als Zweck der gemischten Verfassung zu betrachten ist, nicht als Bereitschaft zum Kompromiß um jeden Preis mißverstanden werden darf. Losgelöst vom jeweiligen Inhalt, um den es bei anstehenden Problemen und Auseinandersetzungen geht, wäre eine solche Auffassung völlig abwegig; daß die Revolution das letzte Mittel ist, eine Besserung der politisch-gesellschaftlkhen Verhältnisse herbeizuführen, ist seit der Antike durch alle Jahrhunderte ein Grundbestandteil abendländisch politischen Denkens gewesen. - Worauf es hier ankam:

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die Ausschließlichkeit dieses Mittels und die radikale Ablehnung aller Kompromißlösungen deutlich zu machen. Den Argumenten für die Marxsche Annahme, daß nur der revolutionäre Klassenkampf eine Verbesserung herbeiführen kann, wollen wir uns noch zuwenden, denn Marx' genaue Untersuchungen des Sachbereichs, dem diese Argumente entstammen, sind gerade im Hinblick auf die gemischte Verfassung ein Fortschritt gegenüber allen bisher behandelten politischen· Denkern. Die Voraussetzung und. zugleich das Ausgangsproblem der gemischten Verfassung: die Existenz verschiedener Gruppen in einer Gesellschaft und zwar insbesondere der nach der Menge des Besitzes unterschiedenen Gruppen, wurde oft als vorgegebenes Faktum hingenommen, aber selten intensiv nach den Gründen für diese Unterschiede befragt, deren Kenntnis doch für ein Ausbalancieren und für das Erreichen eines Ausgleichs unbedingt erforderlich ist. - Gewiß wurden die ökonomischen Gründe nicht außer acht gelassen; Montesquieu beschäftigte sich im Zusammenhang der Staatsformen mit den Handelsgewohnheiten oder auch den Ackergesetzen, Tocqueville mit den Erbrechtsbestimmungen, die entweder klassentrennend oder nivellierend wirken können, und Mohl behandelte die wirtschaftliche Struktur des Fabriksystems, jedoch wurde nie bei politischen Denkern mit solcher Intensität den Methoden nachgegangen, mit denen die einen die anderen in Armut zu halten verstehen, und die ökonomischen Strukturen, die die Klassenunterschiede bewirken, in die politischen überlegungen einbezogen wie bei Marx. Marxzeigt auf, wie in der Wirtschaftsform des Kapitalismus von den Lohnarbeitern nicht nur der in Arbeitslohn ausgelegte Teil des Kapitals produziert wird, d. h. nicht nur ·soviel, um die Arbeiter selbst am Leben zu erhalten, ihr Arbeitsvermögen zu reproduzieren, sondern außerdem Mehrwert für den Kapitalisten produziert wird. Dieser Mehrwert kommt aber nicht den Proletariern selbst zugute, sondern er wird vom Kapitalisten einbehalten, weil dieser Eigentümer der Produktionsmittel ist, und die Proletarier als Lohnarbeiter gezwungen sind, ihre Arbeitskraft an den Kapitalisten zu verkaufen34 • Das Spezifische der Ausbeutung besteht darin, daß der Eigentümer der Produktionsmittel sich unentgeltlich fremde Arbeit, nämlich den Mehrwert, aneignet. Ferner beschreibt Marx, wie der einzelne Kapitalist geradezu durch ein Gesetz des Profits gezwungen wird, Gewinn zu machen, und damit das Ausbeutungsverhältnis aufrecht zu erhalten. Die Erkenntnis, daß es im bestehenden System des Kapitalismus so etwas gibt wie Gesetze, denen sich auch die Kapitalisten nich.t entziehen können, die für ein bestimmtes Verhalten de facto als Zwang wirken und an denen man mit dem Willen nichts Wesentlic;hes ändern kann, 84 Theorien über den Mehrwert, MEW 26 I, 122 f. 13 Wember

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radikalisiert Marx so weit, daß für eine Gestaltung der sozialen Verhältnisse, d. h. für Praxis im überkommenen Sinn, überhaupt nichts mehr übrig bleibt. - Und so wie sich das Verhalten der Menschen aus ökonomischen Gesetzmäßigkeiten herleitet, werden nach Marx grundsätzlich alle Verfassungsformen und auch alle menschlichen Gedanken durch die ökonomischen Verhältnisse mehr oder weniger eindeutig bestimmt, und daraus wiederum ergibt sich eine Gesetzmäßigkeit des gesamten Ablaufs der Geschichte und die Möglichkeit, auch die zukünftige Entwicklung sicher zu prognostizieren35 • Im Rahmen einer solchen wissenschaftlich exakt erkennbaren Geschichtsnotwendigkeit bleibt den Menschen eine willentliche Beeinflussung allenfalls im Sinn eines Beschleunigen oder Verlangsamen des Geschichtsprozesses, der nach Marx zwangsläufig zu der oben beschriebenen immer größer werdenden Polarisierung der Klassen führt, und im Sieg des Proletariats und der Aufhebung aller Klassenunterschiede sein Ende finden wird. Während die genaue Erkenntnis der ökonomischen Gesetzmäßigkeiten für die Problematik der gemischten Verfassung äußerst nützlich sein könnte, ist die Einstellung zu den politisch-gesellschaftlichen Verhältnissen, die den Menschen nicht die Rolle der Handelnden, sondern der wissenschaftlich Erkennenden zuweist, ein weiterer Grund, warum für ein praktisches Ziel wie die gemischte Verfassung in der Marxschen Theorie kein Raum ist. Das Konzept der gemischten Verfassung impliziert, daß man überlegungen anstellt, wie man diese oder jene Bevölkerungsgruppe besser am politischen und gesellschaftlichen Geschehen beteiligen kann, es bedeutet, einzelne Maßnahmen, große oder unter Umständen auch nur kleine Schritte zu unternehmen, um eine bessere Ausgewogenheit bei möglicherweise stets neu auftretenden, neuartigen Gruppenunterschieden zu erreichen: eine Fülle von praktischen Erwägungen, die nur zu verstehen sind als Mittel zu einem von den Beteiligten angestrebten Ziel, welches nicht vorgegeben ist, sondern als wünschenswert akzeptiert werden kann oder auch nicht. Selbstverständlich war stets klar, daß die Menschen die Verfassungsformen - einschließlich der gemischten Verfassung - nicht frei wählen können, sondern daß die Verfassungen von gesellschaftlichen Vor35 Auf Hinweise zur materialistischen Geschichtsauffassung sei hier verzichtet; es sollen nur Hinweise gegeben werden auf einige prägnante Stellen zur Abhängigkeit der Staatsformen (a) und der Klassenstruktur (b) von den ökonomischen Verhältnissen, und zur geschichts-notwendigen Aufeinanderfolge bestimmter KIassenverhältnisse (c): (a) Vorwort zur Kritik der politischen Ökonomie, MEW 13, 8 mitte; Das Kapital, Bd. 3, MEW 25, 799 unten f.; s. a. Anm. 36; (b) Engels, Karl Marx (1877), MEW 19, 102 unten; Anti-Dühring, MEW 20, 87 mitte; (c) Grundsätze des Kommunismus, MEW 4, 379 unten; Kommunistisches Manifest, MEW 4,474 oben.

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aussetzungen abhängen; diese Abhängigkeit wird jedoch bei Marx so definitiv, daß sich die Verfassungsformen zwangsläufig aus dem Stand der materiellen Produktivkräfte ergeben. "Steht es den Menschen frei, diese oder jene Gesellschaftsform zu wählen? Keineswegs. Setzen Sie einen bestimmten Entwicklungsstand der Produktivkräfte der Menschen voraus, und Sie erhalten eine bestimmte Form des Verkehrs und der Konsumtion. Setzen Sie bestimmte Stufen der Entwicklung der Produktion, des Verkehrs und der Konsumtion voraus, und Sie erhal~ ten eine entsprechende soziale Ordnung, eine entsprechende Organisation der Familie, der Stände oder der Klassen, mit einem Wort, eine entsprechende Gesellschaft. Setzen Sie eine solche Gesellschaft voraus, und Sie erhalten eine entsprechende politische Ordnung, die nur der offizielle Ausdruck der GesellsChaft ist ... Man braucht nicht hinzuzufügen, daß die Menschen ihre Produktivkräfte - die Basis ihrer ganzen Geschichte - nicht frei wählenSI...

m. Zusammenstellung alter, im Zusammenhang der gemisChten Verfassung wichtiger Topoi in ihrer veränderten Bedeutung bei Marx und Engels

Zusammenfassend läßt sich feststellen, daß auch in der Marxschen Theorie so ziemlich alle Topoi auftauchen, die wir bisher im Zusammenhang der gemischten Verfassung gesehen hatten, hier allerdings fast immer mit einer anderen Bedeutung, anderen Bewertung oder in radikalisierter Form. Die Verfassungsformen bestimmen sich nach der jeweils herrschenden Schicht. - Das wird auch hier so gesehen, jedoch dienen sie alle ausschließlich dem Nutzen der Herrschenden und sind zum Schaden der Beherrschten, d. h. daß alle derart charakterisierten Verfassungen gesprochen in den alten Begriffen - "entartet" oder "schlecht" sind. Die Verfassungsformen stehen nicht frei zur Disposition, sondern sind von verschiedenen Voraussetzungen abhängig. - Diese Abhängigkeit, und zwar von ökonomischen Voraussetzungen, wird jetzt absolut gesetzt, die Frage der Verfassungsform ist der willentlichen Gestaltung entzogen. Was spezielle Verfassungen anbelangt, so wurde die Demokratie ursprünglich als Herrschaft der Armen betrachtet, d. h. sie wurde meist als ein schlechtes Extrem angesehen; erst seit neuerer Zeit findet eine Veränderung des Begriffsinhalts statt: Demokratie bedeutet jetzt die Herrschaft des ganzen Volkes, aller Schichten, nicht nur die Herrschaft des Volkes im Sinne der Plebs; ihr neuerer Bedeutungsinhalt entspricht 31

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Marx. Brief an Annenkow vom 28. 12.1846, MEW 27, 452.

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10. Kapitel

der Sache nach - verglichen mit den aristotelischen Begriffen - der Politie oder der gemischten Verfassung. Bei Marx dagegen wird wieder der alte Begriff verwendet: Demokratie ist die Herrschaft nur eines Teils der Gesamtbevölkerung37• Die gemischte Verfassung, d. h. das Gleichgewicht mehrerer Bevölkerungsgruppen kommt in dieser Theorie auch vor, jedoch nur als zeitweises ausbalanciertes Gegeneinander, oder als nur scheinbare Unabhängigkeit der Staatsgewalt über den Gruppen. Dieser Zustand meist als der am meisten dauerhafte betrachtet - wird jetzt als Ausnahmesituation angesehen. Der Topos einer dritten Kraft zwischen den Extremen erscheint hier nicht als ruhender Pol, sondern als der unbeständigste Faktor im gesellschaftlichen Aufbau. Die Standeszugehörigkeit prägt die Mentalität der Menschen. - Neben der Verabsolutierung dieser Einsicht hat sich die Bewertung völlig verändert: das höchste ist das Nichts-besitzen anstatt des maßvollen Besitzes, denn dieser begünstigt ein egoistisches Standesinteresse, jenes aber nähert die Menschen einem allgemein-menschlichen Interesse. Abschließend sei noch der veränderte Inhalt zweier Beg.riffe von allgemeiner Bedeutung erwähnt: "Politik" war einst inhaltlich bestimmt gewesen, und zwar war sie charakterisiert durch das Verhältnis der Gleichheit: als (möglichst wechselweise) Herrschaft von Gleichen über Gleiche; bei Marx ist Politik durch krasse Ungleichheit bestimmt, politisch ist nur das, was mit dem Kampf der Klassen zu tun hat. Schließlich ist der Staat nicht Repräsentant eines umfassenden Interesses, sondern er ist Ausschuß der herrschenden Klasse, und insofern ist jeder Staat, wie schon beim Stichwort der Verfassungsformen gesagt, entsprechend der alten Terminologie ein entarteter Staat.

37 Grundsätze des Kommunismus, Frage 18, MEW 4, 372 unten; Kommunistisches Manifest, MEW 4, 481 oben; Engels, Marx und die "Neue Rhein Zeitung" 1848 -1849, MEW21, 18 mitte.

SYSTEMATISCHER TEIL

11. Kapitel

Die modernen Mischungskonzeptionen I. Der veränderte Bezugsrahmen für die Verfassungsmischung durch die neue Gesellschaftsstruktur 1. Das Verhältnis von Gleichheit zu Ungleichheit in den verschiedenen staatstheorien

Die dargestellten Bemühungen vieler politischer Denker, unter den Voraussetzungen der staatsbürgerlichen Gleichheit den als Notwendigkeit betrachteten Erfordernissen einer gemischten Verfassung neue Gestalt zu geben, waren keineswegs einheitlich. Zwar gibt es eine gemeinsame Fragestellung: in einem Gemeinwesen, das nicht mehr aus Ständen, sondern aus rechtlich gleichen Bürgern besteht, die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen nach wie vor als verfassungsrelevante Elemente zu berücksichtigen, und einen Zustand anzustreben, in dem alle Gruppen möglichst gleichmäßig an den Verfassungsrechten und an der Herrschaft beteiligt werden. Die Antworten sehen allerdings so unterschiedlich aus, daß man schwerlich von der modernen Form der gemischten Verfassung sprechen kann. Von einer zusammenhanglosen Vielzahl der Antworten kann allerdings auch keine Rede sein, sondern es gibt Gesichtspunkte, nach denen sich die verschiedenen Lösungen ordnen. Wenn wir uns alle beschriebenen Konzeptionen vor Augen führen, und zwar auch die, die keine Verfassungsmischungen darstellen, sondern die wir als Ablehnungen oder allenfalls als Radikalisierungen von gemischter Verfassung bezeichnet hatten, gibt es offenkundig zwei Extreme: Auf der einen Seite die Staatsvorstellung der Romantiker, die - wie zu Zeiten vor der Revolution - von den Unterschieden, d. h. den Ständen ausgeht; als Extrem auf der. anderen Seite die Staatsvorstellung Rousseaus, die nur die Gleichheit der Individuen sieht. Dazwischen gibt es die Theorie der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft: in der Gleichheit der Individuen einerseits und den Unterschieden der sozialen Gruppen andererseits werden zwei gleichzeitig nebeneinander bestehende Sphären oder Aspekte ein und desselben Gemeinwesens gesehen. Organisatorisch findet das seinen klarsten Ausdruck in den zwei Parlamenten bei Heinrich Ahrens1, die die zwei Sphären und

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11. Kapitel

die zwei Wege der Willensbildung verkörpern: den individualistischen Weg mit dem "individualistischen und atomistischen Wahlsystem", der zur Volkskammer führt, und den ständischen Weg mit dem "organischen Wahlsystem" und der Ständekammer, in der jede gesellschaftlich relevante Gruppe ihre Vertretung findet. Mit diesem Sowohl-alsauch soll beidem, der Gleichheit und der Ungleichheit Rechnung getragen werden, aber beides steht hier ziemlich unverbunden nebeneinander. - Für die Verfassungsmischung sind diese verschiedenen Konzeptionen deshalb relevant, weil es uns um die Frage geht, wo überhaupt im Staatsaufbau die gesellschaftlichen Gruppen auftauchen und wo dementsprechend der Ort einer möglichen Verfassungsmischung ist; aber darüber mehr nach Skizzierung der weiteren Staatstheorien. Ein anderes Modell, ebenfalls zwischen jenen Extremen gelegen, aber nicht genau in der Mitte, sondern näher zu dem Rousseaus (Nr. 4 im Schema auf S. 203), geht zwar formal auch von der individualistischen Gleichheit aus und kennt nur den direkten Weg der Willensbildung von den Individuen her, aber das andere Prinzip: die tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnisse in ihrer Vielfalt und mit ihren sozialen Unterschieden können in diesen Staatsaufbau impliziert werden, wie es insbesondere bei den Ausführungen des Federalist zu erkennen war. Die gesellschaftlichen Gruppen werden nicht ignoriert, sondern sie treten im Parlament in Erscheinung, allerdings nicht rechtlich so fixiert, daß sich das Parlament aus Organisationen der Berufsgruppen oder Gesellschaftsschichten zusammensetzt. Die Bürger wählen mit gleichem Stimmrecht, aber als gleiche wählen sie ungleich: sie geben ihre Stimme je einem ihrer Bevölkerungsgruppe nahestehenden Vertreter, von dem sie glauben, daß er sich für ihre Interessen einsetzt, und so entsteht im Parlament auf ganz selbstverständliche, wenn auch staatsrechtlich nicht faßbare Weise eine Vertretung der Vielfalt der gesellschaftlichen Gruppen. - Dies Modell sei als "numerische Vertretung der Meinungen und Interessen" bezeichnet, in freier Anlehnung an eine Redewendung in den Federalist Papers2 • Zwar käme wohl kaum jemand auf den Gedanken, aus den "Meinungen und Interessen" einen terminus technicus zu machen, aber zweierlei kann mit dieser zunächst so unverbindlich wirkenden Formel charakterisiert werden: Einerseits zeigt die "numerische Vertretung", daß sich das Gewicht nach strikter Gleichheit bemißt, andererseits aber muß deutlich sein, daß nicht fixierte Gruppen gewo1 Jedenfalls in seiner Organischen Staatslehre von 1850; s. im einzelnen Kap. 8, Abschn. D. - Dieser Verweis auf Ahrens bezieht sich nur auf seine Trennung zweier Wege der Willensbildung, nicht auf die Terminologie der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, die Ahrens nicht mit jener Trennung parallelisiert; dazu Kap. 8 Anm. 89. 2 Federalist 35, 197 f. (214 f.).

Die modernen Mischungskonzeptionen

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gen werden, sondern daß der Staatsaufbau individualistisch ist, und das bedeutet hier: welches die Gruppen sind und wie groß sie sind, bemißt sich nach der Meinung der wählenden Individuen. Die nume~ rische Vertretung als solche könnte die Vorstellung von einer Widerspiegelung aller Interessen der Bevölkerung nahelegen, aber es ist gar nicht relevant, was es alles für verschiedene Interessen gibt, sondern von Bedeutung ist, was der Wähler in seiner Wahlentscheidung für relevant hält: er kann Parteigegensätze, Religionsunterschiede, Berufszugehörigkeiten oder auch ganz andere Gesichtspunkte - etwa solche, die zu einem Honoratiorenparlament führen - für die entscheidenden halten. Um was für eine Art von Gruppen es sich handelt, ist in unserem Begriff mit Absicht offen gelassen3 • Schließlich gibt es noch eine Konzeption, die - wenigstens äußerlich - mehr zum ständischen Aufbau hin tendiert (Nr. 2 im Schema auf S. 203). Die staatliche Organisation baut auf den Gruppen als solchen auf, aber diese Gruppen basieren (wenigstens zum Teil) auf individueller freier Mitgliedschaft, und sie werden funktional verstanden, d. h. sie erfassen die Menschen nicht total, sondern konstituieren sich nur zum Zweck der Befriedigung eines bestimmten Interesses oder Bedürfnisses, das immer nur einen Aspekt der gesamt-menschlichen Aktivitäten darstellt. Das bedeutet, daß die einzelnen Individuen Mitglied in verschiedenen gesellschaftlichen Kreisen sein können. Insofern wird in diesem äußerlich ständischen Konzept das individualistische Moment mitberücksichtigt, und das Gruppen-Prinzip hat von vornherein nicht altständischen, sondern pluralistischen Charakter, wie wir es bei der Staatsvorstellung von Robert Mohl gesehen hatten. - Um auch diesem Typus einen Namen zu geben, könnte man im Gegensatz zum eigentlichen Ständestaat mit seinen die jeweiligen Mitglieder völlig integrierenden Organisationen von lediglich funktionalen Ständen sprechen, oder besser gleich von Verbänden. Freilich soll das Wort des Verbändestaats hier nicht die Vorstellung eines von pressure groups heimgesuchten Gemeinwesens hervorrufen, sondern der Name steht für ein Organisationsprinzip: Verbände sind zwar in ihrem politischen Gewicht neue Stände, aber beruhen auf individuellem Beitritt und lassen die gleichzeitige Mitgliedschaft in verschiedenen Verbänden zu. Wenn hier abkürzungsweise von Gleichheit und Ungleichheit die Rede ist, dann werden damit keine grundsätzlich anthropologischen a Zwar bildet sich aus einem solchen Typ im Normalfall die Parteiendemokratie, aber es bleibt offen, im Hinblick auf welche Unterscheidungen sich die "Parteien" konstituieren. - Smend drückt diesen Sachverhalt so aus: "Umgekehrt geht die moderne Auffassung aus von den Gruppen der Gesellschaft, und sie zeichnet nicht den Rahmen dieser Gruppen vor, wie das organische Prinzip es tut, sondern sie überläßt die politische Gruppierung den freien parteibildenden Kräften in der Gesellschaft." Smend, Maßstäbe 29.

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11. Kapitel

Probleme angesprochen, es ist nicht abstrakt die Gleichheit bzw. Ungleichheit als solche gemeint, sondern die Begriffe sollen in unserem Zusammenhang ausschließlich konkrete Verhältnisse beim Staatsaufbau bezeichnen: den Unterschied, ob die Bürger im Staat als gleiche Individuen auftreten, oder ob sie als Gruppenzugehörige, d. h. mediatisiert, die verfassungsmäßigen Rechte und Aufgaben wahrnehmen. So verstanden geht es beim Verhältnis von Gleichheit zu Ungleichheit um eine Grundvoraussetzung für das Problem der gemischten Verfassung, denn diese bezieht sich auf die Herrschafts-Beteiligung der im Gemeinwesen vorhandenen Gruppen: ohne deren Berücksichtigung ist jeder Verfassungsmischung von vornherein der Boden entzogen. Da aber das Thema dieser Arbeit nicht allgemein nach der Verfassungsmischung, sondern nach der Möglichkeit für diese im Zeitalter der Gleichheit fragt, ist es ein zentrales Problem, wie sich - im eben dargelegten Sinn - Gleichheit und Ungleichheit miteinander verbinden; und deshalb gibt das verfassungsmäßige Verhältnis von Gleichheit zu Ungleichheit den Maßstab für eine Ordnung oder Systematisierung der im geschichtlichen Teil dieser Arbeit behandelten und zunächst so uneinheitlich wirkenden modernen Mischungs-Konzeptionen. Die alte, bzw. restaurative, nur-ständische Staatstheorie ist für sich gesehen einfach und klar; das gleiche gilt für die neue Staatstheorie, die ausschließlich individualistisch und gleichheitlich ist. Alle dazwischenliegenden Staatstheorien mögen einigermaßen unpräzise wirken, aber die hier vertretene These lautet: Jene einfachen Theorien entsprechen zwar einem gängigen Entweder-Oder-Denken, und es mag sich auch plausibel darstellen lassen, daß die geschichtliche Entwicklung der Verfassungsstruktur vom Ständestaat zum Gleichheitsstaat verlaufen sei, aber der modernen Realität werden beide Theorien in keiner Weise gerecht. Interessant sind nur jene Theorien, die zwischen den Extremen liegen, und die versuchen, das konkrete Sowohl-als-auch von staatsbürgerlicher Gleichheit und Macht der Gruppen in den Griff zu bekommen. Im Zeitalter der Gleichheit kann es nur Kombinationen von Gleichheit und Ungleichheit geben, ein einfaches Zurück zum Ständestaat ist nicht möglich; aber davon, daß die Gleichheit das allein herrschende Prinzip der Gesellschaft sei, kann ebenfalls keine Rede sein. Das einzig wirkliche Problem ist die Verbindung von beidem. Dementsprechend müssen auch alle modernen Konzeptionen zur gemischten Verfassung Kombinationen von individualistischer Gleichheit und Gruppenherrschaft sein, und insofern ist jenes Schema moderner Theorien zum Staatsaufbau gleichzeitig ein Schema für Ort und Art der Mischungskonzeptionen; dabei meint "Ort", an welcher Stelle im Verfassungsgerüst das Mischen der Gruppen stattfinden kann; und mit "Art" soll gemeint sein, wie das Beteiligen, Verschränken und Vermi-

Die modernen Mischungskonzeptionen

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schen der Gruppen aussieht, was zwar nicht direkt durch den Staatsaufbau vorgegeben ist, hierdurch aber doch - wie wir im Abschnitt 11 dieses Kapitels sehen werden - stark beeinflußt wird. Wenn man die verschiedenen Theorien zum Staatsaufbau graphisch anordnen will, könnte das Schema folgendermaßen aussehen: Ungleichheit (ständischer Staatsaufbau) Nr. 1 Nr.2 Nr. 3 Nr.4 Nr. 5

I Gleichheit (individualistischer Staatsaufbau)

Ständestaat Verbändestaat Gesellschaft und Staat (zwei getrennte Wege der Willensbildung) numerische Vertretung der Meinungen und Interessen rein individualistischer Staat

Nummer 1 und 5 sind die extremen Staatstheorien, die nur "die Ungleichheit", d. h. die Stände, oder aber "die Gleichheit", d. h. die gleichen Individuen berücksichtigen. Die anderen drei Modelle liegen dazwischen, sie wollen beidem gerecht werden; dabei liegt das Hauptgewicht je auf der einen oder auf der anderen Seite (Nr. 2 und 4); oder aber es soll - im Schema in der Mitte angeordnet - das Gewicht auf beide Seiten gleichmäßig verteilt werden, so daß man sich insgesamt die verschiedenen Modelle als kontinuierliche Reihenfolge vom reinen Ständestaat zum rein individualistischen Staat vorstellen kann4 • Die skizzierte übersicht ist ein Schema zum Staatsaufbau, dem das Kriterium zu Grunde liegt, ob die Willensbildung von den gleichen Individuen oder von den in ihren Unterschieden anerkannten Gruppen ausgeht; dies Kriterium hängt mit einigen anderen Merkmalen zusammen, so der Art des Wahlrechts (freies und gleiches im Gegensatz zu beschränktem und abgestuftem Wahlrecht), der Art der Gruppenbildl,lngen, die das Gemeinwesen prägen (Korporationen im Gegensatz zu Assoziationen oder zu Parteien), und mit der Frage, wonach sich der 4 Die von Smend entwickelte Typologie der Wahlrechtstheorien ("Maßstäbe des parlamentarischen Wahlrechts in der deutSchen Staatstheorie des 19. Jahrhunderts") läßt sich z. T. mit dem hier gegebenen Schema parallelisieren: Das "rationalistische Wahlrecht" entspricht (jedenfalls in seiner reinen Form) dem Typ Nr. 5, das "organische Wahlrecht" entspricht ungefähr den Typen 1 und 2, und das "moderne Wahlrecht" dem Typ Nr. 4; zu beachten ist freilich, daß den verschiedenen Wahlrechtstheorien auch ganz andere Zwecke zu Grunde liegen als das Kriterium, nach dem das vorliegende Schema erstellt wurde.

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11. Kapitel

Anteil der Gruppen im Parlament bestimmt (grundsätzlich festgelegte Anteile im Gegensatz zur Sitzverteilung je nach Wahlergebnis). Da sich das für unseren Zusammenhang zu Grunde gelegte Unterscheidungskriterium mit den zuletzt genannten zwar berührt, aber nicht immer deckt, seien noch ein paar Hinweise auf kongruente bzw. inkongruente Entsprechungen zu diesen mehr geläufigen Unterscheidungen angebracht: Wenn man das Wahlrecht zum Ausgangspunkt der Betrachtung macht, fragt man von vornherein aus der Perspektive des einzelnen Bürgers, dessen Rechte entweder uneingeschränkt sind oder aber beschnitten werden; unser Schema sieht dagegen das Wahlrecht rein instrumental: ob es ein Mittel ist, durch das sich die Gruppen als solche artikulieren. Vom Blickwinkel des Wahlrechts fallen sowohl unser 4. als auch unser 5. Staatsmodell unter den gemeinsamen Begriff des allgemeinen gleichen Wahlrechts, wobei eine individualistische Staatsvorstellung mehr oder weniger unterstellt wird, und über das Problem, ob und wie die Gruppen in Erscheinung treten, nichts ausgesagt wird. - Andererseits ist es bei den ersten beiden Verfassungen, dem Ständeund Verbändestaat, für unseren Zusammenhang gleichgültig, ob sich diese Staatsformen des Mittels eines abgestuften Wahlrechts bedienen, damit die Stände in ihrem unterschiedlichen Gewicht zur Geltung kommen, oder aber ob Wahlen von vornherein nur jeweils standesbzw. verbandsintern stattfinden, um die der jeweiligen Organisation fest zustehenden Mandate in den staatlichen Repräsentationsorganen zu besetzen. Freies und beschränktes Wahlrecht fallen also nicht mit der Unterscheidung von ständischem und individualistischem Staatsaufbau zusammen. - Genausowenig aber darf dieser Unterschied mit dem von Korporation und AssoziationS gleichgesetzt werden. Zwar leuchtet ein, daß in allen Staatsformen, in denen die Individuen unmittelbare Träger der Verfassungsrechte sind, für die korporative Organisationsform wenig Raum ist, und das Assoziationsprinzip zumindest eher in Frage kommt. Trotzdem sind Teilverbände des Staates wie Korporationen und Assoziationen eher mit dem Gegensatz der beiden ersten Staatsmodelle in Verbindung zu bringen als mit dem generellen Gegensatz von Gleichheit und Ungleichheit, denn wenn organisierte Gruppen gleichgültig ob in Form von Ständen oder Verbänden - als solche den Charakter von Verfassungsinstitutionen haben, liegen sie aus unserer Sicht relativ dicht beieinander.

5 s. hierzu die (in den einzelnen Kapiteln des historischen Teils häufig zu Rate gezogene) Schrift von Friedrich Müller.

Die modernen Mischungskonzeptionen

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2. Zuordnung der Mischungskonzeptionen zu den Theorien über den staatsaufbau

Nun zur Bedeutung des Schemas für die Verfassungsmischung. Die beiden extremen Staatstheorien scheiden für unseren Zusammenhang, die modernen Formen gemischter Verfassung aus: (zu Nr. 5)

Bei rein individualistischer Willensbildung bzw. bei radikaler Gleichheit ist für die Verfassungsmischung schon deshalb kein Raum, weil die Bevölkerungsgruppen als solche ignoriert werden; (zu Nr.I)

und beim ständischen Staatsaufbau wird lediglich an alten Formen festgehalten, d. h. hier wäre Verfassungsmischung zwar möglich, aber die moderne Problematik dieser Aufgabe im Zeitalter der Gleichheit wird nicht erkannt, oder aber wegen der Stoßrichtung der Verfechter dieser Staatstheorie, d. h. der Verteidigung der Stände gegen die Gleichheit, nimmt die Aufrechterhaltung der Unterschiede einen Selbstzweckcharakter an, was den Zielen der gemischten Verfassung keineswegs entspricht. (zu Nr. 2)

Im Staatstyp, den wir Verbändestaat nannten, ist die Möglichkeit zur Verfassungsmischung ohne Schwierigkeit gegeben, da die Bevölkerungsgruppen, organisiert in Form von Verbänden oder verbandsähnlichen Zusammenschlüssen, die wichtigen Entscheidungsorgane des Gemeinwesens konstituieren; und eine echte Mischung, d. h. die Ausgewogenheit der Gruppen läßt sich insofern herstellen, weil das Gewicht der Gruppen im Parlament und allen sonstigen wichtigen Gremien von vornherein durch die Verfassung festgelegt werden kann; eben das ist der Zweck dieser Staatsform: die gleichgewichtige Beteiligung der relevanten Gruppierungen soll institutionell verankert und abgesichert werden. - Die dabei vorhandene Problematik des Bewertungsmaßstabs und die Frage, wie weit die numerische Größe der Gruppen doch Berücksichtigung finden kann, braucht an dieser Stelle nicht erneut aufgerollt zu werden. - Prototyp eines solchen Staatsmodells war für uns der Entwurf Robert Mohls, aber auch andere Liberale sind in der Nähe dieser Staatsvorstellung anzusiedeln, wenngleich das Wort Verbändestaat für Verfechter eines abgestuften Wahlrechts wie Karl von Rotteck oder J ohn Stuart Mill nicht direkt paßt. Die Kriterien treffen jedoch in gleicher Weise zu: die Ablehnung der numerischen Gleichheit und statt dessen die Festlegung des Gewichts der einzelnen Bevölkerungsgruppen, ebenso die eingeschränkte Berücksichtigung des indivi-

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11. Kapitel

dualistischen Moments: im einen Fall durch individuelle Mitgliedschaft in den gesellschaftlichen Organisationen, im anderen Fall durch das individuelle aber abgestufte Wahlrecht. Äußerlich mag beides recht verschieden aussehen, aber im Effekt sind die Zuweisung von Stimmanteilen für die "gesellschaftlichen Vereine" und die Festlegung solcher Kontingente durch ein Wahlrecht mit verschiedenen Gewichten einander sehr ähnlich. (zu NT. 3)

Im Modell der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft kann die Mischung der Gruppen in genau demselben Modus vor sich gehen wie in dem soeben behandelten Verbändestaat; der Unterschied besteht lediglich darin, daß der Gruppenaufbau des Gemeinwesens mit der dort zur Geltung kommenden Verfassungsmischuilg nur die eine Hälfte des gsamten Staatsaufbaus ausmacht. (zu NT. 4)

Das vierte Staatsmodell schließlich fasziniert zwar auf Grund seiner Zwanglosigkeit und Selbstverständlichkeit: Stimmrechte müssen nicht im Vorhinein beschnitten bzw. gewogen werden, ferner sind hier das individualistische Wahlrecht und die Relevanz der Gruppen keine Gegensätze; aber demgegenüber gibt es eine nicht geringe Schwierigkeit, eine wirklich ausgewogene Mischung zustande zu bringen. Während es im zweiten Staatsmodell, dem Verbändestaat problematisch war, die Machtstellung der Gruppen mit moderner Gleichheit in Einklang zu bringen und beidem gerecht zu werden, machte es keine Schwierigkeiten, eine Ausgewogenheit der Gruppen durch die Verfassung zu gewährleisten; hier dagegen ist ersteres problemlos gemeistert, aber eine Gewähr für die Verfassungsmischung besteht nicht, jedenfalls nicht auf Grund dieses Systems als solchem, und deshalb schreckten auch so viele politische Autoren vor dieser Lösung zurück: Rotteck, R. Mohl und J. S. Mill wollten die Gleichheit, aber numerische Gleichheit war ihnen mit einer zu großen Gefahr des Übergewichts einer bestimmten Bevölkerungsschicht: der Armen bzw. der Proletarier ver~ bunden. Eine Mischung bzw. eine Ausgewogenheit ist hier nur dann gegeben, wenn die gesellschaftlichen Gruppen auch tatsächlich numerisch ausgeglichen sind. Dies System setzt also - wenn eine Verfassungsmischung erreicht werden soll - eine ganz bestimmte Gesellschaftsstruktur voraus: entweder zwei große Gruppen, die einander die Waage halten, oder - wie vom Federalist skizziert - eine bunte Vielfalt der Schichten, Meinungen und Interessen, oder aber drei Lager: zwei Kontrahenten mit einer dritten Gruppe in der Position des Schiedsrichters. Zwar sieht der Federalist in der Bevölkerungszusammensetzung und im Wahlverhalten Tendenzen begründet, die dies

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System als solches unabhängig von zufälligen Bevölkerungsvoraussetzungen als stabile gemischte Verfassung erscheinen lassen; aber Tocqueville, der ansonsten das gleiche System gutheißt, glaubt sich auf eine solche vorgegebene numerische Ausgewogenheit nicht verlassen zu können und hält deshalb zusätzliche Vorkehrungen wie die Macht politischer Vereine auch neben dem Parlament zur Sicherung der Ausgewogenheit der gesellschaftlichen Gruppen für erforderlich. Wir sprachen schon davon, daß die neuen Mischungskonzeptionen nicht die Klarheit und Einfachheit besitzen wie früher. Das liegt zu einem guten Teil daran, daß es seit der politischen Gleichheit von vornherein äußerst schwierig ist, eine klare Vorstellung von Funktion und Bedeutung der Gruppen im Gemeinwesen zu haben. Direkt darauf angesprochen, ist zwar für viele Denker das Gruppenproblem von unbestrittener Relevanz, aber die Überlegungen hierzu fügen sich oft nicht nahtlos in die Staatstheorie als ganze; zuweilen wirkt es so, als handele es sich um ein Problem, das nebenher, als etwas Zusätzliches abgehandelt wird. Den Autoren, bei denen Gleichheit und Ungleichheit wie ein selbstverständliches Ineinander erscheinen, fehlt es an theoretischer Klarheit; etwa beim Federalist oder bei Tocqueville muß die Bedeutung unterschiedlicher sozialer Gruppen für den Gesamtzusammenhang des Staates aus verschiedenen EinzelsteIlen geradezu mühsam herausgearbeitet werden. Demgegenüber mag eine Trennung von Gleichheit und Ungleichheit in einer Theorie der Differenzierung von Staat und Gesellschaft präziser aussehen, wirkt aber wegen der realitätsfernen Scheidung der Bereiche unbefriedigend und gekünstelt. Oft drängt sich einem der Eindruck auf, die individualistische StaatsvorsteIlung sei von solch ungeheurem Gewicht, daß der einzelne Denker kaum in der Lage ist, eine einheitliche Erfassung vorzulegen. Selbst Marx weiß das Gruppenproblem letztlich nicht in den Grüf zu bekommen: zwar geht er in radikaler Weise an jegliches Thema unter dem Gesichtspunkt des Klassengegensatzes heran, aber doch aus dem Motiv, im Endeffekt jener anderen Vorstellung von der absoluten Gleichheit um so reiner zum Durchbruch zu verhelfen. Diesen Sachverhalt der in der Tat erdrückenden individualistischen Staatstheorie zuzuschreiben, hieße allerdings, Ursache und Wirkung zu verwechseln, denn jene Theorie ist schließlich Ausdruck einer tatsächlich veränderten Realität; ein nicht unerhebliches Maß von Gleichheit wurde erreicht, und es wäre anachronistisch, im Staatsdenken immer noch die Stände zum Ausgangspunkt zu machen. Da beides Realität ist: verwirklichte Gleichheit einerseits und Ungleichheit im Sinn bestehender Gesellschaftsschichten und bedeutsamer Machtausübung dieser Gruppen andererseits, sind die am meisten realistischen Staatstheorien

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- trotz allen Unbehagens über fehlende Klarheit und Präzision - diejenigen, welche die Kombination von Gleichheit und Ungleichheit zu begreifen versuchen, und moderne Mischungskonzeptionen können, wie gesagt, nichts anderes sein als Verbindungen von individualistischer Gleichheit mit Anerkennung und Berücksichtigung aller bestehenden Gruppen. Die Parallelität dieser Erkenntnis zu den früher angestellten Überlegungen zum Verhältnis zwischen den zwei Begriffen unseres Titels ist offenkundig. Verfassungsmischung und Verfassungsmitte bezeichnen dasselbe: den Ausgleich zwischen den Bevölkerungsgruppen; aber beide Begriffe setzen den Akzent verschieden: die Verfassungsmischung sieht vor allem die bestehenden Ungleichheiten, die es in das politische System einzubeziehen gilt, während die Verfassungsmitte auf den Ausgleich im Sinn des Abbaus der Unterschiede, d. h. auf die Gleichheit zielt. Dabei ist das Verhältnis zwischen Mischung und Mitte nicht ein Entwicklungsprozeß vom einen zum anderen, entsprechend einer Entwicklung von der Ungleichheit zur Gleichheit, sondern beides hat stets nebeneinander seine Berechtigung, denn einerseits kann sich ein echter Ausgleich nicht nur mit "Berücksichtigung" begnügen, sondern verlangt, wann immer dies möglich ist, reales Aus-gleichen; umgekehrt aber ist keine solche Gleichheit denkbar, die jegliche Unterschiede und Besonderheiten ausschließt, denen - sofern man Gleichheit nicht als Selbstzweck betrachtet - Rechnung getragen werden muß. - Dies hatten wir im Zusammenhang der Beschäftigung mit Tocqueville abgehandelt (S. 131-132) und wollen eshier nicht wiederholen. Die dort angestellten Überlegungen und die im vorliegenden Kapitel entwickelten Gedanken laufen auf dasselbe hinaus: die notwendige Kombination von Gleichheit und Ungleichheit.

11. Systematik der Mischungsformen 1. Separative 'Und interne Mischung .

Das klassische Modell der gemischten Verfassung (nach Polybios und Cicero) wies jeder Bevölkerungsgruppe ein eigenes Verfassungsorgan zu; wir hatten dies als separative Mischung bezeichnet6 • Separativ, weil es sich um getrennte Organe handelt; die Mischung bezieht sich hierbei lediglich auf die Verfassung insgesamt. Den Gegensatz dazu bildet die interne Mischung; intern ist sie insofern, als alle Gruppen in (möglicherweise) jedem Verfassungsorgan vertreten sind, die Mischung der Gruppen innerhalb der Organe stattfinden kann. Diese Ausdrücke benennen den Unterschied zwischen dem antiken Modell der gemischI

Kap. 8, Abschn.B III.

Die modernen Mischungskonzeptionen

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ten Verfassung und ihrer modernen Form; freilich kann man viele ständische Parlamente des Spätmittelalters. als übergang zwischen beiden Formen der Verfassungsmischung auffassen: Mit der internen Mischung haben sie es gemein, daß alle Stände in einer Institution vereint sind, mit der separativen Mischung verbindet sie die häufig derart starke Rechtsstellung der Kurien, daß man die Ständeversammlung als ganze oft nur als äußere Hülle für im Grunde eigenständige Institutionen begreifen kann. Ferner ist zu bemerken, daß das zeitliche Nacheinander dieser Formen nicht absolut genommen werden darf. Die separative Mischung ~ntspricht zwar im großen und ganzen der antiken Art der gemischten Verfassung, aber diese Form ist später nicht völlig verschwunden, sondern wir hatten bei der Behandlung Karl von Rottecks gesehen, daß auch in neueren Konzeptionen zur gemischten Verfassung jene Form Verwendung finden kann: bei Rotteck die gesonderten Kammern für die unterschiedlichen Stände, Tocquevilles Machtzuweisung an die politischen Vereine läßt sich hier einordnen, und auch die"Sondervertretungen" bei Robert Mohl, d. h. die Parlamente auf niedrigster Ebene für einen bestimmten Sachbereich mit Vertretern nur eines gesellschaftlichen Kreises, kann man in diesem Zusammenhang sehen. Zweifellos ist die separative Mischung für einen Ausgleich der Bevölkerungsgruppen nicht so geeignet wie die interne Form der Mischung, die wir noch näher betrachten wollen: 2. Direkte und indirekte Mischung

Bei der internen Mischung hatten wir zwei Unterarten kennengelernt, die sich auf alle möglichen Sorten von Institutionen beziehen, die man aber an den Parlamenten am deutlichsten sehen· kann. Entweder handelt es sich um ein Parlament, in dem jeweils eine Anzahl von Mitgliedern eine ganz bestimmte Gruppe der Bevölkerung repräsentiert, d. h., daß die Gruppen als Gruppen im Parlament vertreten sind. Im Gegensatz dazu gibt es Parlamente, in denen alle Abgeordneten als Repräsentanten der ganzen Nation erscheinen, nicht von bestimmten Gruppen delegiert, sondern als gleiche Abgeordnete von jeweils einer bestimmten Anzahl gleicher Individuen gewählt, also ein äußerlich nivelliertes Parlament. Aber nichtsdestoweniger fühlen sich die meisten Abgeordneten dieser oder jener gesellschaftlichen Schicht, Gruppe oder Vereinigung besonders verbunden; und wie die gesellschaftlichen Gruppierungen keine rechtlichen Formen und keine scharfen Grenzen anzunehmen brauchen, ohne daß das ihrer faktischen Bedeutung Abbruch tun müßte, ebenso muß ihre Vertretung im Parlament nicht als fester Block geformt sein. Zwar gibt es jetzt einzelne Abgeordnete, die keiner gesellschaftlichen Gruppe eindeutig zuzuord14 Wember

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11. Kapitel

nen sind, auch kann es Überschneidungen und dergleichen geben, aber an der Repräsentation der wesentlichen gesellschaftlichen Gruppen in ihrer Unterschiedlichkeit und an der Vehemenz bei der Durchsetzung der jeweiligen Rechte und Interessen ändert das grundsätzlich nichts. - Zur Unterscheidung sprechen wir von direkter und indirekter Mischung; die bloße de-facto-Berücksichtigung der verschiedenen Gruppen ist - im Hinblick auf die Gruppen - indirekt, wenn dagegen die Gruppen als Gruppen die Parlamentszusammensetzung ausmachen, sprechen wir von direkter Mischung. Es versteht sich ohne ausführliche Erklärung, daß die Form der direkten Mischung den ersten beiden Modellen des Staatsaufbaus, also dem Stände- und dem Verbändestaat zugeordnet ist, während die indirekte Mischung mit dem vierten Staatstyp, der numerischen Vertretung der Meinungen und Ansichten korrespondiert. Allerdings ist diese Zuordnung nicht von ausschließlichem Charakter; so wie die Form der separativen Mischung nicht auf die antike Mischverfassung beschränkt ist, kommt auch die direkte Mischung nicht nur in Gemeinwesen mit ständischem Staatsaufbau vor. In Staaten mit primär individualistischer Willensbildung mag für die Parlamente meist nur die indirekte Mischung in Betracht kommen, aber stets ist es für zahlreiche Institutionen angebracht, die organisierten Vereinigungen direkt zu beteiligen, denn in Beiräten, Konferenzen und sonstigen mit bestimmten Sachbereichen befaßten Gremien ist die direkte Mischung der betroffenen Gruppen das Naheliegende. Zu erwähnen ist noch die pluralistische Mischung, ein Sonderfall, der bei beiden Varianten der internen Mischung möglich ist. Pluralistisch bedeutet hier nicht nur eine Vielheit von Gruppen - eine solche wird bei jeder Verfassungsmischung vorausgesetzt -, sondern es ist eine mehrfache Vertretung der einzelnen Bürger gemeint: Im Hinblick auf verschiedene Interessen - lokale, berufliche, kulturelle usw. kann der Einzelne mehreren Gruppen angehören, was dazu führt, daß die im Parlament repräsentierten Gruppen sich mitgliedermäßig überschneiden. - Wie bei allen genannten Mischungsarten ist die Ausgewogenheit der Gruppen nicht eo ipso garantiert, sondern die beschriebenen Formen geben nur die institutionelle Möglichkeit, eine ausgeglichene Berücksichtigung aller Schichten, Meinungen und Interessen herbeizuführen; aber diese zuletzt genannte Form ist wegen der gegenseitigen Durchdringung der Gruppen in besonderem Maß daraufhin angelegt, daß die Gruppen nicht bloß einander gegenüberstehen, sondern daß sowohl das Durchsetzen von Interessen als auch das Zusammenarbeiten möglichst vieler Gruppierungen gewährleistet wird. Diese grobe Systematik bezog sich nur auf die Formen der Mischung, verstanden als Berücksichtigung von unterschiedlichen Bevölkerungs-

Die modernen Mischungskonzeptionen

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gruppen, nicht dagegen auf die Mischung im Sinn des Vermischens, der Verfassungsmitte und der Maßnahmen zu größerer Gleichheit. Auch dazu hatte sich im historischen Teil der Arbeit eine Reihe verschiedener Formen gezeigt, und das soll an dieser Stelle deshalb betont werden, damit die vorgeführte Systematik nicht den Eindruck erweckt, die verschiedenen Gruppen seien als vorgegebene Größen vorhanden, für die sich diverse, nach Belieben anzuwendende Modalitäten anbieten, jene fixen Größen miteinander in Beziehung zu setzen. - Die Formen der Mischung hängen von bestimmten historischen Voraussetzungen ab, wie alle vorangegangenen Kapitel zur Genüge belegt haben; vor allem aber: die Gruppen selbst sind nicht vorgegebene Größen, sondern es ist möglich, sie als solche zu verändern und in ihrer Gegensätzlichkeit aufzuheben. Daß freilich die durch solche Prozesse der Veränderung erreichbare Gleichheit nicht die Mischung ersetzen kann, muß hier nicht wiederholt werden.

12. Kapitel

Die verschiedenen Nachfolger des Theorems der gemischten Verfassung Im Verlauf der Arbeit hatten wir es mit so manchen Erscheinungen zu tun, die in mehr oder weniger engem Zusammenhang zur gemischten Verfassung gesehen oder interpretiert wurden. Eine Systematisierung dieser Nachbarprobleme der gemischten Verfassung ist der Zweck des vorliegenden Kapitels. - Die hier vertretene These lautet: In der klassischen Mischverfassung fiel dreierlei zusammen: 1. die Mischung von Staatsformen, unterschieden nach dem Kriterium der Zahl der Herrschenden, 2. die Mischung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen bzw. der Stände, 3. die Gewaltenteilung 1; denn einerseits waren die Stände zahlenmäßig verschieden groß und insofern waren der erste und zweite Aspekt identisch, zum anderen waren den Ständen verschiedene Staatsorgane zugeordnet (- es handelt sich um die Form der separativen Mischung -), und insofern fielen der zweite und dritte Aspekt zusammen. Diese drei Aspekte treten aber auseinander und verselbständigen sich durch die Einführung der staatsbürgerlichen Gleichheit, denn nun fällt das Substrat für die gemischte Verfassung weg, die Stände werden aufgelöst; aber aus dieser Auflösung geht eine Mehrzahl von Nachfolgern der Stände hervor: die Klassen, die modernen Vereinigungen, die Parteien, die öffentlichen Gebietskörperschaften und die Verfassungsorgane. Diese zuletzt genannten kann man insofern als einen Nachfolger betrachten, weil in der alten Mischverfassung der jeweilige Stand und sein ihm zugeordnetes Verfassungsorgan eine Einheit bildeten, und die Gebietskörperschaften müssen deshalb hierzu gerechnet werden, weil sich die Ständeversammlungen aus den Repräsentanten der einzelnen territorialen Gliederungen zusammensetzten, und zwar auch dann, wenn z. B. ein Landtag auf Grund der Bildung von Kurien oder Bänken den Eindruck einer Vertretung von Adel, Klerus, Bürgern und Bauern erweckte; föderalistisch aufgebaute Staatsorgane stehen sogar - rein organisatorisch gesehen - in der einzig unmittelbaren Tradition der alten Ständeversammlungen. 1 Gewaltenteilung meint hier die Existenz verschiedener Verfassungsorgane; einen gewaltenteilenden Effekt im weiteren Sinn des Wortes haben die zwei anderen Aspekte selbstverständlich auch. - s. a. die folgende Anm.

Nachfolger des Theorems der gemischten Verfassung

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An die verschiedenen Nachfolger des Substrats der Mischverfassung heften sich nun jeweils Teilaspekte des alten Problems, vorausgesetzt - und nur darauf beziehen sich diese Ausführungen - daß man überhaupt beabsichtigt, eine ausgewogene Machtverteilung zu erreichen, und eine Mehrzahl von Legitimationsgrundlagen zum Zuge kommen zu lassen, anstatt alles nacll einem einzigen Prinzip auszurichten. An die Verfassungsorgane heftet sich die horizontale Gewaltenteilung, an die Gebietskörperschaften die vertikale Gewaltenteilung, an die Klassen bzw. Bevölkerungsschichten die soziale Ausgewogenheit, für deren Ausgestaltung es darauf ankommt, welche organisatorische Form diese Gruppen annehmen: etwa die der Vereinigungen oder die von Parteien. - Neben der Gewaltenteilung und der sozialen Ausgewogenheit (Mischung von Bevölkerungsgruppen) verselbständigt sich auch noch der oben genannte erste Aspekt (unterschiedliche Zuständigkeiten nach Anzahl der an ihnen mitwirkenden Bürger) und findet einen Nachfolger, der sich mit dem allgemeinen Unterschied von Repräsentanten und Repräsentierten eines Gemeinwesens verbindet, aber darüber genaueres im gleich folgenden Abschnitt I.

Ein weiterer wichtiger Grund für die Verselbständigung jener Aspekte kommt hinzu: die Differenzierung in Staat und Gesellschaft, die gewissermaßen die Kehrseite der Schaffung der staatsbürgerlichen Gleichheit ist, denn weil diese das Prinzip des politischen Bereichs geworden ist, muß sich das, was hiermit nicht vereinbar ist, in einem anderen Bereich befinden. Zwar wurde diese Unterscheidung nur in Deutschland zu einer Theorie ausgebaut, aber unter dem Einfluß des Liberalismus, der die freie Betätigung der wirtschaftenden Menschen propagierte und den Staat in einen eigenen und möglichst engen Bereich verwies, blieb die Unterscheidung von politischer Gleichheit einerseits und gesellschaftlichen Unterschieden andererseits auch in anderen Ländern nicht ohne Auswirkungen. Die Bevölkerungsgruppen sind jetzt im Bereich der Gesellschaft anzusiedeln, während die Verfassungsorgane im staatlichen Bereich verbleiben. In dieser Arbeit wurde bei der Suche des Nachfolgers der gemischten Verfassung der alte; nicht eingeschränkte Verfassungsbegriff zu Grunde gelegt, und wir widmeten uns dem hier so bezeichneten zweiten Aspekt: der sozialen Mischung, und fanden dabei die oben ausführlich beschriebenen modemen Mischungskonzeptionen; jetzt aber soll auf die anderen verselbständigten Teilaspekte noch ein Blick· geworfen werden, um sie gegen die soziale Mischung abzugrenzen, bzw. um die Zusammenhänge aufzuzeigen, die bestehen bleiben.

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12. Kapitel

I. Mischung von Entscheidungsstrukturen 1. Die Zahl der Herrschenden als Kriterium für die verschiedenen Staatsformen

"Gemischte Verfassung" verstanden wir in dieser Arbeit in einem ganz bestimmten Sinn: die zu mischenden Bestandteile sind die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen, wobei verschiedene Institutionen, insbesondere das Parlament, als mögliche Orte in Frage kommen, wo die ausgewogene Beteiligung der Gruppen, Schichten oder Klassen realisiert werden kann. - "Gemischte Verfassung" kann aber auch ganz anders verstanden werden: das Parlament als ganzes wird unabhängig davon, welche und wieviele Gruppen hier Berücksichtigung finden, als ein aristokratisches Verfassungselement betrachtet, weil es als Repräsentationsorgan in jedem Fall nur eine Auswahl der Gesamtbevölkerung mit einer Herrschaftsposition betraut; Verfassungsorgane wie das Amt des Präsidenten oder Regierungschefs, d. h. wichtige Ämter, in denen eine Einzelperson die alleinige Entscheidungsbefugnis hat, werden als monarchisches Element angesehen; und nur die unmittelbar plebiszitären Entscheidungen als demokratisches Element der Verfassung. Wenn in einer Verfassung nicht nur eins, sondern alle diese Elemente vorkommen, handelt es sich um eine gemischte Verfassung.Um beide Auffassungen einander begrifflich gegenüberzustellen, sprechen wir von der Mischung der Entscheidungsstrukturen im Unterschied zur Mischung von Bevölkerungsschichten (auch soziale Mischung genannt)!. Daß zwischen beidem ein Zusammenhang bestehen kann, soll spä~ ter noch gezeigt werden, zunächst fällt jedoch das konträre in den Blick. Unser Verständnis von gemischter Verfassung setzt die Repräsentation sowohl der Gruppen als auch der Gesamtbevölkerung als Selbstverständlichkeit voraus; wie sollte man auch zu einem politischen Arrangement gleich welcher Art zwischen den Gruppen kommen, wenn diese keine Repräsentanten hätten, die beispielsweise als Vertreter der Gruppen im Parlament erscheinen, und deren gleichmäßige Beteiligung für eine Ausgewogenheit der Gruppen selbst erachtet wird. - Ganz anders beim Verständnis von gemischter Verfassung im Sinn der Mischung von Entscheidungsstrukturen: das Parlament ist in seiner Gesamtheit etwas Aristokratisches, das den Repräsentierten gegenüber 2 Aalders spricht von der Mischung konstitutioneller Elemente im Unterschied zur Mischung von sozialen Gruppen; Zillig von der Mischung von Formen der Ausübung staatlicher Gewalt im Unterschied zur Mischung von Gesellschaftsklassen: Aalders, Aristoteles 207; Aalders, Altertum 55 f., 114; Zillig 18, 20, 31, 52. - Demgegenüber scheint die hier getroffene Unterscheidung präziser, weil die "Mischung konstitutioneller Elemente" und die der "Formen der Ausübung staatlicher Gewalt" die Gewaltenteilung (sei es nach Staatsorganen oder nach Staatsfunktionen) nicht deutlich ausgrenzt.

Nachfolger des Theorems der gemischten Verfassung

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gestellt wird; die Repräsentanten von möglicherweise sehr gegensätzlichen Gruppen erscheinen gemeinsam als Aristokraten gegenüber ihren Repräsentierten, so daß bei dieser Betrachtungsweise die Bevölkerungsgruppen selbst gar nicht in den Blick gelangen. Jedenfalls können bei einer solchen Sicht von Verfassungsmischung die Gruppen oder Klassen völlig außer acht gelassen werden; in diesem Verständnis der Mischung von Strukturprinzipien kann sich die gemischte Verfassung auf einen Staat beziehen, in dem es wie bei Rousseau ausschließlich die individualistische Gleichheit gibt, und in dem organisierte Gruppen überhaupt keine Rolle spielen. Die Mischung kommt dadurch zustande, daß für manche Entscheidungen das direkte Votum aller Individuen erforderlich ist, bei anderen Entscheidungen das eines Kollektivorgans von Repräsentanten ausreicht, und bei wieder anderen Entscheidungen die Kompetenz bei einer Einzelperson liegt. - Die spezifische Fragestellung dieser Arbeit und überhaupt die von uns behandelte Problematik der Verfassungsmischung im Zeitalter der Gleichheit kommt bei einem solchen Vesrtändnis von gemischter Verfassung nicht zum Vorschein. earl Schmitt beschreibt die moderne Verfassung des bürgerlichen Rechtsstaats als Mischung in genau dem eben genannten Sinns, er bezeichnet die "Verbindung und Mischung" der "politischen Formelemente" als das Wesentliche für die bürgerlich-rechtsstaatliche Verfassungund ihr parlamentarisches System', und sogar der Aufbau seiner "Verfassungslehre"5 folgt der Einteilung in monarchische, aristokratische und demokratische ElementeS. - Immerhin ist es schwer genug, die Vorstellung zu erschüttern, daß der moderne demokratische Staat keineswegs nur aus einem einheitlichen demokratischen Prinzip hergeleitet werden kann. Ernst Fraenkel betont, daß das demokratische a Auch die Geschichte der Theorie der gemischten Verfassung interpretiert earl Schmitt einseitig und z. T. willkürlich zugespitzt in diesem Sinn der Mischung von Entscheidungsstrukturen: Verfassungslehre S. 202 - 204. • ibid. S. 220. 5 Genauer gesagt: der III. Abschnitt, der über den "politischen Bestandteil" der Verfassung handelt (S. 221 - 359). e Die Verfassung hat nach earl Schmitt zwei Hauptbestandteile: den politischen und den rechtsstaatlichen; letzterer wird verstanden als "System von Rechtsnormen zum Schutze des Einzelnen gegen den Staat" (S. 125), der erstgenannte Bestandteil betrifft die Frage, wer die Verfassungsgebende Gewalt besitzt (S. 204). Eine gemischte Verfassung definiert earl Schmitt 1. dadurch, daß innerhalb des zweiten Bestandteils die verschiedenen politischen Formen untereinander gemischt sind (202), d. h. Monarchie, Aristokratie und Demokratie, die earl Schmitt letztlich auf die zwei Prinzipien von Repräsentation und Identität zurückführt; 2. bezeichnet earl Schmitt die (stets vorhandene) Verbindung der beiden Bestandteile - politischer und rechtsstaatlicher - als Mischung. In diesem zweiten Sinn ist der Satz gemeint: "Die Verfassung des modernen bürgerlichen Rechtsstaates ist immer eine gemischte Verfassung" (200).

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12. Kapitel

Regierungssystem aus der repräsentativen und der plebiszitären Komponente gemischt sein inUß7, und Dolf Sternberger weist darauf hin, daß das Zusammenfügen dieser zwei Elemente der Repräsentation und der Demokratie in der antiken Tradition der gemischten Verfassung steht8 • Hier wird keineswegs behauptet, daß nur eins von beidem: Mischung von Bevölkerungsgruppen oder Mischung von Entscheidungsstrukturen "rechtmäßiger Nachfolger" der alten gemischten Verfassung sei; im Gegenteil, beides war notwendig identisch, denn das Zahlenkriterium, ob nur einer, ob wenige oder ob viele bzw. alle herrschen, fiel im Effekt zusammen mit dem Unterschied, ob die Plebs oder die Optimaten oder der jeweils amtierende Konsul entscheiden. Die Verfassungen danach zu differenzieren, wieviel Personen zahlenmäßig an der Macht beteiligt sind, war das ins Auge springende Merkmal der Verfassungsformen; das Unterscheidungskriterium der sozialen Schichten war zwar das wichtigere, aber normalerweise verhielten sich beide kongruent; jedenfalls war ein Nicht-Zusammen-Fallen die Ausnahme: Aristoteles bedenkt den Fall, daß die Reichen oder Oligarchen in der Mehrzahl sind, während die Armen oder Demokraten sich in der Minderzahl befinden, um bei dieser Gelegenheit darauf hinzuweisen, daß das soziologische Unterscheidungskriterium den Vorrang vor dem Zahlenunterschied besitzt9 • In neuerer Zeit treten die Probleme auseinander, weil dann, wenn es im politischen Bereich nur Gleiche gibt, der Unterschied der Bevölkerungsgruppen in der Verfassung keine direkte Rolle spielt, während der Unterschied zwischen Repräsentanten und Repräsentierten zu einem zentralen Thema moderner Verfassungen wird. Wie sehr sich dann beide Aspekte sachlich unterscheiden können, haben wir schon zu Beginn dieses Abschnitts festgestellt. - Von den Entscheidungsstrukturen, die - am Zahlenkriterium orientiert - in augenfälligem Zusammenhang mit der alten Staatsformeinteilung stehen, ist es aber kein weiter Weg zu allen möglichen anderen Organisationsprinzipien, und entsprechend gelangt man von der Mischung von Entscheidungsstrukturen weiter zur Mischung jeglicher Organisationsprinzipien, was sich dann noch mehr von unSerem Verständnis der gemischten Verfassung entfernt. Max Webers These, daß die überwiegende Mehrzahl der Herrschaftsgebilde eine Kombination der verschiedenen Typen von legitimer Herr7 Fraenkel, Die repräsentative und die plebiszitäre Komponente. 8 Sternberger nennt als Elemente der gemischten Verfassung: ParteienParlament und Wählervolk, Repräsentation und Demokratie bzw. Repräsentation und Identität: S. 23, 37 ff., 57, 79 ff., 119 ff. - Zum notwendig gemischten Charakter moderner Verfassungen s. a. unten Anm. 21. t Aristoteles, Politik 1279 b 40 ff.; 1290 b 1 ff.

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schaft darstellen, gehört hierher10 • - Dietrich Schindler beschäftigt sich mit konträren Strukturen wie Freiheit und Bindung, Individualismus und Kollektivismus, Autonomie und Heteronomie, überordnung und Unterordnung, Gleichheit und Differenzierung, und auch mit solch allgemeinen Funktionen wie Bewahren und Fortschreiten, um darzulegen, daß in jedem lebensfähigen sozialen Gebilde immer jeweils beide Strukturen gleichzeitig vorhanden sein müssen und sich korrelativ zueinander verhalten sollen11 • Der Titel seines Buches "Verfassungsrecht und soziale Struktur" ließe vermuten, daß Schindler sich mit der Bedeutung der sozialen Gruppen im modernen Gemeinwesen beschäftigt, und seine Argumentation für ein Sowohl-als-auch von gegensätzlichen Prinzipien könnte eine moderne Theorie zur gemischten Verfassung erwarten lassen, aber Schindlers ungemein wichtige Erkenntnis bezieht sich auf etwas anderes: Er weist nach, daß von jenen polaren Strukturen und Funktionen zwar stets jeweils beide erforderlich sind, aber nicht notwendig in der Verfassung und im Recht verankert sein müssen, sondern auf Recht und Außerrechtliches, auf Recht und Ambiance verteilt sein können, d. h. daß z. B. eine überbetonung des einen Prinzips im Bereich des Rechts der Kompensation durch das hierzu polare Prinzip im außerrechtlichen Bereich bedarf, zwischen beiden Bereichen also ein Komplementärverhältnis besteht12• Schindler geht in diesem Zusammenhang auch auf die gemischte Verfassung ein13, die in seinem Verständnis jeweils beide der von ihm so genannten Strukturpolaritäten zur Geltung kommen läßt, nicht dagegen handelt er von der Vielfalt der sozialen Gruppen selbst. 2. Exkurs über ~en Gruppenbegriff im Hinblick auf die gemischte Verfassung

Bei beiden von uns unterschiedenen Nachfolgern der gemischten Verfassung: der Mischung von Bevölkerungsgruppen und der Mischung von Entscheidungsstrukturen, geht es um Beteiligung verschiedener Machtträger. Im einen Fall sind es Bevölkerungsgruppen, die sich nach Besitzverhältnissen, nach Stammesunterschieden oder auch regional unterscheiden; im anderen sind die Machtträger das gemeine Volk einerseits und die Repräsentanten des Volkes andererseits. Eine begrifflich saubere Unterscheidung dieser beiden Sorten von Machtträgern ist allerdings gar nicht so einfach, denn in beiden Fällen haben wir es mit " Gruppen " zu tun. Betreffend den ersten Fall sprachen wir 10 MaxWeber, Wirtschaft und Gesellschaft S. 160; ders., Die Wirtschaftsethik S. 273. 11 Dietrich Schindler S. 71. 1% ibid. insbesondere 70 ff., 92 ff. lS ibid. 125 - 127; s. dazu auch: 75 unten f., 100 - 103.

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schon immer - ohne über Definitionsprobleme nachgedacht zu haben von Bevölkerungsgruppen, aber auch im zweiten Fall handelt es sich um Gruppen, die einer klaren Abgrenzung untereinander fähig sind.

~

Das Verhältnis der Repräsentation hat stets zwei Aspekte, von denen je nach Art der handlungsfähig gewordenen Personenmehrheit der eine oder andere im Vordergrund stehen kann: die Interessenwahrnehmung einerseits, die Bevormundung und Herrschaft andererseits, und dementsprechend werden die Gruppen der Repräsentanten und Repräsentierten, wenn der zuletzt genannte Aspekt betont werden soll, als Herrschende und Beherrschte bezeichnet. Das macht die Abgrenzung zu der anderen Art von Gruppen noch komplizierter, denn auch bei Armen und Reichen, Schwarzen und Weißen, kann eine Gruppe die andere beherrschen. Nichtsdestoweniger kann das, was man mit einer herrschenden Klasse meint, etwas sehr Verschiedenes sein: Um bei dem letztgenannten extremen, aber gerade deshalb sehr anschaulichen Beispiel zu bleiben: es ist der Unterschied, ob die Weißen die herrschende Klasse sind, die die Schwarzen bevorrechten und unterdrücken, oder aber ob ein Teil der Weißen und Schwarzen, nämlich die Personen, die Sitze im Parlament innehaben und die sonstigen Regierungsämter bekleiden, als die herrschende Klasse betrachtet werden, gegenüber der breiten Masse von ebenfalls Weißen und Schwarzen. Wenn man, um allen Zweideutigkeiten aus dem Weg zu gehen, Begriffe für die verschiedenen Sorten von Gruppen haben will, kann man entweder mit wissenschaftlichen Worten künstliche Namen einführen, oder aber man kann einfachen und gebräuchlichen Worten einen speziellen Sinn geben. Wir wählen den zweiten Weg und entnehmen - vergleichbar der Wortbildung der Bevölkerungs-"Schicht" - die Ausdrücke der einfachen visuellen Anschauung, in unserem Fall der geometrischen. Gruppen; die sich nach Rasse,Beruf, Religion, Besitz oder Gebiet unterscheiden, nennen wir Bevölkerungs-Sektoren, weil man sich Bevölkerungsteile, die nach solchen Kriterien unterschieden sind, gewissermaßen nebeneinander vorstellen kann, wobei die Zusammenfügung aller Sektoren die Gesamtbevölkerung ergibt. Demgegenüber nennen wir die Gruppen der Repräsentanten und Repräsentierten Bevölkerungs-Kreise. Das Wort Kreis, wie auch das Wort Ring, sind durchaus übliche Ausdrücke für Personenmehrheiten in einem ganz allgemeinen Sinn; die für unseren Zusammenhang eingeschränkte Bedeutung ist folgender Anschauung entlehnt: Wenn man verschieden große Kreise ineinander legt - der Einfachheit halber seien es nur zwei -, umfaßt der innere Kreis einen Teil des größeren, und man kann sich den kleineren als Ausschuß der Gesamtheit vorstellen. Das paßt für das hier zu charakterisierende Verhältnis der Repräsentation bzw. für ein Mandats- oder Delegations-Verhältnis mit der Unterschei-

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dung von Plenum und Ausschuß. (Genau genommen ist dreierlei zu unterscheiden: die Gesamtheit, der der äußere Kreis mit seinem gesamten Inhalt entspricht; der Ausschuß der Repräsentanten, dem der innere Kreis entspricht; und das gemeine Volk, also nur die Repräsentierten, dargestellt durch den äußeren Kreis unter Abzug des inneren Kreises - geometrisch korrekt gesprochen ist dies letztere ein Kreisring.) Wenn wir Sektoren und Kreise ineinander zeichnen, wird die verschiedene Bedeutung von beiden augenfällig:

Veranschaulichen wir uns das Bild an dem oben erwähnten extremen Beispiel: die drei Sektoren stellen die weiße, schwarze und gelbe Bevölkerung dar, während die zwei Kreise zum einen die Repräsentanten jener drei Bevölkerungs-Sektoren, zum anderen das gemeine Volk ebenfalls jener drei Sektoren symbolisieren. - Die Sektoren sind selbstverständlich auch als Reiche, Arme und Mittelstand; oder als Arbeitgeber, Arbeitnehmer und kleine Selbständige denkbar. Verdeutlichen soll die bildliche Darstellung vor allem, daß sich die beiden Sorten von Gruppen überschneiden; und wenn von der Gruppenstruktur eines Gemeinwesens die Rede ist, muß unbedingt klar sein, was von beidem gemeint ist. Welche Einteilung wird für die wichtigere gehalten: ist die Gemeinsamkeit der jeweiligen Sektoren-Mitglieder untereinander das Entscheidende, oder aber die der jeweiligen KreisMitglieder untereinander?, bzw. umgekehrt gefragt: welche Trennungslinien sind von größerer Bedeutung: die geraden Linien, die die Mitglieder der Bevölkerungs-Sektoren trennen, aber die Angehörigen aus jeweils beiden Kreisen vereinen; oder der kreisförmige Trennungsstrich, der die Repräsentanten von den Repräsentierten trennt, aber in diesen zwei Kreisen die Mitglieder verschiedener Sektoren vereint?

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Die Beschäftigung hiermit ist für uns deshalb von Interesse, weil die Gruppen die Bausteine der gemischten Verfassung sind, und, wie wir jetzt erkennen, dies nur für eine der Sorten von Gruppen zutrifft. Nur die "Bevölkerungs-Sektoren" können Bausteine für die Verfassungsmischung im Sinn der Mischung von Bevölkerungsgruppen sein, wenn die Möglichkeit bestehen soll, daß die verschiedenen Gruppen in den Repräsentationsorganen des Gemeinwesens vertreten werden. Bei den "Bevölkerungs-Kreisen" ist dies nicht möglich, denn Gruppen dieser Art können nicht nebeneinander irgendwo vertreten werden, weil der innere Kreis bereits die Vertretung des äußeren ist, der nicht daneben noch einmal repräsentiert werden kann, das wäre absurd. Die Bevölkerungs-Kreise geben die Grundlage für jene andere Art von gemischter Verfassung: die Mischung vQn E.ntscheidungsstrukturen, wie wir sie im letzten Abschnitt vorgeführt haben. Von wie großer Bedeutung die getroffene Unterscheidung für das richtige Verständnis vieler politischer Autoren ist, wird sich gleich noch zeigen; zuvor aber muß das bisher einseitig statisch skizzierte Bild durch die dynamische Komponente geschichtlicher Entwicklungsmöglichkeiten etwas zurechtgerückt werden. Es gibt Gesellschaften, in denen eine Differenzierung zwischen Bevölkerungs-Sektoren und Bevölkerungs-Kreisen nicht stattfindet, und folglich auch von einer Überschneidung dieser Gruppenarten nicht gesprochen werden kann. In ungemischten aristokratischen Verfassungen hat die Schicht der Aristokraten bzw. der Reichen von vornherein ein alleiniges Recht darauf, die gesamte Nation zu repräsentieren; die Repräsentanten des Gemeinwesens sind hier mit einem bestimmten Bevölkerungs-Sektor identisch". Wenn nun die Verfassung gemischt wird, etwa weil sich. das Volk Mitbestimmungsrechte ertrotzt, dann werden Repräsentanten des Volkes in die Gesamtvertretung des Staates hinzugezogen; jetzt paßt unser vorhin gezeichnetes Bild für den Zustand dieses Staates. - Es ist allerdings nicht ausgeschlossen, daß nach einiger Zeit die Gemeinsamkeit der Repräsentanten untereinander - seien sie aus der Ober- oder der Unterschicht - größer wird als ihre Verbindung zu den jeweiligen Schichten, denen sie entstammen. Vor allem auf Grund des gemeinsamen Interesses, die Macht für sich zu behalten, kann ein echter Zusammenhalt in dieser neu sich bildenden Schicht entstehen, und die Repräsentanten lösen sich von den Repräsentierten und deren Interessen. Aber auch dann, wenn es nicht zu einer Emanzipation der Funk14 Nach Marxschem Verständnis ist nicht in diesen Begriffen, aber der Sache nach - auch der bürgerliche Staat eine solche ungemischte Verfassung; sehr treffend für diesen Zusammenhang: Basso, bes. S. 15 - 17 und das Zitat S. 43 n.15.

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tionäre von ihrer ursprünglichen Basis kommt, ist wegen der stets vor· handenen Möglichkeit zu einer solchen Entwicklung die Bildung einer neuen Schicht von Repräsentanten oder Funktionären, die eigentlich verschiedenen oder gar gegensätzlichen Gruppen entstammen, im An· satz immer vorhanden, und der Hinweis auf die Ähnlichkeit dieser Schicht der Elite zur alten Aristokratie besteht zu Recht. Aber von einer Identität der Arten von Gruppen, d. h. der Sektoren und Kreise, kann nicht ausgegangen werden, denn es ist zwar möglich, daß Gewerkschaftsführer und Industriekapitäne die Klasse der Herrschenden bilden und zwischen beiden größere Gemeinsamkeiten bestehen als zwischen Gewerkschaften und Untetnehmerverbänden, aber das ist weder notwendig so, noch ist es der Normalfall. Wenn man die Schriften der politischen Theoretiker auf die Bedeutung der Bevölkerungsgruppen hin untersucht, kann man feststellen, daß - etwa bei Rousseau - sehr viel von Gruppengegensätzen und vom Unterschied der herrschenden und beherrschten Klasse die Rede ist, ohne daß in diesem Zusammenhang irgendein Ansatz zur gemischten Verfassung sichtbar würde. Eine Erklärung liefern unsere soeben angestellten überlegungen; nicht von jeder Gruppenstruktur führt ein Weg zur gemischten Verfassung, der bloße Unterschied von Regieren· den und Regierten reicht nicht für die zu einer Theorie der gemischten Verfassung notwendige klare Vorstellung von Bevölkerungsgruppen im Sinn der von uns so genannten Sektoren. - RotteckU verwendet entsprechend dem üblichen älteren Sprachgebrauch - den Begriff der Stände für beides: für die unterschiedlichen Klassen (d. h. die Sektoren), und auch für den "Ausschuß" des "zum Staat vereinigten Volkes" (d. h. den inneren Kreis). Rotteck geht ausdrücklich auf die soeben erörterte Problematik ein, daß. entweder eine Willens-Identität zwischen den Vertretern und den entsendenden Volksteilen oder Klassen besteht (was nach Rottecks Auffassung das einzig Richtige ist), oder aber die Ständeversammlung vom Willen der Repräsentierten abweicht. Letzteres ist für Rotteck immer dann gegeben, wenn die Gewählten nicht ihre unmittelbaren Kommitenten vertreten, "nicht einen einzelnen Teil des Volkes, nicht eine Klasse desselben ... sondern die ganze Nation"; in diesem Fall wird aus der Versammlung der Stände ein Reichs'-Senat und die Verfassung zur Wahl-Aristokratie: hier sind die Repräsentanten in ihrem Geist korrumpiert. Gemischte Verfassung gibt es bei Rotteck auf zweifache Art entsprechend den zwei Bedeutungen der "Stände": die oben in Kapitel 8 beschriebene Mischung von Bevölkerungs-Sektoren, aber auch die "gemischte Regierungsform" im Sinn der Mischung von Entscheidungsstrukturen, wobei Rotteck konsequenter15

Zum folgenden: Rotteck, Landstände S. 77 - 87.

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weise im Fall der Interessen-Identität von Ausschuß und wahrem Nationalwillen das Parlament als demokratisches Element betrachtet, aber im Fall der Verselbständigung als aristokratisches Element. Auch J. S. Mill kennt, wie schon oben gesehen, die gemischte Verfassung in den genannten zwei Bedeutungenl8. Grund für ihre erste Ausgestaltung ist die Existenz verschiedener Klassen in der Gesellschaft, Grund für die zweite Art ist der Unterschied zwischen der "Elite"17 und der großen, nur nach Klassen-Gesichtspunkten denkenden MasselS, - ein Unterschied, der gewiß mit dem erstgenannten zusammenhängt, aber keineswegs mit ihm kongruent ist, denn Mill meint mit der Elite gebildete, eigenständig denkende und fähige Personen, die gerade nicht zur einen oder anderen Partei gehören müsseni•. Hier mag noch ein Hinweis auf die Elitentheorien von Mosca, Michels oder Pareto angebracht sein, wenn sie auch nicht in den behandelten Zeitraum fallen. Aber da sie eine moderne Gruppentheorie darstellen, und da unsere Bemühungen um die gemischte Verfassung aufs engste mit der Relevanz der Gruppen im modernen Staat zusammenhängen, wäre die Frage berechtigt, warum diese Gruppentheorien nicht berücksichtigt oder gar als theoretisches Gerüst benutzt wurden. Der Grund ist der, daß es in diesen Theorien einigermaßen unklar bleibt, um was für eine Art von Gruppe es sich bei der Elite eigentlich handelt: eine in sich konsistente aristokratische Oberschicht, oder um eine rein gedankliche, sozusagen eine statistische Gruppe, definiert durch gemeinSame Merkmale bestimmter Personen, die selbst sehr verschiedenartigen realen Gruppen, d. h. Bevölkerungs-Sektoren angehören!o. Die Ausführungen dieses Abschnitts ergaben die Unbrauchbarkeit einer derartigen Vorstellung von der gesellschaftlichen Gruppenstruktur für eine Theorie der gemischten Verfassung verstanden als soziale Mischung, sondern von dort führt allenfalls ein Weg zur Mischung der Entscheidungsstrukturen!l. la Sachlich gesehen; der Begriff des mixed government kommt nur im Zusammenhang der Mischung von Entscheidungsstrukturen vor: s. Kap. 8 Anm. 73; aber vgI. a. Anm. 45. 17 Mill, Repr. Gov. 130 mitte (265 mitte). 18 Dazu: Duncan 266. 19 Repr. Gov. 130 f. 20 Zur Darstellung und Kritik der Elitentheorien s. die Arbeiten von Jaeggi, Dreitzel, Ferber, Pfetsch, Bottomore, Bachrach; zur Frage, was für verschiedene Sorten von Gruppen als Herrschende auftreten können, s. a. L. v. Wiese, Die Plutokratie. 21 Zu solcher Interpretation der politischen Systeme als Mischung verschiedener Elemente (wobei der Akzent allerdings darauf liegt, daß das demokratische Element sehr gering ist) s. Mosca S. 54 f., 321 ff., 346 f.; Michels 1 f., 27, 374 - 378.

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11. Gewaltenteilung Den Zusammenhang zwischen der alten gemischten Verfassung und der Gewaltenteilung haben wir in den entsprechenden Kapiteln aufgezeigt22, und in der Literatur über Gewaltenteilung wird regelmäßig darauf hingewiesen28 • Zwar wird der Vorgang der Verschmelzung beider Lehren, bzw. die Frage, ob sich die neuzeitliche Gewaltenteilungslehre aus der Lehre der gemischten Verfassung entwickelt habe, z. T. unterschiedlich gesehen, aber es besteht kein Zweifel, daß beides in der Zeit bis hin zu Montesquieu vielfach kongruent war, und oft wird für die Zeit nach Montesquieu die Gewaltenteilung als die Fortsetzung des Theorems der gemischten Verfassung betrachtet. Bei Hasbach heißt es: "Dieses Ideal ging nun auf in dem ... der Gewaltenteilung!4." Das ist allerdings zu einseitig, denn die Gewaltenteilung, die sich an Staatsfunktionen und an Staatsorganen orientiert, ist nur ein Nachfolger der gemischten Verfassung, und zwar einer, der sich vom sozialen Kontext der gemischten Verfassung abgelöst hat. Auf diesen Ablösungsprozeß sind wir ausführlich eingegangen, er ist markiert durch die Namen Montesquieu, bei dem der soziale Bezug noch voll vorhanden ist, aber die funktionale Gewaltenteilung sich bereits abzeichnet; durch J ohn Adams, bei dem sich funktionale und soziale Gewaltenteilung einigermaßen unsauber überschneiden; und durch den Federalist, bei dem die Gewaltenteilung und die Machtverteilung auf verschiedene Bevölkerungsgruppen bereits zwei völlig getrennte Problemesind. Seit diesem Zeitpunkt haben wir die Entwicklung der Gewaltenteilung, abgesehen von kurzen Seitenblicken, nicht mehr verfolgt und uns nur auf die Verfassungsmischung im Sinn der Mischung von Bevölkerungsgruppen konzentriert. Die Gewaltenteilung ist jetzt ein Stück des großen Komplexes geworden, der als Konstitutionalismus bzw. Rechtsstaatlichkeit bezeichnet wird2s • Dies sind die modernen Ausdrücke für die gemäßigte Verfassung, deren Zweck die Begrenzung der Staatsgewalt war und ist. - Wir erinnern uns: gemischte und gemäßigte Verfassung waren bei vielen älteren Denkern Synonyme, denn die Begrenzung oder Mäßigung wurde durch Machtbeteiligung verschiedener sozialer Gruppen erreicht. Jetzt, in der modernen Verfassung, läßt sich bei der Gewaltenteilung die Ähnlichkeit zur alten Methode der Mäßigung immerhin noch äußerlich erkennen, weil es augenfällig verschieu Kap. 2 S. 42 f., 46 - 49; Kap. 3 S. 59 - 62; Kap. 5 S. 85 - 88,101 - 105. Hasbach; Kägi, Entstehung, Teil I; Vile 21-75; Kluxen 131-134; Friedrich, Verfassungsstaat 197 f.; Gablentz 503; Forsthoff, Gewaltenteilung 656; Fenske 927 - 930. !C Hasbach 563. 2G s. die Arbeit von Vile, Constitutionalism and the Separation of Powers. !8

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dene Organe oder Träger der Macht gibt, wenngleich der gruppenoder klassenspezifische Bezug weggefallen ist; die anderen Institutionen des Konstitutionalismus wie die Grundrechte oder die Unterscheidung von Verfassungsgesetz und einfachem Gesetz haben auch äußerlich nichts mehr mit den "soziologischen Mitteln" der gemäßigten Verfassung zu tun. Die weitere Geschichte des Theorems der Gewaltenteilung findet sich bei Kägi ausführlich beschrieben!': der Zusammenhang der drei Gewalten mit den drei Sätzen in einem praktischen Vernunftschluß bei Kant; der Staat, der sich in seine "substantiellen Unterschiede dirimiert", bei Hegel; die Gewaltenteilung zwischen Monarch und Parlament bei Benjamin Constant; und die Unterscheidung von formellen und materiellen Staatsfunktionen bei Friedrich Schmitthenner. Einen weiteren Ausblick gibt Kägi in seiner späteren Schrift "Von der klassischen Dreiteilung zur umfassenden Gewaltenteilung"; er führt einen ganzen Katalog möglicher Kompetenz-Aufteilungen vor, wie die zwischen Verfassungsgesetzgeber und Gesetzgeber, Abgrenzungen innerhalb der Exekutive, Gewaltenteilung durch zeitliche Begrenzungen, vertikale Gewaltenteilung, oder die Teilung der Macht zwischen Zivil und Militär27 • Ähnliche Zusammenstellungen moderner Gewaltenteilungsformen finden sich auch bei Hans Peters, Winfried Steffani und Otto Heinrich von der Gablentz28 ; interessant ist für uns daran vor allem, daß bei Kägi und auch bei Steffani unter vielen anderen Beispielen die "soziale Gewaltenteilung" (etwa zwischen Verbänden der Wirtschaft) auftaucht, wodurch ein Zusammenhang zur Verfassungsmischung wiederhergestellt wird211• Wenn wir davon sprachen, daß in der alten Mischverfassung Gewaltenteilung und soziale Mischung zusammenfallen, ist das nicht ganz korrekt, denn es gilt nur insoweit, als sich die gemischten Verfassungen am klassischen Modell nach Polybios und Cic~ro orientieren, d. h. der Form der separativen Mischung, aber es gilt nicht für Aristoteles. Bei ihm hatten wir das Problem der Gewaltenteilung überhaupt nicht erwähnt, denn das wäre uneinskhtig gewesen, weil sich dies Problem aus dem Kontext der gemischten Verfassung bei ihm nicht stellt. Erst im Nachhinein (im zweiten Kapitel) konnte die Frage gestellt werden, ob es bei Aristoteles etwas Vergleichbares gibt. In der Tat gibt es bei ihm drei verschiedene Staatsorgane: das Beratende Organ, die Regierungsämter und die Gerichte, aber der gewaltenteilende Effekt ver-

I' Kägi, Entstehung S. 102 ff.

Kägi, Umfassende Gewaltenteilung S. 164 - 171. Peters 23 - 31; Steffani 266 H.; Gablentz 503 - 505. .. Kägi, Umfassende Gewaltenteilung 170; Steffani 280 ff. U

18

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schiedener Staatsorgane beschäftigt Aristoteles nicht, und vor allem gibt es keinen Zusammenhang zur gemischten Verfassung, weil Aristoteles eine Zuordnung dieser Organe zu bestimmten Bevölkerungsgruppen nicht vornimmt30• - Das vorhin erwähnte Auseinandertreten von sozialer Mischung und Gewaltenteilung (im Sinn der Existenz verschiedener Staatsorgane) ist also nicht etwas prinzipiell Neues, sondern beides war bezeichnenderweise dort von einander getrennt, wo das Gemeinwesen durch die politische Gleichheit der Bürger geprägt war. IR. Mischung von Bevölkerungsgruppen neue Begriffe für ein altes Problem Nach der Mischung von Entscheidungsstrukturen und der Gewaltenteilung noch einige Bemerkungen zum dritten Nachfolger der gemischten Verfassung: der sozialen Mischung. Darauf einzugehen, ist hier nicht unbedingt erforderlich, da ja dieser Nachfolger das Thema der ganzen Arbeit war, und dieser Sache der erste Hauptteil und das elfte Kapitel gewidmet wurden. Wenn in diesem Kapitel dazu auch noch ein Abschnitt steht, dann aus folgendem Grund: Die bisher behandelten Nachfolger haben nichts mehr unmittelbar mit der Mischung der Bevölkerungsgruppen zu tun; aber diejenigen Gedanken oder Theorien, die dies erfüllen, und die wir im Verlauf der Arbeit als moderne Konzeptionen zur Verfassungsmischung hingestellt hatten, tragen normalerweise nicht den Namen "gemischte Verfassung". Hier sollen jetzt die neueren Namen für dasjenige aufgezählt werden, was der Sache nach Mischung von Bevölkerungsgruppen ist, bzw. die Theoreme genannt werden, in die - manchmal nur teilweise - das Problem der Berücksichtigung verschiedener sozialer Gruppen eingeht. Die Kombination der Interessen und Meinungen von jedem Teil der Gemeinschaft (Federalist), die Vereinigung der Stände (Görres), die Verhältnismäßigkeit der Vertretung (Rotteck, Mohl), oder die Proportionalität der Gruppen (Mill) sind Ausdrücke für die Verfassungsmischung, die allerdings nicht unbedingt jeweils als terminus technicus benutzt werden. Griffige Formeln für die gemischte Verfassung sind diese Worte nicht, aber wie mehrfach betont, kommt es darauf auch nicht an, sondern entscheidend waren für uns stets die sachlichen Aussagen: ob alle Gruppen beteiligt werden, was gegen die Übermacht vorherrschender Gruppen getan wird, was die Funktion einer dritten Kraft sein soll usw. Meistens wird dies auf vielfältige Weise umschrieben. Die Vorstellung, daß es sich dabei um Mischung von Staatsformen handelt, taucht noch bei Rotteck und bei Tocqueville auf; letzterer kennt auch den Begriff der Mäßigung der Herrschaft in Bezug auf die sozia30

Vgl. oben S. 42 f.

15 Wember

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len Schichten. - In den Ausführungen über J. S. Mill konnte gezeigt werden, daß das in Frage stehende Theorem in einen bisher zur gemischten Verfassung konträren Begriff hineinschlüpft: den Demokraie-Begriff. Dies war ursprünglich eine ungemischte Verfassung: die einseitige Herrschaft der minderbemittelten Massen. Aber seitdem Demokratie zur Bezeichnung der einzig legitimen Staatsform wird, weiten sich ihre Bedeutungsinhalte beträchtlich aus: nicht nur die Macht der Volksversammlung, sondern der Nachweis, daß die Staatsgewalt vom Volk "ausgeht" (was oft reichlich theoretisch ist), rechtfertigt bereits, von Demokratie zu sprechen; und nicht mehr die Herrschaft einer bestimmten Klasse, sondern die Herrschaft aller Gruppen macht die Demokratie aus, oder besser gesagt: kann zum Inhalt des Demokratie-Begriffs werden. Bei J. S. Mill ist dies der Fall; mit "wahrer Demokratie", oder mit "Demokratie nach dem Prinzip der Gleichheit" bezieht er sich ausdrücklich auf die unterschiedlichen Bevölkerungsschichten und deren gleiche, d. h. für Mill proportionale Vertretung. - Allerdings kann der Demokratie-Begriff (wie auch der Gleichheits-Begriff) im Hinblick auf die Bevölkerungsgruppen völlig indifferent sein: es ist möglich, daß unter Ausklammerung aller sozialer Probleme ausschließlich die politische Gleichheit, oder aber daß die totale Gleichheit gemeint ist; in beiden Fällen ist die Ausgewogenheit der Gruppen kein Bestandteil von Demokratie und Gleichheit. Wir hatten schon im Kapitel über Aristoteles darauf hingewiesen, daß seine Verwendung des Wortes Demokratie nicht dem heute üblichen Gebrauch entspricht, sondern viel eher bezeichnet die aristotelische Politie das, was heutzutage mit Demokratie gemeint ist; und da die Politie bei Aristoteles der Prototyp einer gemischten Verfassung ist, wäre es folgerichtig, wenn auch dieses Merkmal auf den DemokratieBegriff überginge. - In der Tat ist, wie soeben dargelegt, die Mischung der Bevölkerungsschichten ein möglicher Inhalt der Demokratie, aber weil dies Wort nicht spezifisch hierfür ist, und weil das genaue Gegenteil auch möglich ist - Marx hält am alten Demokratieverständnis als einseitiger Herrschaft der untersten Klasse fest -, ist der Ausdruck nicht sonderlich geeignet, unser Problem klar zu fassen und als Ersatz für das Theorem der gemischten Verfassung zu fungieren. Das gleiche gilt übrigens auch für den Republik-Begriff, der schon vorher bei manchen Autoren inhaltlich die Merkmale der gemischten Verfassung in sich aufgenommen hattes1 • Einige weitere Begriffe, die zu Theorien ausgebaut wurden, sollen noch erwähnt werden. Sie betreffen zwar nicht den für diese Untersuchung abgesteckten Zeitraum, aber im Nachhinein läßt sich schweral s.

Kap. 5 Anm. 50 und 67.

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lich über Probleme der Verfassungsmischung sprechen, ohne unwillkürlich diese neueren Worte zu benutzen. Die Ausdrücke Integration und Partizipation sind so geläufig geworden, daß wir sie auch in dieser Arbeit gelegentlich bei der Beschreibung von Verfassungen und Verfassungsentwürfen verwendeten. Dem Wort Integration gab für den politischen Bereich Rudolf Smend einen spezifischen Sinn. Seine Integrationslehre will Antwort geben auf die Frage, was ein Gemeinwesen zusammenhält, bzw. wodurch das Gemeinschaftsbewußtsein aktiviert wird. Unter diesem Gesichtspunkt ordnet Smend die verschiedensten Erscheinungen, wie die einigende Wirkung, die von einer Führerperson ausgeht, die durch gemeinsame geschichtliche Erfahrungen hervorgerufen wird, oder die von bestimmten Institutionen bewirkt wird. Integration wird verstanden als grundlegender Lebensvorgang des Staates, als einigender Prozeß der nie abgeschlossenen Einigung des Staates, der von einem Plebiszit lebt, das sich jeden Tag wiederholt32 • Nichts stünde im Weg, diesen permanenten Integrationsprozeß auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen zu beziehen - und das Wort Integration wird im heutigen Sprachgebraudl auch so verwendet -, aber in der Integrationslehre Smends ist davon nichts sichtbar. "Der Staat ist nur, weil und sofern er sich dauernd integriert, in und aus den Einzelnen aufbaut33." Bei Smend bezieht sich der Integrationsvorgang unmittelbar auf die Individuen; das schließt nicht notwendig einen zusätzlichen, auf die Gruppen bezogenen Integrationsprozeß aus, aber Schichten oder Klassen kommen Smend als Subjekte der Integration bzw. als mögliche Desintegrationsfaktoren nicht in den Blick. Diese Lehre hat also viel mit dem zu tun, was man früher unter der Eintracht verstand, die weitgehend als Zweck der gemischten Verfassung angesehen wurde, aber zur Verfassungsmischung selbst stellt die Integrationslehre in ihrer Smendschen Ausprägung keinen Zusammenhangheru. Der Begriff der Partizipation ist zu einem vielbenutzten Wort für Mitbestimmungsrechte verschiedenster Art geworden, fand aber in der Theorie' von Partizipation ~nd Marginalität (meist als MarginalitätsKonzept bezeichnet) einen Sinngehalt, der den Inhalt des Theorems 31 Smend, Verfassung und Verfassungsrecht S. 136 ff.; zu Smends Integrationslehre s. Mols §§ 23 ff. 33 ibid. 138. M Auch andere Theorien über 'das einheitsbildende Prinzip des Staates earl Schmitt: Identität (Verfassungslehre S. 234 ff.); H. Heller: Organisation (Staatslehre 228 ff.) - tangieren das Problem der Eintracht, aber nicht das der sozialen Mischung, obwohl diese Möglichkeit bei H. Hellers Konzept gegeben wäre.

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der gemischten Verfassung ausgesprochen gut erfaßt. Auch der Begriff der Integration wird in dieser Theorie im Sinn der gemischten Verfassung verwendet. Das Marginalitäts-Konzept, das insbesondere auf Roger Vekemans zurückgeht, ist von einiger Verbreitung in der lateinamerikanischen sozialwissenschaftlichen Literatur, und wurde auch von europäischen Autoren, die sich mit Lateinamerika befassen, übernommen oder weiterentwickelt35• - Angesichts der extrem deutlichen Klassenverhältnisse in Südamerika verbietet es sich dort von vornherein, in einer politischen Theorie von den unterschiedlichen und gegensätzlichen Gruppen zu abstrahieren, und zum zweiten kann man hier, da die Klassenunterschiede alle Lebensbereiche erfassen, mit größerer Selbstverständlichkeit das gesamte politische und soziale Leben in den Blick bekommen, ohne daß diesem ein eingeschränkter Verfassungsbegriff im Weg steht. Das Konzept unterscheidet zwei Arten von Partizipation: Die passive oder rezeptive Partizipation bezieht sich auf die Inanspruchnahme von materiellen und geistigen Gütern der Gesellschaft, die aktive auf den Zugang zu den Entscheidungszentren. Gemessen am verschieden großen Umfang der Partizipation unterscheiden sich die Bevölkerungsgruppen; Marginalität bedeutet geringe ("marginale") Beteiligung36, was sich zeigen kann in Form niedriger Löhne, ungenügender Erziehung und fehlendem Zugang zu den Kommunikationskanälen und zu den politischen Institutionen, während Integration als Prozeß der Partizipation verstanden wird. Das Marginalitäts-Konzept ist für eine Beschreibung der Gruppenstruktur gut geeignet, denn man kann hiermit sowohl eine Gesellschaft erfassen, in der die Gruppen eine ganze Skala jeweils nur gradueller Unterschiede bilden, als auch eine Gesellschaft, in der sich eine schmale Oberschicht und eine breite marginale Bevölkerung gegenüber stehen. Ferner wird sowohl auf die Anteilnahme an politischen Entscheidungen Bezug genommen, wie auch auf die Partizipation an gesellschaftlichen Gütern und Leistungen, so wie bei Verfassungsmischung und Verfassungsmitte politische Macht und wirtschaftliche Stellung der Gruppen wichtig sind. Integration ist der Prozeß der Beteiligung aller Gruppen an diesen Gütern, Leistungen und Entscheidungen, und entspricht damit dem, was wir gemischte Verfassung nennen. - Ein eigener Ent35 Zum Marginalitäts-Konzept s. Theodor Dams, 9 - 55, insbes. 11 - 30; Herbert J. Nickel 70 - 88. 31 Das Wort erfuhr eine Ausweitung bzw. einen Bedeutungswandel: von der Bezeichnung für eine kleine Gruppe am Rande einer anderen Kultur zum allgemeinen Problem der fehlenden Partizipation u. U. großer Teile der Bevölkerung.

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wurf zu einer konkreten Form von Verfassungsmischung ist das Marginalitäts-Konzept als sokhes zwar nicht, aber die Vertreter dieses Konzepts liefern nicht nur eine wertneutrale Begrifflichkeit zur Beschreibung von sozialen Verhältnissen, sondern sie intendieren die Integration als Ziel, zu dem sie einige Mittel aufzeigen, wie die Förderung von sozialer Mobilität und sozialer Kapillarität, wodurch sowohl größere Partizipation aller Gruppen erreicht werden soll (Verfassungsmischung), als auch die Änderung der sozialen Schichtung in Richtung auf einen Abbau der Gruppenunterschiede (Verfassungsmitte). Schließlich noch eine Bemerkung zum Pluralismus-Begriff37• Der Möglichkeit, eine Ersatzrolle für die Verfassungsmischung zu übernehmen, steht die Schwierigkeit im Weg, daß dieser Begriff meistens entweder zu weit gefaßt wird: Pluralismus als allgemeines Prinzip; oder aber zu eng gefaßt wird: als Pluralismus der Interessenverbände38• Diese zuletzt genannte Bedeutung ist zweifellos ein wesentlicher Bestandteil der gemischten Verfassung, aber eben doch insofern zu eng, weil man nicht die Gesamt-Verfassung in den Blick bekommt. Ferner bleibt in diesem Begriff unbeantwortet, ob es sich bei dem Pluralismus um "ein anarchisches Ringen aller gegen alle"38 handelt, oder aber der "Ausgleich der Interessen" bzw. "die unverzichtbare Integration der Gruppen und Gruppeninteressen"4o gelungen ist; Pluralität als solche ist nur eine Voraussetzung für die gem~schte Verfassung. - Diese letztere Schwierigkeit ließe sich allerdings durch hinzuzufügende Attribute aus dem Weg räumen, zumal die "gemischte Verfassung" solcher Attribute auch bedarf, und man käme zu einer Begriffsbildung, die mit jener vergleichbar wäre, von der die ganze Untersuchung ihren Ausgang nahm: dem Unterschied von "schlecht" und "gut gemischter Verfassung".

37 Zur Pluralismus-Theorie s. Fraenkel, Der Pluralismus; ders., Reformismus und Pluralismus S. 400 ff., 424 ff.; Goetz Briefs; Roman Herzog; Helge Pross; Peter Hartmann. 38 Zum ganz speziellen, in dieser Arbeit verwendeten Gebrauch des Wortes im Begriff der "pluralistischen Mischung" s. Kap. 11, Abschn. H. 2. 38 Herzog 1541. 40 ibid. 1546 (und häufiger); 1543 unten.

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Der Zweck der gemischten Verfassung und ihrer Nachfolgetheoreme I. Die Verselbständigung von Tellaspekten der Eintracht Als Zwecke der gemischten Verfassung fanden wir die überwindung von Zwietracht, Haß und Neid bei Montesquieu; Gerechtigkeit, Ausgleich der Interessen und insbesondere Vertrauen (faith) beim Federalist; ebenfalls Vertrauen und gegenseitige Hilfe bei Tocquevillej das Wohlwollen zwischen den Klassen und wiederum das Vertrauensverhältnis bei Robert Mohl. Um eine klare Theorie des Zwecks politischer Institutionen bzw. um eine durchgearbeitete Ethik, wie wir sie bei Aristoteles gesehen hatten, handelt es sich hierbei nicht, aber daß das Ziel zumindest im gleichen Umkreis wie die Eintracht liegt, ist bei allen vorgefundenen Mischungskonzeptionen erkennbar, sei es, daß dies nur aus mehr oder weniger beiläufigen Bemerkungen zu entnehmen ist, wie beim Federalist, oder daß die entsprechenden Argumente wie bei Tocqueville mehr zusammenhängend dargestellt werden. Warum dies Thema nicht so präzise faßbar ist, läßt sich vielleicht am ehesten erkennen, wenn man von der umgekehrten Seite her fragt: Wo verbleiben die verschiedenen Inhalte der Eintracht, die wir bei Aristoteles als Zwecke der gemischten Verfassung herausgearbeitet hatten? Das vorige Kapitel handelte von der Verselbständigung von Teilaspekten der gemischten Verfassung, wobei sich zeigte, daß die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft einen nicht geringen Einfluß auf diese Entwicklung hatte. Ein Auseinandertreten der Bestandteile der Eintracht ist jenem Vorgang durchaus vergleichbar. Gemeinsame Grundanschauungen bzw. Konsens über die wesentlichen Verfassungsbestimmungen waren eine Komponente der Eintrachtj praktizierte Tugenden, nämlich die Verträglichkeit und die politische Freundschaft, die andere Komponente. Da aber letzteres ein Problem der Moral ist, hat dies im modernen Staat, d. h. in unserem Zusammenhang in einem vom Liberalismus geprägten Gemeinwesen, das sich womöglich als in zwei gesonderten Sphären von Staat und Gesellschaft begreift, nichts verloren. So etwas gehört in rein gesellschaftliche Bereiche wie Kultur oder Religion. Im Staat selbst bleibt nur Raum für jene andere Kompo-

Der Zweck der gemischten Verfassung

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nente: gemeinsame Ansichten, gemeinsames Bekenntnis zur Verfassung, u. U. ausgeweitet zu einer von allen geteilten Staatsideologie. Die Wichtigkeit solcher Gemeinsamkeiten ist unbestreitbar, aber ihre Substanz ist mager im Vergleich mit der genannten anderen Komponente, denn gemeinsame Ansichten sind etwas Intellektuelles, während gelebte Tugenden den Charakter einer Gemeinschaft sowohl hinsicht.. lich des Bewußtseins wie der Praxis, d. h. der konkreten Gestaltung des Zusammenlebens prägen. Der Aspekt der Staatsideologie abstrahiert vom eigentlichen Inhalt der Eintracht und läßt nur das übrig, was sich ohne Schwierigkeit mit dem jeder ethischen Substanz entledigten staatlichen Bereich vereinbaren läßt. Aber für die Probleme des Zusammenlebens unterschiedlicher Gruppen ist dies keine ausreichende Antwort. Hier geht es um menschliche Beziehungen, um die Art, wie man zwischen Gruppen Konflikte austrägt, und die Art wie man sie beilegt, ohne die anderen zu übervorteilen, d. h. um menschliche Verhaltensweisen. Wie eben schon angedeutet, umfassen diese zweierlei: Bewußtsein und Handeln, beides zueinander in jener Wechselwirkung, die dem Zweck-Mittel-Verhältnis zwischen Institutionen und Tugenden eigen ist: die Institutionen (in unserem Fall die Verfassungsmischung mit einem entsprechenden Wahlrecht, entsprechenden Steuer- und Erbschaftsgesetzen usw.) begünstigen eine innere Einstellung hinsichtlich der anderen Gruppen und der Gesamtheit, so daß daraus Handlungen zur Gestaltung der gesellschaftlichen Verhältnisse hervorgehen: Maßnahmen zur Verbesserung der Mitspracherechte, zum Vermögensausgleich, zu neuen Mischungsformen, also wieder zu Institutionen.

n. Die Untersmeidung der verschiedenen Nachfolgetheoreme der gemischten Verfassung nach ihrem Zweck

Wir hatten die Gewaltenteilung und die Mischung verschiedener Organisationsprinzipien aus unserem Thema ausgegrenzt, weil diese etwas anderes sind als Mischung von Bevölkerungsgruppen. Im Hinblick auf den Zweck wird die Verschiedenheit der Theoreme noch deutlicher sichtbar. Zusammenfassend wollen wir die verschiedenen Zwecke einander gegenüberstellen: Zweck der Gewaltenteilung ist die Machtbegrenzung; ein - berechtigter - anthropologischer Pessimismus ist der Urheber dieses Gedankens: den Menschen soll die Möglkhkeit zum Machtmißbrauch erschwert werden. Bei der Mischung von Entscheidungsstrukturen geht es darum, verschiedenen Prinzipien gerecht zu werden: Der Wille aller Bürger, der sich in Volksentscheiden artikulieren kann; das überlegene Wissen und Können, das in Einzelentscheidungen zum Zug kommt; und das Beraten

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13. Kapitel

und Abwägen der Kollegialorgane sind Prinzipien, die nicht gegeneinander ausgespielt werden können und alle nebeneinander ihre Berechtigung haben. Dagegen weist der Zweck der Mischung von Bevölkerungsgruppen in eine andere Richtung: die Herrschaftsbeteiligung aller Klassen dient in erster Linie der Eintracht bzw. der politischen und gesellschaftlichen Freundschaft.

Zusammenfassung in drei Thesen 1 a) Die alte (ständische) gemischte Verfassung, die ihr klassisches Modell in den Ausführungen von Polybios und Cicero hatte, umfaßte drei Aspekte: 1. die Mischung von Entscheidungsstrukturen (unterschieden nach der Zahl der an einer Entscheidung mitwirkenden Bürger), 2. die Beteiligung verschiedener sozialer Gruppen an den Verfassungsrechten und 3. die Gewaltenteilung. Das Zusammenfallen der drei Aspekte wurde dadurch bewirkt, daß die Stände als verschiedene soziale Gruppen zahlenmäßig von sehr unterschiedlicher Größe waren, und den Ständen jeweils eigene Staatsorgane zugeordnet waren. b) Die drei Aspekte treten mit der Einführung der staatsbürgerlichen Gleichheit auseinander, weil mit der Auflösung der Stände das für jeden der drei Aspekte gemeinsame Substrat wegfällt; diese bilden jetzt drei nicht mehr notwendig miteinander zusammenhängende Nachfolger der gemischten Verfassung. 2 a) Die vorliegende Arbeit widmet sich einem der drei Nachfolger: sie untersucht in der politischen Theorie der Zeit zwischen der Mitte des 18. und der Mitte des 19. Jahrhunderts die Frage, ob und wie das Anliegen der gleichmäßigen Beteiligung der verschiedenen Bevölkerungsgruppen an der Verfassung auch unter den Voraussetzungen der politischen Gleichheit der Bürger Gestalt annimmt. b) Theorien über den Staatsaufbau, die entweder nur an den alten ständischen Vorstellungen festhalten, oder die nur die moderne individualistische Gleichheit kennen, bieten keinen Raum für moderne Mischungskonzeptionen. Diese finden nur Platz in solchen Staatstheorien, die eine Kombination der direkten Macht der Gruppen mit der individualistischen Willensbildung darstellen. Dies sind 1. die Konzeptionen, die das Gemeinwesen aus Verbänden aufbauen, aber in den Verbänden das individualistische und pluralistische Moment berücksichtigen; 2. Konzeptionen, die eine Zweigleisigkeit der staatlichen und gesellschaftlichen Willensbildung entwerfen; 3. Konzeptionen, die in den formalen Rahmen der individualistischen Gleichheit die faktische Bedeutung der Gruppen implizieren können.

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Zusammenfassung in drei Thesen c) Die Verfassungsmischung kann im Bereich der staatlkhen Institutionen folgende Formen annehmen: die separative Mischung, d. h. die Zuweisung bestimmter Institutionen an bestimmte gesellschaftliche Gruppen, und die interne Mischung, d. h. die Beteiligung aller gesellschaftlicher Gruppen an ein und derselben Institution; bei der zuletzt genannten Form gibt es wiederum zwei Varianten: die direkte und die indirekte Mischung, das bedeutet, daß die Gruppen entweder als solche feste Anteile erhalten, oder aber unter der Form der Gleichheit lediglich eine de-facto-Berückskhtigung finden. - Darüber hinaus bedient sich die Verfassungsmischung der verschiedensten Mittel, um zu einer Ausgewogenheit der Gruppen zu gelangen, wie z. B. eines entsprechenden Erbrechts und Bodenrechts, der Steuergesetzgebung oder der Vermögensbeteiligung.

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a) Wenn die Verfassungsmischung nicht als bloße Balance zwischen den verschiedenen sozialen Gruppen (oder gar als Gleichgewicht des Gegeneinander) betrachtet wird, steht sie in sachlichem Zusammenhang mit dem tatsächlichen Ausgleich der Gruppen, d. h. dem realen Abbau der Unterschiede zwischen diesen, und das ist letztlich die faktische Gleichheit. - Die politischen Denker des behandelten Zeitraums, die der Verfassungsmischung eine große Bedeutung beimessen, widmen sich auch diesem letzteren Ziel im Sinn einer "mittleren Verfassung", die gekennzeichnet ist durch eine große mittlere Gruppe zwischen den Extremen der armen und der reichen Klasse mit der Tendenz, möglichst die gesamte Bevölkerung zu umfassen. b) Die Verfassungsmischung ist allerdings nicht nur ein Mittel zur Überwindung der Gruppenunterschiede, das Verhältnis von Verfassungsmischung und Verfassungsmitte ist nicht das eines zeitlichen Nacheinander, sondern beides ist nebeneinander erforderlich: der Abbau der Unterschiede und die Berücksichtigung der jeweils tatsächlich bestehenden Gruppen in ihren Unterschieden: Verfassungsmischung und Verfassungsmitte.

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