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German Pages 384 Year 2008
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 147
Vergleich der politischen Theorie und der politischen Systeme des Althusius mit der EU Von
Stefan Hohberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
STEFAN HOHBERGER
Vergleich der politischen Theorie und der politischen Systeme des Althusius mit der EU
Beiträge zur Politischen Wissenschaft Band 147
Vergleich der politischen Theorie und der politischen Systeme des Althusius mit der EU
Von
Stefan Hohberger
asdfghjk Duncker & Humblot · Berlin
Das Institut für Bildungs- und Sozialwissenschaften (IBS), Abteilung Sozialwissenschaften/Philosophie der Universität Vechta hat diese Arbeit im Jahre 2006 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten # 2008 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Satz und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0421 ISBN 978-3-428-12592-0 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier ∞ entsprechend ISO 9706 *
Internet: http://www.duncker-humblot.de
Geleitwort Die Arbeit von Herrn Dr. Hohberger stellt einen äußerst originellen Versuch dar, eine Beziehung herzustellen zwischen der vor vier Jahrhunderten im alten Reich verfaßten Staatstheorie des Johannes Althusius einerseits und den Institutionen bzw. dem Aufbau und der Gestalt der Europäischen Union andererseits. Originell ist dieses Vorgehen auch deshalb, weil ja die Europäische Union insgesamt keineswegs bewußt entsprechend den Vorstellungen bzw. der Politischen Theorie dieses großen Denkers konzipiert bzw. konstruiert worden ist. Damit ist dieses Vorgehen in doppelter Hinsicht innovativ und kann auch künftige Forschung zu neuen Fragestellungen führen bzw. neue Perspektiven eröffnen. Denn durch diesen Vergleich wird einerseits deutlich, wie unglaublich „aktuell“ bzw. „modern“ Althusius heute (wieder?) ist, wie notwendig eine intensive Auseinandersetzung mit seinem Werk bleibt und welche gegenwartsbezogenen Fragestellungen aus diesem Werk ableitbar sind. Andererseits zeigt sich durch diesen Vergleich aber auch, in welch langer geistesgeschichtlicher Tradition das sich „modern“ definierende Europa steht bzw. wie – allen Modernisierungsbestrebungen zum Trotz – durchgängige Entwicklungslinien, inklusive ihrer Brüche und Widersprüchlichkeiten, erkennbar sind. Verblüffend dürfte es dabei für manchen Leser sein, daß es sich dabei keineswegs ausschließlich um die allgemeine politische Theorie des Johannes Althusius und ihre Verbindung mit der politisch-theoretischen Verortung der Europäischen Union in unserer Zeit handelt, sondern auch darum, inwieweit Übereinstimmungen – und bezeichnende Unterschiede! – selbst im Detail bestehen. All dies analysiert Herr Dr. Hohberger in beeindruckender Weise. Dabei sei einmal dahingestellt, inwieweit es sich hier um auf Sachzwänge begründete Übereinstimmungen handelt, ob also ähnliche Probleme zu unterschiedlichen Zeiten zu ähnlichen Lösungsvorschlägen führen, oder ob Althusius vielleicht mitunter tatsächlich als Orientierung diente. Jedenfalls zeigt sich auch hier wieder, wie das Studium von Klassikern nicht nur einen Gewinn an sich darstellt und dabei helfen kann, die Vergangenheit und ihre Probleme besser zu verstehen, sondern daß auch Transfers in die Gegenwart durchaus gewinnbringend werden können. Dies gilt – und auch dies zeigt der vorliegende Band in beeindruckender Weise – nicht nur für das eigentliche Thema, sondern gilt auch darüber hinaus. So wäre es vermutlich sehr hilfreich, wenn z. B. die Ausführungen über die Subsidiaritätsvorstellungen des Johannes Althusius auch von den Gestaltern unserer nationalen
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Geleitwort
Politik aufmerksam studiert würden, denn z. Z. geschieht hier zu unserer aller Schaden eher das Gegenteil von dem, was Althusius propagierte. Auch aus diesem Grunde wünsche ich dem Band eine möglichst weite Verbreitung und eine kritische Leserschaft. Vechta, 15. Juni 2007
Prof. Dr. Hermann von Laer
Vorwort Dem erlauchten und rechtskundigen Herrn JOHANNES ALTHUSIUS Doktor beider Rechte, Anwalt und Syndikus aus Emden, desgleichen meiner lieben Frau DANIELA zum Gruß (analog Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Vorwort zur ersten Auflage der Politica 1603, S. 17)
Die Werke des Althusius – deutscher Jurist und Politikwissenschaftler des ausgehenden 16. und beginnenden 17. Jahrhunderts – fanden weit weniger Beachtung als seine späteren Zeitgenossen Locke und Hobbes. Vor dem Hintergrund einer für damalige Zeiten nahezu revolutionären Staatstheorie gewann Althusius erst ab dem 20. Jahrhundert zusehends an Popularität und Beachtung. In heutigen Zeiten instabiler politischer und wirtschaftlicher Systeme sowie ethisch-religiöser Machtkämpfe stellt sich immer mehr die Frage nach einem Geiste der Wandlung und des Fortschrittes, gerade wenn sich gezeigt hat, daß bestehende oder in der Neuzeit entwickelte politische Strukturen versagt haben. Ein möglicher Weg zu neuen politischen Strukturgedanken ist der Weg zurück in die Vergangenheit mit einer Besinnung auf die Grundgedanken der politischen Theorie und der politischen Systeme. Gerade Althusius mit seinem relativ vollständigen Staats- und Rechtsverständnis und den darin verborgenen Grundgedanken einer Gesellschafts-, Staats- und Rechtssystematik kann diese Diskussion in Gang setzen und derartige Prozesse initiieren. So wurden anläßlich des 400. Jahrestages der Erstpublikation der „Politica“ des Johannes Althusius im Rahmen des Athusius-Symposions in Herborn in der Podiumsdiskussion folgende Themen behandelt: – Die drei Ebenen Nationalstaat, internationale Systeme und multikulturelle Religionen bergen derzeit ungelöste politische Probleme welche durch ein Studium der Althusius’schen Werke Ansatzpunkte für Veränderungen bringen könnten (Prof. em. Dr. Karl-Wilhelm Dahm, Institut für christliche Gesellschaftswissenschaften, Universität Münster). – Prof. Carney nahm 1963 die erste, nahezu vollständige Übersetzung der „Politica“ des Johannes Althusius ins Englische vor und ermöglichte damit erst 340 Jahre nach der Ersterscheinung den breiten Zugang der anglo-amerikanischen Politikwissenschaften zur Staatstheorie des Althusius (Prof. Dr. Frederick S. Carney, Southern Methodist University Dallas, Texas, USA).
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Vorwort
– Chile als jahrhundertelang zentralistisch regiertes Land mit zudem für eine Regierung ungünstigen geographischen Bedingungen im Umbruch zum Föderalismus könnte von den Theorien des Althusius profitieren in den Prozessen der Veränderung und vor allem des Staatsdenkens und der politischen Verantwortung der Bevölkerung (Prof. Dr. Marco Antonio Huesbe, Facultad de Derecho, Universidad Adolfo Ibanez, Vina del Mar, Chile).
Dies zeigt, daß die Theorien des Althusius durchaus in heutigen Zeiten eine relevante politische Diskussionsgrundlage sein können; auch Thomas O. Hüglins „Early Modern Concepts for a Late Modern World: Althusius on Community and Federalism“ (Waterloo 1999) sowie sein Beitrag „Taking Stock: Althusius After Four Hundred Years“ (in: Carney, F. S. / Schilling, H. / Wyduckel, D. (Hrsg.) (2004), Jurisprudenz, Politische Theorie und Politische Theologie, Berlin 2004, S. 305 – 317) nehmen Bezug auf die heutige Zeit. Es sei daher dahin gestellt, ob nachfolgende Themen im zeitgeschichtlichen Vergleich wirklich so unterschiedlich sind, als daß eine Warnung der Übertragung historischer politischer Theorien auf die Neuzeit ausgesprochen werden müßte. Folgende Problemfelder zeigen, wie ähnlich die Fragestellungen sein können: – Die Frage der Bildung politischer Einheiten im Sinne eines Staates dürfte im Spätmittelalter mit einer Vereinigung von Ständen zum Stadtstaat gegenüber einer Vereinigung von Staaten zu einem europäischen Staatenbund der EU im 20. Jahrhundert äquivalent sein. – Die politischen Auswirkungen der historischen Fehden zwischen den religiösen Anschauungen der Calvinisten und der Lutheraner oder geistlicher und weltlicher Herrscher des Mittelalters gleicht teilweise einer politisch-kriegerischen Auseinandersetzung zwischen Moslems mit dem Aufruf zum Heiligen Krieg (religiöse Herrscher) und einer politischen Vormacht- und Hegemonialstellung der westlichen Welt. – Die Frage der Veränderung des Wesens einer Gesellschaft an sich mit ihren Werten, Moralvorstellungen und ethischen Vorstellungen führte überhaupt erst zu den politischen Theorien des Althusius und hat auch in der Neuzeit mit der Veränderung hin zur freizeitorientierten Konsumgesellschaft in einer globalisierten, schnellebigen Welt mit allen Nachteilen der Entwicklung von Umweltauswirkungen, Psychopathen, Genforschung, Entwicklungsländern etc. ihre politische Brisanz nicht verloren.
Aus diesem Kontext heraus entstand der Versuch, großartige Theorien vergangener Denker in die Neuzeit zu projizieren um aus den Möglichkeiten geradliniger Philosophen Anstöße für die politische Zukunft zu erhalten und weiter zu entwickeln durch den direkten Vergleich heutiger Begriffsdefinitionen mit denen des Althusius. Nicht zuletzt wurde Johannes Althusius mit seiner „Politica Methodice Digesta“ auserwählt, weil er eine für diese Zeit vollständige Rechts- und Staatstheorie entwickelte und erstmals bei ihm der für die EU relevante Begriff der Subsidiarität im Zusammenhang mit der politischen Theorie erscheint (vgl. z. B.
Vorwort
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Wyduckel, D., Subsidiarität und Souveränität als Prinzipien globaler rechtlicher und politischer Ordnung, in: Blickle, P. / Hüglin, Th. / Wyduckel, D. (Hrsg.) (2002), Subsidiarität als rechtliches und politisches Ordnungsprinzip in Kirche, Staat und Gesellschaft, Berlin 2002, S. 551). Auch Thomas Hüglin weist darauf hin, „daß es sich lohnt im Zeichen des zunehmenden Versagens zentralisierter Konfliktregulierung auf dieses Buch zurückzugreifen“ (Hüglin, Th., Sozietaler Föderalismus, Berlin / New York 1991, S. 29); ebenso heißt es bei Carl Joachim Friedrich: „Man muß sich fragen, ob diese Vorstellung die Zukunft weltweiter politischer Organisationen vorwegnimmt. Eine bessere Welt wie die gegenwärtige wäre es wohl“ (Carl Joachim Friedrich, Johannes Althusius und sein Werk im Rahmen der Entwicklung der Theorie von der Politik, Berlin 1975, S. 126). Ich danke meinem Doktorvater Herrn Prof. von Laer für die angeregten philosophisch-politischen Zusammenkünfte sowie die sehr angenehme und unkomplizierte Zusammenarbeit. Weiterhin danke ich für alle kritischen Diskussionen in meinem universitären Umfeld sowie Prof. Nitschke und meinem Zweitgutachter Prof. Wyduckel – mit denen bei Kolloquien und sonstigen Zusammenkünften nicht nur wissenschaftliches Arbeiten sondern auch allgemeine politische und philosophische Diskussion möglich war – und für die Anregungen der Johannes-Althusius-Gesellschaft. Naila, im September 2007
Dr. rer. pol. Stefan Hohberger
Inhaltsverzeichnis 1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1 Systematik der politischen Theorie und politischen Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1.1 Analytische Philosophie und deren Instrumente . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.1.2 Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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1.2 Intention und Ziel des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2. Europäische Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.1 Die Staaten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2 Historische Entwicklung der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1 Die europäische Bewegung in der Nachkriegszeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.1 Phase 1945 – 1954 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.2 Phase 1955 – 1972 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.3 Phase 1973 – 1978 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.4 Phase 1979 – 1994. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.2.1.5 Phase 1995 – 2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3 Problemfelder der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.1 Zeitgeschichtliche Aktionsschwerpunkte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.2 Dauer und Zeitpunkt des Einigungsprozesses . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.3 Ordnungsprozeß . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.4 Ordnungsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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2.3.5 EU-Krisen: Störungen der Aktionen und Prozesse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.1 Leben und Werk des Johannes Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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Inhaltsverzeichnis 3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU . . . . . . . . . . .
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3.2.1 Die Zentralbegriffe der politischen Theorie des Althusius im Vergleich zur EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.1 Der Gemeinschaftsbegriff . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.1.1 Der Zentralbegriff der „Zusammenlebenden Gemeinschaft“ bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.1.2 Gemeinschaftstypen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
3.2.1.2 Volksvertretung und -institutionalisierung im Staat . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.2.1 Der Zentralbegriff des Beauftragungsvertrage bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
89
3.2.1.2.2 Europäisches Parlament, Rat und Kommission als EUBeauftragte. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.3 Machtbegrenzung staatlicher Autorität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
92
3.2.1.3.1 Der Zentralbegriff des Widerstandsrechtes und das Ephorensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.1.3.2 Wiederstandsrecht, Machtstruktur, Freie Wahl und Regierungsauflösung in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.2 Religion und Kultur im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 3.2.2.1 Die monarchomachische Weltanschauung und der Calvinismus . . 102 3.2.2.2 Ablösung der theokratischen durch die philosophische Staatsauffassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 3.2.2.3 Die Religion in der Staatsauffassung des Althusius und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 3.2.2.4 Die Stellung der Religion in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 3.2.2.5 Kultur in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 3.2.3 Staatsvertrag, Staatslegitimität und Staatsform . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.3.1 Der Staatsvertrag bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 3.2.3.1.1 Herrschaftsvertrag und Herrschaftsform bei Althusius 121 3.2.3.1.2 Herrscherlegitimität bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.2.3.1.3 Der Gesellschaftsvertrag zur Zeit des Althusius . . . . . . . 125 3.2.3.2 Staatsvertrag und Legitimität in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.2.3.2.1 Der Staatsvertrag in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 3.2.3.2.2 Legitimität in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 3.2.3.3 Die Staatsform bei Althusius: calvinistisch, polyarchisch, soziologisch-pluralistisch, sozialistisch und demokratisch . . . . . . . . . . . . . 131
Inhaltsverzeichnis
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3.2.3.4 Die Staats- bzw. Ordnungsform der EU im Vergleich zu Althusius 135 3.2.3.5 Herrschaft, Macht und Legitimität: Althusius und EU im Vergleich 140 3.2.4 Souveränitätstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 3.2.4.1 Souveränitätsarten, -subjekte und deren Rechte bei Althusius . . . . 143 3.2.4.1.1 Volkssouveränität und Legitimität bei Althusius . . . . . . . 143 3.2.4.1.2 Die Staatssouveränität bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 3.2.4.2 Souveränität in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 3.2.4.2.1 Äußere und innere Souveränität in der EU (Souveränitätsart) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3.2.4.2.2 Staats- und Volkssouveränität in der EU (Souveränitätsprinzip) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 3.2.4.2.3 Volks- und Staatssouveränitätsdefizit in der EU? . . . . . . 157 3.2.5 Repräsentationstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 3.2.5.1 Korporation und Repräsentation zu Zeiten Althusius’ . . . . . . . . . . . . 160 3.2.5.1.1 Die kanonistische Korporationslehre des Mittelalters . . 160 3.2.5.1.2 Der Begriff der Repräsentation bei Althusius . . . . . . . . . . 163 3.2.5.1.3 Das Repräsentationsprinzip bei Althusius . . . . . . . . . . . . . 168 3.2.5.1.4 Zusammenhang zwischen Repräsentativprinzip und Volkssouveränität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 3.2.5.2 Das Repräsentativsystem in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.2.5.2.1 Begriffsdefinition der Repräsentation . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 3.2.5.2.2 Repräsentativsystemtheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 3.2.5.2.3 Das Repräsentativsystem der EU: Althusius und EU im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 3.2.6 Rechtsstaatsprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.2.6.1 Gerechtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.2.6.1.1 Der Gerechtigkeitsbegriff bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . 184 3.2.6.1.2 Der Gerechtigkeitsbegriff in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . 185 3.2.6.2 Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 3.2.6.2.1 Naturrecht und positives Recht bei Althusius . . . . . . . . . . 187 3.2.6.2.2 Gemeinschaftsrecht („ius symbioticum“) bei Althusius 191 3.2.6.2.3 Souveränitätsrecht („ius majestatis“) bei Althusius . . . 192 3.2.6.2.4 Gewaltenteilung bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 3.2.6.2.5 Das Rechtssystem bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 3.2.6.2.6 Gemeinschaftsrecht in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 198
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Inhaltsverzeichnis 3.2.6.2.7 Gewaltenteilung in der EU im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . 199 3.2.6.2.7.1 Gewaltenteilungsformen und Stand . . . . . . . 199 3.2.6.2.7.2 Gewaltenteilungsdefizit in der EU? . . . . . . . 212 3.2.6.2.8 Das Rechtssystem der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2.8.1 Naturrecht und positives Recht in der EU 3.2.6.2.8.2 Die Rechtssystematik der EU . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2.8.3 Die Rechtsordnung der EU . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.6.2.8.4 Die Gesetzgebungsverfahren der EU . . . . . . 3.2.6.2.8.5 Die Verflechtung der Rechtssysteme der EU mit den Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . .
214 214 216 217 221 223
3.2.6.2.9 Grundrechte: Althusius und EU im Vergleich . . . . . . . . . 225 3.2.6.3 Rechtsstaat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.2.6.3.1 Die Rechtsstaatsidee bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 228 3.2.6.3.2 Rechtsstaatlichkeit in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229 3.2.7 Föderalismus, Konföderation und Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3.2.7.1 Föderalismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 3.2.7.1.1 Föderalismus bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7.1.1.1 Der Föderalismusgedanke des Mittelalters 3.2.7.1.1.2 Das souveränitätskonforme Bottom-upPrinzip des Föderalismus bei Althusius . . . 3.2.7.1.1.3 Theologischer, gesellschaftsrechtlicher sowie staats- und kirchenrechtlicher Föderalismus bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
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3.2.7.1.2 Föderalismus in der EU. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.2.7.1.2.1 Intrastaatliche föderative Organisation . . . . 3.2.7.1.2.2 Internationale föderative Organisation. . . . . 3.2.7.1.2.3 Föderalismusdefizit und -kritik in der EU
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235
236
3.2.7.1.3 Föderalismus: die EU und Althusius im Vergleich . . . . . 250 3.2.7.2 Konföderation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3.2.7.2.1 Konföderation bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 254 3.2.7.2.2 Konföderation in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3.2.7.2.2.1 Definition der Konföderation heute im Vergleich zu Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 256 3.2.7.2.2.2 Der Staatenbundgedanke der EU . . . . . . . . . . 257 3.2.7.3 Subsidiarität und Solidarität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 258 3.2.7.3.1 Historie: Subsidiarität als ursprünglich sozialethisches Prinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 259 3.2.7.3.2 Politische Definition der Subsidiarität . . . . . . . . . . . . . . . . . 262 3.2.7.3.3 Subsidiarität bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 267
Inhaltsverzeichnis
15
3.2.7.3.4 Subsidiaritätsprinzip und Übermaßverbot in der EU . . . 269 3.2.7.3.5 Subsidiaritätsdefizit in der EU? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 276 3.2.7.3.6 Subsidiarität: die EU und Althusius im Vergleich . . . . . . 277 3.2.7.3.7 Das Solidaritätsprinzip: die EU und Althusius im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 283 3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3.3.1 Integrations- und Konstitutionsmodell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 286 3.3.2 Integrationsstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 287 3.3.3 Integrationsmodelle der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 3.3.4 Das Althusius’sche Integrationsmodell im Vergleich zur EU. . . . . . . . . . . . . . 289 4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 294 4.1 Systematik und Abgrenzung des Begriffes des politischen Systems . . . . . . . . . . . . . 294 4.2 Politische Institutionen und Kräfte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 295 4.2.1 Politische Institutionen und Kräfte der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 4.2.1.1 Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 297 4.2.1.2 Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 306 4.2.1.3 Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 311 4.2.1.4 Sonstige Organe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4.2.1.4.1 Finanzorgane und -institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 312 4.2.1.4.2 Ausschüsse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 317 4.2.1.4.3 Der Konvent . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 319 4.2.1.4.4 Der Europäische Bürgerbeauftragte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 320 4.2.1.4.5 Geistliche Organe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.2.1.5 Parteien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 321 4.2.1.6 Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 323 4.2.1.6.1 Historie der EU-Verfassung mit Ratifizierungsprozeß 323 4.2.1.6.2 Politische und nationale Wertung der EU-Verfassung . . 326 4.2.1.6.3 Inhalte der EU-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.6.3.1 Definition, Werte und Ziele der EU . . . . . . . 4.2.1.6.3.2 Unionsbürgerschaft und Grundrechte . . . . . 4.2.1.6.3.3 Zuständigkeiten der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.6.3.4 Organe der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1.6.3.5 Ausübung der Zuständigkeiten und Durchführung der Maßnahmen der EU . . . . . . . . . .
334 336 336 337 337 337
16
Inhaltsverzeichnis 4.2.1.6.3.6 4.2.1.6.3.7 4.2.1.6.3.8 4.2.1.6.3.9 4.2.1.6.3.10
Demokratisches Leben der EU . . . . . . . . . . . Finanzen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Politiken der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Zugehörigkeit zur EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Charta der Grundrechte der EU . . . . . . . . . .
338 338 339 339 340
4.2.2 Politische Institutionen und Kräfte bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 4.2.2.1 Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 341 4.2.2.2 Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 344 4.2.2.3 Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 348 4.2.2.4 Sonstige Organe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 4.2.2.4.1 Weltliche Organe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 351 4.2.2.4.2 Geistliche Organe und Institutionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 4.2.2.5 Konsoziationen: Parteien der EU und Konsoziationen des Althusius im Vergleich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 355 4.2.2.6 Staatsverfassung: die EU und Althusius im Vergleich . . . . . . . . . . . . 358 4.2.2.6.1
Definition und Ziele des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 359
4.2.2.6.2
Bürgerschaft und Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
4.2.2.6.3
Zuständigkeiten des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
4.2.2.6.4
Organe des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 360
4.2.2.6.5
Ausübung der Zuständigkeiten und Durchführung der Maßnahmen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
4.2.2.6.6
Demokratisches Leben im Staat . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 361
4.2.2.6.7
Finanzen und Steuern des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 362
4.2.2.6.8
Politiken des Staates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 363
4.2.2.6.9
Zugehörigkeit zu einer Konföderation . . . . . . . . . . . . . . . 365
4.2.2.6.10 Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 365 4.2.2.6.11 Zusammenfassung des Vergleiches . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366 5. Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.1 Intention und Ziel des vorliegenden Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 367 5.2 Inhalt und Aussagen des Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 368 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 370 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 381
Tabellenverzeichnis Tabelle 1:
Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1945 und 1954 . . . . . . . . . . . . .
39
Tabelle 2:
Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1955 und 1972 . . . . . . . . . . . . .
42
Tabelle 3:
Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1973 und 1978 . . . . . . . . . . . . .
43
Tabelle 4:
Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1979 und 1994 . . . . . . . . . . . . .
45
Tabelle 5:
Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1995 und 2005. . . . . . . . . . . . .
49
Tabelle 6:
Gemeinschaftsbegriff in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
81
Tabelle 7:
Staat und Kirche bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107
Tabelle 8:
Staatsformkriterien in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139
Tabelle 9:
Herrschaft, Macht und Legitimität in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . 141
Tabelle 10: Systematik der Korporatismustheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 Tabelle 11: Repräsentativansatz in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 Tabelle 12: Gewaltenteilungsziel und -ansatz in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . 202 Tabelle 13: Gewaltentemporalität in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 Tabelle 14: Föderative Teilungslehre in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 Tabelle 15: Dezisive Teilungslehre in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 206 Tabelle 16: Soziale Teilungslehre in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Tabelle 17: Pluralistische Teilungslehre in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Tabelle 18: Konstitutionelle Teilungslehre in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . 211 Tabelle 19: Teilungslehrenansatz in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 212 Tabelle 20: Verhältnis Anzahl Wähler zu Anzahl EP-Abgeordneter 1994 . . . . . . . . . . . . . . 214 Tabelle 21: Föderalismusmodell bei Althusius und in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 252 Tabelle 22: Föderalistische Elemente bei Althusius und in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 253 Tabelle 23: Basisgedanken der Subsidiarität in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . 278
18
Tabellenverzeichnis
Tabelle 24: Subsidiarität in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 284 Tabelle 25: Integrationstheorieelemente in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . 290 Tabelle 26: Nutzwertanalyse für den Integrationsgrad in der EU und bei Althusius . . . . . 293 Tabelle 27: Stimmengewichtung für die Beschlußfassung in der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 300 Tabelle 28: Historie der EU-Verfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 324 Tabelle 29: EU-Verfassungs-Ratifizierungsaktionen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Tabelle 30: Parteien und Konsoziationen in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . 356 Tabelle 31: Staatsverfassung in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 358 Tabelle 32: Verfassungselemente in der EU und bei Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 366
Abbildungsverzeichnis Abbildung 1: Systematik der deskriptiven Analyse dieses Werkes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
26
Abbildung 2: Beispieltabelle für den Vergleich der EU mit Althusius . . . . . . . . . . . . . . . . . .
27
Abbildung 3: Europäische Staaten und EU-Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
33
Abbildung 4: Typen einer Wirtschaftsverfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
59
Abbildung 5: Entwicklungsphasen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
63
Abbildung 6: Institutionen der EU . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 296 Abbildung 7: Teilorgane des Ministerrates . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 302 Abbildung 8: Umfrageergebnis Ratifizierungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 327 Abbildung 9: Verlauf der Debatte um die Zustimmung zur EU-Verfassung in Frankreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 331
Abkürzungsverzeichnis AdR
Ausschuß der Regionen
Anm. d.Verf.
Anmerkung des Verfassers
AStV
Ausschuß der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten
BIP
Bruttoinlandsprodukt
CEEP
Europäische Zentrale der öffentlichen Wirtschaft
Coreper
Ausschuß der ständigen Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten (Comité des représentantes permanents)
d. h.
das heißt
EAG
Europäische Atomgemeinschaft (auch EURATOM)
EAGFL
Europäischer Ausrichtungs- und Garantiefonds für die Landwirtschaft
EEA
Einheitliche Europäische Akte
EEF
Europäischer Entwicklungsfonds
EFTA
Europäische Freihandelszone
EFRE
Europäischer Fonds für regionale Entwicklung
EGB
Europäischer Gewerkschaftsbund
EGKS
Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl
EGV
Vertrag zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft
EIB
Europäische Investitionsbank
EP
Europäisches Parlament
EPG
Europäische politische Gemeinschaft
EPZ
Europäische politische Zusammenarbeit
ESF
Europäischer Sozialfonds
EU
Europäische Union
EuGH
Europäischer Gerichtshof
EuRH
Europäischer Rechnungshof
EUV
Vertrag über die Europäische Union (auch „Maastricht-Vertrag“)
EVG
Europäische Verteidigungsgemeinschaft
EWG
Europäische Wirtschaftsgemeinschaft
EWI
Europäisches Währungsinstitut
EWR
Europäischer Wirtschaftsraum
EWS
Europäisches Währungssystem
ESZB
Europäisches System der Zentralbanken
EZB
Europäische Zentralbank
Abkürzungsverzeichnis
21
FIAF
Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei
FusV
Vertrag zur Einsetzung eines gemeinsamen Rates und einer gemeinsamen Kommission der Europäischen Gemeinschaften (Fusionsvertrag) vom 08. 04. 1965
GAP
Gemeinsame Agrarpolitik
GASP
Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik
GATT
General Agreement on Tariffs and Trade
Griech.
Griechisch
i.d.R.
in der Regel
i.e.S.
im engeren Sinne
ICAO
International Civil Aviation Organization
Kap.
Kapitel
KSZE
Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa
Lat.
Lateinisch
NATO
North Atlantic Treaty Organisation
OECD
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung
OEEC
Organisation für Europäische wirtschaftliche Zusammenarbeit
u.ä.
und ähnliches
UNICE
Union der Industrien der Europäischen Gemeinschaft
UNO
United Nations Organization
vgl.
vergleiche
WEU
WestEuropäische Union
WSA
Wirtschafts- und Sozialausschuß der EU
WTO
Welthandelsorganisation
WU
Währungsunion
WU
Westunion
WWU
Wirtschafts- und Währungsunion
ZJI
Zusammenarbeit in der Justiz- und Innenpolitik
1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme 1.1 Systematik der politischen Theorie und politischen Systeme Eine trennscharfe Trennung der Systematik der politischen Theorie und der politischen Systeme wird in vielen Publikationen nicht vorgenommen, was nicht zuletzt an den engen Verbindungen und Überschneidungen der beiden Politikbereiche liegt und daher auch nicht immer vollständig möglich ist. Im folgenden wird von der nachfolgenden Systematik ausgegangen: – Politische Theorie als politische Philosophie mit normativen, politischen Integrations- und Ordnungsmodellen sowie Generalisierung empirisch überprüfbarer Aussagen hinsichtlich politischer Zusammenhänge in folgender Gliederung:
– Staat, Kirche und Volk mit Einbindung der politischen, theologischen und soziologischen Kultur, – Herrschaft und Macht, – Souveränität und Repräsentation, – Staatsform, -ordnung und Rechtsmodell. – Politische Systeme (vgl. auch die näheren Ausführungen zur Systematik und Abgrenzung des Begriffes des politischen Systems in Kap. 4.1) als vergleichende, politische Systemlehre und -analyse von Prozeßfunktionen, Systemfunktionen und Policyfunktionen in folgender Gliederung
– politische Institutionen, – politische Prozesse, – Inhalte politischer Entscheidungen. Der nachfolgende Vergleich zwischen der politischen Theorie des Johannes Althusius und der der EU zielt auf obige Inhalte ab. In der politischen Theorie werden theoretische politische Elemente wie eben die Souveränität oder Repräsentation des Althusius mit der heutigen Ausprägung in der EU verglichen, während der politische Systemvergleich Organe und Institutionen beinhaltet.
24
1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme
1.1.1 Analytische Philosophie und deren Instrumente Der Begriff der Analytischen Philosophie bezieht sich auf eine philosophische Tradition, deren Anfänge bei Gottlob Frege (1848 – 1925) und Ludwig Wittgenstein (1889 – 1951) zu finden sind und deren Explizierung vor allem die beiden britischen Philosophen Bertrand Russell (1872 – 1970) und George Edward Moore (1873 – 1958) geleistet haben. Die Anfänge analytischer Philosophie findet man in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts z B. bei Bernard Bolzano (1781 – 1848), Franz Brentano (1838 – 1917) oder Alexius Meinong (1853 – 1920). Der ursprüngliche Ansatz der Analytischen Philosophie in Freges Werk „Begriffsschrift“ von 1879 dreht sich um die Sprache als Werkzeug und Medium der Gedanken, deren Verwirrungen er zum großen Teil an den strukturell bedingten Unklarheiten der allgemeinen Sprache festmacht. Er versuchte die Entwicklung einer Idealsprache, welche von allen Unklarheiten und Verwirrungen befreit sein soll und in der sich wissenschaftliche Erkenntnisse in präziser Klarheit formulieren lassen sollten sowie zwischen Gesprächspartnern keinerlei Unklarheit mehr bestehen könnte1. In vorliegendem Werk werden die beiden Instrumente der deskriptiven Analyse sowie der Vergleichsmethode verwendet. Je nach dem Typ einer Untersuchung kann man folgende Analysearten unterscheiden2: – Hypothesentestende Analyse: die Hypothese enthält bereits explizite Behauptungen über die Struktur des empirischen Untersuchungsgegenstandes. Auch die Begriffe sind in der Hypothese schon enthalten. Diese Begriffe müssen auf ihre Bedeutung hin analysiert werden. – Deskriptive Untersuchung:
1. Die empirische Struktur des Realitätsausschnitts wird untersucht. 2. Aspekte (= Dimensionen) werden ausgefiltert, die bedeutsam sind. Dieser Arbeitsabschnitt heißt „dimensionale Analyse“. 3. „Begriffe“ müssen ausgewählt werden, die den Untersuchungsgegenstand abbilden und kommunaktiv vermitteln können. Bei der empirischen Überprüfung einer Theorie enthalten die zu testenden Hypothesen bereits eine Konzeptspezifikation, d. h. Behauptungen über die Struktur des Untersuchungsgegenstandes wurden bereits getroffen. Bei der hypothesentestenden Forschung muß der Forscher als erstes die verwendeten Begriffe analysieren, d. h. die verwendeten Begriffe mit konkreten Aspekten der Wirklichkeit in Beziehung setzen. Innerhalb der Semantischen Analyse wird eine Rekonstruktion der semantischen Regeln der verwendeten Begriffe und die „empirische Interpretation“ von theoreVgl. http: // analytische_philosophie.know-library.net. Vgl. Kromrey, Helmut: Empirische Sozialforschung: 3. Kapitel, Die empirische „Übersetzung“ des Forschungsproblems; 6. Auflage 12 / 1994. 1 2
1.1 Systematik der politischen Theorie und politischen Systeme
25
tischen Begriffen vorgenommen. In beiden Forschungstypen (Diagnose und Hypothesentest) wird die empirische Wirklichkeit mit Begriffen verknüpft. Dabei ist die Deskriptive Analyse ein Instrument der dimensionalen Analyse (welche Teilaspekte sollen untersucht werden).
1.1.2 Gang der Untersuchung Die Arbeit geht der Frage nach, ob eine Übertragung der Elemente der politischen Theorie des Johannes Althusius auf die der EU möglich ist und ob aus dem Althusius’schen Ansätzen Erkenntnisse für die Fortentwicklung der europäischen Strukturen gewonnen werden können; weiterhin werden im politischen System die Organe bei Althusius und der EU verglichen. In vorliegendem Werk soll stringent einem systematisch-analytischen Vergleichsansatz gefolgt werden; methodisch wird die deskriptive Analyse zusammen mit der vergleichenden Methode angewandt. Dazu werden folgende Elemente klassifiziert: – Systematik des Werkes von Johannes Althusius in bezug auf die politische Theorie, – Systematik der EU in bezug auf die politische Theorie, – Systematik des Werkes von Johannes Althusius in bezug auf das politische System, – Systematik der EU in bezug auf das politische System, – Sonderelemente bzw. -problematiken wie z. B. die Analyse eines möglichen Demokratiedefizites in der EU.
Innerhalb des systematisch-analytischen Ansatzes werden modelltheoretische und definitorische Ansätze verwendet, um die Aussagen über die jeweiligen politischen Ansätze der EU und des Johannes Althusius wissenschaftlich zu beweisen. Es wird zunächst das jeweilige politische Element des Althusius losgelöst und direkt aus dessen Werk unter den Gesichtspunkten der oben angegebenen Systematik analysiert, um sodann den heutigen Stand des Elementes unter bewußter Verwendung von Lexika- und Duden-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zu setzen. Dieser Stand wird auf die EU übertragen und gleichzeitig in die Betrachtungsweise des Johannes Althusius vergleichend hinein interpretiert, nicht zuletzt um weitergehende Erkenntnisse für die EU erreichen zu können. Dabei muß bewußt sein, daß die Interpretation aus heutiger Sicht mit den heutigen Definitionen, Gliederungen und Wissensständen erfolgt und nicht nur die reduzierte Sicht des Mittelalters verwendet wird. Insofern mag angedeutet werden, daß die vergleichende Analyse aus der Sicht heutiger politischer Theorie entstand und keinesfalls eine überzogene Hineininterpretation politischer Elemente aus heutiger
26
1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme
Sicht in die Theorie des Althusius erfolgen sollte. Systematische Vergleichstabellen am Ende der Behandlung politischer Elemente wie z. B. des Föderalismus sollen die direkte Gegenüberstellung zwischen EU und Althusius ermöglichen und als Zusammenfassung des Vergleiches dienen.
„Überbau“: Setzen der Prämissen heutige Lexika-Definition
Politisches Element / Organ bei Althusius
Begriffsinhalt 1 Begriffsinhalt 2 usw.
Politisches Element / Organ in der EU
Begriffsinhalt 1 Begriffsinhalt 2 usw.
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Abbildung 1: Systematik der deskriptiven Analyse dieses Werkes
Nicht zuletzt soll die zugegebenermaßen gerne unterschätzte Methodik der Politikforschung der deskriptiven Analyse als geordnete Erfassung gesellschaftlichempirischer Sachverhalte3 aus den Beschreibungen der EU oder bei Althusius genutzt werden, um diese dann der theoretischen Reflexion zuzuführen durch Einbindung und Klassifizierung in theoretische Basiselemente der politischen Theorie wie z. B. die Souveränitätstheorie. Innerhalb der deskriptiven Analyse wurde als weitere Methodik mit der Gegenüberstellung von EU und Althusius die vergleichende Methode4 (z. B. die vergleichende Regierungslehre) in den Dimensionen Objekte (z. B. Organe) sowie Zeit, weniger aufgrund des historischen Kontextes der Raum gewählt. In jeweils zusammenfassenden, direkt gegenüberstellenden Vergleichstabellen am Ende des jeweiligen Abschnittes soll die Methode visualisiert werden:
3 4
Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 2, S. 76. Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 2, S. 512.
1.1 Systematik der politischen Theorie und politischen Systeme Repräsentativansatz
EU
Althusius
Phänomenologisch
& ✓
& ✓
Transformatorisch
& ✗ , da Existenz von Parteien
& ✓ , vom Grundsatz her
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Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Abbildung 2: Beispieltabelle für den Vergleich der EU mit Althusius
In Spalte 1 werden die Elemente der politischen Theorie, welche verglichen werden sollen, kategorisiert und beschrieben. Sodann wird in Spalte 2 die Ausprägung in der EU und in Spalte 3 die Ausprägung bei Althusius klassifiziert. Die Nichtexistenz des Elementes wird mit & ✗ gekennzeichnet, das Vorhandensein mit & ✓ , wobei jeweilige Erläuterungen die Existenz bzw. Nichtexistenz einschränken oder beschreiben. Die Vorgehensweise des Strukturvergleiches zwischen Althusius und der EU ist folgende: – Im Bereich der politischen Theorie (vgl. Kapitel 2.) werden die Elemente der politischen Theorie – die da sind Gemeinschaft, Theologie, Kultur, Staatsstruktur, Souveränität, Repräsentation, Recht, Föderalismus, Konföderation und Subsidiarität – aus der politischen Theorie des Althusius her analysiert und sodann mit den heutigen Begriffen innerhalb der EU verglichen. Aus dem Vergleich wird deutlich, daß die Analyse des Althusius Strukturdefizite der EU ableiten läßt und schon deshalb Althusius modelltheoretisch wertvoll ist. – Im Bereich der politischen Systeme ist die Vorgehensweise eine umgekehrte: die Elemente der politischen Institutionen Legislative, Exekutive, Judikative, Sonstige Organe, Parteien und Verfassung werden anhand der EU analysiert und sodann mit denen bei Althusius verglichen.
Erstaunlich ist, daß dieser Vergleich durchgängig erfolgreich durchgeführt werden kann und systematisch-tabellarisiert darstellbar ist. Dies ist jedoch der Zugrundelegung der politischen Elemente zuzuschreiben; ein derartiger Vergleich auf detaillierterer Ebene wie z. B. der Vergleich des Wortlautes eines bestimmten Artikels der EU-Verfassung mit dem Komplementärartikel aus Althusius’ politischer Theorie wäre nur schwerlich möglich gewesen. Dies zeigt jedoch, daß die Grundelemente der politischen Theorie und des politischen Systems des Althusius durchaus mit denen der EU vergleichbar sind und daß erstaunliche Übereinstimmungen feststellbar sind, wobei eher in der Ausprägung und Interpretation der einzelnen Elemente, nicht jedoch in deren Existenz Unterschiede feststellbar sind. Insofern ist klar erkennbar, daß es ein Europa gab und gibt und dieses in eine jahrhundertelange Tradition aber auch Lehre eingebettet ist. Ausgehend von den Ursprüngen von Staatengebilden und Staatenbindungen kann eine vergleichende Rekursion auf historisch-philosophische (politische Theo-
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1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme
rien) sowie auf empirische Ansätze (Staatsstruktur- und Verfassungsvergleich) hilfreich für die Analyse und die Weiterentwicklung der Europäischen Union sein. Es gilt, festzustellen, welche Elemente einer Staatsstruktur vorhanden sein sollten, um eine Vereinigung von ehemals souveränen Staaten durch eine optimale Staatsbildung vornehmen. Die Gliederung und damit der Gang der Untersuchung des folgenden Werkes ist: 1. Beschreibung der EU-Struktur, 2. Analyse der Entwicklung und der Problemfelder der EU, um im Nachgang Lösungsansätze und Vergleiche zu historischen politischen Theorien zu finden, 3. Vergleich der politischen Theorie des Johannes Althusius mit der der EU durch – Strukturierung und Darstellung der politischen Theorie des Johannes Althusius: alle wesentlichen Elemente der politischen Theorie wie z. B. der Föderalismus werden analysiert, – Strukturierung und Darstellung der politischen Theorie der EU: die bei Johannes Althusius dargestellten Elemente der politischen Theorie wie z. B. der Föderalismus werden im direkten Vergleich beschrieben. Folgende Elemente werden behandelt: – Zentralbegriffe „Gemeinschaft“, „Beauftragungsvertrag“, „Wiederstandsrecht“, – Religion und Kultur, – Staatsvertrag, Staatslegitimität und Staatsform, – Souveränitätstheorie, – Repräsentationstheorie, – Rechtsstaatsprinzip, – Föderalismus, Konföderation und Subsidiarität, – Integrationsmodelle der EU. 4. Vergleich des politischen Systems des Johannes Althusius mit dem der EU: – Strukturierung und Darstellung des politischen Systems des Johannes Althusius: die Elemente der Organe und der Verfassung des politischen Systems werden analysiert. – Strukturierung und Darstellung des politischen Systems der EU: die bei Johannes Althusius dargestellten Elemente des politischen Systems werden im direkten Vergleich beschrieben. Folgende Elemente werden behandelt: – Legislative, – Exekutive,
1.2 Intention und Ziel des Werkes
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– Judikative, – Sonstige Organe und Institutionen wie z. B. der Konvent, – Parteien, – Verfassung. Zudem werden folgende wichtige Informationen im Zusammenhang mit obiger Analyse erarbeitet: – Vita des Johannes Althusius, – Ableitung von EU-Defiziten in der politischen Theorie sowie im politischen System, – Historie der Verfassungsgebung der EU und Krisen der EU.
1.2 Intention und Ziel des Werkes Der Vergleich zweier politischer Konstrukte – zudem das eine theoretisch formuliert und das andere praktisch umgesetzt ist –, welche 400 Jahre auseinander liegen, mag nicht auf den ersten Blick sinnhaft erscheinen. Bei näherer Analyse stellt man jedoch fest, daß die politischen Elemente in der Frühen Neuzeit dieselben waren wie jetzt. Dies gilt ebenso für politische Systeme und deren Konstitution in Organen, gleichwohl diese Organe natürlich sehr unterschiedlich ausgestaltet sind. Es stellt sich bei dieser Analyse nicht die Frage, ob die EU nach dem Vorbild der politischen Theorie des Althusius konzipiert wurde – man bedenke, daß Althusius zum einen wenig beachtet und zum zweiten sein Werk „Politica“ erst in 2002 ins Deutsche übersetzt wurde – sondern vielmehr, welche Kenntnisse über politische Theorie und politische Systeme damals im Vergleich zu heute vorhanden waren und welche Folgerungen man aus historischen Theorien vor dem Hintergrund der Problematiken und auch des Scheiterns mancher heutiger politischer Ansätze zu schließen sind, ja sogar, was zu lernen wäre aus den philosophisch-politischen Ansätzen der Vergangenheit. Die EU kam und kommt immer wieder in die Kritik der politischen Diskussion, was auch am Werdegang dieses politischen Strukturgebildes feststellbar ist: Immer wieder gerät die EU in Stagnationsphasen oder Krisen. Diese sind ganz unterschiedlicher Art und reichen von der „innen“-politischen (Zentralisierungsbestreben) zur außenpolitischen (EU-Erweiterung) über die gesellschaftliche (Türkeibeitritt) und finanzwirtschaftlichen (Haushaltsstreit) bis hin zur strukturellen (Verfassungsgebung) Unstimmigkeit. Insofern war und ist der Integrationsweg ein steiniger und nicht einfacher. Der Gedanke der systematischen politischen Strukturierung von Individuen und Gesellschaften wurde bereits in der Antike ausgiebig diskutiert. Insofern ist der
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1. Leitfaden der politischen Theorie und politischen Systeme
Grundgedanke eigentlich Jahrtausende alt. Daher liegt die Fragestellung nahe, inwiefern die philosophisch-politischen Gedanken der Vergangenheit genutzt werden können für die Gestaltung der Zukunft. Dabei ist jedem bewußt, daß sich die Strukturen und Gesellschaften seit dieser Zeit massiv verändert haben und die Gültigkeit der Aussagen dieser Zeit kritisch für die Anwendbarkeit auf die Gegenwart gesehen werden müssen. Dennoch wurde mit diesem Werk der Versuch unternommen, Gedankengut aus dem Spätmittelalter zu analysieren und dessen Gehalt mit dem der Gegenwart zu vergleichen. Weshalb wurde gerade Johannes Althusius dafür gewählt, eine politische Theorie der Vergangenheit mit den Strukturen der EU der Gegenwart zu vergleichen? Mehrere Gründe waren dafür ausschlaggebend: – Althusius war der erste Politikwissenschaftler, welcher den Subsidiaritätsbegriff in rein politischem Kontext gebrauchte; in der EU ist das Subsidiaritätsprinzip ein tragendes Strukturmerkmal. – Althusius war Politikwissenschaftler, Philosoph und Jurist zugleich und demnach in der Lage ein interdisziplinäres politisch-sozial-rechtliches Szenario aufzustellen; die EU ist politischer Körper, vereint schon durch seine räumliche Ausdehnung unterschiedliche soziale Gesellschaften und wird ausschließlich durch Rechtsstrukturen institutionalisiert. – Sowohl Althusius’ Politica als auch die Dicaeologica als vollständige politische bzw. juristische Lehrbücher sind zusammenhängend, in sich konsistent und aus seiner Sicht modern und revolutionär hinsichtlich der Befugnisse der Bürger gegenüber dem Herrscher. Insofern liegt der Vergleich mit den konsistenten EUStrukturen auf Basis einer Demokratie nahe. – Althusius war einer der ersten Politikwissenschaftler – noch vor dem eigentlichen Vater der Gewaltenteilung Montesquieu – welcher heute noch gültige und anerkannte politische demokratische Mechanismen und Verfahren in seiner politischen Theorie verwendet. – Althusius beschreibt bestimmte gesellschaftsrelevante und soziale Mechanismen, welche er als staatsnotwendig deklariert. Diese Mechanismen sind heute – und gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit – aus dem Blickpunkt der gesellschaftspolitischen Diskussion geraten und könnten helfen, ein neues Gesellschaftsverständnis zu implementieren.
Das Werk ist ein Strukturvergleich der politischen Theorie sowie der politischen Systeme. Verglichen werden dabei die theoretischen Ansätze des Althusius – und somit ein imaginärer, idealpolitischer Zustand einer Struktur – mit der empirisch nachweisbaren Struktur der EU. Es wurde bewußt nicht der Vergleich der tatsächlichen politischen Strukturen des Spätmittelalters – wobei klar ist, daß Althusius die Strukturen des damaligen Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation vor Augen hat, als er seine Politica geschrieben hat – mit denen der EU der Gegenwart angestellt, da
1.2 Intention und Ziel des Werkes
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– die revolutionär-modernen Ansätze von Althusius wie z. B. die Gewaltenteilung nicht tatsächlich im politischen System des Spätmittelalters vorhanden waren und – supranationale politische Zusammenschlüsse im Spätmittelalter sicher nicht im Fokus der politischen Bemühungen standen, die politische Theorie jedoch aufgrund ihres Abstraktionsgrades gerade diesen Vergleich zuläßt und eine Übertragung des politischen Systems des Althusius auf die EU zuläßt.
Ableitbar aus der Theorie des Althusius ist auch, dadurch daß Althusius einen Idealzustand politischer Strukturen beschreibt, daß bei genauer Betrachtung aus der vergleichenden Analyse heraus Defizite im politischen System der EU feststellbar werden. Diese Defizite – Volks- und Staatssouveränitätsdefizit, Föderalismusdefizit und Subsidiaritätsdefizit – werden explizit in eigenen Kapiteln beschrieben; dabei ist auffällig, daß diese aus diesem Systemvergleich klar herauszuarbeitenden Defizite auch in der öffentlichen politischen Diskussion stehen und somit gegenständlich sind.
2. Europäische Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme 2.1 Die Staaten der EU Der Versuch des Zusammenschlusses des geographischen Gebietes „Europa“ ist Jahrhunderte alt und wurde in vielfältigen Konstruktionen vom freiwilligen und friedlichen Zusammenschluß durch Organisationen über den Völkerbund bis hin zum Modell der „Vereinigten Staaten von Europa“ durch die Paneuropäische Bewegung vielfach unternommen. Der Kern des europäischen Zusammenschlusses lag letztendlich nach dem zweiten Weltkrieg im Jahre 1952 mit dem Inkrafttreten des EGKS-Vertrages bei den sechs Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Belgien, Italien, Niederlande und Luxemburg (EU-6)1. Die Motivation dieser Staaten hatten nach weitgehend übereinstimmender Einschätzung unterschiedliche Ausgangspunkte2: – Deutschland Für Deutschland war nach dem verlorenen Zweiten Weltkrieg der Rückkehr auf die politische Aktionsbühne sowie der wirtschaftliche Wiederaufbau entscheidend. – Frankreich Für Frankreich stand nach dem historisch bedingten angespannten politischen Verhältnis zu Deutschland die Friedenssicherung und auch der Ausbau der Industrie zusammen mit der Stabilisierung der Landwirtschaft im Vordergrund. – Belgien Belgien war als Exportland mit großem Fokus auf die Kohle- und Stahlindustrie an einer wirtschaftlichen Verflechtung und den damit verbundenen Marktchancen interessiert. – Italien Italien wollte durch einen Zusammenschluß seine eigenen Industrialisierungsbestrebungen voran treiben unter Zuhilfenahme möglicher EG-Fördermittel mit dem Ziel des Abbaus der Arbeitslosigkeit.
1 2
Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 9. Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 15 f.
2.1 Die Staaten der EU
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Abbildung 3: Europäische Staaten und EU-Mitgliedstaaten
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2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
– Niederlande Ebenso wie Italien wollten die Niederlande ihre Industrialisierung voran treiben und sahen ihre Bedeutung als Frachtführer mit großen Häfen und der dazu gehörenden Infrastruktur. Auch die Sicherung der Märkte für die Landwirtschaft und die Friedenssicherung waren Motive. – Luxemburg Luxemburg als kleinster Staat inmitten der rivalisierenden größeren Staaten konnte die Sicherung seiner politischen, wirtschaftlichen und sozialen Interessen dadurch verfolgen.
Mit dem EGKS-Vertrag 1951 und der Gründung der EWG 1957 ergaben sich wirtschaftliche und politische Auswirkungen auf alle anderen europäischen Staaten, für welche es in der Folgezeit galt, ihre Interessen mit denen der EU zu verbinden, da die Versuche der Schaffung eines Gegenpols – wie z. B. die Gründung der EFTA3 durch Großbritannien, Norwegen, Schweden, Dänemark, Österreich, Portugal, Island und Schweiz – scheiterten. 1972 wechselten Großbritannien und Dänemark von der EFTA in die EWG. Damit begann die EU zu wachsen durch den Beitritt verschiedener Staaten, so 1973 Großbritannien, Irland und Dänemark (Norderweiterung; EU-9), 1981 Griechenland, 1986 Spanien und Portugal (Süderweiterung; EU-12) sowie 1994 Österreich, Finnland und Schweden (EU-15), am 01. 05. 2004 Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Slowakei, Tschechien, Slowenien, Ungarn und Zypern (Osterweiterung; EU-25) sowie am 01. 01. 2007 Rumänien und Bulgarien (EU-27)4. Der Beitritt weiterer Mitgliedstaaten führt gleichsam zu Chancen wie z.B. weitere Märkte für Wirtschaftswachstum aber auch zu Risiken wie zunehmende Komplexität des EU-Gebildes oder die Frage der Homogenität der Gesellschaft im Falle des Türkei-Beitrittes (vgl. zu diesen Problematiken auch Kapitel 2.2.1.5 und 2.3.1).
2.2 Historische Entwicklung der EU Der Gedanke der Manifestierung des Zusammenlebens einzelner Individuen in der Gesellschaft und deren Organisation als Staat ist ebenso alt wie die philosophischen Wissenschaften selbst. Schon Platon (um 427 – 347 v. Chr.) beschrieb das Zusammenleben im Staat unter den Staatsformen Wächterstaat 5 und Philosophenstaat6 um sodann den Staatenverfall durch die Beschreibung der Staatsfor3 Die EFTA als Freihandelszone wurde parallel 1957 als Gegenstück zur Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft EWG gegründet, mit dem Ziel der Wirtschaftsförderung durch Zusammenschluß internationaler Märkte. 4 Vgl. www.europa-digital.de / laender; Stand Januar 2007. 5 Vgl. Platon (1982), S. 147 ff. 6 Vgl. Platon (1982), S. 274 ff.
2.2 Historische Entwicklung der EU
35
men Timokratie, Oligarchie, Demokratie und Tyrannis darzustellen7. Die Römer schufen ein Weltreich, welches nach den Ordnungsbegriffen Gesetz und Ordnung8 konzipiert war. Ciceros (geb. 106 v. Chr.) Staatsidee war begründet auf der Zusammenführung der patriotischen, loyalen Bürger Roms innerhalb der verschiedenen Stände zu einer gerechten und menschenwürdigen Ordnung9, welche durch vernünftige Planung entsteht10. Er beschrieb vergleichend in seinem Werk „Der Staat“ die drei Staatsformen Demokratie, Aristokratie und Monarchie um schließlich die Mischverfassung als ideale Staatsform zu finden11. Aristoteles (384 – 322) bezeichnet in seiner „Politika“ die Familie als Ursprung des Staates, welcher Endzweck der Gemeinschaften ist und sich auf eine Ordnung beruft, welche durch eine politische Gemeinschaft hervorgebracht wird12. Augustinus (354 – 430) erkannte die Relationen zwischen dem Individuum, dem Haus, der Gemeinde, dem Staat und der Welt als Gliederung von der kleinsten bis zur größten Einheit der Gesellschaft. Der Zusammenschluß von Individuen als Bürgerschaft ist nach Augustinus’ „Vom Gottesstaat“ notwendig, um ein glückseliges Leben in Frieden zu verbringen. Gesellschaftliches Ziel ist in der gesamten Antike die Vereinigung von Individuen und Gesellschaftsgruppen zu immer größeren Einheiten, um das Einzel- und damit auch das Gemeinwohl – Frieden, Freiheit, Glück und Wohlstand – zu sichern. Der geographische Begriff „Europa“ – welcher wohl von dem Historiker Herodot (484 – 425 v. Chr.) manifestiert wurde – wurde auch bereits von den Griechen und Römern verwendet13: – „Die Völker in den kalten Landstrichen und in Europa sind zwar mutig, besitzen aber wenig geistige und künstlerische Anlagen. . .“ (Aristoteles, Politik, 7. Buch, ca. 323 v. Chr.). – „. . . daß in Europa sehr viele Haustiere aufgezogen werden und daß es wenige wilde Tiere gibt, so haben wir eine allgemeine Vorstellung von der Beschaffenheit dieses Kontinents vorgelegt.“ (Strabon, Geographia, ca. 10 n.Chr.).
Die Griechen haben zunächst ihr Festland als Europa verstanden, welches vom Land der Barbaren draußen abzugrenzen ist. Die Nordgrenze wurde sodann gemäß den Erkundungs- und Eroberungsfahrten weiter verschoben, die Westgrenze waren die Säulen des Herkules, die Ostgrenze war unsicher, die Landstriche zwischen dem Schwarzen Meer und dem Kaspischen Meer werden als Grenzraum angegeben14. Vgl. Platon (1982), S. 366 ff. Welche heute nach konstitutive Elemente politischer Strukturen sind, insbesondere im angelsächsischen Raum mit den Begriffen „law and order“. 9 Vgl. Cicero, M. T. (1999), S. 286. 10 Vgl. Cicero, M. T. (1999), S. 57. 11 Vgl. Cicero, M. T. (1999), S. 59 ff. 12 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 29 ff. 13 Zitiert aus: Thiede, C. P. (2000), S. 16 und 17; vgl auch dessen nähere Ausführungen S. 16 ff. 14 Vgl. Weidenfeld, W. (1985a), S. 17. 7 8
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2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
In Europa gibt es den Gedanken des Zusammenschlusses der Völker und der Staatsgebilde seit langem15: – 8. / 9. Jahrhundert16: Das Reich Karls des Großen (742 – 814) verstand sich als Europa; es konnte jedoch durch die schwache kaiserliche Zentralgewalt sowie die nachfolgenden fränkischen Staaten nicht aufrecht erhalten werden. – 13. Jahrhundert: Der französische Rechtsgelehrte Pierre Dubris veröffentlicht einen Verfassungsentwurf für Europa. – 15. Jahrhundert: Der böhmische König Podebrad will einen Zusammenschluß der europäischen Völker durchsetzen. – 17. Jahrhundert: Vorschlag über einen europäischen Bund durch den Minister König Heinrichs IV, den Herzog von Sully. – 18. Jahrhundert: Der deutsche Philosoph Immanuel Kant publiziert in seinem Werk “ Vom ewigen Frieden“ den Gedanken der europäischen Föderation. Der französische Abbé de Saint Pierre veröffentlicht sein „Traktat zum ewigen Frieden“ mit dem Vorschlag eines europäischen Völkerbundes mit unabhängigen Schiedsgerichten. – 19. Jahrhundert: Der Italiener Mazzini gründet 1834 die Bewegung „Junges Europa“ auf der Basis eines vereinigten, demokratischen Europa. Der französische Dichter Victor Hugo schlägt 1849 die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa vor. – 1919: Der österreichische Graf Coudenhove-Kalergi gründet eine Bewegung zur Vereinigung Europas als Staatenbund: die Paneuropa-Union. 1923 erscheint sein Buch „Paneuropa“. – 1929: Der französische Außenminister Aristide Briand äußert sich vor der X. Völkerbundversammlung über eine Europäische Union; die positive Rekursion des deutschen Außenministers Gustav Stresemann folgt vier Tage später. – 1939 ff.: Widerstandskämpfer gegen den Nationalismus in den europäischen Ländern entwerfen Europapläne für die Nachkriegszeit. – 1946: Winston Spencer Churchill äußert sich am 19. 9. 1946 in einer Rede an der Universität Zürich über die Bildung der Vereinigten Staaten von Europa. Föderalistische Gruppen verabschieden am Vierwaldstätter See das Hartensteiner Programm, welches eine föderative Einigung Europas beinhaltet. In Paris entsteht die Union europäischer Föderalisten UEF mit dem Ziel einer europäischen Föderation unabhängig von parteipolitischen Interessen.
Die Pläne und Entwürfe der politischen Einigung Europas aller Epochen von Podebrad, Sully, Comenius, William Penn, Kant, Saint Simon, Mazzini bis 15 Vgl. Knisky, F. (1995), S. 77 ff., Mickel, W. (1994), S. XIII ff. und Pfetsch, F. R. (1997), S. 16 ff. 16 Vgl. auch Thiede, C. P. (2000), S. 68 ff.
2.2 Historische Entwicklung der EU
37
Coudenhove sind im Werk „Vingt siècles d’Europe, La conscience européene à travers les textes“ von 1961 von Denis de Rougement sorgfältig aufgelistet17. Gerade nach dem Zweiten Weltkrieg kam die europäische Diskussion erneut in Gang und wurde durch folgende Impulse ausgelöst18: – Vor dem Hintergrund der beiden Weltkriege entstand ein neues Sicherheitsdenken innerhalb der europäischen Staaten, welches durch einzelne Nationalstaaten nicht gewährleistet werden konnte, – Eliminierung des Nationalismus als entartete Staatsform, – Lösung der deutschen Frage mit den Streitigkeiten um Gebiete wie Sudetendeutschland, – wirtschaftlicher Wiederaufbau Europas und Schaffung eines Wirtschaftsraumes mit größerer wirtschaftlicher Stabilität und Prosperität, – Polarisierungen einerseits zum Kommunismus (Russland) und andererseits zur Welthegemonialmacht USA.
Die polarisierenden Nationalstaaten Europas mußten mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges eine Neuordnung erfahren. Der politische und wirtschaftliche Druck der Siegermächte mit deren Bestrebungen der Wiederherstellung eines stabilen politischen Gefüges und der ehemals wichtigsten Absatzmärkte der USA in Europa unterstrich die Notwendigkeit des Aufgreifens des europäischen Gedankens. Ein Miteinander der europäischen Völker und Staaten wurde jedoch auch von zahlreichen Parteien, Gruppierungen und Staatsdenkern in den meisten europäischen Ländern mit einer Vielzahl von Reden, Publikationen und Bewegungen forciert.
2.2.1 Die europäische Bewegung der Nachkriegszeit Zwischen 1945 und der Gegenwart erfuhr die europäische Bewegung unterschiedliche Phasen des Fortschritts und der Stagnation, wobei seit 1985 eine hohe Dynamik erkennbar ist. Für das Endziel der Vereinigten Staaten von Europa wird nachfolgend eine Analyse der historischen Einigungsbestrebungen19 mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes der jeweiligen Aktion einen Einblick in das strategische Fortschreiten des Einigungsprozesses geben. Die Interaktionen können dabei in verschiedene zeitliche Phasen eingeteilt werden. Die Analyse wird im Ergebnis die für die politische Theorie und das politische System Europas relevanten Verträge Vgl. Bondy, F. (1985), S. 67 und die dortige Quellenangabe. Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 9 und Mickel, W. (1994), S. XX. 19 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff. 17 18
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2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
herausfiltern, welche in den nachfolgenden Kapiteln dann abschließend behandelt werden. 2.2.1.1 Phase 1945 bis 195420 Der politische Gedanke des politisch instabilen Europa der Nachkriegszeit war der Wiederaufbau der kriegszerstörten Volkswirtschaften mit einher gehender Koordinierung nationaler Aufbaupläne, vor allem mit Unterstützung der Siegermächte. 1948 entstand durch den Zusammenschluß von 17 Staaten die OEEC. Ziel der OEEC war die Verteilung der Marshall-Plan-Mittel, eine übergreifende Konjunktur- und Währungspolitik sowie die Liberalisierung des Handels- und Zahlungsverkehrs. Als Folgeorganisation wurde 1961 die OECD gegründet. Im Brüsseler Pakt 1948 wurde die Gründung der Westunion WU verankert. Sie war ein kollektiver Beistandspakt im Rahmen der EU-Sicherheitspolitik als Ergänzung zur NATO mit dem Ziel der Friedenssicherung durch militärische Bündnisse und die Schaffung einer kollektiven Sicherheit. In den zugehörigen Folgeaktionen entstanden 1954 die WEU, 1949 der Europarat und 1990 die GASP. Ebenfalls 1948 wurde auf dem Europa-Kongreß von Den Haag die politische Erklärung des wirtschaftlichen und politischen Zusammenschlusses der europäischen Staaten unter begrenzter nationaler Souveränitätsbeschränkung abgegeben. Ziel waren Resolutionen zur europäischen Einigung, schon mit dem politischen Gedanken der „Vereinigten Staaten von Europa“. Eine konkrete Folgeaktion war die Schaffung des Europarates 1949. Der Europarat startete 1949 mit 10 europäischen Ländern in Straßburg zunächst ohne die Bundesrepublik Deutschland (erst ab 1951) als parlamentarische Versammlung mit Beschlußfassungen zum Schutz und der Förderung der Grundsätze des gemeinsamen Erbes und des wirtschaftlichen und sozialen Fortschrittes. Ziel des Europarates ist die andauernde politische, wirtschaftliche und kulturelle Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten. Der französische Außenminister Robert Schuman schlägt am 09. 05. 1950 im Uhrensaal des französischen Außenministeriums in Paris einen Zusammenschluß der französischen und der deutschen Stahlproduktion unter einer gemeinsamen Behörde vor, wobei die Intentionen politischer Natur durch Kriegsvermeidung mittels wirtschaftlicher Interessenverflechtungen waren. Die EGKS 1951 (Belgien, BRD, Frankreich, Italien, Luxemburg, Niederlande) sah eine Abtretung von Hoheitsrechten der Einzelstaaten an eine supranationale Behörde zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes vor. Ziel war das Vorantreiben des Integrationsgedanken durch funktionalistische Integration sowie die Beseitigung der deutsch-französischen Erbfeindschaft. Folgeaktionen waren die Gründung des EuGH 1953, die Römischen Verträge 1957 sowie die EEA 1986. 20 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff.
2.2 Historische Entwicklung der EU
39
Auf französische Initiative hin sah der Pleven-Plan 1950 die Errichtung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft EVG mit einer eigenen Armee vor. Der Plan scheiterte jedoch 1954 an der Ablehnung durch die französische Nationalversammlung; auch die EPG scheiterte 1954 als Versuch der Errichtung einer europäischen politischen Gemeinschaft mit Verfassungsentwurf. In den Pariser Verträgen von 1954 wurden vier Abkommen durch neun Staaten unterzeichnet. Darin wurde erstens die Beendigung des Besatzungsregimes der BRD, zweitens der Beitritt der BRD zur WU, drittens die Aufnahme der BRD in die NATO sowie viertens das Saarabkommen dokumentiert. Ziel war die politische Integration und Bindung Deutschlands zum Zwecke der Friedenssicherung. Eine Folgeaktion war die WEU 1954 als Erweiterung des Brüsseler Paktes, welche heute 28 Staaten umfaßt und als wichtiges Forum für Dialog und Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Sicherheits- und Verteidigungspolitik gilt. Die historischen Einigungsbestrebungen mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes und den Folgeaktionen zwischen 1945 und 1954 sind tabellarisch wie folgt darzustellen: Tabelle 1 Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1945 und 1954 Jahr
Aktion
1948 OEEC
Beschreibung
Zusammenschluß Verteilung Marvon 17 Staaten shall-Plan-Mittel; übergreifende Konjunktur- und Währungspolitik; Liberalisierung Handels- und Zahlungsverkehr
1948 Brüsseler Gründung der Pakt Westunion WU
1948 EuropaKongreß von Den Haag
Ziel
Kollektiver Beistandspakt im Rahmen der EUSicherheitspolitik als Ergänzung zur NATO
Polit. Gedanke
Folgeaktion
Wiederaufbau der kriegszerstörten Volkswirtschaften mit Koordinierung nationaler Aufbaupläne
OECD 1961
Friedenssicherung durch militärische Bündnisse / kollektive Sicherheit
WEU 1954 Europarat 1949 GASP 1990
Polit. Erklärung Resolutionen Vereinigte Saaten Europarat des polit. und zur europäischen von Europa 1949 wirtsch. Zusam- Einigung menschlusses der europäischen Staaten unter begrenzter nat. Souveränitätsbeschränkung
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2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Fortsetzung Tabelle 1 Jahr
Aktion
Beschreibung
Ziel
Parlamentarische Versammlung mit Beschlußfassungen
Dauerhafte politische / wirtschaftliche / kulturelle Zusammenarbeit der Mitglieder
Schutz und Förderung der Grundsätze des gemeinsamen Erbes und des wirtsch. und sozialen Fortschritts
1950 Schumann- Vorschlag des Plan Zusammenschlusses der frz.-dt. Stahlproduktion unter einer gemeinsamen Behörde
Abtreten von Hoheitsrechten an eine supranationale europ. Behörde zur Schaffung eines gemeinsamen Marktes
FunktionalistiEGKS 1951 sche Integration: Integration eines Sektors erzeugt Druck zur umfassenden Union
1950 PlevenPlan
Vorschlag einer europäischen Armee
Errichtung einer europäischen Verteidigungsgemeinschaft (EVG) mit Errichtung einer Armee
Friedenssicherung; Europ. Polit. Gemeinschaft EPG mit Verfassungsentwurf
1951 EGKSVertrag
Gründungsverträge zur EGKS durch 6 Staaten
Siehe Schumann- FunktionalistiPlan 1950 sche Integration; ökonomische Integration; Beseitigung der dt.-frz. Erbfeindschaft
1954 Pariser Verträge
Unterzeichnung Integration von 4 AbDeutschlands kommen durch 9 Staaten: 1. Beendigung Besatzungsregime BRD 2. Beitritt BRD zur WU 3. Aufnahme BRD in NATO 4. Saarabkommen
1949 Europarat
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Polit. Gedanke
Friedenssicherung; politische Bindung Deutschlands
Folgeaktion –
EVG gescheitert 1954; EPG gescheitert 1954 EuGH 1953 Römische Verträge 1957 EEA 1986
WEU 1954
2.2 Historische Entwicklung der EU
41
2.2.1.2 Phase 1955 bis 197221 Die Konferenz von Messina 1955 war schließlich der Grundstein für die Römischen Verträge. Diese fußten auf dem Bericht des Spaak-Ausschusses – benannt nach dem belgischen Außenminister – von 1956, welcher sich mit den Möglichkeiten einer fortschreitenden Integration beschäftigte. Die Römischen Verträge, bestehend aus dem EAG-Vertrag und dem EWG-Vertrag wurden im März 1957 von den sechs EGKS-Mitgliedstaaten unterzeichnet und traten am 01. 01. 1958 in Kraft. Die Römischen Verträge folgten wiederum dem Gedanken der funktionalistischen Integration und initiierten eine ganze Reihe von Folgeaktionen: EP 1958, EEF 1958, Fouchet-Pläne 1961 / 62 (gescheitert), GAP 1962, Zollunion 1968, EPZ 1970, EEA 1986, Binnenmarkt 1992 sowie GASP 1993. Ebenfalls dem Grundgedanken der wirtschaftlichen Integration entsprach die Gründung der EFTA durch sieben Staaten 1960 auf Initiative Frankreichs mit der Konvention von Stockholm. Die EFTA sollte als Gegengewicht zur EWG fungieren; später fand eine integrative Zusammenarbeit von EFTA und EWG statt. 1965 erfolgte die Fusion der Organe Rat und Kommission von EGKS, EWG und EAG zur Europäischen Kommission; sie trat am 01. 07. 1967 in Kraft. Ziel war die Rationalisierung und Koordinierung der Verwaltung der EU. Politischer Grundgedanke war die Stärkung des politischen Gewichtes der Kommission als Gemeinschaftsinstitution. Folgeaktion war die FusV 1965. Die ökonomische und politische Integration hatte die Gipfelkonferenz von Den Haag als Auftrag. In einem Gesamtkonzept, welches in der Gipfelkonferenz von Paris 1972 und 1974 unter dem belgischen Außenminister Leo Tindemanns auf dessen Grundlage weiter getrieben wurde, wurde die Errichtung einer Wirtschaftsund Währungsunion, die Reform der Institutionen der EG, die Ausübung einer gemeinsamen Außenpolitik sowie die Ausübung einer gemeinsamen Regional- und Sozialpolitik bis zum Jahre 1980 ausgearbeitet. Ziel war dabei die Norderweiterung der EG, die Kooperation mit der EFTA, Assoziierungsabkommen, die Finanzautonomie der EWG, eine Haushaltskontrolle durch das EP sowie die WWU per Stufenplan. Folgeaktionen waren: Norderweiterung 1973, EWS 1979, WWU 1989, sowie indirekt die EUV 1992 und die WU 2002. Die historischen Einigungsbestrebungen mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes und den Folgeaktionen zwischen 1955 und 1972 sind tabellarisch wie folgt darzustellen:
21 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff.
42
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme Tabelle 2 Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1955 und 1972
Jahr
Aktion
Ziel
Polit. Gedanke
Folgeaktion
EWG: Zollunion, freier Personen- / Dienstleist. / Kapitalverkehr. EAG: Aufbau und Entwicklung der Nuklearindustrie
Friedenssicherung; funktionalistische Integration
EP 1958 EEF 1958 FouchetPläne 1961 / 62 GAP 1962 Zollunion 1968 EPZ 1970 EEA 1986 GASP 1993 Binnenmarkt 92
Gründung der 1960 Konvention von EFTA (FreiStockholm handelszone) durch 7 Staaten
Gegengewicht zur EWG
Wirtschaftliche Integration
–
1965 Einrichtung der Europäischen Kommission
Rationalisierung und Koordinierung der Verwaltung
Stärkung des politischen Gewichtes der Kommission als Gemeinschaftsinstitution
FusV 1965
1957 Römische Verträge
Beschreibung Unterzeichnung der Verträge der EWG und der EAG (= EURATOM) durch 6 Staaten
Fusion der Organe Rat und Kommission von EGKS, EWG und EAG
1969 Gipfelkon- Zusammenkunft ferenz in der EG-StaatsDen Haag und Regierungschefs
Norderweiterung Ökonomische EG; Kooperation Integration mit EFTA; Assoziierungsabkommen; Finanzautonomie EWG; Haushaltskontrolle durch EP; Stufenplan zur WWU
1972 Gipfelkon- Zusammenkunft ferenz in der EG-StaatsParis und Regierungschefs
WWU bis 1980; Europ. Union bis 1980; gemeinsame Sozialpolitik; neue Aktionsfelder: Regional- / Umwelt- / Energiepolitik
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Norderweiterung 1973 EWS 1979 WWU 1989 WU 2002 (indirekt)
WWU 1989 Einheitlicher Wirtschafts- und EUV 1992 (indirekt) Sozialraum (wiederum durch funktionalistische Integration)
2.2 Historische Entwicklung der EU
43
2.2.1.3 Phase 1973 bis 197822 1973 wuchs die Gemeinschaft von sechs auf neun Staaten: Dänemark, Großbritannien und Irland wurden Mitglieder mit der Norderweiterung. 1975 fand die Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit KSZE in Helsinki statt, wo 35 Außenminister europäischer und nordamerikanischer Staaten präsent waren. Inhalt war ein Regelwerk von politischen Verpflichtungen der heute 53 Teilnehmerstaaten, welches jedoch nicht als völkerrechtlicher Vertrag zu klassifizieren ist. Ziel war die Einhegung der Ost-West-Konfrontation, die Sicherung der Menschen- und Völkerrechte sowie die Friedenssicherung. Die KSZE findet als Folgeaktion alle zwei Jahre statt. In den Lomé-Abkommen I-IV von 1975, 1979 und 1984 werden die Beziehungen zu 66 Staaten Afrikas, des karibischen Raumes und des Pazifischen Ozeans geregelt. Die Lomé-Abkommen regeln die Förderung der Beziehungen zu Entwicklungsländern hinsichtlich der Sicherung ihrer Rohstoffversorgung, der Schaffung größerer Absatzmärkte und signalisieren die Solidarität zu diesen wirtschaftlichen armen Ländern. Sie sichern Zollfreiheit, verbieten die mengenmäßige Beschränkung von Exporten und erlassen Diskriminierungsverbote hinsichtlich des Niederlassungsrechtes und des Dienstleistungsverkehrs und beinhalten Stabilisierungssysteme für Preise, Währung und Subventionen23. Die historischen Einigungsbestrebungen mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes und den Folgeaktionen zwischen 1973 und 1978 sind tabellarisch wie folgt darzustellen: Tabelle 3 Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1973 und 1978 Jahr
Aktion
1975 Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa in Helsinki KSZE
Beschreibung
Ziel
Konferenz der 35 Außenminister europäischer und nordamerikanischer Staaten
Regelwerk – nicht jedoch völkerrechtl. Vertrag – von polit. Verpflichtungen der heute 53 Teilnehmerstaaten
Polit. Gedanke Einhegung der Ost-West-Konfrontation; Sicherung der Menschen- und Völkerrechte; Friedenssicherung
Folgeaktion KSZE 2-jährlich
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
22 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff. 23 Vgl. Borchardt, K.-D., S. 78.
44
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
2.2.1.4 Phase 1979 bis 199424 1979 fand die erste allgemeine Wahl der 410 Mitglieder des Europäischen Parlaments statt mit dem Inhalt der Stärkung und demokratischen Legitimation des Parlaments (vgl. zu den EU-Organen Kapitel 4.). Ziel war die demokratische Stärkung der EU-Organe. Der Genscher-Plan und der Spinelli-Entwurf 1983 / 84 bedeuteten einen weiteren Vorstoß zur politischen Union mit dem Entwurf eines Vertrages zur Gründung der EU. Inhalt waren die Erweiterung der Kompetenzen des EP, die Übertragung weiterer politischer Aktionsfelder, die Gestaltung des institutionalen Gefüges mit der Zusammenführung von EPZ und EG. Folgeaktionen waren die EEA 1986 sowie die EUV 1992. 1985 sollten auf der Regierungskonferenz von Mailand als Konferenz aller Mitgliedstaaten konkrete Fortschritte auf dem Weg zur EU erzielt werden. Dazu wurden Änderungen der Verträge der EGKS, EWG und EAG vorgenommen; weiterhin wurde die Erweiterung der Kompetenzen des EP durch Übertragung weiterer politischer Aktionsfelder sowie die Zusammenführung von EPZ und EG beschlossen. Folgeaktion war die EEA 1986, welche in Luxemburg und Den Haag am 17. und 28. 02. 1986 unterzeichnet wurde und am 01. 07. 1986 in Kraft trat. Die EEA führte zu einem neuen Schwung der politischen Aktivitäten der EU mit der Integration der staatlichen Zuständigkeiten auf die EU-Ebene und Übertragung von vormals auf Mitgliedstaatenebene angesiedelten Kompetenzen auf die EU (Kompetenzverschiebung)25. Der Madrider Gipfel sowie der Delors-Bericht 1989 und die Regierungskonferenzen von Rom 1990 über die Wirtschafts- und Währungsunion und die Politische Union haben folgende Inhalte: Umsetzung der WWU in vier Stufen. In der ersten Stufe soll die Liberalisierung des Kapitalverkehrs und eine verstärkte Kooperation, in der zweiten Stufe ab 1994 die Vorbereitung des EZB durch das EWI, in der dritten Stufe ab 1999 die WWU mit festen Wechselkursen erfolgen. Folgeaktionen sind der EWR 1992 sowie die WU 2002. Neben den Bemühungen zur Schaffung der WWU wurden die Gedanken zur Unterstützung der Ostblockstaaten, nicht zuletzt wegen der zunehmenden Attraktivität der EU für den Ostblock und der dort statt findenden politischen Ereignisse, mit aufgenommen. Dies wurde auf der Ratstagung in Paris am 18. November 1989 und der Tagung am 8. / 9. Dezember 1989 ausdrücklich festgestellt26. Die Osterweiterung war somit eingeleitet. 24 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff. 25 Vgl. Pieper, S.U. (1994), S. 4 f. 26 Vgl. Pieper, S.U. (1994), S. 226.
2.2 Historische Entwicklung der EU
45
Mit der Unterzeichnung des Einigungsvertrages sowie des 2+4-Vertrages wird die Wiedervereinigung der BRD und der DDR unter Zustimmung der Siegermächte vertraglich geregelt. Somit ist die ehemalige DDR Mitglied der EU. Am 07. 02. 1992 wird der Vertrag von Maastricht auf der Gipfelkonferenz als Vertrag über die Europäische Union durch Weiterentwicklung der EEA, EWS und WWU unterzeichnet. Inhalt ist die Aktualisierung des EWG-Vertrages sowie die Systematisierung des Gemeinschaftsrechtes sowie die Einbindung weiterer Politikfelder, die GASP-Vorbereitung und die Umbenennung der EG in EU. Ziel ist die Europäische Union. Folgeaktionen sind die GASP 1993 sowie die ZJI 1993. Die historischen Einigungsbestrebungen mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes und den Folgeaktionen zwischen 1979 und 1994 sind tabellarisch wie folgt darzustellen: Tabelle 4 Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1979 und 1994 Jahr
Aktion
Beschreibung
Ziel
Polit. Gedanke
Erste allgemeine 1979 1. Parlamentswahl Wahl der 410 Mitglieder des Europäischen Parlaments
Stärkung und demokratische Legitimation
1983 / Genscher- Entwurf eines 84 Colombo- Vertrages zur Plan und Gründung der SpinelliEU Entwurf
Erweiterung der Politische Union Kompetenzen EP; Übertragung weiterer polit. Aktionsfelder; Gestaltung des institutionellen Gefüges (Zusammenführung EPZ+EG)
EEA 1986 EUV 1992
1985
Änderung der Europäische Verträge der Union EGKS EWG, EAG,: Erweiterung der Kompetenzen des EP: Übertragung weiterer politischer Aktionsfelder, Zusammenführung EPZ und EG
EEA 1986
Regierungskonferenz von Mailand
Konferenz aller Mitgliedsstaaten um konkrete Fortschritte auf dem Weg zur EU herbeizuführen
Demokratische Stärkung der EU-Organe
Folgeaktion –
46
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Fortsetzung Tabelle 4 Jahr
Aktion
Beschreibung
Ziel
Polit. Gedanke
1989
DelorsBericht und Madrider Gipfel
Beschluß der Einführung der WWU
Umsetzung der Ökonomische WWU: 1. Stufe: Integration Liberalisierung des Kapitalverkehrs und verstärkte Kooperation; 2. Stufe 1994: Vorbereitung EZB durch EWI; 3. Stufe 1999: WWU mit festen Wechselkursen
EWR 1992 WU 2002
1990 Wiedervereinigung von BRD und DDR
Unterzeichnung des Einigungsvertrages und des 2+4-Vertrages
Wiedervereinigung von BRD und DDR unter Zustimmung der Siegermächte
Mitgliedschaft der ehemaligen DDR
1992 Gipfelkonferenz in Maastricht
Unterzeichnung des Vertrages über die Europäische Union als Weiterentwicklung EEA, EWS, WWU
Aktualisierung Europäische des EWG-VerUnion trages und Systematisierung des Gemeinschaftsrechts; Einbindung weiterer Politikfelder; GASP-Vorbereitung; Umbenennung EG in EU
–
Folgeaktion
Maastrichter Vertrag 1992 GASP 1993 ZJI 1993
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
2.2.1.5 Phase 1995 bis 200527 Von 1995 bis 2000 finden diverse Beitrittsverhandlungen zur Erweiterung der Europäischen Union statt. So 1995 mit Finnland, Österreich und Schweden, 1998 mit Estland, Polen, Slowenien, Tschechische Republik, Ungarn und Zypern sowie 2000 mit Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien und der Slowakischen Republik (Osterweiterung). 27 Vgl. Mickel, W. (1994), S. XLI ff., Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1997), S. 14 ff., Piazolo, M. (1997), S. 14 ff., Hitzler, G. / Ostarek, M. / Steinhäuser, K.-L. (2001), S. 10 ff. und Europ. Parlament (2002), S. 102 ff.
2.2 Historische Entwicklung der EU
47
Auf der Gipfelkonferenz von Amsterdam 1996 wird das Ziel der Europäischen Union weiter forciert. Mit der Verstärkung der EU-Identität, dem sogenannten Sozialprotokoll, dem Mitentscheidungsverfahren für das EP, GASP-Entscheidungserleichterungen, ZJI-Erweiterungen und der Übernahme des SchengenerAbkommens werden die Weichen gestellt. Der Vertrag von Amsterdam wurde am 02. 10. 1997 unterzeichnet. Auf der Gipfelkonferenz von Nizza 2000 wird ein Vertrag (Vertrag von Nizza 2001) mit dem Ziel, die Funktionsweise der EU-Organe für eine Mitgliedserweiterung anzupassen, verfasst. Es erfolgt eine Mitgliedszahlbegrenzung des EP, ein Ernennungsverfahren für die Kommission und die Ausweitung der Zusammenarbeit der Staaten bei GASP und ZJI. Der Europäische Rat hat am 14. / 15. Dezember 2001 auf der Tagung in Laeken (Belgien) den Europäischen Konvent einberufen28. Im Oktober 2002 wird ein vom Vorstand des Reformkonvents ausgearbeiteter und zu Beginn der Plenartagung durch seinen Präsidenten Giscard d’Estaing vorgestellter, zweigeteilter Verfassungsentwurf vorgestellt29. Der Europäische Konvent unterbreitet dem Europäischen Rat den Verfassungsentwurf am 16. Juni 2003 im Rahmen einer Plenartagung30. Im Vorfeld der Ratifizierung der EU-Verfassung wurde die Zustimmung zur Verfassung in den einzelnen Mitgliedstaaten scharf diskutiert (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 4.2.1.6). Die Gipfelkonferenz am 12. / 13. 12. 2002 in Kopenhagen beschließt im Rahmen der EU-Erweiterung die Aufnahme der zehn Staaten Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Zypern und Malta zum 01. 05. 200431. Für die Türkei wurden Beitrittsverhandlungen im Dezember 2004 avisiert32 und dann auf Frühjahr 2005 verschoben33, wo der Europäische Rat prüfen sollte, ob die Türkei die politischen Kriterien erfüllt, was bei Bejahung zu Beitrittsverhandlungen führen sollte34. Der EU-Erweiterungskommissar Günter Verheugen sieht jedoch trotz der in der Türkei vorangetriebenen Reformen einen EU-Beitritt der Türkei frühestens 2015; bis dahin sollen die ökonomischen Auswirkungen des als skeptisch betrachteten Beitrittes in einer gesonderten Studie analysiert werden35. Dennoch wird der Beitritt der Türkei wegen der politischen Defizite sowie der großen Unterschiede im Rechtssystem sowie mit der Frage, wo Europa (geo28 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort. 29 Vgl. FAZ (2002), S. 1. 30 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort. 31 Vgl. Europäische Kommission (2003), S. 4 und S. 35. 32 Vgl. SZ (2002), S. 1. 33 Vgl. SZ (2004a), S. 1. 34 Vgl. Europäische Kommission (2003), S. 4. 35 Vgl. SZ (2004a), S. 1.
48
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
graphisch-politisch) endet, kritisch gesehen36 und von Deutschland mit einer Unterschriftenaktion abgelehnt 37 sowie von Frankreich hinsichtlich der nicht vorgenommenen Abstimmung im Parlament zur Erzeugung einer Ablehnung kritisiert38. Der Türkei-Beitritt wird über verschiedene Modelle einer Vollmitgliedschaft, einer Teilmitgliedschaft mit privilegiertem Status und einem Nichtbeitritt diskutiert39. Trotz massiver Skepsis innerhalb der EU-Mitgliedstaaten („Kollateralschaden Türkei“) und der Kritik an der nachlassenden Reformbereitschaft der Türkei sollen die Beitrittsverhandlungen am 3. Oktober 2005 beginnen40. Ende 2002 begann unter der EU-Präsidentschaft durch Griechenland ab 01. 01. 2003 erstmals die Diskussion über eine mögliche Süd-Ost-Erweiterung (Balkan) in einem Zeithorizont ab 2013. Griechenland sieht den Balkan traditionell als griechisches Einflußgebiet, die Grenzen der EU seien demnach nicht festgelegt. Differenzen entstanden 2004 zwischen der EU und Griechenland mit dem Vorwurf der vorsätzlichen Manipulation des griechischen Staatshaushaltes, um die Teilnahme an der WWU zu sichern, was wiederum das europäische Finanzsystem gefährde41. Der erste Antrag wurde Februar 2002 durch Kroatien gestellt, welchem danach Albanien, Bosnien-Herzogewina, Mazedonien sowie die Bundesrepublik Jugoslawien folgten42. Unter Annahme weiterer Schritte für die Erfüllung der Beitrittskriterien sollen 2007 Bulgarien und Rumänien beitreten. Der Vollzug der EU-Osterweiterung in bezug auf Bulgarien und Rumänien wurde im Mai 2005 wegen diverser Angelegenheiten (z. B. Beschränkungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit) sowie der „schlampigen“ Verhandlungen mit den Beitrittsländern durch die deutsche CDU scharf kritisiert; eine Nachverhandlung hielt man jedoch für ausgeschlossen. In diesem Zusammenhang kam die Forderung auf, eine langsamere Gangart bei der EU-Erweiterung anzugehen43. Während der Debatte um die politische Union durch Ratifizierung der EU-Verfassung (vgl. Kapitel 4.2.1.6) kam im ersten Halbjahr 2005 wiederum durch den nicht klaren Kurs der EU eine „Europaskepsis“ auf, welche zum Inhalt hatte, daß eine Erweiterung gleichzeitig mit einer Vertiefung nicht zu bewältigen sei44. Nach den Ablehnungen von Frankreich und den Niederlanden Ende Mai bzw. Anfang Juni wurde auf dem EU-Gipfel von 16. / 17. 06. 2005 („Brüsseler Krisengipfel“) das Ruhen der Ratifizierung um mindestens zwölf Monate beschlossen, um ein vorzeitiges Scheitern der EU-Verfassung durch weitere Ablehnungen zu verhindern45. 36 37 38 39 40 41 42 43 44 45
Vgl. SZ (2004b), S. 7 und SZ (2004d), S. 1. Vgl. SZ (2004d), S. 4. Vgl. SZ (2004d), S. 1. Vgl. FTD (2004a), S. 1 und S. 16 und SZ (2004d), S. 1 und S. 4. Vgl. Handelsblatt (2005a), S. 2. Vgl. SZ (2004c), S. 1 und FTD (2004b), S. 15. Vgl. FTD (2002), S. 14. Vgl. Handelsblatt (2005b), S. 4. Vgl. FTD (2005a), S. 11. Vgl. FTD (2005m), S. 1.
2.2 Historische Entwicklung der EU
49
Die historischen Einigungsbestrebungen mit einer Zuweisung der Aktion, Aktionsbeschreibung, des Zieles sowie des zugrundeliegenden Gedankengutes und den Folgeaktionen zwischen 1995 und 2005 sind tabellarisch wie folgt darzustellen: Tabelle 5 Europäische Einigungsbestrebungen zwischen 1995 und 2005 Jahr
Aktion
Beschreibung
Ziel
1996 Gipfelkonferenz von Amsterdam
Amsterdamer Vertrag durch 11 Staaten
1995 / Beitritts1998 / verhand2000 lungen
1995: Finnland, – Österreich, Schweden; 1998: Estland, Polen, Slowenien, Tschech. Republik, Ungarn, Zypern; 2000: Bulgarien, Lettland, Litauen, Malta, Rumänien, Slowak. Republik
Vertrag, mit dem 2000 Gipfelkonferenz Ziel, die Funkvon Nizza tionsweise der EU-Organe für eine Mitgliedserweiterung anzupassen
Verstärkung der EU-Identität; sog. Sozialprotokoll; Mitentscheidungsverfahren für das EP; GASPEntscheidungserleichterungen; ZJI-Erweiterungen; Übernahme Schengener Abkommen
Polit. Gedanke
Folgeaktion
Europäische Union
Vertrag von Amsterdam 1999
Erweiterung der Europäischen Union
Beitritt diverser Staaten
MitgliedszahlErweiterung der begrenzung des Europäischen EP; Ernennungs- Union verfahren der Kommission; Zusammenarbeit der Staaten bei GASP und ZJI ausgeweitet
Vertrag von Nizza 2001
50
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Fortsetzung Tabelle 5 Jahr
Aktion
Beschreibung
Ziel
2003 Unterzeichnung des Beitrittsvertrags
Beitritt Polen, – Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Zypern und Malta
2005 EU-Verfassung
Verabschiedung einer EU-Verfassung am 29. 05. 2005
2005 EU-Verbis fassung 2007
Ratifizierung der EU-Verfassung EU-Verfassung durch die Mitgliedstaaten
Polit. Gedanke
Folgeaktion
Erweiterung der Europäischen Union
Beitritt diverser Staaten zum 01. 05. 2004
einheitlicher EU- Politische Union Vertrag, politische Bindung, verfassungsmäßige EU-Institutionalisierung Politische Union
–
–
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
2.3 Problemfelder der EU Aus den den einzelnen zeitlichen Phasen zugewiesenen Analysekriterien – Aktion (Einigungsbestrebung), – Inhalt, – Ziel, – politischer Gedanke und – Folgeaktion
lassen sich die wichtigsten Problemfelder lokalisieren.
2.3.1 Zeitgeschichtliche Aktionsschwerpunkte Die Betrachtung der zeitgeschichtlichen Abfolge der politischen Aktionen ermöglicht die Bestimmung der Aktionsschwerpunkte. Dadurch kann die politische Stoßrichtung – auch zu bezeichnen als historisch erzwungene Strategie – bestimmt werden, um daraus wiederum Erkenntnisse über fehlende oder zu schwache Aktionsschwerpunkte und damit der Problemfelder hinsichtlich des Zieles einer europäischen politischen Union zu erlangen.
2.3 Problemfelder der EU
51
Die historische Entwicklung seit 1945 ist bei Betrachtung der Aktion sowie des zugrunde liegenden Zieles (vgl. Kapitel 2.1) nach Ansicht des Verfassers in folgende raumzeitliche Phasen einzuteilen, deren Folgewirkungen sich auch jeweils über das Phasenende hinaus erstreckt haben und deren Phasen sich teilweise überlappen: Phase
Aktionsschwerpunkt
1945 bis 1954:
Friedenssicherung und Wiederaufbau
1955 bis 1974:
Ökonomische Integration
1973 bis 1978:
Ost-West-Konflikt
1979 bis 1994:
Institutionalisierung und Politische Erweiterung der EU
1995 bis 2005:
Territoriale Erweiterung der EU und politische Union
Die Analyse der Historie deckt folgende, konsistente Problemfelder auf: – Zielrichtung der Aktionisten bzw. Bewegungen
Eine uneinheitliche Zielrichtung der beteiligten Aktionisten und Bewegungen führten zu einem politischen Zick-Zack-Kurs. Als gegenläufig oder zumindest nicht zielkonform sind folgende beide Aktionisten anzusehen: – politische Akteure:
Hertensteiner Gruppe46 Paneuropa-Union47 Funktionalisten48 usw.
– gesellschaftliche Akteure:
Union europäischer Föderalisten49 Staatsbürger usw.
46 Angeregt durch den Paneuropa-Kongreß Coudenhove-Kalergis, der im Oktober 1932 in Basel stattfand, bildeten sich in verschiedenen Kantonen Gruppen, die sich für eine föderale Einheit Europas einsetzten, wie die am 24. Juni 1934 gegründete „Europa-Union“. 47 Die Paneuropa-Union, die 1922 von Graf Richard Coudenhove-Kalergi gegründet wurde, ist die älteste europäische Einigungsbewegung. Die Paneuropa-Union fordert die Integration Europas auf den Gebieten der inneren und äußeren Sicherheit sowie die Ausdehnung der Europäischen Union nach Osten zur Stabilisierung des ganzen Kontinents. Sie tritt für die Stärkung Europas innerhalb der NATO und angesichts fortschreitender Globalisierung für ein gemeinschaftliches und selbstbewußtes Handeln der Europäischen Union in der internationalen Politik ein. 48 Die Wurzel des Funktionalismus liegt in der Arbeit von David Mitrany „A Working Peace System“ (1943), wo er eine integrative Theorie entwickelt, ohne sich auf ein normatives Programm festzulegen, wie der klassischer Liberalismus (Kant) bzw. amerikanische Idealisten (Schule Wilsons) oder die Föderalisten, die eine Integration verwirklichen wollen durch Souveränitätsabtretungen der Nationen an internationale Institutionen. Die grundlegende These des Funktionalismus ist, daß „Formen Funktionen folgen“ (Forms follow functions), oder etwas länger ausgedrückt: Politische Formen werden bestimmt von deren Funktionen und funktionale Anforderungen ändern das politische System. Damit herrscht nicht die Macht des Politischen, sondern die Macht des Funktionalen. 49 Die Union europäischer Föderalisten ist eine unabhängige, überparteiliche und überkonfessionelle Bürgerbewegung und will Europa zu einem Bundesstaat einigen. Sie will ein Europa der Bürger, mit dem sich die Menschen identifizieren: ein Europa, das Wertegemein-
52
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
– Aktionsschwerpunkt „Integration durch Verfassungsgebung“
Dieser stand in der Historie vor dem Zweiten Weltkrieg öfter in der Diskussion als in der Nachkriegszeit, bedingt durch die Rückschläge derartiger Bemühungen aufgrund der Diversifikation der Vorstellungen der Mitgliedstaaten. Der phasenbezogene Aktionismus mit jeweiligen unterschiedlichen Schwerpunkten (z. B. territoriale Erweiterung) führte zu einem über Jahrzehnte gewachsenen, komplexen Strukturgebilde der EU. Die Notwendigkeit einer Verfassungsgebung inklusive integrativer Entwicklung des Gemeinschaftsrechtes mit nationalem Verfassungsrecht wurde jedoch auch Mitte der Neunziger Jahre immer wieder diskutiert50 und in 2001 mit der Einberufung des Europäischen Konvents ernsthaft verfolgt, welche in der Ratifizierung der EU-Verfassung im Mai 2005 gipfeln sollte. – Erreichung des Aktionsendzieles politische Union
Es entsteht die Frage, ob eine kontinuierliche Weiterentwicklung der bisherigen europäischen Politik der funktionalistischen Integration zum Endziel der politischen Union führen kann oder aber eine Zieldivergenz erzeugt wird, da die historische Entwicklung eine verfassungsgebende und mitgliedstaatenverfassungsersetzende Integration auf Bundesstaats- statt Staatenverbundbasis mittlerweile zeitlich als unerreichbar erscheinen läßt. Ebenso ist die Frage der „natürlichen“ geographischen Grenze einer Europäischen Union offen. Diese wird – auch unter ethisch-moralphilosophischen Gesichtspunkten – in der Beitrittsdiskussion mit der Türkei und den damit verbundenen Gesellschafts- und Glaubensunterschieden kontrovers diskutiert. Obwohl der „Zentralstaat“ EU und deren Mitgliedstaaten und Organe die politische Union durch die Verfassungsgebung (vgl. Kapitel 4.2.1.6) mit den Referenden ab 2005 voran trieben, stellten sich immer wieder nationalistische Interessen in der Vordergrund: So wollten z. B. die Franzosen laut Umfragen 2005 die EUVerfassung aus innenpolitischen Gründen knapp ablehnen51 und auch Deutschland forderte mehr Mitspracherechte in der EU mit dem Erlaß eines „Gesetzes zur Ausweitung der Mitwirkungsrechte des Bundestages in Angelegenheiten der Europäischen Union“52 sowie die frühzeitige Erklärung der Gesetzgebungstätigkeit im Europäischen Ministerrat gegenüber dem deutschen Parlament53. Ebenso schaft und Lebensgemeinschaft, Wirtschafts- und Sozialgemeinschaft und Verantwortungsgemeinschaft zugleich ist. In der „Charta der Europäischen Identität“ stehen ihre Ziele, für die sie Wege finden will. Sie will eine Demokratie, in der nationale Rechte, die an Europa übertragen werden, der parlamentarischen Kontrolle unterliegen. 50 Vgl. die näheren Ausführungen zur Notwendigkeit einer Europaverfassung bei weiterer Integration bei Pieper, S.U. (1994), S. 15 ff. 51 Meldung der afp im Hamburger Abendblatt vom 29. 03. 2005; http: // www.abendblatt. de / daten / 200 / 03 / 29 / 414786.html. 52 Vgl. FTD (2005a), S. 11. 53 Vgl. Süddeutsche Zeitung SZ (2005a), S. 5.
2.3 Problemfelder der EU
53
erfolgte die Ablehnung der EU-Verfassung per Volksentscheid in den Niederlanden u. a. mit der Begründung des Verlustes der Souveränität54. Die Zeitung Liberation (Paris) zieht nach den negativen Abstimmungen von Frankreich und Niederlande Mitte 2005 Bilanz: „In dieser Stunde der europäischen Vereisung zieht sich jeder in die Festung seiner nationalen Interessen zurück. Chirac klammert sich an die Landwirtschaftspolitik, Blair an den Beitragsrabatt, Berlusconi an die Regionalfonds. Um die Dämonen des Nationalismus auszutreiben, wären Männer mit Visionen und Prinzipien gefragt“55.
2.3.2 Dauer und Zeitpunkt des Einigungsprozesses Die historischen Gedanken zur europäischen Union reichen Jahrhunderte zurück. Phasen der Beschleunigung wechselten sich mit Phasen der Lähmung und der Rückschläge ab: So war z. B. der Verfassungsentwurf von Victor Hugo von 1849 ein humanistisches und pazifistisches Ideal, welches durch die beiden Weltkriege 60 Jahre später zerstört wurde. Neuen Schub bedeutete das Erbe der Weltkriege mit dem Zugzwang der Neuordnung des wirtschaftlichen und politischen Gefüges in Europa, namentlich der Märkte für Kohle und Stahl, welche seinerseits als Basisindustrien die wirtschaftliche Macht der Staaten darstellten. Erstmals waren sechs Staaten (Belgien, Deutschland, Frankreich, Italien, Luxemburg und die Niederlande) bereit, den Weg der Integration durch die Unterzeichnung des EGKS-Vertrages zu beschreiten. Die Bemühungen um eine Integration wurden durch die Dispute zwischen Deutschland und Frankreich (aufgehoben durch den Luxemburger Kompromiß 1966) gebremst und gewannen mit dem Ausbau und der Umsetzung der drei Verträge der EGKS, EAG und EWG erst viel später wieder an Fahrt. 1961 sollte ein Regierungsausschuß unter der Leitung des französischen Botschafters Fouchet Vertragsentwürfe für eine politische Union entwerfen, welche jedoch am Bemühen um die Beibehaltung der absoluten Souveränität der Mitgliedstaaten sowie an der Ablehnung einer föderalen Struktur scheiterte. Vom Scheitern der Fouchet-Pläne 1961 / 62 bis zum Spinelli-Entwurf 1984 entstanden keinerlei ernsthafte Bemühungen – abgesehen von wenigen pragmatischen Berichten wie z. B. dem Tindemanns-Bericht 1975 oder dem Bericht der drei Weisen Barend Biesheuvel, Edmond Dell und Robert Marjolin 1978 – der Änderung der bestehenden EU-Verträge hinsichtlich der politischen Verfassung. Ersatzweise fand eine Konzentration auf die Europäische Politische Zusammenarbeit EPZ statt. Ausgelöst durch die schwere Haushaltskrise 1979 zwischen dem Europäischen Parlament und dem Rat forcierte der Abgeordnete Spinelli wiederum die Bemühungen um eine bessere Funktionsweise der Organe der EU. Der 1981 vom Europäischen Parlament geschaffene institutionelle Ausschuß unter dem Vorsitz 54 55
Vgl. FAZ (2005d), S. 1. Vgl. SZ (2005i), S. 4.
54
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Spinellis sollte einen Entwurf zur Änderung der EU-Verträge ausarbeiten; der Vorschlag einer Legislative basierend auf einem Zwei-Kammer-System wie bei föderalen Staaten wurde 1984 angenommen und war der erste Schritt in Richtung Einheitliche Europäische Akte, welche jedoch der Kritik einer pragmatischen Reform in Teilbereichen ausgesetzt ist56. Auch die Vorgaben des Weißbuches der Kommission aus dem Jahr 1985, wo 282 Punkte für die Einführung des Binnenmarktes vorgestellt wurden und die Problematik einer zügigen Umsetzung in den Schlußfolgerungen der Kommission verdeutlicht wurde, forcierten die europäische Integration wieder: „Europa steht am Scheideweg. Entweder wir gehen mutig und entschlossen weiter oder wir fallen in die Mittelmäßigkeit zurück. Wir haben die Wahl, entweder an der Vollendung der Wirtschaftsintegration Europas weiter zu arbeiten oder wegen politischer Mutlosigkeit angesichts der damit verbundenen ungeheuren Probleme Europa zu einer schlichten Freihandelszone abgleiten zu lassen.“ Die Europäische Union ist durch die Vielzahl der Staaten und der Politikfelder ein langsam gewachsenes, komplexes Gebilde, dessen Umstrukturierung – man vergleiche dazu die langwierige Restrukturierung eines Industriekonzernes als Strukturgebilde mit weitaus geringeren Ausmaßen – mit fortschreitender Zeitdauer erstens komplexer und zweitens kritisch im Hinblick auf ein Endziel als überhaupt erreichbar erscheint. Es steht nun die Alternative der weiteren Integration mit ungewisser Zeitdauer dem verfassungsgebenden Umbruch zum definierten Zeitpunkt gegenüber (vgl. Kapitel 3.4). Mit der erneuten Ingangsetzung des verfassungsgebenden Prozesses und einer Vorlage eines Verfassungsentwurfes durch den Europäischen Konvent im Juni 200357 war ein entscheidender Fortschritt zum Thema Verfasstheit der EU – jedoch mit der Einschränkung, daß die EU-Verfassung in dieser Form nicht die nationalen Verfassungen ersetzen wird – gelungen. Letztendlich ist der Ausgang des Vorhabens jedoch mit dem Scheitern der Abstimmungen Frankreichs und der Niederlande Mitte 2005 und dem darauf folgenden Aussetzen des Ratifizierungsprozesses der EU-Verfassung um mindestens zwölf Monate58 ungewiß; die EU-Verfassung konnte somit frühestens 2007 in Kraft treten59. Die nach dem Scheitern der EUReferenden in Frankreich und den Niederlanden vereinbarte Zeit des Nachdenkens wurde bereits nach sechs Monaten von Kommissionspräsident Barroso kritisiert und dabei angemahnt, daß in dieser Zeit keine Überlegungen und Debatten zur EU-Verfassung geführt wurden60. Insofern liegt eine Phase der Stagnation vor.
Vgl. Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1986), S. 46. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort. 58 Vgl. FTD (2005m), S. 1. 59 Vgl. SZ (2005j), S. 1. 60 Vgl. SZ (2005l), S. 7. 56 57
2.3 Problemfelder der EU
55
2.3.3 Ordnungsprozeß Die Frage des Ordnungsprozesses der Europäischen Union knüpft ebenfalls unmittelbar an die historische Betrachtung der bisherigen zeitgeschichtlichen Aktionen an. Die einzelnen Aktionen sind durch die funktionalistische Integration bestimmt. Sukzessive Erweiterungen sind nicht immer geeignet, eine Integration voranzutreiben. Durch die Erweiterungen verbunden mit einem nach außen sichtbaren Erfolg setzen andere europäische Staaten zwar unter Zugzwang eines Beitritts, bergen jedoch gleichzeitig die Problematik eines bürokratisierten, historisch gewachsenen, multikulturellen und schwer überschaubaren Staatengebildes, welches für eine weitere Integration als nicht mehr geeignet erscheint. Gleichzeitig sind die bisherigen Integrationsprozesse jedoch schon so weit fort geschritten, daß eine abrupte Verfassungs- und Staatsformgebung als nicht möglich erscheint. Für mögliche Ordnungsprozesse stehen den praktischen Ansätzen die theoretischen Ansätze unmittelbar gegenüber: – Praxisansätze
In der historischen Entwicklung bildeten sich drei wesentliche Geistesströmungen, welche die verschiedenen angestrebten Vorgehensweisen für einen Ordnungsprozeß repräsentieren: – Maximalisten61: Sofortige und umfassende Umsetzung der Forderungen an eine föderalistische verfassungsgebende Einigung. – Funktionalisten62: Allmählicher Wandel der einzelstaatlichen Handlungsparameter durch den Zusammenschluß von Funktionsbereichen wie Wirtschaft, Politik usw. – Universalisten63: Schaffung eines „Volleuropa“ mit west- und osteuropäischen Ländern. Einem Ordnungsprozeß grundsätzlich entgegen steht die Geisteshaltung der Nationalisten. – Die politische Theorie kennt innerhalb der Integrationstheorie zwei Gegenpole64:
– Föderalismus: Der Föderalismus setzt auf die Schaffung gemeinsamer Ziel- und Wertvorstellungen, welche durch bewußte (macht-)politische Entscheidungen von Politikern und Völkern in einer gemeinsamen Verfassung münden. Die Stabilität wird durch die föderalistische Organisation der ehemals selbständigen Staaten sicher gestellt, wohl wissend, daß diese Form des Ordnungsprozesses starken 61 62 63 64
Vgl. Piazolo, M. (1997), S. 15. Vgl. Mickel, W. (1994), S. 220. Vgl. Pfetsch, F. R. (1997), S. 30. Vgl. Nohlen, D. (1997), S. 355 f.
56
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Konflikten innerhalb und zwischen den einzelnen Parteien ausgesetzt ist. Hierdurch entsteht ein Zwang, die ordnungspolitischen, plötzlich durch die geschaffene Staateninstitution auftretenden Probleme im Nachgang zu lösen („function follows form“). – Funktionalismus (Mitrany) Der Funktionalismus betrachtet Industriegesellschaften als sozioökonomische Gebilde, welche nicht durch die territoriale Organisation bestimmt sind wie früher z. B. Agrargesellschaften. Vielmehr sind sie durch gesellschaftliche Gruppen mit sozialen und wirtschaftlichen Interessen bestimmt, deren Stabilität von entsprechenden Ordnungsprozessen abhängt. Die Interessen, Bedürfnisse, Funktionen und Aufgaben dieser Gruppen bestimmen die organisatorische Struktur („Form follows function“). Die Weiterentwicklung der Industriegesellschaften ruft auch grenzüberschreitende Probleme hervor, deren funktionsbezogene Lösung nur durch überstaatliche, nicht nationalstaatliche sowie internationale Organisationen erreicht werden kann. Die Integration der Territorien erscheint für den Funktionalismus deshalb als Illusion, was auch das Scheitern der EVG bewiesen habe. – Weitere Integrationstheorien65: – Freihändlerische Theorie der Integration (Ricardo), – Neofunktionalismus bzw. Funktionalismus-Revision (Haas), – Transaktionistischer (kybernetischer) Integrationsansatz (Deutsch), – Konfigurationsansatz (Etzioni und Nye), – Intergouvernementalismus. Der Ordnungsprozeß kann sich im regional-zeitlich-sektoralen Spektrum zwischen Föderalismus und Funktionalismus abspielen, ungeachtet einer Wertung, welcher Grad an Föderalismus oder Funktionalismus der geeignetere sein dürfte oder ob der größte gemeinsame Nenner aus beiden Bereichen den Ordnungsprozeß bestimmen sollte: In der politischen Diskussion stehen unter Berücksichtigung dieser mehrdimensionalen Ordnungsfaktoren folgende Konzeptionen66: – Abgestufte Integration (Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten)
Die gemeinsamen Ziele der Mitgliedstaaten werden von diesen zeitlich und mitgliedschaftlich gestuft umgesetzt. – Differenzierte Integration
Es erfolgt die Bildung eines Kerns von Mitgliedstaaten, welche in verschiedenen Gemeinschaftspolitikbereichen tätig werden. Dabei ist die Teilnahme an unter65 66
Vgl. Nohlen, D. (1997), S. 355 f. und Woyke, W. (1997), S. 21. Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 21 ff.
2.3 Problemfelder der EU
57
schiedlichen Gemeinschaftspolitikbereichen durch die einzelnen Staaten möglich. – Europa der konzentrischen Kreise
Um einen zentralen Kreis (EU / EG) mit funktionalen und geographischen Gemeinschaftspolitikbereichen werden weitere Kreise (z. B. EFTA) durch vertragliche Bindungen angeordnet. Das Modell wurde insbesondere nach der EU-Verfassungskrise 2005 (vgl. Kapitel 4.2.1.5 und Kapitel 4.2.1.6) neu diskutiert und favorisiert im Hinblick auf den Türkei-Beitritt: Der grenzenlosen Ausdehnung der EU weicht ein „Modell konzentrischer Kreise mit nach innen zunehmender Konzentrationsdichte“ 67. – Kerneuropa
Ein Kern von Mitgliedstaaten beteiligt sich an allen Gemeinschaftspolitikbereichen als Integrationsmotor und darf nicht durch Vetorechte anderer Mitgliedstaaten in den Ordnungsprozessen blockiert werden. – Europa der variablen Geometrie
In Gemeinschaftspolitikbereichen gemäß funktionaler Ausrichtung sollen Problemlösungszonen errichtet werden und weitere Politikbereiche aufgenommen werden. – Europa der Nationen
Die politische Souveränität der Mitgliedstaaten bleibt bewahrt. Es werden ausgewählte Gemeinschaftspolitikbereiche betrieben. Zwischen den Regierungen der Mitgliedstaaten erfolgt eine intergouvernementale Zusammenarbeit in vertraglich geregelter Form. – Europa à la carte
Jeder Mitgliedstaat kann frei an den gewünschten Gemeinschaftspolitikbereichen teilnehmen oder wieder ausscheiden. Ein Mindestmaß an Beteiligung ist nicht vorhanden. Das Modell entspricht einer flexiblen Form des Intergouvernementalismus.
2.3.4 Ordnungsform Um die Gestaltungskriterien für die mögliche Ordnungsform einer europäischen politischen Union festzulegen, sind fünf Bereiche betrachtungsrelevant: – Territoriale Ordnung
Mit der ersten Norderweiterung 1973 durch den Beitritt von Dänemark, Großbritannien und Irland, der Süderweiterung 1981 bzw. 1986 mit Griechenland, Portugal und Spanien sowie der zweiten Norderweiterung 1995 mit Schweden, Finnland und Österreich fand eine erhebliche territoriale Ausweitung des EU67
FTD (2005t), S. 26.
58
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
Gebietes zunächst auf 15 Staaten im Vergleich zu den sechs Ursprungsstaaten statt. Der weitere Beitritt von Staaten Mittel- und Osteuropas68 sowie Zyperns (Osterweiterung) zum 01. 05. 2004 (Polen, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Estland, Lettland, Litauen, Slowenien, Zypern und Malta) und die Balkan-Süd-OstErweiterungsdiskussion69 zeigen das weitere territoriale Potential und auch die Attraktivität der EU auf. Eine definitive territoriale Grenze des Staatenverbundes, welche die politische und wirtschaftliche Stabilität sowie die institutionelle Handlungsfähigkeit sprengen würde, liegt nicht fest. Innerhalb der territorialen Ordnung sind Abkommen über die Anerkennung von Staatsgebieten und -grenzen, Regelungen über den Grenzverkehr (z. B. Schengener Abkommen 198570) sowie über die Behandlung von Souveränitätsrechten unabkömmlich. – Politische Ordnung
Die politische Ordnungsform ist charakterisiert im Spektrum zwischen Bundesstaat – ein Staatsgefüge, bei dem sich Einzelstaaten als Gliedstaaten zu einem Gesamtstaat vereinigt haben – und Staatenbund als nicht nur auf bestimmte Zwecke beschränkte organisierte politische Staatenverbindung mit eigener Völkerrechtssubjektivität versehene Föderation. Die Klassifizierung der derzeitigen politischen Ordnungsform gelingt weder in die eine noch in die andere Richtung. Das derzeitige System besteht weltweit einmalig; es ist eine Kooperationsform von Staaten. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Ordnungsform in seinem Urteil vom Oktober 1993 als Staatenverbund71. Sie ist demnach mehr als ein Staatenbund, besitzt jedoch weder eine eigene Identität und Armee noch ein eigenes Staatsvolk und -gebiet, hat jedoch eine begrenzte Staatsgewalt, eine gemeinsame Währung, Gemeinschaftspolitiken, eigene Einnahmequellen ohne Steuererhebungsbefugnis sowie Organe mit verfügbarer Supranationalität. Endziel der politischen Ordnung der Mitgliedstaaten ist eine eigene Verfassung. Ein wesentliches, im Artikel 5 des Maastrichter Vertrages72 niedergeschriebenes Gestaltungsprinzip für die Ordnungsform der EU ist das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3). Subsidiarität „ist eine gegen den Zentralismus gerichtete, föderale Ordnung des Gemeinschaftslebens, in der die jeweils übergeordnete Gemeinschaft die Wirkungsmöglichkeiten der untergeordneten anerkennt“73. Schon bei Aristoteles und dem Staatstheoretiker Althusius (17. Jahrhundert) war der Begriff gegenständlich. Die Tätigkeit der EU wird durch das Subsidiaritätsprinzip darauf beschränkt, nur innerhalb der in den Verträgen zugewiesenen 68 Bulgarien, Estland, Lettland, Litauen, Malta, Polen, Rumänien, Slowakische Republik, Slowenien, Tschechische Republik, Türkei, Ungarn und Zypern. 69 Vgl. FTD (2002), S. 14. 70 Vgl. die Ausführungen zum Schengener Abkommen bei Fontaine, P. (1998), S. 19 f. 71 Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 5. 72 Vgl. den Gesetzestext in: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999), S. 84. 73 Mickel, W. (1994), S. 325.
2.3 Problemfelder der EU
59
Befugnisse und Ziele zu handeln und keine Tätigkeiten über diese hinaus zu verfolgen. Die praktische Umsetzung wurde durch die „Interinstitutionelle Erklärung über Demokratie, Transparenz und Subsidiarität“ vom Oktober 1993 durch das Europäische Parlament, den Rat und die Kommission geregelt. – Wirtschaftsordnung
Die Wirtschaftsordnung als „Gesamtheit aller für den organisatorischen Aufbau der Volkswirtschaft und für die wirtschaftlichen Abläufe geltenden Regeln sowie die Gesamtheit der für die Verwaltung, Steuerung und Gestaltung der Wirtschaft zuständigen Einrichtungen“74 wird von unterschiedlichen Faktoren75 geprägt: – Wirtschaftsverfassung bzw. Wirtschaftsordnungsmodelle Die Idealtypen einer Wirtschaftsverfassung sind die Zentralverwaltungswirtschaft (Leitung durch eine Zentralinstanz) 76 und die Marktwirtschaft (Leitung durch private und öffentliche Haushalte und Unternehmen)77. Die Realtypen als Ausprägung der einzelnen Staaten sind als Mischformen zwischen den beiden Idealtypen anzusiedeln (Abbildung vom Verfasser selbst erstellt):
Italien
Rumänien
Ungarn
Frankreich USA
BRD
Freie Marktwirtschaft
Zentralverwaltungswirtschaft
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Abbildung 4: Typen einer Wirtschaftsverfassung
– Marktformen Die Marktformen als Strukturformen zur Kennzeichnung der Markteigenschaften wie Preisbildung, Angebot und Nachfrage sind78: Polypol, Oligopol und Monopol sowie deren Mischformen wie z. B. Teilmonopole. 74 75 76 77 78
Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 24. Vgl. Sellien, R. / Sellien, H. (1988), S. 2760. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 34 ff. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 44 ff. Vgl. Sellien, R. / Sellien, H. (1988), S. 288.
60
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
– Formen der Geldentstehung und der Geldwirtschaft Die Geldentstehung wird durch die Verfügbarkeit von Warengeld und Kreditgeld (Geldart) bestimmt, die Geldwirtschaft durch die Geldfunktionen der Recheneinheit, des Zahlungsmittels und der Wertaufbewahrung. Für die Finanzierung der EU wesentlich ist die Form der zur Verfügung gestellten Mittel und die Form des Haushaltes. Die EU-Mittel in Höhe von 1,27 % des BSP der EU für die Jahre 2000 bis 2006 werden von den Mitgliedstaaten – welche durch ihre Finanzhoheit das Besteuerungsrecht besitzen – zur Verfügung gestellt. In 2001 betrug der EU-Haushalt 92,6 Milliarden Euro79. Historisch wurden die Weichen für die Eigenmittel der EU in Luxemburg 1970 mit dem Vertrag zur schrittweisen Finanzierung der EU durch Eigenmittel gestellt. – Wirtschaftspolitik80 Wirtschaftspolitik sind Aktivitäten staatlicher Instanzen, die Ziele der Wirtschaftsordnung zu gestalten und zu realisieren (Ordnungspolitik) sowie den Ablauf und die Ergebnisse der Wirtschaftsprozesse zu beeinflussen (Allokations-, Stabilisierung- und Verteilungspolitik = Prozeßpolitik). Die EU fußt historisch ausschließlich auf der Wirtschaftspolitik mit den Zielen des EGKSVertrages 1951. Hintergrund ist dabei wiederum die funktionalistische Integration, mit der Vorstellung, daß eine wirtschaftspolitische Regelung wesentlicher Märkte – hier Kohle und Stahl – eine politische Regelung nach sich ziehen wird. Somit ist der Wirtschaftspolitik eine herausragende Initialstellung zuzuweisen. Im Maastrichter Vertrag von 1992 ist die Wirtschaftspolitik in der sogenannten ersten Säule mit den Verträgen der EGKS, der EG und der EAG nach wie vor verankert; die zweite und dritte Säule bilden die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GASP sowie die Zusammenarbeit der Polizei und der Justizbehörden in Strafsachen ZJI81 (vgl. nachfolgender Absatz „Rechtsordnung“). – Innen- und außenpolitische Rechtsordnung
Die Rechtsordnung eines Staatsgebildes ist definiert als „die auf Dauer angelegte, allgemeinverbindliche abstrakte Ordnung sozialer Beziehungen in einer bestimmten Gruppe von Menschen“82. Die gesetzlich realisierte und erstrebte Ordnung wird in einer Staatsverfassung niedergelegt; die EU hat derzeit noch keine eigene Staatsverfassung. Weiterhin wird ihr eine eigene „KompetenzKompetenz“ abgesprochen, da sie immer noch auf der Grundlage begrenzter Einzelermächtigungen handelt, deren Umfang durch die Mitgliedstaaten legitimiert wird83. 79 80 81 82 83
Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 50. Vgl. Sellien, R. / Sellien, H. (1988), S. 2765. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 59. Herder Verlag (1988), S. 177. Vgl. Die Zeit (2005c), S. 4.
2.3 Problemfelder der EU
61
Recht wird durch Sanktionen geschützt und durchgesetzt; dazu werden institutionelle Organe im Rahmen der Gewaltenteilung gebildet, welche in der EU die Kommission (Gesetzesinitiative), der EuGH (Rechtssprechung) sowie Europol (Zentralstelle für die Kriminalpolizei als durchsetzendes Organ) sind. Die Bildung einer europäischen Armee scheiterte 1954 (vgl. Kapitel 2.2.1.1). Grundsätzliches Ziel einer Rechtsordnung ist die Herstellung des Rechtsfriedens durch eine Friedensordnung, woraus sich wiederum das Ziel der Rechtssicherheit ableitet84. Das Vertragssystem der EU errichtet demnach eine Rechtsordnung. Historisch begründet ist schon der Ursprungsgedanke der Friedenssicherung, welcher sich verstärkt in folgenden Aktionen (vgl. Kapitel 2.2.1.1) mit Vertragsbindungen wieder spiegelt: – 1948 Brüsseler Pakt, – 1950 Pleven-Plan, – 1954 Pariser Verträge, – 1957 Römische Verträge, – 1975 KSZE Helsinki. Die Entwicklung der EU wird außenpolitisch jedoch auch bereits skeptisch verfolgt und betrachtet: Es wird befürchtet, daß ein starkes Europa die Rolle der USA international schwächt und ein erstarktes Europa außenpolitisch nicht wünschenswert ist. Israel hat dazu durch das Verteidigungsministerium eine Studie mit dem Ziel der Strategiebildung für die Außen- und Verteidigungspolitik Israels erstellt; die Studie deckt sich mit den Einschätzungen in Brüssel85. Grundprinzipien einer Rechtsordnung wurden innerhalb der EU in der Charta der Grundrechte 1989 durch elf Mitgliedstaaten manifestiert, so auch die Würde des Menschen (Kapitel I), Freiheiten (Kapitel II), Gleichheit (Kapitel III), Solidarität (Kapitel IV), Bürgerrechte (Kapitel V) und justizielle Rechte (Kapitel VI)86. – Sozialordnung
Die Sozialordnung eines Staatsgebildes ist definiert als „Gesamtheit der Institutionen und Normen zur Regelung der sozialen Stellung von Individuen und Gruppen in der Gesellschaft sowie zur Regelung der wirtschaftlich begründeten sozialen Beziehungen zwischen Gesellschaftsmitgliedern“87. Teil der Sozialordnung ist auch die kulturelle, sittlich-moralische sowie die rechtliche Ordnung (siehe voriger Absatz „Rechtsordnung“). Mit der Nord- und Osterweiterung der EU dürften sich weitere Problemfelder des Übereinkommens vormals sehr unVgl. Herder Verlag (1988), S. 177. Vgl. FTD (2004c), S. 15. 86 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 112 ff. und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 21. 87 Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 70 f. 84 85
62
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
terschiedlicher Sozialordnungen ergeben. Die EU hat eine eigene Sozialpolitik, welche in den Gründungsverträgen 1954 ihren Ursprung haben. 1987 wurde durch die EEA eine kohärente europäische Sozialpolitik möglich. Auch die Charta der Grundrechte bedeutet einen wesentlichen Baustein einer gemeinschaftlichen Sozialpolitik. Die Sozialpartner haben in der EU verschiedene Institutionen wie z. B. den Europäischen Gewerkschaftsbund EGB, die Union der Industrien der Europäischen Gemeinschaft UNICE und die Europäische Zentrale der öffentlichen Wirtschaft CEEP gegründet88. Die Historie kann demnach unter Berücksichtigung der Aktionen sowie des zugrunde liegenden Zieles (vgl. Kapitel 2.1) analog zu den Phasen der zeitgeschichtlichen Aktionsschwerpunkte (vgl. Kapitel 2.3.1) in Verbindung mit der Erreichung der territorialen, politischen und wirtschaftlich-rechtlich-sozialen Ordnungsform in folgende fünf Phasen eingeteilt werden (folgende Abbildung vom Verfasser erstellt)89. Ein unmittelbar mit der territorialen, wirtschaftlichen und politischen Ordnung im Zusammenhang stehendes Problemfeld ist die Handlungsfähigkeit des Strukturgebildes Europa: – Territorial
Bis zu welcher Größe können Stabilität, Sicherheit, politische Einheit und Infrastruktur gewährleistet werden? – Wirtschaftlich
Kann die Wirtschaftspolitik und das Wirtschaftssystem auf alle Bereiche erweitert werden und kann das Strukturgebilde Europa finanziert werden? – Politisch
Können die Gemeinschaftspolitiken auf alle Bereiche erweitert werden und werden alle Mitgliedstaaten die Entwicklungen parallel vorantreiben; ist das Strukturgebilde Europa regierbar und politisch im Griff zu behalten? Wird das Strukturgebilde außenpolitisch konsolidierbar und handlungsfähig sein? Die derzeitige Handlungsfähigkeit kritisiert Gaston Thorn wie folgt90: „Die Handlungsfähigkeit der Europäischen Gemeinschaft und ihre Glaubwürdigkeit stehen und fallen mit der Bereitschaft der Mitgliedstaaten, das gemeinsame Recht zu respektieren . . . Wichtige Entscheidungen sind ständig hinausgeschoben worden und der Einigungsprozeß verlor seine Dynamik . . . Insgesamt bleibt bezüglich des Entscheidungsprozesses der Gemeinschaft folgendes Bild: Die Kommission schlägt vor, das Europäische Parlament drängt, der Ministerrat zaudert – und nichts geschieht.“ 88 89 90
Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 64 f. Vgl. die Gliederung des Werkes von Pfetsch, F. R. (1997). Weidenfeld, W. / Wessels, W. (1986), S. 12.
2.3 Problemfelder der EU
S S T T A A G G N N A A T T II O O N N
S S C C H H U U B B
1990
1985
1980
1975
U U N N D D
N N E E U U E E R R
2000
E E R R W W E E II T T E E R R U U N N G G
1995
+ + G G R R Ü Ü N N D D U U N N G G S PS P H H A SA ES E
1970
K K O O N N S S O O L LI I D DI IE E R R U U N N G G SS
1965
1960
G G R R Ü Ü N N D D U U N N G G S S P P H H A A S S E E
1955
1945
II N N K K U U B B A A T T II O O N N S S P P H H A A S S E E
1950
PHASE
63
RAUMZEIT
Wirtschaftlich: Wiederaufbau Politisch: Friedenssicherung Politisch: Föderales Europa, EU-Verträge Politisch: Supranationalität, Souveränität Frankreichs Territorial: Nord- + Süderweiterung, Politisch: EPZ Politisch: Institutionalisierung EEA/Maastricht Weitere Politiken GASP/ZJI EU-Verfassung Territorial: EU-Erweiterung, Vertrag von Nizza Wirtschaftlich: WWU/WU Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Abbildung 5: Entwicklungsphasen der EU
64
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
In 2005 urteilt EU-Kommissionspräsident Barroso im Rahmen seiner geplanten Rücknahme von 110 noch nicht beschlossenen EU-Vorschriften: „Wir dürfen nicht gesetzgeberisch tätig werden, wenn kein echter Mehrwert entsteht. Neue Gesetze können schädlich sein, und Europa darf kein bürokratisches Monster sein“91.
2.3.5 EU-Krisen: Störungen der Aktionen und Prozesse Die politischen Prozesse und Aktionen mit dem Ziel einer Europäischen Union waren seit Beginn der EU immer wieder gravierenden Störungen unterworfen, welche zu Krisensituationen geführt haben. Diese Krisensituationen konnten bisher durch Nachverhandlungen und Zugeständnisse ausgeräumt werden92. Der Verlauf der EU-Krise 2005 ist dagegen noch unklar93. Die EU durchlief nachfolgende politische Krisen94, welche 2005 in einer nicht nur politischen Krise gipfelte: – 1954
Vor dem politischen Ziel der Friedenssicherung (vgl. Kapitel 2.2.1.1 und Kapitel 2.3.4) sollte mit dem Vertrag zur Gründung einer Europäischen Verteidigungsgemeinschaft eine Verbindung zwischen den Streitkräften von Italien, Deutschland, Frankreich, der Niederlande, Belgien und Luxemburg geschaffen werden. Frankreich lehnte den Vertrag ab. Im Ergebnis dieser Krise fokussierte man sich auf die wirtschaftliche Zusammenarbeit mit dem Ergebnis der EWG 1957. Erst etwa 40 Jahre später werden wieder Schritte für eine Europäische Sicherheitsund Verteidigungspolitik unternommen. – 1963
Der Beitritt Großbritanniens zur Europäischen Gemeinschaft wird durch ein Veto des französischen Präsidenten Charles de Gaulle verhindert. Großbritannien wird erst zehn Jahre später Mitglied der EG. – 1965
Unter dem Begriff des „leeren Stuhls“ wurde diese durch Frankreich ausgelöste Krise bekannt; Frankreich blieb sechs Monate den Sitzungen der EU fern. Hintergrund war die Ablehnung von Frankreichs Präsident Charles de Gaulle, einen Wechsel vom System der einstimmigen Beschlußfassung zu mehrheitlichen Beschlüssen zu vollziehen. Die Krise wurde durch den Kompromiß beendet, daß jedes Mitgliedsland einen Beschluß bei wichtigen nationalen Interessen mit seinem Veto verhindern kann (sog. Luxemburg-Kompromiß), wobei sich jedoch Frankreich durchsetzte, daß nur einstimmig beschlossen werden kann. 91 92 93 94
SZ (2005l), S. 7. Vgl. Die Welt (2005b). Zum Zeitpunkt der Verfassung dieses Beitrages. Vgl. Die Welt (2005b) sowie Spiegel (2005a).
2.3 Problemfelder der EU
65
– 1979
Die britische Premierministerin Margaret Thatcher besteht darauf, daß die Beitragszahlungen Großbritanniens für den EG-Haushalt abgesenkt werden. Im März 1984 läßt sie die Agrarverhandlungen platzen. Die EG lenkt drei Monate später ein, was bis heute zum Mißfallen anderer EU-Mitgliedstaaten geschah. – 1992
Das erste Referendum zum Maastrichter Vertrag wird durch die dänische Bevölkerung mit 50,7 % Ablehnungsquote negativ beschieden. Daraufhin wird für die Dänen durch vier Austritt-Optionen aus der Verteidigungs-, Währungs-, Einwanderungs- und Asylpolitik der EU nachgebessert, was im zweiten Referendum 1993 zur Annahme des Maastrichter Vertrages mit knapp 57 % führt. – 1996
Die EU verhängt 1996 ein Exportverbot für britische Rinder aufgrund der BSEEpidemie. Der britische Ministerpräsident John Major kündigt die Blockade dieser EU-Entscheidungen durch Großbritannien an. Mit der Wahl von Tony Blair 1997 als Nachfolger Majors entspannt sich das Verhältnis aufgrund der kooperativen Vorgehensweise Blairs; dies führt 1998 zur Aufhebung des Embargos. – 1999
Im März 1999 tritt die EU-Kommission unter Jacques Santer wegen Betrugsvorwürfen gegen mehrere Kommissare geschlossen zurück. In einem Untersuchungsbericht wurde dem 20-köpfigen Gremium Mißwirtschaft und Unfähigkeit vorgeworfen. Die neugewählte Kommission (Vorsitz Romano Prodi) verspricht daraufhin, die Mechanismen der Finanzkontrolle zu verstärken. – 2001
Die EU-Krise von 2001 verlief analog zu jener von 1992: Das erste Referendum zum Vertrag von Nizza wird durch die Iren mit 54% Ablehnung negativ beschieden, da man die Gefährdung der Wahrung der Neutralität Irlands befürchtet. Daraufhin wird für die Iren durch eine Erklärung, daß der Vertrag von Nizza keine Auswirkungen auf die Neutralität Irlands hat, nachgebessert; dies führt im zweiten Referendum 2002 zur Annahme des Vertrages von Nizza mit einer Zustimmungsquote von 62 %. – 2003
Auf dem Sondergipfel in Brüssel im Februar 2003 entstand eine Krise wegen des Irak-Konfliktes: Erst nach langem Streit einigen sich die Staats- und Regierungschefs auf eine gemeinsame Position. Erstmals wird mit Zustimmung Deutschlands Gewalt als letztes Mittel zur Lösung der Irak-Krise akzeptiert. – 2003
In Brüssel scheitern Beratungen über eine europäische Verfassung in Brüssel und führen erst im Juni 2004 zu einer Einigung.
66
2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
– 2005
Die Ablehnung der EU-Verfassung durch die Bevölkerungen Frankreichs und wenige Tage später der Niederlande wurde in der politischen Diskussion als schwere Krise der EU angesehen und ließ Zweifel an deren Handlungsfähigkeit aufkommen95. Im Umfeld des Ratifizierungsprozesse für die EU-Verfassung (vgl. Kapitel 4.2.1.6.1) entsteht so Mitte 2005 die „größte Krise seit 50 Jahren“96. Sie wird als „dramatische Lage“, als „extrem tiefe Krise“ sowie als Abdriften in „eine schwere, vermutlich länger andauernden Orientierungskrise“97 und als Scheideweg zwischen politischer Integration und Degeneration zur Freihandelszone98 beschrieben. Ratspräsident Juncker äußerte sich wie folgt99: „Es gibt jene, die ohne es wirklich zu sagen, einen großen Markt und nichts als einen großen Markt wollen; und jene, die ein politisch integriertes Europa wollen“ und der deutsche Außenminister Fischer definierte eine dreifache Krise Europas, die Vereinigungs-, die Globalisierungs- und die Identitätskrise100. Die europäische Presse urteilt: „Europa hat sich zu einem Monstrum entwickelt, das seinen Erfindern über den Kopf gewachsen ist“, kommentiert am 20. 06. 2005 der „Tagesspiegel“ aus Berlin. Die bedächtige „Neue Züricher Zeitung“ sieht „Lähmungserscheinungen“ in der EU und deutete die verpasste Einigung als „ein Ringen zwischen dem alten und dem neuen Europa“, also als „ein Kampf zwischen dem strukturkonservativem und dem marktorientierten Europa“. Für den „Tagesanzeiger“ aus Zürich hat das „alte Europa abgedankt“. Die römische „La Repubblica“ schrieb, Europa sei längst in „Mittelmäßigkeit versunken“ und die „Presse“ in Wien bezeichnete deren Staats- und Regierungschefs gar als „Totengräber Europas“. Der britische Außenminister Jack Straw erläuterte am 19 06. 2005 dem BBC, daß es sich um „die schwerste Krise“ handelte, die er in seiner nun achtjährigen Zeit als Regierungsmitglied erlebe101. Neben dieser Verfassungs- und Vereinigungskrise wurden während derer Diskussion weitere grundlegende Strukturdefizite der EU Streitgegenstand: – Haushaltskrise
Im Haushaltsstreit für den EU-Haushalt 2007 bis 2013 konnte keine Einigung über dessen Zusammensetzung sowie dessen Höhe erzielt werden. In der Kritik stand die Struktur mit einem hohen Volumen im Agrarbereich sowie niedrigen Volumen. Vgl. SZ (2005e), S. 1. FTD (2005p). 97 FAZ (2005g), S. 1 und dto., S. 3. 98 Vgl. Europa-Union Bayern e.V. (2005b). 99 FAZ (2005h), S. 3. 100 Vgl. FAZ (2005j), S. 1. 101 Vgl. Spiegel (2005a). 95 96
2.3 Problemfelder der EU
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– Vereinigungskrise Äußerst kritisch in der Diskussion stand der Beitritt der Türkei zur EU im Umfeld der Verfassungsdiskussion. Dabei standen Szenarien vom Nichtbeitritt über die privilegierte Partnerschaft bis zum Vollbeitritt im Fokus. Bevor jedoch der Beitritt „EU-näherer“ Volkswirtschaften nicht vollzogen sei, sollte auch nicht über den Türkei-Beitritt näher diskutiert werden. Das Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurde ebenfalls als Grund für die Ablehnung der EU-Verfassung durch Frankreich und die Niederlanden gehandelt102. – Globalisierungskrise Bei der Globalisierungskrise drehte sich alles um das Spannungsfeld zwischen globalisierter, offener Marktwirtschaft und der Frage des damit zu verbindenden Verlustes an sozialen Elementen und des fehlenden Gleichgewichtes zwischen liberaler Wirtschaftsordnung und solidarischer Gesellschaftsordnung103. – Beginnende Wirtschaftskrise In dieser Periode deuteten sich außerdem Anzeichen für eine beginnende Wirtschaftkrise an. Dazu zählen größer werdende Wachstumsunterschiede der Mitgliedstaaten, die unterschiedliche Inflation und der unterschiedliche Realzins104. Die EZB warnte im Juni 2005, daß die Stabilität der Euro-Zone wegen der signifikanten Differenzen in den Kennzahlen der Wettbewerbsfähigkeit der Mitgliedstaaten in Gefahr sei, weil die Möglichkeit der Gegensteuerung durch Währungsabwertung oder niedrige Zinsen zu dem Zeitpunkt nicht mehr gegeben ist105. Kurz danach empfahl Mitte Juli 2005 Großbritannien Deutschland den Austritt aus der Euro-Zone aus ökonomischen Gründen, da die einheitliche Geldpolitik der EZB bei der geringen Inflation in Deutschland zu restriktiv für Deutschland sei106 und Italiens Außenminister propagierte den Ausstieg Italiens aus dem Euro. Die Forderungen an die EZB von Vertretern Deutschlands, Italiens und Frankreichs, die Leitzinsen zur Konjunkturstützung zu senken, wurde durch die EZB abgelehnt mit dem Argument, daß die Wachstumsschwäche durch die unzureichenden Strukturreformen zustande kämen und eine Leitzinssenkung daher nicht das geeignete Gegensteuerungsmittel sei107. – Identitätskrise Mit der Frage der EU-Erweiterung verbunden waren nach der Ablehnung der EU-Verfassung durch die Bevölkerungen Frankreichs und der Niederlande Diskussionen um die Identität Europas im Zusammenhang mit der Forderung der Definition des Leitmotivs der EU, diese neu zu definieren. Dahinter steht 102 103 104 105 106 107
Vgl. FAZ (2005d), S. 2. Vgl. Die Zeit (2005b), S. 4 und SZ (2005 f.), S. 13. Vgl. FAZ (2005c), S. 11 und FTD (2005g), S. 1. Vgl. FTD (2005n), S. 9. Vgl. FTD (2005o), S. 14. Vgl. FTD (2005s), S. 17.
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2. Einigungsbestrebungen und Methodik der politischen Theorie und Systeme
die Frage der Identität Europas: Wird Europa islamisiert oder der Islam europäisiert?108 Weitere Schauplätze von Meinungsdivergenzen, welche letztendlich über Kompromisse gelöst werden können, begünstigten diese EU-Krise nicht. So entstand Mitte 2005 z. B. ein Streit der EU-Kommissare um die Umweltpolitik: Die vom Griechen Dimas verfolgte Strategie der EU-Umweltpolitik würde nach Berechnungen den EU-Haushalt ab dem Jahr 2020 jährlich 12 Milliarden Euro kosten. Hier kam die grundsätzliche Frage der Priorität der Politikfelder auf, wobei klar heraus gestellt wurde, daß beispielsweise die Umweltpolitik der EU der Wirtschaftspolitik in nichts nachstehen wird109. Das Mitglied des Verfassungskonvents und EU-Abgeordneter Joachim Würmeling skizzierte 2005 vier Vorschläge für eine tiefgreifende Reform der EU, um die Überdehnungs- und Zentralisierungsproblematik zu lösen110: – Die Inhalte des institutionellen Rahmens der EU müssen nicht nur an der Wirtschaftsgemeinschaft sondern auch an ethischen und politischen Werten ausgerichtet werden. Dies bedeutet nicht nur Friedens- und Freiheitssicherung, sondern auch die Gestaltung Europas in den Staaten, welche an Macht verloren haben. Auch muß dem Unterschied von europäisch-christlichem und asiatischem, islamischem und amerikanischem Menschenbild Rechnung getragen werden. – Die EU-Erweiterung sollte mit der Aufnahme von Kroatien, Bulgarien und Rumänien abgeschlossen werden. Weitere Nachbarschaftsmodelle sollten durch vernünftige Verbindungen zu angrenzenden Regionen wie Kleinasien oder Russland geschaffen werden. – Die Verschlankung der EU-Kompetenzen und der Gesetzgebung sind unabdingbar um Lösungen für übergreifende Fragen zuschaffen und nicht das tägliche Leben der Bürger zu reglementieren und um Kompetenzen an die Staaten zurück zu geben. Die übergreifenden Fragen betreffen gravierende Verzerrungen des Wettbewerbs, Kriege, Krisen und Katastrophen, globaler Umweltschutz, internationaler Terrorismus und organisierte Kriminalität. – Verwendung des EU-Haushaltes ausschließlich für echte kontinentale Ziele und Zurückverlagerung von wünschenswerten Entwicklungen auf die Mitgliedstaaten.
108 109 110
Vgl. FTD (2005q), S. 24. Vgl. FTD (2005r), S. 13. Vgl. FTD (2005u), S. 26.
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU 3.1 Leben und Werk des Johannes Althusius1 Johannes Althusius – übersetzt aus der Lateinisierung nach der Art damaliger Studenten wohl mit bürgerlichem Namen Johann Althaus2 – wurde 1557 oder 1563 in Diedenshausen (Grafschaft Witgenstein-Berleburg) nordöstlich von Bad Berleburg als Sohn des Müllers Hans Althaus3 geboren4. Vermutlich hat er ab 1577 das Paedagogium in Marburg oder aber die Berleburger Lateinschule besucht5. Nicht sicher sind die Angaben hinsichtlich seiner Studienzeit ab 1581 in Basel mit Unterstützung des Grafen Georg von Sayn-Wittgenstein und ab 1586 in Genf nach den Vorlesungen des Dionysus Gothofredus, dem Herausgeber von Ciceros Werken und Erforscher des römischen Rechts6 – dem Vater des berühmten Jacobus Gothofredus – mit dem Abschluß eines Doktors der Rechtswissenschaften und der Theologie7 im Jahre 1586. Ab 1586 wirkte er als zunächst Institutionarus und Lizensiat, ab 1588 als ordentlicher Professor8 an der erst 1584 gegründeten Nassauischen Hochschule zu Herborn – nach dem nassauischen Landesherrn Graf Johann VI. von Nassau (1536 – 1606) Johannea benannt, welcher wiederum mit dem Grafen Georg von Sayn-Wittgenstein befreundet und der Bruder Wilhelm von Oraniens war9 – an der er die Gründung einer rechtswissenschaftlichen Fakultät der bis dahin theologischen Schule vornahm10. 1592 folgte Althusius einem Ruf an die 1588 gegründete calvinistische Hohe Schule in Burgsteinfurt, bevor er am 04. 10. 1594 an die Johannea 1 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 17 ff., Dahm, K.-W. (1988), S. 23 ff., Wolf, E. (1963), S. 180 ff., Gierke, O. von (1981), S. 11 ff. und Janssen, H. (1992), S. 15 f. 2 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 333. 3 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 15. 4 Vgl. dazu auch die Literaturhinweise bei Gierke, O. von (1981), S. 10 ff. und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. VIIIf. 5 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 16. 6 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 119. 7 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 180 und Hüglin, Th. (1991), S. 70. 8 Vgl. die näheren Ausführungen zur Tätigkeit des Althusius an der Johannea bei Hüglin, Th. (1991), S. 71 ff. und vgl. Menk, G. (2004), S. 332 ff. 9 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 71. 10 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Janssen, H. (1992), S. 18.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
als Professor beider Rechte (Ordinarius Legum) zurückkehrte. Daneben war er seit 1589 Rat an der Hofkanzlei des Grafen in Dillenburg11. Diese war mittlerweile bis zur Zurückverlegung nach Herborn 1599 nach Siegen verlagert. Während dieser Zeit heiratete er wohl 1595 die 22-jährige Tochter einer einflußreichen Siegener Familie, Margarete Neurath. 1599 und 1602 leitete er das Rektorat der Johannea. Im Jahre 1604 brach er mit seiner Lehrtätigkeit und nahm das vom fürstlichen Kanzler Thomas Franzius – ein ehemaliger Professor der Juristenfakultät zu Wittenberg – betriebene Angebot als Syndikus (Stadtoberhaupt) der bedeutenden Hafen- und Handelsstadt Emden an12 bis zu seinem Tod am 17. August 163813. Eine Tätigkeit als freier Rechtsanwalt war ihm laut Vertrag mit der Stadt Emden gestattet. Während dieser Zeit lehnte er sowohl den Ruf als Professor der Universität Leyden als auch Franecker (Holland) ab. Das wichtigste Werk Althusius’ erschien 1603 in Herborn bei Christophorus Corvinus: „Johannis Althusii, U.J.D., Politica methodice digesta et exemplis sacris et profanis illustrata“14, zu deutsch „Politikwissenschaft, methodisch dargestellt und an geistlichen und weltlichen Beispielen erläutert“. Inhalt des Werkes sind Abhandlungen zur politischen Theorie, d. h. grundsätzliche Zielsetzungen und Inhalte der Politik15. Die Politica ist als Lehrbuch der politischen Wissenschaft zu verstehen16, welches auf die Verbindung der Elemente Theologie, Jurisprudenz und Politikwissenschaft gegründet ist. Dabei bedient sich Althusius einer umfassenden Vertragstheorie (Beauftragungsvertrag vgl. Kapitel 3.2.1.2.1, Herrschaftsvertrag vgl. Kapitel 3.2.3.1.1, Gesellschaftsvertrag vgl. Kapitel 3.2.3.1.3), welche jedoch wegen des fehlenden Individuumbegriffes sowie der fehlenden Versprechenskonzeption mit zwei Willensbekundungen nicht der modernen Vertragstheorie wie etwa die Inhalte bei Grotius, Hobbes oder Locke zuzurechnen sind17. Althusius zitiert in der Politica viele Schriften zu diesen Themen, so z. B. Bodin mit 200 Zitaten, dessen Schüler Peter Gregorius mit 500 Zitaten, Aristoteles mit 75 Zitaten, Calvin mit 19 Zitaten (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1), Cicero mit 70 Zitaten, Fernando Vázquez mit 89 Zitaten18, die Bibel mit etwa zweitausend Zitaten sowie über 150 Juristen und Politologen wie Homer, Herodot, Plutarch, Seneca, Sueton, Caesar, Tacitus, Vergil, Horaz, Gellius, Livius, Macrobius, Persius, Plinius, Festus, Hotman und 11 Vgl. die Ausführungen bei Menk, G. (2004), S. 332 ff. sowie vgl. Wolf, E. (1963), S. 181. 12 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 203. 13 Vgl. die näheren Ausführungen zur Tätigkeit des Althusius in Emden und das politischhistorische Umfeld bei Hüglin, Th. (1991), S. 73 ff. sowie Friedeburg, R. von (2004), S. 263 ff. 14 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 13. 15 Vgl. Dahm, K.-W. (1988), S. 31. 16 Vgl. Winters, P.J. (1963), S. 270. 17 Vgl. die näheren Ausführungen bei Hartung, G. (2004), S. 287 ff. 18 Vgl. Nifterik, G. P. van (2004), S. 347; dort findet sich auch ein ausführlicher Vergleich mit Unterschieden und Gemeinsamkeiten der politischen Theorie von Vázquez und Althusius.
3.1 Leben und Werk des Johannes Althusius
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einige andere19; auch die Werke von Justus Lipsius und Giovanni Botero waren für Althusius wichtige Quellen20. Zum Zeitpunkt der Verfassung des Erstwerkes war Althusius noch als Lehrer tätig. Die zweite Auflage erschien in Groningen 1610, die dritte in Herborn 1614 sowie die vierte 1617 und fünfte 1625 in Herborn als unveränderter Abdruck der dritten; bis 1654 erschienen weitere Ausgaben21. Die Politica der zweiten Auflage (39 Kapitel gegenüber 32 Kapitel der ersten Auflage) wurde von Althusius hinsichtlich Systematik und Inhalt fortentwickelt22, vor allem in seiner Schaffenszeit als Syndikus. Sie enthält auch polemische Aussagen zu seinen Kritikern sowie geschichtliche und positivrechtliche Inhalte. Nach seinem Tode erschien das Werk 1643 in Leyden, 1651 in Amsterdam und 1654 in Herborn. Althusius verfasste weiterhin – er war ja ursprünglich Jurist – eine Reihe juristischer Werke23, darunter zwei Hauptwerke sowie einige Schriften zu speziellen Rechtsgebieten. In Basel erschien 1586 „Jurisprudentiae Romanae libri duo ad leges methodi Rameae conformati et tabellis illustrati“. Daraus entstand das juristische Hauptwerk Althusius’ „Dicaeologicae libri tres, totum et universum jus, quo utimur, methodice complectentes, cum parallelis hujus et Judaici juris, tabulisque insertis atque Indice triplici“24. Inhalt der Werke ist die Systematisierung des gesamten Zivilrechts; es wurde als Lehrbuch in zahlreichen Auflagen verwendet. Im Bereich der Ethik erschien 1601 in Hanau seine Benimm-Lehre unter dem Titel „Civilis conversationis libris duo, methodice digesti et exemplis sacris et profanis paßim illustrati“25. Althusius legte Wert auf die Abgrenzung der verschiedenen Wissenschaften. Insbesondere die Separation der Politik als Tatsachenwissenschaft von den anderen Wissenschaften der Rechtslehre, der Ethik, der Theologie, der Physik und der Logik ist durch Althusius nach dem Vorbild des Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342) vorgenommen worden26. Althusius gilt als Monarchomach (= Kämpfer gegen den Alleinherrscher)27 (vgl. Kapitel 3.2.2.1), Calvinist28 (vgl. Kapitel 3.2.2.1) Vgl. Janssen, H. (1992), S. 32 und S. 27 ff. und Hüglin, (1991), S. 85. Vgl. Behnen, M. (1984), S. 426 ff. und dort Fußnote 29; Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXV, § 1, S. 259 sowie Fußnote 1. 21 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 202. 22 Vgl. die Ausführungen bei Odermatt, K. (2002), S. 291 ff., welche einen gegenüberstellenden Vergleich der ersten und der veränderten, dritten Auflage der Politica vornahm. 23 Vgl. zur Rechtslehre des Althusius die näheren Ausführungen bei Strom, Ch. (2004), S. 71 ff. 24 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 15 und Wolf, E. (1963), S. 207. 25 Vgl. Strohm, Ch. (2004), S. 81. 26 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 184. 27 Zu ihnen zählten vor allem George Buchanan (1506 – 1582), Hubert Languet (1518 – 1581), Boucher (y 1622), Guil. Rossaaeus, Franciscus Hotomanus (1524 – 1590), Marius Salamonius, Lambertus Danaeus (ca. 1530 – 1590), Juan Mariana (1537 – 1624), Hoenonius, Milton und Althusius; vgl. Gierke, O. von (1981), S. 3 f. 28 Vgl. die Ausführungen zum Calvinismus bei Althusius in Esser, H. H. (1988), S. 165 ff. 19 20
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
und Fortsetzer der Schule von Salamanca29, welche als „Zentrum eines neuen moralphilosophischen Denkens . . . die entscheidenden Systemgedanken des modernen Natur- und Völkerrechts erarbeitet hat“30.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU 3.2.1 Die Zentralbegriffe der politischen Theorie des Althusius im Vergleich zur EU 3.2.1.1 Der Gemeinschaftsbegriff Die Brockhaus-Definition für den Begriff Gemeinschaft lautet: „Gemeinschaft, a) Gruppe von Menschen, die durch gemeinsames Denken, Fühlen, Wollen (Arbeitsgemeinschaft, Religionsgemeinschaft) oder durch Schicksal (Not, Gefahr) verbunden sind. b) Recht: Beteiligung mehrerer an einem Recht, besonders an Eigentum. Bei der Gemeinschaft nach Bruchteilen hat jeder Gemeinschafter einen festen Anteil an den gemeinschaftlichen Gegenständen, über den er frei verfügen kann (§ 747 BGB). Der wichtigste Fall ist das Miteigentum an einem Grundstück“31. Der Begriff der Gemeinschaft nimmt sowohl bei Althusius als auch in der EU eine tragende Rolle ein, wobei der Gemeinschaftsbegriff bei Althusius ebenso wie der heutige Begriff die beiden Elemente der gegenseitigen Hilfe und Abhängigkeit sowie eines gemeinsamen Rechtsbegriffes enthält (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Die Staatspolitik des Althusius fußt auf dem Gemeinschaftsbegriff und ist seit jeher Gegenstand der Politik. Dabei zielt Althusius in seiner Politikwissenschaft nicht nur auf die reine Machttechnik und die bloße Klugheitslehre, vielmehr ist für ihn Politik eine konsoziale Gemeinschaftsbildung32. Für die EU wird der Gemeinschaftsbegriff schon durch den vorherigen Namen Europäische Gemeinschaft zu einem Zentralbegriff, welcher heute auf differenzierte Gemeinschaftsbegriffe mit unterschiedlichen Arten und Zielen abzielt. Im Folgenden sollen die Gemeinsamkeiten und Unterschiede auch durch die verschiedenen Akzente der Begriffe analysiert werden.
29 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 417 sowie Reibstein, E. (1955), S. 1 ff. und dessen Ausführungen zur Schule von Salamanca, ders. S. 17 ff. 30 Reibstein, E. (1955), S. 30. 31 Brockhaus-Internet-Nachschlagewerk. 32 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Einleitung, S. XVIII.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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3.2.1.1.1 Der Zentralbegriff der „Zusammenlebenden Gemeinschaft“ bei Althusius33 Einer der zentralen Begriffe bei Althusius ist der der „consociatio symbiotica“. Er ist der zentrale Sammelbegriff der politischen Theorie des Althusius, welchen er dichotomistisch durch das ramistische34 Verfahren in die weiteren Bestandteile des Politischen zerlegt35. Der Oberbegriff wird immer weiter dichotomisch in weitere Zweiteilungen zergliedert: Die einfache und zusammengesetzte Konsoziation, wobei die zusammengesetzten wiederum partikulare oder universale Gemeinschaften sein können und die universale den doppelten Zweck der Kommunikation und Verwaltung von Aufgaben, Rechten und Pflichten hat usw.36 Der Zentralbegriff der „consociatio symbiotica“ soll durch die Analyse des Wesens sowie der Pflichten der Gemeinschaft und seiner Individuen, der Gemeinschaftsarten, -organisation und der Ziele der Gemeinschaft erläutert werden: – Das Wesen der „consociatio symbiotica“
Die „consociatio symbiotica“ – übersetzt „zusammenlebende Gemeinschaft“ – ist einer der Zentralbegriffe in der politischen Theorie des Althusius. Die zunächst als tautologischer Begriff anzusehende Konstruktion wurde von Althusius bewußt so gefasst: Er drückt die gegenseitige Abhängigkeit und das aufeinander angewiesen sein der Gemeinschaftsmitglieder aus, woraus auch der theologische Hintergrund des Calvinismus37 (vgl. Kapitel 3.2.2.1) bei Althusius hervor geht. Der Gemeinschaftsbegriff des Althusius nicht nur im Sinne einer Notgemeinschaft unterscheidet sich dabei vom römisch-rechtlichen, welcher eine reine Zweckgemeinschaft darstellt, genauso wie vom stoischphilosophischen, welcher eine durch das natürliche Recht der Vernunft gebundene Gemeinschaft ist, dadurch, daß bei Althusius daneben auch das Bedürfnis der Menschen nach Liebe und Sympathie eine große Rolle spielt38. Auch von dem Konsoziationsbegriff Ciceros – von welchem Althusius den 33 Vgl. dazu die Ausführungen bei Friedrich, C. J. (1975), Dahm, K.-W. (1988), S. 32 ff., Esser, H. H. (1988), S. 166, Hüglin, Th. (1991), S. 133 ff. sowie Gierke, O. von (1981), S. 21 ff. 34 Benannt nach der Vorgehensweise des reformierten Philosophen Petrus Ramus (bürgerlich Pierre de la Ramée), 1515 – 1571, (vgl. dazu Janssen, H. (1992), S. 35 f. sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XV f.), welcher von einer theoretischen hin zu einer praktischen Gliederungsweise als dialektische Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ging und die drei Grundsätze Zweckbestimmung der Wissenschaft, Verwendung allgemeingültiger, universal-zeitloser Elemente und adäquate Problemzuordnung verwendet (vgl. dazu Hüglin, Th. (1991), S. 80 ff.). Vergleiche z. B. dazu auch in Kapitel II.2.6.2.5 die typisch ramistische Gliederung des Rechts bei Althusius. Vgl. zur ramistischen Methode auch Strom, Ch. (1999). 35 Vgl. Nitscke, P. (1995), S. 156 f. 36 Vgl. die näheren Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 80. 37 Vgl. die Ausführungen zum Calvinismus bei Althusius in Esser, H. H. (1988), S. 165 ff. 38 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 185 und S. 186.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Begriff entlehnt39 – und dem des Aristoteles ist der Althusius’sche Begriff abzugrenzen40. Die Gemeinschaft ist auf eine Idee der Lebensführung hin angelegt, was sie damit von der bloßen Zusammenkunft von Menschen unterscheidet41. Diese Idee der Lebensführung besteht aus Gesetzen: Dem göttlichen, allem übergeordnetem Gesetz42 – Althusius zitiert immer wieder den Dekalog – und den positiven Gesetzen, welche sowohl von den leitenden Personen als auch von der Gemeinschaft selbst eingehalten werden müssen43. Der „consociatio symbiotica“ wird mit dem „ius symbioticum“ die gesetzliche Grundlage gegeben (vgl. Kapitel 3.2.6.2.2)44. Die Komplementärwirkungen im Sinne einer Reziprozität von Mann und Frau, Jungen und Alten, Obrigkeit und Volk, Ständen und Staat, Bauern und Handwerkern sowie Geist und Körper sind bei Althusius für eine politische Lebensform unabdingbar. Die wörtliche Übersetzung („consociatio“ = Vereinigung; „symbiotica“ = Symbiose) verdeutlicht die Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung, Hilfe und Mitteilung der für das gemeinschaftliche Leben nützlichen und notwendigen Dinge für die Gemeinschaftsmitglieder eines Staatsgebildes in allen Ebenen von der Ehe („consociatio symbiotica conjugum“), der Familie bis zur Dorfgemeinschaft („universitas“), den drei Ständen Klerus, Adel und Volk45, den Städten, Provinzen46 („universitas provinciae“) bis hin zum Staat („politia“, „imperium“, „regnum“, „populus“, „res publica“) 47. – Das Wesen des Individuums innerhalb der „consociatio symbiotica“
Zu beachten ist dabei, daß dieses gemeinschaftliche Leben jedoch nicht dem freien Willen der Gemeinschaftsmitglieder entspringt, sondern nach Althusius gewissermaßen durch die Problematiken des Naturrechts erzwungen wird, da ein Individuum durch sein Naturell nicht lebensfähig ist. Althusius benennt die Natur des Volkes als unbeständig, gewalttätig, urteilsunfähig, leichtgläubig, neidisch, wild, turbulent, aufsässig, frivol, undankbar und unbeständig48. Jedoch beruht die Gemeinschaft auch auf positiven Eigenschaften des Menschen, wel39 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 7, S. 25, Hüglin, Th. (1991), S. 135 sowie Behnen, M. (1984), S. 422. 40 Vgl. dazu die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 133 ff. 41 Vgl. Winters, P. J. (1963), S. 237. 42 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 35, S. 173 und § 40, S. 174. 43 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 35, S. 172. 44 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 86 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 10, S. 25. 45 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXII, § 57, S. 329. 46 Vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 47 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 23 ff. 48 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 81.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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che sich in der christlich-calvinistischen Ethik ausdrücken; der Begriff der christlichen Liebe („caritas“) wird oft unter Bezug auf Bibelzitate verwendet. Das Menschenbild des Althusius ist durch die Bibel geprägt und beruht auf dem Doppelgebot der Liebe des Pentateuch49 und wird auf die Mitglieder der politischen Gemeinschaft übertragen. Die Eintracht50 („concordia“) ist demnach wichtige Voraussetzung für die Bildung politischer Gemeinschaften und bedeutet für Althusius „die von Natur gegebene Grundlage von politischen Gemeinschaften“51. Dabei sieht Althusius durchaus keine Vielzahl gleicher Individuen, sondern eine Vielfalt von verschiedenen Subjekten, welche in den verschiedenen Gemeinschaften organisiert werden; das Individuum selbst spielt dagegen bei Althusius – im Gegensatz etwa zu den kontraktualistischen Lehren – eher keine Rolle, es sei denn innerhalb der assoziativen Formen des Zusammenlebens52. Weiterhin ist der Konsens („consensio“) neben der Eintracht wichtiges Element und politisches Prinzip der „consociatio symbiotica“ und ist als Grundvoraussetzung für die Existenz einer Gemeinschaft zu betrachten53. – Gemeinschaftsarten
Althusius nimmt einen Stufenaufbau der Konsoziationen vor54. Dabei findet eine organische Entwicklung von der kleinsten bis zur größten Gemeinschaft statt, wobei die größere Gemeinschaft durch die „Einheit in der Unterschiedenheit“ gekennzeichnet ist55. Der Zweck ist eine echte Genossenschaft, was deutlich den Bezug zu den viel späteren sozialistischen Staatsauffassungen zeigt56. Althusius unterscheidet folgende Arten von Gemeinschaften: – Natürliche, private, notwendige und einfache Konsoziationen57 – „consociationes privatae et simplices“: Die Gemeinschaften wie Ehe, Familie und Sippe, – Künstliche, öffentliche und politische Konsoziationen58 – „collegia generalia“: Ordnung der Stände Klerus, Adel und Volk, Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 206. In der heutigen politischen Wissenschaft ist darunter der Begriff „Konsens / Übereinkunft“ zu verstehen 51 Friedrich, C. J. (1975), S. 84. 52 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Duso, G. (1997), S. 70 f. 53 Vgl. Vries, de S. / Nitschke, P. (2004), S. 116 f. 54 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 188, Hüglin, Th. (1991), S. 147 ff. und Hofmann, H. (1988), S. 514 f. 55 Vgl. Esser, H. H. (1988), S. 166. 56 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 72. 57 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 149 ff. sowie die Ausführungen zur Rolle der bürgerlichen Gemeinschaft bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 102 ff. sowie bei Blickle, P. (2002), S. 228 f. 58 Vgl. die näheren Ausführungen zur öffentlichen Konsoziation bei Hüglin, Th. (1991), S. 153 ff. sowie bei Blickle, P. (2002), S. 229 f. 49 50
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– „collegia specialia“: Kollegialgerichte und -behörden, – „consociationes publicae“: Gemeinden und Provinzen59, – „universalis publica consociatio“ („res publica“): Das politische Ganze (der Staat), – Kollegiale Konsoziationen mit einer Zwischenstellung – „consociationes collegarum“: Korporationen wie Zünfte, Kirchengemeinden und Innungen. – Organisation und Strukturierung der „consociatio symbiotica“ hin zum Staat
Die „consociatio symbiotica“ ist folgendermaßen strukturiert: – Herkunft60: Per ausdrücklichem oder stillschweigendem Vertrag. – Zweck61: Gutes Leben mit den drei Grundbedingungen gemeinsames Vermögen, gemeinsame Verwaltung und gemeinsames Recht. – Aufbau: Die Unterscheidung in Obrigkeit und Untertanen und damit Ungleichheit ist ein stabilisierendes Element der „consociatio symbiotica“62. Die „consociatio symbiotica“ ist ein „asymmetrisches, soziales Beziehungsgeflecht, . . . in der zwischen superiores und inferiores differenziert wird“63. – Funktionsmechanismus64: Die „communicatio“ sorgt als Regelwerk für die „consociatio symbiotica“ mit dem „Ziel der Erreichung und Aufrechterhaltung eines bestmöglichen Sozialzustandes unter den Zusammenlebenden“ für das Funktionieren der politischen Organisation mit ihrer Gemeinschaft der Güter, der Leistungen und des Rechts. Die „administratio“ hat eine Ordnungsfunktion durch die Ausübung von Herrschaft, welche Mittel für die Aufrechterhaltung der Gemeinschaft ist65. – Rechtsstruktur66: Das symbiotische Recht ist ein Element der „communicatio“ und konstitutives Element der „consociatio symbiotica“, da diese ohne das symbiotische 59 Vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 60 Vgl. Blickle, P. (2002), S. 226. 61 Vgl. Blickle, P. (2002), S. 226. 62 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 11, S. 26 und vgl. Blickle, P. (2002), S. 226. 63 Vries, de S. / Nitschke, P. (2004), S. 108 und die dortigen näheren Ausführungen. 64 Vgl. Vries, de S. / Nitschke, P. (2004), S. 108. 65 Vgl. Vries, de S. / Nitschke, P. (2004), S. 109 f. 66 Vgl. Vries, de S. / Nitschke, P. (2004), S. 107 und S. 113 f.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Recht „ein Haufe, eine Versammlung, eine Menge, ein Volk oder ein Stamm“67 ist und nicht eine geordnete, sich selbst regelnde Einheit sowie eigenständige und autonome Gemeinschaft („politeuma“). Intention Althusius’ ist, die vorhandenen konstitutionellen Strukturen neu zu organisieren, um die Reziprozität in Verträgen und Verfahren zu konstituieren. Hintergrund ist die Aussage Althusius’, daß diese Strukturen historisch gewachsen und entweder einseitig unter individualistischen oder einseitig unter zentralistischen Aspekten organisiert wurden und somit schon vom theoretischen Ansatz her zu Fehlformen der politischen Organisation des Gemeinwesens führen müssen. Die Organisation des Staates bei Althusius ist somit gleichzeitig durch einen theokratisch-calvinistischen, einen methodischen und einen historischjuristischen Ansatz gekennzeichnet, welcher sich von den einseitigen Sichtweisen anderer zeitgenössischer Denker erheblich unterscheidet. Weiterhin sollte mit der „consociatio symbiotica“ als Gesellschaftsmodell eine Lösung für das Problem der Willkürherrschaft und der Frage des Souveräns gelöst werden. Dies auch vor dem historischen Hintergrund des Souveränitätsproblems mit dem Verfall kaiserlicher und päpstlicher Autorität in der Reformationszeit. Der calvinistische Althusius (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1) ging dabei von einer absoluten Souveränität Gottes und damit auch des Souveräns der „consociatio symbiotica“ aus, welche eine absolute Souveränität der Fürsten ausschließen sollte. Gott selbst macht im Alten und Neuen Testament sein Volk in freier Souveränität zu seinem Bundespartner („populus dei“). Althusius überträgt diese Konstellation auf die „consociatio symbiotica“; es entsteht die Volkssouveränität, durch welche das Volk selbst die politischen Verfahrensweisen zu organisieren hat. Da das Volk als Ganzes diese Aufgabe nicht erfüllen kann, wird ein Amtsträger („summus magistratus“) benannt. Einen Teil der Souveränität behält das Volk zur Wahrung der eigenen Rechte und zur Kontrolle des Amtsträgers bei sich. Althusius teilt die Macht auf zwei Organe: Die Obrigkeit in Form des „summus magistratus“ und das Volk. Das Volk wiederum muß zum Zwecke der Handlungsfähigkeit Repräsentanten bestimmen, die Senate68 und Landstände69 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren70 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände, welche zugleich als Ständegruppe etabliert werden. „Beide, der König und die Ephoren sind sowohl vom Volk als auch von Gott als eingesetzt. Von Gott mittelbar, vom Volk unmittelbar“71. Die Beziehung zwischen Machtorgan und Gesellschaftsorgan ist jedoch nicht bestimmt durch die tatsächliche Machtlage, sondern beruht vielmehr auf der natürlich-vernünftigen Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft ihrer Mitglieder („consociatio“)72. 67 68 69 70 71
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 4, S. 57. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX § 69, S. 209.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Wichtig ist insgesamt für das Verständnis der „consociatio symbiotica“ des Althusius, welche Rolle sie für die Bildung einer politischen Gemeinschaft spielt, da sie begrifflich nicht mit der politischen Gemeinschaft gleichzusetzen ist. Um die Unterschiede abzugrenzen, soll kurz auf den Begriff der „polis“ bei Aristoteles eingegangen werden73: Aristoteles sieht die „polis“ als Zusammenschluß der Ursprungsgemeinschaften aus logisch-ontologischer Sicht als teleologisch ausgerichteten Entstehungsprozeß, welcher von der Annahme ausgeht, daß die Gesamtheit den Gliedern vorausgegangen sei. Althusius dagegen sieht die einzelnen Gemeinschaften dagegen für sich selbst als lebensfähig und die Zusammenschlüsse – welche entgegen der tatsächlichen Bildung von Grafschaften, Fürstentümern und Königreichen dieser Zeit auf freiwilligen und willentlichen Sozialbildungen basieren74 – zu einer oder zu mehren Gesamtheiten aus den Erfordernissen der symbiotischen Lebensgemeinschaft heraus. Sie entspricht der Anthropologie des Althusius (vgl. oben die Ausführungen zum Wesen des Individuums innerhalb der „consociatio symbiotica“) mit dem wesentlichen Element des Verbindenden75, wenngleich auch pessimistische Sichtweisen zu finden sind. Sie ist somit nicht ausschließlich politisch, so daß die beiden Begriffe „symbiotisch“ und „politisch“ auch nicht gleich zu setzen sind76. Die „consociatio“ ist Gegenstand der Politik77, während das Wort „politie“ durch Althusius wie folgt definiert wird78: „Politie bezeichnet vornehmlich dreierlei, wie Plutarch . . . bemerkt. Zunächst die Gemeinschaft des Rechts . . . , sodann die Art und Weise, ein Gemeinwesen einzurichten und zu verwalten, sowie schließlich die Ordnung und Verfassung einer Stadt“. Die politische Organisation einer gesellschaftlichen Gemeinschaft in einer Stadt, Kommune oder Gemeinde war im späten Mittelalter nicht die vorherrschende Ordnungsform. Sie spielt jedoch in der politischen Theorie des Althusius eine tragende Rolle und ist apriorischer Ausgangspunkt seines als radikal neu einzustufenden Denkens79. – Pflichten der Mitglieder der einzelnen Gemeinschaften
Althusius weist den Mitgliedern seiner politischen Gemeinschaft unterschiedliche Pflichten zu, welche je nach der Zugehörigkeit zur Art der Gemeinschaft unterschiedliche Ausprägung erfahren. Nachfolgende Beispiele bei Althusius sollen die zahlreichen Pflichten der jeweiligen Gemeinschaftsmitglieder darlegen: Vgl. Wolf, E. (1963), S. 186. Vgl. Neri, D. (1997), S. 124 ff. 74 Vgl. Blickle, P. (2002), S. 230 ff. 75 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 6, S. 25 und Kap. I § 32, S. 30. 76 Vgl. Neri, D. (1997), S. 128 f. 77 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 2, S. 24. 78 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 5, S. 25. 79 Vgl. Blickle, P. (2002), S. 224 f. 72 73
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Gehorsam für alle Untertanen80 – Pflichten für Eheleute wie Schutz, Beistand, Verteidigung, Fürsorge, Lebensunterhalt, Kleidung, Treue, Hilfe etc.81 – Zuneigung, Liebe und Wohlwollen unter Blutsverwandten82. In der Familie83 als kleinste natürliche Gemeinschaft zeigt sich deren gesellschaftliche Bestimmung über den Schutz der Mitglieder nach außen84, der Ordnung und Disziplin im Inneren85 und der Bereitstellung des für ein frommes und gerechtes Leben Nützliche und Notwendige86. – Ziel der „consociatio symbiotica“
Althusius selbst legt für die unterschiedlichen Arten der Gemeinschaft das jeweilige Ziel fest. So ist das Ziel der privaten Gemeinschaft in der Schaffung einer Rechtsgemeinschaft mit den moralischen Zielen der Beachtung des rechten Maßes, der Ordnung, der Übereinstimmung der Herzen, der wechselseitigen Leistungen und des gemeinsamen Vorteiles zu suchen87, während das allgemeine Ziel des symbiotischen Zusammenlebens die fromme, gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft ist, welcher es an nichts Notwendigem oder Nützlichem mangelt88. Man würde dies heute wohl mit der Schaffung von Frieden und Wohlstand gleichsetzen. Der Wohlstand soll durch die Teilhabe aller an Gütern, Dienstleistungen und Rechten erreicht werden89. Grund des Zieles ist die angeborene Unzulänglichkeit und Unfähigkeit des Individuums, welche durch die Bildung einer Gemeinschaft behoben werden soll90. Beachtlich ist dabei, daß bereits bei Althusius die Politik die Aufgabe hat, diese angemessene, nützliche und glückliche Lebensführung zu ermöglichen, indem sie die menschliche Gemeinschaft erhält. Dazu gehört auch die Aufgabe der Sicherung eines frommen, religiösen Lebens sowie die Sicherung von Friede und Eintracht91. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 18, S. 27. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 43 ff., S. 39 f. 82 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 20 f., S. 42. 83 Vgl. auch die näheren Ausführungen zur Rolle der Familie bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 96 ff. 84 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 43, S. 38 und Kap. III, § 34, S. 44. 85 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 40 ff., S. 38 ff., Kap. III, § 16, S. 43. 86 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 44 und 46, S. 38 und 41, Kap. III, § 27 und 34, S. 44. 87 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 5, S. 34. 88 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 3, S. 24. 89 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 7, S. 25. 90 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 4, S. 24. 91 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I § 30, S. 29 f. 80 81
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– Gemeinschaftstypen
Im Nachfolgenden werden die Gemeinschaftstypen der EU (vgl. Kapitel 3.2.1.1.2) mit denen des Althusius verglichen. Die Gemeinschaftsbegriffe sollen hier vorab mit den Ausführungen des Althusius – ohne daß dieser explizit diese Gemeinschaftstypen verwendet – versehen werden, um im Nachgang den direkten Vergleich finden zu können: – Wertegemeinschaft Die Wertegemeinschaft ist der primäre Erklärungsansatz des Althusius für seine „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1): Gemäß den naturrechtlichen Voraussetzungen ist nur durch Besinnung auf moralische Werte der Eintracht, der Liebe, des rechten Maßes das Zusammenleben individueller Gemeinschaftsmitglieder möglich92. – Wirtschaftsgemeinschaft Die gegenseitige Ergänzung, Hilfe und Mitteilung der für das gemeinschaftliche Leben nützlichen und notwendigen Dinge ist für die Gemeinschaftsmitglieder unabdingbar 93. Auch erste Ansätze für die Gestaltung der Wirtschaftsordnung durch Ständebildung mit Aufgabenzuweisung und Nützlichkeitsklassifizierung der Tätigkeiten der Ständemitglieder 94 und Aufstellung einer Steuersystematik mit ordentlichen und außerordentlichen Steuerarten95 (vgl. zum Steuerwesen auch Kapitel 4.2.2.6.7) sind bei Althusius vorhanden. – Menschengemeinschaft Die Menschengemeinschaft als Gesamtheit der Individuen, welche gleiche Wert-, Wirtschafts- und politische Vorstellungen hat bzw. adaptieren will, liegt als Grundwert ebenso der Politik des Althusius wie auch der EU zugrunde. Sowohl die Teilbegriffe der Bürgergemeinschaft als auch der Sozialgemeinschaft sind bei Althusius wesentliche Elemente96. – Territoriale Gemeinschaft Althusius sieht gleichermaßen den Territorialstaat und nicht etwa die Stadt als Begrenzung der territorialen Gemeinschaft97, jedoch ohne natürliche geographische Grenzen zu setzen. – Politische und rechtliche Gemeinschaft Althusius entwickelt als erster gleichermaßen eine politische im Zusammenhang mit einer rechtlichen Gemeinschaft unter Betrachtung der Elemente Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 5, S. 34. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 15, S. 35 ff. 94 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 16 ff., S. 35 ff. 95 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II § 1 ff., S. 135 ff. 96 Vgl. dazu die nachfolgenden Ausführungen zu Althusius zum jeweiligen Begriff der EU in Kapitel II.2.1.1.2. 97 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 123. 92 93
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
81
Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Als Jurist sah Althusius die Notwendigkeit der Verbindung von Politik und Recht als notwendige Konstruktion für die Entwicklung seiner Politik. Tabelle 6 Gemeinschaftsbegriff in der EU und bei Althusius Gemeinschaftsbegriff
EU
Althusius
Wertegemeinschaft
& ✓ , im Hintergrund
& ✓ , als Erklärungsmodell
Wirtschaftsgemeinschaft
& ✓ , sehr ausgeprägt
& ✓ , ansatzweise
Menschengemeinschaft
& ✓ , staatenübergreifend
& ✓ , nicht staatenübergreifend
Territoriale Gemeinschaft & ✓ , mit geographischer Grenze & ✓ , ohne geographische Grenze Politische + rechtliche Gemeinschaft
& ✓
& ✓
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
3.2.1.1.2 Gemeinschaftstypen der EU Der Gemeinschaftsbegriff der EU setzt deutlich andere Schwerpunkte und ist vielschichtiger als der des Althusius. Dies liegt zum Einen an der weitaus höheren Komplexität des politischen (nationale und internationale Staatsstrukturen und -politiken), wirtschaftlichen (nationale und internationale Wirtschaftspolitik) und sozialen Umfeldes (nationale und internationale Menschen- und Religionsgemeinschaft) von heute im Vergleich zum Mittelalter und zur frühen Neuzeit und zum zweiten an der Fortentwicklung jeglicher Begriffsdefinition bezüglich der Gemeinschaftstypen. Der Begriff der Europäischen Gemeinschaft hat eigenen Charakter, zudem er auch Eigenname ist (EG) und deshalb besondere Bedeutung im Zusammenhang mit der EU aufweist. Er wird durch folgende, vom Verfasser gesetzte Schwerpunkte in den Gemeinschaftstypen unterschieden: – Wertegemeinschaft
Der Begriff der Wertegemeinschaft ist mit dem der Volksgemeinschaft (siehe unten) eng verknüpft, da jede Volksgemeinschaft zugleich Wertegemeinschaft ist. Sie ist somit mehr als die Summe der Individuen. Der Bestand von ideellen Werten schließt die Individuen zu einem Ganzen zusammen, nach Smend erfolgt die Integration zu einer sachlichen Einheit98. 98
Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 46.
82
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Die Wertegemeinschaft drückt daher einen eher ideellen Gemeinschaftsbegriff aus: „Europa, das kann man nicht oft genug wiederholen, ist kein Ort, sondern eine Idee . . . Es ist eine Kategorie nicht des Seins, sondern des Geistes“ (Bernard-Henri Lévy, französischer Kulturphilosoph)99. Dieser Teilbegriff steht wiederum dem des Althusius sehr nahe durch die Vorstellung, daß die in der Gemeinschaft lebenden Individuen eine gemeinsame Wertvorstellung haben, welche es gilt, zu beachten und umzusetzen. Insofern ist die „consociatio symbiotica“ des Althusius mit der Notwendigkeit der gegenseitigen Ergänzung, Hilfe und Mitteilung der für das gemeinschaftliche Leben nützlichen und notwendigen Dinge nicht zu weit entfernt. Oberster Zielwert der Wertegemeinschaft ist die europäische Integration, welcher sich alle Europäer verpflichtet fühlen sollen. Die gemeinsamen Werte werden vor allem auf den Wurzeln der Europäer, gemeinsamen Wegen und Perspektiven gewonnen, welche nicht zuletzt aus der ursprünglichen Wertvorstellung der Friedenssicherung entstanden sind. „Machten wir heute eine Bilanz unseres geistigen Besitzes, so würde sich heraus stellen, daß das meiste davon nicht unserem jeweiligen Vaterland, sondern dem gemeinsamen europäischen Fundus entstammt . . . Vier Fünftel unserer inneren Habe sind europäisches Gemeingut.“ (José Ortega y Gasset 1883 – 1955)100. Die Wertvorstellungen der Europäer erscheinen traditionell konservativ nach einer CTS-Umfrage aus dem Jahre 1997: Über 9 von 10 EU-Bürgern halten gegenseitige Hilfe – man beachte die Parallelität zu Althusius – und „die Menschen für das zu schätzen, was sie sind“101 für wichtig (Platz 1 und 2 der Werte gemäß Umfrage). Über 8 von 10 EU-Bürgern ist es wichtig, am Aufbau einer besseren Gesellschaft mitzuwirken102. – Wirtschaftsgemeinschaft
Eine Wirtschaftsgemeinschaft oder Wirtschaftsunion ist definiert als übernationaler Zusammenschluß von Staaten mit gemeinsamen Beschluß- und Exekutivorganen sowie gemeinsamer Handelspolitik gegenüber dritten Ländern und einer Koordinierung der eigenen Wirtschaftspolitik103. Die EU hat ihren historischen Ursprung in einer wirtschaftlichen Gemeinschaft, namentlich mit Inkrafttreten des EGKS-Vertrages mit sechs Mitgliedstaaten am 23. 07. 1952. Nicht zuletzt wurde durch die Römischen Verträge vom 25. 03. 1957 die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft begründet. Der Weg der weiteren europäischen Integration war immer wieder gekennzeichnet von einer stark wirtschaftlichen Zielrichtung (vgl. Kapitel 2.2 und 2.3). Die im EWG-Vertrag vorZitiert nach: Thiede, C. P. (2000), S. 13. Zitiert nach: Thiede, C. P. (2000), S. 9. 101 Europäische Kommission (Hrsg.) (2001a), S. 8. 102 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001a), S. 8. 103 Vgl. Herder Verlag (1988), S. 236. 99
100
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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gesehenen vier Bereiche von Wirtschaftspolitiken der Wirtschaftsgemeinschaft sind die Handelspolitik, die Wettbewerbspolitik, die Verkehrspolitik und die Agrarpolitik: Die Handelspolitik entstand aus der Zollunion. Die Einführung eines gemeinsamen Außenzolles und der Abschaffung innergemeinschaftlicher Zölle zwischen 1958 und 1970104 führte zur Abgabe der Zuständigkeit der einzelnen Mitgliedstaaten an die EU. Die Kommission als Organ vertritt die Mitgliedstaaten in internationalen Handelsverhandlungen und ist ermächtigt, Handelsverträge mit anderen Ländern zu schließen105. Die Assoziierungspolitik mit den Lomé-Abkommen ist ebenfalls unter die Handelspolitik zu subsumieren. Die Funktionsfähigkeit eines Binnenmarktes hängt von der Anpassung der Marktstrukturen der vormaligen Einzelmärkte wesentlich ab. Die Wettbewerbspolitik soll die Einhaltung der Wettbewerbsbedingungen im Gebiet der EU garantieren. Die Vorschriften der wichtigsten Elemente Kartellverbot, Verbot des Mißbrauchs marktbeherrschender Stellungen und Subventionskontrolle haben als Gemeinschaftsrecht Vorrang vor nationalen Vorschriften106. Die Kommission als Organ entwickelt die Wettbewerbsregeln weiter und setzt diese über den EuGH letztinstanzlich durch107. Die Herstellung eines einheitlichen Marktes für Verkehrsleistungen, welche zum Teil staatlich reguliert werden von staatlichen Trägern wie Post oder Bahn oder über die Vergabe von staatlichen Konzessionen wie im Güterstraßen- oder Taxiverkehr, ist oberstes Ziel der europäischen Verkehrspolitik. Durch die unterschiedlichen nationalen Sonderregelungen kam eine einheitliche Verkehrspolitik in den 70er Jahren nicht zustande. Die Klage des Europäischen Parlaments 1982 gegen den Rat der Verkehrsminister wegen Untätigkeit der Umsetzung war erfolgreich108 und zeigt die Umsetzungsfähigkeit der Beschluß- und Exekutivorganen gemäß der Definition einer Wirtschaftsgemeinschaft. Die gemeinsame Agrarpolitik in Industrieländern hat ihren Ursprung in der Bedeutung landwirtschaftlicher Produkte als lebensnotwendige Güter, als klimaabhängige Produkte und als mittlerweile technikorientierte Produkte, welche Regularien staatlicher Organe erfordern109, da der Markt durch diese extern gesetzten Voraussetzungen nicht in der Lage ist, über Angebot und Nachfrage stabile Preise zu bilden110. Die gemeinsame Agrarpolitik nach Art. 32 bis 38 EGV hat die Ziele der Steigerung der Produktivität (zwischen 1961 und 1971 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (1997), S. 3. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 39. 106 Vgl. die näheren Ausführungen bei Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 213 ff. und Thiel, E. (2001), S. 102. 107 Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 44. 108 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 102. 109 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (1982), S. 25. 110 Vgl. Lampert, H. / Bossert, A. (2001), S. 257. 104 105
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um durchschnittlich 8,8%), der Gewährleistung eines angemessenen Lebenshaltungsniveaus der Landwirte (zwischen 1968 und 1976 um 2,8% jährlich), Stabilisierung der Märkte, Sicherstellung der Versorgung (Selbstversorgungssatz der meisten Produkte bei 100%) und der Gewährleistung angemessener Verbraucherpreise111 erreicht. Die vier Grundfreiheiten der Wirtschaftsgemeinschaft 112 wurden in der Einheitlichen Europäischen Akte EEA vom 01. 07. 1987 fest gesetzt: Die Freizügigkeit im Binnenmarkt umfaßt die Gewährleistung der Freiheit der Einreise, des Aufenthaltes, des Wohnens, der beruflichen Niederlassung und der Arbeitsplatzwahl. Der Freie Warenverkehr regelt den Handel zwischen den innergemeinschaftlichen Ländern; er gilt nicht als Im- oder Export und unterliegt nicht mehr der Warenkontrolle an den Grenzen. Ebenso wie für den Warenverkehr gilt die Möglichkeit der unbeschränkten Erbringung von Dienstleistungen zwischen innergemeinschaftlichen Ländern. Im Freien Kapitalverkehr kann Kapital ungehindert über innergemeinschaftliche Grenzen fließen. Dies gilt für Beteiligungen ebenso wie für Wertpapiere, Darlehen, Immobilienerwerb etc. Die Wirtschaftsgemeinschaft bei Althusius dagegen entspringt der nicht unmittelbar gezogenen Trennung zwischen Staat und Gesellschaft. Althusius unterscheidet in für die Gemeinschaft notwendige Sachen, Dienste und Rechte, deren Verteilung nicht statt findet. Dagegen findet sich bei Althusius eine – wenn auch sehr allgemeine – Art Kommunismus, da die Sachen und Dienste vergemeinschaftet sind; dies entsteht nicht zuletzt aus der Konsequenz, daß letztendlich die Gemeinschaft über die Notwendigkeit einer bestimmten Sache entscheidet113. – Menschengemeinschaft als Völker-, Bürger- und Sozialgemeinschaft
Die Wirtschaftsgemeinschaft ist den Zielen des gesellschaftlichen und sozialen Fortschritts verpflichtet. Insofern ist die Bindung der Wirtschaftsgemeinschaft zur Menschengemeinschaft eine sehr enge. Die Menschengemeinschaft der EU indes ist daher der „consociatio symbiotica“ des Althusius sehr ähnlich. Sie ist nicht zu sehen als die in einem bestimmten Territorium zusammen lebenden Gemeinschaftsmitglieder sondern vielmehr als die Gesamtheit der Individuen, welche gleiche Wert-, Wirtschafts- und politische Vorstellungen hat bzw. adaptieren will. Ansonsten wäre die Nord-Erweiterung und eine Süd-Ost-Erweiterung (vgl. Kapitel 2.2.1.4 und 2.2.1.5) nicht vorstellbar gewesen, was an der kontroversen Diskussion des Türkei-Beitritts auch ersichtlich wird. Auch die – jedoch ohne besondere Bedeutung und alltägliche – Unterscheidung in verschiedene Gesellschaftsformen (= Konsoziationen) wie Familie, Stände, Städte ist heute noch in der EU vorhanden. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (1982), S. 26 und S. 28. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 66 ff., Borchardt, K.-D. (1995), S. 34 ff. und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 75 ff. 113 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 116. 111 112
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Zu unterscheiden sind in der EU unterschiedliche Ausprägungen der Menschengemeinschaft, so die Völkergemeinschaft, die Bürgergemeinschaft und die Sozialgemeinschaft. Eine Volksgemeinschaft ist heute gemäß der Organismuslehre nicht nur als Summe der zugehörigen Individuen zu verstehen, sondern hat ein den Individuen gegenüber höheres Sein, ist also demnach mehr als die Summe der Einzelnen. Die Volksgemeinschaft ist somit kein Wert-, sondern ein Strukturproblem114. Völker gleichen Ursprungs streben von jeher einer Einigung zu; dies ist nicht von territorialen Gegebenheiten abhängig wie z. B. die Integration Russland- oder Sudetendeutscher gezeigt hat, sondern ebenfalls von Individuen, welche von gleichen Wert-, Wirtschafts- und politischen Vorstellungen getrieben werden. Auch die weltweite Diskussion und Praktikabilität der Völkerrechte zeigt die völkerübergreifende Akzeptanz von Regeln einer Völkergemeinschaft (z. B. Kriegsverbrechertribunal in Den Haag). Interessant in der Geschichte der europäischen Einigung ist jedoch die These, ob unterschiedliche Völker sich in diesen Wert-, Wirtschafts- und politischen Vorstellungen so annähern können, daß eine echte Völkergemeinschaft entstehen kann. Genau dieser Prozeß muß im Rahmen der Norderweiterung und der Süd-Ost-Erweiterung in Gang gesetzt werden um eine Integration unterschiedlichster Völker wie z. B. Kurden und Nordeuropäer zu erreichen und sie gleichen Zielen und Werten unterwerfen zu können. Nicht zuletzt ist ein Volk in seiner Kultur begründet. Die Frage nach dem Bestand einer gemeinsamen europäischen kulturellen Identität hat eine CTS-Umfrage aus 1997 wie folgt beantwortet: 38 % der EU-Bürger stimmen zu, daß es eine europäische kulturelle Identität gibt, 49 % stimmen dagegen, wobei die Länderverteilung von 49% Zustimmung (Griechenland) bis 28 % Zustimmung (United Kingdom) reicht115. Derartige Problematiken sind nicht Gegenstand der Diskussionen des Althusius, da die Globalisierung wirtschaftlicher und politischer Art zu dieser Zeit nicht gegenständlich war. Das Volk war in der Zeit des Althusius definiert als eine organische Auffassung im Sinn des Volksganzen, also der Gesamtheit aller Menschen116. Der Begriff ist demnach historisch anders zu verwenden und auf den heutigen Begriff der Völkergemeinschaft nicht anwendbar. Der Status eines Bürgers ist in der EU an die Staatsbürgerschaft geknüpft, welche definiert ist als Rechtsverhältnis der Zugehörigkeit natürlicher Personen zu einem bestimmten Staat und dessen Rechtsstatus, verbunden mit staatsbürgerlichen Rechten – im liberalen Staat gegliedert in zivile, politische und soziale Rechte – und Pflichten. Das Staatsangehörigkeitsrecht hat entweder die Abstammung von einem Staatsangehörigen oder die Geburt im Staatsgebiet oder beides als Voraussetzung und steht nur natürlichen Personen zu; Erwerb und Verlust 114 115 116
Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 44. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001a), S. 12. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 132.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
einer Staatsangehörigkeit wird im jeweilig geltenden Staatsrecht festgeschrieben117. Die EU ist demnach per Definition eine echte Bürgergemeinschaft, da im Vertrag von Maastricht von 1992 eine Unionsbürgerschaft eingeführt wird118: „Unionsbürger ist, wer die Staatsangehörigkeit eines Mitgliedstaates besitzt . . . Die Unionsbürgerschaft ergänzt die nationale Staatsbürgerschaft, ersetzt sie aber nicht.“ Demnach ist die europäische Staatsbürgerschaft eine derivative, nicht jedoch eine originäre Staatsbürgerschaft. Bleibt der Umkehrschluß offen, ob und wann die EU als Staat zu klassifizieren ist. Verbunden mit der Unionsbürgerschaft sind Rechte (Niederlassungsfreiheit, Gleichbehandlung, Wahlrecht, diplomatischer und konsularischer Schutz, Anruf des Europäischen Parlaments und des Bürgerbeauftragten, Recht auf Einsicht in Dokumente der EU, Recht auf Schutz der persönlichen Daten etc.119) und staatsbürgerliche Pflichten. Bei Althusius wurde die Eigenschaft eines Bürgers samt Begriff, Erwerb und Arten des Bürgerrechts genau erklärt. Das Bürgertum wurde unterschieden in Obrigkeit und Untertanen. Der Bürger hat dabei dem Verwalter des Gesamtrechtes den Treueeid zu schwören120. Die formale Stellung des Bürgers unterscheidet sich demnach bei Althusius nicht vom Status des heutigen EU-Bürgers; nur inhaltlich hat sich natürlich das Bürgerrechtssystem den heutigen Strukturen nach verändert. Die Sozialgemeinschaft wird in der EU über die Festschreibung einer Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte121 durch den Europäischen Rat 1989 sowie über die Wirtschaftsordnung beschreibbar. Hier sind die sozialen Grundrechte (z. B. Recht auf Information), die Sozialpolitik (z. B. Förderung der Beschäftigung) und seit dem Amsterdamer Vertrag von 1997 die Sozialvorschriften und Richtlinien (z. B. Verbesserung der Arbeitsumwelt) verankert. Die Wirtschaftsordnung stellt das wirtschaftliche Gefüge der Sozialgemeinschaft zur Verfügung (z. B. Sozialversicherungspflicht). Innerhalb der EU gibt es weiterhin die einem Sozialziel verschriebenem Strukturfonds, welche zum Ziel haben, Entwicklungsrückstände zu beseitigen. Dazu gehören der Europäische Fonds für regionale Entwicklung, der Europäische Sozialfonds (seit 1961) und der Kohäsionsfonds122, für welchen zwischen 1989 und 1993 jährlich 14 Milliarden A und von 1993 bis 1999 insgesamt 200 Milliarden A bereit gestellt wurden123. Bei Althusius wird der Staat begründet durch den Sozialvertrag. Er ist als 117 Vgl. Holtmann (Hrsg.) (2000), S. 659, Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 896 und Herder Verlag (1988), S. 201. 118 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001a), S. 9. 119 Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 64, Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 70 f. und Fontaine, P. (1998), S. 37 ff. 120 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 23. 121 Vgl. die näheren Ausführungen bei Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 75 ff. 122 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 85 ff. 123 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 22.
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Schöpfer dieses Begriffes zu bezeichnen124. Die Sozialgemeinschaft hatte demnach auch schon bei ihm Bestand. In welcher Form dies der Fall war, wird an anderer Stelle ausführlich behandelt (vgl. Kapitel 3.2.1.2). Unbestritten ist, daß Althusius in der Frühen Neuzeit keine staatenübergreifende Gemeinschaft betrachtet haben kann, es sei denn, er hätte das Reich als eine solche angesehen. – Territoriale Gemeinschaft
Die Abgrenzung einer territorialen Gemeinschaft hängt eng mit der Völkergemeinschaftsdefinition zusammen und zielt auf eine geographische Typisierung. Jedoch gibt es auch staatsrechtliche Ansätze der Territorialität, welche die staatliche Souveränität über den zugehörigen Grund und Boden definieren125. Alle in einem örtlich nah beieinander liegenden Gemeinschaftsgebiet (= Territorium) lebenden Individuen auf Basis einer sozialen Gemeinschaft zur Bewältigung des wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Lebens sind einer territorialen Gemeinschaft zuzuordnen. Eng verwandt ist die politische Geographie, welche versucht, Staatsgebilde und ihre Lebensbedingungen durch die Wechselbedingungen von Landschaft, geographischer Lage und Bevölkerung zu erklären126. Auch das in der öffentlichen und politischen Diskussion unter dem Stichwort bekannte „Europa der Regionen“ zeugt gleichzeitig von den Bemühungen einer territorialen Integration als auch von den Schwierigkeiten, ein räumlich sehr großes Gebiet integrativ zu vereinigen. Die zwei zentralen Fragestellungen des „Europa der Regionen“ sind die Frage nach dem Erhalt der regionalen Eigenständigkeit innerhalb der EU sowie nach der stärkeren Berücksichtigung des Mitspracherechts der regionalen Einheiten auf EU-Ebene. Mit dem Maastricht-Vertrag 1992 wurde ein „Ausschuß der Regionen“ aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften mit beratenden Aufgaben konstituiert; weiterhin muß der Rat und die Kommission den Ausschuß in Fragen der Förderung der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Kulturförderung, des Gesundheitswesens, der transeuropäischen Netze sowie der Struktur- und Regionalpolitik hören127. Althusius hat für die territoriale Gemeinschaft eindeutig bestimmt, daß die moderne Form politischer Ordnung im Territorialstaat zu suchen ist und nicht etwa in der Stadt128. Die natürlichen geographischen Grenzen der Ausdehnung des Staatsgebietes indes werden bei Althusius nicht beschrieben. – Politische und rechtliche (= staatliche) Gemeinschaft
Die herrschaftliche und machtmäßige Organisation eines Territoriums (z. B. Stadt oder Landschaft) führt unmittelbar von der territorialen zur politischen 124 125 126 127 128
Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 119. Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 963. Vgl. Herder Verlag (1988), S. 164. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 61 f. Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 123.
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und rechtlichen Gemeinschaft und damit zum Staatsbegriff nach Machiavelli (15. Jahrhundert). Heute ist der Staat als politische Gemeinschaft im weiteren Sinne definiert als politischer Verband und institutionell gesicherte soziale Verbindung einer Gruppe zu einer umfassenden Leistungsgemeinschaft, deren Zusammenleben durch ein Gemeinwesen mit Hilfe öffentlicher Institutionen gewährleistet wird129. Ein Staat besteht aus den drei Elementen Staatsgebiet, Staatsvolk und Staatsgewalt. Das Staatsvolk ist dabei von obigem Begriff der Völkergemeinschaft dahingehend abzugrenzen, als daß es als in einem Staatsgebiet eines Territorialstaates lebendes Volk definiert ist und einer Staatsgewalt durch Herrschaft über die dort lebenden Menschen unterliegt130. Das Staatsgebiet ist der „Raum, innerhalb dessen die Regelungsbefugnisse dieses Herrschaftsverbandes ausgeübt werden können“, wobei neben dem Territorialprinzip auch das Personalitätsprinzip tragend ist131. Die staatliche Gemeinschaft ist weiterhin als rechtlich organisiertes Wirkungsgefüge zu betrachten, welche ihre Koordination durch eine wirksame rechtliche Normenordnung, eine außerrechtliche Normenordnung (z. B. sittliche Ordnung, Anstandsregeln) sowie durch ein homogenes, widerspruchsfreies und aufeinander abgestimmtes Normensystem (sozialkybernetisches System mit angefügtem Interaktionensystem) erlangt132. Der Begriff der politischen Gemeinschaft entspricht demnach dem Begriff des Staates bei Althusius, wobei zu unterscheiden ist, daß eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft erst ein Konstrukt des Liberalismus des achtzehnten Jahrhunderts war. Beide stehen bei Althusius in Reflexion aufeinander innerhalb der „consociatio symbiotica“ unter der Maßgabe, was dem Individuum nützt und was der Gemeinschaft nützt133: Alle wirtschaftliche Tätigkeit soll bei Althusius staatlichen Organen unterstehen wegen der Tatsache, daß wirtschaftliche Tätigkeit allgemein nicht nur dem Individuum, sondern auch der Allgemeinheit nütze134. Althusius hat also einen korporativen Staat bzw. ein politisches Gemeinwesen entwickelt135. Da er dies als Jurist in eine staatliche Rechtssystematik einbindet, sind bei Althusius ebenfalls beide Komponenten der menschlichen Gemeinschaft sowie des zugrunde liegenden Rechtssystems vorhanden. Die umfassende Systematik des Gemeinschaftsbegriffes der EU zeigt deutlich, daß der Gemeinschaftsbegriff bei Althusius einfacher, nicht so vielschichtig und 129 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 893, Herder Verlag (1988), S. 200 und Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 656. 130 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 69. 131 Zippelius, R. (1985), S. 80. 132 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 46 f. 133 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 115. 134 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.VI, § 32 ff., S. 76 ff. 135 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 117.
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sehr viel weniger Komplexe umfassend war. Dies lag in erster Linie an der geringeren Komplexität des Rechts- sowie des Wirtschaftssystems, so daß die Notwendigkeit der Beachtung einer derartigen Typisierung gar nicht angezeigt war. Eines aber wird deutlich – und dies auch schon durch die Identität der beiden Begriffe in den Bereichen Wertegemeinschaft und politische Gemeinschaft – durch den Begriffsvergleich: Die Intentionen zwischen einer heutigen Typisierung und der des Althusius ist vom Grundgedanken her nicht so weit entfernt, wie man aufgrund der zeitlichen Differenz von über 400 Jahren denken könnte. Der erste Begriff (nach Althusius) in Richtung Anfänge einer politischen Gemeinschaft, der zweite (EU) in Richtung Perfektion und Bürokratisierung einer bekannten politischen, wirtschaftlichen, sozialen Gemeinschaft. 3.2.1.2 Volksvertretung und -institutionalisierung im Staat 3.2.1.2.1 Der Zentralbegriff des Beauftragungsvertrages bei Althusius136 Der „pactum mandati“ – der Beauftragungsvertrag – fußt nach Althusius auf dem Hierarchiegedanken der Gemeinschaft. Zu unterscheiden vom Beauftragungsvertrag sind der Gesellschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1) und der Herrschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1). Das soziale Gefüge der Gemeinschaft hat eine Hierarchie von oben nach unten, demnach auch Leitende und Ausführende. Das Verhältnis zwischen Volk und Magistrat wird durch einen Mandats- bzw. Beauftragungsvertrag hergestellt137. Eine Obrigkeit ist für ein funktionierendes, organisiertes Gemeinwesen Voraussetzung. Da die Obrigkeit wiederum gemäß der „consociatio symbiotica“ durch die Ausführenden eingesetzt wird, muß im Beauftragungsvertrag die Regelung der Aufgaben und Befugnisse der Obrigkeit in Übereinkunft mit den Ausführenden getroffen werden. Dabei stehen die beiden Pole in Reziprozität dahingehend, daß die Obrigkeit der unteren Ebene gleichzeitig Ausführender der nächst höheren Ebene ist. So ist der Dorfvorsteher der Magistratus der Dorfgemeinschaft und dann gleichzeitig Ephore – also Kontrollorgan – gegenüber dem Amtsträger der nächst höheren politischen Ebene wie z. B. dem Grafen. Er ist dies jedoch nicht als Einzelperson, sondern als Gremium aus der Summe aller dieser Magistraten. Die Grafen nun sind Magistratus der Grafschaft und gleichzeitig – als Gremium aller Grafen – Ephoren gegenüber dem Fürsten. Die Ephoren selbst haben dabei eine Doppelrolle138: Sie sind Kreations- und Kontrollorgan des obersten Magistrates und vertreten somit die Gesamtheit und sie üben ein beschränktes Mandat als Vertreter als Vertreter und Repräsentanten der partikularen Konsoziationen aus. Der „pactum mandati“ 136 Vgl. dazu die Ausführungen bei Dahm, K.-W. (1988), S. 36 ff., Eßer, H. H. (1988), S. 172 f. sowie vgl. Gierke, O. von (1981), S. 76 ff. 137 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 6, S. 196. 138 Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 221.
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wird sowohl zum Vertrag der Beauftragung als auch der Beaufsichtigung (Kontrolle) gemäß der Reziprozitätstheorie des Althusius. Das Volk allein hat dabei die Majestätsrechte („Ius majestatis“, vgl. Kapitel 3.2.6.2.3) und kann nur das Recht des Staates („Ius regni“, vgl. Kapitel 3.2.6.2.3) mittels Herrschaftsvertrag auf die Obrigkeiten übertragen139. Die Gegenseitigkeitsbeziehungen mit bedingendem Charakter gehen somit konform zur „consociatio symbiotica“. Die Staatslehre des Althusius stellt erstmals eine bewußte Verknüpfung von Politik, Philosophie, Theologie und Jurisprudenz (Vertragslehre) dar; Althusius selbst übte Kritik an den einseitig juristischen Konstruktionen der Staatslehren von z. B. Bodinus oder Gregorius140. Bei ihm dagegen ist die konstituierte Gemeinschaft bestimmt durch ein System des Naturrechts (vgl. Kapitel 3.2.6.2.1), der Gnadenwahl Gottes (vgl. Kapitel 3.2.2) und des Gesellschaftsvertrages (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1), welches Althusius in bezug auf die Lehre Calvins (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1) von der Gemeindeordnung ausgearbeitet hatte141. Das Konstrukt des „pactum mandati“ hat ebenfalls engen Bezug zum Calvinismus142 (vgl. Kapitel 3.2.2.1). In der Föderaltheologie steht der Bund Gottes mit seinem Volk unter der Prämisse der gegenseitigen Verpflichtung im Mittelpunkt. Diese Verpflichtungen werden nun aus dieser Sicht auf die jeweiligen Ebenen zwischen Herrscher und Beherrschten übertragen und setzen sich in der Hierarchie fort. Der „pactum mandati“ bindet den Magistraten an die Ausübung seiner Verpflichtungen gemäß den Geboten Gottes. Hält sich der Magistratus nicht an diese, dann werden nach Althusius Sanktionen ergriffen, welche von der Ermahnung bis zur Absetzung reichen. Mit der Absetzung wird der „pactum mandati“ gekündigt und somit die Beauftragung entzogen und seine Rechte verwirkt143. Dies gilt für jede Art des Magistratus, demnach auch für den „summus magistratus“, den Kaiser. „Beide, der König und die Ephoren, sind sowohl vom Volk als auch von Gott eingesetzt. Von Gott mittelbar, vom Volk unmittelbar“ 144. Der „pactum mandati“ schließt auch die Übertragung der Herrschaft auf den Herrscher mit ein; bei Abschluß des Beauftragungsvertrages ist dieser im Namen Gottes zu beschwören145. Weiterhin ist nach Althusius aufgrund der Verpflichtung der weltlichen Herrscher für kirchlichen Aufgaben und Befugnisse der Aufsicht, Verteidigung, Sorge und Leitung der kirchlichen Dinge146 ein weiterer Vertrag, der „pactum religiosum“ zu schließen147: Es ist ein Bundesschluß mit Gott148. Vgl. Wolf, E. (1963), S. 193. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 19. 141 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 192. 142 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Eßer, H. H. (1988), S. 166 ff. und bei Gierke, O. von (1981), S. 56 ff. 143 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 20. 144 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 69, S. 209. 145 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 25, S. 201. 146 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 5, S. 280. 139 140
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Für das frühe 17. Jahrhundert war eine derartige theoretische Rechtskonstruktion, welche zudem die absoluten Rechte des Kaisers entziehen konnte, revolutionär und sorgte für entsprechende Kritik an Althusius Schriften. 3.2.1.2.2 Europäisches Parlament, Rat und Kommission als EU-Beauftragte Übersetzt man nun das Konstrukt des „pactum mandati“ des Althusius auf die Struktur der EU, so sind folgende Schlüsse konsequent. Das Rechtskonstrukt des Althusius läßt sich nicht Eins zu Eins auf die EU übertragen. Stellt man jedoch dem Rechtskonstrukt die Organstruktur der EU gegenüber, so ist das jeweilige Pendant zu den Organen des „pactum mandati“ deutlich erkennbar: – Der Obrigkeit beim „pactum mandati“ des Althusius entspricht der Rat der EU zusammen mit dem Europäischen Rat, – Die Ausführenden beim „pactum mandati“ des Althusius sind als Beauftragte das Europäische Parlament sowie für die Umsetzung die Kommission.
Der Rat der EU erläßt als Vertreter der Mitgliedstaaten die Rechtsvorschriften für die EU, setzt die politischen Ziele, koordiniert die nationalen Politiken der Mitgliedstaaten und regelt Konflikte zwischen Mitgliedstaaten und anderen Institutionen149. Das Europäische Parlament erläßt Gesetze und kontrolliert die Exekutive. Die Kommission überwacht das EU-Recht, das Funktionieren des Binnenmarktes, sie ist zuständig für die Konzipierung und Durchführung der Gemeinsamen Agrarpolitik, der regionalen Politik und der Entwicklungszusammenarbeit mit Mittelund Osteuropa, der Karibik und Afrika sowie für die Programme der technologischen Entwicklung und Forschung150. Weitere Organe sind der Europäische Gerichtshof und der Rechnungshof. Somit weisen die Organe der EU folgende Parallelen zum „pactum mandati“ auf: – Die Mitglieder der Organe sind gewählte Vertreter des Volkes, quasi „EU-Beauftragte“ im Terminus des Althusius, – Die Organe sind in eine staatliche hierarchische Struktur eingebunden, demnach ist eine Obrigkeit vorhanden, – Zwischen den Organen bestehen Kontrollfunktionen, – Es sind Gegenseitigkeitsbeziehungen in den Funktionen der Organe vorgesehen und enthalten, 147 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 34, S. 202 und Kap. XXVIII, § 15, S. 282. 148 Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 531 f. 149 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 5. 150 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13.
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– Es sind Funktionen für die Aufrechterhaltung und den Ausbau von Gegenseitigkeitsbeziehungen vorhanden (z. B. Lomé-Abkommen).
Die Organstrukturen der EU sind inhaltlich, strukturell und rechtssystematisch nicht sehr weit vom „pactum mandati“ entfernt. Selbstverständlich sind die Aufgabengebiete, Ziele und Funktionen der EU-Organe den heutigen Anforderungen angepasst und in Komplexität und Ausformung nicht mit dem „pactum mandati“ gleich zu stellen. Grundgedanke und Grundkonstellation können jedoch als identisch bezeichnet werden. Zu beachten ist, daß Althusius ausschließlich staatliche, nicht jedoch überstaatliche Gemeinschaften wie die EU im Sinne hatte, so daß die Übertragung des Mandatsvertrages auf die Organe der Organe den folgenden Schluß voraussetzen müssen: Bei Althusius wird das Verhältnis zwischen Volk und Magistrat durch den Mandats- bzw. Beauftragungsvertrag hergestellt151, wobei die Obrigkeit für ein funktionierendes, organisiertes Gemeinwesen Voraussetzung ist. Althusius schließt nicht explizit aus, in welcher Hierarchie die Obrigkeit angesiedelt ist; betrachtet man in diesem Zusammenahng die Struktur seiner hierarchischen „consociatio symbiotica“ so würden die Organe der EU der obersten Hierarchie entsprechen. Daß diese nicht innerhalb der Staatengemeinschaft, sondern eine Ebene darüber im Staatenverbund EU angesiedelt ist, wiederspricht dabei nicht der Definition Althusius. Insofern ist die Übertragung statthaft. Da weiterhin die Obrigkeit wiederum gemäß der „consociatio symbiotica“ durch die Ausführenden eingesetzt wird, muß im Beauftragungsvertrag die Regelung der Aufgaben und Befugnisse der Obrigkeit in Übereinkunft mit den Ausführenden getroffen werden. Übersetzt von Althusius auf die EU wird diese Bedingung erfüllt: Das Europäische Parlament wird in direkter Wahl vom Volk gewählt und über die EU-Gesetze sowie das Subsidiaritätsprinzip ist gewährleistet, daß die Regelung der Aufgaben und Befugnisse der Obrigkeit in Übereinkunft mit den Ausführenden getroffen werden. 3.2.1.3 Machtbegrenzung staatlicher Autorität 3.2.1.3.1 Der Zentralbegriff des Widerstandsrechtes152 und das Ephorensystem153 Das Widerstandsrecht („Ius resistendi“) ist im Zusammenhang in der Diskussion des Rechtsstaates mit den Auswirkungen des Naturrechtes und des positiven Rechtes (vgl. Kapitel 3.2.6.2.1) zu sehen. Es steht im Widerstreit der Grundprinzipien Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 6, S. 196. Vgl. dazu die Ausführungen bei Wolf, E. (1963), S. 193 f., Dahm, K.-W. (1988), S. 38 ff., Eßer, H. H. (1988) S. 185, Hofmann, H. (1988) S. 537, Winters, P.J. (1988) S. 543 ff. und vgl. Gierke, O. von (1981), S. 33 f. 153 Vgl. dazu die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 174 ff. und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 1 ff., S. 164 ff. 151 152
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der bedingungslosen, formellen Allmacht der Obrigkeit bzw. des Magistratus im Gegensatz zur Aussetzung der Stellung der Obrigkeit bei Pflichtverletzungen im Sinne von Kompetenzüberschreitungen 154. Das „Ius majestatis“ obliegt gemäß Gottes Gesetz dem Volk. Das Volk ist ein Volk Gottes und sein Regiment eine an Gottes Gesetz gebundene Herrschaft. Der Herrscher ist nur vom Volk eingesetztes Organ der Ausübung, auf welches das Herrschaftsrecht vom Volk delegiert wurde. Daraus ist nun unmittelbare Schlußfolgerung, daß das Volk auch wiederum die Befugnis hat, dieses Herrschaftsrecht zu entziehen155. Die Konstruktion des Herrschaftsvertrages in Verbindung mit dem Gesellschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1 sowie Kapitel 3.2.3.1.1) führt bei Althusius bei einem Verstoß des Magistratus gegen seine vertraglichen Pflichten und damit einer Überschreitung der Rechtsschranken zu einem Widerstandsrecht gegen den Magistratus. Entgegen der gerechten Obrigkeit steht die Tyrannis, wenn der Magistratus „die Fundamente und das verbindende Band der Lebensgemeinschaft (Consociatio) hartnäckig, beharrlich und unheilbar entgegen der beschworenen Treue und dem Versprechen des beauftragten Amtsträgers“ verletzt156. Die Ephoren haben in diesem Fall das Recht, Widerstand gegen die Tyrannis zu leisten157; dieser führt von der Ermahnung über die Amtsenthebung, notfalls mit Waffengewalt, bis hin zur Todesstrafe. Das Widerstandsrecht kann jedoch nicht von einem einzelnen Mitglied der Gemeinschaft – z. B. durch einen Monarchenmord – beansprucht werden158, sondern ausschließlich von den Ephoren als eine das Volk repräsentierende legitimierte Versammlung, was wiederum zu einer engen Bindung der Ephoren an das Volk führt. Auch bei einer Pflichtverletzung der Ephoren durch ein nicht ausgeübtes Widerstandsrecht bei einer offensichtlichen Tyrannis kann das Volk das Widerstandsrecht nicht selbst ausüben, hat jedoch das Recht der Absetzung und Neuwahl von Ephoren. Als Ausnahme läßt Althusius ausschließlich die Anweisung des Magistratus an sein Volk für einen Verstoß gegen Gottes Gebot als direkten Widerstandsgrund durch das Volk selbst zu. Die Ephoren159 sind zu verstehen als die Reichsstände mit der Funktion der ständischen Interessenvertreter und der Wächter des zwischen dem organisierten Volk und seiner Regierung geschlossenen Paktes160. Sie entstammen nicht nur dem Adel und der Geistlichkeit, sondern auch den Städten, Landständen und Dörfern161. Die Ephoren haben die doppelte Funktion des herrschaftskontrollierenden Regierungsorgans und der Verwalter des Gemein154 155 156 157 158 159 160 161
Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 305. Vgl. Wolf. (1963), S. 193. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 1, S. 388. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 145 f. Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 68. Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 174 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 18, S. 199. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 109, S. 189.
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wesens162 in ihrer Eigenschaft als Vertreter der partikularen Interessengruppen163. Althusius unterscheidet allgemeine und besondere Ephoren – analog zum tatsächlichem Aufbau von Kurfürsten und Ständetum164 – als generell erste oberste Repräsentanten des Gemeinwesens: – Den allgemeinen Ephoren ist der Schutz, die Sorge und die Aufsicht des ganzen Reiches und aller Provinzen zugewiesen165, – Den besonderen Ephoren, wozu Herzöge, Fürsten, Markgrafen, Grafen, Barone, Kastellane, Reichsadlige und Reichsstädte zählen, obliegt dagegen nur der Schutz und die Sorge einer Provinz, einer Region oder eines bestimmten Teiles des Reiches166.
Das Ephorensystem ist zudem bei Althusius insbesondere im Zusammenhang mit der Repräsentationstheorie ein wichtiges Element (vgl. Kapitel 3.2.5.1.3). Das Widerstandsrecht ist bei Althusius eng definiert; so kann es nicht durch einen Einzelnen wegen dessen Unzufriedenheit oder dessen individueller Auffassung ausgeübt werden. Es muß eine Tyrannis in dem Sinne vorliegen, welche das „Ius divinum“ oder das „Ius naturae“ gebrochen hat167. Das Widerstandsrecht kann sowohl als passives Recht durch Nichtgehorsam oder als aktives Recht durch Anwendung von Gewalt ausgeübt werden. Es ist nicht als Revolutionslegitimation sondern als Notrecht zur Wiederherstellung der Staatsund Rechtsordnung konzipiert168. Das Widerstandsrecht bei Althusius ist demnach eingebunden in das System der Vertragslehre und des Standesrechtes; auch der calvinistisch-föderaltheologische Hintergrund ist deutlich erkennbar. In der Hierarchie Gott-Magistratus-EphorenVolk wird dem Volk die Souveränität und gleichzeitig die Pflicht der Erfüllung der Gebote Gottes übertragen. Der Magistratus als „minister dei“ (Diener Gottes) trägt innerhalb dieser Hierarchie eine besondere Verantwortung hinsichtlich der Erfüllung der Pflichten. Verstößt er gegen die vertraglichen Pflichten durch die Nichtbeachtung der Gebote Gottes, so fallen die vertraglichen Verpflichtungen der nächsten Hierarchieebene – den Ephoren als „ministri dei“ – zu mit der Entbindung der Tyrannis. Das Widerstandsrecht wurde ursprünglich schon zu Zeiten Calvins169 (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1) von den sogenannten Monarchomachen 162 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 177 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 26, S. 172. 163 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 177 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 109 f., S. 189. 164 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 174. 165 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 110, S. 189. 166 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 111, S. 189. 167 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 194. 168 Vgl. Winters, P.J. (1988), S. 543. 169 Vgl. die Ausführungen bei Eßer, H. H. (1988), S. 182 ff.
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(= Kämpfer gegen den Alleinherrscher)170 entwickelt und von Althusius systematisch vor allem unter dem Aspekt der Vertragslehre ausgebaut. Gegenüber den Monarchomachen erweiterte Althusius den doppelten171 zum dreifachen Bundesschluß172 in seiner Kette der Begrenzung herrschaftlicher Macht mittels Widerstandsrecht: – Das Band der körperlichen Gemeinschaft ist der Konsens unter den Mitgliedern des Gemeinwesens173, – Der Magistrat wird nicht nur den Bedingungen und Verträgen des Gemeinwesens, sondern auch den Fundamentalgesetzen unterworfen174, – Der Magistrat kann abgesetzt werden, wenn er den Treueeid nicht hält und das Reich nicht gemäß seinem Versprechen verwaltet175.
Althusius stand mit seiner Lehre vom Widerstandsrecht im Kreuzfeuer der Vertreter der Monarchie oder des Territorialabsolutismus, zu deren Vertreter beispielweise Henning Arnisaeus (ca. 1575 – 1636176) – welcher auch Althusius inhaltlich angriff – zu zählen ist177.
3.2.1.3.2 Widerstandsrecht, Machtstruktur, Freie Wahl und Regierungsauflösung in der EU In der EU sind zahlreiche Mechanismen vorhanden, welche eine Begrenzung der Macht staatlicher Autorität vorsehen, nicht zuletzt vor dem Hintergrund einer demokratischen Staatsauffassung. Das Widerstandsrecht eines Staatsvolk richtet sich stets gegen die über es ausgeübte Staatsgewalt und ist somit mit der Frage der Legitimität (vgl. Kapitel 3.2.3.2 und 3.2.3.5) verknüpft. 170 Zu ihnen zählten vor allem George Buchanan (1506 – 1582), Hubert Languet (1518 – 1581), Boucher (y 1622), Guil. Rossaaeus, Franciscus Hotomanus (1524 – 1590), Marius Salamonius, Lambertus Danaeus (ca. 1530 – 1590), Juan Mariana (1537 – 1624), Hoenonius, Milton und Althusius; vgl. Gierke, O. von (1981), S. 3 f. 171 Der doppelte Bundesschluß ist demnach ein Gnadenbund mit Gott, welchem sich weder Herrscher noch entziehen können sowie ein Bund zwischen König und Volk zur Begründung einer rechtmäßigen Herrschaft; vgl. dazu die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1994), S. 104 f. 172 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 238 und die dortigen Quellenangaben zu Althusius sowie Hüglin, Th. (1994), S. 105. 173 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 7, S. 113. 174 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 49, S. 205. 175 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XX, § 20, S. 219. 176 Henning Arnisaeus war Professor der Medizin und Philosophie in Frankfurt / Oder und Helmstedt; er ist ein Vertreter des politischen Neuaristotelismus und wie Althusius einer der Begründer der frühneuzeitlichen Politikwissenschaft; vgl. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 77, Fußnote 27, S. 404. 177 Vgl. Friedeburg, R.von (2004), S. 262 f.
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a) Widerstandsrecht In modernen Rechtsstaaten, vor allem in der Staatsform einer Demokratie gibt es explizit ebenfalls Widerstandsrechte. So ist z. B. im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland in Artikel 20 über den demokratischen Bundesstaat folgendes formuliert: „Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer und sozialer Bundesstaat . . . Die Gesetzgebung ist an die verfassungsmäßige Ordnung . . . gebunden. Gegen jeden, der es unternimmt, diese Ordnung zu beseitigen, haben alle Deutschen das Recht zum Widerstand, wenn andere Abhilfe nicht möglich ist.“ Formal würde es zwar an der Rechtssystematik und dem Rechtsverständnis des modernen Staates an sich liegen, daß das Widerstandsrecht zu einem Dilemma führt: Ist ein Widerstandsrecht gesetzlich verankert und würde ausgeübt, so wäre dadurch die Garantie der verbrieften Rechte eines Rechtsstaates verloren und das Widerstandsrecht nicht mehr rechtswirksam. Dies gilt dann nicht, wenn die Ausübung des Widerstandsrecht nachträglich durch entsprechende Rechtsgrundsätze rückwirkend legitimiert wird, wobei dann von einer geglückten Revolution zu sprechen ist178. Überträgt man das Widerstandsrecht des Althusius auf die EU, so stellt sich die Frage, wem dies zustehen würde: Das Widerstandsrecht haben bei Althusius die Ephoren inne, was bei der EU dem Europäischen Parlament entsprechen würde (wobei hier zu beachten ist, daß das Ephorensystem ein intrastaatliches Konstrukt, das Europäische Parlemant jedoch ein Organ eines überstaatlichen Staatenverbundes ist; vgl. dazu die analoge Argumentation in Kap. 3.2.1.2 bei der Übertragung des Mandatsvertrages auf den überstaatlichen Staatenverbund EU). Weiterhin ist die Frage wichtig, wem gegenüber sodann das Widerstandsrecht greifen soll; dem Magistrat entspricht in der EU dem Rat der EU. Dieser hat jedoch keine Herrschervormachtstellung inne, wie dies für die Ausübung des Widerstandsrechtes Voraussetzung gewesen wäre. Insofern ist das Widerstandsrecht nur mit starker Einschränkung direkt auf die EU übertragbar. b) Machtstruktur Für die EU als politische Ordnungsform im Spektrum zwischen Bundesstaat und Staatenbund mit dem Charakter eines Staatenverbundes (vgl. Kapitel 2.3.4) verlagert sich die Betrachtungsebene der Machtbegrenzung. Dadurch, daß die EU kein eigenes Staatsgebilde sondern eine staatenübergreifende Ordnungsform darstellt, liegt die eigentliche Staatsmacht noch solange in der Ebene der Mitgliedstaaten, wie die EU kein eigener Staat mit eigener Verfassung ist. Dieser Umstand alleine begrenzt die Macht von EU-Organen, da die nationalen Organe zwischengeschaltet sind. In den Organen der EU sind verschiedene Stufen der Machtbegrenzung, welche hinüber und herüber wirken, erkennbar: 178
Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 142 ff. und S. 139 ff.
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– Europäisches Parlament
Das Europäische Parlament steht der Bevölkerung demokratisch am nächsten durch die direkte Wahl auf fünf Jahre (sehr starke Stufe 1 der Machtbegrenzung). Das Europäische Parlament steht in dauerndem Kontakt zu den nationalen Parlamenten, auch in den Konferenzen der Parlamente, den sogenannten „Assisen“179 (Stufe 2 der Machtbegrenzung). Teilung der Entscheidungsbefugnisse des Europäischen Parlaments mit dem Rat der EU im Anhörungsverfahren, Kooperationsverfahren und Mitentscheidungsverfahren180 (Stufe 3 der Machtbegrenzung), welches im Mitentscheidungsverfahren bei einer Ablehnung des Vorschlages der Kommission in zweiter Lesung dann nur noch bei einstimmigem Beschluß des Rates zum Erlaß eines Rechtsaktes führen kann181. Das Europäische Parlament hat gemeinsam mit dem Ministerrat Haushaltsverabschiedungsbefugnisse mit Ablehnungsbefugnis und Entlastungserteilung für die Kommission182 (Stufe 4 der Machtbegrenzung). Das Europäische Parlament übt die politische Kontrolle über die gesamte Tätigkeit der Union aus. Die Kontrolle der Exekutive seitens der Kommission und des Ministerrates erfolgt durch deren Rechenschaftspflicht vor dem Europäischen Parlament, der Kontrolle der Kommission über die Monats- und Jahresberichte und das Mißtrauensvotum, der Kontrolle des Rats mit dem Bericht des Ratspräsidenten, der Zustimmungspflicht bei der Ernennung des Präsidenten der Kommission und der Kommissare, dem Recht der Einsetzung von Untersuchungsausschüssen sowie der Verfassung von Entschließungen nach Debatten und Abstimmungen über das Arbeitsprogramm und den jährlichen Gesamtbericht der Kommission183 (Stufe 5 der Machtbegrenzung). Teilnahme des Präsidenten des Europäischen Parlaments an den Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs mit Vorlage der Position des Europäischen Parlaments zu den Tagesordnungspunkten184 (Stufe 6 der Machtbegrenzung). Völkerrechtliche Verträge bedürfen der Zustimmung der Europäischen Parlaments und es besteht ein Anhörungsrecht zu GASP-Fragen185 (Stufe 7 der Machtbegrenzung). – Rat der EU
So setzt sich der Rat zusammen aus den – letztendlich gewählten – Fachministern der Mitgliedstaaten (Stufe 1 der Machtbegrenzung). Der Vorsitz im Rat, 179
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 5. 180 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6 und die Ausführungen bei Borchardt, K.-D. (1999), S. 73 ff. 181 Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 78. 182 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26. 183 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26 f. 184 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7. 185 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 27.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
die sogenannte Präsidentschaft, wird vom jeweiligen Minister eines Mitgliedstaates rollierend für sechs Monate ausgeübt und sieht einen Rechenschaftsbericht für das Europäische Parlament vor186 (Stufe 2 der Machtbegrenzung). Gesetzgebungsakte können nur beschlossen werden, wenn ein Entwurf der Europäischen Kommission vorliegt und dieser den Ausschuß der ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten passiert hat187 (Stufe 3 der Machtbegrenzung). Es besteht ein Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments bei Entscheidungen des Rates, d. h. die Kommission kann in bestimmten Politikbereichen nicht gegen die absolute Mehrheit des Europäischen Parlaments entscheiden188 (Stufe 4 der Machtbegrenzung). Positive Entscheidungen kommen nach den drei unterschiedlichen Abstimmungsverfahren entweder erst durch einstimmige, qualifizierte (Normalfall) oder einfache Mehrheit zustande, wobei bei der qualifizierten Mehrheit (derzeit 258 von 345 Stimmen) eine Stimmengewichtung nach Mitgliedsstaatengröße erfolgt und über das System der doppelten Mehrheit und der neuen Wägung der Stimmen bereits diskutiert wird189 (Stufe 5 der Machtbegrenzung). Bei einer qualifizierten Mehrheit kann zudem durch jedes Ratsmitglied eine Prüfung erfolgen, ob die Mitgliedstaaten, welche die qualifizierte Mehrheit bilden, mindestens 62 % der Gesamtbevölkerung der EU stellen, was nur dann den Beschluß rechtskräftig werden läßt190 (Stufe 6 der Machtbegrenzung). Es besteht eine Veröffentlichungspflicht aller Rechtsakte der EU im Amtsblatt der Europäischen Gemeinschaften und es besteht Zugang zu Dokumenten der EU für die Bürger191 (Stufe 7 der Machtbegrenzung). – Europäische Kommission
Die Europäische Kommission ist ausschließlich dem Wohl der EU als Ganzes verpflichtet, indem sie für die Umsetzung des vertraglich vereinbarten Gemeinschaftsrechtes zu sorgen hat. Auch hier sehen die europäischen Verträge verschiedene Stufen der Machtbegrenzung vor: Aufgrund ihrer Zusammensetzung können keine einzelnen nationalen Staatsziele bevorzugt verfolgt werden: Es muß mindestens ein Staatsangehöriger aus jedem Mitgliedstaat in der Kommission vertreten sein192 (Stufe 1 der Machtbegrenzung). Die Kommission hat eine Amtsperiode von fünf Jahren (Stufe 2 der Machtbegrenzung). Das Europäische Parlament entscheidet mit, wer Präsident der Kommission wird und die Regierungen schlagen den Kandidaten vor; 186 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 37. 187 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 32. 188 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 32. 189 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 74. 190 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 34. 191 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 11 f. 192 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 78 f.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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weiterhin hat der Präsident den Rücktritt eines Kommissars durchzusetzen, wenn die fachliche und politische Ausgewogenheit und Qualifikation sowie die Vertrauenswürdigkeit eines Kommissars nicht als gegeben erscheint, hat ein Mitspracherecht bei der Benennung der Kommissare sowie eine Richtlinienkompetenz für die Tätigkeit der Kommission (Stufe 3 der Machtbegrenzung). Die Kommission muß geschlossen zurück treten, wenn das Europäische Parlament das Mißtrauen ausspricht193 (Stufe 4 der Machtbegrenzung). Entscheidungen der Kommission werden mit absoluter Mehrheit getroffen (Stufe 5 der Machtbegrenzung). Die Kommission hat alleiniges Gesetzesinitiativrecht im Bereich der Gemeinschaftspolitiken sowie ein mit den Mitgliedstaaten geteiltes Initiativrecht im Bereich der zweiten und dritten Säule (Außen- & Sicherheitspolitik sowie Justiz & Inneres), welche dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat zugeleitet werden. Die Vorschläge werden jedoch von allen anderen Organen außer der Europäischen Investitionsbank geprüft und eine Anhörung der betroffenen Kreise veranlaßt (Regierungen, Gewerkschaften, Sachverständige, Industrie etc.), wobei die vorrangigen Ziele der EU nicht von der Kommission festgelegt werden, sondern durch den Rat oder das Europäische Parlament194 (Stufe 6 der Machtbegrenzung). Die Mitglieder der Kommission haben gegenüber dem Europäischen Parlament eine Rechenschaftspflicht 195 (Stufe 7 der Machtbegrenzung). Der Kommission obliegt das Haushaltsrecht sowie die Verwaltung und Kontrolle der Einhaltung und richtigen Anwendung aller Verträge und Beschlüsse196 mit Klagerecht vor dem Europäischen Gerichtshof, welcher letztendlich über die Rechtmäßigkeit entscheidet (Stufe 8 der Machtbegrenzung). Die Kommission vertritt die EU in allen internationalen Organisationen mit Vertragsabschlußbefugnis (z. B. Lomé-Abkommen) und steht somit unter Aufsicht der Öffentlichkeit (Stufe 9 der Machtbegrenzung). Die Kommission unterliegt dem Subsidiaritätsprinzip und erfüllt daher nur Aufgaben, welche nicht von den Mitgliedstaaten besser erfüllt werden können197 (Stufe 10 der Machtbegrenzung). – Europäischer Gerichtshof und Europäischer Rechnungshof
Auch beim Europäischen Gerichtshof und dem Europäischen Rechnungshof liegen Machtbegrenzungsinstrumente vor, wie z. B. die Unabhängigkeit der Mitglieder oder das Anrufungsrecht durch die Mitgliedstaaten, der Organe aber auch aller natürlichen und juristischen Personen198. 193
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 14. 194 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 14 f. 195 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 14. 196 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 13. 197 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 15. 198 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 17.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
c) Freie Wahl Die freie Wahl als volkslegitimierte Entscheidung für die Einsetzung von Organen (= Machtinhabern) und einer damit verbundenen Machtbegrenzung ist in der EU in folgenden Organen mit unterschiedlicher Ausprägung vorhanden: – Europäisches Parlament
Seit 1979 erfolgt die freie, direkte Wahl durch die Bevölkerung der EU. – Europäischer Rat
Der Europäische Rat besteht aus den Staats- und Regierungschefs der Mitgliedstaaten und dem Präsidenten der Kommission. Erstere werden in freier Wahl gewählt, so wird z. B. in Deutschland der Bundeskanzler auf Vorschlag des Bundespräsidenten – welcher wiederum durch die Bundesversammlung als Versammlung aus Mitgliedern des Bundestages und der Landtage gewählt wird – durch den Bundestag gewählt199. Letzterer wird durch die Regierungen der Mitgliedstaaten benannt200, wobei jedoch das Europäische Parlament Mitspracherecht hat. Demnach liegt eine indirekte Wahl vor. – Rat der EU (Ministerrat) und Allgemeiner Rat der Außenminister
Der Rat der EU besteht aus den Fachministern der Mitgliedstaaten. Diese werden als Mitglieder der Staatsregierung in der Regel durch den Regierungschef ernannt, so z. B. in Deutschland durch den Bundeskanzler201. Hier liegt demnach nur eine indirekte Wahl über die Wahl der Staatsregierung vor. – Europäische Kommission
Die Regierungen der Mitgliedsstaaten benennen zunächst die Kommissare. Die Mitglieder der Europäischen Kommission wurden bis 2001 als Kollegium durch das Europäische Parlament ernannt, wobei jedoch der Präsident der Kommission sein Einvernehmen geben muß202. Mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza erfolgt die Ernennung durch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluß des Europäischen Rates203. Insofern liegt auch hier nur eine indirekte Wahl über die Wahl der Staatsregierung vor. – Europäischer Gerichtshof
Die Richter und Generalanwälte des Europäischen Gerichtshofes werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten ernannt204. Es liegt auch hier keine direkte Wahl vor.
199 200 201 202 203 204
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 32. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42. Vgl. Herder Verlag (1988), S. 32. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 78. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 44.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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d) Regierungsauflösung Eine Regierungsauflösung kann in parlamentarischen Systemen grundsätzlich durch folgende Instrumente erfolgen205: – Vertrauensfrage, – Mißtrauensvotum mit Sonderformen Adresse, Budgetverweigerung, Ministeranklage, – Abstimmungsniederlage, – Ministerverantwortlichkeit vor der zweiten Kammer, – Ministersolidarität und Verantwortlichkeit der Minister.
Das Mißtrauensvotum ist eine Funktion der Machtbegrenzung in parlamentarischen Regierungssystemen. Dem Mißtrauensvotum kann die sogenannte Vertrauensfrage voraus gehen, welche von der Regierung an das Parlament gestellt wird. Die Vertrauensfrage betrifft entweder die allgemeine Politik (z. B. Investitur), „vital questions“ (z. B. Verfassungs- oder Wahlgesetzreformen) sowie Fragen zweiten Ranges und Geschäftsordnungsfragen206. Wird die Vertrauensfrage durch das Parlament abgelehnt, so kommt es zum Mißtrauensvotum. Das Mißtrauensvotum ist ein unterschiedlich ausgestaltetes verfassungsrechtliches Mittel des Parlaments, um die Regierung oder einzelne Minister zum Rücktritt zu veranlassen, wobei die Ausprägungen konstruktives und destruktives Mißtrauensvotum zu unterscheiden sind207. Im System der EU kann das Europäische Parlament die Kommission durch das Mißtrauensvotum zum Rücktritt bewegen, wobei eine Zwei-Drittel-Mehrheit der abgegebenen Stimmen und eine Mehrheit der Mitglieder erforderlich ist208. Auch hat das Mißtrauensvotum auf nationaler Ebene entsprechende Auswirkungen auf die Stellenbesetzung in der EU: Würden z. B. Fachminister national per Mißtrauensvotum zum Rücktritt gezwungen werden, so wäre ihr Amt im Rat der EU ebenfalls beendet. Einem Mißtrauensvotum kann nur mit dem komplementären Instrument der Parlamentsauflösung entgegen gewirkt werden, welches in den meisten parlamentarischen Demokratien ebenfalls vorhanden ist209. Als Fazit ist deutlich erkennbar, daß der politische Gedanke der Machtbegrenzung bei Althusius genauso umfangreich vorhanden ist wie in der EU. Einzig die Organstruktur der EU in Verbindung mit der Organstruktur der Mitgliedstaaten Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 623 ff. Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 675. 207 Vgl. Herder Verlag (1988), S. 141 und S. 225 und Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 389. 208 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 27 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 14. 209 Vgl. Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 389. 205 206
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
bläht die Verbindungen der zwischenorganischen Machtbegrenzung der EU im Vergleich zu Althusius auf und ist deshalb vielschichtiger und komplexer. Althusius teilt bekanntlich die Macht auf zwei Organe auf: Die Obrigkeit in Form des „summus magistratus“ und das Volk (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Einem souveränen Machtinhaber bei Althusius, dem „summus magistratus“, steht das Volk mit seinem Machtbegrenzungsinstrument des Widerstandsrechtes – welches dem Mißtrauensvotum durchaus gleich zu setzen ist – gegenüber. Dieses duale Beziehungsgeflecht wird in der EU durch ein komplexes, multiples Beziehungsgeflecht von vielen Organen zu vielen Kontroll-, Gewaltenteilungs- und Machtbegrenzungsfunktionen ersetzt, wobei der Grundgedanke der Machtbegrenzung ein und derselbe ist. Ein Widerstandsrecht im Sinne Althusius’ ist in der EU gesetzlich nicht vorhanden und wird heute nicht mehr durch körperliche Gewalt sondern durch diplomatische und demokratische Instrumente ausgeübt.
3.2.2 Religion und Kultur im Staat 3.2.2.1 Die monarchomachische Weltanschauung und der Calvinismus Die monarchomachische Weltanschauung der frühen Neuzeit erhielt ihren Namen von den Gegnern dieser Bewegung; hierzu zählten neben dem schottischen Namensgeber William Barclay (Barclaius) (1546 – 1608)210 mit seiner Schrift „De regno et regali potestate adversus Buchananum, Brutum, Boucherium et reliquos Monarchomachos libri sex“ auch Luther und Rousseau. Die Monarchomachen (= Kämpfer gegen den Alleinherscher)211 verfassten ihre Schriften vor allem in der Zeit der französischen Bürgerkriege. Sie stellten einen Gegenpol zu den Vormachtansprüchen der Kirche dar, indem sie aus dem Prinzip der Volkssouveränität das Widerstandsrecht gegen die Obrigkeit ableiteten212. Vertritt der Monarch nicht mehr die Interessen des Volkes oder bevorzugt er eine andere Religionsgemeinschaft, so soll gemäß der Monarchomachen zum Bürgerkrieg aufgerufen werden. Bei den Monarchomachen ist der Staatsvertrag noch mit dem Herrschaftsvertrag identisch213, was später bei Althusius nicht mehr der Fall ist (vgl. Kapitel 3.2.3.1). Diese Anschauung führte ab Mitte des sechzehnten Jahrhunderts zu heftigen Kontroversen und galt im wahrsten Sinne des Wortes als revolutionär. Die Schriften des Althusius wurden daher heftig kritisiert und diskutiert. Dies gipfelte Mitte des Vgl. Nitschke, P. (1995), Fußnote 152, S. 176. Zu ihnen zählten vor allem George Buchanan (1506 – 1582), Hubert Languet (1518 – 1581), Boucher (y 1622), Guil. Rossaaeus, Franciscus Hotomanus (1524 – 1590), Marius Salamonius, Lambertus Danaeus (ca. 1530 – 1590), Juan Mariana (1537 – 1624), Hoenonius, Milton und Althusius; vgl. Gierke, O. von (1981), S. 3 f. 212 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 3. 213 Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 223. 210 211
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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siebzehnten Jahrhunderts im Vorwurf der Aufruhrdoktrin an die Schriften Althusius’ mit der Forderung, dieses verderblichste Erzeugnis des Monarchomachismus nicht an Akademien zuzulassen und den Flammen zu übergeben214. Dies wurde auch im Vorwurf der Ketzerei der grotianischen liberalen Kirche deutlich, da man Althusius vorwarf, dem Staat die Macht über den Glauben und die Kirche zu geben215. Die monarchomachische Weltanschauung ist mit dem Calvinismus eng verbunden; der Calvinismus steht im Gegensatz zum lutherisch-protestantischen Rechtsund Staatsdenken216. Calvin lehnt jede menschliche Willkür im Aufbau des menschlichen Körpers ab, verbunden mit einer durch Gott gegebenen, souveränen, „unumstößlichen Prädestination aller irdischen Dinge und Schicksale“217. Ein wichtiges Element des Calvinismus – und später auch bei Althusius – ist die Naturrechtslehre218; Luther dagegen lehnt das Naturrecht ab219. Das Amt der Obrigkeit im Staat entsteht aufgrund der rechtmäßigen, von Gott gebilligten Berufung durch den Anspruch des Volkes aus dem Naturrecht heraus, welches einen Freiheitsanspruch des Individuums beinhaltet220. Daraus leitet Calvin seinen aristokratisch geführten Volksstaat ab221. Die theokratische Staatsauffassung Calvins unterscheidet – entgegen Zwingli, bei dem städtischer Magistrat und Kirchenleitung zusammen fallen – die weltliche von der geistlichen Gewalt. Kirche und Staat besitzen jeweils eigene Körperschaften222 und ebenfalls eigene Organe wie z. B. eine geistliche Gerichtsbarkeit (Konsistorium) sowie eine weltliche Gerichtsbarkeit (Magistrat) mit eigenen Rechtsordnungen, welche jedoch gleichen Ursprungs sind: Beide unterstehen dem einen Wort Gottes. Somit wurde bei Calvin der Staat der Kirche untergeordnet223. Calvin geht ebenso wie Althusius von einer organischen Staatsauffassung (welche Calvin primär theologisch aus der Bibel ableitet) mit einer wechselseitigen Bezogenheit der Staatsmitglieder aus, im Unterschied zu Althusius jedoch ohne vertragliche Herrschaftsverhältnisse224. Althusius geht davon aus, daß dem Staat über die ZuVgl. Gierke, O. von (1981), S. 6 f. und Wolf, E. (1963), S. 213. Vgl. Wolf, E. (1963), S. 192. 216 Vgl. zum Vergleich zwischen calvinistischem und lutheristischen Ansatz bei Reibstein, E. (1955), S. 62 f. sowie vgl. den Luther-Calvin-Vergleich bei Walther, M. (2004), S. 147 f. 217 Wolf, E. (1963), S. 182; Vgl. auch dazu die näheren Ausführungen zum Calvinismus bei Wolf, E. (1963), S. 182 ff. 218 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 64 und S. 73. 219 Vgl. Walther, M. (2004), S. 148. 220 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 163 f. 221 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 164. 222 Vgl. die näheren Ausführungen zu Calvin und insbesondere zum Verhältnis von Kirche und Staat sowie zur presbyterial-synodalen Verfassung der Kirche im Mittelalter bei Rohls, J. (2002), S. 43 ff. 223 Vgl. Rüthers, B. (1988), S. 50. 224 Vgl. Eßer, H.H. (1988), S. 165 f. 214 215
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
weisung bestimmter Rechte und Hoheiten Einfluß auf die Kirche dahingehend gewährt wird, die Administration der Kirche zu beeinflussen. Gegenüber der Kirche besitzt der Staat bei Althusius weitergehende Rechte als bei Calvin225. Bei Althusius ist der Verfassungsstaat eine politische Ordnung, welche von der Kirche getrennt ist226. Neben den Calvinisten – zu denen auch Althusius zählt, er zitiert Calvin an 19 Stellen227 – waren die Jesuiten die wichtigsten Vertreter der monarchomachischen Weltanschauung228.
3.2.2.2 Ablösung der theokratischen durch die philosophische Staatsauffassung229 Die theokratische Staatsauffassung hat als Basis den Makrokosmos als von einem Geiste beseelten und nach einem Gesetz – welches durch die Allgewalt Gottes vorhanden ist – gebildeten Organismus. Dieser stellt die größtmögliche Einheit dar; kleinere Einheiten wie z. B. der Staat als vom Mensch gebildete Einheit werden in ihrer Struktur direkt davon abgeleitet und sind ein Abbild des Makrokosmos. Für alle sozialen Strukturen gilt demnach das Prinzip der Einheit („principium unitatis“). Die Grundgedanken dieser theokratischen Auffassung wurden vor allem in Dantes „De monarchia libri III“ und in Nicolaus Cusanus’ „De concordantia catholica“ schon im 15. Jahrhundert besonders deutlich. Jeder Einheit hat danach ein einheitliches monarchisches Oberhaupt vorzustehen, so wie dem Makrokosmos Gott vorsteht. Das Herrscheramt ist also eine unmittelbare Ausprägung der mittelbaren oder unmittelbaren Vollmacht Gottes und damit Abbild der göttlichen Weltregierung. Die Vormachtstellung der Kirche ist hier deutlich erkennbar. Im Mittelalter entstand ein Gegengewicht zur theokratischen Auffassung, welches vor allem im Wiederaufblühen des philosophischen Denkens der Antike begründet lag. Die Entstehung der vom Mensch gebildeten Einheiten wie z. B. der Staat wurde nunmehr entgegen der Idee der göttlichen Allgewalt auf den Naturtrieb des Menschen oder auf Willensvorgänge des Menschen zurück geführt230. Das göttliche Recht der Monarchie fällt mit der Übertragung der Wahl der Staatsform auf das Volk. Die Reformation versuchte mit einer erstarkten theokratischen Auffassung der philosophischen Auffassung vor allem durch die Werke Luthers, Vgl. Eßer, H.H. (1988), S. 182. Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 67. 227 Vgl. die näheren Ausführungen und Bezeichnung aller einzelnen Zitate bei Janssen, H. (1992), S. 28 ff. 228 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 63. 229 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 60 ff. 230 Diese Aussage ist u. a. auf Thomas von Aquin zurück zu führen; vgl. Gierke, O. von (1981), S. 63 und S. 63 Fußnote 19. 225 226
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Melanchthons, Zwinglis und Calvins sowie auch 1664 Johann Friedrich Horns „Politicorum pars architectonica de civitate“ Paroli zu bieten231. Diese philosophische Auffassung dagegen geht davon aus, daß das Herrscherrecht unmittelbar aus der Übertragung des Willens des gesamten Volkes gemäß dem Naturrecht auf einen Herrscher entsteht. Der Mensch besitzt gemäß dem Naturrecht Freiheit über sich und seine Glieder, ebenso der politische Körper. Der Freiheit des Volkes ist demnach überlassen ob und inwieweit es die Herrschergewalt auf einen oder mehrere Glieder überträgt. Einer religiösen Grundlage freilich konnte auch die philosophische Auffassung in dieser Zeit nicht entbehren: Die Natur und die natürliche Vernunft sind göttlichen Wesens. Somit ist – wenn auch nicht vordergründig – die vernunftrechtliche Staatskonstruktion dennoch auf dem Willen Gottes begründet232. Mit den Werken von Hugo Grotius, Thomas Hobbes und Samuel Pufendorf setzte sich die philosophische Staatsauffassung auf Basis des Naturrechtes endgültig gegen die theokratische durch.
3.2.2.3 Die Religion in der Staatsauffassung des Althusius und das Verhältnis zwischen Staat und Kirche Der theologische Einfluß sowie die konfessionellen Rahmenbedingungen in der Politica des Althusius wurde bereits in den 1950er Jahren durch E. Reibstein und C. J. Friedrich kontrovers diskutiert233. Althusius selbst stand zeitlebens in Diensten von calvinitischen Dienstherren: An der Johannea die Grafen von Nassau, an der Hohen Schule die Grafen von Bentheim sowie die Stadt Emden234. Aus den Schriften des Althusius wird deutlich, daß der theologische Hintergrund und der Bezug zur Bibel starkes Gewicht für den Calvinismus235 (vgl. Kapitel 3.2.2.1) hatte. Althusius selbst war im Winter 1597 im Fach Theologie an der Universität immatrikuliert um sich fortzubilden. Der theologische Hintergrund Althusius’ führte auch zum Disput mit Theologen und Historikern seiner Zeit. Der Streit gipfelte in der Frage, inwieweit einer Regierung die Entscheidung zustehe, ob eine bestimmte Stelle der Bibel den Willen Gottes ausdrücke oder nicht236. Bemerkenswert und historisch wichtig ist die Tatsache, daß für Althusius’ politische Theorie das moral- und rechtsphilosophische, protestantische Gedankengut der Reformatoren Luther und Melanchthon nicht verwendet wurde und Althusius diese in der Politica nicht zitiert; die Ignorierung protestantischen Gedankengutes vor allem im Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 70. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 66. 233 Vgl. dazu die Ausführungen sowie die Ausführungen zum theologischen Umfeld bei Menk G. (2004), S. 338 f. 234 Vgl. Menk, G. (2004), S. 342 und S. 345. 235 Vgl. die Ausführungen zum Calvinismus bei Althusius in Eßer, H. H. (1988), S. 165 ff. 236 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 27. 231 232
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Zusammenhang mit der Naturrechtslehre und der naturrechtlichen Interpretation der Bibel ist zum einen auf die Schule von Salamanca, den Calvinismus (vgl. Kapitel 3.2.2.1) und zum anderen auf innere sachliche statt auf äußere Gründe zurückzuführen 237. Althusius’ Ziel war, eine politische Theorie zu entwickeln, wobei die Bibel oft als Beleg für seine Aussagen dient. Inwiefern nun seine politische Theorie eine politische Theologie ist, wird in der Literatur unterschiedlich beurteilt238. Als Biblizist ist er gewiß zu bezeichnen239, wobei der Anspruch an sein Werk aus theologischer Sicht nicht zu hoch gehängt werden sollte240. Insbesondere der Beweis, daß die meisten Bibelzitate erst in der zweiten Auflage der Politica eingefügt wurden, ohne den Text maßgeblich zu ändern, zeigt, daß die Bibel weder Grundlage noch Richtschnur für die Politica war, sondern vielmehr, daß Althusius nur dem Stil altprotestantischer Gelehrsamkeit folgt und über Bibelzitate nur illustriert und dekoriert241. Aus dem historisch-theologischen Kontext heraus und zusammen mit seiner juristischen Affinität entwickelte er daraus eine politische Theorie. Er war der Auffassung, daß kein Staat weiser und vollständiger organisiert war als der jüdische Staat. In seinen Schriften zitiert er immer wieder die Bibel; in der Politica finden sich mehrere tausend Bibel-Zitate242. Allein in den Kapiteln I – VI finden sich mehr als 700 Zitate aus dem Alten Testament, über 300 Zitate aus dem Neuen Testament und mehr als 50 Zitate aus den Apokryphen des Alten Testaments243. In Kapitel XX finden sich beispielsweise 298 Bibelstellen aus dem Alten Testament, 44 aus dem Neuen Testament und 8 aus den Apokryphen244. Im Gegensatz zu Calvin (vgl. Kapitel 3.2.2.1) unterscheidet Althusius jedoch das Alte und das Neue Testament qualitativ nicht, was dazu führt, daß Althusius das Verhältnis zwischen Christengemeinde und Menschengemeinde nicht strikt trennt, so wie dies im Alten Testament dargestellt ist245. Dies steht zunächst im Wiederspruch zu seiner Vorstellung, Kirche und Staat zu trennen. Diese Trennung nahm er rein organisatorisch und definitorisch wie folgt vor246, wobei nachfolgende Tabelle die Systematik mit einzelnen beispielhaften Elementen, nicht jedoch die abschließend vollständige Gliederung darstellt: Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 56 f. Vgl. die verschiedenen Auffassungen bei Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XXXV sowie bei Rengstorf, K. H. (1988), S. 9 ff. 239 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 204 und S. 211. 240 Vgl. die näheren Ausführungen bei Janssen, H. (1997), S. 100 ff. 241 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 83. 242 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 41 sowie zur Art der Bibelzitierung bei Althusius vgl. Janssen, H. (1992), S. 39 ff. sowie zur Interpretation bestimmter Bibelstellen verschiedener Althusius-Werke bei Strom, Ch. (2004), S. 71 ff., insbesondere S. 86 ff. 243 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 203. 244 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 11. 245 Vgl. die näheren Ausführungen bei Janssen, H. (1992), S. 56 ff. 246 Vgl. die näheren Ausführungen bei Janssen, H. (1992), S. 176 ff. 237 238
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Tabelle 7 Staat und Kirche bei Althusius Kriterium
Staat
Kirche247
Stände
Weltlich: Nährstand248 etc.
Geistlich: Lehrstand249 etc.
Organisationsform
Stadt250, Provinz251 etc.
Presbyterium252, Parochie253 etc.
Ämter
Praeses (Landesfürst), Ephoren254 etc.
Presbyter (Prediger, Diakone) etc.
Verwaltung
Weltliche Verwaltung255
Kirchliche Verwaltung256
Souveränitätsrecht
Öffentliche, weltl. Aufgaben257
Geistl.Reichsrecht (= Sache Gottes)258
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Auffallend für Althusius’ Trennung von Kirche und Staat und damit von Religion und Politik ist vor allem im Bezug der Politica zum „Defensor Pacis“ des Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342)259, daß diese Trennung nur eine theoretische ist und statt dessen eine Interdependenz zwischen Religion und Politik vorliegt260. So schreibt Althusius z. B. daß dem Magistrat das Urteil über die Erkenntnis der Glaubenslehre zukommt und er dementsprechend über die Bischöfe herrscht261; auch 247 Vgl. die Ausführungen zur tatsächlichen Kirchenverfassung im 16.Jahrhundert in Frankreich und den Niederlanden, welche für Deutschland übernommen wurden bei Rohls, J. (2002), S. 49. 248 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 45, S. 102. 249 Vgl. z. B. die Pastoren als Mitglieder des Lehrstandes bei Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 12, S. 96. 250 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 1 ff., S. 71 ff. und vgl. die Ausführungen zur politischen Ordnung der Stadt bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 106 ff. und vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 251 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VII, § 1 ff., S. 81 ff. 252 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 10, S. 96. 253 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 11 ff., S. 96 ff. 254 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 1 ff., S. 165 ff. 255 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 1 ff., S. 93 ff. 256 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 1 ff., S. 280 ff. 257 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 2, S. 125. 258 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 33, S. 120. 259 Vgl. auch die Ausführungen zu Marsilius bei Reibstein, E. (1955), S. 100 f. 260 Vgl. Koch, B. (2004), S. 24. 261 Vgl. die Literaturhinweise bei Koch, B. (2004), S. 24 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 32, S. 286.
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spricht Althusius dem Papst die Vollmacht der Absetzung eines Magistraten im Falle der Tyrannis ab262. Bei folgenden weiteren Aspekten wird die Relation von Religion und Politik deutlich: – Als Schlüsselstelle für die Beziehung zwischen Religion und Politik bezeichnet M. Walther in der Politica Kap. XXI, § 41263, woraus eine grundsätzliche Trennung von Theologie und Jurisprudenz hervor geht und somit eine eigenständige politische Theorie bei Althusius manifestiert264. Der Dekalog ist demnach nicht nur theologisch, sondern auch politisch und damit für das symbiotische Leben gültig265; die beiden Gesetzestafeln des Dialogs sind „jedoch jeweils der Disziplin und dem Fach angemessen und entsprechend, so daß das rein Theologische und Politische sich nicht vermischen“266. Daraus folgert Althusius, da der Dekalog auch politisch ist, daß dem Magistraten die Organisationsgewalt für weltliche und kirchliche Angelegenheiten obliegt267. – Die klare Verteilung und auch Trennung der Aufgaben und Funktionen zwischen kirchlicher (das Heil der Seele und das Wohl des Leibes268 sowie die Lehre und Ausübung der Religion und der Einrichtung des geistlichen Amtes269) und weltlicher (die Verwaltung des Reiches270 und die Gewährleistung von Autarkie, guter Ordnung, Gesetzlichkeit, äußere Disziplin im Gemeinwesen und allem, was für das Leben zuträglich und förderlich ist271) Souveränität und Verwaltung, deren Verbindung jedoch im „pactum religiosum“ in der Erfüllung der Aufgaben gemäß dem Willen Gottes liegt272. – Politische Amtsträger üben im Rahmen der allgemeinen Visitationen Einfluß auf die Versammlung der kirchlichen Verwaltung aus, da die Visitationen von je einem Inspektor der Kirche und einem politischen Amtsträger durchgeführt werden und somit weltlicher Einfluß auf die kirchliche Verwaltung ausgeübt wird273. 262 Vgl. die Literaturhinweise bei Koch, B. (2004), S. 24 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 55, S. 400. 263 Vgl. Walther, M. (2004), S. 154 f. 264 Vgl. Walther, M. (2004), S. 155. 265 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 41, S. 232. 266 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 41, S. 232. 267 Vgl. die näheren Ausführungen zum Verhältnis zwischen politischer und kirchlicher Leitungsfunktion bei Althusius bei Walther, M. (2004), S. 156 f. und die dortigen Quellenangaben bzgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 56 – 58, S. 104 f. sowie Kap.XXVIII, § 2 – 4, S. 280. 268 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 28, S. 120. 269 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 25 f., S. 285. 270 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 4, S. 112. 271 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 1, S. 297. 272 Vgl. die näheren Ausführungen bei Koch, B. (2004), S. 26 ff. und die dortigen Literaturhinweise. 273 Vgl. die näheren Ausführungen bei Koch, B. (2004), S. 39 und die dortigen Literaturhinweise: vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 44, S. 288.
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– Die Exkommunikation als ursprünglich finales göttliches Urteil über die Ketzerei ist ein eigentlich kirchliches Instrument, welches bei Althusius jedoch auch im weltlichen Bereich durch den „summus magistratus“ angewendet wird, um diese „Krankheit“ vom Gemeinwesen fernzuhalten274. Insofern ist eine Verquikkung von Politik und Kirche in erheblichem Maße vorhanden. Auch das eigentlich weltliche Instrument der Zensur275 – welches entweder durch das Kollegium oder das Presbyterium ausgeübt wird276 – erfährt eine Vermischung von politischen mit kirchlichen Interessen: Die Zensoren haben sowohl schlechte weltliche als auch schlechte kirchliche Sitten und Ausschweifungen zu rügen und zu bestrafen277. – Die Verbindung weltlicher und kirchlicher Elemente findet sich bei Althusius auch in der Relation von bürgerlichem und göttlichem Recht278: Althusius verneint die Existenz eines bürgerlichen Rechts, welches nicht die natürliche und unveränderliche göttliche Billigkeit enthält279. Das weltliche Recht der Souveränität (Reichsrecht) hat zwei Seiten, nämlich die Ausrichtung auf das Heil der Seele (= Religion in der Erkenntnis und Verehrung Gottes) sowie auf die Sorge für den Leib (= die Sorge für dieses Leben)280; daß Althusius damit meint, das kirchliche Souveränitätsrecht zielt auf das Heil der Seele und das weltliche Souveränitätsrecht zielt auf die Sorge für den Leib ist ausgeschlossen281. Weiterhin betrachtet Althusius die Ausübung von politischer Macht als Gegenstand des göttlichen Rechts282.
Das Menschenbild des Althusius ist durch die Bibel geprägt und beruht auf dem Doppelgebot der Liebe des Pentateuch283 und wird auf die Mitglieder der politischen Gemeinschaft übertragen. Seine politische Gesellschaftssystematik – welche in unmittelbarem Zusammenhang mit dem Föderalismusbegriff (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.3) steht – entwickelt Althusius auf der Grundlage der Bibel: Das Miteinander und Füreinander, jedoch auch das Gegeneinander der Abraham-Familie 274 Vgl. die näheren Ausführungen bei Koch, B. (2004), S. 41 und die dortigen Literaturhinweise: vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 57, S. 292. 275 Vgl. die näheren Ausführungen bei Koch, B. (2004), S. 41 und die dortigen Literaturhinweise. 276 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXX, § 4, S. 307. 277 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXX, § 6 ff., S. 308 f. 278 Vgl. die näheren Ausführungen bei Koch, B. (2004), S. 43 und die dortigen Literaturhinweise. 279 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 21, S. 117. 280 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 27, S. 119. 281 Das beschriebene Reichsrecht ist schon alleine deshalb weltlich, weil das weltliche Recht der Souveränität bei Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), in Kap. IX, § 27, S. 119 beschrieben ist und das kirchliche erst ab § 33 ff., S. 120 ff. beginnt: vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, Fußnote 1, S. 110. 282 Vgl. Koch, B. (2004), S. 44. 283 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 206.
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bildet den theologischen Hintergrund, welchen Althusius sodann zum politischsozialen Modell der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) weiter entwickelt. Die gegenseitige Hilfe und Fürsorge der Individuen der Gemeinschaft innerhalb der „consociatio symbiotica“ leitet Althusius ebenfalls aus der Bibel her, wovon nachfolgende, ausgewählte Beispiele aus vielen zeugen: – Nach 1. Mose 29, 9 leistet Jakob der Tochter seines Onkels Hilfe an einem Brunnen, um ihr die Wasserentnahme sowie die Tränke der Herde ihres Vaters zu ermöglichen284. – Nach 1. Sam. 22, 3 – 4 bringt David fürsorglich seine Eltern unter dem Schutz des Moabiterkönigs im Hause unter285. – Die Erziehung und Unterweisung der Kinder sollte nach der wahren Erkenntnis Gottes geschehen nach Eph. 6, 4, 5. Mos. 6, 7, 11, 19; Joh. 4, 53 u. a.286. – Für die Erzielung eines gemeinsamen Nutzens aus dem Zusammenwirken der Kollegiumsmitglieder ist gegenseitiges Wohlwollen, einvernehmliche Übereinstimmung, freundschaftliche Gesinnung und Zuneigung notwendig, wobei Althusius 1. Kor. 1, 10 – 11 sowie Röm. 12, 16 und Gal. 5 zitiert287. – Fremde dürfen das Recht der Gastfreundschaft nutzen288. – Gemeinschaftsdienste der Bürger sind zu begründen durch die Notbedürftigkeit des Einzelnen sowie das Gebot der Liebe289.
Daneben sind folgende Elemente der politischen Theorie des Althusius theologischen Hintergrundes oder eben gerade nicht: – Innerhalb des Konstruktes der „consociatio symbiotica“ wird die Bibel in Kapitel I, 13 erstmalig zitiert, was bedeutet, daß sie nicht auf theologischem Gedankengut, sondern auf aristotelischem beruht. Die Bibel berichtet nicht über die Grundlagen und die Entstehung politischer Gemeinschaften, sondern sie setzt sie implizit voraus290. Nur die Folgerungen für das Verhalten des Individuums innerhalb der „consociatio symbiotica“ werden aus der Bibel gezogen, nicht jedoch deren Entstehungsbeweis (siehe oben). – Das Menschenbild ist dadurch gekennzeichnet, daß Christen als Bürger ihre Heimat im Himmel haben und sich im irdischen Leben im Exil befinden, wobei Christsein und christliche „communicatio“ durch ein das Gemeinwesen bestimmendes Recht untrennbar verbunden sind291. 284 285 286 287 288 289 290 291
Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 203. Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 204. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. III, § 37, S. 44. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 23, S. 52 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 18, S. 60. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 28, S. 75. Vgl. Janssen, H. (1992), S. 62 ff. Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 207.
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– Das menschliche Miteinander wird abgeleitet aus der Schöpfung von Adam und Eva und deren Ordnung nach 1. Mose 1, 26 – 27, wobei der Mensch nicht als Individuum, sondern als Kollektivum zu verstehen ist292 und damit als Gemeinschaft begründet ist, welche einer göttlichen Herrschaft und Gewalt zuzuweisen ist293. Auch dies folgert Althusius aus dem ersten Schöpfungsbericht in Verbindung mit Röm. 13, Eph. 5, 21 und Kol. 3, 18294. Hieraus entstehen später die Überlegungen des Althusius zu den politischen Elementen der Herrschaft und der Souveränität. – Das Herrscheramt und dessen Ausführung ist an diverse Bibelstellen geknüpft. Den ursprünglichen Herrschaftsanspruch leitet Althusius aus der Schöpfung ab: „Adam wurde von Gott als Herr und Gebieter seiner Frau, und aller die von ihr geboren wurden sowie aller übrigen Kreaturen geschaffen“295. In Kapitel XVIII, § 17 der Politica, wo Althusius gemäß dem Alten Testament ausführt, schreibt er, daß das Volk zusammenbricht, wo es keinen Leiter gibt und die Menschen wie Schafe sind ohne einen Hirten296. Die Einsetzung eines Herrschers wird als zu beachtende menschliche Ordnung unter Verweis auf 1. Petr. 2, 13 gesehen297. Althusius verwendet Bibelstellen wie 1. Sam., 8 Ri.17, 6 und 18, 3, Deut. 33, 5, Jos. 17, 18, Deut. 17, 14, 2. Sam. 5, 3 u. a. als Beweis, daß ein Volk und somit auch eine politische Gemeinschaft in der Argumentation des Althusius (nicht in der des Neuen Testaments) seine Herrscher selbst wählen darf298. Für das Herrscheramt selbst wird ein Religionsvertrag („pactum religiosum“) geschlossen, welcher die Legitimität des Herrschers durch Gottes Gnaden belegt und die wahrhaftige Erkenntnis und Verehrung Gottes sowie das Reich als von Gott gegeben anerkennen läßt299. – Der Ordnungswille entsteht aus dem Willen Gottes, wodurch jegliche Autorität, ohne welche es keine Ordnung geben kann, nach Röm. 13, 1 ff. abgeleitet wird. Dies schließt auch die Ausübung der Macht und die Verwerflichkeit von Machtmißbrauch ein300. Daraus leitet sich das Widerstandsrecht bei Althusius (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) ab.
In der Gesetzessystematik der politischen Theorie des Althusius ist der theologische Bezug, insbesondere auf den Dekalog301, ebenfalls nicht zu übersehen. Im Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 208. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 12, S. 26. 294 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 209. 295 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 12, S. 26. 296 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 91. 297 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 18, S. 170. 298 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 92 f. 299 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 34, S. 203 und Kap. XXVIII, § 15, S. 282. 300 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 210 f. 301 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VII, §§ 7 ff., S. 83 ff. und Kap. XXI, § 23 ff., S. 227 ff. und die Ausführungen bei Janssen, H. (1992), S. 132 ff. und S. 144 ff. 292 293
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Alten Testament war schon die Unterscheidung in Zeremonial-, Judizial- und Moralgesetz bekannt302. Das Gesetz selbst versteht Althusius als die Art und Weise sowie die Form, innerhalb der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) gerecht zu handeln und zu leben303, wobei die Art und Weise sich in der zweiten Tafel des Dekalogs findet304 und vom Apostel Paulus so geäußert wurde305. Die Gesetzesverkündung und Beachtung wird mit 5. Mos. 31,12 begründet306. Alle anderen Gesetze sind nach Althusius dekalogkonform zu verfassen und den Gegebenheiten von Ort, Zeit, Sache und Person anzupassen307. Das Gesetz kann nach dem Willen des Herrscher entstehen, sofern dieser sich an dem gerechten Willen des Dekaloges orientiert308. Weiterhin ist das Gesetz nach Althusius mit Zitat von Röm. 2, 14 – 15; 6; 7; 8; 10; 11 und Gal. 2, 12 – 14; 3; 22 in das allgemeine und das besondere Gesetz zu unterscheiden, wobei das allgemeine Gesetz allen Menschen von Gott eingepflanzt ist nach Röm. 1, 19309. Althusius als Jurist erweiterte die philosophische Staatsauffassung mit Hilfe seiner Vertragslehre. Der freie Vertrag in Form des Gesellschafts- und Herrschaftsvertrages begründet den Staat und der Wille des Volkes bestimmt die Ausprägung der Staatsform. Nur die Natur treibt den Menschen dazu, sich zu vereinigen und anschließend einen Herrscher einzusetzen. Recht und Auftrag des Herrschers entsteht durch Gott, welcher das Volk als Mittel einsetzt. Somit hat die religiöse Komponente bei Althusius nicht den Charakter der Basis für das Herrschertum sondern steht vielmehr erst am Ende der Argumentationskette. Die Affinität Althusius’ zum römischen Recht ist nicht zu übersehen310. Die Rechtssystematik seiner Publikationen steht in unmittelbarem Zusammenhang mit den politischen Schriften und mit den Inhalten der Bibel: Die Souveränität Gottes – belegt durch Bibel-Zitate – führt zur Souveränität des Volkes. Ist nun das Volk als gegliedertes Gemeinwesen, also als staatliches Strukturgebilde, zu verstehen, so leitet Althusius daraus die Rolle einer Repräsentanten-Versammlung ab311. Das in das allgemeine weltliche und das besondere weltliche Souveränitätsrecht gegliederte Hoheitsrecht312 wird mit dem Dekalog identifiziert unter Verweis auf ver302 303 304 305 306 307 308 309 310 311 312
Vgl. dazu die Ausführungen bei Janssen, H. (1992), S. 112. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 7, S. 126. Vgl. Janssen, H. (1992), S. 116. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 1, S. 124. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 3, S. 125. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 8, S. 126. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 64, S. 208. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 19, S. 226. Vgl. dazu die Ausführungen bei Friedrich, C. J. (1975), S. 55 ff. Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 56 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 3 f., S. 125.
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schiedene Bibelstellen313, obwohl es das Bundesgesetz Gottes mit seiner Gemeinde darstellt314. Öffentliches Recht und Politik lassen sich heute wegen der Teilidentität von Rechts- (z. B. das Erstellen von Verwaltungsakten im rechtlichen Sinne) und Politikstrukturen (z. B. das Erstellen von Verwaltungsakten im organisatorischen sowie im Zuständigkeitssinn) systematisch auch nicht scharf voneinander trennen, ebenso wie im späten Mittelalter eine scharfe Trennung zwischen juristischem Gesetzesverstoß, moralischer Schuld und religiöser Sünde – entgegen heutiger Definitionen – nicht möglich war315. Moral, Theologie, Rechtswissenschaften und Politikwissenschaften stehen bei Althusius in unmittelbarem, nicht eindeutig abgrenzbarem Zusammenhang316. Die Verknüpfung von Politik und Theologie ergibt sich bei Althusius aus der Aussage, daß der Dekalog selbst politisch ist, „nämlich insofern er das soziale Verhalten bestimmt“317. Althusius schreibt: „Hier ergibt sich für uns eine Kontroverse, weil wir vertreten, daß die Lehre des Dekalogs eine politische ist, während sie nach dem Urteil anderer eher als eine theologische angesehen werden sollte . . . Denn der Gegenstand des Dekalogs ist auch politisch, insofern er das symbiotische Leben anleitet“ 318. Abschließend ist nun noch die Frage zu beurteilen, wie sich Althusius zum Glauben und zur Religion stellt319: Glaubensfreiheit oder Doktrin? Ein Grundelement der Althusius’schen Politik ist die „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) mit der Grundlage des symbiotischen Zusammenlebens von Individuen. Eng damit und mit seiner politischen Theorie der Einschränkung politischer Herrschaft verbunden ist das Toleranzgebot. Althusius trennt nicht zwischen Politik und Moral und betrachtet Religions- und Glaubensfragen daher „als Bestandteil des gesellschaftspolitischen Zusammenlebens der Menschen“320, welches nicht aus dem Bereich des Politischen ausgeklammert werden kann. So soll durch den Magistrat nicht der Glauben auferlegt werden, sondern dies soll der Überzeugung Gottes überlassen werden321. Grundsätzlich ist es der politischen Herrschaft untersagt, dem Denken der Menschen eine Strafe aufzuerlegen322, was scheinbar der Interpretierung einer Glaubensfreiheit bei Althusius entspricht. Auch wird vom Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 17 f., S. 225. Vgl. Janssen, H. (1992), S. 139. 315 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 124. 316 Janssen, H. (1992), S. 124 stellt den Bezug zwischen Jurisprudenz, Moral und Theologie bei Althusius mit einem Beispiel aus Kapitel 111 der Dicaeologica her. 317 Behnen, M. (1984), S. 448. 318 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 41, S. 232. 319 Vgl. dazu die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 123 ff. 320 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 123. 321 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 64, S. 294. 322 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 64, S. 294. 313 314
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Magistrat erlaubt, daß Juden und Andersgläubige mit Gläubigen in seinem Herrschaftsbereich wohnen und bürgerlichen Verkehr betreiben323. Dennoch hat der Staat in Form des Magistrates verschiedene Funktionen, welche den Glauben beeinflussen und somit eine Glaubensfreiheit nach heutiger Definition beeinträchtigen: – Erlaß von Strafedikten über die Anerkennung und Verehrung Gottes sowie Ausübung von Sanktionen bei Verletzung der Edikte324, – gesetzliche Regelung der Normen des rechten Glaubens und der wahren Religion325, – wenn Teile des Reiches die als gemeinhin richtige Religion nicht anerkennt und ausübt, so kann dies mit Waffengewalt bestraft werden326, – Einsetzung von kirchlicher Gerichtsbarkeit, Presbyterien, Synoden und Konsistorien mit deren Erlaß von Gesetzen327, was wiederum zur Durchsetzung dieser Gesetze und damit Beeinflussung der individuellen Meinung und Glaubensfreiheit führt, – Ankündigung kirchlicher Versammlungen328, – Pflicht der Magistrate, Verletzungen der „vera religio“ streng zu bestrafen jedoch auch Auszeichnungen bei dekalog-konformem Verhalten330,
329
,
– Atheisten, Gegner der christlichen Religion, Aufrührer und Kriegstreiber werden des Landes verwiesen331, – Zensur, Kirchenzucht und Kirchenstrafen durch Zensurorgane332.
Althusius gilt als energischer Verfechter des una-religio-Prinzips; die Stabilität der politischen Ordnung sah Althusius unmittelbar an die Existenz nur einer Glaubensrichtung gebunden333. Althusius schreibt dazu: „Es darf daher nicht gestattet werden, daß alle ihre Religion frei ausüben, wenn diese der christlichen völlig Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 53 f., S. 290 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 27, S. 285 und die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 460 f. 325 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 28, S. 285 f. 326 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 60, S. 293. 327 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 29, S. 286. 328 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 39 f., S. 287. 329 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 463. 330 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 468. 331 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 463 und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 52, S. 290. 332 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 465 f. und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXX, § 1 ff., S. 306 ff., wo Althusius der Zensur ein ganzes Kapitel widmet. 333 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 457 und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 65 ff., S. 294 f. 323 324
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widerspricht“334. Insgesamt beschreibt Behnen: „Starres Festhalten am Prinzip der una religio, keine Kultfreiheit, bloße Scheintoleranz, d. h. nur bedingte und außerordentlich restriktive Duldung abweichender Glaubensrichtungen aus reinen Opportunitätserwägungen; soziale Berührungsängste, gesellschaftliche Diskriminierung und politische Unterdrückung der Dissidenten. Alle Entscheidungen gründen sich auf ein selbstgerechtes Erwähltheitsbewußtsein und sind getragen von einem starren und eklektizistischen Biblizismus“335. Dennoch ist die Religion ein wichtiges Herrschaftsmittel für den Magistratus in der politischen Theorie des Althusius mit der bewußt vorgenommenen Instrumentalisierung der Religion336, da die weltlichen Herrscher erhebliche religiöse Kompetenzen inne hatten337 und somit politisches Moment bei Althusius. Der Magistrat selbst wird bei Althusius durch Stände in der wahren (christlichen, Anm. d. Verf.) Religion unterrichtet, wenn er dieser nicht angehört. Sollte der Magistrat nicht „bekehrt“ werden können, so ist dennoch den übrigen Gemeinschaftsmitgliedern zu gestatten, die christliche Religion auszuüben338. Hier zeigt sich eine Inkonsistenz in den Aussagen Althusius’: Einerseits sind die Gesetze – welche eben gerade der Magistrat vertreten soll – am Dekalog orientiert und andererseits kann der Magistrat einer anderen Religion angehören. Dies widerspricht auch einer anderen Aussage Althusius: „Es darf daher nicht gestattet werden, daß alle ihre Religion frei ausüben, wenn diese der christlichen völlig widerspricht“339.
3.2.2.4 Die Stellung der Religion in der EU Die Kirche spielt schon historisch-chronologisch eine wesentlich andere Rolle in der EU als zu Zeiten Althusius’. Die Affinität zwischen Kirche und Staat von damals ist mit heute nicht vergleichbar. Bemerkenswert sind jedoch zwei Punkte: – Parallelen der Trennung zwischen Staat und Kirche bei Althusius und der EU
Althusius galt als einer der Vorreiter, welche eine Trennung zwischen Staat als vertragsrechtlich geordnetes Strukturgefüge und Kirche proklamierten. Aus heutiger Sicht stellt sich deutlich dar, daß diese Sichtweise immer weiter ausgebaut wurde. Letztendlich sind heute Staat und Kirche vollständig getrennt. Weiterhin hat sich herausgestellt, daß, je weiter eine Gesellschaft politisch und wirtschaftlich voran schreitet, die Ordnung des Staatsgefüges maßgeblich von bürokratischen und vertragsrechtlichen Regularien abhängt, ohne welche eine Völker334 335 336 337 338 339
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 45, S. 122. Behnen, M. (1984), S. 464 f. Vgl. Behnen, M. (1984), S. 453. Vgl. die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 456 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 87, S. 212. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 45, S. 122.
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gemeinschaft praktisch nicht regierbar ist. Man denke dabei nur an die Verträge der EU und deren – auch mengenmäßigen – Ausbau im Zeitablauf. Die Trennung zwischen Staat und Kirche ist jedoch ursächlich historisch zu betrachten, da die Machtstellung der Kirche immer weiter von den politischen Machtstrukturen zurück gedrängt wurden und die Kirche heute eher die Stellung einer ethischen, moralischen und theologischen Institution darstellt. Dennoch erscheinen die Untersuchungen zur Pro- und Contra-EU-Haltung in Abhängigkeit von der Religion interessant: Die knappe positive Entscheidung der Franzosen zum Maastricht-Vertrag kam maßgeblich durch die Stimmen der katholischen Regionen Bretagne, Elsaß und Loire zustande sowie die Tatsache, daß die protestantischen Staaten Großbritannien und Dänemark am zögerlichsten entschieden und das evangelische Norwegen ablehnte340. Auch in fünf der sechs EFTAStaaten dominiert die protestantische Religion (Schweden, Finnland, Island, Norwegen, Schweiz). Dies hängt möglicherweise mit den Vorbehalten protestantischer Religionen gegen Zentralismus und der Befürchtung eines Aufstieges Brüssels zu einem neuen Rom zusammen341. – Verschiedene Religionen unter gemeinsamen politischen Regularien in der EU
Zu Zeiten Althusius’ war die Frage der gegeneinander polarisierenden Mächte Staat und Kirche Gegenstand der Diskussion, wobei außer Frage stand, daß es nur eine Kirche gibt. Dagegen liegt in der EU der Fokus auf anderen Fragestellungen. Vor dem Hintergrund der Bildung einer institutionellen Stabilität als Garantie für eine demokratische und rechtsstaatliche Ordnung liegen die Bemühungen in der Vermittlung einer gemeinsamen Wertegemeinschaft342, welche durchaus unterschiedliche Religionen nebeneinander tolerieren können, wie dies z. B. mit dem Christentum für Frankreich als EU-Mitgliedstaat und dem Islam für die Türkei als EU-Beitrittspartner gilt. Mit der EU-Erweiterung wird die Vermittlung einer Wertegemeinschaft und eine Selbstbesinnung343 immer wichtiger werden, um politische Stabilität zu gewährleisten: Ein wachsendes Kerneuropa kann nicht auf der Bekämpfung der Wurzeln anderer Glaubens- oder Lebensgemeinschaften basieren, sondern muß vielmehr zum „Europa der Kulturen, Regionen und Religionen“ geformt werden344. Der polnische Außenminister Wladyslaw Bartoszewski formulierte es wie folgt345: „Viele Staaten und Völker Europas haben es recht gut verstanden, Lehren aus der Geschichte zu ziehen, vor allem aus der Erfahrung, daß keine Idee des Hasses oder des imperialistiVgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 32 f. Vgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 33 f. 342 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 4. 343 Ein Vergleich der Wertegemeinschaft des Althusius mit der der EU wird schwerlich vorzunehmen sein unter der Fragestellung, ob eine Wertegemeinschaft in der EU zwischen abendländischen, christlichen und muslimischen Religionen erreichbar sein kann. 344 Vgl. Thiede, C. P. (2000), S. 116 f. 345 Vgl. Thiede, C. P. (2000), S. 120. 340 341
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schen Hochmutes sich bezahlt macht. Das Verkünden oder heimliche Praktizieren von Grundsätzen des Rassen-, Völker-, Glaubens- oder Klassenhasses wie überhaupt des Hasses irgendwelcher Gruppen gegen andere Menschen führt in die Sackgasse . . . Wir alle gehören jenem Kulturkreis an, dessen ethische Begriffe im wesentlichen vom Christentum oder anderen monotheistischen Religionen geprägt wurde. Wir beachten die Demokratie und Menschenrechte. Chauvinismus, nationaler Größenwahn, Fremdenfeindlichkeit, nationaler Egoismus sind den Europäern häufig genug begegnet. Die Konstruktion der Europäischen Union gewährt die Möglichkeit, in deren Versuchung nicht mehr zu geraten“. Das geistige Fortschreiten von Industriegesellschaft und Demokratie346 hat dazu geführt, daß ein Neben- und Miteinander von Religion und Staat sich nicht mehr ausschließt. Dies wurde in der EU vertraglich geregelt in der Charta der Grundrechte: Kapitel III sagt hier aus, daß eine Diskriminierung aus Gründen der Zugehörigkeit zu nationalen Minderheiten verboten ist und Religionen und Sprachen geachtet werden müssen347. Daß die Religion im Staat nicht mehr das Gewicht hat wie im Mittelalter zeigt auch, daß in der Auflistung der Gemeinschaftskompetenzen der EU diese nicht vorhanden ist348. Interessant ist auch das Selbstverständnis des einzelnen EU-Bürgers zum Thema Religion in der EU. So waren in einer Umfrage 1997 fast 8 von 10 EU-Bürgern der Meinung, daß es für eine Gesellschaft vorteilhaft ist, wenn in ihr verschiedene Rassen, Religionen und Kulturen zu finden sind. Jedoch sind erhebliche Vorurteile des Einzelnen zu finden, da 41 % der Befragten angeben, daß zu viele Angehörige von rassischen, religiösen und kulturellen Minderheiten in ihrem Land leben349. Insofern ist erkennbar, daß latentes Potential für religiöse Konflikte in der EU vorhanden ist. Es ist zu bemerken, daß die Implementierung einer rechtsstaatlichen Ordnung sowie die Verbreitung von Wertevorstellungen durchaus geeignet sind, Konflikte zwischen Kirche und Staat, jedoch wohl nicht Konflikte zwischen Religion und Staat(sbürgern) zu vermeiden. Althusius dürfte sich dessen bewußt gewesen sein mit seiner Forderung der Trennung von Staat und Kirche mit der Aufstellung eines vertragsrechtlichen Staates.
3.2.2.5 Kultur in der EU Die Frage der Definition und Beschreibung der Kultur in Europa dürfte zum einen schwer fallen und zum zweiten in der Kürze einer Definition nicht machbar sein. Die Dudendefinition stellt diese komplexe Inhaltsproblematik treffend dar: 346 347 348 349
Außer im Islam. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 7. Vgl. die Aufzählung in: Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 4. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001a), S. 44.
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Kultur ist definiert als Gesamtheit der zur Höherentwicklung der Menschheit geschaffenen materiellen, geistigen, künstlerischen und moralischen Werte sowie die Pflege einzelner Lebensgebiete. Durch die vielschichtigen und komplexen Wurzeln der Kultur in Europa350 dürfte eine eindeutige Bestimmung schwer fallen351 und zudem den Rahmen dieses Werkes sprengen. Einzelne Mitgliedstaaten haben ganz unterschiedliche historische Entwicklungen genommen, welche deren Kultur entscheidend beeinflusst hat352. Im Folgenden erfolgt daher eine Beschränkung auf die politischen Aktivitäten der EU im Bereich der Kultur(politik). Eng verbunden mit den Themen Völkergemeinschaft und Religion ist der Kulturbegriff in Europa. Im Maastrichter Vertrag wurde 1992 die Völkergemeinschaft über eine gemeinsame Kultur definiert353: „Den mit der Gründung der Europäischen Gemeinschaften eingeleiteten Prozeß der europäischen Integration auf eine neue Stufe heben“ und eine „immer engere Union der Völker Europas fördern“. Im Vordergrund steht der kulturelle Austausch mit dem Ziel einer Integration, aber auch die gegenseitige Achtung benachbarter Kulturen. Die Aktivitäten der EU erstrecken sich auf folgende Bereiche354: – Kulturaustausch355
Um eine Völkergemeinschaft zu erzeugen, wird in der EU der Versuch der Völkerverständigung sowie der Integration und Vereinheitlichung des gemeinsamen Kulturraumes vorgenommen. Dazu zählt auch die Förderung gemeinschaftlicher Sprachen, um den Kulturaustausch zu ermöglichen. Auf EU-Ebene wurden zu diesem Zweck verschiedene Programme ins Leben gerufen: – Rat der Kulturminister als Organ der EU, – Veranstaltung von Kulturtagen in ganz Europa, – Nutzung der neuen Medien für die Kultur durch die Initiative Netd@ys Europe, – digitale Veröffentlichung von Bibliotheksbeständen aus dem 16.Jahrhundert durch das Projekt „Debora (Digital access to books of the Renaissance)“, – EU-Programme zur Förderung der Mobilität von Angehörigen der Mitgliedstaaten bei Auslandsaufenthalten, 350 Welche hier beabsichtigt nicht als „europäische Kultur“ sondern „Kultur in Europa“ bezeichnet wird, da die Frage, ob es diese gibt, offen gelassen wird. 351 Vgl. die Ausführungen bei Bondy, F. (1985), S. 68. 352 Vgl. den Vergleich zwischen Spanien, Schweiz, Skandinavien, Frankreich und Deutschland bei Bondy, F. (1985), S. 70 ff. und den Literaturhinweis auf S. 72, Fußnote 14 zu Studien der politischen Kultur in Westeuropa bei Reichel, P. (Hrsg) (1984), Politische Kultur in Westeuropa, Bonn / Frankfurt am Main 1984. 353 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001c), S. 3. 354 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001c), S. 5 ff. 355 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001c), S. 5 ff.
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– Studenten- und Jugendaustauschprogramme wie „Sokrates“ und „Jugend für Europa“, – Festival der Sprachen 2001 in Mons (Belgien) im Rahmen der europäischen Jahrs der Sprachen. – Förderung der Kreativität356
Ein angestrebter europäischer Kulturraum setzt grenzüberschreitende Kontakte der Kulturschaffenden, also vorwiegend Künstler, voraus. In Europa sind etwa sieben Millionen Menschen im Kulturbereich tätig. Dazu wird von der EU einerseits ein europäischer Rechtsrahmen und andererseits Kulturprogramme wie „Kultur 2000“ angeboten, wo unterschiedlichste Projekte wie z B. das Festival der nordeuropäischen Literatur oder Fortbildungen für Musiker durch die Stiftung „Arturo Toscanini“ mit Unterstützung des Europäischen Sozialfonds oder das Tanzfestival „Trans Danse“ umgesetzt wurden. Im audiovisuellen Sektor unterstützt die EU alles um den Film durch das Programm „Media“ inklusive Veranstaltungen wie das Europäische Medienkunstfestival in Osnabrück. – Schutz und Erschließung des Kulturerbes357
Architektonische Werke und ihr Inventar, Landschaftsteile, Kunstwerke und immaterielles Kulturgut werden durch die EU-Programme zum Schutz und Erschließung des Kulturerbes erhalten und gefördert. Dazu zählen auch Restaurierungen, Pflege von Bräuchen und Traditionen sowie Dokumentation der Kulturgeschichte der europäischen Völker durch den belgischen Verein „Euregio“. Auch hier stehen unterschiedlichste Aktivitäten und Programme zur Verfügung: – Programm „Kultur 2000“, – Europäischer Regionalfonds zum Zwecke regionaler Entwicklungsprojekte mit einem Volumen von 605 Mio. A für 2000 bis 2006, – Umweltprogramm „Life“ zum Zwecke des Naturschutzes.
3.2.3 Staatsvertrag, Staatslegitimität und Staatsform 3.2.3.1 Der Staatsvertrag bei Althusius Die Lehre vom Staatsvertrag war mit der Ablösung der theokratischen Staatsauffassung (vgl. Kapitel 3.2.2.1 und 3.2.2.2) gegenständlich in der Diskussion der politischen Theorie der damaligen Zeit. Die Trennung von Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag im Sinne einer Vertragstheorie wurde erst durch Althusius begründet, wobei die Begriffe an sich auch schon ab dem Mittelalter verwendet wurden, so z. B. bei Johannes von Paris, später bei Dante und Suarez. Der Herrschaftsvertrag war bereits im Mittelalter unumstritten; sein Ursprung läßt sich bis 356 357
Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001c), S. 10 ff. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001c), S. 14 ff.
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zum Investiturstreit zurückverfolgen358. Der Gesellschaftsvertrag dagegen war vor Althusius in dieser Form nicht vorhanden359, wobei über die Auslegung der Konstruktion des Gesellschaftsvertrages bei Althusius in der wissenschaftlichen Literatur kein Konsens besteht360. Althusius trennt Herrschaftsvertrag und Gesellschaftsvertrag wie folgt: „Das Recht des Königs und das des Volkes sind daher verschieden. Jenes ist zeitlich begrenzt und personengebunden, dieses beständig, jenes geringer, dieses größer, jenes auf Widerruf aufgrund eines Mandatsvertrages (ex contractu mandati) anvertraut, dieses ein nicht übertragbares Eigentumsrecht, wie wir in der Politik lehren.“361 Der Gesellschaftsvertrag steht bei Althusius ganz am Beginn der Politica in § 2: „Gegenstand der Politik ist die Lebensgemeinschaft (consociatio), in der die Symbioten sich in einem ausdrücklichen oder stillschweigenden Vertrag (pactum) untereinander . . . verpflichten“362 sowie in § 6: „Die Symbioten sind also einander Helfende, die durch das Band eines sie eng zusammenschließenden Vertrages (pactum) dasjenige in die Gemeinschaft einbringen“363. Der (fiktive) Gesellschaftsvertrag entsteht bei Althusius durch einen naturrechtlichen Aufbau der Gesellschaftsmitglieder in einer hierarchischen, ständischen Gruppenvereinigung der Individuen, wobei keine scharfe Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vorgenommen wird, da die gesellschaftlichen Gruppierungen gleichzeitig staatliche sind. Althusius selbst schreibt: „In der einfachen privaten Gemeinschaft gehen verschiedene Menschen durch besonderen Vertrag (speciali pacto) eine Symbiose ein“364 sowie „einzelne Menschen, die sich untereinander vertraglich zur wechselseitigen Teilhabe . . . verpflichten“365 und „Das besondere Interesse des Vertrages, durch den die einzelnen Glieder fest miteinander verbunden werden, liegt im symbiotischen Recht und in der Rechtsgemeinschaft“ 366. Zu unterscheiden vom Gesellschaftsvertrag sind der Herrschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1) und der Beauftragungsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1).
Vgl. Gierke, O. von (1981),S. 76. Vgl. Gierke, O. von (1981),S. 92. 360 Vgl. die Ausführungen zu den unterschiedlichen Lehrmeinungen über den Gesellschaftsvertrag durch Gierke O., Friedrich, C. J., Reibstein, E. und Winters, P. J. bei Hüglin, Th. (1991), S. 33 ff. 361 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 104, S. 188. 362 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 2, S. 24. 363 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 2, S. 25. 364 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 2, S. 33. 365 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 3, S. 33. 366 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 5, S. 34. 358 359
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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3.2.3.1.1 Herrschaftsvertrag und Herrschaftsform bei Althusius Der Herrschaftsvertrag befaßt sich mit der Stellung des Herrschers gegenüber dem Volk: „Bei diesem gegenseitigen Vertrag zwischen dem obersten Magistrat als Beauftragtem bzw. Gelobendem und der universalen Gemeinschaft als Auftraggeber steht an erster Stelle (wie das bei einem Mandatsvertrag der Fall zu sein pflegt), die Verpflichtung des Magistrats“367. Er ist also im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag in erster Linie ein Mandatsverhältnis368. Die zentrale Frage ist, wie die Legitimität des Herrschers zustande kommt und wie dessen Befugnisse gegenüber dem Volk geregelt sind. Der Herrscher ist dabei als weltliche Institution zu betrachten, deren Ursprung in einer theologisch-naturrechtlichen Basis zu suchen ist: Das Volk als Ausdruck göttlichen Willens hat demnach auch das (Natur-)Recht, einen Herrscher ein- und abzusetzen. Durch die freiwillige Unterwerfung unter einen Herrschaftsvertrag wird der Gesamtwille des Volkes auf die Herrscher übertragen; da das Volk Inhaber des „ius majestatis“ ist, wird das „ius regni“ auch allein durch das Volk auf den Herrscher zu übertragen sein369. Selbst bei gewaltsamer Eroberung – also ohne Volkslegitimität – griff die Theorie des Herrschaftsvertrages mit der Argumentation, daß eine nachträgliche Legitimität durch „consensus populi“ erreicht würde. Selbst die Vererbung eines Herrscherrechtes – welche nicht zwingend durch Volkslegitimität erfolgen muß – erlangte mittels der Konstruktion der Übertragung des Herrscherrechtes auf ein Geschlecht statt auf eine Person seine Legitimität370. In diesen beiden Punkten lag auch der Angriffspunkt der Kirche mit ihrem theokratischen Staatsgedanken gegen die Politiker und Juristen dieser Zeit. Der Herrschaftsvertrag im Sinne Althusius’ soll keinesfalls suggerieren, daß innerhalb einer Theorie der Herrschaft ein ausschließliches Über-Unterordnungsverhältnis zwischen Herrscher und dem Volk als Summe der Gemeinschaftsmitglieder besteht371. Vielmehr ist innerhalb dieses Vertrages essentiell, daß er von der Zustimmung und freiwilligen Beteiligung durch gegenseitiges Übereinkommen372 der einzelnen Gemeinschaftsmitglieder der „consociatio symbiotica“ ausgeht und daß der Herrscher nicht über der Summe der Gemeinschaftsmitglieder steht, sondern nur deren Repräsentant ist, da das Volk aufgrund der vorliegenden Pluralität keine Amtsgewalt und Regierungsfähigkeit – obwohl sie ihr zusteht und zueigen ist – haben kann. Die Rechte und Pflichten der Magistraten werden bei Althusius immer wieder in den einzelnen Kapiteln zu den unterschiedlichen privaten und öffentlichen KonsoAlthusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 7, S. 197. Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 106 und vgl. Reibstein, E. (1955), S. 196. 369 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 193. 370 Vgl. Gierke, O. von (1981),S. 79 f. 371 Duso, G. (1997), S. 75 formuliert dies wie folgt: „eine imperiumslose, assoziative Realität . . . in der die untergeordneten Subjekte ihrer politischen Subjektiivität beraubt sind.“ 372 Vgl. Duso, G. (1997), S. 75 f. 367 368
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
ziationen ausgeführt. Der eigentliche Herrschaftsvertrag wird bei Althusius als Übertragung der Herrschaft oder der universalen Gewalt beschrieben und umfaßt folgende Elemente373: – Einsetzung des obersten Magistrats durch Übertragung der Leitung durch das Volk und Übernahme des Gehorsams, – der Herrschaftsvertrag ist bindend, nicht zurück zu nehmen oder zu verletzen, – er verpflichtet den Magistraten zur Verwaltung des Reiches gemäß Gottes Gesetzen, der Vernunft und der Fundamentalgesetze des Reiches, – Verpflichtung der Glieder des Reiches zum Gehorsam und zur Folgeleistung, – Begrenzung der Machtfülle des Magistraten, – Begrenzung der personalen Majestät und Zurückfallen des Herrschaftsrechtes nach dem Ausscheiden des Herrschers an das Volk.
Der Staat selbst wird vom Volke als konstituierte „universitas“ mit der Eigenschaft einer juristischen Persönlichkeit gebildet; die öffentliche Gewalt steht dem Volke zu. Demnach kann eine vom Volke einem Herrscher übertragene Gewalt von Herrscher zu Herrscher auch nur durch das Volk weiter gereicht werden und auch nur durch das Volk von einer Nation auf eine andere Nation übertragen werden374. Wird ein Staat aufgelöst, so fällt dessen Macht zurück an das Volk. „Stirbt der Herrscher, so geht das Herrschaftsrecht auf die Gliedstaaten und Stände über. Der Herrschaftsvertrag ist, weil er mit dem Tode desjenigen Teils, der allein sterblich ist, erlischt, als ein Auftragsverhältnis (mandatum) gekennzeichnet. Das Volk oder Land ist der Herr aller Staatsgewalt; es kann über sie frei verfügen“375. Den Herrschaftsvertrag beschreibt Althusius wie folgt: „Bei der Einsetzung des obersten Magistrats verpflichten sich die Glieder des Reichs . . . ihm gegenüber zum Gehorsam. Anders gesagt schließen das Volk und der oberste Magistrat wechselseitig einen Vertrag unter festen Gesetzen und Bedingungen über die Art und Form der Unterordnung und der Herrschaftsgewalt, indem ein eidliches Treuegelöbnis gegenseitig gegeben, angenommen oder versprochen wird. Es besteht kein Zweifel, daß dieser Vertrag oder Mandatskontrakt . . . beide vertragsschließenden Teile bindet, und zwar so sehr, daß es weder dem Magistrat noch den Untertanen erlaubt ist, ihn zu zurückzunehmen oder zu verletzen“376 und „Der Magistrat ist, wie gesagt, nämlich nicht Eigentümer des Reichs und seiner Güter, sondern durch allgemeines Mandat des Volkes eingesetzter bloßer Verwalter und Geschäftsführer“377. Zu unterscheiden vom Herrschaftsvertrag sind der Gesellschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1.3) und der Beauftragungsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1). 373 374 375 376 377
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 6 ff., S. 196 ff. Vgl. Gierke, O. von (1981),S. 78. Reibstein, E. (1955), S. 196. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 6, S. 196. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 52, S. 375.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Um das Wesen der Staatsgewalt und der Volkssouveränität unter dem Konstrukt des Staatsvertrages bei Althusius zu verstehen, müssen nachfolgende Aspekte unter Einbeziehung der Kontexte von Fernando Vázquez und Covarruvias vollständig betrachtet werden378: – das natürliche Recht inklusive des Dekalogs ist maßgeblich für die Bestellung der Staatsgewalt, – die Repräsentanten haben die Aktivlegitimation als Kollegium inne, – die Regierungsbefugnisse werden durch die Rechtsnatur des Auftrages (Fernando Vázquez) oder einer Stipulation (Calvinismus) übertragen, – alle nicht dem Regenten übertragenen Rechte verbleiben beim Volk, – eine vorbehaltlose oder nicht mit ausdrücklichen Bedingungen versehene Übertragung der Rechte der Regierungsgewalt ist restriktiv zu interpretieren, – der Auftrag des Regenten soll schriftlich niedergelegt werden, – im Zweifel bestimmt das Volk bei der Bestellung der Staatsgewalt auch die Staatsform, – die Staatsgewalt wird nicht durch Erbfolge übertragen, – wenn Gesetze die Nachfolge des Regenten auf bestimmte Personen oder Erben beschränken, haben sich das Volk oder die Repräsentanten daran zu halten, – stehen die vorausbestimmten Personen für die Nachfolge aus, so tritt wieder die freie Wahl ein, – die vom Naturrecht vorgesehenen Sanktionen gelten ebenso für den Regenten.
Die Staatsvertragstheorie wurde ab dem Mittelalter unangefochtener Teil der Staatslehre bis in das 17. Jahrhundert hinein. Sie war wichtiger Teil sowohl der Lehre der Monarchomachen (vgl. Kapitel 3.2.2.1) als auch von Politikern und Juristen, selbst bei unterschiedlichen staatstheoretischen Grundverständnissen wie einer uneingeschränkten Fürstenmacht (z. B. Barclaius) oder dem späteren Konstrukt des Unterwerfungsvertrages (z. B. Grotius, Hobbes, Pufendorf). Es entstanden unterschiedlichste Auffassungen über den Inhalt des Staatsvertrages; diese reichten von der Veräußerung der Herrschaftsgewalt bis zum Gebrauchsrecht der Herrschaftsgewalt, also als Mandatsrecht. Bei Althusius wurde der Staatsvertrag als reiner Beamtenvertrag ausgestaltet im Gegensatz zur Diskussion des Staatsvertrages in den nachfolgenden Jahrhunderten, wo die Veräußerbarkeit und die Vorstellung einer Delegation zusätzlich diskutiert wurden379. Erst Rousseau bestritt, daß es einen Herrschaftsvertrag geben kann.
378 379
Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 200 f. Vgl. Gierke, O. von (1981),S. 83.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
3.2.3.1.2 Herrscherlegitimität bei Althusius380 Die Frage der Legitimität des Herrschers wird bei Althusius nicht unter dem Terminus ausgeführt; die Legitimitätstheorie wird erst in der Aufklärung begrifflich klar formuliert. Die Legitimitätsfrage ist mit der Frage der Souveränität (vgl. Kapitel 3.2.4) eng verbunden. Sie ergibt sich – wenn auch nicht explizit als Legitimierung terminiert – aus dem Herrschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1). In den Ausführungen zu seiner politischen Theorie lassen sich folgende naturrechtlich-theologische Legitimitätsansätze bei Althusius erkennen: – Es besteht ein naturrechtlicher Grundsatz, daß eine politische Ordnung durch Befehl und Gewalt zusammen gehalten wird (naturrechtlicher Ansatz). – Die Staatsgewalt geht von Gott aus und wird durch das Volk wiedergespiegelt (theologischer Ansatz). – Die politische Herrschaft entsteht durch die Volkssouveränität und wird durch einen vom Volk eingesetzten Herrscher ausgeübt. – Die ständische Ordnung ist eine legitimierte Ordnung aufgrund des Prinzips der Volkssouveränität. – Legitimität entsteht durch geglückte politische Leistung und politischen Erfolg. – Legitimität entsteht durch Wahrung von Recht und Gesetz. – Bei Althusius ist jede Amtsgewalt durch Gesetze beschränkt381. – Das Menschenbild des Althusius, welches den Menschen als Glied der „consociatio symbiotica“ und damit als grundsätzlich gesellschaftliches Wesen ausweist, verweist auf die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung zum Zwecke der Schaffung eines Gemeinwohles. Legitimität entsteht somit durch eine rechtlich gebundene Gemeinwohlverwirklichung durch Umsetzung von Solidarität, politischer Gerechtigkeit, Fürsorge, wirtschaftspolitischer Maßnahmen der Handels-, Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Steuerpolitik (vgl. zum Steuerwesen auch Kapitel 4.2.2.6.7) sowie Durchsetzung einer Verwaltung und Regierung382.
Um die Legitimität der Herrscher faktisch zu bekräftigen, forderte Althusius die Umsetzung folgender drei Faktoren: – Ablehnung einer absolut regierenden, zentralen Staatsgewalt383, – Stärkung der Machtbefugnisse der Stände384, Vgl. Würtenberger, Th. (1988),S. 558 ff. und Hüglin, Th. (1991), S. 174 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 106, S. 188. 382 Vgl. die Ausführungen bei Würtenberger, Th. (1988), S. 570 ff. 383 Was wiederum unmittelbar mit der Frage der Staatsform zusammenhängt; vgl. dazu Kapitel II.2.3.3. 384 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 218 und S. 13. 380 381
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Entfaltung der Lehre vom Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1). Nur durch die Begrenzung der Herrschaft durch das Widerstandsrecht wird Legitimität erlangt385: – „Denn die Macht und das Amt der Ephoren haben ja den Zweck, Herrschaft und Verwaltung des obersten Magistrats der Gerechtigkeit und der Vorschrift der Gesetze gemäß einzusetzen und nicht davon abzuweichen; diese wird dann wahre und rechtmäßige Regierung genannt“386.
Althusius erstellt in seinen Konstruktionen über die Zuweisung jeglicher Machtansprüche durch Gott die vier Voraussetzungen für die Legitimität der Machtausübung durch den Herrscher387: – Öffentliche Dienstverrichtungen müssen legitim, erlaubt, ehrenvoll und nützlich für Gott und die Menschheit sein388, – Alle Dienstausübenden haben sich an die Grenzen ihrer Berufsausübung zu halten und alle Rechte und Pflichten zu beachten389, – Die Werke der Dienstverrichtung müssen auf die Ehre Gottes390 und das Wohl des Gemeinwesens391 bezogen sein392, – Die Dienstverrichtungen haben mit Sorgfalt zu erfolgen.
Hüglin393 sieht die politische Legitimität bei Althusius zum einen in der Breite der politischen Beteiligung, welche sich im funktionalen Aufbau der universalen Gemeinschaft wiederspiegelt und zum anderen in der inhaltlichen Qualität des Konsensbegriffes mit dessen Operationalisierbarkeit, da sich die Obrigkeit bei Althusius aus dem sozialen Konsens konstituiert394.
3.2.3.1.3 Der Gesellschaftsvertrag zur Zeit des Althusius Die Grundzüge des Gesellschaftsvertrages waren ebenso wie der Herrschaftsvertrag schon im Mittelalter bekannt, wobei die Gesellschaftsvertragslehre unvollVgl. Hüglin, Th. (1991), S. 166 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 72, S. 403. 387 Vgl. Eßer, H. H. (1988), S. 170 f. 388 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 59 f., S. 105. 389 Vgl. zu den Pflichten der Regierenden die Ausführungen bei Eßer, H. H. (1988), S. 175. 390 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 56, S. 104 f. 391 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 5, S. 58. 392 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 28 f., S. 120 und Kap. XI, § 3, S. 130. 393 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 176. 394 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 18, S. 116. 385 386
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
kommen war und erst durch Althusius ihre Ausformung erfuhr. Der Gesellschaftsvertrag hatte vor Althusius folgende Elemente als Inhalt395: – Es besteht ein ursprünglicher, staatenloser, naturrechtlicher Zustand der Freiheit und Gleichheit aller Personen sowie Gemeinschaft aller Güter. – Der staatliche oder bürgerliche Zustand ist ein Produkt späterer verändernder Vorgänge, wobei die Entstehung einer Staatsgewalt auf unterschiedlichen Theorien fußte: So die Entstehung durch den Sündenfall oder Kraft eines Stiftungsaktes Gottes oder die schon bei Aristoteles zu findende Idee, daß dem Menschen die staatliche Natur eingepflanzt wurde oder die Aquin’sche Begründung, daß die staatliche Vereinigung eine freie und vernünftige Tat des Menschen sei. – Es bestand Uneinigkeit darüber, ob der Rechtsgrund des Staates im Naturrecht oder im positiven Recht zu suchen sei. – Der Gesellschaftsvertrag ist bei einer Vereinigung von vorher isolierten Individuen notwendig. Über dessen Ausgestaltung wurde jedoch kaum referiert. – Der Gesellschaftsvertrag läßt sich aus dem Naturrecht mit seiner Trennung in „ius naturale“, „ius gentium“ und „ius civile“ ableiten.
Insofern war die Entwicklung des Gesellschaftsvertrages durch Althusius auf Basis der Vertragstheorie ein wesentlicher Fortschritt396, wobei hier der Bezug zum Zentralbegriff der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) zu beachten ist: – Die Individuen werden durch ihre Bedürfnisse zur Vereinigung getrieben. Der Gesellschaftsvertrag beschreibt nicht allein das Verhältnis zwischen Herrscher und Gesellschaft; die Bedürftigkeit des Einzelnen und die natürlich-vernünftige Bereitschaft zur Kommunikation ebnet den Weg zwischen Untertanen und Regierenden397. – Die Vereinigung geschieht mittels ausdrücklichem oder stillschweigendem Vertrag. – Der Vertrag verpflichtet die Teilnehmer zur Vergemeinschaftung und Teilhabe („communicatio“ 398) des für das soziale Leben Nützlichen und Notwendigen. – Die Gemeinschaft erstreckt sich auf Sachen, Dienste und Rechte. – Die Gemeinschaft wird geregelt durch die den Inhalt und die Grenzen der Gemeinschaft bestimmenden Gemeinschaftsgesetze („leges communicationis“) und die Verwaltungsgesetze („leges directionis et gubernationis“).
Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 92 ff. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 21. 397 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 186. 398 Vgl. die näheren Ausführungen zur „communicatio“ bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 138 ff. 395 396
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
127
Der Gesellschaftsvertrag wird somit zum unverzichtbaren Bestandteil allen menschlichen Gemeinwesens. Der Gesellschaftsbegriff beschreibt demnach die Beziehung zwischen Staat und Gesellschaft. Die Grenze zwischen autonomem Individuum und sozialem, politischem Bürger ist jedoch mit der Konstruktion der „consociatio symbiotica“ nicht trennscharf bestimmbar, so daß das Verhältnis Staat-Gesellschaft nicht klar abgrenzbar ist. Da von Althusius keine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vorgenommen wird, sondern vielmehr alle gesellschaftlichen Gruppen am staatlichen Prozeß teilnehmen, kann dies auch nicht gelingen. Diese Kritik war Althusius bewußt und von Arnisaeus offen ausgesprochen399. Der Gesellschaftsvertrag ist vor dem damaligen historischen Kontext zu betrachten und daher nicht mit dem neuzeitlichen Gesellschaftsvertrag vergleichbar. Vielmehr ist der Althusius’sche Gesellschaftsvertrag nicht als einmaliger gemeinschaftskonstituierender Akt zu verstehen, sondern als dynamischer Prozeß der Schaffung einer politischen Gemeinschaft, welche aufgrund der menschlichen Unzulänglichkeit die Individuen vom Naturzustand in einen politischen Zustand überführt. Der Prozeß muß ständig statt finden und der Konsens neu hergestellt werden400. 3.2.3.2 Staatsvertrag und Legitimität in der EU 3.2.3.2.1 Der Staatsvertrag in der EU Der Begriff des Staatsvertrages hat nach heutigem Politikverständnis folgende vier Bedeutungen401: – Völkerrechtlich Der Staatsvertrag ist in diesem Kontext ein völkerrechtliches Abkommen zwischen sogenannten Völkerrechtssubjekten – also Staaten – in denen die Regeln des zwischenstaatlichen Verhaltens nieder gelegt werden. – Einzelstaatsrechtlich Innerhalb eines Staates erfolgen vertragliche Regelungen über die Wahrnehmung öffentlicher staatlicher Gemeinschaftsaufgaben und deren länderübergreifenden Verteilung, wie z. B. in Deutschland die Neuordnung des Rundfunkwesens. – Friedensrechtlich Staatsverträge, welche das zwischenstaatliche Verhalten im möglichen Kriegsfall sowie Maßnahmen zur Vermeidung von Kriegen enthalten, heißen Pakt. 399 Vgl. die näheren Ausführungen zum Auslegungsstreit Gesellschaft-Individuum bei Hüglin, Th. (1991), S. 206 ff. 400 Vgl. die näheren Ausführungen bei Vries de S. / Nitschke, P. (2004), S. 104 f. 401 Vgl. Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 667 und Herder Verlag (1988), S. 156, S. 208, S. 224.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Historisch-gesellschaftsrechtlich
Dieser Begriff ist mit dem des Althusius identisch. Er bezieht sich auf die Entstehung und Rechtfertigung des Staates vor dem Hintergrund der gesellschaftlichen Vereinigung von Individuen. Dabei ist die historische Auffassung (Grotius, Pufendorf, Locke) mit Bezug auf die rechtliche Entstehungsform von der spekulativ-rationalen (Hobbes, Rousseau) mit der auf Einverständnis beruhenden, dauernden Begründung eines Gesellschaftsvertrages zu unterscheiden. Die EU kann rechtlich, obwohl sie kein eigenständiger Staat ist, Staatsverträge begründen, da sie von den Mitgliedstaaten mit unabhängigen Machtbefugnissen ausgestattet wurde, mit welchen sie europäische Hoheitsakte, welche wiederum staatlichen Hoheitsakten gleichkommen, erlassen kann402. Völkerrechtliche Staatsverträge wurden bisher immer auf Mitgliedsstaatenebene geschlossen. Nach einer möglichen Verfassungsgebung der EU wird dies direkt auf die EU übergehen können bzw. werden bestehende Staatsverträge der Mitgliedsstaaten von der EU übernommen. Dies wird ebenso mit bestehenden Pakten sein, wobei hinsichtlich der aktuellen Diskussion über die vorgezogene Einführung eines EU-Außenministers ein rechtliches Dilemma hinsichtlich des Abschlusses eines Paktes vorliegen dürfte, da die EU nicht als Rechtsperson fungieren darf. Die historisch-gesellschaftsrechtliche Staatsfrage wurde über die Staatenbildung mit Verfassungsgebung und Staatsgebietsanerkennungen in der Neuzeit immer mehr in den Hintergrund gedrängt und zur historisch-theoretischen Frage deklassiert. Sie hat in der aktuellen Diskussion kaum mehr Bedeutung, gleichwohl der Inhalt täglich gegenwärtig erscheint. Betrachtet man beispielsweise die Historie der deutschen Verfassungsgebung von der Paulskirchenverfassung 1849 bis hin zum Grundgesetz 1949 mit der nach der Weimarer Verfassung 12-jährigen Zeit der Verfassungslosigkeit, so muß der heute als selbstverständlich angesehene Staatsvertrag als Jahrhundertwerk mit allen Nuancen zwischen Naturzustand und freiheitlich-grundrechtlicher Rechtssicherheit gewürdigt werden, dessen Durchsetzung nicht nur durch historischen Zeitablauf, sondern auch dem Wirken zahlreicher Staatsmänner zuzuschreiben ist. Schon die Paulskirchenverfassung sah umfangreiche Grundrechte (§§ 130 – 189), die Definition eines Reichs- und Geltungsgebietes und der Reichsgewalt (§§ 1 – 67), die demokratische Ordnung der Organe Reichsoberhaupt (§§ 68 – 84), Reichstag (§§ 85 – 124), Reichsgericht (§§ 125 – 129) sowie eine Gewähr der Verfassung durch (§§ 190 – 197) vor403. Die Paulskirchenverfassung – welche nie in Kraft trat – hatte viele Elemente wie die umfänglichen Grundrechte, die Zuständigkeiten des Reichsgerichtes und die Verfassungsklage des Staatsbürgers, welche erst 100 Jahre später im Grundgesetz wieder auftauchen404 und damit zum Selbstverständnis des Staatsvertrages nach heutiger Denkweise wird. 402 403 404
Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 7. Vgl. Schuster, R. (Hrsg.) (1985), S. 29 ff. Vgl. Schuster, R. (Hrsg.) (1985), S. 8.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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3.2.3.2.2 Legitimität in der EU Der Nachweis der Legitimität einer Staatsgewalt gelingt über die Prüfung nachfolgender Begrifflichkeiten405: – Ethischer (normativer) Begriff der Legitimation
Die Legitimation eines Staates liegt dann vor, wenn sich dessen Berechtigung mit dem Vorliegen einer sittlichen, ethischen, theologischen oder vernünftigen Begründung rechtfertigen läßt, demnach also kein Zufallsprodukt vorliegt. Als Hauptzwecke eines modernen Staates werden heute proklamiert: – Schutz vor Selbstsucht und Aggressivität des Menschen, – Gewährleistung von Frieden und Ordnung, – freie Entfaltung und volle Ausbildung der Persönlichkeit, – Sicherung von gegenseitiger Hilfe und Ergänzung. Legitimationsgründe sind dabei: – ordnungs- und friedensstiftende Funktion der staatlichen Rechtsgemeinschaft, – Bereitstellung einer gerechten Gemeinschaftsordnung. – Soziologischer Begriff der Legitimation
Die Legitimation eines Staates liegt dann vor, wenn die staatliche Ordnung von der ihr zugehörigen Rechtsgemeinschaft faktisch akzeptiert und gebilligt wird. Die Akzeptanz wird nach Max Weber406 durch eine charismatische (auf Faszination und Glauben an den Machthaber begründet) oder eine traditionale Legitimation (welche auf Gewöhnung oder Überlieferung begründet ist) erreicht. Die heute vorherrschende Legitimationsform ist die rationale Legitimation, welche auf der Fügsamkeit des Menschen hinsichtlich der formal korrekt und in der üblichen Form zustande gekommenen Satzungen beruht. Bei der Analyse der Herrscherlegitimität in der EU stellt sich zunächst die Frage nach der Definition des Herrschers. Bei den durchwegs vorhandenen demokratischen Staats- und damit auch Herrschaftsstrukturen sowohl in den einzelnen Mitgliedstaaten als auch in der EU selbst dürfte die Rolle des Herrschers den Organen und damit zugewiesenen Herrschaftsteilbereichen zufallen. Die Legitimität der Organe der EU ist heute mit dem Vorhandensein nachfolgender Kriterien begründet407, wobei nicht alle Aspekte bestehender Legitimitätstheorien aufgezählt werden: – Übereinstimmung mit dem Recht
Die Übereinstimmung mit dem Recht (Wahrung der Legalität) und die Verwirklichung der Prinzipien der formalen politischen Ordnung ist durch das gewaltenVgl. Zippelius, R. (1985), S. 110 ff. Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 143. 407 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 476 f. sowie Herder Verlag (1988), S. 129 und S. 97. 405 406
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
teilende Prinzip sowohl auf Mitgliedsstaatenebene als auch auf EU-Ebene gewährleistet408. – Innere Rechtfertigung der Staatsgewalt
Zu unterscheiden sind: – Verfassungstheorie – Dynastische (monarchische) Legitimität Die Legitimität wird begründet auf der Autorität des Monarchen, welche manifestiert ist in der historischen Dauer des Herrschaftsanspruches einer Herrscherfamilie (Dynastie). – Demokratische Legitimität Die Legitimität entsteht über die Gewalt des Volkes als Ursprungskörper des Staates und ist niedergelegt in der Verfassung des Staates. – Politische Soziologie Die Legitimität der Herrschaft orientiert sich beim soziologischen Begriff an der Frage des Grades der Anerkennung des Herrschenden durch die Beherrschten und der Ausübung der Macht des Herrschenden. Nach Max Weber409 sind theoretisch die reinen Ausprägungsformen rational-legale Herrschaft (Geltung kraft gesetzter, paktierter oder oktroyierter rationaler Regeln), traditionale Herrschaft (Geltung des immer so Gewesenen) und charismatische Herrschaft (Geltung kraft außeralltäglicher, affektiver Hingabe an die Heiligkeit, Heldenkraft oder Vorbildlichkeit des Herrschers) zu unterscheiden, welche tatsächlich jedoch zumeist als Mischformen vorliegen. Die Herrschaftsformen nach Montesquieu sehen als Matrix mit den vier Kriterien unbeschränkte und beschränkte Herrschaft sowie Teilhabe aller und Teilhabe weniger an der Herrschaft die Republik, die Monarchie, die Despotie und die Aristokratie vor. In der EU liegt verfassungstheoretisch eine demokratische Legitimität durch die freien Wahlen vor, jedoch über die zugrunde liegenden Verfassungen der Mitgliedstaaten nur indirekt. Soziologisch liegt in den Mitgliedstaaten und in der EU eine rational-legale Herrschaft als beschränkte Herrschaft mit der Teilhabe aller an der Herrschaft vor. Sowohl der ethische als auch der soziologische Begriff der Legitimation dürfte in allen Mitgliedstaaten der EU und auch zukünftig unter dem Gesichtspunkt einer eigenen Verfassung mit rechtsstaatlichen und demokratischen Prinzipien, wie sie im jetzigen Verfassungsentwurf vorliegen410, gegeben sein411. 408 Es muß grundsätzlich die Fragestellung der Rechtsentstehung der der Rechtsentscheidungen gegenübergestellt werden. Erstere ist eine Frage der Legalität (das vorhandene Recht stimmt formal mit der politischen Ordnung überein), letztere eine Frage der Legitimität (spiegelt die politische Ordnung mit ihren Entscheidungen den Willen des Volkes wieder, wie z. B. bei der Mehrheitsenscheidung der EU-Osterweiterung), welche sich der geneigte Leser selbst beantworten sollte. 409 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 142. 410 Vgl. den Verfassungsentwurf bei Maull, H. W. / Kirt, R. (2003).
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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3.2.3.3 Die Staatsform bei Althusius: calvinistisch, polyarchisch, soziologisch-pluralistisch, sozialistisch und demokratisch Die Frage der idealen Staatsform412 an sich diskutierte Althusius wenig413. Eine Aussage über die Elemente seines Staatsformverständnisses kann daher eher aus der politischen Theorie des Althusius getroffen werden. Althusius wendet sich gegen die von Bodin getroffene Unterscheidung von Monarchie, Aristokratie und Demokratie, da diese sich nur auf die Regierungsform, nicht jedoch die Souveränitätsrechte bezieht414. Der Calvinismus (vgl. Kapitel 3.2.2.1) nimmt bei der Staatsformdiskussion entscheidenden Raum ein, wobei Althusius eine Mischform aus aristokratischen und demokratischen Elementen empfahl, ohne sich jedoch auf eine Staatsform fest zu legen. Welche Elemente der Herrschaftsform aristokratisch415 und welche demokratisch416 vor- bzw. nachteilhaft sind, hat Althusius eingehend erörtert. Bei genauerer Analyse treten weitere wichtige Elemente politischer Theorie zutage, welche erörtert werden müssen: Die Althusius’sche Staatsform hat polyarchische Züge417. Der Begriff der Polyarchie wurde von dem amerikanischen Politikwissenschaftler Robert A. Dahl 1963 entwickelt418. Er hängt eng mit der Frage der Repräsentation zusammen (vgl. Kapitel 3.2.5.2). Im Vorfeld stellt Dahl die Frage, ob erstens in der sozialen Realität ein einheitlicher Volkswille vorhanden sein kann und zweitens, ob in der sozialen Realität ein einheitlicher Wille einer geschlossenen Minorität oder Majorität existiert, wobei erstere Frage mit empirischem Nachweis eines Volkswillens im sozialen, kulturellen und ökonomischen Leben bejaht und die zweite verneint wird419. Dort wo kein Volkswille vorhanden ist, stehen sich eine Vielzahl von Minderheitswillen gegenüber, die „Polyarchie der Minderheitswillen“. Dabei hat die Polyarchie demokratische Züge, da in ihr dem geschlossenen Mehrheitswillen die Viel411 Inwiefern dabei eine vollständige Legitmität im Sinne einer direkten Demokratie z. B. mittels Volksentscheid notwendig bzw. vorhanden ist, sei dahin gestellt. Jedoch ist nicht alles, was nicht per Volksentscheid entschieden wird, illegitim. Die direkte Demokratie hängt zunächst auch vom Sachverstand der Direktentscheider (Bürger) über die abzustimmenden Fragen ab. Zentrale Fragen wie z. B. eine Verfassungsgebung sollten nach Auffassung des Verfassers über Volksentscheide zur Legitimität gelangen. 412 Obwohl dies schon in der Antike bei Platon und Cicero Gegenstand der politischen Theorie war (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel I.2). 413 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 197 und S. 204. 414 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 115 und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 3, S. 421. 415 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 46, S. 429, § 54, S. 431 und § 74, S. 434. 416 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 47, S. 430, § 57, S. 431 und § 75, S. 434. 417 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 1, S. 420. 418 Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 139. 419 Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 139.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
zahl der Minderheitswillen gegenüberstehen, wobei Parlament und Parteien die Aufgabe haben, die Minoritätsgruppen zu regieren und zu koordinieren und deren Gruppeninteressen zu berücksichtigen420. Ein weiterer wichtiger Aspekt bei Althusius ist der des Pluralismus sowohl als soziologisches als auch politisches Theorieprinzip. Dabei ist zu beachten, daß die Pluralismusdebatte nicht ohne weiteres auf das Spätmittelalter und die frühe Neuzeit übertragen werden kann, da sie ein typisches Politikphänomen des postliberalen 20. Jahrhunderts ist und in die politische Theorie einzuordnen ist421. Gemäß heutiger Definition ist Pluralismus „in der politischen Theorie und Soziologie die These, daß die verschiedenen Lebensbereiche und Gestaltungskräfte der modernen (pluralistischen) Gesellschaft sich nicht auf die gleiche geschichtliche Wurzel zurückführen lassen und daher nicht allseitig in eine Grundordnung, etwa des Staates, eingeordnet werden können bzw. dürfen“422. Methodologisch muß zwischen sozialer Klasse und pluralistischer Gruppe unterschieden werden423. Soziale Klassen sind seit Aristoteles bekannt und können den politischen Prozeß als offizielle Machtträger des Staates beherrschen, während pluralistische Gruppen als Gegenpol die politische Macht der Herrschenden begrenzen, was wiederum in totalitären Staaten zur Ausschaltung dieser Gruppen führt. Im Folgenden wird das soziologische vom politischen Teilprinzip getrennt: – Soziologischer Pluralismus
Die Individuen haben in pluralistischen Systemen die uneingeschränkte Möglichkeit, sich in Verbänden und Interessensgruppen, also als sich im Bewußtsein ihrer gemeinsamen Interessen pluralistische Gruppe424 zu organisieren, zu betätigen und kollektiv in das Staatsganze einzugliedern425. Bei Althusius ist dieser soziologische Pluralismus über die Ständeorganisation gegeben. – Politischer Pluralismus
In der politischen Struktur eines Staates ist eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vorgesehen, so wurden in der Weimarer Republik die Parteien zur nichtstaatlichen Gesellschaft, dagegen in der Bundesrepublik Deutschland zu den Trägern staatlicher Herrschaft gerechnet426. Verbände und Interessengruppen zählen ebenfalls zur nichtstaatlichen Gesellschaft. Dies führt auch zur Pluralismus-Definition, daß die Gestaltungskräfte von Verbänden und InteresVgl. Fraenkel, E. (1991), S. 140. Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 302. 422 Herder Verlag (1988), S. 163, wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 423 Vgl. Loewenstein, K. (1975), S. 371. 424 Vgl. Loewenstein, K. (1975), S. 370. 425 Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 299. 426 Vgl. Alemann, U. von / Heinze, R. G. (1981), S. 44. 420 421
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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sengruppen nicht allseitig in eine Grundordnung eingeordnet werden dürfen427. Bei Althusius ist dieser politische Pluralismus ebenfalls über die Ständeorganisation aufgrund der Nichtexistenz von Parteien gegeben. Pluralismus ist dadurch gekennzeichnet, daß das Gemeinwohl – was auch erklärtes Ziel bei Althusius ist – erreicht wird, indem durch die Politik divergierende Ideen und Interessen von Gruppen und Verbänden gegenüber Parteien durch rechtlich normierte Verfahrensvorschriften sowie Respektierung abstrakter regulativer Ideen in Einklang gebracht werden428. Weiterhin erfordert er „das Vertrauen, daß es möglich ist, den Gemeinwillen unter Berücksichtigung der Gruppenwillen zu gestalten, und die Erkenntnis, daß es nicht möglich ist, die Freiheit zu erhalten, wenn die Gruppenwillen geknechtet sind“429. Die Ausführungen zeigen nun die entscheidende Aussage zur politischen Theorie des Althusius: Die PluralismusDebatte ist hinfällig, da diese erst durch die Trennung zwischen Interessenvertretung soziologischer Art (z. B. Verbände) und politischer Art (Parteien) aufkommt. Bei Althusius hingegen sind diese Interessen eins: Die Ständeorganisation verkörpert zum einen repräsentativ als Querschnitt der Individuen den Volkswillen und ist zum anderen Teil der politischen Struktur des Staates als Organ. Die soziale Klasse ist gleichzeitig pluralistische Gruppe. Eine ähnliche Forderung wurde von den englischen Pluralisten Anfang des 20. Jahrhunderts (z. B. Ernest Barker oder Harold Laski) gestellt, welche jedoch grundsätzlich zu einer souveränitätsfeindlichen Pluralismustheorie führt430, wogegen die Souveränitätsfrage bei Althusius klar gelöst ist (vgl. Kapitel 3.2.4.1). Somit ergibt sich bei Althusius die Möglichkeit der konstitutiven Durchsetzung sozialer Interessen innerhalb eines Pluralismus mit Interessens-, Meinungs- und Machtvielfalt (= Verbandsvielfalt) in der Sozialsphäre mit Umsetzung dieser Vielfalt in die Inhalte der politischen Gestaltung des Gemeinwesens, was genau die Forderung des Pluralismus ist431. Der Pluralismus als solcher ist heute zu verstehen als Gruppentheorie der sozialen Differenzierung, der Individualautonomie, der Gruppenbindung sowie der Verbandsbildung und Oligopolmacht432, welche auch bei Althusius umgesetzt ist: Soziale Differenzierung durch das Ständesystem, Individualautonomie im Rahmen der „consociatio symbiotica“, Gruppenbindung durch das föderalistische und subsidiäre System (vgl. Kapitel 3.2.7) sowie Verbandsbildung mit der Ausprägungen der Korporationen bei Althusius. Im Pluralismus ist die zentrale politische Figur das Individuum in seinen frei geschaffenen Verbänden gegenüber der übermächtigen Staatsgewalt433, auf welches Althusius innerhalb der „consociatio symbiotica“ oder der Volkssouveränitätslehre ebenfalls reflektiert. 427 428 429 430 431 432 433
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 163. Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 300. Fraenkel, E. (1991), S. 325. Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 304 und S. 318. Vgl. Eisfeld, R. (1972), S. 17 f. Vgl. die näheren Ausführungen bei Eisfeld, R. (1972), S. 55 ff. und S. 61 ff. Vgl. Eisfeld, R. (1972), S. 59.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Die Staatsform bei Althusius beinhaltet jedoch auch sozialistische Elemente, welche nicht zuletzt aus der Kombination des Repräsentativprinzips mit der Volkssouveränität (vgl. Kapitel 3.2.5.1.4) entwachsen. Bei Althusius entstehen diese sozialistischen Elemente aus seinem Aufbau der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) mit einem Gesellschaftsaufbau von unten nach oben (vgl. dazu auch die Ausführungen zum souveränitätskonformen Bottom-up-Föderalismus in Kapitel 3.2.7.1.1.2), wobei erklärte Aufgabe des Staates nicht wie bei Montesquieu das Erlassen, Ausführen und Überwachen von Gesetzen ist, sondern vielmehr oberste Aufgabe des Staates als universale Konsoziation dieselbe wie diejenige der privaten Konsoziation (Familie) ist: Die Bereitstellung des Notwendigen und Nützlichen für ein frommes und gerechtes Leben434. Weiterhin haben die Eigentumsrechte bei Althusius sozialistischen Charakter: „Denn das Eigentum des Reichs steht dem Volke zu . . .“435. Dabei ist die sozialistische Intention jedoch aus dem Selbstverständnis Althusius’ hinsichtlich der „consociatio symbiotica“ sowie als Gegenargument zum Absolutismus heraus zu verstehen: Entgegen dessen Machtkonzentration setzt Althusius die Prämisse, daß ein Konsens in der „consociatio symbiotica“ nur erreicht wird, wenn die gesellschaftlichen Mittel auch tatsächlich für die Gemeinschaft eingesetzt werden436. Die Staatsform bei Althusius beinhaltet zudem sehr viele demokratische Elemente437: – Die zeitbegrenzt und abwechselnd gewählten Volksvertreter üben die Herrschaftsgewalt demokratisch aus438, – Das Volk übt die Souveränitätsrechte gemeinsam aus439, – Es besteht eine Gewaltenteilungstemporalität (vgl. Kapitel 3.2.6.2.7.1), – Jedem Gemeinschaftsmitglied stehen alle Ämter offen440, – Volksherrschaft wird gemäß der Stimmenanzahl ohne Gewichtung ausgeübt441.
Althusius unterscheidet – wie Bodin ebenfalls442 – zwischen Staats- bzw. Herrschaftsform und Regierungsform: Während die Staatsform eine demokratische Ausrichtung haben sollte, so steht die ideale Regierungsform (vgl. zur HerrschaftsVgl. Hüglin, Th. (1991), S. 91. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 4, S. 112. 436 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 111. 437 Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 520 ff. 438 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 57, S. 431 und § 61, S. 432 und § 64, S. 432. 439 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 59, S. 431. 440 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 63 f., S. 432 f. 441 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 64, S. 433. 442 Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 29, wobei Bodin in seiner Schrift „Six livres de la république“ aus dem Jahre 1583 diese Unterscheidung vornahm, also 20 Jahre vor der ersten Auflage der „Politica“ des Althusius 1603. 434 435
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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gewalt im Sinne einer Regierung auch die Ausführungen in Kapitel 3.2.3.1.1) mit der Forderung einer geringen Anzahl Regierender als aristokratisch gegenüber443. Dabei ist schon dem Wesen nach von einem Gegensatz zwischen einem individualistisch-atomistischen Ständewillen und einem parlamentarisch-repräsentativen Volkswillen auszugehen, da nicht das Volk als Vielheit von Ständen, sondern Einheit repräsentiert werden sollte444. Grundsätzlich ist eine Staatsform zu unterscheiden zwischen repräsentativer und nicht repräsentativer Herrschaftsausübung445 und ist somit mit der Repräsentationstheorie (vgl. Kapitel 3.2.5) eng verknüpft. Die von Althusius skizzierte Staatsform ist demnach ein Repräsentativsystem, wenngleich der Begriff erst viel später seit Hobbes geformt wurde und Ende des 18. Jahrunderts präsent wurde446. Wird die Regierung in Form des „summus magistratus“ dabei nicht als Einzelperson, sondern als Kollegium verstanden, so kann das Regierungssystem bei Althusius durchaus als Zwei-Kammer-System mit der Zusammensetzung des Magistrats und der Ephoren verstanden werden447. So ist die ideale Staatsform des Althusius nach heutigem Verständnis wohl am ehesten als calvinistische, polyarchische, soziologisch-pluralistische und sozialistische Demokratie, welche jedoch aristokratisch regiert wird, zu bezeichnen. Dabei ist nicht zu verkennen, daß in der politischen Theorie des Althusius diese Elemente zu finden sind, Althusius jedoch keine ideale Staatsform direkt bezeichnet. Man kann diesen Elementen gleichermaßen andere Interpretationsmöglichkeiten zuweisen. So lassen sich prinzipiell aus dem Althusius’schen Prinzip der Volkssouveränität viele Staatsformen ableiten, auch die der Tyrannis448, was jedoch aus dem gesamten Kontext seiner politischen Theorie sicherlich nicht dazu führt, Althusius zum Verfechter dieser Staatsform zu deklarieren. Vielmehr zeigt dies, daß die Elemente aus heutiger Sicht weniger Präzision und Detailliertheit haben, wie sie für das heutige Verständnis einer Staatsformdefinition vorhanden zu sein haben.
3.2.3.4 Die Staats- bzw. Ordnungsform der EU im Vergleich zu Althusius Die Staatsform ist in der vergleichenden Regierungslehre an verschiedene Definitions-Kriterien gebunden und hängt eng mit der Frage der Legitimität (vgl. Kapitel 3.2.3.2.2) zusammen449: Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 74, S. 434. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Leibholz, G. (1966), S. 182 ff. 445 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 64. 446 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 58 f. 447 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 165. 448 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 174. 449 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 147 ff. und Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 896 f. 443 444
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Zahl der Herrschenden450
– Herrschaft einer Person (Monokratie), – Herrschaft weniger Personen (Aristokratie und Oligarchie), – Herrschaft vieler Personen bzw. Herrschaft der Mehrheit (Repräsentative Demokratie). – Zweck der Herrschaft nach Aristoteles
– am Gemeinwohl orientierte Herrschaft, – an Eigennutz ausgerichtete Herrschaft. – Staatsformdefinition im engeren Sinne
– Monarchie als von Gott abgeleitete, meist erbliche, absolute oder ständischfeudalistische begrenzte Einherrschaft eines Monarchen, – Republik als eine auf Konsens begründeten Herrschaft der Bürgerschaft, – Mischformen zwischen Monarchie und Republik. – Form der Herrschaftsausübung
– Autokratie als Herrschaftssystem mit absoluter, nicht begrenzter Macht des Herrschers mit Erscheinungsformen von der absoluten Monarchie bis hin zur Diktatur, – Konstitutionalismus mit rechtlicher Begrenzung der Machtverhältnisse mittels Verfassung, Rechtssystematik und Rechtsstaatlichkeit. – Begrenzung der Herrschaftsausübung
– Monistische Herrschaft (z. B. identitäre Demokratie), – Pluralistische Herrschaft (z. B. Polyarchie). – Innerer Aufbau und Ausdifferenzierung der Herrschaft
– horizontal mit dem Grad der Gewaltenteilung (z. B. Präsidentialismus oder Parlamentarisches Regierungssystem), – vertikal zwischen Zentralismus und Einheitsstaat. – Entscheidungsmuster
– hierarchisch-majoritäre Entscheidungen (z. B. Konkurrenzdemokratie), – konsensorientiertes Aushandeln (z. B. Konkordanz- oder Proporzdemokratie), – indirekte Steuerung durch vertikale und horizontale Verhandlungssysteme wie Politik und Gesellschaft (Korporatismus). Aus der Formaldefinition451 wird deutlich, daß die Kriterien der Definition nicht ausschließlich auf Basis neuer Modelldefinitionen nach heutigem Verständnis geDiese Staatsformkriterien finden sich schon bei Herodot, Platon und Aristoteles. Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 450 451
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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setzt sind, sondern ursprüngliche Definitionen aus der Antike, welche demnach auch zu Zeiten Althusius bekannt waren, Verwendung finden. Die EU – oder bis zum Vorliegen einer gemeinsamen Verfassung zumindest die Mitgliedstaaten – kann eindeutig in den Kriterienkatalog eingeordnet werden: – Herrschaft der Mehrheit durch das Wahlsystem und damit vorliegen einer Demokratie. Die Demokratie nach heutiger Definition verlangt die Elemente452 der Volkssouveränität, der Freiheit, der Gleichheit und der Rechtsstaatlichkeit. – Mischform einer sowohl am Gemeinwohl orientierten Herrschaft im Sinne des Sozialstaates als auch an Eigennutz ausgerichteter Herrschaft aus wirtschaftlicher Sicht bei den rein marktwirtschaftlichen Elementen oder aus politischer Sicht bei totalitären Elementen. – Modell einer Republik als eine auf Konsens begründeten Herrschaft der Bürgerschaft. – Konstitutionalismus mit rechtlicher Begrenzung der Machtverhältnisse mittels Verfassung, Rechtssystematik und Rechtsstaatlichkeit. – Pluralistische Herrschaft mit Gewaltenteilung in Exekutive, Legislative und Judikative. – Horizontaler Aufbau als Parlamentarisches Regierungssystem. – Konsens- und mehrheitsorientierte Entscheidungsmuster.
In den Mitgliedstaaten der EU liegen als Typus grundsätzlich parlamentarische Demokratien – auch wenn sie sich zum Teil Monarchie nennen – vor, welche folgende Organisation aufweisen453: Das Parlament soll die Regierung kontrollieren; diese Funktion wird jedoch meist faktisch durch die Trennung von Regierungspartei und Opposition ausgeübt. Das Kabinett setzt sich aus Führern der Mehrheitspartei oder einer Parteienkoalition zusammen und das Parlament kann mittels Mißtrauensvotum die Regierung zum Rücktritt bewegen und umgekehrt die Regierung die Auflösung des Parlaments veranlassen. Die Gesetzesentwürfe und obersten Ziele der Staatstätigkeit liegen bei der Regierung, der Gesetzesbeschluß, die Ratifizierung von Staatsverträgen und Kriegsentscheidungen obliegen dem Parlament. Die Regierung kann als monokratisches Organ, als Kollegialorgan oder arbeitsteiliges Organ ausgebildet sein. Die Klassifizierung der politischen Ordnungsform der EU gelingt weder in Richtung Bundesstaat noch in Richtung Konföderation (Staatenbund): Es ist eine Kooperationsform von Staaten, jedoch mehr als ein bloßer Staatenbund. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Ordnungsform in seinem Urteil vom Oktober 1993 als Staatenverbund454. Die EU selbst hat somit eigentlich keine eigene Staatsform, da ihr die Eigenschaft eines Staates derzeit noch abgesprochen wird455. 452 453 454
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 50. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 390 ff. Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 5.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Das Strukturprinzip der EU beruht auf einer korporatistischen Verhandlungsdemokratie, da Mischverfassungen der Mitgliedstaaten vorliegen, welche sukzessive integriert wurden und nicht auf einer Verfassungskonstruktion beruhen: Es ist ein polyarchisches, dynamisches Mischmodell von horizontaler und vertikaler Strukturierung456. Stellt man nun die Forderungen des Althusius’ hinsichtlich seiner Legitimitätsansprüche (vgl. Kapitel 3.2.3.1.2) an eine Herrschaftsform, aus dem Herrschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1) sowie aus dem Konstrukt der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) und sonstiger Elemente der politischen Theorie des Althusius’ der Staats- bzw. Ordnungsform der EU bzw. seiner Mitgliedstaaten gegenüber, so sind die Parallelen zwischen der EU und Althusius direkt ersichtlich: – a) EU: Es liegt eine Herrschaft der Mehrheit vor (Demokratie).
b) Althusius: Die Herrschaft wird durch einen vom Volk eingesetzten Herrscher ausgeübt, welchem der Gesamtwille des Volkes per Herrschaftsvertrag übertragen wurde. Die demokratischen Elemente der Volkssouveränität (vgl. Kapitel 3.2.4.1.1), der Freiheit („. . . das leibliche Leben unter Einschluß der Unversehrtheit des je eigenen Körpers und seiner Freiheit. Dem stehen Gewalttätigkeit, Tötung, Verletzung und Verwundung, Zwang und Nötigung, Knechtschaft, Freiheitsberaubung und Fesselung entgegen.“457) und der Rechtsstaatlichkeit (vgl. Kapitel 3.2.6.3.1) sind bei Althusius modelltheoretisch vorhanden. Die Gleichheit ist nicht explizit bei Althusius als Element zu finden. – a) EU: Die Herrschaft ist zugleich am Gemeinwohl (sozialstaatliche Komponente) und am Eigennutz (wirtschaftliche Komponente) orientiert.
b) Althusius: Es besteht die Notwendigkeit einer gesellschaftlichen Ordnung zum Zwecke der Schaffung eines Gemeinwohles. Die Herrscherlegitimität entsteht durch eine rechtlich gebundene Gemeinwohlverwirklichung durch Umsetzung von Solidarität, politischer Gerechtigkeit, Fürsorge, wirtschaftspolitischer Maßnahmen der Handels-, Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Steuerpolitik sowie Durchsetzung einer Verwaltung und Regierung. – a) EU: Das Modell einer Republik ist eine auf Konsens begründete Herrschaft der Bürgerschaft. b) Althusius: Die Ablehnung einer absolut regierenden, zentralen Staatsgewalt sowie das Recht des Volkes einen Herrscher ein- und abzusetzen und damit eine freiwillige Unterwerfung unter einen Herrschaftsvertrag durch Übertragung des Gesamtwillens des Volkes auf die Herrscher bezeichnen das Staatsmodell. – a) EU: Der Konstitutionalismus erfährt eine rechtliche Begrenzung der Machtverhältnisse mittels Verfassung, Rechtssystematik und Rechtsstaatlichkeit. 455 Vgl. dazu die Quellenangaben bei Pieper, S. U. (1994), S. 4, Fußnote 6 und S. 212, Fußnote 203 sowie die Ausführungen zur Rechtsnatur der EU bei Stewing, C. (1992), S. 119 ff. 456 Vgl. Nitschke, P. (2002), S. 435. 457 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 6, S. 126.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
139
b) Althusius: Jede Amtsgewalt ist durch Gesetze beschränkt, öffentliche Dienstverrichtungen müssen legitim für Gott und die Menschheit sein und alle Dienstausübenden haben sich an die Grenzen ihrer Berufsausübung zu halten sowie alle Rechte und Pflichten zwingend zu beachten458. – a) EU: Die pluralistische Herrschaft hat eine Gewaltenteilung inne.
b) Althusius: Es besteht der naturrechtliche Grundsatz, daß eine politische Ordnung durch Befehl und Gewalt zusammen gehalten wird. Die Begrenzung der Herrschaft erfolgt durch das Ephorensystem459 mit Senaten460 und Landständen461 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren462 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände und das Widerstandsrecht. – a) EU: Es besteht ein horizontaler Aufbau als Parlamentarisches Regierungssystem.
b) Althusius: Mit dem Stände- und Ephorensystem werden stärkere als parlamentarische Rechte implementiert (vgl. Kapitel 3.2.4.1). Das Einsetzen eines Herrschers erfolgt durch den Gesamtwillen des Volkes, Mehrheitsentscheidungen beispielsweise durch das Widerstandsrecht. – a) EU: Es liegen Konsens- und mehrheitsorientierte Entscheidungsmuster vor.
b) Althusius: Der Herrscher ist Repräsentant des Mehrheitswillens. Tabelle 8 Staatsformkriterien in der EU und bei Althusius Staatsformkriterium
EU
Althusius
Herrscherzahl
& ✓ , Herrschaft der Mehrheit
& ✓ , Herrschaft der Mehrheit
Staatsziel
& ✓ , Gemein- und Eigenwohl
& ✓ , nur Gemeinwohl
Staatsmodell
& ✓ , Republik
& ✓ , Volksherrschaft
Rechtsbegrenzung
✓ &
& ✓
Gewaltenteilung
& ✓
& ✓
Regierungssystem
& ✓ , parlamentarisch
& ✓ , quasi-parlamentarisch
Entscheidungsmuster
& ✓ , mehrheitsorientiert
& ✓ , mehrheitsorientiert
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt. 458 459 460 461 462
Vgl. zu den Pflichten der Regierenden die Ausführungen bei Eßer, H.H. (1988), S. 175. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII § 63, S. 179. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168.
140
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
3.2.3.5 Herrschaft, Macht und Legitimität: Althusius und EU im Vergleich Zu jedem dieser drei Zentralbegriffe hat Althusius eine entsprechende Lehre verfasst: – Herrschaft
Althusius definiert den Begriff der Herrschaft wie folgt: „Durch diese Herrschaft wird die Selbstbestimmung, das heißt die Möglichkeit und der Wille, dieses oder jenes zu tun oder zu lassen – also die körperliche und geistige Freiheit –, eingeschränkt oder sogar beseitigt und das Recht, über die Person zu bestimmen, einem anderen übertragen. Dies wird imperium, ius potestatis, ius alienum, dominatio genannt“463. Die Regelung von Herrschaftsansprüchen und Befugnissen sowie Pflichten von Untertanen (Beherrschten) wird in der Rechtssystematik des Gesellschaftsvertrages und des Herrschaftsvertrages geregelt bei Althusius (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1 und 3.2.3.1.3). – Macht
Althusius verfasste seine Lehre der Macht in Kapitel I der Politica: „Denn jede Regierung besteht aus Herrschaft und Unterordnung, mit der das Menschengeschlecht von Anfang an begann. Adam wurde von Gott als Herr und Gebieter seiner Frau und aller, die von ihr geboren wurden sowie aller übrigen Kreaturen geschaffen, 1. Mos. 1, 26 – 27; 3, 16; Sir. 17. Deshalb heißt es, daß alle politische Herrschaft und Gewalt von Gott stammt, Röm. 13. Und nichts ist, wie Cicero, De legibus, lib. 3 sagt, mit dem Recht und der Natur der Dinge so verbunden wie die Herrschaftsgewalt.“464. Sie umfaßt folgende Aspekte465: – Gott ist allmächtig und der Inbegriff des Rechts und der Gerechtigkeit, – jedwede Macht, welche Menschen innehaben, ist von Gott verliehen, – Unterschiede hinsichtlich Fähigkeiten und Vermögen sind von Gott vergeben und bedingen Unter- und Überordnungsstrukturen und damit Machtverhältnisse, – Machtausübung bedeutet, daß der Inhaber von Macht nur Verwalter eines fremden Gutes ist und daß Macht nur zum positiven verwendet werden soll466, – Macht ist nicht nur im Sinne von Herrschaft, sondern auch im Sinne der Schaffung der Voraussetzung von Selbstbestimmung, körperlicher und geisti463 464 465 466
Althusius, J., Dicaeologicae, I, Kap. XXVII, § 1 aus: Winters, P. J. (1963), S. 243. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel I, § 12; S. 26. Vgl. Winters, P. J. (1963), S. 240 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XIX, § 37; S. 204.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
141
ger Freiheit zu verstehen467. Insofern hat Althusius nach heutigem Verständnis Macht als Grundrecht definiert. – Legitimität Bei Althusius gibt es keine explizite Legitimitätstheorie. Vielmehr entsteht Legitimität nach Althusius durch bestimmte Institutionalisierungen in der Staatsorganisation, durch Schaffung bestimmter Voraussetzungen gemäß seiner naturrechtlich-theologischen Legitimitätsansätze und durch die Einhaltung bestimmter moralischer Werte (vgl. Kapitel 3.2.3.1.2).
Im nachfolgenden werden die zentralen Begriffe der politischen Theorie Herrschaft, Macht und Legitimität468 zwischen heutigem Verständnis innerhalb der EU und Althusius verglichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede direkt gegenüber zu stellen: Tabelle 9 Herrschaft, Macht und Legitimität in der EU und bei Althusius Definition
EU
Althusius
Herrschaft
Herrschaft soll heißen die Chance für einen Befehl bestimmten Inhalts bei angebbaren Personen Gehorsam zu finden (Weber).
Gebieten, Regieren und Leiten ist daher nichts anderes, als dem Nutzen anderer zu dienen und für sie Sorge zu tragen469.
Macht
Macht bedeutet jede Chance, innerhalb einer sozialen Beziehung den eigenen Willen auch gegen Widerstreben durchzusetzen, gleichviel worauf diese Chance beruht (Weber).
Die Beziehung zwischen Machtorgan und Gesellschaftsorgan wird nicht bestimmt durch die tatsächliche Machtlage, sondern beruht auf der natürlich-vernünftigen Kommunikationsfähigkeit und -bereitschaft ihrer Mitglieder („consociatio“)470.
Legitimität
Legitimität ist die Anerkennung einer politischen Ordnung als rechtmäßig.
Eine Herrschaft ist legitim, wenn die Ephoren die Legitimität des Herrschers bestätigen471. Legitimität entsteht durch freiwillige Unterwerfung unter einen Herrschaftsvertrag472. Legitimität entsteht durch geglückte politische Leistung und politischen Erfolg sowie durch Wahrung von Recht und Gesetz.
Althusius, Dicaeologicae, I, Kap. XXV, § 4 aus: Winters, P. J. (1963), S. 242. Begriffe Herrschaft / Macht / Legitimität in Anlehnung an Schreyer, B. / Schwarzmeier, M. (2000), S. 32. 469 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 13, S. 26. 470 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 186 und die Ausführungen bei Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 17, S. 116. 471 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 230. 472 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 193. 467 468
142
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Fortsetzung Tabelle 9 Legitime Formen
EU
Althusius
Herrschaft
Monarchie, Aristokratie, Demokratie
Der Gesellschafts- und Herrschaftsvertrag begründet den Staat und der Wille des Volkes bestimmt die Ausprägung der Staatsform in Form des Territorialstaats und nicht etwa der Stadt473, idealerweise die Polyarchie.
Macht
Durchsetzungsmacht, Verhinderungs- Freiwillige Konsensmacht 474. macht, Thematisierungsmacht
Legitimität
Qua göttlicher Bestimmung, qua Qua göttlicher Bestimmung, qua Zugeschichtlichem Auftrag, qua Zustim- stimmung. Nur ethische Legitimität. mung. Ethische und soziologische Legitimität.
Rechtsdogma
EU
Althusius
Herrschaft
Regierung per Gesetz
gemäß Herrschaftsvertrag
Macht
Übertragung der Macht auf die Herrscher durch allgemeine, freie Wahl. Ausübung durch Anwendung der Rechtssystematik.
Jegliche nichtgöttliche Souveränität ist jedoch begrenzt und durch feste Schranken, Gesetze und Gerechtigkeit475; nur die Macht Gottes ist unbegrenzt476.
Legitimität
Verfassung
Gesellschaftsvertrag
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
3.2.4 Souveränitätstheorie Souveränität ist heute definiert als „der den modernen Staat nach innen und außen konstituierenden Herrschaftsanspruch“477.
473 474 475 476 477
Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 123. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 17, S. 116. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 106; S. 188. Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 541. Nolte, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 849.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
143
3.2.4.1 Souveränitätsarten, -subjekte und deren Rechte bei Althusius Bei einer Analyse der Althusius’schen Souveränitätskonzeption müssen die drei Rechtsträger bzw. Staatsorgane Volk, Magistratus und Ephoren (Souveränitätssubjekte) innerhalb der Souveränitätsarten der Volks- sowie der Staatssouveränität betrachtet werden. Althusius ist als Vertreter der Volkssouveränität zu klassifizieren, obgleich Elemente der Staatssouveränität, welche jedoch klar der Volkssouveränität untergeordnet werden oder mittelbar aus ihr hervor gehen bei Althusius zu finden sind. Das Volk ist im Mittelalter das Subjekt mit der höchsten Gewalt. Eine Volkssouveränität geht dann unmittelbar in eine Staatssouveränität über, wenn das Volk als bloße Menschengemeinschaft, territoriale Gemeinschaft und Volksgemeinschaft (vgl. Kapitel 3.2.1.1.2) zum politischen Subjekt wird, wo das Volk „im Staat Person wird“478. Althusius definiert das Recht der Souveränität im Sinne der höchsten Gewalt als „die höchste und immerwährende Herrschaftsgewalt, die weder gesetzlich noch zeitlich begrenzt sei“479. 3.2.4.1.1 Volkssouveränität und Legitimität bei Althusius – Volkssouveränitätslehre des Mittelalters und der frühen Neuzeit480
Die Volkssouveränitätslehre entstand im Mittelalter als Gegenpol zum unentziehbaren Herrscherrecht, verbunden mit einem ihm eigenen und ausschließlichen Recht auf „imperium“, welchem die Monarchie als vorzüglichste und normale Verfassungsform folgte. Dagegen stand mit der Translationstheorie des Mittelalters das Pendant mit einer Einräumung eines eigenen, aktiven politischen Rechtes des Volkes und des Rechts der Herrschaftseinräumung („translatio“) und damit einer Einschränkung des Herrscherrechtes gegenüber. Folgende Ausprägungen der Volkssouveränitätslehre ausgewählter, jedoch nicht aller Autoren481 geben den Diskussionsstand des Mittelalters und der frühen Neuzeit im Umfeld des Althusius wieder: – Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342)482 In seinem demokratischen Radikalismus verteilte Marsilius die Staatsgewalt auf zwei Subjekte: Souverän ist ausschließlich der Gesetzgeber, wobei die Gierke, O. von (1981), S. 132. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 20, S. 117. 480 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 123 ff. 481 Vgl. die Ausführungen bei Reibstein, E. (1955), S. 100 ff.; hier müssten z. B. noch Bartolus sowie dessen Schüler und Nachfolger Baldus de Ubaldis, Covarruvias (vgl. Reibstein, E. (1955), S. 122 ff.), Vázquez (vgl. Reibstein, E. (1955), S. 127 ff.) sowie einige andere genannt werden. 482 Vgl. auch die Ausführungen zu Marsilius bei Reibstein, E. (1955), S. 100 f. 478 479
144
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
gesetzgebende Gewalt dem Volke über Versammlungen oder Vertreter zusteht. Der Herrscher ist dem Gesetzgeber untergeordnet und führt die Regierungsgeschäfte. – Lupold von Bebenburg (ca. 1297 – 1363)483 Das Volk ist mächtiger als der Herrscher selbst („major ipso principe“), ist Gesetzgeber und setzt den Herrscher ein und ab. – Nicolaus von Cues484 (1401 – 1464) Irdische Gewalt entsteht nur durch freiwillige Übereinstimmung der Unterworfenen, der Herrscher ist ausschließlich Verwalter des Gesamtrechts sowie Träger des Gesamtwillens und ist dem Gesetz unterworfen. – Übertragung der Souveränitätslehre in der Konzilienzeit ab dem 14. Jahrhundert Mit der Gegenüberstellung einer Superiorität der Gesamtheit gegenüber der des Papstes kam die Lehre von einer Volkssouveränität in der Kirche auf. Dies gipfelte bei Johann von Paris sogar in der Gleichstellung des Papstes mit einem gewöhnlichen Korporationsvorsteher sowie der Forderung des Nicolaus von Cues auf eine Volkssouveränität in der Kirche mit einem Parallelismus zwischen Staats- und Kirchenaufbau mit dem späteren Ziel einer kirchlichen Verfassung. – Jean Bodin (1530 – 1596) Die herrschende Lehre von einer beim Herrscher liegenden, beschränkbaren und teilbaren souveränen Staatsgewalt erweiterte Bodin, indem er mit dem Wesen der Souveränität eine zeitliche oder sachliche Beschränkung, die Gebundenheit an Gesetz und Verfassung sowie die Unteilbarkeit, -veräußerbarkeit und Verjährung verband. Der Souveränitätsbegriff bei Bodin rechtfertigte auch im Übergang vom mittelalterlichen zum absolutistischen Staat die Machtkonzentration der Staatsgewalt weg von der Kirche hin zum Monarchen485. – Das Volk als Souveränitätssubjekt bei Althusius
Erst Althusius – in seinem „kühnen und originellen Entwurf“486 – koppelt die Souveränität vom Herrscher ab und überträgt diese auf das Volk. Bei der Althusius’schen Volkssouveränität ist ausschließlich das Subjekt des Volkes zu betrachten. Zur Volkssouveränität kommt Althusius durch die – auch aristoteVgl. Reibstein, E. (1955), S. 100. Der deutsche Theologe und Philosoph Nikolaus Krebs von Kues (auch: Nikolaus von Kues, Nicolaus Cusanus, Nikolaus Chrypfs von Kues) wurde 1448 Kardinal. Cusanus faßte das Verhältnis von Gott und Welt als das Verhältnis von Urbildlichem und Abbildlichem. (Quelle: www.philosophenlexikon.de). 485 Vgl. Nolte, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 851. 486 Gierke, O. von (1981), S. 157. 483 484
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
145
lische – Behauptung, daß die „bürgerliche Gesellschaft („civilis societas“) von Natur aus besteht“487 und kommt so zum abgeleiteten Charakter der Staatsgewalt: Die Volkssouveränität 488. Das Souveränitätsrecht ist ein Recht des föderal organisierten Volkskörpers, nicht jedoch das Recht der unitarischen Summe aller Individuen489. Althusius gilt unter den oben angeführten Denkern als einziger, welcher von einer von unten nach oben gestuften Ordnung der einzelnen Teile der Gesellschaft ausgeht; um mit seiner Souveränitätsdefinition nicht gänzlich der herrschenden Meinung (wie z. B. Bodin mit seinem zentralistischen Herrschaftsstaat) entgegen zu stehen, verlagert er die Souveränität auf den gegliederten Gemeinschaftskörper durch Verbindung des griechischen Polisgedankens mit der römischen Universalreichsidee490 ohne dabei die tatsächlichen zentralistischen Machtverhältnisse zu negieren mittels Existenz der Magistraten. Althusius geht naturrechtlich von einer Volkssouveränität aus, welche von einer absoluten Souveränität Gottes her rührte: Gott macht im Alten und Neuen Testament sein Volk in freier Souveränität zu seinem Bundespartner (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Althusius überträgt sodann die Konstellation auf die „consociatio symbiotica“ und kommt so zur Volkssouveränität. Die Volkssouveränität ist nicht als absolut gegeben zu betrachten. Vielmehr wird sie formal mittels Herrschafts- und Beauftragungsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1) beim Volk belassen und gleichzeitig als Administrationsauftrag dem Magistratus übergeben491. Dem Souveränitätsinhaber wird das höchste universale Recht der Jurisdiktion zugesprochen und „die Macht, dieses Reichsrecht zu begründen und sich ihm zu verpflichten, kommt dem Volk oder den vereinten Gliedern des Reichs zu“492. Die Souveränität kann dabei nur dem Volk belassen werden, wenn zum einen der Herrschafts- und Beauftragungsvertrag geschlossen und gültig ist und zum anderen die Legitimität der Senate493 und Landstände494 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren495 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände als Volksvertreter bzw. Repräsentantenversammlung gegeben ist. Die Souveränität geht dabei soweit, daß die Volksvertreter die Legalität des Herrschertuns bestimmen und die Grenzen bei der Tyrannis setzen können496.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 33, S. 30. Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 91. 489 Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 211 und Hüglin, Th. (1991), S. 199. 490 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 95. 491 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 227 sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wydukkel, D.), Kapitel XVIII, §§ 1 ff.; S. 168. 492 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel IX, § 15 f.; S. 115. 493 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 494 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 495 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 496 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 228. 487 488
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Die Volkssouveränität bei Althusius ist zwar gemäß dem Bodin’schen Souveränitätsbegriff ausschließlich, beständig, unteilbar und unveräußerlich. Dabei widerspricht Althusius Bodin jedoch, in dem er ausführt, daß sein Souveränitätsrecht im Sinne der höchsten Gewalt dem Reich oder der universalen Gemeinschaft zukommt497, also beim Volk liegt. Das Souveränitätsrecht liegt dabei nicht beim Einzelnen, sondern beim gesamten Volk durch dessen Gemeinwillen498. Althusius erweiterte seinen Souveränitätsbegriff sogar noch um die Gebundenheit der Souveränität nicht nur an das göttliche und natürliche Recht, sondern auch an das positive Recht und die Verfassungsgesetze, welches in der Staatskonstruktion des Althusius eine wichtige Rolle spielt. Jegliche nichtgöttliche Souveränität ist jedoch begrenzt und durch feste Schranken, Gesetze und Gerechtigkeit499; nur die Macht Gottes ist unbegrenzt500. Die Körperlichkeit der die Souveränität erlangenden Subjekte war in der mittelalterlichen Souveränitätsdiskussion eher zweitrangig. Den Staat beschrieb man zumeist als Organismus, wobei die Verfechter einer Staatssouveränität die Souveränität der Herrscherpersönlichkeit zuwiesen, während der Staat nur Objekt der Herrschertätigkeit sei (so z. B. Machiavelli). Die Verfechter der Volkssouveränität dagegen glaubten diese auf die Volkspersönlichkeit als fiktive, kollektiv geeinte und einheitliche Person übertragen. Althusius bestimmte dabei den Staat als organisch geordneten und gegliederten Körper gemäß seiner kategorisiert-systematischen Begriffsgliederungen noch eindeutiger; das Subjekt der Staatsgewalt ist demnach der Gesellschaftskörper („corpus symbioticum“), welchem er die Souveränität innerhalb der bestehenden Rechtssystematik zuweist501. Neben einer Volkssouveränität weist Althusius jedoch auch dem Staat – wenn auch als Verfechter der Volkssouveränität eine wesentlich geringere – Souveränität zu (vgl. Kapitel 3.2.4.1.2). Die Volkssouveränität bei Althusius ist jedoch entscheidend vom modernen Begriff abzugrenzen: Er ist zu verstehen als Souveränitätsbegriff „eines freien und unbezwingbaren Raumes, innerhalb dessen die Mitglieder nach Übereinkommen und Einvernehmen streben, im Rahmen der göttlichen und natürlichen Gesetze sowie der als gesamte Ordnung der politeia aufgefassten Verfassungsordnung“502. In der Diskussion um den Grad der Souveränität des Volkes bei Althusius ist man sich in der wissenschaftlichen Diskussion uneinig503: Während Gierke von einer uneingeschränkten Volkssouveränität als Mittelpunkt der Althusius’schen 497 498 499 500 501 502 503
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 20, S. 117. Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 222. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 106; S. 188. Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 541. Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 158 ff. Vgl. Duso, G. (1997), S. 74. Vgl. die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1991), S. 214 ff. und S. 226 f.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Politik ausgeht, kritisieren Quaritsch mit dem Argument einer vorbehaltlichen Volkssouveränität wegen des Rechts des Fürsten auf sein Amt sowie Kielmannsegg mit dem Argument, daß das Volk nicht die Summe freier Individuen, sondern gegliederter Sozialverband sei, diese Auslegung. – Legitimität des Volkes als Souveränitätsträger
Das Volk ist bei Althusius Träger der Souveränität. Die Frage der Legitimität dieser Trägerschaft ist bei Althusius im Naturrecht begründet504: Es gibt zunächst keine höhere Gewalt als die Gottes und einer daraus zu folgernden Gehorsamspflicht, woraus zu schließen ist, daß Gott nach dem Naturrecht dem Volk selbst die freie Gewalt gegeben hat, Magistrate einzusetzen505. Nach dem Naturrecht sind alle Menschen gleich und keiner Jurisdiktion unterworfen, außer sie unterstellen sich freiwillig einer Herrschaft und übertragen ihre Rechte506. – Die Rechte des Volkes bei Althusius
Das Souveränitätsrecht (= Reichsrecht) bezieht sich bei Althusius auf das Volk als „consociatio symbiotica“ und ist zu verstehen als Recht der Gemeinschaft auf Organisation der universalen Gemeinschaft sowie deren Verwaltung507. Es ist ein Gemeinschaftsrecht, welches dem gesamten Gemeinschaftskörper zusteht508. Das Recht des Volkes wird gegenüber dem des Magistratus beschrieben als beständig gegenüber zeitlich begrenzt und personengebunden, als größer gegenüber geringer, als nicht übertragbares Eigentumsrecht gegenüber auf Widerruf mittels Mandatsvertrag anvertrautes Recht509. Das Volk hat das Ursprungsrecht der Bestellung und Absetzung des Magistratus510, welches jedoch nur mittelbar durch die Senate511 und Landstände512 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren513 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände ausgeübt werden kann. 3.2.4.1.2 Die Staatssouveränität bei Althusius Der Begriff der Staatssouveränität wird hier definiert als innere Staatssouveränität und nicht im Sinne einer souveränen Gleichheit von Staaten auf der Ebene des Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 209 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 20, S. 171. 506 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 18, S. 171. 507 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 218 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel IX, § 29 f., S. 120. 508 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel IX, § 18, S. 116. 509 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 104, S. 188. 510 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 3, S. 168. 511 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 512 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 513 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 504 505
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Völkerrechts (äußere Staatssouveränität). In der Souveränitätstheorie des Althusius sind bei der staatssouveränitätsrechtlichen Komponente die Subjekte Magistratus und Senate514 und Landstände515 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren516 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände sowie deren Rechtsstellung relevant: a) Der Magistratus – Der Magistratus als Souveränitätssubjekt bei Althusius
Der Magistrat ist gemäß den Gesetzen zum Nutzen und zum Wohl der „consociatio symbiotica“ eingesetzt517. Das Volk als Ganzes kann die Aufgabe einer Herrschaft nicht erfüllen, weshalb der Amtsträger („summus magistratus“) benannt wird (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1): „Bei diesem gegenseitigen Vertrag zwischen dem obersten Magistrat als Beauftragtem . . . und der universalen Gemeinschaft steht an erster Stelle die Verpflichtung des Magistrats. Er verpflichtet sich dem Körper der universalen Gemeinschaft zur Verwaltung des Reichs oder Gemeinwesen gemäß den Gesetzen, die von Gott, der rechten Vernunft und der Körperschaft des Gemeinwesen vorgeschrieben sind“518. Somit wird ein Teil der Volkssouveränität auf den Magistratus übertragen, den anderen Teil der Souveränität behält das Volk zur Wahrung der eigenen Rechte und zur Kontrolle des Amtsträgers. Dem Magistratus werden dabei ausdrücklich per Herrschaftsvertrag genau so viele Rechte zugestanden, wie ihm vom Volk zum Zwecke der Verwaltung des Reiches oder des Gemeinwesens überlassen werden519. Zu unterscheiden ist dabei die reale und die personale Majestät520: – reale Majestät: Majestät die mit der staatlichen Gemeinschaft untrennbar verbunden ist und als mit den Gesetzen verbundene, verfassungsgebende Gewalt zu betrachten ist, – personale Majestät: Sie ist an die Person des Herrschers gebunden und zu verstehen als dem Herrscher verliehene oberste Regierungsgewalt, welche der realen Majestät unterworfen ist, an die Grundgesetze gebunden ist und mit der Person des Herrschers auch untergeht. Mit der Trennung der realen und der personalen Majestät wurde der Versuch unternommen, Staats- und Volkssouveränität mittels eines terminologischen Konstrukts anzunähern. Sie ist eine Variante der mittelalterlichen Staatssouveränitätslehre, welche der realen Majestät die Staatssouveränität und der personalen die Organsouveränität zuweist521. 514 515 516 517 518 519 520 521
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XIX, § , S. 195. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XIX, § 7, S. 197. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XIX, § 8, S. 197. Vgl. die näheren Ausführungen bei Hoke, R. (1988), S. 241. Vgl. Hoke, R. (1988), S. 245.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Rechte und Pflichten der Magistraten bei Althusius
Der Magistratus erhält nur die Vertretung der Umsetzung der Rechte, welche aus der Volkssouveränität entstehen, ohne diese jedoch selbst inne zu haben. Zentrales Herrschaftsattribut ist dabei die „autoritas“522. Der Magistratus hat, obwohl scheinbar das Volk mit seiner Volkssouveränität der mächtigere Part im Staat ist, die nicht zu unterschätzende Möglichkeit, eigenmächtig zu handeln im Rahmen der Gesetze523 und ist somit nicht schwächstes Glied. Die Staatssouveränität kann im Konstrukt des Althusius trotzdem niemals die Volkssouveränität übersteigen. Mit dieser ursprünglichen Volkssouveränität postulierte Althusius eine Antithese zu Bodin’s Herrschersouveränität524. Der Magistratus hat das Recht und die Pflicht, die Verwaltung des Reiches zu organisieren und umzusetzen und die Staatsgewalt auszuüben. Eng verbunden mit dem Naturrecht bei Althusius (vgl. Kapitel 3.2.6.2.1) ist die „regula vivendi“ als Regel des Lebens und Regierens525, welche für alle Menschen gilt und diese somit dem Naturrecht und Gottes Gesetz unterworfen sind, was gleichzeitig bedeutet, daß sie niemals eine über eine absolute und über den bürgerlichen Gesetzen stehende Herrschaftsgewalt inne haben können526. Der Magistratus ist grundsätzlich dem Dekalog sowie den positiven Gesetzen verpflichtet527. Weiterhin soll der Magistratus ethische Tugenden wie z. B. Strenge, Beständigkeit, Kontinuität, Handlungs- und Entscheidungskraft528 sowie verschiedene innere und äußere Tugenden529 – welche gleichzeitig die Herrschaftstechniken sein sollen530 – vorweisen können, da er zu Wankelmut, sittlicher Entartung, Übermut, Sorglosigkeit und Gottlosigkeit neigt531. Ideal ist die Herrschaft, wenn sie gemäßigt ist und weder völlige Knechtschaft noch völlige Freiheit für das Volk bedeutet532; sie ist sicher und dauerhaft, wenn ein gerechtes, menschliches und von Liebe geprägtes Verhältnis zwischen Herrscher und Volk entsteht533. Die Autorität des Herrschers534 leitet Althusius von 522 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 433 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXV, § 1, S. 259. 523 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 444. 524 Vgl. Hoke, R. (1988), S. 246. 525 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 15 f., S. 225. 526 Vgl. die näheren Ausführungen zum Bezug zwischen Naturrecht und Souveränität bei Hüglin, Th. (1991), S. 204 ff. 527 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 48, S. 256. 528 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXV, § 1 ff., S. 259 ff. 529 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXV, § 25, S. 263. 530 Vgl. die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 440 f. 531 Vgl. die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 430 ff. und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 4 f., S. 247. 532 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 438. 533 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 440. 534 Vgl. die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 436.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
der Natur der Herrschaft und vom Fürsten als staatliches Organ ab und wird bei ihm mittels Vorliegen bestimmter Eigenschaften der Herrschaft und des Herrschers wie z. B. der Form der Herrschaft, der Macht oder der Sitten des Herrschers postuliert535. Die Anerkenntnis dieser Autorität durch das Volk ist einerseits von Natur aus und angeboren, andererseits erwoben und veränderlich536. Um die Rechte des Magistraten im Sinne der Ausübung der Staatsgewalt bei Althusius zu verstehen, ist nicht nur die Rechtskonstruktion des Herrschaftsvertrages als Mandatsverhältnis (vgl. Kapitel 3.2.3.1.1) ein Element, sondern es sind auch folgende weitere Elemente als Rechte – deren Inhaber das Volk ist – der Althusius’schen Konstruktion zu beleuchten, um die Staatsgewalt des Magistraten vollständig zu beschreiben537: – Nießbrauch Das Herrschaftsrecht der Magistraten ist ein beschränktes und vom Volk übertragenes. Insofern ist er Nutznießer, wobei der Nießbrauch niemals weiter gehen kann, als das, was vom Volk übertragen wurde. Dadurch wird ein Mißbrauch des Herrschaftsrechtes zum eigenen Nutzen und Vorteil des Magistraten ausgeschlossen538. „Dieses Nutzungsrecht ist ein persönliches und kann durch Verzichtserklärung keinem anderen als nur dem Eigentümer übertragen werden“539; weiterhin kann das Recht nicht abgetreten werden540. – Eigentum Der Magistrat ist nur Besitzer der Staatsgewalt und hat die Rechte der Allgemeinheit zu verwalten und auszuführen. Diese Rechte gehören der Allgemeinheit und stehen dem Magistraten zu, da sie ihm übertragen wurden541. Althusius schließt aus, daß die Güter und Rechte des Reiches im Eigentum des Magistraten stehen können und folgert daraus, daß der Magistrat z. B. das Reich nicht veräußern kann542. Der Magistrat kann jedoch über sein eigenes, privates und vom Gemeinschaftsvermögen zu unterscheidenden Vermögen vollständig verfügen543.
535 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXV, § 3, S. 259 und zu weiteren Kap. XXV, § 1 ff., S. 259 ff. 536 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 1, S. 246. 537 Vgl. die Ausführungen bei Reibstein, E. (1955), S. 203 ff. 538 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 5, S. 196. 539 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 37 1., S. 253. 540 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 37 8., S. 254. 541 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 1 ff., S. 195. 542 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 35, S. 253. 543 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 36 f., S. 253.
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– Rechtliche Unterscheidung der Herrschaft Der Begriff des öffentlichen Rechts gemäß heutigem Sprachgebrauch ist zu Zeiten Althusius’ anders zu interpretieren. Althusius erweitert dabei die Notationen von Bartolus und Covarruvias, welche eine Dreiteilung vornahmen544: – „dominium jurisdictionis“: Magistrat ist, wer die jurisdictio ausübt, – „dominium universale“: dominium, welches der Allgemeinheit oder einem Magistraten zusteht, jedoch nicht notwendigerweise mit einer jurisdictio verbunden ist, – „dominium particulare“: Privateigentum als dominium welches auf das Herrschaftsrecht grundsätzlich nicht anwendbar ist. Althusius reduziert in seiner ramistischen545 Dichotomie den dreigeteilten Begriff des Covarruvias durch Zusammenfassung des „dominium jurisdictionis“ und des „dominium universale“ auf zwei Begriffe, welche heute noch Bestand haben: Das öffentliche Eigentum und das Privateigentum546. Die Religion ist in der politischen Theorie des Althusius ein wichtiges Herrschaftsmittel für den Magistratus durch deren bewußt vorgenommene Instrumentalisierung547 mit der die weltlichen Herrscher erhebliche religiöse Kompetenzen inne hatten548. Die Souveränitätstheorie des Althusius in bezug auf den Magistratus ist somit als Vorläufer der Theorie der realen und der personalen Majestät zu betrachten549. b) Senate550 und Landstände551 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren552 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände – Die Ephoren als Souveränitätssubjekt bei Althusius
Das Volk muß zum Zwecke der Handlungsfähigkeit Repräsentanten bestimmen, die sogenannten Ephoren, welche zugleich als Ständegruppe etabliert werden: Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 206. Benannt nach der Vorgehensweise des reformierten Philosophen Petrus Ramus (bürgerlich Pierre de la Ramée), 1515 – 1571, (vgl. dazu Janssen, H. (1992), S. 35 f. sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XV f.), welcher von einer theoretischen hin zu einer praktischen Gliederungsweise als dialektische Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ging und die drei Grundsätze Zweckbestimmung der Wissenschaft, Verwendung allgemeingültiger, universal-zeitloser Elemente und adäquate Problemzuordnung verwendet (vgl. dazu Hüglin, Th. (1991), S. 80 ff.). Vergleiche z. B. dazu auch in Kapitel II.2.6.2.5 die typisch ramistische Gliederung des Rechts bei Althusius. Vgl. zur ramistischen Methode auch Strom, Ch. (1999). 546 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 208. 547 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 453. 548 Vgl. die Ausführungen bei Behnen, M. (1984), S. 456 f. 549 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Hoke, R. (1988), S. 247 ff. 550 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 551 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 552 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 544 545
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
„Beide, der König und die Ephoren sind sowohl vom Volk als auch von Gott eingesetzt. Von Gott mittelbar, vom Volk unmittelbar“ 553. – Die Rechte der Senate554 und Landstände555 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren556 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände bei Althusius
Die Souveränität sowie die Rechte der Ephoren müssen als stärker als die des Magistratus bezeichnet werden557, da Althusius den Ephoren sehr umfangreiche Rechte und Pflichten zuordnet: – Die Ephoren sind Repräsentanten des Volkes. – Die Ephoren haben das Recht zur Einsetzung und Kontrolle der Verwaltung558. – Die Ephoren haben das Recht zur Absetzung der Verwaltung. – Die Ephoren haben das Recht zur Ein- und Absetzung des Magistratus559. – Die Ephoren haben die Pflicht, die Rechte des Magistratus nach dessen Absetzung zu übernehmen. – Die Ephoren haben die Macht, über Legitimität und Illegitimität des Herrschers zu entscheiden560. Die Legitimation des Herrschers leitet Althusius vom herrschaftstheoretischen Grundbegriff der lipsianischen Neustoa ab, welche eine straffe Lenkung, den Gehorsam der Untertanen und die Wahrung der staatlichen Machtmittel erfordert561.
3.2.4.2 Souveränität in der EU Als Souveränität – bezogen auf die Souveränitätsart – bezeichnet man nach heutigem Verständnis562 „die höchste, nach innen und außen unabhängige staatliche Herrschaftsmacht und Entscheidungsgewalt“563 und deren Begründung bezüglich des Herrschaftsanspruches und Herrschaftsmonopols564. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XIX, § 69, S. 209. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 555 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 556 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 557 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 228 f. 558 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 63, S. 179. 559 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel XVIII, § 6, S. 179. 560 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 230 und dessen nähere Ausführungen zum Dilemma der Judicationsgewalt. 561 Vgl. Behnen, M. (1984), S. 435. 562 Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 563 Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 260 und ähnlich Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 592. 553 554
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Aus den vier historischen Funktionen der Souveränität (innere und äußere Abwehransprüche von Kirche und Reich, Fürstenentmachtung und Nationalprinzip, Schutz und Entkolonialisierung sowie regionalistisches bzw. universalistisches Verantwortungsdenken) sind folgende Aspekte für die EU relevant565: – Schutz und Entkolonialisierung
Die Souveränität als Begriff des Schutzes schwächerer gegenüber stärkerer Staatengebilde soll die Eigenständigkeit, Entwicklung und Entfaltung der Mitgliedstaaten der EU als multi-, inter- und supranationale Organisation fördern, nicht zuletzt durch die Abwehr von Nationalismus, die Polarisierung zu anderen Weltmächten sowie die Durchführung konsensualer Entscheidungsprozesse durch das Gleichheitsgebot. – Regionalistisches bzw. universalistisches Verantwortungsdenken
Die Krise des Nationalstaates (Weltkriege, grenzüberschreitende Umweltproblematik usw.) sowie die Herausbildung von integrierten Regionalordnungen wie in der EU führt zur Kritik am National- und Gewaltprinzip des klassischen Souveränitätsbegriffes und zur Herausbildung eines neuen Souveränitätsverständnisses hin zum regionalistischen und universalistischen Verantwortungsdenken. Die Verteilung der faktischen Souveränität innerhalb der EU bzw. ihrer Mitgliedstaaten wird an folgender Klassifizierung zu erörtern sein: – Souveränitätsart (Äußere und innere Souveränität), – Souveränitätsprinzip (Staats- und Volkssouveränität).
3.2.4.2.1 Äußere und innere Souveränität in der EU (Souveränitätsart) – Äußere Souveränität
Die äußere oder völkerrechtliche Souveränität der EU wird bestimmt durch die „rechtliche Unabhängigkeit eines Staates nach außen innerhalb der Schranken des Völkerrechts“566. Für die EU ergibt sich daher eine doppelte äußere Souveränität: Erstens ist der einzelne Mitgliedstaat gemäß der Souveränitätsdefinition nur teilsouverän, da bei bestimmten Rechtsgebieten auch durch das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3) die EU rechtsbestimmend ist und somit dem Mitgliedstaat die Souveränität durch den Vorrang des EU-Rechts entzogen ist. Der Mitgliedstaat ist durch die zwanghafte Ausübung des EU-Rechtes und die Urteilsbindung des EuGH fremdbestimmt; somit wurde ihm die Eigensouveränität entzogen. Dies gilt jedoch nicht für diejenigen Rechtsgebiete, welche in der Eigenverantwortung der Mitgliedstaaten liegen, da keine EU-Interessen die 564 565 566
Vgl. Seidelmann, R. (1998), S. 566. Vgl. die näheren Ausführungen bei Seidelmann, R. (1998), S. 567 f. Vgl. Herder Verlag (1988), S. 192.
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rechtliche Regelung durch die EU selbst erfordern. Zweitens ist die äußere Souveränität der EU selbst eine vollständige Souveränität, da das Rechtssystem der EU innerhalb der Grenzen des Völkerrechtes unabhängig ist. Die äußere Souveränität der EU muß im intrastaatlichen Gefüge mit den bestehenden wirtschaftlichen, militärischen und politischen Interdependenzen mehr als Handlungsfeld der Interessenkoordination mit anderen teilsouveränen Staaten oder supranationalen Organisationen gesehen werden. Die Souveränität ist diesem Gefüge nicht mehr als absolute Souveränität im Sinne einer Unabhängigkeit zu verstehen, sondern durch die komplexen Interessens- und Staatenverflechtungen bestimmt, innerhalb derer begrenzte Handlungsspielräume für wirtschaftliche, militärische und politische Aktionen in Abstimmung mit dem Umfeld möglich sind. – Innere Souveränität
Die Ausprägung der inneren Souveränität eines Staates ist zu messen an der Stellung der Staatsgewalt als rechtliche höchste Gewalt im Staat567. Die Staatsgewalt ist zu betrachten als Institut, die höchste Befugnis über die Wahl, Schaffung und Ausübung der Mittel zu haben, welche für die Erreichung des Staatszweckes und der Durchführung der Staatsaufgaben als erforderlich betrachtet wird568. Mittels einer geeigneten Staatsorganisation und der Bildung von Regulierungs-, Leistungs-, Führungs-, Lenkungs- und Koordinierungsorganen wird die Staatsgewalt, gebunden an den Staatszweck, ausgeübt. Um die vorrangigen Staatszwecke der EU zu verfolgen wie z. B. Friedenssicherung, sozialstaatliche Fürsorgepflicht oder industriegesellschaftliche Freiheit sind die Staatsorganisationen der Mitgliedstaaten uneingeschränkt geeignet wegen der Funktionsvollständigkeit und der Haushaltshoheit, die der EU wegen der noch unzureichenden finanziellen Mittel und der Teilzuständigkeiten aufgrund des Subsidiaritätsprinzips jedoch derzeit nur eingeschränkt geeignet.
3.2.4.2.2 Staats- und Volkssouveränität in der EU (Souveränitätsprinzip) Weiterhin ist bei der Erörterung der Souveränitätsfrage zu klären, ob innerhalb der EU nun eine Staatssouveränität oder eine Volkssouveränität vorliegt und wie diese im Vergleich zur Althusius’schen Souveränitätstheorie zu sehen ist. Der Begriff der (inneren) Staatssouveränität wird hier definiert analog zur Fürstensouveränität und wird unterschieden zu einer souveränen Gleichheit von Staaten auf der Ebene des Völkerrechts (äußere Staatssouveränität), welche Althusius nicht unterschied, da Gesellschaft und Staat identisch sind und somit auch eine Dichotomie zwischen Innen- und Außenpolitik definitionsgemäß unmöglich ist. 567 568
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 192. Vgl. Herder Verlag (1988), S. 205.
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– Staatssouveränität in der EU
Um die Staatssouveränität der EU etwa der Herrschersouveränität nach Althusius definitorisch anbei zu stellen hilft die Klärung der Frage nach der Funktion des die Staats- oder Herrschersouveränität inne habenden Organs: Die Regierungstätigkeit. „Regieren umfaßt die spezifisch politische Ausübung von Staatsgewalt in folgenden Teilbereichen: Akte der auswärtigen Gewalt (Abschluß von völkerrechtlichen Verträgen), Akte der inneren Staatsführung (Richtlinienkompetenz, Haushaltsgesetz, Organisationsgewalt, Antrag auf Parteiverbot), Einwirkung von Regierung und Parlament aufeinander (Mißtrauensvotum, Parlamentsauflösung, Ausübung der Gesetzesinitiative)“569. Die Ausübung der Staatssouveränität liegt demnach grundsätzlich nach dem Gewaltenteilungsprinzip bei den Organen: – Akte der auswärtigen Gewalt – Mitgliedstaaten: Außenministerium / Regierung, – EU: Europäisches Parlament (Zustimmung bei Völkerrechtlichen Verträgen und Anhörung bei GASP)570 und Rat der Europäischen Union (Entscheidungsorgan für GASP)571. – Akte der inneren Staatsführung – Mitgliedstaaten: Innenministerium / Regierung, – EU: Europäisches Parlament (Gesetzgebung, Haushaltsrechte, Kontrollrechte)572 und Rat der Europäischen Union (Gesetzgebung, Haushaltsrechte)573. – Wechselspiel von Regierung und Parlament – Mitgliedstaaten: Parlament / Regierung, – EU: Europäisches Parlament und Rat der Europäischen Union574. – Rechtssprechung – Mitgliedstaaten: Amts-, Landes- und Bundesgerichte, – EU: EuGH. In der EU, welche kein eigenständiger Staat ist (vgl. Kapitel 3.2.3.4), gibt es seit dem Vertrag von Amsterdam 1997 eine weitere Möglichkeit der Ausübung von Staatssouveränität: Bei schwerwiegenden oder anhaltenden Verletzungen von EU-Gesetzen durch einen Mitgliedstaat kann die EU Sanktionen gegen diesen Mitgliedstaat575 wie z. B. Aussetzung bestimmter Rechte einschließlich Stimmrechte oder Geldbußen verhängen, um die Einhaltung der Gesetze zu erzwingen. 569 570 571 572 573 574 575
Sutor, B. (1979), S. 194. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 27. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 9. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26 f. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 7. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 7. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 19.
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Dem Souveränitätsprinzip steht als weiteres rechtliches und politisches Ordnungsprinzip das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3) in einem Spannungsverhältnis (vgl. Kapitel 3.2.7.3.5) gegenüber576: Souveränität bedeutet Kompetenz und Macht seitens des Zentralstaates versus Subsidiarität als Leitprinzip der föderalistischen politischen Organisation577 mit der Forderung nach größtmöglicher Selbstbestimmung des Einzelnen sowie der Gemeinschaften578 mit der Basis der regulativen Idee dezentraler und föderalistischer Systeme mit dem Vorrang subnationaler Ebenen vor der gesamtstaatlichen Ebene579. – Volkssouveränität in der EU
Laut heutiger Definition ist Volkssouveränität „ein verfassungsrechtliches Prinzip aller Demokratien, das besagt, daß die höchste Gewalt des Staates und oberste Quelle der Legitimität das Staatsvolk selbst ist“580. Der Begriff wurde hergeleitet aus der klassischen Definition von Jean Bodin (1583), stammt daher explizit aus dem Spätmittelalter und ist somit als Begriffsdefinition in die Zeit Althusius’ einzuordnen und schon aus diesem Grunde unmittelbar vergleichbar: Souveränität ist „die absolute und dauernde Gewalt eines Staates . . . höchste Befehlsgewalt“581. Die Volkssouveränität als eine der Gesamtheit der Staatsbürger zustehende höchste Gewalt ist in der EU wesentlich an die demokratischen Prinzipien geknüpft, auf Gewaltenteilung aufgebaut und mit einer Grundrechtssystematik verbunden. Die Ausübung der Volkssouveränität erfolgt über allgemeine, gleiche und geheime Wahlsysteme für die Volksvertretung, den verfassungsgebenden Volkswillen sowie direktdemokratische Sachentscheidungen582 und ist heute ein verfassungsrechtliches Prinzip. Das Parlament als Versammlung der Volksvertreter übt die Volkssouveränität aus. Dabei ist die Stellung des Parlaments in der EU und den Mitgliedstaaten ungleich schwächer als die des Althusius’schen Pendants, den Ephoren, welche die Macht eines Tyrannenmordes inne haben583, übersetzt demnach die Ermordung der Staatsregierung als legitimiertes Recht verschrieben bekommen haben. Auch die Bestimmung der Grenzen einer Regierung wie bei den Ephoren bei Althusius sind nach der heutigen Souveränitätstheorie nicht vorgesehen; eine Absetzung der Regierung der EU oder der Mitgliedstaaten wegen der Durchführung tyrannischer oder diktatorischer Regimezüge ist durch das Parlament grundsätzlich über das Mißtrauensvotum (vgl. 576 Vgl. die Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Subsidiarität und Souveränität bei Wyduckel, D. (2002), S. 537 ff. 577 Vgl. Würtenberger, Th. (1997), S. 356 und Stewing, C. (1992), S. 4. 578 Vgl. Laufer, H. (1991), S. 262. 579 Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 631. 580 Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 308. 581 Zitiert aus: Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 1058. 582 Vgl. Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 694. 583 Vgl. Schmidt-Biggemann, W. (1988), S. 229.
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Kap. 3.2.1.3.2 d)) möglich im Falle einer Grundgesetzverletzung durch tyrannische oder diktatorische Handlungsweisen. Die Macht des Parlaments geht jedoch nicht so weit wie die der Ephoren, über Legitimität oder Illegitimität der Regierung zu entscheiden; diese Funktion obliegt heute dem Gesetz selbst, wobei sich die Ephoren auch grundsätzlich auch an die Verfassung zu halten hatten. Im Vergleich der politischen Theorie des Althusius zur EU wurde die Regelungsfunktion der Tyrannis oder Diktatur also von den Volksvertretern hin zum Gesetz verschoben: In Althusius’scher Sprachweise hat man heute den Ephoren (Parlament) Kompetenzen entzogen und auf die reale (Grundgesetz), nicht jedoch auf die personale Majestät (Bundeskanzler oder Präsident) übertragen.
3.2.4.2.3 Volks- und Staatssouveränitätsdefizit in der EU? Zum Stand der Volks- und der Staatssouveränität in der EU bringen nachfolgende Ausführungen mögliche Handlungsdefizite im demokratischen System nach oben, welche neben dem Gewaltenteilungsdefizit (vgl. Kapitel 3.2.6.2.7.2) auftauchen. – Demokratiedefizit der EU auf Staatssouveränitätsebene
Mit der Systematik der ausschließlich sekundären Legitimation von EU-Entscheidungen über die verfassten, demokratischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten entsteht sowohl ein Legitimations- als auch ein Demokratieproblem dadurch, daß die Entscheidungen nicht direkt demokratisch durch die Entscheidungsfindungsebene Mitgliedstaaten sind. Dies wirft die Frage auf, wem nun die Staatssouveränität zuzuweisen ist: Den Mitgliedstaaten oder der EU584. Weiterhin zeigt sich das Demokratiedefizit in der Tatsache, daß das Parlament gemäß dem jeweils im Mitgliedstaat geltendem Wahlrecht und nicht auf einheitlichem EU-Wahlrecht basierend gewählt wird sowie in den eingeschränkten Funktionen des Parlaments (Beratungs-, Kontroll- und wenige Mitentscheidungsbefugnisse)585. Das Demokratiedefizit der EU und die damit verbundene Distanz zur Basis – dem Volk – wird sowohl in der Wissenschaft als auch in der Öffentlichkeit diskutiert und als erhebliches Manko betrachtet586. Neue Nahrung erhielt die Demokratiedefizitdiskussion im Vorfeld der Ratifizierung der EU-Verfassung (vgl. Kapitel 4.2.1.6), wo Verfassungsgegner nachfolgende Gründe angaben587: – Entmachtung der nationalen Parlamente, – Zentralisierungsdruck in Richtung EU, 584 585 586 587
Vgl. Geser, H. (1994), S. 184. Vgl. die Ausführungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 9 f. Vgl. FTD (2005d), S. 35. Vgl. SZ (2005b), S. 2.
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– Kompetenzausweitung der EU, – Entziehung der Gesetzgebungsbefugnis und damit Entscheidungen nicht durch vom Bürger gewählte Parlamente sondern aus den „Amtsstuben der Brüsseler Kommission“, – Versagung des Zweckes eines Parlamentes, Entscheidungen zu fällen und Initiativen zu entwickeln. Gerd Müller, der europapolitische Sprecher und stellvertretende Vorsitzende der CSU-Landesgruppe im deutschen Bundestag kommt durch nachfolgende Aussage sogar zu dem Schluß, daß sich das Demokratiedefizit mit der EU-Verfassung verstärkt: „Mit diesem Verfassungsentwurf stärken sich die Bürokraten. Europa wird praktisch eine Veranstaltung der Verwaltungen, Bürokraten und Regierungen. Die Parlamente werden entmachtet. Das Demokratiedefizit wächst dramatisch“588. Dagegen argumentiert Peter Huber, Professor für Öffentliches Recht und Staatsphilosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität München: „Der Vertrag über die EU-Verfassung ermöglicht eine bessere parlamentarische Kontrolle des europäischen Rechtsetzungsprozesses. Das EU-Parlament ist dabei der große Gewinner. Seine Mitentscheidungsrechte werden mehr als verdoppelt, seine Position gegenüber der Kommission gestärkt, und selbst im Verfahren der Verfassungsänderung hat es künftig ein gewichtiges Wort mitzureden. Auch die nationalen Parlamente sehen sich aufgewertet. Nach dem Protokoll über die Rolle der nationalen Parlamente in der EU werden sie in Zukunft schon von der Kommission in das europäische Rechtsetzungsverfahren einbezogen, und sie bekommen das Recht, die Subsidiarität europäischer Rechtsakte sicherzustellen und durch den Europäischen Gerichtshof überprüfen zu lassen. Das ist auch dringend notwendig. Denn das eigentliche „Demokratiedefizit“ der EU besteht – anders als oberflächliche Äußerungen dies häufig meinen – weniger darin, daß das EU-Parlament zu wenig Kompetenzen besäße, sondern darin, daß die Kontrolle der im Rat zusammenkommenden Regierungen durch die nationalen Parlamente nicht funktioniert“589. – Volkssouveränität auf EU-Ebene Eine der klassischen Anwendungsgebiete der Volkssouveränität ist der Ausdruck des Volkswillens im Hinblick auf den Entscheid einer Verfassungsgebung. Bei der klassischen Verfassungsgebung hat die Volkssouveränität fundamentale Bedeutung: Eine demokratisch gewählte verfassungsgebende Versammlung wird mit dem besonderen Auftrag der Erstellung eines Verfassungsentwurfes beauftragt und hat diesen sodann dem Volke zum Entscheid vorzulegen. Im bisherigen Verfassungsgebungsprozeß der EU ist das Prinzip der Volkssouveränität nicht umgesetzt worden. Die Verfassungsentwürfe wurden nicht der breiten Öffentlichkeit vorgestellt, ein Volksentscheid – als oberstes Gebot einer Volkssouveränität – zur Verfassung ist bisher nicht vorgesehen. 588 589
Hamburger Abendblatt (2005). Die Welt (2005a).
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Der Verfassungskonvent unter dem französischen Präsidenten Valéry Giscard d’Estaing hat nach dem Gerüstentwurf, welcher im Oktober 2002 präsentiert wurde, einen Vertragsentwurf mit etwa 460 Artikeln für eine gesamteuropäische Verfassung ausgearbeitet. Über den Entwurf wurde am 20. 06. 2003 auf dem EUGipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs im nordgriechischen Porto Karras beraten590 und er wurde am 18. 07. 2003 der italienischen EU-Ratspräsidentschaft übergeben591. Darüber haben sodann die Staats- und Regierungschefs zu beschließen und abschließend müssen z. B. in der Bundesrepublik Deutschland der Bundestag und der Bundesrat jeweils mit Zweidrittelmehrheit zustimmen. Insofern liegt nur eine indirekte, jedoch keine direkte Volkssouveränität vor, wenngleich auch gemäß einer EU-Bürgerumfrage Anfang 2003 70 % der befragten EU-Bürger und 58 % der Bürger der Beitrittsstaaten sich für eine europäische Verfassung aussprachen, so in Italien 82 %, Spanien 82 %, Ungarn 81 %, Deutschland 71 %, Dänemark 44 %, Großbritannien 43 % und Schweden 30 %592. – Staatssouveränität auf internationale Ebene
Auf internationaler Ebene hat die EU trotz ihrer Stellung als möglicher Partner für den Abschluß völkerrechtlicher Verträge nicht die gleiche Macht, wie ein verfasster, eigenständiger Staat. Um diese Problematik wurde die Diskussion der Einführung eines EU-Außenministers in der jüngsten Vergangenheit sowie die Diskussion des Pleven-Plans 1950 über eine EU-Armee zur Durchsetzung der EU-Ansprüche entfacht, welche bisher beide erfolglos sind. Ob die Bündnisse mit der NATO und der WU (vgl. Kapitel 2.2.1.1) einen adäquaten Ersatz bieten können, muß durch die Einbindung anderer internationaler Interessen als die der EU durch die Mitgliedschaft von nicht EU-Ländern doch stark bezweifelt werden. Aus diesen Ausführungen läßt sich doch derzeit ein erhebliches Staatssouveränitätsdefizit für die EU ausmachen. – Volks- und Staatssouveränitätsdefizit der EU im Vergleich zu Althusius
Vergleicht man die beiden Souveränitätsarten so kommt eine sehr unterschiedliche Stellung der Volks- und der Staatsmacht zutage: – Dem Volk wurde bei Althusius wegen folgender Elemente eine mindestens gleich starke Souveränität zugedacht, als dies in der EU der Fall ist, wie z. B. das Wiederstandsrecht belegt. Faktisch dürfte das Widerstandsrecht bei Althusius gleich einem Mißtrauensvotum in der EU zu stellen sein (vgl. Kapitel 3.2.4.2.2), geht jedoch nicht bis zur Absetzung oder gar Tötung der Regierenden. – Direkter Durchgriff der Volkssouveränität: Bei der Ephorenwahl bei Althusius ist die Volkssouveränität der bei den Parlamentswahlen in der EU gleich zu stellen, jedoch ist die Ephorenwahl eine direkte, die Wahlen der Regierungs590 591 592
SZ Süddeutsche Zeitung (2003a), S. 1. Vgl. Europa-Union Bayern e.V. (2003b), S. 4. Vgl. Europa-Union Bayern e.V. (2003b), S. 4.
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organe der EU (Rat, Kommission) eine indirekte über die Organe der Mitgliedstaaten. – Entscheidungen des Volkes: Bei Althusius werden die Belange des Volkes direkt in den Komitien durch den Bürger beraten593. – Der Staat hat bei Althusius eine monarchische Stellung in Form des Magistraten, welche nur scheinbar durch die voran gestellte Gottes- sowie Volkssouveränität an Macht einbüßt. Insgesamt ist der Vergleich so zu werten, daß theoretisch die Volkssouveränität bei Althusius stärker ist als in der EU, faktisch jedoch die Staatssouveränität zu Zeiten Althusius’schon aus dem historischen Kontext heraus eindeutig dominierte.
3.2.5 Repräsentationstheorie 3.2.5.1 Korporation und Repräsentation zu Zeiten Althusius’ 3.2.5.1.1 Die kanonistische Korporationslehre des Mittelalters Im Mittelalter beeinflussten unterschiedliche Ausprägungen der Korporationslehre den Theoriebegriff der Repräsentation, obwohl die Korporationslehre schon in der Antike594 und der römischen Jurisprudenz595 ausgeprägt war. Unmittelbar verknüpft mit dem Repräsentationsbegriff ist die Frage der Organisation von Teileinheiten, deren Rechtsstellung und Rechtssubjektivität sowie deren Vertretung. Diese Fragen wurde eingehend in den unterschiedlichen Korporationslehren erörtert: – Korporationslehre der zivilistischen Glossatoren, – Korporationslehre der Kanonisten, – Korporationslehre der Legisten596, – romanistisch-kanonistische Korporationslehre597,
wovon im Folgenden die Korporationslehren der Glossatoren und der Kanonisten maßgeblich prägend waren und daher näher spezifiziert werden. – Korporationslehre der zivilistischen Glossatoren598
Die Glossatoren599 waren aufbauend auf den Lehren der Antike und der römischen Jurisprudenz die ersten Gelehrten, welche die Korporationslehre im MitVgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 15, S. 340. Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1954), S. 5 ff. 595 Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1954), S. 129 ff. 596 Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1954), S. 351 ff. 597 Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1954), S. 416 ff. 598 Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 187 ff. 599 Glossatoren sind gemäß Dudendefinition Verfasser von Worterklärungen, eine Glosse ist die Erklärung eines Wortes (griech. „Zunge“). 593 594
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telalter aufnahmen. Sie waren diejenigen, welche bei den Rechtsinstitutionen die heute selbstverständliche Frage nach der rechtlichen Natur und dem Wesen der Sache stellten und den Anfang der juristischen Konstruktion staatlicher und kirchlicher Verbände markierten. Zentraler Punkt war die Frage der Identität der „universitas“ mit der Summe der Glieder sowie die Identität des Ganzen mit dem Inbegriff der Teile, welche jedoch durch die Glossatoren nicht unwidersprüchlich gelöst werden konnte. Der Begriff der Korporation war sehr weit und unbestimmt definiert als das Rechtssubjekt eines anerkannten Verbandes und somit auch der Kirche. Schon hier stellte sich das – damals zugegeben sehr praktische – Problem der Vertretungsmacht der Korporation durch einen oder mehrere Repräsentanten, wie z. B. bei Rechtstreiten über das Kirchengut mit der Frage der alleinigen Vertretungsmacht durch den Prälaten oder ein Kollegium600. Die Glossatoren bezogen das von der mit öffentlichen Funktionen begeleiteten Gesamtheit oder deren Vorsteher (= Repräsentanten) Gesagte auf die Sphäre der juristischen Person und definierten somit den Verband als einheitliches Rechtssubjekt, welches sich jedoch mit der Gesamtheit deckt601. Korporationen benötigten für ihre Legalität eine staatliche Approbation und wurden von den Glossatoren noch nicht in notwendige und willkürliche sowie rein personale, territoriale und real bedingte Korporationen unterschieden. Sie hatten jedoch schon eine eigene Rechts- und damit Vermögensfähigkeit602, Deliktsfähigkeit603, Willens- und Handlungsfähigkeit sowie eine korporative Gerichtsbarkeit, für deren Verhandlungen ein Repräsentant zwingend aufgrund der Unmöglichkeit der Versammlung Aller notwendig war604. – Korporationslehre der Kanonisten
Die Korporationslehre der Kanonisten entstand im 13. Jahrhundert605. Sie beschreibt die Notwendigkeit der Verfasstheit eines Volkes, wenn es „korporativ als politische Handlungs- und Rechtsetzungsgemeinschaft auftreten wolle“606. Dies war ein entscheidender Fortschritt zum vorherigen Begriff des „populus“, welcher bis dahin als reine Ansammlung von Menschen im Sinne des abstrakten Kollektivbegriffes galt. Die Korporationslehre der Kanonisten607 wurde vom Kanonistenpapst Innocenz IV. in seinen Dekretalen und dem Kommentar zu den eigenen Dekretalen in der Mitte des 13. Jahrhunderts sowie von dem Bolognesen Kanonisten Johannes Andreae im frühen 14. Jahrhundert mit dem Begriff der „persona repraesentata“ entwickelt. Man sah die Kirche als ein System von 600 601 602 603 604 605 606 607
Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 196. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 203 f. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 208 f. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 234. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 217 f., S. 231 ff. und S. 338 ff. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 190 und S. 245. Walther, H. G. (1998), S. 7. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1954), S. 246 ff.
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hierarchisch gestuften Korporationen, in welchen zum einen die Personalität der Korporation nicht zu weit getrieben werden sollte und zum anderen die Summe der Mitglieder einer Korporation weniger ist als das Ganze608. Auch in der Dekretalensammlung Gregors IX. von 1234 war das 3. Buch dem Patronatsrecht gewidmet609. Bei dieser Weiterentwicklung des Begriffes vom abstrakten Kollektivbegriff hin zum konzeptionellen Staatsbegriff wurde die Frage der Legitimität und der Legalität des Kollektivs ausführlich diskutiert610. Die Übertragung der kanonistischen Korporationslehre auf die politische Theorie erfolgte durch Baldus de Ubaldis, welcher zugleich Kirchenrechtslehrer war, in seiner politischen Theorie „respublica“ mit einem Fokus auf die Legalitätsfrage von Korporationen, losgelöst von Mitgliederfluktuation und Führungswechseln. Baldus unterscheidet die reale, natürliche Person des Herrschers von der quasi-juristischen, unsterblichen Person („persona repraesentata“) der Amtsgewalt, wobei die natürliche Person als Repräsentant im Auftrag der öffentlichen Person durch einen intellektuellen Akt handelt und die Herrschaftsbefugnis innerhalb der politischen Gemeinschaft der unsterblichen Person zugewiesen wird, da die reale Person die Repräsentationsfunktion nicht erfüllen kann611. Durch die reale Person wird nur die Handlungsfähigkeit sicher gestellt, welche naturgemäß in der unsterblichen Person nicht gegeben sein kann612. Die juristische Person als Ursprung der Notwendigkeit einer Repräsentation war seit jeher Gegenstand des Kirchenrechtes: Im römisch-rechtlichen Kontext ist sie zu finden in einer Fülle von Satzungen, welche die Rechte und Pflichten von Vorstehern, Verwaltern und Mitgliedern von denen der Kirche selbst trennen, im germanischen Kontext steht dagegen die Anerkennung lokaler Autonomie und Selbstverwaltung, die genossenschaftliche Organisation der Klerikergesamtheiten, die Absonderung und Verknüpfung der Kirchenhäupter und der klerikalen Genossenschaften, die Ausbildung von „jura singulorum“ am Kirchengut, die objektive Absonderung des Kirchenvermögens in selbständige, zweckbestimmte Massen im Mittelpunkt, während aus kirchenrechtlicher Sicht der juristische Vergleich zwischen Kirche und Leib Christi, die Heraushebung des Kirchengutes aus dem irdischen Recht, die Beziehung zwischen Majoritäts- und Autoritätsprinzip und die Begrenzung der Autonomie wichtige Inhalte waren613. Die Kanonisten übertrugen ihre Korporationslehre analog auf das weltliche Verbandswesen, welches parallel zum kirchlichen gesehen wurde: Der universellen Kirche entsprach das universelle Reich, die Einzelkirchen den Ländern und 608 609 610 611 612 613
Vgl. Walther, H. G. (1998), S. 8. Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 117. Vgl. Walther, H. G. (1998), S. 7. Vgl. Walther, H. G. (1998), S. 8 f. Vgl. Walther, H. G. (1998), S. 9. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 244.
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Städten, die verselbständigten Kirchenämter den weltlichen Herrschaftsrechten und Ämtern sowie die klerikalen Kollegien den ständischen Sonderkorporationen614. Der Begriff der Repräsentation entstand maßgeblich innerhalb der kanonistischen Korporationslehre, welche sich dem Entwicklungsprozeß für eine Verfasstheit der Kirche im späten Mittelalter verschrieben hatte. Die Parallelität zwischen Verfasstheit von Kirche615 und Staat war zu dieser Zeit unmittelbar gegeben. Insofern hat der damals eher theologische Begriff der Repräsentation großen Einfluß auf den politischen Begriff (vgl. Kapitel 3.2.5.1.2). In der Staatslehre der frühen Neuzeit wurden zwei Arten der Repräsentation unterschieden616: Die politische und herrschaftsbegründende Repräsentation, in welcher Kaiser und Reichsstände das Reich repräsentieren und gesandtschaftliche oder symbolische Repräsentation durch Stellvertreter, Insignien usw.
3.2.5.1.2 Der Begriff der Repräsentation bei Althusius Die Begriffsunterscheidung des Repräsentationsbegriffes soll unter nachfolgenden drei Aspekten geschehen, da im Folgenden (vgl. Kapitel 3.2.5.2.2) der Repräsentationsbegriff in der heutigen politischen Theorie erörtert wird und das Verständnis des Begriffes zu Zeiten Althusius’ mit diesem verglichen werden soll: – Der sprachliche Begriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, – Der theologisch-juristische Repräsentationsbegriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit: Prägend für den Begriff war sicherlich die theologische Diskussion dieser Zeit, vor allem im Kontext der Kanonisten (vgl. Kapitel 3.2.5.1.1), – Der politische Repräsentationsbegriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit: Der Einfluß des von Althusius oft zitierten Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342)617 auf den Repräsentationsbegriff.
a) Der sprachliche Repräsentationsbegriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Im „Lexicon philosophicum, quo tamquam clave philosophiae fores aperiuntur“ (Philosophisches Lexikon, durch das sich die Tore der Philosophie wie mit einem Schlüssel öffnen) von 1613 des Marburger Professors Rudolph Göckel (Goclenius) wurde der Begriff „repraesentare“ mit „bezeichnen“ oder „etwas Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 276. Vgl. die Ausführungen zum Verhältnis von Kirche und Staat sowie zur presbyterialsynodalen Verfassung der Kirche im Mittelalter bei Rohls, J. (2002), S. 49 ff. 616 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 173. 617 Vgl. auch die Ausführungen zu Marsilius bei Reibstein, E. (1955), S. 100 f. 614 615
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gegenwärtig machen“ übersetzt618. Er hatte jedoch auch noch die Bedeutung der Leistung, Gestellung, Barzahlung oder Vorführung, wie in Johann Heinrich Zedlers „Grosses vollständiges Universal-Lexikon aller Wissenschaften und Künste“ aus 1742 beschrieben619. b) Der theologisch-juristische Repräsentationsbegriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Der Ursprung des Begriffes ist auf die paulinische und deuteropaulinische Theologie mit dem Begriff des Leib Christi620 zurückzuführen, in welcher das geglaubte „corpus Christi mysticum“ als Heilsanstalt göttlicher Stiftung verstanden wurde. Die Beschluß- und Handlungsunfähigkeit der Gesamtheit der Gläubigen und deren Funktionäre als Repräsentanten der anstaltlichen Einheit wurde mit der „persona repraesentans“ gelöst621. Dabei ist zwischen der „persona repraesentata“ als das Vor- und Dargestellte und dem von ihr abhängigen Repräsentanten, der ihre Rechte ausübt, zu unterscheiden. Die Repräsentationsproblematik der Glossatoren (vgl. Kapitel 3.2.5.1.1) spiegelte sich auch im theologisch-juristischen Repräsentationsbegriff wieder durch die Gliederung von Institutionen innerhalb der Korporation622: – Institutionen, welche aufgrund der Schwierigkeit des Zustandekommens einmütiger Gesamttätigkeit zustande kommen (Majoritätsprinzip = Repräsentativprinzip) mit der Problematik der Geltung des Mehrheitswillens sowie der Repräsentation der Gesamtheit durch eine Repräsentantenversammlung. – Institutionen, welche die Vornahme von Handlungen für die Korporation ermöglichen sollen, die ihrer Natur nach nicht von Versammlungen, sondern nur von Einzelpersonen vorgenommen werden können (Prinzip der Stellvertretung durch korporative Vorsteherschaft, sonstiges korporatives Beamtentum sowie korporative Einzelvollmacht). Das Repräsentativprinzip wurde auf die gesetzliche Fiktion begründet, daß bei Unmöglichkeit einer Versammlung Aller ein Kollegium gewählter Repräsentanten oder die Mehrheit dieses Kollegiums an dem Beschluß Aller statt Beschlüsse fassen und ausführen kann. Die rechtliche Vertretungsmacht des Repräsentanten kann darüber allein jedoch noch in den Begriff hinein interpretiert werden. Es muß unterschieden werden zwiVgl. Hofmann, H. (2003), S. 80. Vgl. Fußnote 1, Hofmann, H. (2003), S. 116. 620 So z. B. in Röm. 12, 4 ff.: Denn gleicherweise als wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, also sind viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des anderen Glied oder 1.Kor.6,15: Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Christi Glieder sind? oder Kol.1,18: Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde oder Eph.4, 15 f.: der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammen gefügt ist und ein Glied am anderen hanget. 621 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 119. 622 Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 219 ff. 618 619
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schen der körperlichen Vertretung623 durch abbildliche Repräsentation und der rechtlichen Vertretung624. Letztere kam erst im 13. Jahrhundert durch den Versuch der Kanonisten, die Gestalt der Kirche korporationsrechtlich zu erfassen in der kanonistischen Korporationslehre mit der ekklesiologischen Verselbständigung des Corpus-mysticum-Gedankens zustande: Thomas von Aquin bezeichnet die Gesamtkirche („tota Ecclesia“) wegen ihrer bildlichen Ähnlichkeit (Körper und Glieder) und Entsprechung mit dem natürlichen Leib des Menschen als einen „mystischen Leib“, nicht jedoch das „corpus mysticum Christi“625. Die Gesamtkirche wird verstanden als notwendig einheitlicher Organismus, welcher sich in Analogie zum menschlichen Körper in eine große Zahl unter sich zusammen hängender Glieder unterteilt; sie ist also zu begreifen als Anstalt mit eigener Rechtspersönlichkeit626. In diesem Sinne wird der Begriff auch bei dem Kanonisten-Papst Innozenz IV. (1243 – 1254) – welcher auch als Begründer der Fiktionstheorie bezeichnet wird627 – und dem in Padua und Bologna lehrenden Johann Andreae (ca. 1270 – 1348) verwendet628 (vgl. auch Kapitel 3.2.5.1.1). Der Juristen-Papst Innozenz IV. hat gleichsam beschrieben, daß fiktive Personen als unleibliche Wesen nicht der Exkommunikation verfallen, nicht deliktsfähig und nicht wie natürliche Personen bestraft werden können, nicht als Taufpaten in Frage kommen, nur durch ihre Glieder handlungsfähig seien und dergleichen mehr629. Die Korporation als „persona ficta“ war somit ein mit einer fiktiven Natur behaftetes, künstliches Rechtssubjekt mit Rechts-, Gerichts- und Vermögensfähigkeit, welches selbst nach dem Fortfall seiner Glieder als bestandsfähig gesehen wurde630. In der Korporationslehre wandelte sich allmählich der Begriff „corpus mysticum“ – dessen Gegenstück das corpus naturale der natürlichen Person ist – hin zum eher juristischen Begriff des „corpus fictum“ und auch des „corpus repraesentatum“, wie z. B. beim Erzbischof Nicolaus de Tudeschis von Palermo (Panormitanus, y 1453). Die Rechtseinheit der mystischen Körper entsteht juristisch dadurch, daß der repräsentierte oder fingierte Körper als eine in ihrer Bildähnlichkeit gegliederte kollektive Einheit zu verstehen ist, wie z. B. bei dem Kanonisten Johannes von Anania (y 1457) oder Franciscus Zabarella in seiner Schrift von 1602631. Die kanonistische Korporationslehre war maßgeblich an der Entwicklung des Begriffes der RepräDurch physische Repräsentation der Vertretungsperson. Durch Vertretungsmacht einer Rechtskonstruktion. 625 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 125. 626 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 251. 627 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 132. 628 Vgl. die näheren Ausführungen bei Hofmann, H. (2003), S. 126 ff. 629 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 133 und Gierke, O. von (1954), S. 280 f. 630 Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 277 und S. 283; die persona ficta ist also auch nach dem Fortfall ihrer Glieder bestandsfähig, jedoch nicht handlungsfähig: dies ist heute analog zu einer GmbH zu sehen, deren Rechtsträger (der sog. GmbH-Mantel) auch nach Entlassung aller Mitarbeiter und des Geschäftsführer rechtswirksam bleibt, jedoch handlungsunfähig ist. 631 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 130 f. 623 624
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sentation beteiligt (vgl. Kapitel 3.2.5.1.1), da dieser ein quasi-politischer Begriff war: Die Korporation befand sich im Wiederstreit zwischen einer Institution der vielgliedrigen, funktionsdifferenzierten Einheit und einer abstrakten, idealen Rechtspersönlichkeit im Sinne einer fingierten Person, welche nach bestimmten Normen durch natürliche Personen vertreten wird632. Dabei ging man schon davon aus, daß die Korporation (= Kirche) nicht im Repräsentanten (= Prälat mit Kollegium) enthalten ist, sondern der Repräsentant als davon getrenntes Subjekt nur mit deren Vertretung und Verwaltung betraut sei633. Die Repräsentanten üben die Rechte der Gesamtheit in einer Repräsentantenversammlung aus, da diese durch die Anzahl der Einzelmitglieder als undurchführbar im Sinne einer Vollversammlung erscheint. Die Versammlung der Repräsentanten hat dabei die gleiche Rechtswirkung wie eine Vollversammlung. Dieses Prinzip wurde durchwegs für die Stellung der Konzilien innerhalb der Kirche verwendet; so sprach man dem Kollegium der Kardinäle die Repräsentationsbefugnis für die Wahl des Papstes zu634. Innerhalb der Lehre von den Korporationsbeschlüssen wurde von den Kanonisten klar kommuniziert, daß Willensakte von Korporationen zwar durch die Willenserklärung der Einzelnen, jedoch in der Funktion der Vertretung der juristischen Person der Korporation in Beachtung der gesetzes- und verfassungskonformen Normen erfolgt und somit nur unter diesen Prämissen als Korporationsbeschluß im Sinne einer wirksamen und legitimierten Repräsentation gelten kann und ansonsten nur als Willensakt einzelner Individuen zu sehen ist635. Zur Beschlußfassung ist die Versammlung am rechten bzw. angesagten Ort, zur rechten, festgesetzten Zeit nach vorangegangener gehöriger Berufung und Ladung Voraussetzung636, eine Beschlußfähigkeit ist bei Anwesenheit von mindestens zwei Dritteln – von bestimmten Ausnahmen abgesehen – der Mitglieder erst möglich (Majoritätsprinzip)637. c) Der politische Repräsentationsbegriff in der Terminologie des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit Der Begriff der Repräsentation war schon im 15. Jahrhundert in der Korporationslehre bekannt. Auf dem Mainzer Kongreß von 1441 unterschied Johannes von Segovia vier Arten der Repräsentation: a) Repräsentation kraft Bildähnlichkeit b) natürliche, durch Abstammung bewirkte Repräsentation c) Vergegenwärtigung vermöge einer Vollmacht sowie d) Repräsentation kraft Identität als besondere, von der Vertretung abgehobene Art der Repräsentation. Bei der Identitätsrepräsentation nach von Segovia ist die Rechts- bzw. Handlungsmacht des Repräsentanten identisch und eben nicht geringer als die der Repräsentierten638. 632 633 634 635 636 637 638
Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 214 f. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 256 und S. 258 f. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 211 f. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 313. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 317. Vgl. Gierke, O. von (1954), S. 320. Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 212.
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Auch in der Folgezeit wurde der Begriff der Identitätsrepräsentation von den anderen Bedeutungen unterschieden, so auch in der kanonistischen Korporationslehre (siehe oben: theologisch-juristischer Repräsentationsbegriff und vgl. Kapitel 3.2.5.1.1): Erstens wurde der Korporationsvorsteher als ein Anderer („alii“), also nicht der ihn vertretenen Gemeinschaft zugehörig betrachtet, während z. B. bei Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342)639 der Repräsentant in Gestalt der Ratsversammlung eines Stadtvolkes als Teil des Ganzen zu begreifen war. Zweitens ist bei der Identitätsrepräsentation die Identität des Handelnden mit dem aus dieser Handlung berechtigten und verpflichteten Subjekt nicht zwingend identisch640. Marsilius von Padua prägte die politische Bedeutung des Begriffes entscheidend in seinem Werk „Defensor pacis“ (Der Verteidiger des Friedens) mit. Marsilius gilt als Verfechter des Repräsentativprinzips im Sinne seines demokratischen Radikalismus. In Kapitel 12 und 13 des ersten Teils wird das Prinzip unter Bezugnahme auf die Gesetzgebungskompetenz und das Gesetzgebungsverfahren behandelt. Gesetze werden als verbindliche Vorschriften mit Sanktionsfolge bei Nichtbeachtung gesehen, wobei nur Vernünftiges und Gutes sowie dem Gemeinwohl Förderliches Gesetz werden sollte. Eine qualifizierte Gesetzgebung kann unter Negation der Willkür des Einzelnen und der Selbstsüchtigkeit des Oligarchen nur durch die ordentlich verfasste Bürgerschaft im Ganzen erfolgen. Die Gesetzgebungsvollmacht steht somit der Gesamtheit der Bürger zu, was gleich zu setzen ist mit der Mehrheit der Bürger. Dies wiederum schließt eine Übertragung der Gesetzgebungsbefugnis auf eine oder mehrere Personen nicht aus. Dies ist sogar gewollt, da die Gesamtheit der Bürger als weniger gebildete Menge weder in der Lage ist, entsprechende Gesetzesentwürfe auszufertigen, noch sie mit kritischer Vernunft zu beurteilen641. Der Gesetzgebungsausschuß muß bevollmächtigt werden. Er repräsentiert jedoch nicht die Bürgerschaft und wird nicht mit ihr identifiziert, sondern vermittelt nur deren Autorität mittels Spezialermächtigung. Die Repräsentation ist daher nicht statisch oder essentiell zu verstehen, sondern dynamisch als Aktionen des tatsächlich bestimmenden Teils der Bürgerschaft. Der Begriff ist demnach nicht als Stellvertretung oder Organschaft zu sehen, sondern sollte besser mit „Handeln als . . .“ übersetzt werden642.
Vgl. auch die Ausführungen zu Marsilius bei Reibstein, E. (1955), S. 100 f. Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 216. Dazu ein Beispiel: wenn der Kaiser Krieg anordnet, ist das verpflichtete Subjekt das Volk und der für das verpflichtete Subjekt Handelnde der Kaiser; dies bedeutet, daß derjenige, der die Entscheidung fällt, nicht identisch ist mit denjenigen, die die Entscheidung betrifft. 641 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 193 ff. 642 Vgl. Hofmann, H. (2003), S. 211. 639 640
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3.2.5.1.3 Das Repräsentationsprinzip bei Althusius Die kanonistische Korporationslehre des Mittelalters wurde von verschiedenen Vertretern auf die Staatsorganisation übertragen und in der politischen Diskussion des Mittelalters und der frühen Neuzeit durchaus konträr verfochten. Nicolaus von Cues, Lupold von Bebenburg, Hoenonius, Junius Brutus und später Montesquieu waren Verfechter des Repräsentativprinzips, während Marsilius von Padua und Occam die Gegenseite vertraten643. Das Repräsentativprinzip wurde in der nachfolgenden Zeit bis in die Gegenwart von vielen Politikern vertreten644. Auch Johannes Althusius war Verfechter des Repräsentationsprinzips. Wie in seinen gesamten Werken ging er hier in seinen Ausführungen zum Repräsentationsprinzip gegenüber anderen Mitstreitern allseitiger und systematischer vor. Schlagwortartig kann das Repräsentationsprinzip des Althusius wie folgt skizziert werden645: Um den Begriff der Repräsentation bei Althusius zu bestimmen, soll auf die drei Fragen des „wer repräsentiert“, „wer wird repräsentiert“ und des „was wird repräsentiert“ abgezielt werden. Der Begriff der Repräsentation wird in der Bestimmung der Repräsentanten („wer repräsentiert“) in einem doppelten Sinne verwendet: Zum einen sind Repräsentanten die Vorsteher eines Kollegiums und zum zweiten ist das Kollegium selbst Repräsentant, wobei beide Magistratus sind. Dabei hat sowohl der Vorsteher als auch Kollegium selbst die Lenkungsfunktion für die Gemeinschaft, der Vorsteher für das Kollegium, das Kollegium für die Gemeinschaftsmitglieder wie z. B. die Stadt. Dabei ist jeder Vorsteher mit jedem Kollegium zuständig für eine bestimmte Gruppe von Gemeinschaftsmitgliedern gemäß der Gliederung des partikulären646 und universalen Gemeinwesens647 nach Althusius. Zwei Repräsentationsarten sind bei Althusius erkennbar648: Die Identitätsrepräsentation der Ephoren als Verkörperung des Gemeinwesens in seiner Gesamtheit649 und die Vertretungsrepräsentation des obersten Magistraten mittels Auftragsverhältnis650.
643 Vgl. die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 213 ff., weshalb die einzelnen Positionen hier nicht näher erläutert werden. 644 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 219 ff., wo in direkter Nachfolge nach Althusius Hoenonius, Sydney, Montesquieu, Rousseau bis Kant beschrieben werden. 645 Vgl. Winters, P.J. (1963), S. 235 f. 646 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 6 f., S. 58. 647 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 1, S. 110. 648 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 189. 649 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 47, S. 176. 650 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 98, S. 213.
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Repräsentiert werden („wer wird repräsentiert“) nicht die Individuen der Gemeinschaft, sondern die Gesamtheit der Gemeinschaft. Es wird entweder das universale Gemeinwesen oder das gesamte Volk repräsentiert651. Repräsentiert wird („was wird repräsentiert“) in erster Linie der Wille Gottes gemäß den Vorschriften des Dekalogs und zweitens der Wille der Gemeinschaft, welcher an den Nutzen und an das Wohl der Untertanen und an bestimmte Regeln gebunden ist652. Das Prinzip der Volkssouveränität steht bei Althusius neben dem Repräsentationsprinzip. Das Repräsentationsprinzip ist innerhalb der politischen Theorie des Althusius als Rechtsprinzip einzuordnen653, wobei es unmittelbar an die Soziallehre der Politik des Althusius anknüpft, in welcher der Ursprung des Repräsentationsprinzips zu suchen ist. Innerhalb des Repräsentationsprinzips sieht Althusius zwei Arten von Repräsentanten vor, nämlich Senate654, Landstände655 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren656 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände sowie Magistraten, deren soziale und rechtliche Stellung hinsichtlich des Repräsentationsprinzips folgende ist657. Innerhalb der universalen Gemeinschaften sind die Repräsentanten zugleich auch die Verwalter der universalen Gemeinschaft: Ephoren (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) und oberster Magistrat658. Die beiden Arten bzw. Organe von Repräsentanten haben folgende Funktionen bei Althusius: – Die Repräsentantenversammlung
Die Senate und Landstände für Gemeinden und Provinzen und Ephoren für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände haben als Repräsentantenversammlung die Rechte des Volkes in deren Auftrag und Namen zu verwalten. Sie werden durch Volkswahl oder Erbe berufen, beschließen mit Mehrheit, sind Vertreter der Gesamtheit, wählen den „summus magistratus“ und bei dessen Verhinderung den Reichsverweser, beraten, mahnen und korrigieren diesen, erteilen ihre Zustimmung zu wichtigen Akten, verteidigen die Volksrechte, leisten Widerstand gegen eine Tyrannis, setzen in diesem Falle den Herrscher ab und wehren Angriffe gegen diesen ab. Die ständischen Delegierten auf den Landtagen repräsentieren den jeweiligen Stand, von welchem sie ihr Mandat erhalten haben und welchen sie auch gebunden bleiben659. Alle diese Rechte üben sie jedoch in 651 652 653 654 655 656 657 658
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 26, S. 172. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 40, S. 174. Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 518. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 30 f. und Hofmann, H. (1988), S. 519. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 47, S. 176.
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ihrer Repräsentativfunktion aus, da diese Rechte den Vertretenen zustehen: „Den Ephoren ist mit Zustimmung des zu einem politischen Gemeinschaftskörper vereinten Volks die Oberherrschaft über das Gemeinwesen oder die universale Gemeinschaft als Repräsentanten anvertraut“660. Gemäß seiner ramistischen661 sozialen Gliederung unterscheidet Althusius private (Ehe, etc.) und öffentliche Konsoziationen (Gemeinden, Provinzen etc.)662. Innerhalb der öffentlichen Konsoziationen werden die partikulären und universalen unterschieden. Diese Körperschaften als juristische Personen als auch deren einzelne Mitglieder benötigen mangels eigener Handlungsfähigkeit zwangsläufig einen Vertreter: „Die Körperschaft wird in Dig. 46.1.2 eine repräsentierte Person (persona repraesentata) genannt, die die betreffenden Menschen als Gesamtheit, nicht aber als Einzelne umfaßt“663. Die Repräsentantenversammlungen durch Senate664 und Landstände665 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren666 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände waren bei Althusius gemäß den Ständen innerhalb des partikulären Gemeinwesens (Orte, Provinzen)667 und des universalen Gemeinwesens (Staat)668 gegliedert. Die Repräsentanten entstammen somit dem jeweiligen Kollegium und übernehmen auch deren Führung durch Repräsentation. In der privaten Lebensgemeinschaft ist Repräsentant der Vorsteher, in der jeweiligen politischen Lebensgemeinschaft der Bürgermeister, der Senatspräsident, der Landesherr oder der Magistratus669. Entscheidend dabei ist, daß der Repräsentant von geringerer Bedeutung ist als die Korporation selbst und vom gesamten Körper abhängig ist sowie dessen Entscheidung zu vertreten hat670. Das Regieren ist demnach nicht Herrschafts659 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 175 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 66, S. 106. 660 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 48, S. 176. 661 Benannt nach der Vorgehensweise des reformierten Philosophen Petrus Ramus (bürgerlich Pierre de la Ramée), 1515 – 1571, (vgl. dazu Janssen, H. (1992), S. 35 f. sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XV f.), welcher von einer theoretischen hin zu einer praktischen Gliederungsweise als dialektische Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ging und die drei Grundsätze Zweckbestimmung der Wissenschaft, Verwendung allgemeingültiger, universal-zeitloser Elemente und adäquate Problemzuordnung verwendet (vgl. dazu Hüglin, Th. (1991), S. 80 ff.). Vergleiche z. B. dazu auch in Kapitel II.2.6.2.5 die typisch ramistische Gliederung des Rechts bei Althusius. Vgl. zur ramistischen Methode auch Strom, Ch. (1999). 662 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 1 f., S. 33 und Kap. V, § 1, S. 57. 663 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 9, S. 58. 664 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 665 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 666 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 667 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 6 f., S. 58. 668 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 1, S. 110. 669 Vgl. Winters, P.J. (1963), S. 234. 670 Vgl. Duso, G. (1997), S. 72 und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 7, S. 49.
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ausübung per Einzelbefugnis, sondern vielmehr durch einvernehmliche Willenserklärung der Gemeinschaftsmitglieder. Innerhalb der ramistischen671 sozialen Gliederung der Konsoziationen wird weiterhin durch Althusius eine rechtliche Gliederung anbei gestellt durch Zuweisung von Rechten auf Gemeinschaften, hier durch Zuweisung eines Repräsentationsrechtes672. Dadurch wird der Soziallehre die Rechtslehre hinzu gefügt, um eine politische Theorie des Staates zu erzeugen. Althusius hat für die Rechtsstellung der Stände die Gleichberechtigung des Bürgerstandes mit dem Ritterstand gefordert sowie eine Vollberechtigung des Bauernstandes673. Seine Intention war demnach die Gleichstellung der Repräsentativrechte der jeweiligen Repräsentantengremien, nach heutigem Verständnis demnach die Umsetzung demokratischer Prinzipien. – Die Magistraten
Die Magistraten üben ebenfalls repräsentative Funktion aus, da sie zudem per Herrschaftsvertrag nur als „minister“ fungieren. Sie „verkörpern die Person des ganzen Reiches, aller Untertanen und die Gottes, von dem alle Gewalt kommt, und repräsentieren sie“674. Das Verhältnis zum Volk wird durch einen Mandatsvertrag hergestellt675. Insofern liegt eine direkte Repräsentationsfunktion zugrunde: Alle Funktionen welche dem Repräsentanten nicht per Vertrag eingeräumt werden, bleiben in Händen der Vertretenen676. Die Repräsentationsfunktion sollte nach Althusius – wobei er sich hier an zwei Textstellen auf die gleiche Aussage des Aristoteles bezieht – nur geringst möglichen Umfang einnehmen, da, je weniger Befugnisse bei den Repräsentanten liegen, die Herrschaft um so dauerhafter sei677. Den Repräsentanten werden grundsätzlich weniger umfangreiche Befugnisse zuteil wie den Vertretenen oder der Körperschaft selbst678. 671 Benannt nach der Vorgehensweise des reformierten Philosophen Petrus Ramus (bürgerlich Pierre de la Ramée), 1515 – 1571, (vgl. dazu Janssen, H. (1992), S. 35 f. sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XV f.), welcher von einer theoretischen hin zu einer praktischen Gliederungsweise als dialektische Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ging und die drei Grundsätze Zweckbestimmung der Wissenschaft, Verwendung allgemeingültiger, universal-zeitloser Elemente und adäquate Problemzuordnung verwendet (vgl. dazu Hüglin, Th. (1991), S. 80 ff.). Vergleiche z. B. dazu auch in Kapitel II.2.6.2.5 die typisch ramistische Gliederung des Rechts bei Althusius. Vgl. zur ramistischen Methode auch Strom, Ch. (1999). 672 Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 517. 673 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 218 und S. 13. 674 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 98, S. 213. 675 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 6, S. 196. 676 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 8, S. 197. 677 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 9, S. 197 und Kap. XVIII, § 31, S. 172. 678 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 26, S. 172 und Kap. V, § 56, S. 64.
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Beide Arten von Repräsentanten, die der Senate und Landstände und die der Magistraten, sind bei Althusius zu einem doppelten Repräsentativprinzip zusammen gefügt679: – Die Führung (Magistraten) repräsentiert die Person der Körperschaft (unmittelbare Stellvertretung), – Die Versammlung (Senate, Reichsstände, Ephoren) vertritt das Volk680, jedoch nur als Ganzes und nie durch nur eines oder mehrere Mitglieder, – Beide, Versammlung und Magistraten, vertreten den gesamten politischen Organismus. Dieser Dualismus wurde direkt dem Caput-corpus-Schema der mittelalterlichen Korporationslehre entnommen (vgl. Kapitel 3.2.5.1.1) und entspricht auch gleichermaßen den damaligen historischen Gegebenheiten der ständestaatlichen Antithese von Landesherrn und Landesständen681. Hier kommt der föderalistische Gedanke (vgl. Kapitel 3.2.7.1) der politischen Theorie des Althusius zum Tragen, da die Repräsentantenversammlung die Einheit der Glieder repräsentiert. Die Magistraten sind somit Vertreter des zentralistischen, die Versammlung Vertreter des föderalistischen Prinzips682. Als eigenartig mutet bei Althusius zunächst auch die Beziehung zwischen Magistrat und Versammlung (Ephoren, Senat, Reichsstände) an, wobei bei näherer Betrachtung der Dualismus damit in sich schlüssig ist: „So stehen die Ephoren insgesamt insofern zwar über dem obersten Magistrat, als sie das Volk repräsentieren und in seinem Namen kollegial tätig werden; als Einzelne aber und für sich genommen haben sie eine geringere Stellung als dieser“683. Der Föderalismus (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.3) drückt sich innerhalb der Repräsentation auch dadurch aus, daß sich in dieser Kette indirekter Repräsentationsverhältnisse684 je nach der Hierarchieebene der Korporation die jeweils höhere Repräsentationsfähigkeit darstellt, wobei die reinste Form der Repräsentation auf unterster Ebene einer Korporation oder Konsoziation (Familie) zu finden ist: „Insofern stellt die Althusius’sche Repräsentationslehre eine lineare Ansammlung von Repräsentationen der Repräsentationen dar, mithin eine Manifestation von Verwässerungen . . . Repräsentation bei Althusius ist demnach keine formale Herrschaftsangelegenheit, sondern Ausdruck einer organisch-dynamischen Interessensvermittlung“685. Bei Althusius findet sich „eine aufsteigende Kette indirekter Repräsentationsverhältnisse, wobei sich die Amtsträger jeder höheren Konsoziationsstufe aus den Repräsentanten der nächstniederen Ebene nebst einem in der Regel gewählten VorVgl. Winters, P.J. (1963), S. 237 und Hofmann, H. (1988),S. 519 und S. 524. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 55, S. 64 und Kap. XVIII, § 11 f., S. 169. 681 Vgl. Hofmann, H. (1988), S. 523. 682 Vgl. Winters, P.J. (1963), S. 238. 683 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 73, S. 181. 684 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 187. 685 Nitschke, P. (1995), S. 166. 679 680
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steher zusammensetzen“686. So repräsentiert z. B. den kirchlichen Stand ein Kollegium, welches wiederum aus Mitgliedern der kirchlichen Kollegien der Provinz besteht687. Ebenso besteht die universale Versammlung aus Vertretern der untergeordneten Ebenen, so z. B. aus dem Senat der Kurfürsten, dem Senat der Fürsten und dem Senat der Reichsstädte688, die Senatoren der Reichsstädte werden wiederum vom Senatskollegium gewählt, welches das Kollegium der Körperschaft oder das Zunftkollegium sein kann689. Ein weiterer Aspekt der Althusius’schen Repräsentation ist die Repräsentation gegenüber der exekutiven Gewalt. Mit dem Ephorensystem (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) als Repräsentantenversammlung wird die Aufsicht gegenüber den Herrschern institutionalisiert. Die Ephoren werden durch das Volk eingesetzt und kontrollieren somit über diese Institution indirekt den Herrscher. Der Herrscher wird durch das Volk kontrolliert, da dieses ihm die Regeln vorgegeben hat, was letztlich bei Althusius im Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) gipfelt mit der Rücknahme des Mandates vom Herrscher690. Mit den fünf Elementen Repräsentation durch Versammlung, Repräsentation durch Magistraten, Repräsentation der exekutiven Gewalt sowie Institutionalisierung durch Verfahren wie z. B. Wahlverfahren (vgl. Kapitel 4.2) und Verträge wie z. B. den Mandatsvertrag sowie der Forderung nach einer Gleichstellung der Repräsentativbefugnisse der Ständevertreter ist tatsächlich von einem Repräsentativprinzip bei Althusius zu sprechen. Kritisch ist jedoch aus heutiger Sicht anzumerken, daß aufgrund der Ständeverfassung die Repräsentanten – nämlich die des jeweiligen Standes – nicht den Willen des gesamten Volkes repräsentieren können und zudem die Summe der Ständeentscheidungen nicht gleich dem Volkswillen zu setzen ist691. Es ist jedoch auch zu beachten, daß aus Ständesystemen erfolgreiche Herrschaftssysteme parlamentarischer Art entstanden sind und noch heute Bestand haben. So wurde z. B. das ständische System Englands seit dem Spätmittelalter zum parlamentarischen Regierungssystem weiter entwickelt692. Insofern war die Konstruktion des Althusius parlamentarisch im Sinne des Repräsentativprinzips.
686 687 688 689 690 691 692
Hüglin, Th. (1990), S. 220 und vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 187. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 6, S. 95. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 56 ff., S. 343 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 60, S. 65. Vgl. Duso, G. (1997), S. 78 und ders., S. 78, Fußnote 45. Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 54. Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 49.
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3.2.5.1.4 Zusammenhang zwischen Repräsentativprinzip und Volkssouveränität Althusius trennt strikt zwischen Repräsentativprinzip und Volkssouveränität. Beide politischen Elemente stehen nebeneinander und haben Komplementär-, nicht jedoch Substitutionsfunktion, wie gemeinhin anzunehmen ist693. Beim Repräsentativprinzip haben die Repräsentanten die Lenkungsfunktion für die Gemeinschaft inne und repräsentieren die Gesamtheit der Gemeinschaft unter Beachtung des Willen Gottes und der Gemeinschaft (vgl. Kapitel 3.2.5.1.2). Der Repräsentant hat ein zeitlich befristetes Mandatsverhältnis (vgl. Kapitel 3.2.6.2.7.1: temporale Teilungslehre). Dieses wird vom Volk erteilt und bei Bedarf vom Volk entzogen, ebenso wie alle mit diesem Mandatsverhältnis zusammen hängenden Rechte und Pflichten694. Dabei sind die Repräsentanten mit der Verwaltung des Reiches und der Ausführung der Aufgaben betraut695: Sie dienen im Prinzip als „verlängerter Arm“ für die Umsetzung der ursprünglich dem Volk zustehenden Rechte und Pflichten. Die Volkssouveränität steht als weiteres Prinzip der politischen Theorie des Althusius neben dem Repräsentativprinzip und ist über obige Verknüpfung direkt an das Repräsentationsprinzip gekoppelt. Die Volkssouveränität ist ein naturrechtliches und demnach ursprüngliches Prinzip, welches von einer absoluten Souveränität Gottes her rührt. Das Volk ist gemäß freier Souveränität Gottes dessen Bundespartner (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Althusius benötigt für die formaljuristische Verknüpfung zwischen Naturrecht und Volkssouveränität eine positivrechtliche Konstruktion, nämlich den Herrschafts- und Beauftragungsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1), wodurch der Übertrag auf die „consociatio symbiotica“ gelingt und so die Volkssouveränität entsteht. Die Volkssouveränität ist demnach nicht als absolut gegeben zu betrachten, sondern als formal mittels Vertragsrecht beim Volk belassen (vgl. Kapitel 3.2.4.1.1). Da die Volkssouveränität faktisch und administrativ durch die Vielzahl der Gemeinschaftsmitglieder (= das Volk) als nicht umsetzbar gilt, wird diese Problematik mittels des Repräsentativprinzips behoben. In der Beziehung zwischen Volk und Regierung weist Althusius dem Volk die Priorität, Superiorität und das größere Gewicht zu696: „. . . besteht das Gemeinwesen nicht des Königs wegen . . . Denn das Volk geht seinen Regenten voraus, es ist mächtiger und steht höher als diese“697. 693 Vgl. die Ausführungen bei Landshut, S. (1968), S. 491, wo das Repräsentativprinzip als politisches Strukturprinzip beschrieben wird, das dem der Souveränität schlechthin entgegengesetzt war. 694 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3, S. 168. 695 Vgl. z. B. die Beschreibung über den Senat bei Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 51 f., S. 64. 696 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 166. 697 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 8, S. 169.
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3.2.5.2 Das Repräsentativsystem in der EU 3.2.5.2.1 Begriffsdefinition der Repräsentation Der Begriff der Repräsentation ist eng verbunden mit zwei politischen Gedanken: Zum einen die praktische Unmöglichkeit, daß sich eine Vielzahl von Individuen zum Zwecke politischer Entscheidung versammeln kann und damit die Versammlung zum Ersatz der Selbstanwesenheit des Volkes wird und zum anderen, daß eine Volksvertretung die Macht des Regierenden als Gegengewicht einschränken kann und soll698. Nach heutiger Definition699 ist ein Repräsentativsystem durch das politische Element der Repräsentation gekennzeichnet. „Repräsentation ist ein politisches Grundelement, nach dem (in der Regel große) Gruppen von Personen oder Teile der Bevölkerung nicht unmittelbar selbst und nicht ständig, sondern durch gewählte Repräsentanten an politischen (wirtschaftlichen, sozialen) Entscheidungen teilhaben bzw. von diesen vertreten werden“700 bzw. „Repräsentation ist die rechtlich autorisierte Ausübung von Herrschaftsfunktionen durch verfassungsmäßig bestellte, im Namen des Volkes, jedoch ohne dessen bindenden Auftrag handelnde Organe eines Staates oder sonstigen Trägers öffentlicher Gewalt, die ihre Autorität mittelbar oder unmittelbar vom Volk ableiten und mit dem Anspruch legitimieren, dem Gesamtinteresse des Volkes zu dienen und dergestalt dessen wahren Willen zu vollziehen“701. Der Begriff der Repräsentation umfaßt heute eine Vielzahl von Elementen und führte zu einer Theoriedebatte. Nachfolgende Definitionen702 sollen die beiden Begriffsinhalte darlegen: – Allgemeiner und philosophischer Begriff Repräsentation beinhaltet das „Sichvergegenwärtigen von Nichtgegenwärtigem“703 als allgemeine Kategorie der Stellvertretung: Das „Stehenfür“704. – Staatsrechtlicher und politischer Begriff Politisches Prinzip, die Ausübung der Macht auf die Zustimmung der Repräsentanten durch Auftrag und Vollmacht zu begründen705.
Da der philosophische direkt zum staatsrechtlichen Begriff führt, wird im Folgenden auf den staatsrechtlichen Begriff reflektiert. Vgl. Landshut, S. (1968), S. 482 f. Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 700 Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 243. 701 Fraenkel, E. (1991), S. 153. 702 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 814. 703 So z. B. Pitkin, H. (1967) und Leibholz, G. (1966). 704 Vgl. Landshut, S. (1968), S. 491. 705 So z. B. Loewenstein, K.(1969) und Leibholz, G. (1929). 698 699
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3.2.5.2.2 Repräsentativsystemtheorie Ein Repräsentativsystem ist eine Form einer politischen Verfassung, „nach der das Volk nicht direkt, sondern durch gewählte Vertreter, die nicht die Interessen ihrer Wähler, sondern die Interessen des ganzen Volkes zu vertreten haben (Abgeordneter), an der Ausübung der Staatsgewalt mitwirkt“706. Ein Repräsentativsystem ist eine Verfassung, in welcher der Wille des Volkes durch eine Versammlung repräsentiert wird707. Aufgabe einer Repräsentativverfassung ist, den hypothetischen Volkswillen umzusetzen, auch wenn der hypothetische vom empirischen abweicht708 sowie „die Realisierung des Volkswillens optimal zu ermöglichen“709. Politische Repräsentation ist nicht an bestimmte Staatsformen geknüpft, da sowohl in der Monarchie als auch in der Demokratie die Herrschenden das Volk repräsentieren, wenngleich auch mit anderer Intention. Die einzelnen Ansätze der Repräsentationstheorie geben Aufschluß über die Einzelelemente des Repräsentativansatzes710 und werden im Nachgang auf die EU im Vergleich zu Althusius reflektiert: – Phänomenologischer Ansatz Der phänomenologische Ansatz fragt nach dem Wesen der Repräsentation. Leibholz definiert den Begriff der Repräsentation aus unterschiedlichen Betrachtungsweisen im Zusammenhang mit verschiedenen Begriffspaaren. – Sprachlich: Etwas nicht real Präsentes wird existenziell bzw. präsent und etwas nicht Gegenwärtiges wird wieder anwesend gemacht711. – Repräsentation und Darstellung: Wenn das Repräsentierte demnach eine selbständige Existenzialität besitzen muß, so muß die zu repräsentierende Wesenheit durch den Repräsentanten existent gemacht werden. Dies ist insofern vom Begriff der Darstellung abzugrenzen, als diese ein außerhalb ihrer selbst liegenden Sein anwesend zu machen, da bei der Darstellung nicht darüber hinaus das Dargestellte gegenwärtig gemacht werden muß712. – Der Begriff der Repräsentation beinhaltet eine immanente Duplizität der personellen Existenz dahin gehend, da das Repräsentierte im Repräsentanten nicht noch einmal real-gegenständlich faßbar gemacht werden kann713. – Repräsentation und Identität: Identität als Gedanke der Einheit und einen geistigen Transsubstantiantionsprozeß zwischen Repräsentant und Repräsentier706 In Anlehnung des Begriffes nach Herder Verlag (1988), S. 183 f., welcher das Repräsentativsystem jedoch an eine demokratische Staatsform knüpft. 707 Vgl. Landshut, S. (1968), S. 486. 708 Vgl. Fraenkel, E. (1991), S. 153 sowie Landshut, S. (1968), S. 487. 709 Fraenkel, E. (1958), S. 5. 710 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 815 f. 711 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 26. 712 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 27. 713 Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 28.
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ten voraussetzend ist von der Repräsentation als Gedanke der Zweiheit zu unterscheiden 714. – Repräsentation und Solidarität: Solidarität bedeutet, daß das Handeln der Solidarmitglieder seine Berechtigung durch die Vorstellung der Einheit der Glieder hat und zu einer Haftung der Solidargemeinschaft selbst oder ihrer Mitglieder führt. Daher sind die Tatbestände der Solidarität nicht heran zu ziehen, um eine Repräsentation nachzuweisen715; es gibt also auch Repräsentation ohne Solidarität. – Repräsentation und Vertretung: Beide Begriffe sind nur teilidentisch dahin gehend, daß die Vertretung das Handeln eines anderen Individuums nur aufgrund der tatsächlichen oder rechtlichen Verhinderung einer Person oder Personenmehrheit bedeutet. Der Vertretung fehlt somit der ideelle Wertakzent716. Die Repräsentationsfunktion ist heute zu sehen als stetiger und demnach dynamischer Prozeß, um die Voraussetzungen für die Lebensäußerung und die Leistungen staatlicher Willensgemeinschaft zu schaffen717. Wird die Repräsentation durch Institutionalisierung dieses Volkswillens als Prozeß staatlicher Willensbildung zentrales und verfassungsrechtliches Prinzip, so ist von einem Repräsentativsystem zu sprechen, wenn gleichzeitig die sachliche Integration (die materialen Werte der Gemeinschaft werden durch die Repräsentanten verwirklicht) und die personale Integration (Führung und Entscheidungsgewalt der Repräsentanten) statt findet718. – Transformatorischer Ansatz
Im transformatorischen Ansatz von Agnoli / Brückner wird auf marxistischer Grundlage eine Identifizierung von Kapitalismus, bürgerlicher Gesellschaft, Repräsentation und Parlamentarismus mit dem Zweck der Beseitigung von Widersprüchen, Ungleichzeitigkeiten und Differenzierungen vorgenommen719. Ausgehend von der Regierungsunfähigkeit des Volkes nach Georg Wilhelm Friedrich Hegel beschreiben Agnoli / Brückner zunächst die Ursachen und Bedingungen von Herrschaft mit dem Widerspruch zwischen individuell-privilegierten Herrschaftsansprüchen und Kollektivansprüchen einer modernen Gesellschaft720, welcher besagt, daß Herrschaft grundsätzlich einen Widerspruch zwischen Herrschaftsansprüchen und Kollektivansprüchen birgt. Die Transformation weg von der Herrschaft weniger hin zur Kollektivherrschaft ist mit einem 714 715 716 717 718 719 720
Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 29. Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 30 ff. Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 32 f. Nach Smend, zitiert aus Leibholz, G. (1966), S. 58. Vgl. Leibholz, G. (1966), S. 58 ff. Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 815. Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 8.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Involutionsprozeß721 verknüpft. Zum Zwecke der staatlichen und sozialen Regelung widerstreitender Gesellschaftsinteressen sowie sich ausschließender Forderungen und Ziele, welche eng mit der wirtschaftlichen und technischen Entwicklung der Warenproduktion eines Staates verbunden sind722, muß nach Agnoli / Brückner eine parlamentarische Demokratie disziplinierend in diese Widersprüche eingreifen, ohne jedoch gleich die Machtmittel altliberaler oder faschistischer Staaten zu benutzen. Zwei Grundelemente bestimmen den Grad der politischen Rückbildung723: – Ausprägung des Fortschreitens des Kapitalismus und der bürgerlichen Gesellschaft, – Grad des Widerstandes gegen die politische Involution durch Verzicht auf die Annehmlichkeiten des Kapitalismus. Der Staat hat die Aufgabe, sozialen Frieden systematisch dadurch zu erzeugen, daß durch die Regelung des Verhältnisses von Befehlsgewalt und Abhängigen in Wirtschaft, Kultur und Gesellschaft Spannungen nicht beigelegt, sondern ohne Störungen im Ablauf des kollektiven Lebens ausgetragen werden. Der soziale Frieden wird durch gleichmäßige Verteilung von Gütern und Chancen aller Gruppen einer Gesellschaft mit Disziplinierung derjenigen, welche eine Ungleichverteilung von Herrschaftspositionen und Privilegienchancen erzielen wollen, erreicht (Pluralismus)724. Als problematisch ist das Parteiensystem dahingehend zu betrachten, als daß oben beschriebene Basiskonflikte durch die enge Verknüpfung von Partei und Gesellschaft in das Parteiensystem hinein getragen werden; eine Pluralität der Parteien auf Basis des sozialen Friedens funktioniert demnach nur, wenn die Parteien nicht Umschlagstelle des gesellschaftlichen Kampfes sind725. Die Repräsentation der Herrschaft durch ein Organ bedeutet nicht das „Zentrum effektiver Macht, sondern allgemeiner: Zentrum einer gesellschaftlichen Machtfunktion, das sich auch zum Subjekt unmittelbarer Befugnisse entwickeln kann“726. Dagegen steht das Parlament als Organ und gesellschaftlicher Machtfaktor mit eigenem Herrschaftsanspruch aus dem Selbstverständnis der Repräsentation als Herrschaft über andere sowie einer Fiktion der Repräsentation durch die Nichtidentität von Regierten und Regierenden aufgrund der Zusammensetzung des Parlaments727. 721 Als Involution wird der komplexe, politische, gesellschaftliche und ideologische Rückbildungsprozeß demokratischer Staaten, Parteien und Theorien in vor- oder antidemokratische Formen bezeichnet (Gegenbegriff zur Evolution). 722 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 10. 723 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 17 f. 724 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 20 f. 725 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 31 f. 726 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 55. 727 Vgl. Agnoli, J. / Brückner, P. (1968), S. 55 f.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
179
– Vertretungstheoretischer Ansatz
Der vertretungstheoretische Ansatz ist als pragmatische Politiktheorie zu betrachten. Sie wird z. B. durch Carl Schmitt, von Beyme und Bermbach vertreten. Repräsentation beinhaltet dabei einen doppelten Aspekt728: – der Repräsentant handelt in willentlicher und inhaltlicher Übereinstimmung mit dem Repräsentierten (Identität), – Schaffung von Organen zur Besetzung von Herrschaftsfunktionen mit dem Ziel, Strukturelemente der Repräsentation zu schaffen (Repräsentation). Somit verändert sich der Repräsentationsbegriff, da der willenspolitische Prozeß vom Abgeordneten als Vertreter des allgemeinen Volkswillens, was als nicht durchführbar erscheint, mehr auf die Parteien mit deren Funktion der Integration partikularer, das gesellschaftliche System insgesamt kaum gefährdender Verteilungskonflikte über geht729. Der Abgeordnete ist nicht Repräsentant von klar bezeichneten sozialen Klassen oder Interessen noch Interpret des Volkswillens durch Vorliegen eines parteienstaatlich organisierten parlamentarischen Regierungssystems730, wodurch eine echte Repräsentation in diesen Systemen nicht vorliegt. Von Beyme grenzt traditionell die Staatsform von der Herrschaftsform ab, wobei er im Gegensatz zu anderen Autoren bei der Herrschaftsform die wichtigen Formen der konstitutionellen Monarchie und der Repräsentativverfassung als Idealformen durch historische Betrachtung klar unterscheidet731. Dabei wird weder auf die Beziehung zu Elementen wie Volkssouveränität noch auf eine Ideologisierung wie bei anderen Autoren abgestellt, sondern rein auf die institutionalisierte Vertretung des Volkes durch Klassifizierung unterschiedlicher Ausprägungen des parlamentarischen Regierungssystems für Länder mit enger Gewaltenkooperation sowie des präsidentiellen Systems und Direktorialsystems für dualistische gewaltenteilige Arten der Repräsentativverfassung732 abgestellt. Bei Vorliegen bestimmter Kriterien sind diese als solche zu klassifizieren733: – Institutionelle Kriterien einer Repräsentativverfassung: – Enge Verbindung zwischen Exekutive und Legislative, – Premierminister und Minister stammen aus dem Parlament, – politische oder parlamentarische Ministerhoheit, – Kontrollfunktion des Parlaments über die Regierung, – Investiturabstimmung des Parlaments über die Regierung, – Möglichkeit der Parlamentsauflösung, 728 729 730 731 732 733
Vgl. Hättich, M. (1968), S. 501 f. und Bermbach, U. (1971), S. 497 ff. Vgl. Bermbach, U. (1971), S. 507. Vgl. Bermbach, U. (1971), S. 514. Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 29. Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 32. Vgl. Beyme, K. von (1973), S. 41 ff. und auch Bermbach, U. (1971), S. 504 ff.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Sozialstrukturelle Kriterien einer Repräsentativverfassung: – Existenz organisierter Parteien, – Homogenität und solidarisches Verhalten im Kabinett, – herausgehobene Stellung des Premierministers, – Existenz einer loyalen Opposition, – Existenz einer politischen Kultur. – Politisch-soziologischer Ansatz
Der politisch-soziologische Ansatz wurde in den USA aus der Forschung über „legislative behaviour“ entwickelt; entsprechende Ansätze in Deutschland dagegen sind selten. Durch niedrige Parteibindung, niedrige Fraktionsdisziplin und häufige namentliche Abstimmungen in den USA sind intensive Untersuchungen über das Parlamentarierverhalten möglich734. So haben Eulau und Wahlke in ihrer Untersuchung verschiedene Aspekte der Repräsentation empirisch untersucht und quantifiziert, wobei der Repräsentationsansatz auf ideologischen Annahmen fußt, für welche eine konzeptionelle Klarheit zu fordern ist, bevor man diesen in empirischen Untersuchungen darstellen kann. Die bisherigen Ansätze der Repräsentationstheorie werden aufgrund der Ergebnisse der empirischen Untersuchungen von deren Vertretern als veraltet betrachtet, da man von einer Krise der Repräsentation Anfang des 20. Jahrhunderts sprach, wobei die (oben beschriebenen) modelltheoretischen Ansätze weniger getadelt wurden als die praktischen politischen Systeme735. Repräsentation wird zum einen als soziologischer, nicht-funktionaler Begriff und andererseits als politischer und institutionalisierter Begriff eines Systems verstanden736. Repräsentation ist demnach als Verhältnis zwischen Repräsentant und Repräsentierten zu verstehen und hat mit der Akzeptanz der Entscheidungen des Repräsentanten als öffentlich gebilligten politischen Prozeß zu tun. Wenn der Repräsentant gewählt ist, so ist dessen Entscheidung legitimiert und autorisiert737. Im Repräsentationsansatz nach Edmund Burke 1774 ist im Gegensatz zum Ansatz von Montesquieu, Hobbes und Rousseau die Bindung des Repräsentanten an die lokalen Gegebenheiten und der Repräsentationsstil mit entscheidend für dessen Fähigkeit der Repräsentation738. Folgende Aspekte sind demnach für eine empirische Untersuchung des Repräsentationsansatzes von Bedeutung: – Fokus der Repräsentation: Lokale, nationale oder beide Interessen739, 734 735 736 737 738 739
Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 815. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 31. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 111. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 112. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 44. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 113 und S. 121.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Stil der Repräsentation: Freie Tätigkeit oder Mandat740, – Rollentyp: Treuhänder, Abgeordneter oder Beides (sog. „politico“)741. Die empirische Untersuchung für vier amerikanische Staaten von Eulau / Wahlke über den Fokus der Repräsentation auf lokale, nationale oder beide Interessen742 ergab folgendes Umfrageergebnis, wie die Repräsentanten eingeschätzt werden743: Area Role
California
New Jersey
Ohio
Tennesse
Total
District
35 %
27 %
28 %
21 %
27 %
District+State
14 %
28 %
25 %
8%
19 %
State
20 %
14 %
16 %
9%
15 %
No mention
31 %
31 %
31 %
62 %
39 %
100 %
100 %
100 %
100 %
100 %
Total
– Funktionaler Ansatz
Der sog. Neokorporatismus hat seinen Ursprung im 19. Jahrhundert in der Diskussion der Alternative oder Ergänzung des Parlamentarismus durch berufsständische Vertretungen oder Wirtschafts- und Sozialräte744. Der Korporatismusbegriff hat bisher keine eindeutige Definition erfahren. In Großbritannien ist die Korporatismusdiskussion viel ausgeprägter als in anderen Ländern; einer ihrer bekanntesten Vertreter Jack Winkler definiert Korporatismus wie folgt745: „Corporatism is an economic system in which the state directs and controls predominantly privatly-owned business toward four goals: unity, order, nationalism and success“. Die älteste Wurzel des Korporatismus ist die Ständeverfassung der mittelalterlichen Gesellschaft. Eine ständisch gegliederte Gesellschaft soll die Unfähigkeit des liberalen, parteienstaatlichen Parlamentarismus zur Repräsentation der Gesellschaftsinteressen beheben746. Der Neokorporatimus beschreibt das Verhältnis von Staat und organisierten gesellschaftlichen Großgruppen und deren Institutionalisierung sowie die Wechselseitigkeit der Vergesellschaftung des Staates einerseits und der Verstaatlichung der Gesellschaft andererseits durch Inkorporierung gesellschaftlicher Interessen Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 115 ff. Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 118 f. 742 Vgl. Eulau, H. / Wahlke, J. (1978), S. 122. 743 Für Kalifornien lautet das Ergebnis, daß , daß 38 % der Befragten die Repräsentanten als Vertreter regionaler Interessen, 14 % als Vertreter gleichzeitig regionaler und nationaler, 20 % nur nationaler Interessen sehen. 744 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 815. 745 Zitiert aus: Alemann, U. von / Heinze, R.G. (1981), S. 53. 746 Vgl. Alemann, U. von / Heinze, R.G. (1981), S. 47. 740 741
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
mit staatlichen Politiken747. Historisch stammt der Gedanke aus dem System faschistischer korporativer Staaten, dem ständischen Gildensozialismus, dem autoritären Peronismus Lateinamerikas und konservativen berufsständischen Ideen748. Die traditionellen Staats- und Verbändetheorien sehen eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft vor. So wurden in der Weimarer Republik die Parteien zur nichtstaatlichen Gesellschaft, dagegen in der Bundesrepublik Deutschland zu den Trägern staatlicher Herrschaft gerechnet749. Die Korporatismustheorie untersucht die zwei Basisgedanken gesellschaftliche Reichweite und gesellschaftliche Determinanten750: Tabelle 10 Systematik der Korporatismustheorie Gesellschaftliche Determination
Gesellschaftliche Reichweite Systemcharakter
Strukturvariante
Soziopolitische Integration
1. Vom Pluralismus zum Korporatismus
2. Korporatismus als institutionalisierter Pluralismus
Sozioökonomische Grundstruktur
3. Vom Kapitalismus zum Korporatismus
4. Korporatismus als kooperativer Kapitalismus
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
3.2.5.2.3 Das Repräsentativsystem der EU: Althusius und EU im Vergleich Die verschiedenen systemtheoretischen Ansätze sind Theorien der Neuzeit, welche bei Althusius noch nicht einmal ansatzweise vorhanden waren. Dennoch kann man die Inhalte der Theorien mit der politischen Theorie des Althusius vergleichen, um Gemeinsamkeiten und Unterschiede festzustellen: So ist der phänomenologische Ansatz ein begriffstheoretischer, welcher gleichermaßen schon durch die Existenz der Repräsentation in der EU und bei Althusius Bestand hat. Der transformatorische Ansatz liegt in seinem Kern näher bei der politischen Theorie des Althusius als man zunächst vermutet. Die Nichtexistenz von Parteien bei Althusius als zwischengeschaltetes Glied zwischen Gesellschaft und Regierung kommt der Forderung des transformatorischen Ansatzes gleich: Die Herrschaft soll ohne eigene Machtansprüche der politischen Organe der Repräsentation dadurch 747 748 749 750
Vgl. Alemann, U. von (1981), S. 7. Vgl. Alemann, U. von (1981), S. 8. Vgl. Alemann, U. von / Heinze, R.G. (1981), S. 44. Vgl. Alemann, U. von / Heinze, R.G. (1981), S. 50.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
183
erfolgen, daß eine Identität zwischen Gesellschaft und Staat erzeugt wird mittels Rückbau gesellschaftlicher Spannungen. Gerade dies ist in der politischen Theorie des Althusius durch die Identität von Repräsentanten und gesellschaftlichen Individuen gegeben: Das Ständesystem mit dem Ephorenansatz bedeutet, daß das gesellschaftliche Individuum zugleich zum Repräsentanten wird und somit kein Spannungsfeld wie im transformatorischen Ansatz erzeugt werden konnte. Eine Transformation ist somit nicht erforderlich, da sich Althusius in der Phase vor einem erforderlichen Rückbau befindet; die politische Theorie des Althusius erfüllt die Forderungen des transformatorischen Ansatzes von vorn herein. Der vertretungstheoretische Ansatz ist durch das Vorhandensein der Identität von Versammlung und Magistraten sowie mit der Repräsentationsinstrumentalisierung durch Senate, Landstände und Ephoren bei Althusius ebenfalls vorhanden. Der politisch-soziologische Ansatz ist bei Althusius schon deswegen zutreffend, weil aufgrund der regionalen Gegebenheiten und der Nichtexistenz staatenübergreifender politischer Systeme der Repräsentant immer eine Bindung an die lokalen Gegebenheiten erfahren hat. Dadurch wird der Ansatz zwar inhaltlich reduziert, ist jedoch in den vorhandenen Elementen zutreffend. Der funktionale Ansatz trifft den Kern der Althusius’schen Repräsentation: Der Korporatismus sichert die Identität zwischen Staat und Gesellschaft. Durch die Nichtexistenz von Parteien ist das im funktionalen Ansatz beschriebene Problem gegenstandslos und somit der Ansatz des Althusius konform zum funktionalen Ansatz. Tabelle 11 Repräsentativansatz in der EU und bei Althusius Repräsentativansatz
EU
Althusius
Phänomenologisch
& ✓
& ✓
Transformatorisch
& ✓ , da Existenz von Parteien
& ✓ , vom Grundsatz her
Vertretungstheoretisch
✓ &
& ✓ , als doppelte Repräsentation
Politisch-soziologisch
& ✓
& ✓ , in reduzierter Form
Funktional
& ✓ , mit Trennung Staat + Verbände
& ✓ , da Korporatismus
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
3.2.6 Rechtsstaatsprinzip 3.2.6.1 Gerechtigkeit 3.2.6.1.1 Der Gerechtigkeitsbegriff bei Althusius Althusius entwickelt seine Gerechtigkeitslehre in der Dicaelogica (vgl. Kapitel 3.1), welche eine Allgemeine Rechtslehre auf römisch-rechtlicher Grundlage darstellt751. Der Gerechtigkeitsbegriff bei Althusius dürfte insbesondere auch durch die Definition von Fernando Vázquez als Mitglied der Schule von Salamanca geprägt sein. Bei Vázquez ist ein Gesetz im Rahmen seiner Naturrechtslehre dann gerecht, wenn es notwendig und nützlich ist752. Vázquez bezieht sich bei seinem Gerechtigkeitsbegriff im Sinne der Rechtmäßigkeit der Staatsgewalt auf Platon und Cicero: Die Staatsgewalt muß bei allen ihren Handlungen an das Beste für die Bürger denken und nicht an den eigenen Vorteil und sie muß dem ganzen Staat ihre Fürsorge zuwenden und nicht bestimmte Teile vernachlässigen. Weiterhin sollen alle nach gleichen Grundsätzen gefördert werden, so daß es nicht nur Einzelnen auf Kosten anderer gut gehe. Das Volk selbst hat seine Interessen zu beurteilen; sein Urteil muß geachtet und befolgt werden753. Die Gerechtigkeit im Staat steht bei Althusius unmittelbar im Zusammenhang mit dem Begriff der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Diese baut auf die Eintracht („concordia“) und das Wohlwollen („benevolentia“) ihrer Mitglieder auf. Nur dadurch entsteht eine Zusammengehörigkeit durch gegenseitige Ergänzung, Hilfe und Mitteilung der für das gemeinschaftliche Leben nützlichen und notwendigen Dinge. Durch diese Hilfsbereitschaft entsteht ein Geist der Gerechtigkeit. Althusius definiert die Gerechtigkeit als „Geist des Zusammenlebens“ („virtus symbiotica“). Die Gerechtigkeit ist demnach kein Formalbegriff; vielmehr sagt sie aus, daß Gerechtigkeit dann besteht, wenn die Interessen des Einzelnen dem Gemeinschaftsinteresse untergeordnet wird. Gerecht ist also der Wille der Gemeinschaft. Allerdings wird der Gemeinschaftswille nicht durch das gesamte Volk erhoben, da Althusius von einem eher negativen Natural des Menschen ausgeht. Statt dessen führt er aus, daß die Fähigkeiten der Menschen ungleich verteilt sind und die „virtus“ bei der Elite vertreten sei754. Willensbildend dürften demnach die Ständevertreter als Mitglieder der Elite – z. B. die Ephoren – sein 755. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XIV sowie Strohm, Ch. (2004), S. 74. Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 50. 753 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 146. 754 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, §§ 35 – 38, S. 31 und Kap. IX, § 8, S. 113. 755 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 83 f. 751 752
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Eine Herrschaft ist nach Althusius dann gerecht, wenn756: – die Herrschaft Sorge trägt für das öffentlich Nützliche und Zweckmäßige sowie Unzuträglichkeiten abwehrt, – die Verwalter der Herrschaft den Gesetzen entsprechend regieren und diese als übergeordnet anerkennen.
Althusius beschreibt das Ziel von Gerechtigkeit wie folgt: „. . . weil die Gerechtigkeit ein Gesetz wirksam, unverletzlich und unantastbar macht“757. Bekannt sind ihm die Begriffe der ausgleichenden und der austeilenden Gerechtigkeit, welche die Zuteilung von Strafen und Belohnungen bei ersterer nach einer arithmetischzahlenmäßig ausgerichteten Gerechtigkeit und bei letzterer nach einer geometrisch ausgerichteten Gerechtigkeit vorsieht758, was einer ähnlichen Systematik wie der heutigen Unterteilung in ausgleichende und zuteilende Gerechtigkeit (vgl. Kapitel 3.2.6.1.2) entspricht. Althusius kennt sogar eine Verwaltung der Gerechtigkeit759, welche jedoch als exekutive Funktion einer Gesetzesausführung zu sehen ist und mit dem heutigen Gerechtigkeitsbegriff nichts gemein hat.
3.2.6.1.2 Der Gerechtigkeitsbegriff in der EU Nach heutigem Verständnis – dies gilt auch für die EU – ist Gerechtigkeit als ein Grundwert definiert, aus welchem sich die Idee, die Zweckmäßigkeit und die Rechtssicherheit des Rechts aufbaut. Inhaltlich ist die Gerechtigkeit von den Vorstellungen und Zielen der politischen Gemeinschaft und der Annahme einer absolut gültigen Werteordnung760 geprägt. Gerechtigkeit ist das Ziel des Rechts sowie das Ziel, welches mit einer Rechtsentscheidung erreicht werden soll. Das Gleichheitsproblem ist eng mit der Frage der Gerechtigkeit verbunden: Sie wird erreicht, wenn Recht nach dem Grundsatz „Jedem das Seine“ durch gleichmäßige Behandlung unter Zugrundelegung der Fallprämissen und nicht „Jedem das Gleiche“ gesprochen wird761. Das Wesen der Gerechtigkeit ist zu betrachten als – Maximum des kollektiven Wohlergehens
Dies ist dann erreicht, wenn es den Meisten am besten geht. Dabei ist die Definition des Wohlergehens als subjektiv zu betrachten. Im Utilitarismus wird die Nützlichkeitstheorie angewandt; sie besagt, daß Gerechtigkeit das ist, was für die meisten Menschen am nützlichsten ist. Auch hier steht die Kritik im Raume, ob das nützlichste auch immer das beste ist. 756 757 758 759 760 761
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 34 ff., S. 173. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 5, S. 298. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 15, S. 301. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 15, S. 301. Vgl. Herder Verlag (1988), S. 84. Vgl. Sutor, B. (1979), S. 252.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Das Streben, das Richtige zu tun
Eine Auslegung der Frage, was das Richtige schlechthin ist, wird ebenso subjektiv zu beantworten sein. Konsequenz wäre unter Umständen, daß Ungerechtigkeit vorhanden ist, wenn jemand eine andere Denkart über einen Vorgang zugrunde legt. Die Kritik an diesen Gerechtigkeitskriterien führt zur Gerechtigkeitssystematik: – Prinzip der ausgleichenden Gerechtigkeit: „Justitia commutativa“
Das Prinzip enthält eine Verhältnismäßigkeit für die Anwendung der Rechtssanktion oder Rechtsfolge. Gleiche Sachverhalte werden an relativen Maßstäben gemessen. So erfolgt die Strafmaßermittlung z. B. durch Tagessätze; dadurch wird die Höhe der Strafe bei gleichem Delikt am relativen Einkommen bemessen. – Zuteilende Gerechtigkeit: „Justitia distributiva“
Die zuteilende Gerechtigkeit behandelt ungleiche Sachverhalte nach der Maßgabe ihrer Ungleichheit gemäß der Formel „Jedem das Seine“, d. h. das was ihm zusteht. Die ausgleichende Gerechtigkeit soll dann angewandt werden, wenn die Dinge völlig gleich sind, die zuteilende Gerechtigkeit, wenn die Dinge ungleich sind. Um Gerechtigkeit zu erreichen sind gleiche Sachverhalte gleich zu behandeln, ungleiche Sachverhalte nach Maßgabe ihrer Ungleichheit ungleich zu behandeln. Insofern ist die Definition bei Althusius mit dem heutigen Gerechtigkeitsverständnis gleich zu setzen: Der Wille der politischen Gemeinschaft bestimmt inhaltlich die Gerechtigkeit, welcher zugleich in der Systematik der Rechts- und Staatsordnung bei Althusius manifestiert wird. Die Systematik der Gerechtigkeit in den heutigen Begriffen der „Justitia commutativa“ und der „Justitia distributiva“ lag auch damals schon vor, da deren Ursprung bei Aristoteles762 liegt und insofern alles andere als neu ist. Insgesamt bestehen kaum Unterschiede im Gerechtigkeitsbegriff der EU und dem Althusius’.
3.2.6.2 Recht763 Recht ist zu unterscheiden von bloßen Regeln der Gemeinschaft wie z. B. Höflichkeitsregeln oder Spielregeln. Recht ist das Gesetzte und somit im Gesetz positiviert; gesetztes Recht ist positives Recht. Als Gegenpol dazu steht ein nicht gesetztes Recht: Der Über-Positivismus im Naturrecht als Gesetze, welche unabhängig von der Verfügbarkeit des Menschen existieren. Die heutige, auch in der EU gültige Unterscheidung von objektivem Recht als auf Dauer angelegte, verbindliche und abstrakte Rechtsordnung und subjektivem 762 763
Vgl. Aristoteles (Reclam 1969), Buch V, S. 119 ff. Vgl. die Ausführungen zum Recht bei Althusius bei Reibstein, E. (1955).
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Recht als rechtsausübende Macht, welche durch das objektive Recht verliehen ist und die Durchsetzung der als schutzwürdig anerkannten Interessen vorsieht, gab es bei Althusius – wenn auch nicht unter diesen Begriffen – implizit ebenfalls.
3.2.6.2.1 Naturrecht und positives Recht bei Althusius Das Naturrecht wurde bei Aristoteles („das Polisrecht ist teils Natur-, teils Gesetzesrecht“764), der römischen Stoa sowie der Scholastik schon angeführt und zieht sich bis zur modernen, rationalistischen Naturrechtslehre des 20. Jahrhunderts von Vertretern wie dem anglikanischen Theologen Richard Hooker mit seinem Werk „Of the Laws of Ecclesiastical Polity“ (1958)765. Es ist definiert als „ein durch die natürliche Vernunft des Menschen aus einer metaphysischen natürlichen Ordnung oder aus einem mathematisch konstruierten rechtlichen Grundaxiom hergeleitetes System von allgemeingültigen und unveränderlichen Rechtsnormen bzw. Rechten und Pflichten, die rechtliche Geltung haben per se, unabhängig von der menschlichen Positivierung oder Formgebung“766. Oder bei Aristoteles: „Das Naturrecht hat überall dieselbe Kraft und Geltung und ist unabhängig von Zustimmung oder Nicht-Zustimmung der Menschen“767 oder bei Hooker: „Dieses Gesetz, das wir ewig nennen können, ist jenes, das Gott vor allen Zeiten sich selbst und allen Dingen gegeben hat, um danach zu handeln“768. Das positive Recht dagegen ist von der menschlichen Willensbildung abhängig. Insofern besteht in der traditionellen Naturrechtslehre ein Dualismus zwischen Naturrecht und positivem Recht. Diese Dualismusdiskussion wurde noch bis in das 21. Jahrhundert hinein fortgesetzt. Das Naturrecht hat bei Althusius eine entscheidende Rolle in seiner Lehre vom Rechtsstaat mit der „Verankerung des Staates im Recht und des Rechts in der Moral“769 inne, wobei er sich oft auf Didacus Covarruvias und Fernando Vázquez, Mitglieder der Schule von Salamanca770, bezieht771. Naturrecht ist bei Fernando Vázquez „die rechte Vernunft, die der Menschheit nach dem Willen Gottes angeboren ist“772. Die Verbindung vom Naturrecht zur Politik schlägt Fernando Vázquez über das „ius gentium“, welches aus dem „ius naturale“ abgeleitet wird und zur Vgl. Aristoteles (Reclam 1969), Buch V, S. 138. Vgl. die Ausführungen bei Euchner, W. (1979), S. 14 ff. 766 Eikema Hommes, H. J. van (1988), S. 372. 767 Vgl. Aristoteles (Reclam 1969), Buch V, S. 138. 768 Hooker, R., book I, II, sect.6, p. 154. 769 Reibstein, E. (1955), S. 1. 770 Vgl. die näheren Ausführungen zur Schule von Salamanca bei Reibstein, E. (1955), S. 17 ff. 771 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 2. 772 Reibstein, E. (1955), S. 49. 764 765
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Volkssouveränität führt, indem der Bürger als Teilnehmer am Staatsvertrag eigentlicher Inhaber der Staatsgewalt ist773. Die inhaltliche Auslegung des Naturrechtes bei Althusius und seine Deutungen wurden in der Literatur z. B. durch H. J. van Eikema Hommes oder E. Reibstein hinreichend erörtert774. Althusius unterscheidet Zivilrecht und Naturrecht, wobei er das Naturrecht in seiner Dicaeologica 36, 6 sowie 36, 11 und 37, 18 wie folgt beschreibt775: „Das natürliche und allgemeine Recht ist das, was die rechte gemeinsame Vernunft wegen der allgemeinen Notwendigkeit und Nützlichkeit des sozialen menschlichen Lebens hervorbringt. Deshalb heißt es Naturrecht“, „Das allgemeine Recht ist das, was von der Natur oder von Gott unmittelbar den Herzen der Menschen eingeschrieben ist“, „Als sogenanntes Naturrecht wird das genannt, was die einfache urteilende Vernunft ohne Beweise zu bringen den Menschen lehrt, insoweit er Mensch und ein vernünftiges Lebewesen ist“. Das allgemeine Gesetz ist mit dem Dekalog (vgl. dazu die theologischen Elemente in der politischen Theorie des Althusius Kapitel 3.2.2.3) als identisch zu betrachten776. Insofern wird bei Althusius nicht zwischen Naturrecht und göttlichem Recht unterschieden (ebenso bei Calvin): Beide stehen in Übereinstimmung777. Bei Althusius verbinden sich gesetztes Recht („ius proprium“) und Naturrecht („ius gentium“), wobei beide unterschieden werden, ohne einen Dualismus auszulösen778. Das Recht des Staates hat nach Althusius das Ziel, die allgemeine Zucht und Ordnung im Staatsgebiet aufrecht zu erhalten, die Glieder des Staates zu einem Volk zu vereinigen und das Volk wiederum zu einem Körper mit einem Haupte zu verbinden. Das höchste Recht, das „ius majestatis“, lenkt die Handlungen aller an der politischen Gemeinschaft Teilnehmenden. Eine höhere Gewalt gibt es nicht. Sie ist zeitlich ungebunden und – hier erfolgt die Verknüpfung zum Naturrecht – an das göttliche Gesetz genauso gebunden wie an das positive Recht779. Die Dualismusdiskussion ist bei Althusius somit gegenstandslos geworden: Bei ihm ist das Naturrecht nicht ein per se geltendes, vom Menschen unabhängiges Recht, sondern viel mehr nur der materielle Inhalt des positiven Rechts, welches seine rechtliche Geltung ausschließlich durch die menschliche Rechts773 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 51; vgl. auch die Ausführungen bei Nifterik, G.P. (2004), S. 371 ff. 774 Vgl. dazu die Ausführungen bei Scattola, M. (2004), S. 371 ff. und die dortigen Literaturhinweise. 775 Zitiert aus Janssen, H. (1992), S. 97; vgl. weitere Beschreibungen des Naturrechts in der Decaeologica des Althusius bei Janssen, H. (1992), S. 98. 776 Vgl. Janssen, H. (1992), S. 159. 777 Vgl. Vries de, S. / Nitschke, P. (2004), S. 115 und S. 119. 778 Vgl. dazu die Ausführungen bei Eikema Hommes, H. J. van (1988), S. 384 sowie Nitschke, P. (1995), S. 161 f. 779 Vgl. Eßer, H. H. (1988), S. 168.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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setzung erhält780. Insofern ist die Rechtskonstruktion des Althusius mit der Verknüpfung von Naturrecht und positivem Recht schon moderner und damit näher am Rechtssystem der EU als die der noch heute einer Dualismusdiskussion verbundenen Naturrechtsdenker. Althusius bezeichnet das reine Naturrecht als „ius commune“, „lex naturalis sive naturae“, „ratio universalis“, „lex tacita“, „ius quod cum genere humano natura prodidit“, „lex dei“, „sive ius die“, „ius immutabile“. Weiterhin gibt es das „ius gentium“, welches bei Althusius ebenfalls identisch mit dem Naturrecht ist, wobei hier das sekundäre Naturrecht gemeint ist, welches von der menschlichen Vernunft in bezug auf die menschliche Gesellschaft hergeleitet wird781. Hier zeigt sich wiederum die Symbiose von Naturrecht und positivem Recht bei Althusius. Positives Recht kann nach Althusius nicht unabhängig von göttlichem Recht und vom Naturrecht bestehen: Althusius hat damit den Dualismus des traditionellen Naturrechtsbegriffes durchbrochen782. Die naturrechtlichen Pflichten werden bei Althusius in zwei Teilbereiche unterschieden, welche sowohl in der Dicaeologica als auch in der Politica vorkommen: – Verpflichtungen sich selbst gegenüber
Hierzu zählen die Selbstverteidigung, die Erhaltung des Lebens und die Erzeugung der Kinder aus einer ehelichen Verbindung. – Verpflichtungen anderen gegenüber
Hierunter werden die Beziehungen zu Gott und den Mitgliedern einer Gemeinschaft gesehen, wobei Althusius auf die beiden Tafeln des Dekalogs Bezug nimmt und die Zusammenfassung unter das zentrale religiöse Liebesgebot des Matthäus vornimmt. Das Naturrecht bei Althusius ist zu betrachten als „zeitloser Sachverhalt gesellschaftlicher Ordnungsverhältnisse“ und „Gegenstand einer vom Individuum über die Gruppe bis hin zur Universalgemeinschaft aufgebauten Gesellschaft“783, dient somit Althusius als Grundlage seiner Typologisierung der Gesellschaft und ist rechtlicher Grundbaustein der auf die „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) aufgebauten föderalen Staatsstruktur (vgl. zum Föderalismus Kapitel 3.2.7.1.1). Das Naturrecht kommt in der Politica des Althusius immer wieder in verschiedenen Zusammenhängen vor, wovon nachfolgende beispielhaft skizziert werden sollen: – Im Zusammenhang zwischen dem Souveränitätsrecht (= Herrscherrecht) und dem Naturrecht: „Die Höchste (die höchste Gewalt im Reich = die weder gesetzVgl. Eikema Hommes, H. J. van (1988), S. 373. Vgl. Eikema Hommes, H. J. van (1988), S. 373 ff. 782 Vgl. Vries de S., Nitschke, P. (2004), S. 115 und die dortigen Literaturhinweise auf Eikema Hommes H. J., van. 783 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 201. 780 781
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
lich noch zeitlich begrenzte, immerwährende Herrschaftsgewalt, Anm. des Verfassers) ist sie deshalb nicht, weil jede menschliche Gewalt das göttliche und natürliche Gesetz als ein Höheres anerkennt“784. – Über die Einräumung von Privilegien für Reichsbewohner in Form von Leistungsbefreiungen durch die Körperschaft: „Denn weder kann ein Vater seinen Sohn von der geschuldeten Last und Gehorsampflicht entbinden noch der Ehemann seine Frau oder der Lehrer seine Schüler, weil dies zum unwandelbaren natürlichen Recht gehört“785. – Über die Wahl der Ephoren: „Denn das Naturrecht und Gott als Schöpfer der Natur und des Rechts hat jedem Volk die volle und freie Fähigkeit gegeben, sich selbst zu regieren“786. – Über die Gleichstellung und Weisungsbefugnis der obersten Magistrate: „weil Gott, das Naturrecht, das Recht der Völker und die Ephoren bzw. das Reich höher stehen als der König und über ihn herrschen“787. – Über das Recht der Beseitigung eines Tyrannen: „Das Volk oder die das Volk repräsentierenden Ephoren hätten keinen Herrscher hervor gebracht. Deshalb könnten sie ihn seines Amtes auch nicht entheben. Ersteres bestreiten wir. Das Gegenteil haben wir aus dem Recht der Völker und dem Recht Gottes nachgewiesen“788.
Das positive Recht besteht bei Althusius aus zwei Komponenten789: – Mit dem Naturrecht übereinstimmendes positives Recht Hier ist der Ausgangspunkt der beiden Rechtssystematiken das entscheidende Kriterium: Die Übereinstimmung ist vorhanden, wenn das Prinzip, von welchem das Recht hergeleitet wird, der Gegenstand und der Zweck der Regelung identisch sind. – Aus dem Naturrecht erweitertes positives Recht Wird eine Regelung auf die besonderen Umstände der menschlichen Verhältnisse angepasst, demnach etwas hinzugefügt oder etwas weggenommen, so liegt eine Erweiterung oder Anpassung vor, obwohl das Prinzip vorhanden bleibt. Gründe für die Anpassung sind nach Althusius die bessere Information des Gesetzgebers über den Zweck einer Regelung sowie die Erforderlichkeit einer Anpassung aufgrund örtlicher und zeitlicher Gegebenheiten.
Das positive Gesetz selbst versteht Althusius in der Politica als die Art und Weise sowie die Form, innerhalb der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) 784 785 786 787 788 789
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 21, S. 117. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XV, § 8, S. 147. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 59, S. 178. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 96, S. 186. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 85, S. 406. Vgl. Eikema Hommes, H.J. van (1988), S. 382 ff.
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gerecht zu handeln und zu leben790, wobei die Art und Weise sich in der zweiten Tafel des Dekalogs findet791. Die Systematisierung zwischen generellem und speziellem Recht ist der des „ius majestatis generale“ und des „ius majestatis speciale“ (vgl. Kapitel 3.2.6.2.3) ähnlich und entspricht auch der heutigen Rechtssystematik der EU mit Verfassung, Gesetzen, Verordnungen und Gerichtsurteilen: Verfassungen, Gesetze und Verordnungen stecken dabei den Rahmen der Regelungen ab und müssen auch relativ allgemein gehalten sein, um alle möglichen Praxisfälle generell regeln zu können und unter dieser Formulierung subsumieren zu können. Gesetzeskommentare und Gerichtsurteile beschreiben die Regelungen der Einzelfälle mit konkreter Beschreibung der Sachverhalte. Althusius hat demnach eine ähnliche Systematik, welche nur durch die damalige Vorherrschaft des Naturrechts rechtsinhaltlich anders gelagert, jedoch rechtssystematisch gleich ist. 3.2.6.2.2 Gemeinschaftsrecht („ius symbioticum“) bei Althusius Bei Althusius erscheinen zwei zentrale Rechtsbegriffe: – „ius symbioticum“, – „ius majestatis“ (vgl. Kapitel 3.2.6.2.3).
Der erste Begriff des „ius symbioticum“ bildet die Überleitung vom Gerechtigkeitsbegriff zum Rechtsbegriff. „Ius symbioticum“ ist das Recht, welches jedes Gemeinschaftsmitglied dem anderen zugesteht792. Eng damit verbunden sind die „politeuma“ als Rechte derer, welche an der Gemeinschaft teilnehmen. Die „politeuma“ ist Recht und Pflicht zugleich793: Zum einen die Pflicht und die Fähigkeit für die „consociatio symbiotica“ die Bestandteile für deren Funktionieren in Form von gegenseitiger Hilfe und Ergänzung beizusteuern und zum anderen das Recht und die Fähigkeit sich an der Gemeinschaft zu beteiligen. Dahinter steckt der Gedanke der Demokratie durch Mitbestimmung. Der Gedanke ist später für die Entwicklung des Föderalismus bei Althusius bedeutsam (vgl. Kapitel 3.2.7). Das „ius symbioticum“ ist bestimmend für die Gemeinschaftsstruktur bei Althusius: Während soziologisch zwischen privaten und öffentlichen Gemeinschaften als Körperschaft unterschieden wird, wird juristisch die „politeuma“ der Körperschaft zugewiesen und ist damit ein Strukturprinzip für die Körperschaft794. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.X, § 7, S. 126. Vgl. Janssen, H. (1992), S. 116. 792 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 6, S. 34: „Symbiotisches Recht ist das, was der Einzelne in der privaten Gemeinschaft dem jeweils Anderen zu gewähren hat.“ 793 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 5, S. 58. 794 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 90. 790 791
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Das „ius symbioticum“ ist mehr als nur ein Teil der Rechtssystematik, wie Althusius in seiner Dicaeologica beschreibt: Das reine Recht ist definiert als Normen des äußeren Verhaltens mit dessen Gegenstand der äußeren Gerechtigkeit sowie dessen Erscheinungsform der äußeren Ordnung. Mit der Verknüpfung des reinen Rechtsordnungsbegriffes der Rechtslehre mit dem ethischen und moralphilosophischen Begriff der Staatslehre gelingt Althusius die Definition des „ius symbioticum“ als Politikbegriff im Sinne der inneren Beziehungen aller menschlichen Gemeinschaft795. Die „consociatio symbiotica“ wird erst durch das „ius symbioticum“ zu dem was sie begrifflich sein soll und bleibt es nur solange, wie es Bestand in ihr hat796.
3.2.6.2.3 Souveränitätsrecht („ius majestatis“) bei Althusius Althusius systematisierte das Recht in unterschiedliche Sparten. Das Souveränitätsrecht unterteilte er in797 – „ius majestatis generale“, – „ius majestatis speciale“.
Das „ius majestatis“ ist mit heutigem Begriff das Verfassungsrecht. Es klärt die Frage des funktionalen Ordnungsgefüges der in der Gemeinschaft lebenden Mitglieder samt der Frage der Führung der Gemeinschaft mittels Verfassung. Es wird bei Althusius auch das Recht des Staates („ius regni“) genannt. Das „ius regnis ist jedoch bei Althusius kein Rechtsbegriff „sondern nur die auf den Staat bezogene Formulierung des „ius symbioticum“ im Sinne seiner aristotelischen Gemeinschaftslehre“ 798. Das Souveränitätsrecht gibt den zusammengefassten Gemeinschaftsmitgliedern einen Staatskörper, es stellt die Regeln für das Funktionieren eines Staates auf und lenkt die Rechte und Pflichten der Gemeinschaftsmitglieder und der Gemeinschaft selbst. Das Souveränitätsrecht ist zudem oberste Befehlsgewalt, welche nicht durch andere Rechte gebrochen wird und keine anderen Rechte neben sich stellt. Das Souveränitätsrecht steht in der Hierarchie über dem Recht von Kreis und Stadt799. Das „ius majestatis“ beschreibt die politisch-moralische Zielsetzung des Staates als oberste soziale Gemeinschaft800. Das „ius majestatis“ steht dem Volk durch Gottes Legitimation als alleinigem Inhaber des Majestätsrechtes zu. Es ist Naturrecht und damit unveräußerlich, unVgl. Reibstein, E. (1955), S. 85. Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 86 sowie S. 90 und vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 10, S. 25. 797 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 92 ff. 798 Reibstein, E. (1955), S. 210 und vgl. die dortigen näheren Ausführungen. 799 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, §§ 12 – 15, S. 114 f. 800 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 209. 795 796
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teilbar und unabänderlich801. Es kann nur über den Herrschaftsvertrag auf Obrigkeiten übertragen werden (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1 sowie Kapitel 3. 2. 31.1). Das „ius majestatis“ äußert sich juristisch im Tatbestand der Souveränität, welche unveräußerlich, unteilbar, jedoch nicht unbeschränkt ist802. Das „ius majestatis generale“ ist das allgemeine Recht der Souveränität der Verfassungsgesetzgebung. Das „ius majestatis speciale“ dagegen ist bei Althusius das öffentliche Recht der Verwaltung mit Verordnungen im Sinne der heutigen einfachen Gesetzgebung. Damit ist die Spezifikation der beiden Begriffe identisch mit denen bei John Locke. Die Vorstufe der Gewaltenteilung findet sich demnach schon bei Althusius. Dies wird besonders deutlich in der Unterscheidung der Funktionen des Rates gegenüber dem Bürgermeister. Der Rat als übergeordnetes Organ hat Gewalt über alle Bürger, der Bürgermeister dagegen nur gegen den einzelnen Bürger. Althusius unterscheidet also zwischen allgemeinem Recht („ius generale“) und spezifischer Maßnahme („ius speciale“), was ansatzweise heute der Trennung zwischen Legislative und Exekutive entspricht.803 Eine Gewaltenteilung nach heutigem Verständnis gab es bei Althusius jedoch noch nicht: 3.2.6.2.4 Gewaltenteilung bei Althusius Das System der Gewaltenteilung wurde jedoch erst von Locke und Montesquieu theoretisch fundiert und ist bei Althusius so nicht zu finden. Bei Althusius findet sich eher eine Vorstufe zur heutigen systematischen Definition der Gewaltenbalance. Auch die Verwandtschaft der Lehre Montesquieus zu Althusius läßt diesen Schluß zu. Die Gewaltenteilung war demnach bei Althusius nicht ausformuliert, jedoch steckt sie in seinem Staatssystem in unterschiedlichen Konstruktionen und läßt sich als Urform oder Ansatz einer Gewaltenbalance bezeichnen. Bei Althusius setzt das Volk den „summus magistratus“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) als Amtsträger und damit Herrscher feierlich ein („inauguratio“) mit der Verpflichtung („stipulatio“), die bestehenden Gesetze mit der Übertragung des „ius regni“ (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1) zu beachten. Daraus entsteht die Forderung, daß diejenigen, die dieses Recht übertragen auch die Möglichkeit der Prüfung und Kontrolle der Ausübung dieses Rechtes ob der Erfüllung im Sinne des ursprünglichen Inhabers des „ius majestatis“ haben804. Die Gewaltenteilung findet sich bei Althusius ansatzweise in folgenden vier Konstruktionen805: Vgl. Wolf, E. (1963), S. 193. Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 209. 803 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 92 ff. 804 Vgl. Wolf, E. (1963), S. 195. 805 Achterberg, N. (1988), S. 497 ff. unterscheidet nur die drei Konstruktionen Widerstandsrecht, Ephorenlehre und Staatsfunktionen. 801 802
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Gewaltenbalance zwischen Herrscher und Repräsentativorganen806
Althusius sieht eine gegenseitige Zurechtweisung, Kritik und Aufsicht zwischen Magistraten und Ephoren vor807. Den Magistraten werden auf allen Ebenen Repräsentativorgane gegenübergestellt, welche an der Herrschaftsausübung teilhaben. Dabei nimmt Althusius ein Kräftegleichgewicht an, wobei bei Reichtagsschlüssen das Votum der drei Kollegien – bestehend aus Kurfürsten (erstes Kollegium), Reichsfürsten, Erzbischöfe, Meister des deutschen Ordens, Äbte, Prälate und Reichsgrafen (zweites Kollegium) sowie Vertreter der Reichsstädte (drittes Kollegium)808 – das des Herrschers überstimmen kann809. – Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) – Ephorenlehre
Die Ephorenlehre hat bei Althusius hohes Gewicht (vgl. Kapitel 3.2.1.1). Die Senate810 und Landstände811 für Gemeinden und Provinzen sowie Ephoren812 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände als etablierte Stände – weitere Stände sind der Lehrstand, der Wehrstand und der Nährstand813 – hatten Rechte und Pflichten im Staatsgefüge: Sie haben die Oberherrschaft über das Gemeinwesen und repräsentieren das Volk. Senate, Reichsstände und Ephoren haben somit eine ausübende und kontrollierende, jedoch von der Souveränität losgelöste Stellung im Staat. Es besteht eine Zweiteilung zwischen Organen (Senate, Reichsstände, Ephoren) und dem Souverän. Auch in seiner Stellung gegenüber dem Volk kommt der Gewaltenteilungsgedanke zum Tragen: Althusius vertritt die These, daß der Souverän wegen des Volkes da sei. Der Konstituierende steht demnach höher als der Konstituierte. Dies bedeutet jedoch gleichzeitig, daß der Konstituierende die Möglichkeit des Widerrufs der Gewalt des Konstituierten hat, demnach dessen Gewalt begrenzen oder sogar aufheben kann. Insofern sind folgende Typen des heutigen Gewaltenteilungsbegriffes in der Ephorenlehre zu finden, und zwar durch folgende bezeichnete Inhalte: – Staatsrechtliche Teilungslehre: jedoch keine vollständige Trennung in gesetzgebende, ausführende und rechtsprechende Gewalt. – Temporale Teilungslehre: begrenzte Amtszeit der Senate, Reichsstände, Ephoren.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XXII. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, §§ 91, S. 184. 808 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, §§ 56,59,63, S. 343 f. 809 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXXIII, § 81, S. 345. 810 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 811 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 812 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 813 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 117 und Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 45, S. 102. 806 807
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– Föderative Teilungslehre: der Stand der Ephoren als Ausdruck der Gliedstaatsgewalt. – Soziale Teilungslehre: Einteilung in Stände. – Staatsfunktionen814
– Gesetzgebung Die Gesetzgebung wird bei Althusius als allgemeines weltliches Hoheitsrecht verstanden. Durch die Gesetzgebung wird den in der zusammenlebenden Gemeinschaft Mitgliedern Art und Form der Symbiose vorgeschrieben. Dabei hat das Gesetz Vorrang, nach welchem sich die Gesellschaft anzupassen hat. – Vollziehung der Gesetze Die Verwaltung hat die Aufgabe der Handhabung des Rechtes mittels Handlungen, welche das Wohl der Gemeinschaft sichern sollen. Die öffentliche Handlung ist jene, welche dem Gemeinwohl der Gesellschaft dienen und welche mit dem Eingriff in die Gesellschaft diese vor dem Untergang bewahren soll. Dabei werden den Ständen Aufgaben zugewiesen, um dieses Gemeinwohl zu erreichen: Adelsstand, Bürger und Bauern (= weltlicher Stand) haben für das leibliche Wohl, den Lebensunterhalt, die Kleidung und alle sonstigen für die Lebensführung wichtigen Angelegenheiten zu sorgen815 und der Ritterstand muß die Verteidigung und die Einhaltung des Rechts gewährleisten. Althusius konstruiert mit dieser Unterteilung in leistende und ordnende Verwaltung demnach eine Gewaltenteilung auch auf soziologischer Basis. – Rechtsprechung Aufgabe des Staates ist, die Sicherheit und den Schutz der Gesellschaftsmitglieder zu gewährleisten. Dazu ist eine Gemeindegerichtsbarkeit – welche territorial begrenzt ist – notwendig. Althusius verwendet viel Raum für die Beschreibung der Beziehung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung der Gesetze. Die Regierungsgewalt hat ihre Grenzen in der Orientierung am Gemeinwohl, ist demnach nicht unbegrenzt und absolut. Diese Grenze darf schon deshalb nicht überschritten werden, weil der Herrscher nicht dem Recht übergeordnet, sondern sein Wächter, Diener und Ausführer ist816; überschreitet er diese dennoch, so steht er nicht mehr als Herrscher über dem Volk und ist nicht mehr über die Geschäfte des Volkes eingesetzt817. Daraus ergibt sich eine gewissermaßen intrapersonale Gewaltenteilung, welcher bis heute kein Pendant gegenüber gestellt wurde und somit in der politischen Theorie der EU nicht zu finden ist: Althusius unterscheidet zwischen 814 815 816 817
Vgl. Achterberg, N. (1988), S. 504 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 45 f., S. 102. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 46, S. 175. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 94, S. 185 f.
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Individuum und Kollektiv. Das Individuum untersteht dem Herrscher, das Kollektiv dagegen steht über dem Herrscher. Der Herrscher steht für den Fall des Verstoßes gegen das Gemeinwohl nicht mehr über dem Individuum, ist zugleich nicht mehr Herrscher und untersteht damit dem Kollektiv818. 3.2.6.2.5 Das Rechtssystem bei Althusius819 Althusius als Jurist verfasste die erste deutsche „Allgemeine Rechtslehre“. Er verfasste zwei juristische Hauptwerke, welche eine schematische, kategoriale Systematisierung des Rechts beinhaltete; sie wurde auch als Lehrbuch verwendet (vgl. Kapitel 3.1). Folgende Ebenen der Systematisierung werden bei ihm unterschieden, wobei die Gliederungen noch tiefer als bei nachfolgender Übersicht sind820: – Allgemeine Rechtslehre („membra“821),
– Soziale Tatbestände des Rechtslebens („factum civile“), – Menschen als Rechtssubjekte („personae“), – Einzelne Menschen („homines singulares“), – Korporationen („homines coniuncti, consociati et cohaerentes“), ➯ Unterscheidung in ,,Unterlassen" und ,,Tun", wobei letzteres in recht-
liches ,,Wollen" und rechtliches ,,K nnen" gegliedert ist. – Gegenstände als Rechtsobjekte („res“), – Einzelsachen, – Gesamtsachen, – Körperliche Sachen, – Bewegliche Sachen, – Unbewegliche Sachen, – Unkörperliche Sachen, – Vertretbare Sachen, – Unvertretbare Sachen, – Juristische Form bzw. rechtliche Regelung („ius“),
– Objektives Recht, – Positives Recht, – Naturrecht, – Geschriebenes Naturrecht, Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 95, S. 186. Vgl. zur Rechtslehre des Althusius die näheren Ausführungen bei Strom, Ch. (2004), S. 71 ff. sowie vgl. Wolf, E. (1963),S. 208 ff. 820 Vgl. Althusius, Dicaeologica 1.I und 1.II. 821 Vgl. Strohm, Ch. (2004), S. 86. 818 819
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Ungeschriebenes Naturrecht, – Absolutes und relatives, – Verbietendes und erlaubendes, – Subjektives Recht, – Herrschaftsverhältnisse über Sachen, – Dingliche Rechte („dominium“), – Rechte an eigenen und fremden Sachen: Eigentum, Besitz etc., – Eigentum an öffentlichen Sachen: Kirchengut und Staatsgut822, – Öffentliche Gewalt über Personen: Allgemeine und besondere Staatsgewalt, – Rechte an eigenen und fremden Personen: Freiheit, sittliche Ehre etc., – Persönliche Rechte („obligatio“), – Besonderer Teil des Rechts („species“823),
– Zuteilung der Rechte („dicaiodotica“ 824), – Rechtserwerb („dicaiodotica acquirens“), – Rechtsverlust („dicaiodotica amittens“), – Rechtsverlust durch Vertrag825, – Rechtsverlust durch Delikt826 inklusive Strafrecht, – Verfahrensrecht („dicaiocritica“), – Prozeßpersonen („personae“), – Gericht (Richter („iudex“) als Vertreter des Gerichtes), – Parteien („litigantes“), – Prozeßhandlungen („quaestiones“), – Klagen („actiones“), – Einreden („exceptiones“), – Beweisrecht. Die Unterscheidung in materielles und prozessuales Recht (Verfahrensrecht) gab es in dieser Form weder im römischen noch im germanischen Recht827. Bemerkenswert ist, daß eine Trennung in allgemeine und besondere Lehre des Rechts noch heute die Jurisprudenz beherrscht. 822 So führt Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 95, S. 186 aus, daß das Eigentum des Reiches dem Volke zusteht; der Eigentumsbegriff war definiert und gebräuchlich. 823 Vgl. Strohm, Ch. (2004), S. 86. 824 Vgl. Strohm, Ch. (2004), S. 86. 825 Hier werden die Begriffe des „ius regni“ und des „ius majestatis“ eingegliedert; vgl. Kapitel II.2.1.2.1 und Kapitel II.2.6.2.3. 826 Hierunter wird der Begriff der Tyrannis kategorisiert; vgl. Kapitel II.2.1.3.1. 827 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 11 f.
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Beachtenswert ist dabei, daß viele Begriffe heutiger Rechtssystematik bereits bei Althusius auftauchen. Folgende Rechtsgebiete seiner Zeit wurden durch Althusius jedoch nicht eingearbeitet, was das Werk auf eine allgemeine Grundlehre der Rechtssystematik beschränkt: – Carolina, – Partikularstrafgesetzbücher, – Reichspolizeiordnungen.
Als Kritik ist weiterhin zu nennen, daß diffizile Begriffsaufspaltungen vorliegen, welche eine tatsächliche Trennung der Begriffe sachlich gar nicht zulassen, wie z. B. die Trennung von „factum civile“ und „ius“.
3.2.6.2.6 Gemeinschaftsrecht in der EU Der Begriff des Gemeinschaftsrechts hat in der EU eine wichtige Bedeutung. Er hat jedoch mit dem des Althusius nichts gemein (vgl. Kapitel 3.2.6.2.2) und wird in völlig anderem Zusammenhang verwendet. Gemeinschaftsrecht bezeichnet demnach nicht die Rechtsverpflichtung des Individuums in der zusammenlebenden Gemeinschaft, sondern vielmehr Rechtsgebiete, für welche die EU, nicht jedoch die einzelnen Mitgliedstaaten zuständig sind. Ziel des Gemeinschaftsrechtes der EU ist eine Harmonisierung, Angleichung und Gleichbehandlung der Mitgliedstaaten für bestimmte Bereiche. Zum Gemeinschaftsrecht der EU zählen828: – Außen- und Sicherheitspolitik (GASP), – Innen- und Justizpolitik (ZJI),
sowie die vier „echten“ Gemeinschaftspolitiken829 – Handelspolitik, – Wettbewerbspolitik, – Verkehrspolitik, – Agrarpolitik,
sowie die „eingeschränkten“ Gemeinschaftspolitiken830 – Sozial- und Regionalpolitik, – Forschungs- und Technologiepolitik, – Umweltpolitik, – Infrastrukturpolitik, 828
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 15. 829 830
Vgl. Thiel, E. (2001),S. 102. Vgl. Thiel, E. (2001),S. 103.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Verbraucher- und Gesundheitsschutz, – Allgemeine und berufliche Bildung sowie Kultur, – Beschäftigungspolitik.
Eng verbunden mit dem Gemeinschaftsrecht der EU ist das Subsidiaritätsprinzip, das Komplementärprinzip und das Harmonisierungsverbot (vgl. Kapitel 3.2.7), unter welchen das Gemeinschaftsrecht ausgeübt wird und welche auf diese Politikbereiche angewandt werden müssen. 3.2.6.2.7 Gewaltenteilung in der EU im Vergleich Die Gewaltenteilung ist nach heutigem Verständnis eindeutig definiert und systematisiert im Gegensatz zu dem ersten Ansatz einer Gewaltenteilungslehre bei Althusius, zu dessen Zeit dieser Ansatz in den Anfängen steckte. Die Gewaltenteilung – nicht nur als Gewaltenbalance sondern als umfassendes Gewaltenteilungssystem, wie nachfolgend zu erörtern ist – ist heute ein „Grundprinzip politisch-demokratischer Herrschaft und der Organisation staatlicher Gewalt mit dem Ziel, die Konzentration und den Mißbrauch politischer Macht zu verhindern, die Ausübung politischer Herrschaft zu begrenzen und zu mäßigen und damit die bürgerlichen Freiheiten zu sichern“ 831. Gewaltenteilung ist zu verstehen als die Verteilung der drei Staatsfunktionen Gesetzgebung, Vollzug und Rechtssprechung auf die drei Träger der Legislative, Exekutive und Judikative. Die strenge Gewaltenteilung untersagt dabei die Vereinigung mehrer dieser Funktionen in einem Träger bzw. einer Person832. Gewaltenteilung soll die gegenseitige Kontrolle voneinander unabhängiger Staatsorgane erreichen und einen Mißbrauch durch Konzentration der Macht sowie zentralisiertem Dirigismus verhindern. Funktion einer Gewaltenteilung ist die Schaffung eines Systems gemäßigter und kontrollierter Machtausübung durch eine geordnete Verteilung und Koordination der staatlichen Kompetenzen833. 3.2.6.2.7.1 Gewaltenteilungsformen und Stand Die Gewaltenteilung bezieht sich nicht nur auf eine staatsorganisatorische Gewaltenbalance, sondern auch auf die Regelung der Beziehungen und der Macht von sich oft neu bildenden Institutionen, Körperschaften und allen anderen sonstigen Vereinigungen und Organisationen, welche starke Einflüsse auf den politischen Körper ausüben können, wie z. B. das Kapital, die Gewerkschaften oder die Medien. In diesem Bereich muß das Maß an Freiheit und staatlicher Regulierung bestimmt werden und eine rechtsstaatliche Kontrolle vollzogen werden834. Das 831 832 833 834
Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 122. Vgl. Bold, H. (1998), S. 152. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 293. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 293 f.
200
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
politische Gesamtsystem setzt sich demnach aus staatlichen und aus gesellschaftlichen Teilsystemen zusammen, welche beide einer wirksamen Gewaltenteilung unterliegen müssen. Weiterhin bezieht sich Gewaltenteilung heute auch auf internationale Beziehungen. Für die Friedenssicherung und eine ausgewogene Außenpolitik ist die internationale Machtverteilung von entscheidender Bedeutung. Besonders in der EU ist die ausgewogene Verteilung der internationalen Macht für die europäische Außenpolitik innerhalb des Prinzips des europäischen Gleichgewichtes wichtig835. Nach heutigem Verständnis836 sieht die Typisierung der Gewaltenteilung sieben Bereiche vor837, welchen nachfolgend der Umsetzungsstand in der EU zugewiesen wird. Dieser kann nur als Gesamtbetrachtung den Stand der Gewaltenteilung umfassend beschreiben und damit die gravierenden Unterschiede zum Gewaltenteilungsansatz nach Althusius aufzeigen: – Staatsrechtliche Teilungslehre: funktionelle mit organisatorischer sowie horizontale Trennung von gesetzgebender, ausführender und rechtsprechender Gewalt.
– EU: – Legislative: Gesetzgebende Gewalt (Rechtsetzung): Europäisches Parlament838 und Rat839, – Exekutive: Ausführende Gewalt (Nichtstreitige Rechtsanwendung): Europäische Kommission840, – Judikative: Rechtsprechende Gewalt (Streitige Rechtsanwendung): EuGH841. Sie ist demnach von den Ausführungen des Althusius (vgl. Kapitel 3.2.6.2.4) nicht weit entfernt, obwohl bei Althusius diese systematische Trennung mit ihrer Begrifflichkeit noch nicht vorhanden war. Dennoch finden sich zu allen drei Bereichen Ausführungen in der Politica842. Der Gewaltenteilungsansatz des Althusius ist jedoch nur ein erster Schritt in Richtung Gewaltenbalance; nicht vorhanden sind bei Althusius die anderen Bereiche im Sinne eines umfassenden Gewaltenteilungssystems gemäß der siebenteiligen Typisierung der Gewaltenteilung. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 294. Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 837 In Anlehnung an Steffani, W. (1997), S. 37 ff. sowie Herder Verlag (1988), S. 88. 838 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26. 839 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 32. 840 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40. 841 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 44 f. 842 Vgl. zur Legislative Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 1 ff., S. 124 ff., zur Exekutive Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VII, § 30, § 32, §§ 33 – 36, § 40, § 41, S. 87 ff. sowie Kap.VIII, § 1, S. 94 § 40, § 41, S. 101 f., § 50, S. 102 f. und zur Judikative Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 36, § 37, §§ 41 – 43, S. 77. 835 836
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
201
Für die EU ist zu beachten, daß Gewaltenteilung sowohl in den einzelnen Mitgliedstaaten vorhanden ist, als auch im Strukturgebilde der EU. Das Gewaltenteilungssystem ist im Rechtssystem der EU jedoch wegen der fehlenden Verfassung und der damit verbundenen Dominanz der Systeme der Mitgliedsstaaten nicht vollständig eigenverantwortlich umgesetzt. Ein faktisches Vorhandensein gewaltenteilender Prinzipien ist jedoch mit dem „Grundsatz des institutionellen Gleichgewichts“ manifestiert: Die Rechtsetzung erfolgt durch verschiedene Willensbildungsprozesse, an denen alle EU-Organe teilnehmen (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) und somit maßgeblichen Einfluß auf das Zustandekommen nehmen können843. Auch die organisatorische Gewaltenteilung mit Bildung der EU-Organe richtet die EU auf das klassische Gewaltenteilungssystem – die Gewaltenbalance zwischen Exekutive, Legislative und Judikative – aus; weiterhin wurde mit der Veränderung der Gesetzgebungsverfahren (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) die Gewaltenteilung durch Machterweiterung des Europäischen Parlaments seit 1992 weiter ausgebaut. Es liegt nicht wie bei der politischen Theorie des Althusius ein erster Ansatz für eine Gewaltenteilung in der EU vor, sondern ein komplexes Gewaltenteilungssystem mit einer Einheit von Funktionen im Sinne von Kompetenzen und Strukturen im Sinne von Institutionen bzw. Organen844. So nehmen beispielsweise an einer Funktion (z. B. Gesetzgebung) verschiedene Organe teil (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) oder Organe werden paritätisch an Funktionen beteiligt: Es liegt ein System von „checks and balances“ vor, welches durch wechselseitige Kooperation und Kontrolle845 mehr ist als nur eine bloße funktionale oder personale Trennung zwischen Regierung und Parlament: “ Gewaltenteilung im weiteren Sinne bezeichnet . . . ein Grundprinzip politischer Herrschaftsgestaltung, nämlich: Die institutionelle Sicherung rechtsstaatlicher Verbindlichkeit der Normen . . . vermittels machtbeschränkender Aufgliederung und wechselseitiger Kontrollen wesentlicher Letztinstanzen sowie Aktivierung der Gesamtbürgerschaft, um einen soweit als irgend möglich bewußt vollzogenen, dauernden Integrationsprozeß zur freiheitssichernden Ganzheit hin zu erwirken“846. – Temporale Teilungslehre: Zeitliche Begrenzung von Gewalt durch Ablauf von Amtsperioden („Gewaltenteilung in der Zeit“) oder Befristung von Mandaten.
– EU: – Vorsitz im Rat: 6 Monate847, – Europäische Kommission: 5 Jahre oder kürzer bei Mißtrauensvotum848, – Präsident des Europäischen Parlaments: 2,5 Jahre849, 843 844 845 846 847 848 849
Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 72. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 23. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 24. Steffani, W. (1997), S. 27. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 37. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 28.
202
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Europäisches Parlament: 5 Jahre850, – Europäischer Bürgerbeauftragter: 5 Jahre851, – Richter und Staatsanwälte am EuGH: 6 Jahre852, – Europäischer Rechnungshof: 6 Jahre853, – WSA: 4 Jahre854, – AdR: 4 Jahre855, – sowie laufender Wechsel der Besetzungen durch Zeitablauf des staatsinternen Mandates oder durch Neubesetzung (z. B. wegen altersbedingtem Ruhestand oder Zeitablauf) bzw. Ausscheiden (z. B. durch Mißtrauensvotum oder Rücktritt) aus dem staatsinternen Mandat, wie z. B. der Staats- und Regierungschef eines Mitgliedsstaates als Mitglied des Europäischen Rates. – sowie unterschiedlichste Fristenregelungen (z. B. von Geschäftsordnungen) und Terminsetzungen in Verfahren etc.856. Tabelle 12 Gewaltenteilungsziel und -ansatz in der EU und bei Althusius Gewaltenteilungsziel und -ansatz
EU
Althusius
Gewaltenteilungsziel
Verhinderung von Machtkonzentration und -mißbrauch, Begrenzung politischer Herrschaft, Sicherung bürgerlichen Freiheiten
Verhinderung von Machtkonzentration und -mißbrauch, Begrenzung politischer Herrschaft
Gewaltenbalance
✓ &
& ✓ , ansatzweise
Gewaltenteilungssystem
& ✓
& ✗
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Auch Althusius kannte die zeitliche Befristung von Mandaten und damit das Element der temporalen Teilungslehre dem Grunde nach, wobei die zeitliche Begrenzung jedoch meist auf die Amtsniederlegung, Abberufung oder auf die Lebenszeit des Amtsinhabers abgestellt ist und keine absoluten Befristungen vorsieht: 850 851 852 853 854 855 856
Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 28. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 31. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 44. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 43.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
203
– „Diese hohen Präsiden . . . sind jedoch zeitlich begrenzt tätig, während die Körperschaft bzw. die Stadt immerwährend und fast unsterblich ist.“857 – „Dem Presbyterkollegium stehen abwechselnd und nacheinander Diener der Kirchengemeinde . . . vor.“858 – „Aber Päpste, Bischöfe, Äbte wie auch jeder andere können von denen, die sie eingesetzt haben, aus gerechtem Grund auch wieder abberufen und ihrer Herrschaftsbefugnisse enthoben werden . . . Daraus folgt, daß das Recht dieser Amtsträger zeitlich begrenzt ist.“859 – „Es gibt Ephoren, deren Stellung dauerhaft . . . ist und solche mit einem zeitlich befristetem Amt.“860 – „Der Magistrat oder Herrscher ist sterblich und eine Einzelperson, das Reich bzw. die Körperschaft aber unsterblich und auf Dauer gestellt“861. – „. . . und daß das Magistratsamt nur einmal bekleidet werden kann, oder nur ganz selten und für wenige Jahre . . .“862 – „Bei diesem Status des Gemeinwesens ist es nützlicher, daß die Magistratsämter zeitlich befristet und nicht auf Dauer gestellt sind.“863 – „Es ist ratsam, daß der Senat der Richter beständig und unveränderlich ist, . . . So sind in Venedig Amtsgewalten, Magistrate und Richterkollegien nicht auf Dauer gestellt, allein der Herrscher regiert ununterbrochen.“864
Tabelle 13 Gewaltentemporalität in der EU und bei Althusius Gewaltentemporalität
EU
Althusius
Lebenszeitbefristung
✓ &
& ✓
Abberufung
& ✓
& ✓
Absolute zeitliche Befristung
& ✓
& ✗ , unbestimmt
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
857 858 859 860 861 862 863 864
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 25, S. 61. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 27, S. 99. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 101 f., S. 187. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 107, S. 188. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 17, S. 199. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 64, S. 432. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 69, S. 433. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 95, S. 334.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Föderative (vertikale) Teilungslehre: Machtaufteilung zwischen verschiedenen Handlungsebenen in einem Staat im Sinne einer vertikalen Trennung in Zentralstaats- und Gliedstaatsgewalt im Bundesstaat.
– EU: – Die beiden Grundprinzipien der Zusammenarbeit der Mitgliedstaaten der EU sind Kooperation und Integration. Die Kooperation ist durch eine überstaatliche Zusammenarbeit ohne Verlust der nationalstaatlichen Souveränität gekennzeichnet mit dem Ziel der Verbindung souveräner Staaten, in welchen die nationalstaatlichen Strukturen bestehen bleiben865. Dies mündet unmittelbar in das Prinzip des Föderalismus (vgl. Kap. 3.2.7), welcher zu einer Regelungsbedürftigkeit nur zentraler Bereiche wie Agrarpolitik, GASP, ZJI etc. durch Interessensüberschneidung führte und die Entscheidungsbefugnisse aller anderen Politikfelder auf der Ebene der Mitgliedstaaten beläßt. Der ursprüngliche, historische, föderative Grundgedanke Montesquieus und Hamiltons war, daß „die innerstaatliche bürgerliche Freiheit in kleinen Gemeinwesen größere Entfaltungschancen habe, während zum Schutz nach außen der geschlossene Bund die sicherste Wehr biete“866. Dabei sind vier föderative Gestaltungsebenen hinsichtlich der zustehenden Kompetenzen zu unterscheiden867: – Territoriale Handlungseinheiten mit Selbstverwaltungsrecht, – Handlungseinheiten mit autonomen Normsetzungsbefugnissen in bestimmten Sachgebieten, – Handlungseinheiten mit hohem Maß an autonomer Gestaltungsbefugnis in eigenen Zuständigkeitsbereichen und Mitwirkungskompetenz am nationalen Gesamtverband, – Territoriale Handlungseinheiten als autonome Selbstvollzugssysteme mit Gestaltungskompetenz internationaler Handlungseinheiten. Bei Althusius ist das Föderalismusystem bei weitem nicht derart ausdifferenziert. Althusius kennt nach heutiger Definition zwei Stufen innerhalb der vertikalen Teilungslehre: Zum einen die territoriale Selbstverwaltung durch Verbleiben der Souveränitätsrechte beim Gliedstaat sowie zum anderen die Mitwirkung und das Stimmrecht der Gliedstaaten in übergeordneten Fragen des Gesamtreiches (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.3), was der Gestaltungskompetenz internationaler Handlungseinheiten heute entspräche. – Dezisive Teilungslehre: Gegenseitiges Hemmen der Macht der politischen meinungsbildenden Gruppierungen im Staat (politisches Gemeinwesen). Dazu zählen Regierung, Parlament, Parteien (alle staatlich), Interessengruppen, sowie die 865 866 867
Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 27. Steffani, W. (1997), S. 44. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 45.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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öffentliche Meinung in Form von Bürgerverbänden, Presse etc. (nichtstaatlich). Unterschieden werden dabei868 – das staatliche, primär herrschaftliche Gemeinwesen als staatsrechtlich letztinstanzliche Verfügung über die staatlichen Machtmittel und Befugnisse (Regierung, Parlament), – soziale, primär genossenschaftliche Gemeinwesen als nichtstaatlicher Bereich der autonomen religiösen, geistigen und wirtschaftlichen Gestaltung (Interessengruppen und öffentliche Meinung). Tabelle 14 Föderative Teilungslehre in der EU und bei Althusius Föderative Teilungslehre
EU
Althusius
Gestaltungsebenen
✓ , territoriale Selbstver& waltung, sachbezogene Normsetzung, Gestaltungsbefugnis, autonomer Selbstvollzug
✓ , territoriale Selbstver& waltung, autonomer Selbstvollzug
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Im späten Mittelalter gab es neben dieser Aufteilung eine weitere Ebene widerstreitender politischer Machtansprüche, da die Vormachtstellung im Staat hinsichtlich einer weltlichen oder einer geistigen Führung gerade ausgefochten wurde unter dem Stichwort Reformation. Damit ergibt sich für die Zeit des Althusius folgendes Gefüge für die politischen meinungsbildenden Gruppierungen im Staat, welches tendenziell eher zu einem meinungspolitischen Dualismus zwischen Kirche und Staat – im Gegensatz zu den vielfältigen Meinungsinteressen wirtschaftlicher, sozialer und religiöser Art in der EU heute – führt: – Staatliches Gemeinwesen – Staatsleitungsanspruch der Kirche, – Staatsleitungsanspruch weltlicher Herrscher, – Staatsverwaltung (Senate869 und Landstände870 für Gemeinden und Provinzen und Ephoren871 für Kurfürsten und alle anderen Reichsstände, Provinzverwaltung872 etc.), Vgl. Steffani, W. (1997), S. 49. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. 870 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94. 871 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. 872 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, §§ 1 ff., S. 93 ff. und vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 868 869
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Öffentliche Gemeinschaften873, – Kirchenverwaltung (Kollegium der Presbyter)874. – Soziales Gemeinwesen: – Stände der Landschaft875, – Geistlich: Christengemeinde876, – Weltlich: Bürgergemeinde877, – Private Gemeinschaften878 usw. Zu beachten ist, daß bei der dezisiven Teilungslehre ein wesentlicher Aspekt die gegenseitige Machthemmnis durch annähernd gleichstarke politische Meinungen ist. In der EU können Interessensgruppen wie z. B. die Medien tatsächlich ein polarisierendes Gegengewicht in der politischen Meinung bilden, was im Mittelalter und der frühen Neuzeit nicht der Fall war. Auch dürfte die Rolle der privaten Gemeinschaften heute in der EU als wesentlich stärker beurteilt werden: So wurde z. B. mit dem Organ des Bürgerbeauftragten ein Beschwerderecht für jeden EU-Bürger über die politischen Verfügungen und Tätigkeiten der EUOrgane eingerichtet und damit ein Kontrollrecht für Unregelmäßigkeiten in der Verwaltung, Unfairneß, Diskriminierung, Machtmißbrauch, Fehlen oder Verweigern von Informationen sowie unnötige Verzögerungen geschaffen879. Bei Althusius dagegen fehlt eine Trennung zwischen Staat und Gesellschaft, da die sozialen und politischen Strukturen parallel laufen880. Tabelle 15 Dezisive Teilungslehre in der EU und bei Althusius Dezisive Teilungslehre
EU
Althusius
Weltliche Staatsmacht
✓ &
& ✓
Geistliche Staatsmacht
& ✓
& ✓
Sonstige Interessenverbände
& ✓
& ✓
Gegenseitige Hemmung
& ✓
& ✗
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 1, S. 57. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 31, S. 100. 875 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 4, S. 95. 876 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 32, S. 100. 877 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 1, S. 47 und Kap. VI, § 15, S. 73. 878 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 4, S. 48. 879 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 32 f. 880 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XX. 873 874
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Soziale Teilungslehre: Möglichkeit der Verhinderung von Gewaltmonopolisierung durch soziale Macht der unterschiedlichen sozialen Schichten bzw. Klassen des Staates.
– EU: – Soziale Marktwirtschaft als Ordnungsform (vgl. Kap. 2.3.4) Idealtypen einer Wirtschaftsverfassung sind die Zentralverwaltungswirtschaft und die Marktwirtschaft. Bei der Zentralverwaltungswirtschaft in der Ausprägung des Sozialismus werden die gesellschaftlichen Schichten gleich stellt und somit die Gewaltmonopolisierung verhindert. In der Marktwirtschaft dagegen wird durch die Leitung durch private und öffentliche Haushalte und Unternehmen stets deren Einzelwohl vor dem Gemeinwohl stehen und damit eine Gewaltmonopolisierung provoziert. In den Mitgliedstaaten der EU liegen durchwegs Mischformen vor, mit welchen man versucht, die Differenzen zwischen den Klassen des Staates zu minimieren. Die sozialen Schichten werden mittels Umverteilung von finanziellen Mitteln durch Steuer- und Subventionspolitik hinsichtlich ihrer Stellung angeglichen, um die Kluft zwischen den sozialen Schichten hinsichtlich Bildung, Wirtschaftskraft und Sozialbindungen möglichst gering zu halten. Dazu sind in der EU nachfolgende politische Aktionen gedacht: – Europäische Sozialpolitik881 Eine kohärente europäische Sozialpolitik entstand nach anfänglichen rudimentären Ansätzen in den Gründungsverträgen der EU erst nach 1987 durch verschiedene Punkte in der Einheitliche Europäische Akte EEA882. Folgende Punkte sind Teil der Sozialpolitik: – Gerechte Verteilung von wirtschaftlichen Gewinnen, – Steigerung des Lebensstandards und des Niveaus des sozialen Schutzes, – Steigerung der innergemeinschaftlichen Mobilität, – Freizügigkeit der Arbeitnehmer und Niederlassungsfreiheit, – Anhebung des Ausbildungsniveaus, – Verbesserung des Gesundheitsschutzes und der Arbeitsplatzsicherheit, – Strukturpolitik zur Senkung der Arbeitslosigkeit. – Gemeinschaftscharta der sozialen Grundrechte der Arbeitnehmer. – Althusius: Die Ordnung der Bürger und des Gemeinwesens durch Einteilung der Klassen bzw. Stände ergibt sich nicht wie heute durch Zugehörigkeit zu einer sozialen Schicht und eben deren Angleichung durch Sozialpolitik, vielmehr waren die 881 882
Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 64 ff. Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 64.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Stände eindeutig definiert883 und somit auch die – gewollten – sozialen Ungleichheiten884: – Erster Stand: Oberster Magistrat und geistlicher Stand, – Zweiter Stand: Senat, – Dritter Stand: Soldaten, – Vierter Stand: Zivile Sachwalter (Magistrate, Richter, Rechtsgelehrte), – Fünfter Stand: Gelehrte, – Sechster Stand: Kaufleute und Händler, – Siebter Stand: Handwerker, Bauern und Hirten, – Achter Stand: Pfeifenspieler, Schauspieler, Tänzer, Wagenlenker, Salbenkrämer etc. Althusius hat die Problematik der unterschiedlichen Sozialstellung der in der Gemeinschaft lebenden Individuen schon in einem seiner Grundbegriffe („consociatio symbiotica“; vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) definiert durch die gegenseitige Abhängigkeit und Bedürftigkeit, welche sodann zur Bildung von Genossenschaften führt. Dabei finden sich erste Ansätze, daß die Herrschenden dafür zu sorgen haben, daß die Untertanen mit dem sozial Notwendigsten ausgestattet werden müssen, wobei keine Ausführungen enthalten sind, wie dies zu tun ist, so daß nicht von einer Sozialpolitik mit direkter Gewaltmonopolisierungsverhinderung nach heutigem Verständnis, sondern eher von einer Verteilungspolitik auf Grundlage der christlichen Nächstenliebe mit Rechtssicherheit und Rechtszuweisung zu sprechen ist, so z. B. auch die Verteilung von beschaffter Nahrung885. Bei Althusius finden sich dafür zahlreiche Beispiele: – Verteilungspolitik: – „Die Sorge für die Erhaltung des Körpers besteht darin, daß in allem, was zur Lebensführung gehört, die niedriger Gestellten von den jeweils Höheren mit Anspannung und Gewissenhaftigkeit regiert, die Vorteile der Ersteren beachtet und Nachteile für Sie abgewehrt werden.“886 – „Den für die Gemeinschaft von Sachen, Diensten, Leistungen und Tätigkeiten maßgeblichen Gesetzen entsprechend werden die Vorrechte und Belastungen . . . der jeweiligen Gemeinschaft gemäß zuerkannt und verteilt.“887 883 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 45 f., S. 102 und Kap. XXXII, § 56, S. 329. 884 Vgl. dazu Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 60, S. 329: „Der Ordnung dient auch . . . der angemessene Unterschied der Kleidung für . . . jeden Stand.“ 885 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 32, S. 30. 886 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 16, S. 27. 887 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 20, S. 27.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– „. . . den Vorteil unseres Nächsten in der Weise zu suchen und zu fördern, daß wir, um größeres Übel zu verhindern, bereitwillig auf unser Recht zu seinen Gunsten verzichten.“888 – „Deshalb nützen die . . . Eremiten, die ohne Heim und Herd, ohne Wohnung und Wohnsitz leben, weder sich noch anderen.“889 – „Denn es ist dem Einzelnen, der sich nicht selbst helfen kann, sehr nützlich, sich von anderen unterstützen und helfen zu lassen.“890 – „Die Gemeinschaft der Werke . . . besteht darin, daß notwendige und nützliche Dienste und Hilfen zum symbiotischen Zusammenleben vom einen zum andern hin geleistet werden, sofern dieser in Not ist oder dies wünscht.“891 – „Ihre Ausübung (der Leitung der Provinz, Anm. des Verfassers) obliegt Personen, die um der Anderen in der Gemeinschaft Zusammenlebenden willen gegen die Schwäche der Symbioten, ihre menschliche Unzulänglichkeit, ihren Mangel und ihre Not für Abhilfe und Schutz sorgen.“892 – Rechtssicherheit und -zuweisung: – „. . . so daß Untergeordnete und Höhergestellte durch eine Art Gleichheit des Rechts (juris quaedam aequabilitas) miteinander verbunden sind.“893 – „Das besagte Gesetz ist . . . die Waage der Gerechtigkeit und Hüterin der Freiheit, . . . Hilfe der Schwachen, Zügel der Mächtigen . . .“ – „Das vierte Recht ist die Aufgabe und Befugnis, Dienste zuzuweisen und zu verteilen. Es hängt von der universalen Gemeinschaft ab. Ein Dienst ist eine auferlegte Pflicht, die ein Bürger oder Einwohner im Gebiet des Reichs zum Nutzen des Gemeinschaftskörpers mit dessen Zustimmung oder Erlaubnis wahrnimmt.“894 – Im Steuerrecht des Althusius895 finden sich kaum Hinweise auf eine Umverteilung von Geld- und Sachmitteln zum Zwecke des Ausgleichs der Lebensverhältnisse sozial unterschiedlicher Schichten, sondern nur der allgemeine Hinweis, daß der Grund der Steuer im „Nutzen für das Gemeinwesen“896 liegt. Ebenso werden die Ausgaben des Reiches nur für Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 22, S. 28. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 25, S. 28. 890 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 34, S. 30. 891 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 28, S. 75. 892 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VII, § 13, S. 84. 893 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 8, S. 113. 894 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 17 f., S. 131. 895 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XII und Kap. XIII, S. 135 ff. und vgl. zum Steuerwesen auch Kapitel III.2.2.6.7. 896 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 25, S. 133. 888 889
210
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
den Unterhalt des Magistraten und die Verwaltungstätigkeiten897, nicht jedoch für eine Umverteilung im Sinne einer Sozialpolitik verwendet. – Grundrechte finden sich bei Althusius ansatzweise: „. . . das leibliche Leben unter Einschluß der Unversehrtheit des je eigenen Körpers und seiner Freiheit. Dem stehen Gewalttätigkeit, Tötung, Verletzung und Verwundung, Zwang und Nötigung, Knechtschaft, Freiheitsberaubung und Fesselung entgegen. Sodann gebührt dem Nächsten sein Ansehen, sein guter Name, seine Ehre und Würde . . . Drittens benötigt der Mensch äußere Güter“898. Der Ansatz eines Grundrechts- und Menschenrechtskataloges bei Althusius ist schon durch den Begriff der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) mit einer stark sozialen Komponente versehen899: Es wird als Aufgabe des obersten Magistrats gesehen, Sorge für die privaten Güter wie das Leben, die körperliche Unversehrtheit, den Ruf und das Ansehen und die äußeren Güter zu tragen900. Tabelle 16 Soziale Teilungslehre in der EU und bei Althusius Soziale Teilungslehre
EU
Althusius
Sozialpolitik
✓ &
& ✓ , nur Verteilung
Soziale Grundrechte
✓ &
& ✓ , ansatzweise
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
– Pluralistische Teilungslehre: Unterscheidung pluralistischer Gewalten wie z. B. Staat und Kirche im Sinne einer umfassenden Gewaltenteilung.
– EU: – Die Souveränität liegt allein auf seiten des Staates, jedoch begründet auf demokratischen Prinzipien. – Althusius: – Die Souveränität liegt sowohl auf seiten des Staates mit einem weltlichem Souveränitätsrecht 901. – Auch die Kirche besitzt ein eigenes kirchliches Souveränitätsrecht 902. 897 898 899 900 901 902
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 11 f., S. 374. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 6, S. 126. Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 155. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 98 f., S. 380. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 27, 29, 32, 34 f., S. 119 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 27, 29, 32, 34 f., S. 119 ff.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
211
Tabelle 17 Pluralistische Teilungslehre in der EU und bei Althusius Pluralistische Teilungslehre
EU
Althusius
Staatssouveränität
✓ &
& ✓
Kirchensouveränität
& ✗
& ✓
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
– Konstitutionelle Teilungslehre: Unterscheidung von nachgeordneten Rechtsebenen mit stufenförmig strukturierter Rangfolge wie Verfassung, Gesetze, Verordnungen, Verfügungen, Verwaltungsanweisungen etc.
– EU: – Konstitutiv und stufenförmig aufgebautes Staatswesen, – Eindeutige, hierarchische Stufung der Rechtsebenen (vgl. Kap. 3.2.6.2.8): – EU-Recht, – Nationales Recht der Mitgliedstaaten. – Althusius: – Konstitutiv und stufenförmig aufgebautes Gemeinwesen mit stillschweigenden oder ausdrücklichen Rechtsvereinbarungen mit Regierungs- und Verwaltungsstruktur903, – Eindeutige, schematische, kategoriale Stufung der Rechtsgebiete (vgl. Kap. 3.2.6.2.5), jedoch ohne staatenübergreifende Hierarchie. Tabelle 18 Konstitutionelle Teilungslehre in der EU und bei Althusius Konstitutionelle Teilungslehre
EU
Althusius
Konst. Staatssystem
& ✓
& ✓
Rechtshierarchie
& ✓ , staatenübergreifend
& ✗
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Der Vergleich zwischen der EU und Althusius gemäß der gesamten Aspekte der Teilungslehre zeigt Gemeinsamkeiten und Unterschiede unter grundsätzlicher, relativer Beachtung der weitaus geringeren Komplexität des mittelalterlichen bzw. frühneuzeitlichen Staatswesens und der Staatsorganisation: 903
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XXf.
212
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU Tabelle 19 Teilungslehrenansatz in der EU und bei Althusius
Teilungslehrenansatz EU
Althusius
Staatsrechtlich
& ✓ , als Gewaltenteilungssystem
& ✓ , als Gewaltenbalance
Temporal
& ✓ , mit absoluten Zeitangaben
& ✓ , ohne absolute Zeitangaben
Föderativ
& ✓ , intrastaatlich + international
& ✓ , gesellschaftlich + staatlich
Dezisiv
& ✓ , ohne kirchliche Staatsmacht
& ✓ , ohne Machthemmnis
Sozial
& ✓ , mit Sozialpolitik
& ✓ , nur Verteilung
Pluralistisch
& ✓ , ohne Kirchensouveränität
& ✓ , Kirchen- + Staatssouveränität
Konstitutionell
& ✓ , als Rechtshierarchie
& ✓ , nicht staatenübergreifend
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Auch Althusius hat unter Bezugnahme auf Aristoteles erkannt, daß machthemmende Faktoren die Monopolisierung der Staatsgewalt verhindern: „Deshalb sagt Aristoteles, Politik, lib.5, c.11, sehr gelehrt: Je geringer die Macht derer ist, die herrschen, um so dauerhafter und beständiger ist die Herrschaft.“904 3.2.6.2.7.2 Gewaltenteilungsdefizit in der EU? Zum Stand der Gewaltenteilung in der EU hinsichtlich der Gewaltenteilungsproblematiken bringen nachfolgende Ausführungen mögliche Handlungsdefizite im demokratischen System nach oben, welche neben dem Volks- und Staatssouveränitätsdefizit auftauchen (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3). – Nationale Ebene
In den Mitgliedstaaten liegen eigenständige, verfassungsrechtlich gesicherte und funktionierende Staatengebilde nach demokratischem Muster zugrunde. Mit Entstehung der EU und den ersten EU-Verträgen (vgl. Kapitel 2.2) fand eine Kompetenz- und damit auch eine Machtverlagerung auf die Organe der EU statt. Dadurch wurden den nationalen Systemen Kompetenzen entzogen905. – Wahlbeteiligung in der EU
Durch die Überlagerung der nationalen Parlamente über das Europäische Parlament sowie das erhebliche Informationsdefizit über die Struktur und Funktionsweise der EU bei der Wahlbevölkerung ist eine demokratische Repräsentation des Volkswillens durch die geringe Wahlbeteiligung fragwürdig. 904 905
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 31, S. 172. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 152.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
213
– Behebung eines Gewaltenteilungsdefizits auf EU-Ebene (Demokratie-Defizit (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3))
Die Gesetzgebungsverfahren in den Mitgliedstaaten sind durchwegs durch ein Gewaltenteilungsverfahren mit Parlamentseinbindung gekennzeichnet. In der EU war dieser Prozeß lange durch die Kommission und den Rat der EU geprägt. Dieses Defizit wurde durch die Einbindung von Kommission, Europäischem Parlament und Rat mittels verschiedener Gesetzgebungsverfahren jedoch erst nach 1992 schrittweise behoben (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4). Mit der Systematik der ausschließlich sekundären Legitimation von EU-Entscheidungen über die verfassten, demokratischen Entscheidungen der Mitgliedstaaten ergibt sich ebenfalls ein Demokratiedefizit dadurch, daß die Entscheidungen nicht direkt demokratisch durch die Entscheidungsfindungsebene Mitgliedstaaten sind906. – Das Demokratie-Dilemma 907
Mit einer Behebung des Demokratie-Defizits (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3 und Kapitel 3.2.6.2.7.2) wäre ein ideales demokratisches Verfahren in der EU dennoch nicht gegeben, da die Stimmrechte der wahlberechtigten EU-Bürger nicht egalisiert sind. Die Wahl des Europäischen Parlaments erfolgt nicht als ideale Direktwahl, sondern gemäß dem Stimmenverhältnis der Völker, so daß keine gleichgewichtige Repräsentation der direkten Wählerstimmen vorliegt. Nachfolgende Tabelle (siehe S. 214) zeigt z. B. das Verhältnis der Anzahl der Wähler zu der Anzahl EP-Abgeordneter 1994908. Das Stimmgewicht der Unionsbürger hat demnach eine Ungleichverteilung: So haben z. B. bei Anlegung des Luxemburger Wählers als Maßstab 12 französische Wähler das gleiche Stimmengewicht wie ein Luxemburger. Legt man als Basis den belgischen Wähler zugrunde, so hat ein belgischer Wähler das gleiche Stimmengewicht wie zwei Italiener. Demnach ist das demokratische Prinzip nur über die Rückkopplung der Organe der EU auf die demokratische Legitimation der Mitgliedstaaten umgesetzt, so daß neben dem verletzten Gleichheitsgrundsatz der Wählerstimmen auch noch die Rückkopplungsproblematik besteht. Dies dürfte vor dem Hintergrund einer EU-Verfassung und damit der Maßgeblichkeit des EU-Parlaments oder sogar der Abschaffung der nationalen Parlamente von immenser Bedeutung werden.
Vgl. Geser, H. (1994), S. 184. Vgl. Steffani, W. (1997), S. 158 ff. 908 In Steffani, W. (1997), S. 159, aus: Europäisches Parlament, Generaldirektion Information und Öffentlichkeitsarbeit – Zentrale Presseabteilung: Europawahl 1994, Ergebnisse und gewählte Mitglieder, Stand 09 / 1994. 906 907
214
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU Tabelle 20 Verhältnis Anzahl Wähler zu Anzahl EP-Abgeordneter 1994
Land Luxemburg
Anzahl EP-Abgeord.
Wahlberechtigte
Relation
6
224.031
37.338
Irland
15
2.631.575
175.438
Dänemark
16
3.994.200
249.637
Belgien
25
7.211.311
288.452
Portugal
25
8.565.822
342.633
Griechenland
25
9.485.495
379.420
Niederlande
31
11.620.300
374.848
Spanien
64
31.558.724
493.105
Frankreich
87
39.044.441
448.787
Großbritannien
87
43.443.944
449.356
Italien
87
47.489.843
545.860
Deutschland
99
60.473.927
610.848
SUMME
567
Quelle: Steffani, W. (1997), S. 159.
3.2.6.2.8 Das Rechtssystem der EU 3.2.6.2.8.1 Naturrecht und positives Recht in der EU Das Naturrecht („ius naturale“) ist definiert als allgemein gültige, von menschlichen Rechtssatzungen unabhängige Rechtsnormen, welche von der Natur gegeben, überall gültig sowie sittlich und rechtlich überzeitlich sind909. Das Naturrecht besteht aus Gesetzen, welche unabhängig vom Menschen existieren, also nicht gesetztes Recht sind (sogenannter Über-Positivismus). Positives Recht dagegen ist gesetztes Recht, d. h. Regeln und Normen, welche im Gesetz positiviert sind. Dies setzt zwingend eine vom Menschen gesetzte Rechtsordnung voraus. Die Naturrechtssystematik geht von folgender Struktur aus910: – Die Natur ist kein Chaos, sondern eine normativ strukturierte Ordnung. – Es existiert mit der naturrechtlichen Erkenntnislehre ein Verfahren, aus der Natur für den Menschen gültige Normen abzuleiten. 909 910
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 146. Vgl. Euchner, W. (1979), S. 14 f.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
215
– Es gibt eine Theorie der Verbindlichkeit des Naturrechts. – Es existieren Aussagen zum Verhältnis zwischen Naturrecht und positivem Recht.
Die Kritik am Naturrecht liegt im – Legitimitätsursprung
In der Natur, im Wesen des Menschen und in den Dingen selbst liegt eine Ordnung, welche als natürlich zu bezeichnen ist, also von Gott gegeben. Da sich die Geschichte der Menschheit auf ein bestimmtes Ziel hin entwickelt (Entelechie), erscheint auch das Naturrecht als fest gelegt, was einem positivistischen Ansatz entspricht. – Geltungsproblem
Da ein positives Gesetz nicht grundsätzlich alles erfassen kann, muß eine weitere Ordnung existieren, welche über dem Gesetz liegt. Genau dies entspricht der naturrechtlichen Ordnung, dem Naturrecht also. Existieren zwei Rechtsordnungen nebeneinander ergibt sich jedoch ein Geltungsproblem, so diese beiden Rechtsordnungen nicht ausschließlich komplementär sind. Es stellt sich die Frage, welches Recht gelten soll. Rousseau sprach sich dafür aus, keine Teilung zu vollziehen, da Recht nur von einer Institution gesprochen werden könne. Das Rechtssystem der EU basiert ausschließlich auf positivem Recht. Das Naturrecht wurde in seiner politischen Bedeutung weitestgehend zurück gedrängt, obwohl es auch heute noch bedeutende Vertreter des Naturrechts gibt. Es reduziert sich heute auf eine Rechtstheorie mit theologischem Hintergrund ohne praktische politische Bedeutung. Vielmehr stützt sich die heutige Naturrechtslehre durch die Aufgabe der lex-aeterna-Theorie durch die Naturrechtler mehr auf die gesellschaftsrechtliche Relevanz: Mit dem Zerfall feudalistischer Strukturen und der Durchsetzung des Kapitalismus in der Gesellschaft entstand nach deren Auffassung ein neues Menschenbild, für welches eine Vereinigung mit der gottgeschaffenen Harmonie der Welt angestrebt werden soll911. Selbstverständlich besteht auch heute eine Verbindung vom Naturrecht zur politischen Theorie, jedoch wie bereits erwähnt nicht zur politischen Praxis. Das Naturrecht als Rechtssystematik des menschlichen Zusammenlebens bedeutet somit eine Verfasstheit des politischen Gemeinwesens, welche im Einklang mit dem Naturrecht sein muß912. Positives Recht ist heute definiert als „die jeweils sozialgeschichtlich bestimmte, am Prinzip der Gerechtigkeit orientierte, staatlich (oder überstaatlich) garantierte und zumeist gesetzlich fixierte Ordnung des sozialen Zusammenlebens, die der Aufrechterhaltung eines friedlichen gesellschaftlichen Lebens dienen soll“913. 911 912 913
Vgl. Euchner, W. (1979), S. 16 f. Vgl. Euchner, W. (1979), S. 34. Sutor, B. (1979), S. 250.
216
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Recht ist wie folgt zu systematisieren914: – die geltende Rechtsordnung,
o
– staatliche Gesetze, – das jeweilige Organisationsmodell des gesellschaftlichen Lebens, – motivierende Steuerungsinstanz des menschlichen Willens,
positives Recht
o
– und der Handlungen im Hinblick auf Gerechtigkeit, Rechtsgerechtes Recht
gerechtes Recht
Recht hat heute wie damals eine Ordnungsfunktion mittels Sicherheitsmaßnahmen, Ersatzregeln und Sanktionen sowie die Funktion der Gewährung von Rechtssicherheit mittels schematischer Regelungen, Formvorschriften, des Grundsatzes der Rechtskraft des Urteils und zwangsweiser Durchsetzung des Rechts915. 3.2.6.2.8.2 Die Rechtssystematik der EU Die Rechtssystematik der EU teilt sich formal in drei Rechtsgebiete: – Öffentliches Recht
– Allgemeines Verwaltungsrecht, – Besonderes Verwaltungsrecht, – Verfassungsrecht mit Grundrechten. – Zivilrecht
– Allgemeiner Teil, – Schuldrecht, – Sachenrecht, – Erbrecht, – Familienrecht, – Wirtschafts-, Handels- und Wertpapierrecht. – Strafrecht
– Materielles Strafrecht, – Formelles Strafrecht. Ein wesentlicher Unterschied zu der Rechtssystematik des Althusius (vgl. Kapitel 3.2.6.2.5) liegt in der klaren Unterscheidung von Zivilrecht und Öffentlichem Recht. Bei Althusius wurde mit der Konstruktion des Herrschaftsvertrages die Ein914 915
Vgl. Sutor, B. (1979), S. 250. Vgl. Sutor, B. (1979), S. 251.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
217
ordnung dieses Vertrages in die Vertragstheorie vorgenommen, was wiederum dem Zivilrecht zuzuordnen war. Weiterhin ist die heutige Rechtssystematik von einer reinen „Begriffsjurisprudenz“916 weit entfernt, da anwendbares Recht heute formal und praktisch unersetzbar ist. Auch sind heute alle Rechtsgebiete gleich entwickelt, während dies bei Althusius nicht der Fall war bzw. bestimmte, auch damals vorhandene Rechtsgebiete und -schriften von Althusius nicht vollständig eingebunden wurden (z. B. Strafrecht). 3.2.6.2.8.3 Die Rechtsordnung der EU Im Rechtssystem der EU besteht folgende Rechtsordnung: – Rechtsquellen der EU917
– Primärrecht (Gründungsverträge, Allgemeine Rechtsgrundssätze) Dazu zählen die drei Gründungsverträge EGKS, EWG, EAG einschließlich Anhänge, Anlagen und Protokolle sowie die Erweiterungen und Ergänzungen dieser Verträge wie z. B. EEA und EUV. Sie sind von der EU geschaffenes Recht (Primärrecht) und regeln die Rahmenbedingungen der EU, welche wiederum von den Gemeinschaftsorganen auszuführen sind. – Völkerrechtsabkommen der EG Die außergemeinschaftlichen rechtlichen Beziehungen werden durch völkerrechtliche Abkommen geregelt. In ihnen wird die Beziehung zwischen der EU bzw. den Mitgliedstaaten und den sogenannten Drittländern (Nichtmitgliedstaaten) hinsichtlich politischer, sozialer und wirtschaftlicher Verflechtungen und Beziehungen geregelt. Folgende Abkommen sind zu unterscheiden918: – Assoziierungsabkommen Abkommen nach Art. 310 EG-Vertrag sehen eine umfangreiche wirtschaftliche Zusammenarbeit der Staaten, auch mit finanzieller Verflechtung, vor. Es gibt drei Arten: – Abkommen zur Aufrechterhaltung der besonderen Bindung einiger Mitgliedstaaten zu Drittländern, – Abkommen zur Vorbereitung eines möglichen EU-Beitritts und zur Bildung einer Zollunion, – Abkommen über den Europäischen Wirtschaftsraum EWR. – Kooperationsabkommen Abkommen nach Art. 300 EG-Vertrag haben nicht so starke wirtschaftliche Verflechtungen zum Inhalt wie Assoziierungsabkommen. Derartige Abkommen bestehen z. B. mit Marokko, Tunesien, Algerien und Israel. 916 917 918
Vgl. Wolf, E. (1963),S. 212. Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 58. Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 59 f.
218
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Handelsabkommen Handelsabkommen wurden zahlreich zum Zwecke handels- und zollpolitischer Regelungen des Waren- und Dienstleistungsverkehrs geschlossen, so z. B. das GATT, GATS und TRIPS. – Sekundärrecht (Durchführungsverordnungen, Richtlinien, Empfehlungen)
Das sekundäre Gemeinschaftsrecht ist neben dem Primärrecht (siehe oben) die wichtigste Rechtsquelle der EU, bestehend aus919: – Allgemeine und abstrakte Rechtsnormen, – Konkrete und individuelle Maßnahmen, – Unverbindliche Äußerungen der EU-Organe, – Einvernehmliche Regelungen und Vereinbarungen zwischen den Organen. Die Rechtsakte sind in den Katalogen der Art. 249 EG-Vertrag, Art. 161 EAGVertrag und Art. 14 EGKS-Vertrag definiert. Die Einzelbedingungen dazu werden ständig erweitert und durch die Tätigkeiten der EU-Organe und Behörden bestimmt. – Allgemeine Verwaltungsrechtsgrundsätze
Die Allgemeinen Verwaltungsrechtsgrundsätze sind nicht niedergeschrieben, lassen sich jedoch aus dem allgemeinen, demokratisch-freiheitlichen Staatsverständnis der EU-Mitgliedstaaten ableiten. Sie sind notwendig, da nicht alle möglichen Praxisfälle durch Einzelfallregelungen bestimmt werden müssen, um eine Staatsordnung aufrecht zu erhalten. Zu den Grundsätzen zählen insbesondere die Eigenständigkeit, die unmittelbare Anwendbarkeit und der Vorrang des Gemeinschaftsrechts, der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der Grundsatz des rechtlichen Gehörs sowie der Grundsatz der Haftung der Mitgliedstaaten für Verflechtungen des Gemeinschaftsrechtes920. – Übereinkommen zwischen den Mitgliedstaaten Eine weitere Rechtsquelle sind die Übereinkommen zwischen den EU-Mitgliedstaaten. Hier werden Absprachen getroffen, um eindeutige Regelungen im Zusammenhang mit den Tätigkeiten, welche jedoch nicht geregelt sind, zu treffen, um den ausführenden Trägern einheitliche, EU-weit anwendbare Richtlinien zu geben. Zu nennen sind z. B.921: – Übereinkommen über die gerichtliche Zuständigkeit und die Vollstreckung gerichtlicher Entscheidungen in Zivil- und Handelssachen (EUGVÜ, 1968), – Übereinkommen über die gegenseitige Anerkennung von Gesellschaften und juristischen Personen (1968), 919 920 921
Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 58 f. Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 61. Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 63.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
219
– Übereinkommen über die Beseitigung der Doppelbesteuerung im Falle von Gewinnberichtigungen zwischen verbundenen Unternehmen (1990), – Übereinkommen über das auf vertragliche Schuldverhältnisse anzuwendende Recht (1980), – Vereinbarung über Gemeinschaftspatente (1989). – Grundrechtskatalog (vgl. dazu auch Kap. 3.2.6.2.9)
Bis heute hat die EU als Staatenverbund keine eigene Verfassung (vgl. Kapitel 2.3). Grundrechte dagegen sind vorhanden in der Charta der Grundrechte922 (vgl. Kapitel 3.2.6.2.9), welche sich auf der Grundlage einer ständigen Rechtsprechung des EuGH erst relativ spät ab 1969 gebildet haben. Vor dieser Zeit sah die EU-Rechtsprechung keine Veranlassung, in die nationalen Verfassungsrechte einzugreifen, was sich jedoch mit dem sogenannten „Stauder-Urteil“ – Inhalt war die Klage eines Kriegsopferfürsorgeempfängers gegen die Namensangabe beim Empfang von Weihnachtsbutter – grundlegend änderte923. In der Folgezeit wurden aus den EG-Verträgen eigene Grundrechte entwickelt924: – Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG-Vertrag), – Unterschiedliche Behandlung wegen Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung (Art. 13 EG-Vertrag), – Gleichstellung von Waren und Personen in bezug auf die vier Grundfreiheiten Warenverkehr (Art. 28 EG-Vertrag), Freizügigkeit (Art. 39 EG-Vertrag), freie Niederlassung (Art. 43 EG-Vertrag) und freier Dienstleistungsverkehr (Art. 50 EG-Vertrag), – Wettbewerbsfreiheit (Art. 81 EG-Vertrag), – Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 141 EG-Vertrag), – Bewegungs- und Berufsfreiheit (abzuleiten aus den vier Grundfreiheiten), – Vereinigungsfreiheit (Art. 137 EG-Vertrag), – Petitionsrecht (Art. 21 EG-Vertrag und Art. 48 EGKS-Vertrag), – Schutz des Geschäfts- und Berufsgeheimnisses (Art. 287 EG-Vertrag, Art. 194 EAG-Vertrag, Art. 47 Abs. 2 und 4 EGKS-Vertrag). Diese Grundrechte waren bis dahin nur auf den Einzelfall beschränkt und hatten nicht den Charakter „Europäischer Grundrechte“; auch der Versuch, dieses Manko mittels Beitritt zur Europäischen Menschenrechtskommission zu beheben, schlug fehl aufgrund der mangelnden Zuständigkeit der heutigen EU, zu dieser Konvention beizutreten sowie der fehlenden verfassungsrechtlichen Kompeten922 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2002), S. 8 ff. 923 Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 14. 924 Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 15 ff.
220
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
zen der EU und der damit verbundenen Überschreitung der subsidiären Handlungsermächtigung gemäß Artikel 308 EG-Vertrag. 1999 beauftragte der Europäische Rat in Köln einen Konvent mit der Ausarbeitung einer Grundrechtscharta. Diese Grundrechte wurden von den Präsidenten des Europäischen Parlaments, des Rates und der Kommission anläßlich des Europäischen Rates von Nizza im Dezember 2000 unterzeichnet und damit als eigener Gesetzestext umgesetzt925. In der EU werden durch den EuGH allgemeine Rechtsgrundsätze, welche in den Rechtssystemen der Mitgliedstaaten verankert sind, anerkannt: Dazu gehören das Eigentumsrecht, die Berufsfreiheit, die Unverletzlichkeit der Wohnung, die Meinungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht, der Schutz der Familie, die Wirtschaftsfreiheit, die Religions- und Bekenntnisfreiheit sowie einige Verfahrensgrundrechte wie z. B. der Grundsatz des rechtlichen Gehörs. – Allein stehende EU-Gesetze
Innerhalb der EU als politischem Körper wurden eigene Gesetze geschaffen, welche nationenübergreifend gültig sind und erhebliche Überschneidungen zu bestehenden Gesetzen vorweisen. So existiert z. B. die Charta der Grundrechte 1989 durch elf Mitgliedstaaten mit Grundrechten wie die Würde des Menschen (Kapitel I), Freiheiten (Kapitel II), Gleichheit (Kapitel III), Solidarität (Kapitel IV), Bürgerrechte (Kapitel V) und justizielle Rechte (Kapitel VI)926. Auch die EU-Verträge selbst beinhalten eine Vielzahl von gesetzesgleichen Normen; bereits im EWG-Vertrag von 1957 wurden vier Freiheiten fest geschrieben: Die Freizügigkeit für Personen, der freie Warenaustausch, die Dienstleistungsund Niederlassungsfreiheit und die Freiheit des Kapitalverkehrs927. Insofern haben die EU-Verträge (vgl. Kapitel 2.2.1.1) Gesetzescharakter mit Rechtsbindung. Zu den Gemeinschaftsgesetzen zählen auch die in den Gründungsverträgen festgelegten Arten von Rechtsnormen, wobei diese als Verordnungen gelten, wenn sie unmittelbar gelten und als Richtlinien, wenn sie mittelbar Rechtskraft erlangen durch fristgerechte Verabschiedung einer Gesetzesform928: – Art. 14 EGKS-Vertrag: – Allgemeine Entscheidungen, – Empfehlungen, – Individuelle Entscheidungen. 925 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2002), S. 8 ff. 926 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 112 ff. und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 21. 927 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 94. 928 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 66 und Borchardt, K.-D. (1999), S. 64.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
221
– Art. 249 EG-Vertrag: – Verordnungen mit dem Ziel der Rechtsvereinheitlichung, – Richtlinien mit dem Ziel der Rechtsangleichung, – Entscheidungen, – Empfehlungen. – Art. 161 EAG-Vertrag: – Verordnungen, – Richtlinien, – Entscheidungen, – Empfehlungen. Im internationalen Recht nimmt die Gesetzessystematik der EU ohnehin eine Sonderstellung ein, da die EU als Staatenbund nicht über ein staatenübergreifendes Gesetzeswerk verfügt. Es mußte demnach eine Konstellation gefunden werden, welche das Nebeneinander von einzelstaatlichen und EU-weiten Regelungen zulassen mußte. Dies gelang mit der Durchsetzung der besonderen Stellung der EU-Rechtsnormen929: – die Normen haben Gemeinschaftscharakter mit daraus folgender unmittelbarer und vollständiger Durchsetzung auf Staatenebene ohne die Möglichkeit einer abgewandelten oder teilweisen Anwendung oder einer Aussetzung unter Hinweis auf das jeweils geltende nationale Recht, – die Normen unterliegen der unmittelbaren Anwendbarkeit ohne vorausgehende Anordnung, was zur direkten Bindung an dieses Recht von Privatpersonen, Organen, Gerichten und Behörden führt, ebenso wie bei nationalem Recht. – Aus den Gemeinschaftspolitiken entstandene EU-Gesetze
Die EU-Gesetze entstehen vorwiegend im Bereich des öffentlichen Rechts und beziehen sich auf die Gemeinschaftspolitiken der EU: Agrarpolitik, Handelspolitik, Wettbewerbspolitik, Verkehrspolitik, Außen- und Sicherheitspolitik (GASP) sowie Innen- und Justizpolitik (ZJI). Die Gesetze entstehen durch das Gesetzgebungsverfahren der Organe der EU. 3.2.6.2.8.4 Die Gesetzgebungsverfahren der EU Die Gesetzgebungsverfahren in den Mitgliedstaaten sind durchwegs durch ein Gewaltenteilungsverfahren gekennzeichnet, wobei die Willensbildung durch die Stimme des Parlaments repräsentiert wird. In der EU war dieser Prozeß lange durch die Kommission als initiierendes und den Rat der EU als verabschiedendes Organ geprägt, da die Rechte des Europäischen Parlaments erst nach und nach seit 1992 an Gewicht gewannen. Heute sind sowohl die Organe Kommission als auch 929
Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 65.
222
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
das Europäische Parlament und der Rat in diesen Prozeß eingebunden. So entstanden neben dem Anhörungsverfahren die Verfahren der Zusammenarbeit und der Mitentscheidung der Gesetzgebungsprozesse930: – Anhörungsverfahren
Das Anhörungsverfahren als ursprünglich einziges Verfahren wird heute nur noch in bestimmten Fällen bei Entscheidungen nach Art. 13, 22 Abs. 2, 37 Abs. 2, 52 Abs. 2, 67 Abs. 1, 83, 89, 93, 128 Abs. 2, 133, 137 Abs. 3, 172 und 175 Abs. 2 EG-Vertrag angewandt, so z. B. für die Neufestsetzung der Agrarpreise. Dabei schlägt die Kommission (Initiativrecht) durch die zuständige Dienststelle des betreffenden Wirtschaftsbereiches vor. Der Vorschlag enthält bereits Inhalt und Form der zu treffenden Maßnahmen und wird von der Kommission mit einfacher Mehrheit beschlossen. Der Vorschlag muß sowohl dem Europäischen Parlament als auch dem AdR und dem WSA zur Anhörung zugestellt werden, welche sodann eine Stellungnahme abgeben. Der Rat muß einer Ablehnung oder Änderungsvorschlägen dieser Stellungnahmen jedoch nicht folgen. Eine Nichtanhörung kann zur Nichtigkeitsklage nach Art. 230 EG-Vertrag führen. Anschließend erfolgt im Rat die Beratung der Coreper und wird bei Beschlußreife als sogenannter A-Punkt auf der Tagesordnung der Ratssitzung beschlossen. Der beschlossene Rechtsakt wird in alle elf Amtssprachen übersetzt, vom Rat angenommen, vom Präsidenten des Rates unterzeichnet und anschließend veröffentlicht. – Verfahren der Zusammenarbeit (Art. 252 EG-Vertrag)
Das Verfahren der Zusammenarbeit wird vor allem bei Rechtsakten nach Art. 99 Abs. 5 und Art. 106 Abs. 2 EG-Vertrag angewandt. Es ähnelt dem Anhörungsverfahren, jedoch mit stärkerer Einflußnahme des Europäischen Parlaments: Der Vorschlag der Kommission geht dann nicht nur dem Rat, sondern auch dem Europäischen Parlament zur Beratung in einer 1. Lesung zu, um das Europäische Parlament frühzeitig in den Willensbildungsprozeß einzuschalten. Der Rat legt nach Sichtung aller Stellungnahmen (Europäisches Parlament, AdR, WSA) einen gemeinsamen Standpunkt fest, welcher dann in 2. Lesung durch das Europäische Parlament beraten wird. Nun stehen dem Europäischen Parlament mit Drei-Monats-Frist zwei Handlungsmöglichkeiten offen: – Ablehnung (Blockadefall) Sodann kann der Rat in 2. Lesung nur noch einstimmig beschließen. – Änderungsvorschlag Bei Annahme des Änderungsvorschlages durch die Kommission kann der Rat mit qualifizierter Mehrheit beschließen, ansonsten mit einstimmiger Mehrheit, wenn er von dem Vorschlag abweichen will. Bei Ablehnung des Vor930 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 52 ff., Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 66 ff., Fontaine, P. (1998), S. 11, Borchardt, K.-D. (1999), S. 73 ff., Thiel, E. (2001), S. 200 ff. und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
223
schlages durch die Kommission muß wiederum der einstimmige Beschluß durch den Rat erfolgen. – Verfahren der Mitentscheidung
Das Verfahren der Mitentscheidung ist mittlerweile gemäß dem Vertrag von Amsterdam das wichtigste Verfahren und anzuwenden für Art. 12, 18 Abs. 2, 40, 42, 44 Abs. 2, 47 Abs. 1, 55, 71 Abs. 1, 80, 95, 137, 141, 148, 149, 151, 152, 153, 156, 166 Abs. 1, 172 Abs. 2, 174, 175 Abs. 1, 175 Abs. 3, 179, 280, 285 und 286 EG-Vertrag. Die Stellung des Europäischen Parlaments wurde bis zu einer Parität zwischen Rat und Europäischem Parlament ausgebaut. Wie beim Verfahren der Zusammenarbeit wird der Vorschlag der Kommission dem Europäischen Parlament, AdR und WSA zur Stellungnahme zugeleitet. Europäisches Parlament, AdR und WSA beraten und geben ihre Stellungnahmen an den Rat weiter. Nur wenn keine Änderungen durch das Europäische Parlament vorgenommen werden, kann in dieser 1. Lesung der Rechtsakt erlassen werden, ansonsten erfolgt die Erstellung des sogenannten „gemeinsamen Standpunktes“ in der 2. Lesung: Der Rat beschließt mit qualifizierter Mehrheit den Rechtsakt, für welchen das Europäische Parlament binnen Drei-Monats-Frist folgende Handlungsmöglichkeiten hat: – Das Europäische Parlament billigt den gemeinsamen Standpunkt, aber äußert sich nicht: Der Rechtsakt gilt als erlassen. – Eine globale Ablehnung des Europäischen Parlaments mit der absoluten Mehrheit bedeutet die Beendigung des Rechtsetzungsverfahrens. – Bei Änderungen durch das Europäische Parlament gilt: – Bei Übernahme der Änderungen des Europäischen Parlaments durch den Rat ist der Rechtsakt erlassen. – Bei Ablehnung einzelner Änderungen durch das Europäische Parlament wird innerhalb sechs Wochen der Vermittlungsausschuß – bestehend je zur Hälfte aus Mitgliedern des Europäischen Parlamentes und des Rates – einberufen. Billigt der Vermittlungsausschuß den gemeinsamen Standpunkt, so müssen Rat und Europäisches Parlament dies mit qualifizierter Mehrheit in der 3. Lesung bestätigen. Beim Scheitern des Vermittlungsausschusses ist das Rechtsetzungsverfahren beendet. 3.2.6.2.8.5 Die Verflechtung der Rechtssysteme der EU mit den Mitgliedstaaten Zu beachten ist die Verflechtung der Rechtssysteme der EU-Mitgliedstaaten mit dem EU-eigenen Rechtssystem. – Rechtsstaatlichkeit der EU-Mitgliedstaaten
Bei Beantragung des Beitrittes in die EU durchlaufen die Beitrittskandidaten das sogenannte „Screening“, ein Prüfungsverfahren durch die Kommission, ob
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
die Staaten die Voraussetzungen erfüllen. Hierbei ist Voraussetzung, daß dem Beitrittskandidaten das Rechtsstaatsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.6.3) zugrunde zu legen ist. Damit gibt es für die EU ein doppeltes System der Rechtsstaatlichkeit: Die Einzelrechtsstaatlichkeit der Mitgliedstaaten und die Rechtsstaatlichkeit der EU selbst. – Komplementärprinzip in der EU Die Gesetze der EU der Gemeinschaftspolitiken Agrarpolitik, Handelspolitik, Wettbewerbspolitik, Verkehrspolitik unterliegen dem Komplementärprinzip, d. h. ausschließlich sie regeln diese Bereiche. – Subsidiaritätsprinzip in der EU Die Gesetze der EU unterliegen dem Subsidiaritätsprinzip und sollen nur Bereiche regeln, welche nicht von den Mitgliedstaaten besser erfüllt werden können931. – Harmonisierungsverbot in der EU932 Die Bereiche Gesundheitswesen, Bildung und Kultur unterliegen dem sogenannten Harmonisierungsverbot, welches eine zwangsweise Angleichung nationaler Vorschriften ausschließt. Dadurch soll die regionale und nationale Vielfalt erhalten bleiben. – Verflechtung der ausführenden Gewalten Innerhalb der Organstruktur der EU obliegt die Durchsetzung von Gesetzen zunächst den nationalen Behörden, geht jedoch letztinstanzlich auf die EU über. – Eigenständigkeit der EU-Rechtsordnung933 Die Rechtsordnung der EU ist weder ein Regelkatalog zwischenstaatlicher Abmachungen noch die Erweiterung der nationalen Rechtsordnungen. Vielmehr ist sie eine eigenständige und ohne nationale Auslegungsmöglichkeit anzuwendende Rechtsordnung, welche mit den nationalen Rechtsordnungen verzahnt ist und sich gegenseitig ergänzt. Sie ist entgegen der nationalen Rechtsordnungen kein in sich geschlossenes System und erzeugt bei den Mitgliedstaaten durch teilweise offene Formulierungen hinsichtlich des Umsetzungsweges, nicht jedoch des zu erreichenden Zieles einen gewissen Handlungszwang hinsichtlich der Umsetzung. Kollisionen zwischen EU-Recht und nationalem Recht führen zu einem Vorrang des EU-Rechts934 auch aufgrund des Grundsatzes der unmittelbaren Anwendbarkeit. Diese unmittelbare Anwendbarkeit gilt gemäß EuGH für folgendes Primärrecht: – es muß eine unbedingte Formulierung vorliegen, 931
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 15. 932 933 934
Vgl. Thiel, E. (2001), S. 103. Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 94 ff. Vgl. dazu die nähren Ausführungen bei Borchardt, K.-D. (1999), S. 100 ff.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– es muß in sich vollständig und rechtlich vollkommen sein, – es dürfen zu seiner Erfüllung oder Wirksamkeit keine weiteren Handlungen der Mitgliedstaaten oder der EU-Organe notwendig sein.
3.2.6.2.9 Grundrechte: Althusius und EU im Vergleich Bei Althusius findet sich ein Ansatz eines Grundrechts- und Menschenrechtskataloges935. So schreibt Althusius: – „. . . das leibliche Leben unter Einschluß der Unversehrtheit des je eigenen Körpers und seiner Freiheit. Dem stehen Gewalttätigkeit, Tötung, Verletzung und Verwundung, Zwang und Nötigung, Knechtschaft, Freiheitsberaubung und Fesselung entgegen. Sodann gebührt dem Nächsten sein Ansehen, sein guter Name, seine Ehre und Würde . . . Drittens benötigt der Mensch äußere Güter“936, – „Nunmehr zur Sorge für die Güter der Privaten, die dem Magistrat hinsichtlich ihres Schutzes und ihrer Verteidigung gegen Gewalt und Unrecht anvertraut sind. Es gibt drei Arten von Gütern Privater: Zunächst das Leben und die körperliche Unversehrtheit, zweitens den Ruf und das Ansehen, drittens die äußeren Güter“937.
Althusius ist zu den protestantischen calvinistischen Monarchomachen zu zählen und hat zu der Zeit die politische Theorie mit den Inhalten des modernen demokratischen Rechts und der Grundrechte gefüllt938. Besonders wichtig ist bei Althusius nachfolgende Wirkungskette, welche den Zusammenhang zwischen der Grundrechtstheorie und der politischen Theorie im Hinblick auf die Machtbegrenzung des Magistraten durch die Grundrechte939 erklärt: – Das höchste universale Recht der Jurisdiktion begründet unter anderem die Souveränität des Magistraten. Die Magistraten werden jedoch letzendlich durch die Ephoren und diese durch das Volk gewählt, so daß mit dem Grundrecht der freien Wahl indirekt erst das höchste universale Recht der Jurisdiktion an den Magistraten vergeben werden kann. Althusius schreibt: „Die Macht, dieses Reichsrecht zu begründen und sich ihm zu verpflichten, kommt dem Volk oder den vereinten Gliedern des Reichs zu“940. – Althusius schreibt die Gesetzmäßigkeit des Staates und die Gleichheit des Einzelnen vor dem Gesetz fest941. Das Gesetz der Souveränität schreibt gleichzeitig 935 936 937 938 939 940 941
Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 155 und S. 157. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 6, S. 126. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 98 f., S. 380. Vgl. Aravena, P. C. (2004), S. 229. Vgl. Aravena, P. C. (2004), S. 227 ff. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 16, S. 115. Vgl. Aravena, P. C. (2004), S. 235.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
allen Einzelnen und allen Gliedern des Reiches vor, was man zu tun und zu lassen hat942 und somit auch dem Magistraten, was er zu lassen hat. – Das Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) ist als natürliche Befugnis ein Grundrecht943 und als Verteidigung der Rechte und Freiheiten der Gesellschaft auszulegen944; das Widerstandsrecht ist bei Althusius das stärkste Mittel der Machtbegrenzung, da es die Absetzung und sogar Tötung des Magistraten erlaubt. – Wird mit dem Grundrecht der freien Wahl indirekt erst das höchste universale Recht der Jurisdiktion an den Magistraten vergeben, so ist es folgerichtig, daß nur das Volk dieses wieder entziehen kann945.
Zu erläutern ist weiterhin, daß bei Althusius das Naturrecht gleich dem Moralgesetz und dem Dekalog ist946; insofern besteht inhaltlich eine teilweise Überdeckung zwischen dem Naturrecht und den Grundrechten bei Althusius. Diese finden sich vor Allem in der Dicaelogica aus dem Jahre 1617947: Die zwei Hauptpflichten des Menschen sind die gegen sich selbst – wozu die Grundsätze der Notwehr, der Selbsterhaltung und der Fortpflanzung gehören – sowie die gegen andere, welche sich in die Pflichten gegen Gott und die Pflichten gegen Mitmenschen (gemäß dem Dekalog) weiter untergliedern. In der EU sind Grundrechte (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.3) niedergelegt in der Charta der Grundrechte948, welche auf der Grundlage der ständigen Rechtsprechung des EuGH gebildet wurden. Später wurden die Grundrechte auch in den Verfassungsentwurf übernommen. Aus den EG-Verträgen wurden danach eigene Grundrechte entwickelt949: – keine Diskriminierung aus Gründen der Staatsangehörigkeit (Art. 12 EG-Vertrag), – keine unterschiedliche Behandlung wegen Geschlecht, Rasse, ethnischer Herkunft, Religion, Weltanschauung, Behinderung, Alter oder sexueller Ausrichtung (Art. 13 EG-Vertrag), – Gleichstellung von Waren und Personen in bezug auf die vier Grundfreiheiten Warenverkehr (Art. 28 EG-Vertrag), Freizügigkeit (Art. 39 EG-Vertrag), freie Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 4, S. 125. Vgl. Scattola, M. (2004), S. 383. 944 Vgl. Aravena, P. C. (2004), S. 236 ff. 945 Vgl. Aravena, P. C. (2004), S. 238 sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVIII, § 35, S. 394 f. 946 Vgl. Scattola, M. (2004), S. 374. 947 Vgl. Scattola, M. (2004), S. 377 f. 948 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2002), S. 8 ff. 949 Vgl. Borchardt, K.-D. (1999), S. 15 ff. 942 943
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Niederlassung (Art. 43 EG-Vertrag) und freier Dienstleistungsverkehr (Art. 50 EG-Vertrag), – Wettbewerbsfreiheit (Art. 81 EG-Vertrag), – Lohngleichheit für Männer und Frauen (Art. 141 EG-Vertrag), – Bewegungs- und Berufsfreiheit (abzuleiten aus den vier Grundfreiheiten), – Vereinigungsfreiheit (Art. 137 EG-Vertrag), – Petitionsrecht (Art. 21 EG-Vertrag und Art. 48 EGKS-Vertrag), – Schutz des Geschäfts- und Berufsgeheimnisses (Art. 287 EG-Vertrag, Art. 194 EAG-Vertrag, Art. 47 Abs. 2 und 4 EGKS-Vertrag).
Jedoch finden sich Grundrechte auch direkt im EU-Verfassungsentwurf: – Freiheit, Gleichheit, gegenseitige Achtung (Präambel)950, – Würde des Menschen (Artikel 2 und Titel II. Kapitel I.)951 mit den Grundsätzen der Gleichheit (Artikel 2), des Rechts auf Leben (Artikel 8), des Rechts auf Unversehrtheit (Artikel 9), dem Verbot der Folter (Artikel 10) sowie demVerbot der Sklaverei und Zwangsarbeit (Artikel 11), – Freiheiten (Titel II. Kapitel II.)952 mit dem Recht auf Freiheit und Sicherheit (Artikel 12), der Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 13), dem Schutz personenbezogener Daten (Artikel 14), dem Recht, eine Ehe einzugehen und Familie zu gründen (Artikel 15), der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Artikel 16), der Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit (Artikel 17), der Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Artikel 18), der Freiheit von Kunst und Wissenschaft (Artikel 19), dem Recht auf Bildung (Artikel 20), der Berufsfreiheit und dem Recht zu arbeiten (Artikel 21), der unternehmerischen Freiheit (Artikel 22), dem Eigentumsrecht (Artikel 23), dem Asylrecht (Artikel 24) sowie dem Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung (Artikel 25), – Gleichheit (Titel II. Kapitel III.)953 mit der Gleichheit vor dem Gesetz (Artikel 26), der Nichtdiskriminierung (Artikel 27), der Vielfalt der Religionen, Kulturen und Sprachen (Artikel 28), der Gleichheit von Männern und Frauen (Artikel 29), der Rechte des Kindes (Artikel 30), der Rechte älterer Menschen (Artikel 31) sowie der Integration von Menschen mit Behinderung (Artikel 32), – Solidarität (Titel II. Kapitel IV.)954 mit dem Recht auf Unterrichtung und Anhörung von Arbeitnehmern (Artikel 33) , dem Recht auf Kollektivverhandlung und -maßnahmen (Artikel 34), dem Recht auf Zugang zu einem Arbeitsvermitt950 951 952 953 954
Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 17. Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 19 ff. Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 22 ff. Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 25 ff. Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 26 ff.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
lungsdienst (Artikel 35), dem Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung (Artikel 36), dem Recht auf gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen (Artikel 37), dem Verbot der Kinderarbeit (Artikel 38), dem Schutz des Familien- und Berufslebens (Artikel 39), dem Recht auf soziale Sicherheit und soziale Unterstützung (Artikel 40), dem Gesundheitsschutz (Artikel 41), dem Recht auf Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse (Artikel 42), dem Umweltschutz (Artikel 43) sowie dem Verbraucherschutz (Artikel 44), – Bürgerrechte (Titel II. Kapitel V.)955 mit dem aktiven und passiven Wahlrecht (Artikel 45 und 46), dem Recht auf eine gute Verwaltung (Artikel 47), dem Recht auf Zugang zu Dokumenten (Artikel 48), dem Recht auf Anrufen des Bürgerbeauftragten (Artikel 49), dem Petitionsrecht (Artikel 50), der Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit (Artikel 51) sowie dem diplomatischen und konsularischen Schutz (Artikel 52), – justizielle Rechte (Titel II. Kapitel VI.)956 mit dem Recht auf Rechtsbehelf (Artikel 53), dem Recht auf Unschuldsvermutung und den Verteidigungsrechten (Artikel 54), den Grundsätzen der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit (Artikel 55), dem Recht, nicht für eine Tat zweimal bestraft zu werden (Artikel 56).
Schon bei Betrachtung der erheblichen Zeitspanne zwischen der Abfassung der politischen Theorie des Althusius und der Rechtssysteme der EU wird klar, daß die Ausformulierung verschiedener Grundrechte inhaltliche Differenzen ausweisen müssen. Trotzdem ist bemerkenswert, daß Ansätze bei Althusius erkennbar sind, welche im wesentlichen auf der Konstruktion der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) begründet sind.
3.2.6.3 Rechtsstaat 3.2.6.3.1 Die Rechtsstaatsidee bei Althusius957 Althusius ist als einer der großen Verfechter des Rechtsstaates zu betrachten. Dies spiegelt sich im Aufbau seiner Rechtssystematik verbunden mit der Verflechtung mit dem Staat deutlich wieder. Insbesondere Althusius war als Jurist mit stark politikwissenschaftlicher Ausprägung vor theologisch-soziologischem Hintergrund in der Lage, alle diese Wissenschaftsgebiete zu kombinieren und deren Beziehungen und Verflechtungen auszuarbeiten. Die Idee des Rechtsstaates war bei den Germanen entstanden. Sie ging davon aus, daß der Rechtsstaat nur durch das Recht und für das Recht vorhanden ist. Alle 955 956 957
Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 29 ff. Vgl. Maull, H. W. / Kirt, R. (2003), S. 31 ff. Vgl. dazu die nähren Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 264 ff.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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allgemeinen und individuellen Beziehungen innerhalb dieses Staates wurden durch die Rechtsordnung bestimmt958. Die Idee des Rechtsstaates im Mittelalter dagegen ging von einer anderen Basis aus. Sie suchte ihre Begründung außerhalb des bloßen Vorhandenseins der Rechtsordnung. Die Staatsidee wurde von der Rechtsidee separiert. Demnach beruht der Staat nicht nur auf einem Rechtsgrunde, sondern aufgrund sittlicher und natürlicher Notwendigkeit sowie mit dem Zwecke der Förderung der leiblichen und geistigen Wohlfahrt. Der Staat wurde wohl dabei auf das Recht begründet, stand dabei dem Recht ebenbürtig gegenüber. Die Verflechtung beider drückt sich dadurch aus, daß sowohl das Recht für den Staat als auch der Staat für das Recht vorhanden sind. Die Begründung dafür wurde über die Unterscheidung zwischen Naturrecht und positivem Recht geliefert. Das Naturrecht ist übergeordnet und somit der Staatsidee verbunden, das positive Recht ist das gesetzte Rechtssystem des Menschen (vgl. Kapitel 3.2.6.2.1): Das natürliche Recht war vor, außer und über dem Staat959. 3.2.6.3.2 Rechtsstaatlichkeit in der EU Allgemeiner Zweck einer Rechtsstaatlichkeit ist die Verhinderung einer totalitären Ausweitung der Staatsgewalt. Die gleichzeitige Verwirklichung von Ordnung und Freiheit durch ein Staatsgefüge kann einerseits durch Rechtsstaatlichkeit und andererseits durch das demokratische Prinzip erreicht werden960. Die Formaldefinition des Rechtsstaates lautet heute: „Staat, der die Staatsgewalt in Übereinstimmung mit den grundlegenden Prinzipien der materiellen Gerechtigkeit ausübt, bei dem diese Bindung an Gesetz und Recht institutionell gewährleistet ist und der die Art und Weise seines Tätigwerdens sowie die freie Sphäre seiner Bürger in der Weise des Rechts genau bestimmt und unverbrüchlich sichert.“961 Grundsätze einer Rechtsstaatlichkeit finden sich im England des 17. Jahrhunderts auf Basis der Magna Charta aus dem Jahre 1215: In der Habeas-Corpus-Akte wurde 1679 der Schutz gegen willkürliche Verhaftungen fest geschrieben sowie die Entscheidungsfreiheit des Einzelnen hinsichtlich religiöser Gewissensentscheidungen ohne Eingriffe der Staatsgewalt962. Im Rechtsstaat – zu welchem zweifelsohne die derzeitigen EU-Mitgliedstaaten gehören, während die EU als Staatenbund Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 264. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 272. 960 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 281. 961 Herder Verlag (1988), S. 179, wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 962 Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 283 sowie die weitere historische Entwicklung rechtsstaatlicher Grundsätze. 958 959
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
kein selbständiger Staat ist – wird nach heutiger Definition die Staatsgewalt in Übereinstimmung mit den grundlegenden Prinzipien der Gerechtigkeit (vgl. Kapitel 3.2.6.1.1 und 3.2.6.1.2) ausgeübt. Die Bindung an die Gesetze und deren Ausführung wird durch Organe institutionell sicher gestellt, wobei das Recht selbst genau bestimmt und offen gelegt ist. Zur Rechtsstaatlichkeit gehören insbesondere963: – auf Dauer angelegte, allgemeinverbindliche Rechtsordnung, – Grundrechte, – Gewaltenteilung (vgl. Kapitel 3.2.6.2.7), – Regelung der Probleme des sozialen Lebens, – Regelung der staatlichen Macht, – Bindung der Gesetze (keine Rückwirkung), – Bindung des Gesetzgebers an die Gesetze, – Bindung der Gerichtsbarkeit und der Verwaltung an die Gesetze, – Erfordernis der gesetzlichen Grundlagen für staatliche Eingriffe, – justizförmiger Rechtsschutz, – Recht auf gesetzliche, unabhängige und unbefangene Richter.
Über diese Definition ist deutlich erkennbar, daß in der heutigen Rechtsstaatsidee die Staatsidee im Gegensatz zu Zeiten des Althusius nicht mehr von der Rechtsidee getrennt werden kann. Die Definition einer Rechtsstaatlichkeit heute ist grundlegend anders bei Althusius und damit nicht vergleichbar, da sie nicht ausschließlich an das Vorhandensein eines Rechtssystems geknüpft ist. Der Aufbau des Staates beruht heute unmittelbar auf dem Rechtssystem, wobei die Frage nach der Staatsform grundsätzlich offen ist. Die Rechtsstaatlichkeit in der EU hat heute jedoch nicht nur eine die Staatsgewalt beschränkende Funktion, sondern ist als wesentliches konstitutives Element und politisches Prinzip der definierten politischen Gemeinschaft mit zugrunde liegenden rechtsstaatlich-demokratischen Prinzipien zu betrachten, welche die Institutionalisierung und die Regelungsbefugnisse hinsichtlich der politischen Prozesse bestimmen sowie mit den Grundrechten ein konstitutives Strukturprinzip schaffen964. Die rechtsstaatlichen Prinzipien – Gewaltenteilung, – Sicherung von Grundrechten, – Gesetzmäßigkeit der Verwaltung, – Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit staatlicher Maßnahmen und – justizförmige Kontrolle 963 964
Vgl. Herder Verlag (1988), S. 177 und S. 179. Vgl. Zippelius R.(1985), S. 287.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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werden zudem in Einklang gebracht mit den sozialstaatlichen Prinzipien der Mitgliedstaaten der EU um dem Auftrag öffentlicher Wohlfahrt und sozialer Gerechtigkeit zu entsprechen, weshalb auch derartige Staatsleistungen – welche durchaus geeignet sind, ebenso wie die bewußte Unterlassung von Staatsleistungen, die Existenz und Entfaltung des Einzelnen zu fördern – im parlamentarischen Gesetzgebungsverfahren mit demokratischer Legitimation des Parlaments und unter Kontrolle der öffentlichen Meinung vorentschieden werden965. Der EuGH hat die einzelnen Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit der EU wie folgt beschrieben966: – Rechtmäßigkeit der Verwaltung, – Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, – Grundsatz der Rechtssicherheit, – Grundsatz des Vertrauensschutzes, – Rechtsschutz, – Verfahrensgarantien, – Grundrechtsschutz.
3.2.7 Föderalismus, Konföderation und Subsidiarität 3.2.7.1 Föderalismus Föderalismus ist967 „eine horizontal und / oder vertikal gegliederte (politischstaatliche oder auch gesellschaftliche) Ordnung, in der die Mitglieder des Bundes über eigene Rechte, Kompetenzen und Legitimität verfügen“968. Er ist ein „Struktur- und Organisationsprinzip zur inneren Ordnung eines politischen Systems in der Ausprägung eines modernen Staates“969. Föderalismus ist weiterhin definiert als „varianten- und spannungsreiches politisches Gestaltungsprinzip, das in engem Zusammenhang mit dem Subsidiaritätsprinzip eine politische Ordnung des politischen Verbandes als freiheitliche Zusammenordnung der verschiedenen, in ihrer Eigenart zu respektierenden gesellschaftliches Gebilde fordert. Dem Staat wird innerhalb des Gesamtpolitikums nur eine subsidiäre Regelungszuständigkeit und Ordnungsmacht zuerkannt zugunsten der ihm eingegliederten Gebilde. Anstehende 965 966
Vgl. Zippelius R.(1985), S. 289. Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 7 und die dortigen Quellenangaben in Fußnote 22, 24 und
25. 967 Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 968 Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 233. 969 Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 180 f.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Aufgaben sollen nur insoweit mit Hilfe der staatlichen Gewalt . . . zentral bewältigt werden, als dezentralisierte (eigenwillige) Erledigung nicht möglich ist oder der Gesamtheit unzumutbare Nachteile bringen würde“970 sowie als „eine auf Dauer angelegte Verbindung von eigenständigen Einheiten zu einer größeren Gesamtheit zur Verfolgung bestimmter gemeinsamer Aufgaben, . . . wobei eine gewisse (nicht näher definierte) Selbständigkeit auch nach der Verbindung aufrecht bleibt“971. Der Föderalismus hat folgende Aspekte972: – Föderalismus als Dialektik
Föderalismus ist eine doppelte wechselseitige Projektion des Objekts im Subjekt und umgekehrt, welche sich dialektisch organisiert. – Föderalismus als Pluralismus
Beziehungsgefüge zwischen dem Ganzen und seinen Teilen können grundsätzlich als Totalitarismus (das Ganze als homogene, nicht strukturierte Einheit), Partikularismus (Parteien als unabhängig voneinander bestehende, gegenüber den anderen abgeschlossene Elemente) oder Pluralismus (Harmonisierung zwischengesellschaftlicher Beziehungen in der Vielheit) organisiert sein. Der Föderalismus folgt bestimmten Leitlinien, welche sich aus der Wirklichkeit der gesellschaftlichen Teile und des Ganzen ableiten. Er baut sich auf den Prinzipien der Autonomie973, der Machtangleichung 974, der Mitbestimmung975, der relationalen und institutionellen Zusammenarbeit976, der Komplementarität 977 und der Garantien978 auf. Vom Föderalismus als Organisationsprinzip staatlicher und gesellschaftlicher Systeme sind folgende Begriffe abzugrenzen979:
Herder Verlag (1988), S. 72. Esterbauer, F. / Thöni, E. (1981), S. 9. 972 Vgl. Héraud, G. (1979), S. 6 ff. 973 Mit den Problemen der Selbstbehauptung, Selbstabgrenzung, Selbstorganisierung und Selbstverwaltung; vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 21 f. 974 Welche auf ein Verteilungsprinzip für die Zuständigkeiten baut; vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 25 ff. 975 Als aktive Beteiligung an den EntscheidungsProzessen der zusammengesetzten Gruppe; vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 32 ff. 976 Vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 34 ff. 977 Im Sinne der Nutzung von Spannungsverhältnissen für konstruktive Aufgabenbewältigung; vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 36 f. 978 Als Garantie der Kompetenzen (= Recht gegen Ausuferung der Gewalt) sowie Garantie für die Nutzung der Kompetenzen (= wirksame Nutzung zuerkannter rechtlicher Befugnisse); vgl. dazu die Ausführungen bei Héraud, G. (1979), S. 37 ff. 979 Vgl. Esterbauer, F. / Thöni, E. (1981), S. 9 ff. 970 971
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Unitarismus
Im Unitarismus dagegen werden Aufgabenbereiche und Zuständigkeiten zentral bei geringer oder keiner Dezentralisation auf einer Ebene angesiedelt. – Regionalismus
Regionalismus im weiten Sinne umfasst auch den Föderalismus als Ordnungsprinzip. Im engeren Sinne bedeutet Regionalismus abgeleitete regionale Autonomie oder das Streben danach.
3.2.7.1.1 Föderalismus bei Althusius 3.2.7.1.1.1 Der Föderalismusgedanke des Mittelalters Der Föderalismusgedanke des Mittelalters wird in der folgenden Analyse in drei getrennten Ansätzen gemäß des damaligen Verständnisses diskutiert, um diese Kategorien im Nachgang bei Althusius zu erörtern: – theologisch, – gesellschaftsrechtlich, – staats- und kirchenrechtlich.
Der Föderalismusgedanke fußte im Mittelalter auf dem Gedanken der Einheit des Ganzen und der Gliederung der an dem Ganzen hängenden Gliedeinheiten. Diese Gliedeinheiten der Gesellschaft wurde als selbständige Organismen mit Eigenzweck verstanden, welche eingegliedert sind in das vom göttlichen Geist erfüllten Weltganzen. Dies führte zum föderalistischen Aufbau des gesamten Gesellschaftssystems980. Der Ursprung dieses Gedankens ist in der paulinischen und deuteropaulinischen Theologie mit dem Begriff des Leib Christi981 zu finden. Die primäre Stellung des göttlichen Geistes über alle Glieder und dessen Anwendung auf die Glieder ist darüber zu erklären. a) Theologischer Föderalismusbegriff Für den theologischen Begriff (vgl. zur Religion bei Althusius Kapitel 3.2.2.1 bis 3.2.2.3) prägend ist im Zusammenhang mit dem Föderalismus der Bundesbegriff982 der frühen Reformation, der jedoch auch schon in der Theologie des späVgl. Gierke, O. von (1981), S. 226. So z. B. in Röm. 12, 4 ff.: Denn gleicherweise als wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, also sind viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des anderen Glied oder 1.Kor.6,15: Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Christi Glieder sind? oder Kol.1,18: Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde oder Eph.4, 15 f.: der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammen gefügt ist und ein Glied am anderen hanget. 982 Lat.: foedus = Bund. 980 981
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
ten Mittelalters nachgewiesen werden kann983. Dieser ist mit zwei Bedeutungen zu unterscheiden: Erstens als Bundeszusage Gottes wie im Abrahamischen Bund, im Alten und Neuen Testament und zweitens als Bundesverpflichtung des Menschen, den mit Gott eingegangenen Bund treu zu halten984. Er ist zu verstehen als Organisationsmuster für die politische Ökonomie der Hebräer und bezeichnet in der Bibel die Beziehung zwischen Gott und der gesamten geschaffenen Ordnung inklusive der sozialen Ordnung985. b) Gesellschaftsrechtlicher Föderalismusbegriff Im gesellschaftlichen Sinne bedeutet dies den systematischen Aufbau der Gesellschaftsstruktur vom obersten Ganzen des Universalverbandes mit den darauf folgenden mehrfachen Abstufungen bis hinunter zur kleinsten Einheit der lokalen, beruflichen und häuslichen Verbände. Dabei hat jede dieser Teileinheiten einen Selbstzweck und ist mit der Zentraleinheit verbunden986. c) Staats- und kirchenrechtlicher Föderalismusbegriff Die staats- und kirchenrechtliche Bedeutung des Föderalismus beruht ebenfalls wie die gesellschaftliche auf dem Gliedgedanken. Dabei gilt für die Kirchenstruktur ein hierarchischer Aufbau und die Staatsstruktur im Sinne der weltlichen Verbände ein paralleler Aufbau aufgrund der Erweiterung der aristotelischen Gemeinschaftskategorien. Mit der Proklamation des Papalsystems der Kirche mit einher gehender Absorption des Staates durch die Kirche und einer totalen Zentralisation der Kirche wurde die föderalistische Systematik stark erschüttert. In der herrschenden Lehre wurde der Staat als die menschliche Gemeinschaft schlechthin gesehen; es bestand ein Bezug – jedoch kein Wiederstreit – zur Kirche dahin gehend, daß diese ihre Berechtigung durch das ewige Heil erlangt und neben dem Staat mit dem Ziel des zeitlichen Wohles steht. Marsilius von Padua (ca. 1280 – 1342)987 dagegen wagte den Entwurf einer Verquickung von Staat und Kirche, wo die Kirche zur Staatsanstalt, das Kirchengut zum Staatsgut und das geistliche Amt zum Staatsamt werden sollte988. Die Jurisprudenz des Mittelalters unterschied die seit Bartolus durchgeführte Trennung zwischen Verbänden mit und ohne Superior und die Gleichsetzung der Verbände ohne Superior mit dem „imperium“. Die Begriffe „civitas“, „regnum“ und „imperium“ sind die durch unterschiedliche Größenklassen definierten organischen Menschheitsgliederungen, welchen der Staatsbegriff abgesetzt und übergeordnet ist. Der Staat war alleinige Quelle und alleiniges Subjekt des öffentlichen Rechtes, 983 984 985 986 987 988
Vgl. Hillerbrand, H.J. (1997), S. 10. Vgl. Hillerbrand, H.J. (1997), S. 11. Vgl. McCoy, Ch. (1997), S. 34. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 227. Vgl. auch die Ausführungen zu Marsilius bei Reibstein, E. (1955), S. 100 f. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 227 ff.
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während die Verbände nur delegierte staatliche Instanz waren und nur im Bereich des Zivilrechtes als eigenes Rechtssubjekt galten. Der Föderalismusgedanke ging davon aus, daß jedoch kein Staat im Staat möglich ist, da nach dem ausschließlich souveränen Staat alle anderen Verbände als nichtsouverän gelten und in die Rubrik der Gemeinden und Körperschaften fielen989. Föderalismus wurde somit nur in der Ausprägung eines Bundes- bzw. Unionsverhältnisses als Scheinstaat unter mehreren vollsouveränen Staaten („corpus confoederatorum“), welche selbst in der Konföderation die volle Souveränität behalten oder andererseits nur in der Form eines gegliederten Einheitsstaates990 mit nicht eigenständigen Gliedern verstanden. Dadurch setzt sich der damalige Föderalismusbegriff vom heutigen entscheidend ab. Die Gemeinden und Verbände wurden als staatliche Abteilungen für Verwaltungszwecke gesehen, so z. B. bei Bodinus, welcher die Gemeinde im Verwaltungsrecht abhandelt und als Schöpfung des Zivilrechts bezeichnet. In den Anfang des 17. Jahrhunderts publizierten Lehr- und Handbüchern der Politik wurde die Funktion der Gemeinden und Verbände dann nicht mehr nur staatsanstaltlich, sondern auch unter polizeilichen Gesichtspunkten gesehen991. 3.2.7.1.1.2 Das souveränitätskonforme Bottom-up-Prinzip des Föderalismus bei Althusius Althusius war der erste, der eine derartige Föderalismuskonstruktion hatte. Die Anfänge des Föderalismus im Sinne eines Strukturprinzips der gesellschaftlichen und politischen Organisation im Ganzen werden zwar Althusius zugewiesen, wobei er in der Föderalismusdiskussion jedoch weitgehend unbeachtet blieb und statt dessen Montesquieu als Begründer für den Föderalismus als staatliches Strukturprinzip gilt992. Wurde Föderalismus vorher begriffen als System der gesellschaftlichen Gliederung von oben nach unten, so kehrte Althusius dieses Prinzip erstmals um993; es ist als „radikaler Föderalismus in Rücksicht auf eine kooperativ und korporativ organisierte Herrschaftspluralität“ 994 zu verstehen: Ursprung des Föderalismus bei Althusius ist der Gesellschaftsvertrag (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1) und damit die unterste Ebene in der Hierarchie eines Föderalismus. Althusius dezentralisiert also nicht ein hierarchisches Staatssystem mittels Delegationsmechanismen, sondern er baut ein föderales Gemeinwesen aus nichtzentralistischen Teilen zum Gesamtstaat zusammen995. Sein funktionaler Gesellschaftsaufbau erfolgt dabei von unten nach oben, was ihn wesentlich von der Theorie Bodins, „der die Bestandteile des Soziallebens 989 990 991 992 993 994 995
Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 231 f. Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 237 f. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 242. Vgl. Reichardt, W. (1998), S. 103. Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 226. Waschkuhn, A. (1995), S. 24. Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 214 und Hüglin, Th. (1991), S. 59.
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vom Wesen der souveränen Gewalt als dem obersten Zweck der Politik her begreift“996, abhebt. Politik ist für ihn ein „Prozeß intergrupplicher Vergemeinschaftung von unten“997. Einher mit diesem Bottom-up-Prinzip des Föderalismus – welches vom Grundsatz her einer zentralistischen Systematik wiederspricht und zentralistischen Bewegungen grundsätzlich nicht förderlich war – ging bei Althusius das uneingeschränkte Souveränitätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.4.1). Durch seine Abkoppelung der Souveränität vom Herrscher und die Übertragung auf das Volk mutiert der Souveränitätsbegriff von einer Gewichtung der Staatssouveränität hin zur Volkssouveränität, ohne jedoch daß eine Staatssouveränität gegenstandslos wird und somit vereinbar wird mit dem antizentralistischen Gedanken des Föderalismus. Nach Althusius kann Souveränität nur dem Volk belassen werden, wenn zum einen der Herrschafts- und Beauftragungsvertrag geschlossen (vgl. Kapitel 3.2.1.2.1 sowie Kapitel 3.2.3.1.1) und gültig ist und zum anderen die Legitimität der Volksvertreter gegeben ist, wenngleich folgendes gilt: „die Macht, dieses Reichsrecht zu begründen und sich ihm zu verpflichten, kommt dem Volk oder den vereinten Gliedern des Reichs zu“998. Das Bottom-up-Prinzip zeigt sich bei Althusius auch deutlich in der Gliederung der Konsoziationen, innerhalb derer sich Macht und Autorität von unten nach oben und nicht umgekehrt wie in hierarchischen Systemen aufbaut999. 3.2.7.1.1.3 Theologischer, gesellschaftsrechtlicher sowie staats- und kirchenrechtlicher Föderalismus bei Althusius Analog der Gliederung des Verständnisses des Föderalismusgedanken des Mittelalters (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.1) soll der Begriff bei Althusius unter den folgenden Kategorien untersucht werden: – theologisch, – gesellschaftlich (sozietal) und gesellschaftsrechtlich, – staats- und kirchenrechtlich, – ökonomisch.
a) Theologischer Föderalismusbegriff Der theologische Bezug zum Föderalismus findet sich bei Althusius schon deshalb, da er immer wieder die Bibel in seinen Schriften zitiert; allein in der Politica finden sich mehrere tausend Bibel-Zitate1000. Weiterhin wurde durch Michael Stolleis Ende der Neunziger Jahre in der Herzog August Bibliothek Wolfenbüttel das Werk „Disputatio politica de regno recte instituendo et administrando“ entVgl. Hüglin, Th. (1991), S. 89. Hüglin, Th. (1994), S. 108. 998 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel IX, § 15 f.; S. 115. 999 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 155. 1000 Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 41. 996 997
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deckt, welches Althusius zugeschrieben wird und in welchem eine Beschreibung ziviler und religiöser Bündnisse vorgenommen wird und damit die Existenz von Herrschaft legitimiert und gerechtfertigt wird1001. Zentral ist der theologisch abgeleitete Gesellschafts-, Kirchen- und Staatsaufbau gemäß dem Leib Christi1002 als Vorbild. Der göttliche Geist hat eine primäre Stellung über alle Glieder und hat Anwendung auf die Glieder zu finden. Althusius verwendet immer wieder Bibelzitate, um eine Analogie der föderalistischen Struktur der politischen Gemeinschaft mit der der Christengemeinde aufzuzeigen: „So wie der Geist im menschlichen Körper die übrigen Glieder führt und sie entsprechend den ihnen zugewiesenen und angemessenen Funktionen leitet und lenkt, sich ihrer annimmt und Sorge für die nützlichen und notwendigen Aufgaben trägt, 1. Kor., 12“1003. Der unmittelbare Bezug der politischen Theorie des Althusius zur Föderaltheologie wird darin erkennbar, da er innerhalb seines politischen Calvinismus (vgl. Kapitel 3.2.2.1) zwar trennt zwischen kirchlichem und weltlichen Souveränitätsrecht1004, kirchlichen und staatlichen Amtsträgern1005, nicht jedoch zwischen Christen- und Bürgergemeinde sowie eine Bevormundung des Gemeinwesen durch die Kirche ebenso wie ein staatskirchliches Modell ablehnt1006. Ob nun die politische Theorie des Althusius in die politische Theologie einzuordnen ist oder nicht, wird in der Literaturdebatte gegensätzlich unter folgenden Standpunkten kontrovers diskutiert: Nach Wyduckel weisen die föderaltheologischen Elemente calvinistischen Hintergrundes (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1) nicht zwingend auf eine politische Theologie hin1007, während Nitschke einen theokratischen Anspruch auf die Sphäre des Politischen durch die Verbindlichkeit des göttlichen Willens auch im Staate sieht1008 und Rengstorf eine konstitutive Bedeutung der Bundesvorstellung für die politische Theorie des Althusius schon deshalb ablehnt, weil sie in der Politica viel zu spät auftaucht1009. Auch Malandrino weist auf den Vgl. Malandrino, C. (2004), S. 138 f. So z. B. in Röm. 12, 4 ff.: Denn gleicherweise als wir in einem Leibe viele Glieder haben, aber alle Glieder nicht einerlei Geschäft haben, also sind viele ein Leib in Christo, aber untereinander ist einer des anderen Glied oder 1.Kor.6,15: Wisset ihr nicht, daß eure Leiber Christi Glieder sind? oder Kol.1,18: Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde oder Eph.4, 15 f.: der das Haupt ist, Christus, von welchem aus der ganze Leib zusammen gefügt ist und ein Glied am anderen hanget. 1003 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel I, § 13, S. 26. 1004 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel IX, § 27, § 29, § 32, § 34 ff., S. 119 ff. 1005 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel VIII, § 32, S. 100. 1006 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel VIII, § 6 ff., S. 95 ff., Kapitel IX, § 31 ff.; S. 120 ff. und Kapitel XXVIII, § 3 ff., S. 280 ff. 1007 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XXXV. 1008 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 173. 1009 Vgl. Rengstorf, K. H. (1988), S. 210. 1001 1002
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direkten Zusammenhang zwischen Föderaltheologie und dem frühmodernen Föderalismus hin sowie auf die Tatsache, daß diese Verbindung oft übersehen wurde1010. Auch Carl Schmitt spannt den Bogen vom allmächtigen Gott als Gesetzgeber zur Allmacht der politischen Gesetzgebung1011. Die kontroverse Debatte zu diesem Thema wird maßgeblich durch diese zwei gegensätzlichen Meinungen geprägt1012. b) Gesellschaftlicher (sozietaler) und gesellschaftsrechtlicher Föderalismusbegriff Gesellschaftlich findet sich bei Althusius die föderalistische Systematik im Aufbau der Gesellschaftsstruktur schlechthin (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1). Dabei unterscheidet er grundsätzlich zwischen partikularen (Familie, Dorf) und universalen (Provinz, Reich) Gemeinschaften. Hier präsentiert Althusius in seiner dichotomischen Gliederungsweise schon sein föderales Prinzip durch Gegenüberstellung der föderal-konstitutionellen Absicherung der partikularen Gebietskörperschaften und Konsoziationen wie z. B. Städte gegenüber zentralstaatlich-absolutistischen Tendenzen dieser Zeit1013: – Natürliche, private, notwendige und einfache Konsoziationen
– Natürliche Gemeinschaften1014, – Bürgerliche Gemeinschaften1015. – Künstliche, öffentliche und politische Konsoziationen1016
– „collegia generalia“: Ordnung der Stände Klerus, Adel und Volk, – „collegia specialia“: Kollegialgerichte und -behörden, – „consociationes publicae“: Gemeinden und Provinzen, – „universalis publica consociatio“ („res publica“): Das politische Ganze (der Staat). – Kollegiale Konsoziationen mit einer Zwischenstellung
– „consociationes collegarum“: Korporationen wie Zünfte, Kirchengemeinden und Innungen. Die einzelnen Konsoziationen erfahren dabei eine föderalistische Gliederung dahin gehend, daß das Dorf und die Gilde eine Vereinigung von Familien, die Vgl. Malandrino, C. (2004), S. 123. Vgl. Malandrino, C. (2004), S. 131 und die dortigen Quellenangaben. 1012 Vgl. zu Vertretern beider Denkrichtungen Malandrino, C. (2004), S. 131 ff. 1013 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 107. 1014 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel II, S. 32 ff. und Kapitel III, S. 42 ff. 1015 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 2, S. 47 ff. 1016 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.V ff., S. 55 ff. 1010 1011
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Stadt1017 eine Vereinigung von Gilden, die Provinz eine Vereinigung von Dörfern und Städten, das Königreich eine Vereinigung von Provinzen und Städten sowie das Kaiserreich eine Vereinigung von Königreichen ist1018. Nun bedeutet jedoch eine systematische Stufengliederung der gesellschaftlichen Einheiten von der kleinsten hin zur größten Einheit1019 noch nicht zwingend eine föderalistische Struktur. Diese entsteht bei Althusius durch die vertraglichen und rechtlichen Bindungen innerhalb und zwischen den Einheiten: Die privaten Gemeinschaften begründen sich auf eine vertragliche Beziehung deren Mitglieder, welche zur gegenseitigen Teilhabe mit dem Zwecke der Besitzeinbringung und Förderung des Wohles ihrer Mitglieder verpflichtet werden1020, wodurch der gesellschaftliche zum gesellschaftsrechtlichen Föderalismus wird. Diese Teilhabe, Unterstützung und Hilfe ist zwischen den Gemeinschaften umso geringer, je kleiner die private Gemeinschaft gegenüber der öffentlichen und universalen Gemeinschaft ist1021. Schon auf dieser Ebene der kleinsten gesellschaftlichen Einheit tritt der Föderalismusgedanke bei Althusius auch nach heutiger Definition (vgl. Kapitel 3.2.7.1.2) klar hervor: Aufgaben der untergeordneten Teileinheit sollen nur dann mit Hilfe der staatlichen Gewalt zentral bewältigt werden, wenn eine dezentralisierte eigenwillige Erledigung nicht möglich ist1022. Auch aus den Ausführungen des Althusius in der bürgerlichen Gemeinschaft der Stadt1023 geht aus der Beschreibung der Rechte und Funktionen der Stadt die föderalistische Struktur hervor: So liegen die Gesetze und Münzen, die Stadtrechte und -privilegien, das Territorialrecht und ähnliches1024 in der Rechtssphäre der Stadt selbst, jedoch nicht darüber hinaus gehende Rechte in Form der universellen Jurisdiktion innerhalb des Stadtterritoriums1025. Die bürgerliche Verwaltung und die Art und Weise, in welche Ordnung die Bürger des Gemeinwesens zu bringen sind, liegt im Ermessen des Magistrats des Gemeinwesens und ist somit auf unterster Ebene einer föderalistischen Gliederung1026 angesiedelt. Ebenso lehrt Althusius, daß das „ius majestatis“ (Recht der Souveränität) als Reichsrecht zu klassifizieren ist und somit von höherem Rang und größerer Autorität als entsprechende Stadt- oder Provinzrechte ist1027. Das Reichsrecht zielt auf den Lebensunterhalt, die Autarkie und 1017 Vgl. die Ausführungen zur politischen Ordnung der Stadt bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 106 ff. 1018 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 155. 1019 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, S. 57. 1020 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 2, S. 33. 1021 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 3, S. 33. 1022 Der heutigen Föderalismusdefinition nach Herder Verlag (1988), S. 72 folgend. 1023 Vgl. die Ausführungen zur politischen Ordnung der Stadt bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 106 ff. 1024 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 39 ff., S. 77. 1025 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 42, S. 77. 1026 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 56, S. 329. 1027 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 13, S. 115.
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eigene Ordnung, lenkt die Handlungen der Glieder und schreibt ihnen Aufgaben vor1028. Zum besonderen Reichsrecht gehört auch die Besteuerung (vgl. zum Steuerwesen auch Kapitel 4.2.2.6.7) und die aus den Steuergeldern vorzunehmende Umverteilung zum Wohle des Gemeinwesens1029, welches somit der Reichsebene als übergeordnete Einheit zugeteilt wurde. Dabei ist für den Steuererhebenden als Inhaber der speziellen, begrenzten und niederen Jurisdiktion zu beachten, daß die Steuer nur auf sein Territorium bezogen zu erheben ist, während der Inhaber einer universellen Jurisdiktion auch eine territoriumsübergreifende Steuer erheben kann, dann jedoch für die Unterlassung einer Doppelbesteuerung zu sorgen hat1030. Ebenso ist das Kriegsrecht sowie der Abschluß von Friedensverträgen ein Reichsrecht1031 und steht somit den darunter stehenden Einheiten nicht zu. Innerhalb des Begriffes der nicht vollständigen Konföderation bei Althusius (vgl. Kapitel 3.2.7.2.1) kommen ebenfalls deutlich föderalistische Elemente vor: Die Konföderationspartner bleiben im Besitz ihrer vollen Souveränitätsrechte1032, behalten ihr eigenes Gemeinwesen sowie die Jurisdiktion und die Autonomie des Volkes mit Selbstbestimmungsrecht bleibt innerhalb der Konföderation bestehen1033, was deutlich einem Föderalismus zu zuweisen ist. Das übergeordnete strukturelle Gebilde übernimmt die Funktion des Kriegsrechtes, da dies das untergeordnete Gebilde nicht in dieser Form ausüben kann; andere Rechte dagegen sind durchaus auf unterer Ebene ausführbar, wie z. B. die Souveränitätsrechte. Althusius führt aus, daß das Recht der Stände oder Ordnungen dem des Reiches untergeordnet ist und den Präfekten der Provinzen nur in den Angelegenheiten zusteht, welche auch die Angehörigen dieser Provinz betrifft1034. Das Reichsrecht ist ein übergeordnetes Recht, welches Althusius als Fundamentalgesetz bezeichnet, an welches die Glieder gebunden sind und welches die Zustimmung und Billigung der Glieder erfordert1035. Die letztgenannten Ausführungen zeigen deutlich, daß der gesellschaftsrechtliche Begriff des Föderalismus des Althusius unmittelbar in den staatsrechtlichen (siehe unten) übergeht: Die Zuweisung von Gesetzen und Rechten sind klar dem Staatsrecht zuzuweisen; dies ist vor dem Hintergrund des föderalistischen Aufbaues der staatlichen Gemeinschaft aus den gesellschaftlichen Teileinheiten jedoch auch nicht verwunderlich. Der Föderalismusbegriff hat neben der unten zu beschreibenden staats- und kirchenrechtlichen Dimension bei Althusius demnach auch eine gesellschaftliche Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 15, S. 115. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 25, S. 133. 1030 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIII, § 4 f., S. 140. 1031 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 4, S. 150 und § 16, S. 152 sowie Kap. XXXV, § 7, S. 358. 1032 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 53, S. 104. 1033 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 41, S. 161. 1034 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 5, S. 196. 1035 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 49, S. 205. 1028 1029
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Dimension, welche sich auch als sozietaler Föderalismus umschreiben läßt1036. Dabei besteht eine unmittelbare Verbindung zwischen der sozialen und der staatsund kirchenrechtlichen Dimension dahingehend, daß die gesellschaftlichen Einheiten auf unterer Ebene (Familie) innerhalb des ständischen Systems die Grundlage für das staatsrechtliche System auf oberster Ebene bildet. Im Gegensatz zu Aristoteles sieht Althusius1037 durch diese Verbindung keinen generischen Unterschied zwischen Gesellschaft (Familie) und Staat, was wegen der fehlenden Dichotomie auch nicht zu einer Trennung zwischen Innen- und Außenpolitik führen kann1038. Die Familie ist „Grundbaustein einer Stufenordnung generisch gleicher Teilverbände“1039. Diese Teilverbände verbinden sich durch einen Gemeinschaftsprozeß – welcher in erster Linie als kommunikativer politischer Partizipationsprozeß zu verstehen ist, welcher bei Mißlingen das Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) auslösen kann – zur „politeia“1040. Aus all diesen Elementen der politischen Theorie des Althusius läßt sich unmittelbar als Schlußfolgerung ableiten, daß einer abgegrenzten gesellschaftlichen bzw. korporativen Einheit nur bestimmte, ihr zustehende Rechte, Aufgaben und Pflichten von der kleinsten zur größten Einheit zugewiesen werden und nur der nächst höheren Einheit wiederum darüber hinaus gehende Rechte, Aufgaben und Pflichten zustehen. Dies ist gleich zu setzen mit der heutigen Föderalismusdefinition, daß Aufgaben der untergeordneten Teileinheit nur dann mit Hilfe der staatlichen Gewalt zentral bewältigt werden sollen, wenn eine dezentralisierte eigenwillige Erledigung nicht möglich ist1041. c) Staats- und kirchenrechtlicher Föderalismusbegriff Für die staats- und kirchenrechtliche Föderalismusdefinition ist die Kennzeichnung der Staatsstruktur des Mittelalters relevant: Die Struktur ist nicht zu verstehen als Territorialstaatsstruktur, sondern als Personenverbandsstaat mit personaler Einbindung in die ständische Verbandsstruktur1042. Insofern ergibt sich schon aus der ständischen Verbandsstruktur eine föderalistische Ordnung. Gemäß dem mittelalterlichen Föderalismusgedanken, daß kein Staat im Staat möglich ist, da nach dem ausschließlich souveränen Staat alle anderen Verbände als nichtsouverän gelten und in die Rubrik der Gemeinden und Körperschaften fielen, hat dagegen Althusius in seinem staats- und kirchenrechtlichen Föderalismus die möglichen Arten des Zusammenschlusses von Verbänden definiert als entweder vollständige 1036 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Nitschke, P. (1995), S. 158 ff. sowie Hüglin, Th. (1991). 1037 Vgl. dazu die näheren Ausführungen zum aristotelischen Paradigma und den Gemeinsamkeiten und Unterschieden bei Aristoteles und Althusius bei Neri, D. (1997), S. 122 ff. 1038 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 158 f. 1039 Hüglin, Th. (1991), S. 134. 1040 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 159. 1041 Der heutigen Föderalismusdefinition nach Herder Verlag (1988), S. 72 folgend. 1042 Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 153.
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oder nicht vollständige, teilweise und begrenzte Konföderation1043. Dabei definiert er eine mittlere föderalistische Struktur als das stabilste System1044. Die Möglichkeit einer föderalistischen Struktur besteht jedoch auch im Zusammenschluß mehrerer solcher Gemeinwesen1045. Althusius trat in seiner Föderalismuskonstruktion der gängigen mittelalterlichen Föderalismusdefinition teilweise konträr und revolutionär entgegen1046: – Eine Staatskonstruktion ist mit dem Grad der Selbständigkeit des Gemeinwesens der Gliedverbände zu definieren als zentralistisch oder föderalistisch. – Keine Identifizierung von Staat und Kirche. – Keine Negation des weltlichen Universalverbandes. – Keine Verwerfung des aus Staaten zusammengesetzten Staates.
Während in der Föderalismusdiskussion des Mittelalters entweder der föderalistische1047 oder der zentralistische Gedanke1048 bei den jeweiligen Vertretern im Mittelpunkt stand, verband Althusius die beiden Auffassungen in seiner politischen Theorie dadurch, daß er die „föderalistischen Ideen in ein System fasste und auf ein theoretisches Prinzip begründete“1049: – Herrschafts- und Beauftragungsvertrag sowie Gesellschaftsvertrag werden zum zivilrechtlichen Prinzip erklärt und damit der Sphäre des öffentlichen Rechts entzogen. – Dies führt zu einem naturrechtlichen Gesellschaftaufbau von der Familie bis zur Provinz (vgl. Kapitel 3.2.1.1), welche zwischen Individuum und Staat stehen. – Innerhalb dieses Aufbaues setzt sich die weitere Gemeinschaft aus den Einheiten der darunter liegenden Teilgemeinschaften zusammen, wobei kein hierarchischer Aufbau vorlag, sondern sich Macht und Autorität von oben nach unten und nicht wie in der Hierarchie umgekehrt aufbauen1050. – Jede Gemeinschaft hat eine eigene Rechts- und Gemeinschaftssphäre, von welcher nur soviel an die nächst höhere abgegeben wird, wie diese für die Erreichung ihrer Ziele benötigt. – Der Staat ist den Gemeinschaften die Gattung betreffend gleich und nur durch das Souveränitätsrecht unterschiedlich. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 27 ff., S. 159. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 11, S. 114 und Hüglin, Th. (1990), S. 216. 1045 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 25 ff., S. 158 ff. 1046 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 238 f. 1047 So z. B. bei den Monarchomachen. 1048 So z. B. bei den Kirchenvertretern. 1049 Gierke, O. von (1981), S. 244 sowie vgl. die Ausführungen bei Gierke, O. von (1981), S. 244. 1050 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 155. 1043 1044
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Der Ursprung der föderalistischen Idee des Althusius entspringt dem Staatsdilemma des späten Mittelalters und der Frühen Neuzeit im Widerstreit zwischen Absolutismus und Dualismus. Gegenüber den Monarchomachen erweiterte Althusius den doppelten1051 zum dreifachen Bundesschluß1052 in seiner Kette der Begrenzung herrschaftlicher Macht mittels Widerstandsrecht. Er versuchte damit vor dem Hintergrund der tatsächlich im Reich zersplitterten Partikularkräfte einen dritten Weg der Staatsorganisation neben monistischer und dualistischer Basis: Da eine absolutistische Einigung ebenso unmöglich erscheint wie ein Dualismus zwischen politischer und religiöser Vorherrschaft ist eine föderalistische Organisation nahe liegend1053. Althusius war als Syndikus von Emden in erster Linie Stadtpolitiker und somit Verfechter des Partikularismus; andererseits mußte er die tatsächlichen Machtverhältnisse des Zentralismus sowie des aufstrebenden Territorialfürstentum anerkennen1054 und versuchte das in seine Theorie einbeziehen: Genau dies kennzeichnet die neue Konstruktion mit der Verbindung von partikularen und universalen Strukturen im Föderalismus. Althusius kommt unmittelbar zum politischen Föderalismus über den gesellschaftsrechtlichen Föderalismus: Schon auf der untersten gesellschaftlichen Ebene der Familie zeigt sich deren Doppelbestimmung als natürliche Gemeinschaft über den Schutz der Mitglieder nach außen1055, der Ordnung und Disziplin im Inneren1056 und der Bereitstellung des für ein frommes und gerechtes Leben Nützliche und Notwendige1057 und sodann die politische Dimension dadurch, daß das Familienmitglied Bürger ist und eine Verflechtung bzw. Identität zwischen natürlicher und politischer Gesellschaft besteht. Somit wird der Gemeinschafts- und Korporationsbegriff bei Althusius gänzlich neu definiert und ermöglicht somit auch die neue Systematik des Föderalismus. Die Grundkonstruktion hierfür ist eine juristische und staatsrechtliche Definition, welche Althusius erstmals vornahm1058: 1051 Der doppelte Bundesschluß ist demnach ein Gnadenbund mit Gott, welchem sich weder Herrscher noch entziehen können sowie ein Bund zwischen König und Volk zur Begründung einer rechtmäßigen Herrschaft; vgl. dazu die Ausführungen bei Hüglin, Th. (1994), S. 104 f. 1052 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 238 und die dortigen Quellenangaben zu Althusius sowie Hüglin, Th. (1994), S. 105. 1053 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 105. 1054 Vgl. die Ausführungen zur partikularen und universalen Struktur des Althusius’schen Föderalismus bei Hüglin, Th. (1991), S. 158 ff. 1055 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 43, S. 38 und Kap. III, § 34, S. 44. 1056 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 40 ff., S. 38 ff., Kap. III, § 16, S. 43. 1057 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 44 und 46, S. 38 und 41, Kap. III, § 27 und 34, S. 44. 1058 Vgl. Gierke, O. von (1981), S. 244, Fußnote 43 sowie S. 260, Fußnote 90.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Systematische Zweiteilung der Rechtssubjekte Einzelperson und Kollektivperson, welche sich in der Gesellschaftssystematik durchzieht in der Teilung der Arten von Gemeinschaften in einfache und private sowie gemischte und öffentliche1059, – Ersetzung des Begriffes des künstlichen zivilrechtlichen Individuums durch den Begriff der organisierten Gesamtheit als Einheit für Gewalt- und Vermögensverhältnisse, – Aufbau der Struktur des Gemeinwesens auf die innere Struktur jeder Gesamtperson.
d) Ökonomischer Föderalismusbegriff Die ökonomische Föderalismusdefinition bei Althusius begründet sich ebenfalls auf dem Partikularismus1060, jedoch mit dem Zweck der Behebung eines unkoordinierten Partikularismus1061: – Allgemeine Notwendigkeit der Regelung des Handels1062 statt funktional differenzierter Bereiche des arbeitsteiligen Wirtschaftslebens, – Kennzeichnung der Wirtschaftsverfassung als föderalen Koordinationsstaat statt als zentralstaatlichen Interventionsstaat, – Erkennen der Notwendigkeit der großflächenstaatlichen Konsolidierung zur Steigerung der Handelstätigkeit und damit des Ausbaues des Nützlichen1063 bei gleichzeitiger Erhaltung partikularer Strukturen in Gesellschaft (Stände) und Staat (Bottom-up-Föderalismus, vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.2).
Althusius begründet insgesamt einen radikalen Föderalismus, welcher auf folgenden Bausteinen begründet ist1064: – Vorrang der pluralen Gruppenstruktur vor der individuellen Freiheit (korporatives Prinzip), – Vorrang von Kooperation und Konsens gegenüber Mehrheitsentscheid und Wettbewerb (Konkordanz oder konsoziales Prinzip), – Vorliegen einer Gruppenstruktur mit funktional-berufsständischen Elementen neben den territorialen Elementen (sozietaler Föderalismus), – Gesellschaftaufbau von unten nach oben mit Kompetenzvermutung bei der niedrigstmöglichsten Einheit (Subsidiaritätsprinzip). Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 1, S. 22. Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 124 ff. 1061 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 125. 1062 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 7 f., S. 130 f., Kap. XVII, § 23, S. 158, Kap. XXIX, § 11, S. 299 und Kap. XXXII, § 1 ff., S. 324 ff. 1063 Bei Althusius haben alle Gemeinschaften den Zweck der Förderung des Notwendigen und Nützlichen, wobei das Nützliche dem heutigen Wohlstand entspricht. 1064 Vgl. Hüglin, Th. (1990), S. 224. 1059 1060
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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3.2.7.1.2 Föderalismus in der EU Welche Art von Föderalismus in der EU vorliegt, ist in der wissenschaftlichen Diskussion umstritten1065, wobei zwei radikale Gegenpositionen zu unterscheiden sind: – Die EU als fusionierter Föderalstaat, in dessen Mehrebenensystem zunehmend staatliche Handlungsinstrumente in spezifischen gegenseitigen Beteiligungsformen verschmolzen werden. – Negation des Vorliegens von auch nur tendenzieller Bundesstaatlichkeit der EU.
Im Folgenden wird daher ohne Bezug auf die beiden Gegenpositionen auf die derzeit gültigen, formaldefinitorischen Föderalismusbegriffe abgestellt1066: Föderalismus (lat.: foedus: Bund, Vertrag) im weiten Sinne ist „die vertikal und horizontal gegliederte Struktur gesellschaftlicher, politischer oder staatlicher Zusammenschlüsse . . . , in der alle Einheiten über je eigene Rechte, Autonomie und Legitimität verfügen“1067, innerhalb welchem systematisch zwischen dem gesellschaftlichen Strukturprinzip und dem Föderalismus als politisches Strukturprinzip zu unterscheiden ist1068. Ziel ist dabei „a) die Beschränkung politischer Macht durch ihre Aufteilung auf verschiedene Ebenen (vertikale Gewaltenteilung) . . . b) der Schutz von Minderheiten“1069. Im Föderalismus bezieht sich der Aspekt der Gewaltenteilung nicht nur auf die Teilung, sondern auch auf deren Organisation und Hemmung1070. Folgende Elemente sind bezeichnend für den Föderalismus1071: – Freie Einigung von grundsätzlich gleichberechtigten, in der Regel regionalen politischen Gesamtheiten, – Verbindung der Vielheit zur Einheit durch bundesmäßigen Zusammenschluß von Bündnisgliedern, – Voraussetzung der – Erhaltung und Sicherung der individuellen Eigenart sowie des gemeinschaftlichen Zusammenwirkens der Bündnisglieder und der Erhaltung der Unterschiedlichkeit und Individualität Homogenität der Bündnisglieder, – Homogenität der Bündnisglieder. Vgl. Reichardt, W. (1998), S. 107. Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 1067 Reichardt, W. (1998), S. 102. 1068 Vgl. Reichardt, W. (1998), S. 103. 1069 Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 105. 1070 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 178. 1071 Vgl. Laufer, H. (1991), S. 258 f. 1065 1066
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Vorrang der engeren gegenüber der weiteren Gemeinschaft, welcher nur subsidiäre Funktionen zukommen, wobei Föderalismus und Subsidiaritätsprinzip in engem Zusammenhang, nicht jedoch in absolut notwendigem stehen.
Die föderalistische Gliederung der Staatsordnung kann auf politisch-staatlicher und / oder auf gesellschaftlicher Ebene statt finden sowie eine horizontale und / oder vertikale Gliederungsordnung sein, wobei folgende Föderalismusarten zu unterscheiden sind1072: – Politisch-staatlich
– Verfassungsrechtlicher Föderalismus Verfassungsrechtlich geschützte Existenz von Gewaltenbalance jeweils sowohl in den Gliedstaaten als auch im Gesamtstaat. – Institutionell-funktionaler Föderalismus Aufteilung der staatlichen Aufgaben auf die Gliedstaaten sowie den Gesamtstaat, wobei jede staatliche Ebene in bestimmten Bereichen eigenverantwortliche Entscheidungsgewalt inne hat. – Gesellschaftlich
– Soziologisch-behavioristischer Föderalismus Föderale Strukturen entstehen unabhängig von einer politischen Organisation gemäß der territorial verfestigten, ethnischen, religiösen, ökonomischen und historisch-genetischen Gliederung. – Sozialphilosophischer Föderalismus Freiwilliger Konsens und Assoziation der dezentralen Einheiten durch genossenschaftliche Prinzipien. Darüber hinaus sollte eine Föderalismusdefinition jeweils in bezug auf das jeweilige territoriale politische System erfolgen, was zu folgender Gliederung führt1073: – Schweizerischer Föderalismus, – US-amerikanischer Föderalismus, – Deutscher Föderalismus – staatsrechtlicher Föderalismus, – gemeinschaftsrechtlicher / europarechtlicher Föderalismus, – regionalistischer Föderalismus. – usw.
Des weiteren ist eine Gliederung im Sinne eines dynamischen Prozesses und nicht als statische Organisation gemäß der hierarchischen Struktur der föderalen Gliederung zu unterscheiden1074: 1072 1073 1074
Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (2002), S. 233 und Reichardt, W. (1998), S. 104 f. Vgl. Krawietz, W. (1997), S. 322 f. Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 154 und S. 166 ff.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Intrastaatlicher Föderalismus, – Internationaler Föderalismus.
3.2.7.1.2.1 Intrastaatliche föderative Organisation Der internationale Föderalismus auf Basis der Prinzipien der vertikalen Gewaltenteilung und der einzelstaatlichen Autonomie geht von der weitgehenden Unabhängigkeit der einzelnen Ebenen und einer Verteilung der politischen Kompetenzen am politischen Gegenstand aus1075. Das Grundmodell einer föderativ organisierten Struktur innerhalb eines Staatsgebildes reicht von der Gebietskörperschaft bis zum Staatstyp, wobei der Bundesstaat als Leittyp des Föderalismus gilt. Gemäß der Föderalismus-Definition sollen unter- und übergeordnete politische Interessen ohne Konflikte dadurch zum Konsens gebracht werden, daß jede territoriale Einheit befugt ist, ihre eigenen Regelungen zu treffen, insofern keine schutzwürdigen und überregionalen Interessen berührt werden1076. Die Teilsysteme handeln demnach eigenverantwortlich auf der jeweils untersten gemeinsamen Interessensebene und geben übergeordnete Themen an die Ebene zur Entscheidung und Konsensfindung ab, die der Reichweite dieser Interessen entspricht. Da die Entscheidungsgewalten bei der möglichst unteren Ebene angeordnet werden, entspricht der Föderalismus dem demokratischen Prinzip. Weiterhin ermöglicht er eine wirtschaftliche Entscheidungsfindung durch Einbindung nur des betroffenen Territoriums und der geringst möglichen Anzahl Entscheidungsträger für die vorliegende Interessenslage. Auch kann eine föderative Gewaltenbalance installiert werden durch Trennung der Kompetenzen zwischen den Organen des Zentralstaates und den föderativen Teilbereichen (Gliedstaaten)1077. In Bundesstaaten wird das föderalistische Prinzip durch das Vorhandensein von zwei unterschiedlichen Entscheidungszentren („two centers of government“, „duplex regimen“) institutionalisiert: Dem Bund und dem Land1078. Die EU ist wie folgt dreigliedrig intrastaatlich föderativ organisiert1079: – EU, – Mitgliedstaaten, – Regionen.
Die Strukturvorgaben werden z. B. in der Bundesrepublik Deutschland nach Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG geregelt. Der Bundestag wirkt nach Art. 23 Abs. 2 S. 1 GG mit, nicht jedoch die Bundesländer unmittelbar, da nur der Bund Mitgliedstaat ist1080. 1075 1076 1077 1078 1079
Vgl. Reichardt, W. (1998), S. 105. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 364. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 366. Vgl. Würtenberger, Th. (1997), S. 356. Vgl. Krawietz, W. (1997), S. 324.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
3.2.7.1.2.2 Internationale föderative Organisation Der internationale Föderalismus ist begründet durch die funktionale Aufgabenverteilung, Gewaltenverschränkung und Kooperation der föderalen Ebenen, wobei eine funktionale Differenzierung nach Kompetenzarten erfolgt. Die Gesetzgebung liegt dabei weitgehend beim Bund und die Administration bei den Gliedstaaten bei starker intrastaatlicher Beteiligung der Regierung der Gliedstaaten und der Bundespolitik1081. Um die Handlungsfähigkeit und das Funktionieren internationaler Organisationen zu gewährleisten, muß eine föderative Organisationsstruktur im weiten Sinne geschaffen werden. Dabei stehen mehrere Staaten, internationale Organisationen oder Bündnisse, deren Interessen sich gegenseitig berühren, überschneiden, widersprechen oder ergänzen in einem institutionalisierten Ordnungsgefüge. Internationale Föderationen haben dabei die Schwelle zum Staat noch nicht überschritten, da verschiedene Merkmale eines Staates diesen Föderationen nicht zuzuweisen sind, wie z B. eine Verfassung. Derartige internationale Föderationen sind z. B. die UNO mit allen ihren Suborganisationen wie z. B. UNICEF, GATT etc. oder WEU, OECD, ICAO und viele andere. Zweck und Ursache internationaler Organisationen waren primär Friedenssicherung und wirtschaftlicher Aufbau. Es gilt allgemein das jeweilige interne Staatenrecht. Die Institutionen und Organe wie z. B. Direktoren, bürokratische und quasiparlamentarische Organe sowie Repräsentationsorgane internationaler Organisationen sind je nach Funktion ganz unterschiedlich ausgestattet und erhalten ihre finanziellen Mittel zumeist von den Mitgliedern. Die Organisiertheit internationaler Föderationen kann sehr unterschiedliche Ausprägungen vom losen Bündnis über engere supranationale Organisationen und Staatenbünde bis hin zum Bundesstaat haben. Die EU ist in der Integrationsstufe sehr weit voran geschritten auf dem Weg zur intrastaatlichen föderativen Organisation: Sie hat beispielsweise einen Verfassungsentwurf, Gewaltenteilungsfunktion mit einem parlamentarischen Organ und allen notwendigen Organen eines Staates, eigene finanzielle Mittel sowie ein eigenes Rechtssystem verbunden mit dem Einzelrecht der Mitgliedstaaten 1082. 3.2.7.1.2.3 Föderalismusdefizit und -kritik in der EU Neben dem Demokratiedefizit (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3 und Kapitel 3.2.6.2.7.2) wird in der EU immer wieder das bestehende Föderalismusdefizit1083 und daraus folgend das Subsidiaritätsdefizit (vgl. Kapitel 3.2.7.3.5) diskutiert. 1080 1081 1082 1083
Vgl. Krawietz, W. (1997), S. 324. Vgl. Reichardt, W. (1998), S. 105. Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 373 ff. Vgl. die näheren Ausführungen bei Waschkuhn, A. (1995), S. 133 ff.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Es basiert auf den Umständen, daß der Maastrichter Vertrag wesentliche Kompetenzen der EU wie z. B. die Außenpolitik vorenthält und andererseits Kompetenzen der EU zuschreibt, welche eher auf niedrigerer Ebene anzusiedeln wären wie z. B. die Raumordnung. Ebenso sind der mit dem Maastrichter Vertrag geschaffene Kohäsionsfonds als Erweiterung der Strukturfonds sowie die EU-weiten Subventionsmechanismen nicht föderalismuskonform. Insbesondere als problematisch erscheint auch die Tatsache, daß der Grad der Ausprägung des Föderalismus in den Mitgliedstaaten sehr unterschiedlich ist; daraus ergibt sich zum einen eine unterschiedliche Föderalismusdefinition und -maßstab in unterschiedlichen Regionen und zum anderen bei Einführung EU-weiter Föderalismusstrukturen möglicherweise eine Föderalismusreduktion bei stark föderalistisch organisierten Mitgliedstaaten wie z. B. Deutschland. Werden Kompetenzen, welche wesensmäßig den unteren Ebenen zuzuweisen sind, nach oben gezogen, so führt dies zu einer Unverträglichkeit und Unterwanderung des in verschiedenen Mitgliedstaaten stark ausgeprägten Föderalismusprinzips. Weiterhin dem föderalistischen und demokratischen Prinzip zuzuschreiben sind die Funktionen des Rechenschaftsprinzips für Aktionen der politischen Organe wie z. B. der Europäische Rat, welche in der EU nicht vorhanden sind. In der politischen Diskussion über die Strukturen der EU kam auch immer wieder Föderalismuskritik auf. Eine Experten-Kommission unter Dr. Otto Graf Lambsdorff hat Lösungsvorschläge zu den aktuellen Problemen der EU hinsichtlich Bürokratie, Subsidiaritätsdefizit, Deregulierung, Protektionismus und Integrationstiefe erarbeitet1084: – Ausruf eines Wettbewerbsföderalismus als Leitlinie der EU, – Machtbegrenzung und Subsidiarität als Leitprinzipien der EU-Verfassung mit grundlegender Neuordnung der EU-Institutionen, – Verbesserung der Ordnungsprinzipien der EU: Weg von einheitsstaatlichem Zentralismus, aber auch staatenbündischer Zersplitterung, – Weg von der Integration „von oben“, sondern hin zur Integration von unten durch Wettbewerb in Wirtschaft und Politik.
Die Expertenkommission fordert eine klare Kompetenzverteilung1085, eine Streichung überflüssiger Kompetenzen1086, strenge Wahrung der Subsidiarität und des Grundsatzes der Verhältnismäßigkeit1087, Stärkung des EU-Parlaments und Reform des Ministerrats1088, Demokratie von unten nach oben1089 sowie solide Finanzen ohne Europasteuer1090. 1084 1085 1086 1087 1088 1089
Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 1 ff. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 4 f. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 5 f. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 6 f. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 7 f. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 8 f.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Auch innerhalb der EU-Mitgliedstaaten wird eine Ordnungsform unter Anwendung eines klassischen Föderalismus kritisch betrachtet, wie Frankreichs Außenminister Vedrine in einem Offenen Brief an seinen deutschen Kollegen Joschka Fischer formulierte; es müsse eher über die Idee der Föderation der Nationalstaaten diskutiert werden, welche „langfristig in eine mögliche Harmonisierung der föderalen Ebene mit der aufrecht erhaltenen nationalen Ebene einmünden kann“1091. 3.2.7.1.3 Föderalismus: die EU und Althusius im Vergleich Der Grundsatzgedanke des heutigen Föderalismus – die Idee – ist der Bündnisgedanke in zweifacher Hinsicht1092: – Bündnis von Individuen oder politischen Gruppierungen in einem abgegrenzten territorialen Gebiet mit dem Ziel der Erreichung gemeinschaftlicher Zwecke, – Bündnishafte Beziehungen zwischen (teil-)autonomen Gebietskörperschaften zur Lösung gemeinsamer politischer Probleme.
Im Vergleich zu Althusius wird deutlich, daß die Idee des Föderalismus in beiden Fällen identisch ist, wenn man nur die Begrifflichkeiten des Althusius verwendet: – Bündnis von Individuen zur „consociatio symbiotica“ in einem abgegrenzten territorialen Gebiet mit dem Ziel der Erreichung sozialer Zwecke wie die wechselseitige Teilhabe an allem, was zum Zusammenleben notwendig und nützlich ist1093, – Beziehungen zwischen (teil-)autonomen Korporationen wie Stadt und Provinz1094 zur Lösung gemeinsamer politischer Probleme, wobei die universale Oberherrschaft und die Vorgabe der untergeordneten Herrschaftsgewalt beim obersten Magistrat verbleibt1095.
Im Föderalismus der EU hat sich eine Ausprägung des Integrationsprozesses entwickelt, welcher zu Zeiten Althusius gänzlich unbekannt war: Die freie Assoziierung als Bündnisform, in welcher es eine innere und äußere Gruppe von Bündnismitgliedern gibt1096. Diese Form entstand erstens wegen der Möglichkeit der Aufnahme neuer Bündnismitglieder (Sezession)1097 sowie der unterschiedlichen strukturellen Gegebenheiten der Bündnispartner, welche eine vollständige Integration möglicherweise im Zeitablauf erst zulassen oder diese gar nicht wollen. Vgl. Lambsdorff, O. (2002), S. 9 f. Vgl. http: // www.tagesspiegel.de / politik / archiv / 12.06.2000 / ak-po-eu-10191.htm. 1092 Vgl. Würtenberger, Th. (1997), S. 356. 1093 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 1, S. 24. 1094 Vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 1095 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 55, S. 104. 1096 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 182. 1097 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 182. 1090 1091
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Aus diesem Modell heraus entstanden nachfolgende unterschiedliche Ordnungsprozesse in der EU (vgl. Kapitel 2.3.3)1098: – Abgestufte Integration (Europa der unterschiedlichen Geschwindigkeiten), – Differenzierte Integration, – Europa der konzentrischen Kreise, – Kerneuropa, – Europa der variablen Geometrie, – Europa der Nationen.
Interessant erscheint auch die Diskussion um die Unzulänglichkeit der Funktionsweise des heutigen Föderalismus1099: Sie ist begründet durch das Fehlen der zentralen souveränen staatlichen Gewalt wegen deren Fragmentierung. Dies führt dazu, daß „die moderne Staatslehre und politische Theorie weniger am souveränen Einheits- oder Nationalstaat, als am auf Integration und Kooperation angelegtem Staat ausgerichtet“ 1100 ist. Diese Fehlfunktion kann gemäß der politischen Theorie des Althusius dagegen nicht auftreten: Sein Föderalismus ist begründet durch die „consociatio symbiotica“ – also das symbiotische Zusammenleben der Individuen und der durch sie gebildeten Korporationen – welche von jeher auf Kooperation und Integration basiert (was deutlich aus der politischen Dimension des Föderalismus bei Althusius mit seiner kommunikationspolitischen Komponente ersichtlich ist), aber auch vertraglich geregelt ist über den Gesellschaftsvertrag. Dies liegt im wesentlichen daran, daß bei Althusius die gesellschaftliche und die politische Basis identisch sind durch das Ständesystem und die zugewiesenen Korporationen, während dies heute mit der Trennung von Gesellschaft und Parteien nicht der Fall ist und dadurch der Gedanke der „consociatio symbiotica“, welcher gleichzeitig Grundbaustein der politischen Organisation ist, verloren gegangen ist. Eben deswegen kommt heute wieder die Forderung nach einem auf Integration und Kooperation angelegten Staat auf: Es ist der Versuch zur Rückkehr zum Anthropozentrismus des Föderalismus, welcher bei Althusius konstituierendes Prinzip ist. Der Föderalismusbegriff des Althusius steht im Gegensatz zur heutigen föderalistischen Struktur eines Bundesstaates1101: Die Vereinigung der Glieder erfolgt aus Einheiten der nächstniedrigeren Stufen; an der Spitze stehen damit Provinzen1102 oder freie Städte, nicht jedoch Familien, Korporationen oder kleinere Gruppen. Statt des Bundesstaatsgedankens ist bei Althusius der Staatenbund die zutreffende föderalistische Gliederverbindung. Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 21 ff. Vgl. Würtenberger, Th. (1997), S. 357 f. 1100 Würtenberger, Th. (1997), S. 357. 1101 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 156. 1102 Vgl. dazu die näheren Ausführungen zur (Ausnahme-)Stellung der Provinz bei Althusius bei Hüglin, Th. (1991), S. 126 ff. 1098 1099
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Interessant für den Vergleich des Föderalismusbegriffes bei Althusius und in der EU ist weiterhin die Tatsache, daß nach heutiger Definition „politische Gemeinschaften als autonome Einheiten unter einer gemeinsamen Ordnung vereint leben und sich wechselseitig beeinflussen. So verstanden ist Föderalismus mit dem traditionellen Souveränitätsbegriff unvereinbar. In einem föderalistischen System gibt es keinen Souverän“1103. Ganz und gar nicht unvereinbar dagegen sind Föderalismus und Souveränität bei Althusius, da bei ihm eine ausschließliche Volkssouveränität zugrunde liegt und die Staatssouveränität als administrative und beauftragte Institution per Einsetzung durch das souveräne Volk der Volkssouveränität untergeordnet ist (vgl. Kapitel 3.2.4.1.1). Die Föderalismustheorie kennt drei Elemente des institutionellen Modells eines Bündnisses1104: – Versammlung der Vertreter der Gründungsgemeinschaften, welche nach der Errichtung des Bündnisses per Vertrag oder Charta Änderungen des Bündnisses vornimmt, – Exekutivorgan für die Ausführung der Entscheidungen der Versammlung, – schiedsrichterliche oder richterliche Körperschaft für die Interpretation des Vertrages zur Vermeidung der bewaffneten Austragung von Gegensätzen.
Der Versuch der Zuordnung dieser Elemente auf die politischen Strukturen bei Althusius sowie der EU gelingt wie folgt durch Zuordnung der Institution auf die obige Beschreibung und zeigt gleichzeitig die allgemeine Gültigkeit dieses institutionellen Föderalismusmodells: Tabelle 21 Föderalismusmodell bei Althusius und in der EU Institution
Althusius
EU 1105
, Europäischer Rat1109 Versammlung der Vertreter Intrastaatlich: Senate Landstände1106 und Ephoren1107, international: Universaler Konvent1108 Exekutivorgan
Geistlich: Parochie / Presbyte- Europäische Kommission1113, rium1110, weltlich: Präderen Fehlen im EGKS-Vertrag den Europ. Rat wirkungsses1111 / Magistrat1112 los gemacht hat1114
Richterliche Körperschaft
Kollegien der Richter1115
Europäischer Gerichtshof1116
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt. 1103 1104 1105 1106
Friedrich, C. J. (1964), S. 169. Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 179 und S. 180 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 52, S. 64. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 2, S. 94.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
253
Die direkte Gegenüberstellung föderalistischer Elemente in der EU heute und zu Zeiten Althusius zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede: Tabelle 22 Föderalistische Elemente bei Althusius und in der EU Föderalismus
EU
Althusius
Konstitutionelle Ordnung
✓ , Intrastaatlich und inter& national föderativ; teilweise unitaristisch
✓ , Provinziell / auf Reichs& ebene (regionalistisch), teilweise / voll föderativ
Gliederverbindung
✓ , zukünftig Bundesstaat &
& ✓ , Staatenbund
Rechtsgrundlage
& ✓ , Staatenvertrag
& ✓ , Gesellschaftsvertrag
Staatsgewalt
✓ , Zentralstaatsgewalt &
& ✓ , Bundesstaat
Föderalismusdimension
& ✓ , staatlich und international & ✓ , gesellschaftlich, gesellschaftsrechtlich und staatlich
politische Dimension
✓ , innen- und außenpolitisch &
& ✓ , ohne Trennung in Innenund Außenpolitik, kommunikationspolitisch
Föderalismusart
✓ , Verfassungsrechtlich, & institutionell-funktional, soziologisch-behavioristisch, sozialphilosophisch
✓ , Vertragsrechtlich mit Eid, & funktional, soziologischbehavioristisch, sozialphilosophisch + weitere vier Arten
föd. Institutionenmodell
✓ , drei Elemente &
& ✓ , drei Elemente
Leitprinzip
& ✓ , Subsidiaritätsprinzip
& ✓ , Subsidiaritätsprinzip
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 3 f., S. 168. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 1, S. 338. 1109 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 70. 1110 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, §§ 8 ff., S. 96 und Kap. XXVIII, § 5, S. 280 f. 1111 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, §§ 8 ff., S. 96. 1112 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 1, S. 172. 1113 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 75 f. 1114 Vgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 180. 1115 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 56, S. 329. 1116 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 1107 1108
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
3.2.7.2 Konföderation Der Begriff der Konföderation wird im Folgenden vom Begriff des Föderalismus grundsätzlich unterschieden1117. Während der Föderalismus auf die funktionale, ablauforganisatorische Ebene des Staates mit der Verteilung der Aufgaben (Funktionen) abzielt, ist die Konföderation ein strukturelles Gebilde, welches sich auf die rechtliche Aufbauorganisation von Staaten bezieht. Dabei können innerhalb einer Konföderation föderalistische Elemente vorhanden sein. Weiterhin unterscheiden sich Föderalismus und Konföderation in der Struktur der Beziehung der zusammensetzenden und der zusammengesetzten Gruppen: Bei der Konföderation liegt eine partikularistische Tendenz vor, bei welcher die Souveränität bei der zusammensetzenden Gruppe liegt, mithin demnach eine Vielzahl von Souveränitäten vorhanden ist. Dagegen gleichen sich im Föderalismus die partikularistische und die einzelnen souveränen Tendenzen gegenseitig aus; die einzige Souveränität liegt bei der zusammengesetzten Gruppe1118. Im Nachgang wird der Begriff der Konföderation im Vergleich zwischen Althusius und der EU analysiert:
3.2.7.2.1 Konföderation bei Althusius Althusius verwendet den Begriff der Konföderation im Zusammenhang mit der Erweiterung des Gemeinwesens1119. Der Begriff der Konföderation wird bei Althusius schon sehr genau definiert, wobei er auch eine Differenzierung zwischen Föderation und Konföderation vornimmt1120. Er unterscheidet folgende zwei Arten von Konföderationen1121: – Vollständige Konföderation
Aufnahme, Verbindung und Einfügung eines Reiches oder einer sonstigen universalen Gemeinschaft in die vollständige und unverkürzte Rechtsgemeinschaft des anderen Reiches nach Einigung über die Fundamentalgesetze und Souveränitätsrechte1122. – Nicht vollständige, teilweise und begrenzte Konföderation
Per befristetem oder unbefristetem, unterzeichnetem, besiegeltem sowie zuweilen beeidetem Vertrag unter Zugrundelegung fest vereinbarter Gesetze und 1117 Wobei dagegen Wyduckel, D. (1997), S. 260 mit den dort bezeichneten Quellen den Begriff als fließend und wenig trennscharf bezeichnet. 1118 Vgl. Héraud, G. (1991), S. 41. 1119 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 112. 1120 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 116. 1121 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 26, S. 159. 1122 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 27, S. 159.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Bedingungen eingegangenes Bündnis von Provinzen oder Reichen unbeschadet des Souveränitätsrechtes der Einzelnen mit dem Zwecke der Friedenssicherung, Pflege und Erhaltung der Eintracht sowie der Verwaltung der gemeinsamen Rechte der Bundesgenossen1123. Der Begriff der nicht vollständigen Konföderation ist mit dem des Föderalismus eng verbunden, da die Konföderationspartner im Besitz ihrer Souveränitätsrechte bleiben, ihr eigenes Gemeinwesen sowie Jurisdiktion behalten und die Autonomie des Volkes mit Selbstbestimmungsrecht bestehen bleibt1124. Für nicht vollständige Konföderationen ist folgendes zu beachten1125: – Vermeidung des eigenen Unterganges oder der Bedrängnis durch ungerechtes oder gefährliches Handeln, – Abwägung der Macht des Bündnispartners, – Abwägung der aus früheren Verhaltensweisen abzuleitenden Treue und Beständigkeit des Bündnispartners, – Gleichartigkeit der Sitten und ein ausgewogenes Verhältnis der Verbündeten, um die Benachteiligung eines Bündnispartners zu vermeiden, – Gleichgroßer Nutzen oder Nachteile für alle Bündnispartner, – Beschlußfassung über die Bundesangelegenheiten (Krieg und Frieden, Art der Kriegsführung, Gesandtschaften an auswärtige Mächte, Antworten an fremde Gesandte, Verwaltung der gemeinsamen Provinzen und Städte und deren Klagen, Beschwerden und Appelationen, Schlichtung von Streitigkeiten, Verhandlungen über Wohlergehen und Frieden einzelner und aller Bundesgenossen) durch die Mehrheit der Bundesgenossen im Organ des gemeinsamen Konvents der Bundesgenossen. Es gelten drei Kategorien1126 von Gesetzen und Bedingungen für die Konföderation1127: – fest abgesprochene Gesetze in bezug auf die gegenseitige Abwehr von Gewalt und Unrecht, – Pflege und Erhaltung der Eintracht unter den Verbündeten, – Verwaltung der gemeinsamen Rechte der Bundesgenossen. Konföderationen entstehen nach Althusius durch die Pflicht der Gemeinschaftsmitglieder zur Sorge für die Güter des Gemeinschaftskörpers; diese besteht aus der sorgsamen und zuverlässigen Erhaltung der beweglichen und unbeweglichen Güter zum Zwecke des Gebrauches durch das Gemeinwesen sowie zum Zwecke der Ver1123 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 30 und § 32, S. 160 sowie § 33, S. 161. 1124 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 41, S. 161. 1125 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 30 ff., S. 160 ff. 1126 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 33, S. 161. 1127 Vgl. Kappen, O. M., van (1997), S. 165.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
mehrung und Erweiterung dieser Güter1128. Wird eine Vermehrung oder Erweiterung der Güter des Gemeinwesens – wozu z. B. auch Häfen, Bäder, Flüsse, Sondernutzungsrechte, fiskalische Güter sowie Gemeinden, Dörfer usw. zählen1129 – angestrebt, so ist dafür ein Bündnis oder ein Zusammenschluß vorzunehmen, was zudem die Gemeinschaft verfestigt, sicherer macht und vergrößert. Eine derartige Konföderation bedarf einer rechtlichen Grundlage sowie der Zustimmung des Gemeinschaftskörpers und seines Verwalters1130. Um eine Konföderation einzugehen müssen folgende Aspekte beachtet werden1131: – Person des Aufnehmenden und des Aufgenommenen, – Grund der Verbindung, – Form und Bedingungen der Verbindung, – Charakter, Macht und Bestrebungen der Bündnispartner, – Zeitdauer des Bündnisses, je nach der Art (beständiges Bündnis mit einem König versus auf Zeit eingegangenes Bündnis mit einem Gemeinwesen bzw. einer universalen Gemeinschaft).
Althusius errichtet ein Gemeinschaftsorgan für die Konföderation, den Konvent der Konföderierten. Er entscheidet über gemeinsame Angelegenheiten der Bundesgenossen entsprechend der Auffassung aller zusammen, der Einzelnen oder der Mehrheit. Jeder Bundesgenosse hat ein Stimmrecht1132. Zusammenfassend ist der Staat bei Althusius dadurch bestimmt, daß er ausgehend von seinen Teilen rechtlich von oben nach unten, soziologisch von unten nach oben organisiert und historisch eine Konföderation ist1133. 3.2.7.2.2 Konföderation in der EU 3.2.7.2.2.1 Definition der Konföderation heute im Vergleich zu Althusius Die Konföderation ist nach heutigem Verständnis wie folgt definiert1134: „Nicht nur auf bestimmte Zwecke beschränkte organisierte politische Staatenverbindung mit eigener Völkerrechtssubjektivität. Die Gliedstaaten bleiben selbVgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 2, S. 156. Althusius unterscheidet dabei bewegliche und unbewegliche Güter; zur Aufzählung der Güter des Gemeinwesens vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 15 ff., S. 156 ff. 1130 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 25, S. 158. 1131 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 26, S. 159. 1132 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 40, S. 161. 1133 Vgl. Reibstein, E. (1955), S. 89. 1134 Wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 1128 1129
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ständig (im Gegensatz zum Bundesstaat), soweit die Befugnisse nicht durch den Staatsvertrag auf den Bund übertragen wurden; diesem obliegt regelmäßig die Außen- und Verteidigungspolitik, nach innen die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung“1135. Dies zeigt deutlich, daß alle heutigen Elemente auch in der Althusius’schen Begriffsdefinition enthalten sind und sich ansonsten die Definition des Begriffes der Konföderation aus heutiger Sicht nur in einem Punkte von der Definition des Althusius unterscheidet: Die Zweckbindung der Konföderation. Althusius beschreibt diese genau (vgl. Kapitel 3.2.7.2.1) für den Begriff der nicht vollständigen Konföderation, während nach heutigem Verständnis die Konföderation keine bestimmte Zweckbindung hat. 3.2.7.2.2.2 Der Staatenbundgedanke der EU Betrachtet man die Historie der europäischen Einigung (vgl. Kapitel 2.1 und 2.2), so muß uneingeschränkt behauptet werden, daß der Ursprungsgedanke der EU nicht auf eine Konföderation abgezielt hat, auch wenn Ansätze derartiger Gedanken – wie bei Winston Churchill in seiner Rede am 19. September in Zürich, wo er forderte, „eine Art Vereinigter Staaten von Europa“ zu schaffen1136 – immer wieder vorhanden waren. Vielmehr waren für einen Zusammenschluß europäischer Staaten von zentraler Bedeutung: – Ausbau einer Vormachtstellung Europas als Gegengewicht zu USA und Sowjetunion1137, – Kriegsvermeidung, Sicherheit und Stabilität durch Verträge1138, – Wirtschaftliche Verflechtung und Sicherheit durch Verträge1139, – Gesellschaftliche Organisation des europäischen Volkes auf der Basis gemeinsamer Werte und Vorstellungen1140.
Wird heute die Frage nach der Form Europas gestellt, so steht dabei weniger die Organisationsform z. B. als Konföderation im Zentrum, sondern es stehen die Inhalte zur Debatte1141: – in welcher Form ist eine EU handlungsfähig? – in welcher Form ist eine EU beschlußfähig? Herder Verlag (1988), S. 201. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 13. 1137 Vgl. Borchardt, K.-D. (1995), S. 6. 1138 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 5 und Borchardt, K.-D. (1995), S. 6. 1139 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 5. 1140 Vgl. Fontaine, P. (2000), S. 24. 1141 Vgl. Fontaine, P. (2000), S. 24. 1135 1136
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– in welcher Form ist eine EU homogen? – in welcher Form wird der Kontakt zum Bürger gewährleistet? – in welcher Form ist eine EU föderal? – in welcher Form gewährleistet eine EU wirtschaftliche und politische Ziele?
Die Bildung einer Konföderation ist demnach nicht Selbstzweck, sondern als abgeleitetes Ziel der Institutionalisierung obiger Bestrebungen zu betrachten. Die politische Ordnungsform ist somit sekundär für die Erreichung der politischen Ziele. Die Klassifizierung der politischen Ordnungsform der EU gelingt weder in Richtung Bundesstaat noch in Richtung Konföderation (Staatenbund). Die Eigenschaft eines Staates wird der EU derzeit noch abgesprochen1142. Das derzeitige System besteht weltweit einmalig: Es ist eine Kooperationsform von Staaten und mehr als ein bloßer Staatenbund. Das Bundesverfassungsgericht bezeichnet die Ordnungsform in seinem Urteil vom Oktober 1993 als Staatenverbund1143. Da jedoch die EU das Ziel hat, sich eine gemeinsame Verfassung zu geben, bedeutet dies, daß sich der Staatenbundgedanke im Zeitablauf verändert hat, wobei die formaldefinitorischen Kriterien der Konföderation auf die EU zutreffen.
3.2.7.3 Subsidiarität und Solidarität Subsidiarität (lat.: subsidium = Hilfeleistung, Unterstützung, Förderung) ist heute definiert als „Grundsatz der katholischen Soziallehre, behauptet den Selbststand und damit die Freiheit und Selbstverantwortlichkeit der Person, fordert, daß die Gemeinschaft subsidiär, mit Hilfe zur Selbsthilfe, tätig wird, wendet sich gegen Kollektivismus“1144. Eine weitere Definition1145 lautet: „Unter Subsidiarität versteht man . . . daß übergeordnete Einheiten eines Gesamtgefüges nur dort fördernd und unterstützend eingreifen sollen, wo ohne ihr Eingreifen und ohne ihre Hilfestellung ansonsten wesentliches unterbleiben müsste, d. h. nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die gesamtgesellschaftliche Verantwortung stets nur dann bemüht, wenn die kleineren Solidargemeinschaften unterer Ebene überfordert sind, wobei auch hier vornehmlich eine „Hilfe zur Selbsthilfe“ und keine entmündigende Dauerbetreuung oder therapeutische Bevormundung erfolgen soll“1146. 1142 Vgl. dazu die Quellenangaben bei Pieper, S. U. (1994), S. 4, Fußnote 6 und S. 212, Fußnote 203 sowie die Ausführungen zur Rechtsnatur der EU bei Stewing, C. (1992), S. 119 ff. 1143 Vgl. Andersen, U. / Breit, G. / Hufer, K.-P. / Massing, P. / Woyke, W. (1997), S. 5. 1144 Herder Verlag (1988), S. 214, wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 1145 Andere Definitionen und Beschreibungen der Subsidiarität finden sich in den Quellenangaben bei Pieper, S. U. (2002), S. 445, Fußnote 1 bis 4. 1146 Waschkuhn, A. (1995), S. 9.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Dabei haftet dem Subsidiaritätsprinzip eine gewiße Unbestimmtheit an; es wird statt eines konkreten Verfahrens eher als Leitlinie und Orientierungsnorm zu verstehen sein1147. In der Staatstheorie wird das Subsidiaritätsprinzip nicht einheitlich diskutiert; ablehnend in Bezug zu moderner Staatlichkeit ist das Argument des Souveränitäts-, Kompetenz- und Allzuständigkeitsentzuges des Staates, proargumentativ ist der Antikollektivismus sowie die dynamische Aufgabenpriorisierung und -zuweisung des Staates1148. Innerhalb der Subsidiarität ist das Strukturprinzip als subsidiärer Aufbau staatlicher oder gesellschaftlicher Systeme vom Tätigkeitsprinzip als Zuweisung und Ausführung staatlicher und gesellschaftlicher Aufgaben zu unterscheiden1149. Mit der Konstituierung des Subsidiaritätsprinzips in der EU und der Tatsache, daß keine eindeutige Begriffsdefinition für das Subsidiaritätsprinzip besteht, ist die EU-Definition in neun unterschiedlichen Versionen festgeschrieben1150. Auch in Vergangenheit wurden zahlreiche Versuche der Definition des Begriffes vorgenommen1151. 3.2.7.3.1 Historie: Subsidiarität als ursprünglich sozialethisches Prinzip Das Subsidiaritätsprinzip entstammt ursprünglich der katholischen Soziallehre1152, wobei jedoch auch bei Aristoteles Ansätze zu finden sind1153; grundsätzlich hat es einen naturrechtlichen Einfluß1154. Die Ansätze der katholischen Soziallehre umfassen systematisch geordnete politisch-ethische Stellungnahmen der katholischen und protestantischen Kirche zur Sozialen Frage1155, zur SozialVgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 14. Vgl. die näheren Ausführungen und die dortigen Quellenangaben bei Pieper, S. U. (1994), S. 61 ff. und S. 183. 1149 Vgl. Esterbauer, F. / Thöni, E. (1981), S. 10. 1150 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 237 ff. 1151 Vgl. die näheren Ausführungen bei Stewing, C. (1992), S. 7 und die dortigen Quellenangaben sowie Pieper, S. U. (2002), S. 445, Fußnote 2 und die dortigen Quellenangaben. 1152 Vgl. die näheren Ausführungen zur Subsidiarität in der katholischen Kirche bei Miklušcák, P. (2002), S. 25 ff., Höffe, O. (1994), S. 25 und Münkler, H. (1994), S. 71 f.; der Subsidiaritätsbegriff innerhalb der katholischen Soziallehre ist maßgeblich auf den Sozialwissenschaftler und Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning (1889 – 1991) zurück zu führen, welcher an der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ des Papstes Pius XI. von 1931 (vgl. Kapitel II.2.7.3.1) mitgearbeitet hat und maßgeblich an deren Übersetzung beteiligt war. 1153 Vgl. Buttiglione, R. (1994), S. 57 sowie die näheren Ausführungen bei Höffe, O. (1994), S. 31 ff. 1154 Vgl. Stewing, C. (1992), S. 11 ff. 1155 Die Soziale Frage beschäftigt sich mit dem gesellschafts- und sozialpolitischen Reformproblem, welches entstanden ist aus der Ungleichverteilung wirtschaftlicher, sozialer und politischer Rechte und somit die Frage der sozialen Gerechtigkeit stellt und deren Behebung durch soziale Sicherungssysteme, vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 590 f. 1147 1148
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
politik1156 und zum Verhältnis zwischen Individuum, Gesellschaft, Wirtschaft und Staat1157. Das früheste theologische Zeugnis des Prinzips findet sich in der Bibel im zweiten Buch Mose, Exodus 18, 18 – 22, wo Mose von seinem Schwiegervater Jetro angesichts seiner Überlastung durch seine Aufgaben folgenden Rat erhält: „Du reibst dich ja vollständig auf . . . denn die Aufgabe überschreitet deine Kräfte, du kannst sie nicht allein bewältigen . . . Vertritt du das Volk vor Gott und bringe ihr Anliegen vor Gott! . . . Du aber suche Dir aus allen Leuten tüchtige, gottesfürchtige und zuverlässige Männer aus, die der Bestechung nicht zugänglich sind, setze sie als Vorsteher ein . . . Nur alle wichtigen Sachen sollen sie vor dich bringen, alles Geringfügige aber sollen sie selbst entscheiden.“1158 Im Spätmittelalter findet sich im calvinistischen Kirchenrecht (vgl. zum Calvinismus Kapitel 3.2.2.1) ein Zeugnis des Subsidiaritätsprinzips in den Beschlüssen der Synode von Emden aus dem Jahre 15711159: „Keine Gemeinde darf über die anderen Gemeinden das Primat oder die Herrschaft an sich reißen . . . Provinzialund Generalsynoden soll man nicht Fragen vorlegen, die schon früher behandelt und auf Gemeindeebene entschieden worden sind“. In der neueren Literatur taucht das Subsidiaritätsprinzip erst Mitte des 19. Jahrhunderts in den Schriften Bischof Kettelers „Freiheit, Autorität und Kirche, VIII. Selbstverwaltung“ sowie „Die Arbeiterfrage und das Christentum“ wieder auf1160. In der Landesverfassung Vorarlbergs vom 31. 05. 1984 fand das Subsidiaritätsprinzip in Art. 7 Abs. 1 ebenfalls Verfassungsrang1161: „Das Land hat die Aufgabe, die freie Entfaltung der Persönlichkeit des Einzelnen sowie die Gestaltung des Gemeinschaftslebens nach den Grundsätzen der Subsidiarität und Solidarität aller gesellschaftlichen Gruppen zu sichern“. Auch die Tiroler Landesordnung vom 09. 12. 1988 sieht in Art. 7 Abs. 1 das Subsidiaritätsprinzip vor1162: „Das Land Tirol hat . . . den kleineren Gemeinschaften jene Angelegenheiten zur Besorgung zu überlassen, die in ihrem ausschließlichen oder überwiegenden Interesse gelegen und geeignet sind, von ihnen mit eigenen Kräften zu besorgen sind“. Das Verständnis der katholischen Soziallehre hinsichtlich der menschlichen Person als Ursprung und Ziel gesellschaftlichen Lebens geht davon aus, daß der 1156 Die Sozialpolitik will mit Verfahrensordnungen, EntscheidungsProzessen und Maßnahmen zur Notlagenvermeidung das gesellschaftspolitische Ziel der Gerechtigkeit und Gleichheit erreichen, wobei die Träger der Sozialpolitik sowohl auf nationalstaatlicher als auch auf suprastaatlicher, intergouvernementaler (z. B. EU) und auch gesellschaftlicher Ebene zu finden sind, vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 598 f. 1157 Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 597. 1158 Isensee, J. (2002), S. 134 sowie vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 34. 1159 Vgl. Hafen, Th. (1994), S. 121. 1160 Vgl. Höffe, O. (1994), S. 24 und S. 24, Fußnote 7. 1161 Vgl. Häberle, P. (1994), S. 276. 1162 Vgl. Häberle, P. (1994), S. 277.
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Mensch zu seiner Vervollkommnung auf die Gesellschaft verwiesen ist und grundsätzlich zur Solidarität mit anderen fähig ist1163. Die Enzyklika „Quadragesimo anno“ des Papstes Pius XI. aus dem Jahre 19311164 definiert in Nr. 79: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen und der Gesellschaftstätigkeit zugewiesen werden kann, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Ende führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen“1165 sowie in Nr. 80: „Angelegenheiten von untergeordneter Bedeutung, die nur zur Abhaltung von wichtigeren Aufgaben führen müssten, soll die Staatsgewalt also den kleineren Gemeinwesen überlassen“1166. Der „Quadragesimo anno“ vorangehend sind die Ausführungen von Leo III. in seiner Enzyklika „Rerum Novarum“ von 18911167 sowie des Papstes Johannes XIII in der Sozialenzyklika „Mater et Magistra“ von 1961 und des Papstes Johannes XXIII im Werk „Pacem in terris“ von 19631168. Nach dessen Erkenntnis ist jede Gesellschaftstätigkeit subsidiär und soll die Glieder der Gemeinschaft unterstützen, wobei sich das Subsidiaritätsgefüge nicht nur auf das Verhältnis von Individuen und Gesellschaft, sondern auch zwischen untergeordneten Gemeinwesen und übergeordneter Gesellschaft bezieht1169. Das Individuum ist dabei weder vor noch über die Gemeinschaft gestellt, sondern wird in die Gemeinschaft eingeordnet. Das katholische Subsidiaritätsprinzip zielt also nicht auf die Priorität des Individuums vor der Kirche ab, sondern vielmehr auf die Würde und Freiheit des Menschen – auch in bezug auf die Glaubensfreiheit als Anwendung der Subsidiarität – in der kirchlichen Gemeinschaft, das Gültigmachen der daraus folgenden Rechte für die kirchlichen Autoritätsträger sowie um die Gestaltung des Verhältnisses zwischen Gesamt- und Teilkirche1170. Subsidiarität in der katholischen Soziallehre beinhaltet auch das hierarchische Prinzip in zwei Teilbereichen: – Unterordnung des Glaubens der kirchlichen Hierarchie bei gleichzeitigem Vorrang des eigenen Gewissensurteiles gegenüber dem der kirchlichen Autorität1171, Vgl. Groser, M. (1998), S. 623. Vgl. Klueting, H. (2002), S. 3 und die Ausführungen zur Enzyklika „Quadragesimo anno“ bei Hense, A. (2002), S. 406 ff., Waschkuhn, A. (1995), S. 26 ff. und Scattola, M. (2002), S. 337 ff. sowie die Ausführungen bei Waschkuhn, A. (1995), S. 28 ff. zu den Publikationen des Sozialwissenschaftlers und Jesuitenpaters Oswald von Nell-Breuning (1889 – 1991), welcher an der „Quadragesimo anno“ mitgearbeitet hat und maßgeblich an deren Übersetzung beteiligt war. 1165 Groser, M. (1998), S. 623, Pieper, S. U. (1994), S. 29 und Miklušcák, P. (2002), S. 26 und Fußnote 6. 1166 Pieper, S. U. (1994), S. 33 und die dortigen Ausführungen zur „Quadragesimo anno“. 1167 Vgl. Häberle, P. (1994), S. 292 und Hense, A. (2002), S. 406. 1168 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 34 f. und die dortigen, näheren Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip in der katholischen Soziallehre sowie Hense, A. (2002), S. 411. 1169 Vgl. Miklušcák, P. (2002), S. 25 und Fußnote 3. 1170 Vgl. Miklušcák, P. (2002), S. 28 f. und S. 32 f. 1171 Vgl. Miklušcák, P. (2002), S. 31. 1163 1164
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– Hierarchisches Verhältnis zwischen Gesamtkirche und den Teilkirchen bei gleichzeitiger Anwesenheit der Gesamtkirche in der Teilkirche1172.
Das Subsidiaritätsprinzip ist als „allgemeines Klugheitsprinzip“ – wie auch der Rat Jetros an Mose1173 – dem sozialethischen Erbe der Menschheit zuzurechnen und damit wesentlich älter als seine ideengeschichtlich-philosophische Anwendung. In diesem Sinne stehen die Aspekte des Abwehrcharakters gegen kollektivistische Übergriffe und Versuchungen (negative Seite) einerseits sowie die Hilfeverpflichtung und gesellschaftliche Vorleistung (positive Seite)1174 andererseits im Zentrum der Überlegung. Das Subsidiaritätsprinzip fordert den Vorrang der familiärgesellschaftlichen Leistungen vor der staatlichen Fürsorge und ist damit ein Prinzip der „civil society“1175. Die Zivilgesellschaft ist als Begriff für den intermediären Bereich öffentlichen Lebens zwischen Individuum und Staat zu verstehen, welche sich im Spannungsfeld zwischen individuellen Einzelinteressen und aktiver, republikanisch orientierter und pluralistischer Bürgerbeteiligung bewegt1176.
3.2.7.3.2 Politische Definition der Subsidiarität Subsidiarität ist „ein (von der katholischen Soziallehre entliehenes) Prinzip, das die Eigenleistung und die Selbstbestimmung sowohl des Individuums (und der Familien) als auch der Gemeinschaften (z. B. der Kommunen) fördern will. Das Subsidiaritätsprinzip fordert, daß staatliche Eingriffe (EU, Bund) und öffentliche Leistungen grundsätzlich nur unterstützend und nur dann erfolgen sollen, wenn die jeweils tiefere hierarchische Ebene (Länder, Kommunen, Familien) nicht in der Lage ist, die erforderliche (Eigen-)Leistung zu erbringen“1177. Andererseits ergibt sich aus dem Subsidiaritätsprinzip ein Anspruch auf – auch wirtschaftliche – Förderung der Aktivitäten der jeweils tieferen hierarchischen Ebene durch den Staat. Das Subsidiaritätsprinzip ist das Leitprinzip der föderalistischen politischen Organisation1178 und folgt der Forderung nach größtmöglicher Selbstbestimmung des Einzelnen sowie der Gemeinschaften1179, wobei „der Föderalismus keine zwangsläufige Zuständigkeitserklärung impliziert, wie dies beim Subsidiaritätsprinzip der Fall ist“1180. Basis ist die regulative Idee dezentraler und föderalistischer Systeme 1172 1173 1174 1175 1176 1177 1178 1179 1180
Vgl. Miklušcák, P. (2002), S. 32. Vgl. Isensee, J. (2002), S. 134. Vgl. Groser, M. (1998), S. 622. Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 630. Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 736. Schubert, K. / Klein, M. (1997), S. 284 f. Vgl. Würtenberger, Th. (1997), S. 356 und Stewing, C. (1992), S. 4. Vgl. Laufer, H. (1991), S. 262. Pieper, S. U. (1994), S. 56.
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mit dem Vorrang subnationaler Ebenen vor der gesamtstaatlichen Ebene1181. Subsidiarität setzt voraus, „daß zwischen dem Ausbau der umfassenden Systemebene (= Zentralisierung) und der Autonomie der Subsysteme (= Dezentralisierung) nicht (bzw. nicht nur) ein substitutives, sondern auch ein komplementäres Verhältnis besteht“1182. Hinweise auf das Subsidiaritätsprinzip als politisches und ursprünglich gesellschaftsphilosophisches Prinzip finden sich jedoch nicht nur in der katholischen Soziallehre (vgl. Kapitel 3.2.7.3.1), sondern auch bei Aristoteles, Thomas von Aquin, Dante Alighieri, Althusius, Ludolf Hugo und Ahrens sowie ab dem 19. Jahrhundert bei diversen Politikwissenschaftlern und Staatsrechtlern wie z. B. Georg Jellinek, Immanuel Kant oder Robert von Mohl1183. Das Subsidiaritätsprinzip beinhaltet folgende begriffsinhaltliche Aspekte: – Subsidiaritätsprinzip als wertendes Gerechtigkeitsprinzip1184
Die Funktion des wertenden Gerechtigkeitsprinzips ist unmittelbar aus dem Begriff der katholischen Soziallehre (vgl. Kapitel 3.2.7.3.1) ableitbar. Ungerechtigkeit entsteht dann, wenn der Wirkungsbereich der jeweils untergeordneten Ebene durch die übergeordnete Ebene ganz weggenommen oder beeinträchtigt wird, obwohl die Aufgabenerfüllung durch die untergeordnete Ebene gewährleistet wäre. Umgekehrt liegt Ungerechtigkeit vor, wenn die untergeordnete Ebene die Aufgabenerfüllung nicht leisten kann oder versagt und dann die übergeordnete Ebene nicht interveniert, unterstützt oder die Aufgabe ganz übernimmt. – Subsidiaritätsprinzip als funktionalistisches Verteilungsprinzip sowie formales Zuständigkeitsprinzip
Im Zusammenspiel der Glieder eines Gemeinwesen erfolgt dessen Organisation sachrational durch ein funktionalistisches Optimierungsgebot dahin gehend, daß eine Aufgabe formal1185 derjenigen Ebene zugewiesen werden soll, welche die bestmögliche und effizienteste Aufgabenerfüllung gewährleistet1186. In Verbindung mit dem Verteilungsprinzip ist das Subsidiaritätsprinzip somit auch Effizienzprinzip1187. – Subsidiaritätsprinzip als Verfahrensgarantie1188
Das Subsidiaritätsprinzip regelt die Zuordnung der Verfahren zwischen den Gliedern eines Gemeinwesens nach der Frage, wer wie und nach welchen Ver1181 1182 1183 1184 1185 1186 1187 1188
Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 631. Geser, H. (1994), S. 171. Vgl. die näheren Ausführungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 46 ff. Vgl. Pernthaler, P. (2002), S. 180 f. Vgl. Hense, A. (2002), S. 417. Vgl. Pernthaler, P. (2002), S. 182. Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 231 f. Vgl. Pernthaler, P. (2002), S. 183 ff.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
fahren die Zuordnung regelt. Das sog. „Föderalismusdilemma“ der zentralen Entscheidung über die Dezentralisierung von öffentlichen Aufgaben soll dabei dadurch umgangen werden, daß keine einseitige Entscheidung über die Wirkungsbereiche getroffen wird, sondern die Verteilung mittels Kooperation und Partizipation vorgenommen wird. – Demokratische Dezentralisation durch Subsidiarität
Die untergeordneten Ebenen erhalten durch das Subsidiaritätsprinzip ein demokratisch legitimiertes, dezentrales Selbstregierungsrecht um ein Höchstmaß an politischer Mitwirkung sowie an Konsens und Akzeptanz zu erreichen1189. Der Dezentralisation werden die Vorteile der erhöhten Flexibilität, der ortsnahen, raschen und bedürfnis- und problemadäquaten Einscheidungsfindung sowie der Entlastung der höheren Ebenen zugesprochen1190. – Freiheitsoptimierung durch Subsidiarität1191
Durch die Dezentralisierung der Wirkungsbereiche auf die untergeordneten Ebenen des Gemeinwesens kann mehrheitlich für diese lokalen politischen Präferenzen votiert werden, was ein Optimum an lokaler und regionaler Freiheit schafft. – Vertikale Gewaltenteilung durch Subsidiarität1192
Die Aufgabenverteilung zwischen unter- und übergeordneten Ebenen und dezentrale Zuweisung eigenständiger Funktionen auf die untergeordneten Ebenen führt zur Gewaltenteilung zwischen untergeordneter Ebene und Zentralstaat. Gleichzeitig soll damit die „Übermächtigkeit“ des Zentralstaates verhindert werden1193. – Sachgerechte Aufgabenerfüllung durch Subsidiarität1194
Die Aufgabenverteilung auf die untergeordneten Ebenen führt gemäß der Logik der Entscheidungstheorie durch die vorliegende regionale Informationsbasis zu höherer Qualität der Aufgabenerfüllung. – Sicherung politischer, kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt durch Subsidiarität Subsidiarität unterstützt politische Vielfalt, da sie als regulatives Prinzip auf Vermittlungs- und Zustimmungsprozesse – ausgehend von der Teilsystemrationalität und Eigengestaltungsfähigkeit der unteren Ebenen – setzt, um die kollektiven Kosten möglichst gering zuhalten1195. Die staatliche Organisation auf 1189 1190 1191 1192 1193 1194 1195
Vgl. Würtenberger, Th. (2002), S. 203. Vgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 84. Vgl. Würtenberger, Th. (2002), S. 204. In Anlehnung an Würtenberger, Th. (2002), S. 205. Vgl. Höffe, O. (1994), S. 23. Vgl. Würtenberger, Th. (2002), S. 205. Vgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 64.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Basis des Subsidiaritätsprinzips ermöglicht und schützt kulturelle, sprachliche und ethnische Vielfalt1196. – Subsidiarität als ökonomisches und marktwirtschaftliches Prinzip
Die staatliche Organisation auf Basis des Subsidiaritätsprinzip führt zu förderlichem ökonomischem Wettbewerb zwischen allen Ebenen des Staates1197 und ebenso auf der Ebene der Märkte. Der Staat hat grundsätzlich die Aufgabe der zentralen Regulierung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung durch Vorgabe der Rahmendaten für Wachstum, Stabilität, Beschäftigung, Wettbewerb und Außenwirtschaft. Kommt es zu einem sog. Marktversagen der wirtschaftlichen Teileinheiten, also der Märkte, so greift der Staat als übergeordnete Instanz ein: Es besteht ein ökonomisches Subsidiaritätsprinzip1198. – Subsidiarität als Rechtsprinzip1199
Das Subsidiaritätsprinzip ist ein Zuständigkeitsprinzip und daher mit der rechtlichen Zuweisung von Aufgaben ein Rechtsprinzip innerhalb des Naturrechts. Das Maß an Selbstbestimmung des Individuums, die Beschränkung staatlicher Macht sowie die Gewährleistung der Selbstbestimmung und Selbstverwaltung untergeordneter Einheiten dienen dabei als Gradmesser eines positiven Rechtssystems. – Subsidiarität als Architektur- bzw. Ordnungsprinzip
Das Subsidiaritätsprinzip ist durch die Verknüpfung mit dem Föderalismus und somit durch die Vornahme der Gliederung der Staatsstruktur in unter- und übergeordnete Einheiten Architekturprinzip1200. – Drei Elemente der Subsidiarität: Subsidiäre Kompetenz, subsidiäre Assistenz und subsidiäre Revision
Die subsidiäre Kompetenz wird auch Entzugsverbot genannt und beschreibt das Recht des Einzelnen oder der kleineren Gemeinschaft auf die Zuständigkeit des Tätigwerdens (siehe unten: Negative Komponente des Subsidiaritätsprinzips). Die subsidiäre Assistenz ist eine Hilfe zur Selbsthilfe, d. h. daß übergeordneten Einheiten eine institutionalisierte Unterstützungsbereitschaft zukommt (siehe unten: Positive Komponente des Subsidiaritätsprinzips). Die subsidiäre Revision ist eine dynamische Überprüfungsfunktion, damit Hilfen und Entscheidungen der übergeordneten Einheit nicht zur Dauerinstitution werden und einen permanenten Kompetenzentzug der untergeordneten Einheit bedeuten. Vgl. Würtenberger, Th. (2002), S. 206. Vgl. Würtenberger, Th. (2002), S. 206. 1198 Vgl. die näheren Ausführungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 131 ff. 1199 Vgl. die näheren Ausführungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 41 ff. sowie die dortigen Quellenangaben und vgl. Hense, A. (2002), S. 417 ff. 1200 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 232 ff. 1196 1197
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Die politischen Dimensionen innerhalb des Subsidiaritätsprinzips sind folgende1201: – Rechtfertigung der staatlichen Existenz, – Zuweisung der staatlichen Kompetenz, – Begrenzung der Kompetenzausübung.
Abzugrenzen sind begriffsinhaltlich die positive und die negative Komponente1202 des Subsidiaritätsprinzips: – Positive Komponente (Gebot)
Sie wird bestimmt durch die Hilfeverpflichtung und gesellschaftliche Vorleistung1203 sowie durch die Negation eines Eigenrechtes der Gesellschaft, was bedeutet, daß die Gesellschaft nur in Diensten steht1204 und die Gemeinschaft das übernehmen soll, was der Einzelne nicht zu leisten vermag1205. Zudem muß der Staat die Vorraussetzungen für das primäre Tätigwerden der untergeordneten Einheiten schaffen1206. – Negative Komponente (Verbot)
Die negative Komponente stellt den Aspekt des Abwehrcharakters gegen kollektivistische Übergriffe und Versuchungen heraus1207 und bestimmt die klare Grenze jedweder Gesellschaftstätigkeit durch das Verbot der Zerstörung des Sozialkörpers und des Entfernens der Selbständigkeit des Sozialkörpers1208. Weiterhin beinhaltet die negative Komponente den dynamischen Aspekt, daß eine Aufgabe nicht mehr von der übergeordneten Einheit wahrgenommen werden darf, wenn die untergeordnete wieder in der Lage ist, dies eigenverantwortlich zu tun1209; insofern ist es ein Gebot der Enthaltsamkeit und des NichtTuns1210.
1201 Vgl. Groser, M. (1998), S. 622, Höffe, O. (1994), S. 23 und Pieper, S. U. (1994), S. 234 f. 1202 Vgl. Hense, A. (2002), S. 413 f., wo die Begriffstrennung dem Sozialwissenschaftler und Jesuitenpater Oswald von Nell-Breuning (1889 – 1991) zugeschrieben wird, welcher an der Sozialenzyklika „Quadragesimo anno“ des Papstes Pius XI. von 1931 (vgl. Kapitel II.2.7.3.1) mitgearbeitet hat und maßgeblich an deren Übersetzung beteiligt war; vgl. dazu die Ausführungen bei Waschkuhn, A. (1995), S. 28 ff. 1203 Vgl. Groser, M. (1998), S. 622. 1204 Vgl. die näheren Ausführungen bei Höffe, O. (1994), S. 26 ff. 1205 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 39 f. und die Quellenangaben zu Nell-Breuning in Fußnote 197 sowie Hense A. (2002), S. 413. 1206 Vgl. Stewing, C. (1992), S. 15. 1207 Vgl. Groser, M. (1998), S. 622. 1208 Vgl. die näheren Ausführungen bei Höffe, O. (1994), S. 26 ff. 1209 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 39 und Hense, A. (2002), S. 413. 1210 Vgl. Stewing, C. (1992), S. 15 und die dortigen Quellenangaben.
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3.2.7.3.3 Subsidiarität bei Althusius Um den Subsidiaritätsbegriff des Althusius aus seiner Sicht als Calvinist (vgl. zum Calvinismus Kap. 3.2.2.1) zu verstehen, werden die Aussagen Calvins hinsichtlich seiner Auffassung von der Selbstständigkeit der inferioren Magistraten gegenüber der staatlichen Obrigkeit hier zu erläutern sein. Das katholische Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3.1) hat enge Verbindung zum hierarchischen Prinzip und somit zur hierarchischen, obrigkeitlichen Organisation. Calvin unterscheidet zwischen der höchsten, der höheren und der niederen Obrigkeit, wobei bei einem Versagen der höheren Obrigkeit – hier sind die Stände gemeint – die nächstniedrigere Ebene deren Funktion übernehmen soll1211. Calvin versuchte durch allgemeine parlamentarische Repräsentation die Volksrechte gegenüber der staatlichen Obrigkeit zu verstärken und ihnen somit eigene Rechte bis hin zum Widerstandsrecht auf unterer Ebene zu verleihen1212, was letztendlich dem Subsidiaritätsgedanken entspricht. Gemäß dem definitorischen Inhalt der Subsidiarität beinhaltet diese auch die Sicherung der Freiheit des Individuums. Calvin räumt den Ständen das Widerstandsrecht gegen die Tyrannis ein, um so die Freiheit des Volkes zu schützen1213. Die Ausgangsüberlegung des Subsidiaritätsprinzips bei Althusius findet sich in Kapitel IV, § 20: „Vielmehr muß, was alle angeht, auch von allen gebilligt werden“1214. In der weiteren Konsequenz bedeutet dies gleichzeitig, daß ohne Einvernehmlichkeit Gemeinschaftsaufgaben nicht nach oben abgegeben werden können und umgekehrt niemand von oben verpflichtet werden kann1215. Die Aspekte des Gemeinschaftsverhaltens, der Volksrepräsentation sowie der subsidiären Machtverteilung sind dabei bei Althusius wesentlich1216. a) Gemeinschaftsverhalten Bei Althusius baut das Subsidiaritätsprinzip auf der Grundkonstruktion der „consociatio symbiotica“ auf. Hier geht Althusius mit den letzten Stufen seiner Gesellschaftsstruktur (Provinz und Reich) über die des Aristoteles hinaus, verwendet jedoch für die Subsidiarität die gleiche Argumentation wie Aristoteles1217: Durch die fehlende Autarkiefähigkeit des Individuums wird der Mensch zum symbiotischen Sozialwesen, welches sich in verschiedenen Gesellschaftsformen bis hin zum Staat organisiert. Innerhalb des ständischen Aufbaues der Gesellschaftsgruppen bei Althusius setzt sich die weitere Konsoziation aus den Einheiten der 1211 1212 1213 1214 1215 1216 1217
Vgl. Rohl, J. (2002), S. 40 f. Vgl. Rohl, J. (2002), S. 39. Vgl. Rohl, J. (2002), S. 40. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 20, S. 52. Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 101. Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 102 f. Vgl. die näheren Ausführungen bei Höffe, O. (1994), S. 31 ff.
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darunter liegenden Konsoziationen zusammen, wobei kein hierarchischer Aufbau vorlag, sondern sich Macht und Autorität von oben nach unten und nicht wie in der Hierarchie umgekehrt aufbauen1218, insofern also Subsidiarität besteht. Die Teilhabe, Unterstützung und Hilfe ist zwischen den Konsoziationen umso geringer, je kleiner die private Gemeinschaft gegenüber der öffentlichen und universalen Gemeinschaft ist1219, d. h. daß Aufgaben der untergeordneten Teileinheit nur dann mit Hilfe der staatlichen Gewalt zentral bewältigt werden sollen, wenn eine dezentralisierte eigenwillige Erledigung nicht möglich ist1220, also Subsidiarität besteht. Mit der Einteilung des politischen Körpers in fünf Gemeinschaften (Familie, Kollegien, Stadt, Provinz und Gemeinwesen) und der Zuweisung von Verpflichtungen auf jede der Gemeinschaften wird das subsidiäre Verständnis bei Althusius fest geschrieben1221. b) Volksrepräsentation und subsidiäre Machtverteilung Mit zunehmender Größe der Gesellschaftsform ergibt sich die Erfordernis der Institutionalisierung, welche sich in der Etablierung einer Legislative, Judikative und Exekutive als öffentliche Gewalten ausdrückt. In der politischen Theorie des Althusius ergibt sich mit seinem zweifachen Repräsentationssystem der Identitätsrepräsentation der Ephoren als Verkörperung des Gemeinwesens in seiner Gesamtheit1222 und der Vertretungsrepräsentation des obersten Magistraten mittels Auftragsverhältnis1223 (vgl. Kapitel 3.2.5.1.3), daß die politische Macht immer auf der untersten Ebene des Gemeinwesens verankert bleibt und daß möglichst viel öffentliches Handeln der sozialen Selbstregulierung zukommen soll1224, was dem Begriff der Subsidiarität zuzuweisen ist. Die Machtverteilung mittels verfassungsmäßiger Verankerung der Herrschaftsmacht wird bei Althusius subsidiär ausgestaltet1225: Die Wahl des obersten Herrschers soll unter Beachtung des Fundamentalgesetzes des Reiches, welches Verträge über den Zusammenschluß von Städten und Provinzen sind, was wiederum deren Übereinkunft über den Zusammenschluß erfordert, erfolgen1226. Das Subsidiaritätsprinzip zeigt sich bei Althusius auch im Rechtssystem: Teilautonome Gebietskörperschaften wie z. B. Städte erhalten danach auch entspreVgl. Friedrich, C. J. (1964), S. 155. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 3, S. 33. 1220 Der heutigen Föderalismusdefinition nach Herder Verlag (1988), S. 72 folgend. 1221 Vgl. Malandrino, C. (2002), S. 241 und die dortigen Quellenangaben in Fußnote 10 sowie die Ausführungen bei Scattola, M. (2002), S. 351 ff. 1222 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 47, S. 176. 1223 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 98, S. 213. 1224 Vgl. Hüglin, Th. (1991), S. 194. 1225 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 106 und die dortigen Literaturangaben zu Althusius. 1226 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 49, S. 205. 1218 1219
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chende Territorialrechte, welche kraft eigenen Rechts erwachsen1227 und durch welche die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten selbstverantwortlich erfolgt1228. Die Magistraten erhalten subsidiär ausgestaltete Befugnisse, vor allem im Bereich der Gestaltung der Lebensverhältnisse, des Handels sowie des Geldwesen und der Steuern1229 (vgl. zum Steuerwesen Kapitel 4.2.2.6.7). Althusius geht sogar soweit, zu behaupten, daß, wenn der Körperschaft diese eigenverantwortlichen Rechte genommen werden, sie nicht mehr den Status der Körperschaft hat1230 und gibt damit der Subsidiarität konstitutiven Charakter. Die obersten Herrscher haben jedoch auch übergeordnete Rechte und Pflichten, welche unmittelbar als Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips zu werten sind1231: „. . . ist als Regel stets zu beachten, daß Mäßigung waltet, so daß jedem Glied des Gemeinwesens das ihm zukommende Recht zu belassen, nicht gemindert oder zum Nachteil eines anderen Glieds gemehrt wird.“1232 Jedoch bedeutet Subsidiarität für Althusius nicht nur, daß die der untersten Ebene zustehenden Rechte und Pflichten dort verteidigt und belassen werden müssen, sondern auch, daß subsidiäre Rechten und Pflichten im Rahmen eines sozialen und regionalen Ausgleichs an die übergeordneten Gemeinschaften abgegeben und dort zur Verfügung gestellt werden sollten (Selbstgenügsamkeit)1233.
3.2.7.3.4 Subsidiaritätsprinzip und Übermaßverbot in der EU Das Prinzip der Subsidiarität ist vom Begriff des Föderalismus grundsätzlich abzugrenzen. In der EU fand bzw. findet sich das Prinzip in folgenden Zusammenhängen: – im Bericht der EG-Kommission über die Europäische Union vom 26. 06. 19751234, – in Art. 12 Abs. 2 des Vertragsentwurf des Europäischen Parlaments über die Europäische Union vom 14. 02. 19841235, Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 41, S. 77. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 43, S. 78. 1229 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 110 und die dortigen Literaturangaben zu Althusius: Kap.XI, § 4, Kapitel XXXII, Kapitel XI, § 5. 1230 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 45, S. 78. 1231 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 110 und die dortigen Literaturangaben zu Althusius. 1232 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 2, S. 297. 1233 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 111 und die dortigen Literaturangaben zu Althusius: Kapitel XXXI, § 1 – 8, Kapitel XXIX, § 1, Kapitel XI, § 7. 1234 Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 376. 1235 Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 376 f., Waschkuhn, A. (1995), S. 149 sowie Pieper, S. U. (1994), S. 209 und S. 217. 1227 1228
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– im Vertrag über die Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft von 1987 in Artikel 174 (ex-Artikel 130r Abs. 4)1236, jedoch nur punktuell in einer Norm über die Umweltpolitik1237, – indirekte Hinweise auf das Subsidiaritätsprinzip finden sich in den Art. 100, Art. 113 in Verbindung mit Art. 115, Art. 178, Art. 215, Art. 222 sowie Art. 235 EWG-Vertrag1238 sowie in Art. 37 Abs. 5, Art. 38 Abs. 2, Art. 53, Art. 60 Abs. 1, Art. 92 Abs. 1 EWG-Vertrag1239 und Art. 6 Abs. 1, Art. 67, Art. 85 EWG-Vertrag1240, – auf der Ministerpräsidentenkonferenz vom 21. – 23. 10. 1987 in München („Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips: Die Europäische Gemeinschaft soll neue Aufgaben nur übernehmen, wenn ihre Erfüllung auf europäischer Ebene . . . nur auf Gemeinschaftsebene erreicht werden kann“)1241, – auf der Konferenz Europa der Nationen in München am 18. und 19. 10. 1989, („Subsidiarität und Föderalismus müssen die Architekturprinzipien der Gemeinschaft sein“) wird es erstmals als generelles Strukturprinzip für die EU diskutiert, so z. B. durch Jacques Delors in utilitärem Sinne1242, – in der Debatte des Europäischen Parlaments Ende 1989 um die Fortentwicklung der EU zur politischen Union und dem darauf folgenden Zwischenbericht von Valerie Giscard d’Estaing wird die Festlegung und Verwirklichung des Subsidiaritätsprinzips ausführlich diskutiert1243, – in der Grundsatzrede des Präsidenten der Kommission, Jacques Delors vor dem Europäischen Parlament am 17. Januar 1990, wo er feststellte, daß das Subsidiaritätsprinzip für die Aufteilung der Befugnisse zwischen Gemeinschaft, Mitgliedstaaten und Regionen gelten müsse sowie dessen Diskussion auf der Ratstagung im Juni 1990 in Dublin, der Sonderratstagung am 27. / 28. Oktober 1990, 1236 Artikel 130r Abs. 4 lautet: „Die Gemeinschaft wird im Bereich der Umwelt insoweit tätig, als die in Abs. 1 genannten Ziele besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können als auf der Ebene der einzelnen Mitgliedsstaaten“, vgl. Waschkuhn, A. (1995), S. 127, Fußnote 276 sowie vgl. die näheren Ausführungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 197 f. und S. 220 sowie bei Stewing, C. (1992), S. 97 ff. 1237 Vgl. Höffe, O. (1994), S. 22, Fußnote 4, Bruha, Th. (1994), S. 389 und vgl. die näheren Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip im Umweltschutz der EU bei Binswanger, H. Ch. / Wepler, C. (1994), S. 413 ff. 1238 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 175 und die dortigen Quellenangaben in Fußnote 3 sowie S. 201 ff. 1239 Vgl. Stewing, C. (1992), S. 55 und die dortigen Quellenangaben in Fußnote 261 bis 267. 1240 Vgl. die näheren Ausführungen bei Stewing, C. (1992), S. 69 ff. 1241 Vgl. Häberle, P. (1994), S. 277 sowie Pieper, S. U. (1994), S. 221. 1242 Vgl. Geser, H. (1994), S. 168, Waschkuhn, A. (1995), S. 149 sowie Pieper, S. U. (1994), S. 223. 1243 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 211 f. und S. 224 ff.
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der Parlamentskonferenz in Rom am 30. November 1990 sowie der Ratstagung in Rom am 14. / 15. Dezember 19901244, – Vorschlag der Verankerung des Subsidiaritätsprinzips in den Gemeinschaftsverträgen in einem Bericht der Arbeitsgruppe „Europa der Regionen“ vom 27. 05. 19901245, – im Beschluß der deutschen Ministerpräsidentenkonferenz vom 10. / 21. 12. 1990 („Subsidiarität muß Architekturprinzip des einigenden Europas sein“ und „Das Subsidiaritätsprinzip muß grundlegendes Strukturelement der Politischen Union sowohl bei der Verteilung als auch bei der Ausübung von Befugnissen sein. Es ist als justitiabler Grundsatzartikel im EWG-Vertrag zu verankern“)1246 sowie auf der Ratstagung am 8. / 9. Dezember 1991 in Maastricht bei den Verhandlungen über die Verträge der WWU und der Politischen Union1247, – im Maastrichter Vertrag von 1992 in der Präambel sowie in Artikel 5 Abs. 2, wo es zum Verfassungsrang erhoben wird1248 sowie in dessen Vorfeld durch die „Kommission zur Subsidiaritätsproblematik“ und den Sondergipfel des Europäischen Rates in Birmingham am 16. 10. 1992 zum Thema „Demokratie, Subsidiarität, Transparenz“1249. Die Gemeinsame Geschäftsordnung der Bundesministerien der Bundesrepublik Deutschland GGO, welche sich in § 741250 am Protokoll zu Art. 5 Abs. 2 EGV orientiert, beinhaltet ein Prüfraster zur Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips für alle Rechtsakte, Vorhaben, Aktions- und Förderprogramme der EU und mündet in einem jährlichen Subsidiaritätsbericht mit der Bewertung und Beanstandung der Gemeinschaftstätigkeit hinsichtlich der Einhaltung des Subsidiaritätsprinzips1251, – im Protokoll über die Anwendung der Grundsätze der Subsidiarität und Verhältnismäßigkeit zum Vertrag von Amsterdam in der Fassung vom 2. 10. 1997 mit folgenden Feststellungen1252: – Subsidiarität ist an jedes Organ der Gemeinschaft adressiert, – der gemeinsame Besitzstand und das Verhältnis zwischen Gemeinschaft und Mitgliedstaaten wird nicht berührt, Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 227 f. Vgl. Häberle, P. (1994), S. 278. 1246 Vgl. Häberle, P. (1994), S. 279. 1247 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 229. 1248 Vgl. die näheren Ausführungen zum Subsidiaritätsprinzip aus der Sicht der vergleichenden Verfassungslehre bei Häberle, P. (1994), S. 305 ff. und vgl. Pieper, S. U. (2002), S. 447 ff. 1249 Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 393. 1250 § 74 GGO lautet: „Für die Prüfung von Vorhaben der Europäischen Union auf ihre Übereinstimmung mit dem Subsidiaritäts- und Verhältnismäßigkeitsprinzip gelten die von der Bundesregierung beschlossenen Verfahrensgrundsätze und das dort vorgesehene Prüfraster (Anlagen 9 und 10)“; vgl. dazu Pieper, S. U. (2002), S. 467 ff. 1251 Vgl. Pieper, S. U. (2002), S. 454 f. 1252 Vgl. Pieper, S. U. (2002), S. 452 f. 1244 1245
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– das Subsidiaritätsprinzip stellt die Befugnisse der Gemeinschaft nicht in Frage, – das Subsidiaritätsprinzip ist eine Richtschnur für die Ausübung der Befugnisse, – das Subsidiaritätsprinzip soll sowohl die Ausweitung als auch die Beschränkung von Zuständigkeiten ermöglichen, – die Begründung von Rechtsakten muß im Hinblick auf das Subsidiaritätsprinzip erfolgen. – auf der Tagung des Europäischen Rats in Thessaloniki am 20. 06. 2003 im Entwurf der Verfassung für Europa („. . . wird die Union nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, . . . sondern vielmehr . . . auf Unionsebene besser erreicht werden können“)1253 und sodann gleichlautend in Teil I Titel III Art. 9 Abs. 3 des Entwurfes eines Vertrags über eine Verfassung für Europa1254.
Mit der Aufnahme des Prinzips in den Maastrichter Vertrag und damit in den Verfassungsrang entstand eine rege Diskussion, welche das Subsidiaritätsprinzip von der Leerformel bis zum Schlüsselbegriff1255 oder auch als „Europabegriff des Jahres“1256 (Anm. d. Verf.: 1992) verstand. Grundsätzlich darf die EU nur Handlungen vornehmen, wenn ihr diese im Vertragswerk zugebilligt werden. Ist in den Verträgen eine grundsätzliche Handlungsfähigkeit zugesagt, so soll die EU jedoch nur dann tätig werden, wenn die Mitgliedstaaten mit deren regionalen Untergliederungen das erklärte Ziel nicht oder nicht befriedigend erreicht haben (Notwendigkeitsklausel) und die EU die Aufgabe besser erfüllen kann (Besserklausel)1257: Es gilt das Subsidiaritätsprinzip in der Ebene zwischen EU und Mitgliedstaaten, nicht jedoch zwingend für den innerstaatlichen Bereich des Mitgliedstaates1258. Für die EU wurde die politiktheoretische Definition (vgl. Kapitel 3.2.7.3.2) der Subsidiarität wie folgt zum Maßstab: „. . . dient das Subsidiaritätsprinzip, das im Vertrag über die Europäische Union ausdrücklich verankert und in Verfassungsrang erhoben worden ist. Dieses der katholischen Soziallehre entliehene Prinzip 1253
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2004),
S. 9. 1254
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003),
S. 17. 1255 Vgl. dazu die zahlreichen Quellenangaben bei Häberle, P. (1994), S. 269 f., Fußnote 1 und 2 sowie bei Bruha, Th. (1994), S. 376, Fußnote 4 bis 11, bei Waschkuhn, A. (1995), S. 11 ff. und S. 15 und bei Pieper, S. U. (2002), S. 445, Fußnote 1. 1256 Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 375. 1257 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 60, Thiel, E. (2001), S. 57 und Borchardt, K.-D. (1995), S. 28. 1258 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 58.
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besagt, daß EG und EU außerhalb der ihnen zur ausschließlichen Wahrnehmung übertragenen Aufgaben nur dann tätig werden dürfen, wenn das zur Lösung anstehende Problem tatsächlich besser auf Unionsebene als auf der Ebene der Mitgliedstaaten und deren regionalen Untergliederungen geregelt werden kann.“1259 Der Verfassungsrang findet sich im Maastrichter Vertrag von 1992 in der Präambel sowie in Artikel 5 Abs. 2 (ex-Artikel 3b Abs. 2)1260 als supranationales Handlungsprinzip, welches jedoch sehr weite Handlungsspielräume offen läßt1261. Die Präambel lautet: „Entschlossen, den Prozeß der Schaffung einer immer engeren Union der Völker Europas, in der die Entscheidungen entsprechend dem Subsidiaritätsprinzip möglichst bürgernah getroffen werden, weiterzuführen“1262. Artikel 5 Abs. 2 schreibt: „In den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, wird die Gemeinschaft nach dem Subsidiaritätsprinzip nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen auf Ebene der Mitgliedstaaten nicht ausreichend erreicht werden können und daher wegen ihres Umfanges oder ihrer Wirkungen besser auf Gemeinschaftsebene erreicht werden können“1263. In Artikel 5 Abs. 1 ist neben dem Subsidiaritätsprinzip das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung sowie in Artikel 5 Abs. 3 die Erforderlichkeit für die Kompetenzausübung, welche das Subsidiaritätsprinzip gestalten und konkretisieren, normiert1264. In Teil I Titel III Art. 9 Abs. 3 des Entwurfes eines Vertrags über eine Verfassung für Europa vom 20. 06. 2003 heißt es: „Nach dem Subsidiaritätsprinzip wird die Union in den Bereichen, die nicht in ihre ausschließliche Zuständigkeit fallen, nur tätig, sofern und soweit die Ziele der in Betracht gezogenen Maßnahmen von den Mitgliedstaaten weder auf zentraler noch auf regionaler oder lokaler Ebene ausreichend erreicht werden können, sondern vielmehr wegen ihres Umfangs oder ihrer Wirkungen auf Unionsebene besser erreicht werden können. Die Organe der Union wenden das Subsidiaritätsprinzip . . . an.“1265 Per Verfassungsrang ist die Möglichkeit einer Subsidiaritätskontrolle durch eine Rüge oder sogar eine Subsidiaritätsklage der nationalen Parlamente beim EuGH bei Verstößen gegen das Subsidiaritätsprinzip gegeben1266. Borchardt, K.-D. (1995), S. 28. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 84 und zu dessen Auslegung Pieper, S. U. (1994), S. 249 ff. sowie die näheren Ausführungen zur Subsidiarität in Art. 5 Abs. 2 bei Stewing, C. (1992), S. 104 ff. 1261 Vgl. Nohlen, D. (1998), Band 7, S. 631 und Groser, M. (1998), S. 624. 1262 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 16. 1263 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 84. 1264 Vgl. Pieper S. U. (2002), S. 448. 1265 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 17. 1266 Vgl. Frankfurter Rundschau (2005a), S. 2 sowie FTD (2005c), S. 17. 1259 1260
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Die Institutionalisierung des Subsidiaritätsprinzips in der EU vollzog sich durch das mit dem Maastrichter Vertrag 1992 neu geschaffene Organ des „Ausschusses der Regionen“. Er besteht aus Vertretern der regionalen und lokalen Gebietskörperschaften und ist mit beratenden Aufgaben konstituiert; weiterhin müssen Rat und Kommission den Ausschuß der Regionen in Fragen der Förderung der allgemeinen und beruflichen Bildung, der Kulturförderung, des Gesundheitswesens, der transeuropäischen Netze sowie der Struktur- und Regionalpolitik hören1267. Sein tatsächliches Gewicht als Organ der Subsidiarität muß wegen folgender noch fehlender Eigenschaft derzeit als gering betrachtet werden1268: – keine eigenständige Regionalkammer mit echten Entscheidungsbefugnissen, – nur beratende Funktion, – Anbindung an den Wirtschafts- und Sozialausschuß der EU, – keine eigenständige Möglichkeit der Klage vor dem EuGH wegen der Verletzung der Mitwirkungsrechte.
Innerhalb des Subsidiaritätsprinzip sind auch bei der EU zahlreich sowohl die begriffsinhaltlich positive als auch die negative Komponente (vgl. Kapitel 3.2.7.3.2) vorhanden1269: Funktionen, welche die Mitgliedstaaten nicht oder nur teilweise ausführen können, werden von der EU übernommen (positive Komponente) oder Festlegung von EU-weiten Kriterien für Produkte wie Teigwaren, Bier oder Murmeln zum Zwecke der Verhinderung eines nationalen Protektionismus (negative Komponente). Weiterhin vollzieht sich in der EU das Subsidiaritätsprinzip in den definitorischen Dimensionen unter Einbeziehung der überstaatlichen bzw. der regionalen Aspekte1270 (vgl. Kapitel 3.2.7.3.2): – Rechtfertigung der staatlichen Existenz – Zuweisung der staatlichen Kompetenz
Das Subsidiaritätsprinzip hat die primäre Funktion der Verteilung der Kompetenzen auf die Handlungsebenen im Sinne der Rechtsetzung und Rechtsstellung durch Verfassungsrang im Maastrichter Vertrag1271. – Begrenzung der Kompetenzausübung
Das Subsidiaritätsprinzip hat die sekundäre Funktion der Regelung der Ausübung der Kompetenzen der Handlungsebenen der EU1272. Innerhalb der SubVgl. Thiel, E. (2001), S. 61 f. Vgl. die Ausführungen zur Rolle des Ausschusses der Regionen der EU bei Waschkuhn, A. (1995), S. 129 f. 1269 Vgl. Höffe, O. (1994), S. 42. 1270 Vgl. Groser, M. (1998), S. 622. 1271 Vgl. Isensee, J. (2002), S. 147 f. 1272 Vgl. Isensee, J. (2002), S. 147 f. 1267 1268
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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sidiarität ist das Strukturprinzip als subsidiärer Aufbau staatlicher oder gesellschaftlicher Systeme vom Tätigkeitsprinzip als Zuweisung und Ausführung staatlicher und gesellschaftlicher Aufgaben zu unterscheiden1273, wobei innerhalb der EU zu beachten ist, daß das Subsidiaritätsprinzip gemäß Maastrichter Vertrag von 1992 Artikel 5 Abs. 2 „nur auf die Ausübung bestehender Kompetenzen, nicht aber auf die Zuweisung (Verteilung) der Zuständigkeiten anwendbar“ ist1274. Der Rückgriff auf das Subsidiaritätsprinzip hat in der EU das Ziel der Unterbindung von Zentralisierungstendenzen im Staatenverbund und des dann zugrunde liegenden Bürokratismus. Weiterhin soll dadurch dem Demokratiedefizit der EU (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3 und Kapitel 3.2.6.2.7.2) begegnet werden und festgelegt werden, daß die Mitgliedstaaten Vorrang vor der Zentralinstanz der EU haben1275. Inwiefern eine Zielkonformität für das Ziel der Unterbindung des Zentralisierungsund Bürokratisierungsprozesses besteht, wird durch folgendes deutlich1276: Es stellt sich die Frage inwiefern die Akteure auf unterster Ebene in der Lage sind, organisierte Problemlösungen zu schaffen, da verborgene Strukturen vorliegen. Ob die Beweislast gegenüber der Zentralinstanz durch ein Berichtswesen geeignet ist, die Problemlösungen darzustellen, erscheint problematisch. Da letztendlich die Ziele des Staatenbundes umgesetzt werden sollen1277 und auch von ihm die Mittel dazu bereit gestellt werden, ist auch fraglich, ob das Oktroyieren dieser übergeordneten Ziele durch die Zentralinstanz zielführend sein kann. Mit dem Subsidiaritätsprinzip verknüpft ist in der EU das sog. Übermaßverbot1278 als Prinzip der Verhältnismäßigkeit im weiteren Sinne, welches ebenfalls durch Artikel 5 des Maastrichter Vertrages von 1992 Verfassungsrang hat: „Die Maßnahmen der Gemeinschaft gehen nicht über das für die Erreichung der Ziele dieses Vertrags erforderliche Maß hinaus“1279. Das Übermaßverbot wählt das Mittel zur Zweckerreichung so aus, daß genau der Zweck erreicht wird und nicht mehr1280. Das Subsidiaritätsprinzip dagegen beschreibt, ob und nicht wie das Handeln zur Zweckerreichung aussehen soll1281. Problematisch für die Auslegung des Subsidiaritätsprinzips und damit eigentlich anti-subsidiär ist die sog. teleologische Rechtsauslegung des EuGH zu sehen, welche besagt, daß bei Kompetenzstreitigkeiten prinzipiell zugunsten der Zentral1273 1274 1275 1276 1277 1278 1279 1280 1281
Vgl. Esterbauer, F. / Thöni, E. (1981), S. 10. Bruha, Th. (1994), S. 396. Vgl. Walther, M. (2002), S. 117 und Geser, H. (1994), S. 184. Vgl. Walther, M. (2002), S. 123 f. Vgl. die Ausführungen bei Isensee, J. (2002), S. 147. Vgl. die Ausführungen zum Übermaßverbot bei Bruha, Th. (1994), S. 398. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 84. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 60. Vgl. die Ausführungen bei Isensee, J. (2002), S. 172 ff.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
gewalt mit dem Zweck der Stärkung der Gemeinschaft entschieden wird. Ebenso verwenden die Mitgliedstaaten der EU das „Schutzschild“ der Subsidiarität, um supranationale Herrschaftsansprüche der EU abzuwehren, während sie gleichzeitig in ihren Provinzen, Bundesländern etc. kaum Autonomie im Sinne des Subsidiaritätsprinzips gewähren1282.
3.2.7.3.5 Subsidiaritätsdefizit in der EU? Neben dem Demokratiedefizit (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3 und Kapitel 3.2.6.2.7.2) wird in der EU im Zusammenhang mit dem Föderalismusdefizit (vgl. Kapitel 3.2.7.1.2.3) daraus folgend das Subsidiaritätsdefizit diskutiert. Voraussetzung für die Umsetzung des Subsidiaritätsprinzips in der EU wird eine föderale Struktur sein, wobei die Ordnungsform (vgl. Kapitel 3.2.7.2.2.2) derzeit als Staatenverbund zu bezeichnen ist. Die föderale Struktur der EU mit konsequent subsidiärem Tätigkeitsvorrang der untergeordneten vor der übergeordneten Einheit des interdependenten Systems der Verflechtung auf Basis des Regionalprinzips wird auch als regulierte Anarchie bezeichnet1283. Mit einem Föderalismusdefizit erscheint demnach auch das Subsidiaritätsprinzip als Folgeprinzip gefährdet. Mit der nicht hierarchiekonformen Zuweisung von Kompetenzen – so besteht z. B. keine Kompetenz der Außenpolitik für die EU und die Kompetenz der Raumordnung wäre nicht auf EU-Ebene, sondern darunter anzusiedeln – ist das Subsidiaritätsprinzip nicht immer eingehalten1284. Insgesamt ist aufgrund der Vielzahl der politischen Willensbildungs- und Entscheidungsprozesse mit Zuweisung auf EU- oder Mitgliedstaatenebene nicht mehr nachvollziehbar, ob das Subsidiaritätsprinzip immer eingehalten wird1285. Weiterhin problematisch erscheint die nicht konkrete operative Ausgestaltung des Subsidiaritätsprinzips – was zum Vorschlag der Einrichtung von Subsidiaritätsausschüssen sowie Subsidiaritätslisten mit Prüfraster in der EU geführt hat – in der Umsetzung1286. Eine zunehmende Tendenz zur Kompetenzanmaßung und auch -überschreitung der EU1287 – also zur Zentralisierung- wird dem Subsidiaritätsprinzip ebenfalls nicht förderlich sein. Andererseits hat Roman Herzog kritisch erläutert, daß grundsätzlich die sog. „Kompetenz-Kompetenz“ beim Staat zu liegen hat: Er bestimmt die Verhältnisse zwischen ihm und anderen Einheiten, er hat Vorrang vor allen anderen Einheiten Vgl. Geser, H. (1994), S. 168 f. Vgl. Nitschke, P. (2002), S. 435. 1284 Vgl. die Ausführungen bei Waschkuhn, A. (1995), S. 133 ff. 1285 Vgl. Pieper, S. U. (1994), S. 11. 1286 Vgl. Pieper, S. U. (2002), S. 467 ff. 1287 Vgl. die Ausführungen sowie die Beispiele für Kompetenzüberschreitungen bei Pieper, S. U. (1994), S. 12 ff. 1282 1283
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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und er hat die Verfassungskompetenz. Der EU wird eine eigene „Kompetenz-Kompetenz“ abgesprochen, da sie immer noch auf der Grundlage begrenzter Einzelermächtigungen handelt, deren Umfang durch die Mitgliedstaaten legitimiert wird1288. Das Subsidiaritätsprinzip in seiner radikalsten Ausprägung jedoch würde bedeuten, daß eine „Kompetenz-Kompetenz“ grundsätzlich unterwandert wird, staatliche Souveränität abgelöst wird und somit die untergeordneten Einheiten den übergeordneten Staat beschränken1289. Diese Argumentation führt zu der Frage, ob zuviel Subsidiarität der EU Kompetenzen entzieht und damit die Souveränität des „Zentralstaates“ EU verloren geht, da Subsidiarität und Souveränität als Prinzipien der rechtlichen und politischen Ordnung grundsätzlich in einem Spannungsverhältnis stehen1290. Somit läßt sich die Frage des Subsidiaritätsdefizits nicht eindeutig beantworten: Es entsteht ein Subsidiaritätsdilemma.
3.2.7.3.6 Subsidiarität: die EU und Althusius im Vergleich Es besteht zunächst ein Unterschied im grundsätzlichen Ansatz der Subsidiarität bei Althusius und EU dahin gehend, daß das Prinzip bei Althusius nicht ausformuliert und operationalisiert ist, während in der EU Verfassungsrang und Ausgestaltungsprinzipien definiert sind. So liegt bei Althusius tendenziell hinsichtlich der Hauptausprägung ein Sozialprinzip zugrunde, während es in der EU zum Administrationsprinzip mutiert ist. Die Reflexion der begriffsinhaltlichen Dimensionen der Subsidiarität (vgl. Kapitel 3.2.7.3.2) auf Althusius zeigt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zum heutigen Begriff, ohne jedoch eine zu weite Interpretation zu wagen: – Während Subsidiarität nach heutigem Verständnis im Verfassungsföderalismus der EU die Frage nach der zugewiesenen Kompetenz der jeweiligen Ebene stellt (Kompetenzenordnung), ist die zentrale Frage im Vertragsföderalismus des Althusius, wer im Sinne einer zufriedenstellenden Gesamtregelung am besten was tun sollte (Kompetenzenzuordnung)1291. – Gemeinschaftsverhalten, Volksrepräsentation und subsidiäre Machtverteilung1292 als Basisgedanken für die Subsidiarität.
Vgl. Die Zeit (2005c), S. 4. Vgl. Scattola, M. (2002), S. 342 f. und die dortigen Quellenangaben in Fußnote 10, 11 und 13. 1290 Vgl. die Ausführungen zum Spannungsverhältnis zwischen Subsidiarität und Souveränität bei Wyduckel, D. (2002), S. 537 ff. 1291 Vgl. Hüglin, Th. (2002), S. 326. 1292 Der Vergleich wurde von Hüglin angestellt und von dort übernommen: vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 102 f. 1288 1289
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU Tabelle 23 Basisgedanken der Subsidiarität in der EU und bei Althusius
Basisgedanke der Subsidiarität
EU
Althusius
Gemeinschaftsverhalten
& ✗ , „Jeder entscheidet für sich allein, die Folgen tragen alle gemeinsam“
✓ , symbiotische Gemein& schaft mit gegenseitiger Hilfe
Volksrepräsentation
✗ , im Ministerrat wird auch ✓ , auf allen Ebenen (von der & & entschieden, worüber Familie über Stände und zuvor auf MitgliedsstaatenProvinz zum Reich) ebene nicht einvernehmlich entschieden wurde
subsidiäre Machtverteilung
✗ , föderal organisiert sind & nur BRD, Belgien und Spanien1293; Stände und Interessensgruppen sind außen vor gelassen
✓ , auf allen Ebenen (von der & Familie über Stände und Provinz zum Reich)
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
– Subsidiaritätsprinzip als wertendes Gerechtigkeitsprinzip
Bei Althusius ist das wertende Gerechtigkeitsprinzip implizit durch den Zentralbegriff der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) die Hauptausprägung des Subsidiaritätsprinzips im Sinne des Sozialprinzips, aus welchem das wertende Gerechtigkeitsprinzip abgeleitet wird. In allen gesellschaftlichen Bereichen weist Althusius darauf hin, daß immer die Sorge für das Gemeinwohl, die Bildung einer Rechtsgemeinschaft sowie die Ausrichtung auf eine Idee der Lebensführung im Vordergrund steht1294; diese Idee der Lebensführung besteht aus dem göttlichen, allem übergeordnetem Gesetz1295 und den positiven Gesetzen, welche sowohl von den leitenden Personen als auch von der Gemeinschaft selbst eingehalten werden müssen1296. Die Konstellation gilt sodann auch für die Ordnung des Gemeinwesens, wie z. B. die Verwaltung des provinziellen Rechtes1297. Bei Althusius ist Gerechtigkeit (vgl. Kapitel 3.2.6.1.1) definiert als „Geist des Zusammenlebens“ („virtus symbiotica“). Die Gerechtigkeit besteht dann, wenn die Interessen des Einzelnen dem Gemeinschaftsinteresse untergeordnet werden. Vgl. Lottes, G. (1994), S. 245. Vgl. Winters, P.J. (1963), S. 237. 1295 Vgl. z. B. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 35, S. 173 und § 40, S. 174. 1296 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 35, S. 172. 1297 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 1 ff., S. 95 ff. 1293 1294
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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Eine wertende Gerechtigkeit kann bei Althusius nicht als Negation, d. h. die Nichtexistenz von Gerechtigkeit (Ungerechtigkeit) wie beim heutigen Begriff betrachtet werden, sondern nur im positiven Sinne der Existenz von Gerechtigkeit, wenn die Idee der Althusius’schen Lebensführung auf Basis der Gesetze und der Gerechtigkeit auf der untersten Ebene des Gemeinwesens (Konsoziationen; Korporationen) Selbstbestimmung und Vorrang vor denen der übergeordneten Ebenen (Provinz, Reich) haben, was zu bejahen ist. – Das Subsidiaritätsprinzip ist in der EU primär ein vertragsrechtliches und zukünftig verfassungsrechtliches, während es bei Althusius ein politisches ist1298. – Subsidiaritätsprinzip als funktionalistisches Verteilungsprinzip
Das funktionalistische Optimierungsgebot sagt aus, daß eine Aufgabe derjenigen Ebene zugewiesen werden soll, welche die bestmögliche und effizienteste Aufgabenerfüllung gewährleistet. Bei Althusius (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.3) besteht in den privaten Gemeinschaften eine vertragliche Beziehung der Mitglieder, welche zur gegenseitigen Teilhabe mit dem Zwecke der Besitzeinbringung und Förderung des Wohles ihrer Mitglieder verpflichtet werden1299. Diese Teilhabe, Unterstützung und Hilfe ist zwischen den Gemeinschaften umso geringer, je kleiner die private Gemeinschaft gegenüber der öffentlichen und universalen Gemeinschaft ist1300. – Subsidiaritätsprinzip als Verfahrensgarantie
Das sog. „Föderalismusdilemma“ der zentralen Entscheidung über die Dezentralisierung von öffentlichen Aufgaben soll dabei dadurch umgangen werden, daß keine einseitige Entscheidung über die Wirkungsbereiche getroffen wird, sondern die Verteilung mittels Kooperation und Partizipation vorgenommen wird. Bei Althusius kann das Föderalismusdilemma nicht auftauchen, da die Entscheidung über öffentliche Aufgaben von den jeweiligen Repräsentanten getroffen wird. In der Kette indirekter Repräsentationsverhältnisse je nach der Hierarchieebene der Korporation findet sich bei Althusius „eine lineare Ansammlung von Repräsentationen der Repräsentationen“ 1301, was dazu führt, daß die jeweils höhere Repräsentantenversammlung aus Repräsentanten der nächst niedrigeren Repräsentantenversammlung besteht. So repräsentiert z. B. den kirchlichen Stand ein Kollegium, welches wiederum aus Mitgliedern der kirchlichen Kollegien der Provinz besteht1302. Ebenso besteht die universale Versammlung aus Vertretern der untergeordneten Ebenen, so z. B. aus dem Senat der Kurfürsten, dem Senat der Fürsten und dem Senat der Reichsstädte1303, die Senatoren der Reichsstädte 1298 1299 1300 1301 1302 1303
Vgl. Hüglin, Th. (2002), S. 326. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 2, S. 33. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. II, § 3, S. 33. Nitschke, P. (1995), S. 166. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 6, S. 95. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 56 ff., S. 343 ff.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
werden wiederum vom Senatskollegium gewählt, welches das Kollegium der Körperschaft oder das Zunftkollegium sein kann1304. In der Kette nach unten wird demnach die Informationsbasis bis in die höchste Repräsentationsebene hinein getragen und damit das „Föderalismusdilemma“ existenzlos. – Demokratische Dezentralisation durch Subsidiarität
Die untergeordneten Ebenen erhalten durch das Subsidiaritätsprinzip auch bei Althusius ein legitimiertes, dezentrales Selbstregierungsrecht: „Wie wir oben in Kapitel VIII §§ 53 u. ff. und in Kapitel IX § 15 gesagt haben, sind die Herrschaftsgewalt und das Recht der Stände oder Ordnungen des Reichs begrenzt; sie stehen den einzelnen Präfekten der Provinzen oder Gliedern des Reichs, den Dynasten, Grafen, Herzögen und Kastellanen nur hinsichtlich der Angehörigen ihrer Provinz in den Angelegenheiten und Fällen zu, für die in besonderer Weise die Provinz zuständig ist.“1305 – Freiheitsoptimierung durch Subsidiarität
Althusius plädiert selbst unter der Trennung der Verwaltung hinsichtlich der geistlichen und weltlichen Glieder der Provinz (Ordnungen, Stände und Kollegien) und den geistlichen (Presbyter) und weltlichen (Magistrat) Präses1306 für die Gewährung eines gewissen Maßes an Freiheit für die Bewohner der Provinz, welches sich darin ausdrückt, daß die öffentlichen Aufgaben der Provinz aufgrund der so großen Verschiedenheit der Lebensweise und Tätigkeiten der Menschen nicht durch eine einheitliche Verfahrensweise erfüllt werden sollten, sondern vielmehr durch dezentrale, an der Sorge für das Gemeinwesen ausgerichteten Einzelverfahren1307. – Vertikale Gewaltenteilung durch Subsidiarität
Die vertikale Gewaltenteilung entsteht bei Althusius schon durch den föderalistischen Aufbau des Gemeinwesens sowie folgende Elemente der Gewaltenteilung (vgl. Kapitel 3.2.6.2.4), welche auf jeder Ebene der Konsoziation, Korporation und öffentlichen Gemeinschaften gelten: a) Unterscheidung von allgemeinem Recht („ius generale“) und spezifischer Maßnahme („ius speciale“), was heute der Trennung zwischen Legislative und Exekutive entspricht, b) Gewaltenbalance zwischen Herrscher und Repräsentativorganen1308, c) Widerstandsrecht (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1), d) Ephorenlehre (vgl. Kapitel 3.2.1.1), e) Staatsfunktionen1309. 1304 1305 1306 1307 1308
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 60, S. 65. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 5, S. 196. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 1, S. 95. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 3, S. 95. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XXII.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
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– Sachgerechte Aufgabenerfüllung durch Subsidiarität
Die sachgerechte Aufgabenerfüllung durch Subsidiarität ist bei Althusius durch den stufenweisen Aufbau des privaten und öffentlichen Gemeinwesens sowieso gegeben. Die Informationsgrundlage kann per Definition nur die der jeweiligen Ebene sein. – Sicherung kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt durch Subsidiarität
Eine Zuweisung oder Interpretation dieses auf die Neuzeit zuzuweisenden Begriffsinhaltes auf die politische Theorie des Althusius wird aus dem Verständnis des Mittelalters heraus nicht gelingen und ist somit zu negieren. – Subsidiarität in der Ökonomie
Wettbewerb im ökonomischen Sinne ist sicherlich keine Intention von Althusius. Der Gedanke an sich widerspricht der Gesellschaftskonstruktion der „consociatio symbiotica“ mit dem Gedanken der gegenseitigen Hilfe und Fürsorge. Althusius installiert dagegen statt einem förderlichem Wettbewerb für die Wohlstandsförderung folgende Konstrukte: a) die Güter des Gemeinschaftskörpers1310 Zu den Gemeinschaftsgütern zählt Althusius die Einräumung von Sondernutzungsrechten, Eigentum und Nutzung von öffentlichen Gütern, Tätigkeiten und Dienste aufgrund privater Verpflichtung (Vormundschaft, Pflegschaft), Besitztümer sowie Handelsmonopole im Namen des ganzen Reiches zugunsten der universalen Gemeinschaft. Als förderlich für die Vermehrung, Erweiterung und Erhaltung sieht Althusius das Eingehen von Bündnissen (Konföderationen)1311 sowie das Abhalten von umfassenden, allgemeinen Versammlungen (Versammlungen des Reichs / Komitien1312), wo über die Vermehrung, Erweiterung und Erhaltung beraten werden soll1313. b) Gemeinschaft der Werke Die Gemeinschaft der Werke ist eine Körperschaft, welche sich „der Betätigung der für ein soziales Leben und die Symbiose notwendigen und nützlichen Dienste und Arbeiten“1314 verschrieben hat. c) Gemeinwohlförderung durch die Ständeorganisation Althusius weist den Ständen Aufgaben zu, um das Gemeinwohl zu erreichen: Adelsstand, Bürger und Bauern (= weltlicher Stand) haben für das leibliche Wohl, den Lebensunterhalt, die Kleidung und alle sonstigen für die Lebens1309 1310 1311 1312 1313 1314
Vgl. Achterberg, N. (1988), S. 504 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 1 ff., S. 155 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 24 Abs. 3, S. 158. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 1 ff., S. 337 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 56, S. 162. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 28, S. 75.
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3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
führung wichtigen Angelegenheiten zu sorgen1315 und der Ritterstand muß die Verteidigung und die Einhaltung des Rechts gewährleisten. d) Monopolverbot Althusius spricht ein generelles Monopolverbot aus1316. Das Subsidiaritätsprinzip spielt vor allem auch im Zusammenhang mit der Verwaltung der Ökonomie der EU eine Rolle; weiterhin sind am Rande indirekte Verbindungen wie z. B. zur Chicagoer Schule mit der Ablehnung staatlicher Eingriffe in das Wirtschafts- und Sozialgeschehen sowie zur sog. Dreierformel, nach welcher staatliche Aktivitäten den Prinzipien der Sparsamkeit (was subsidiär ist, wenn die übergeordnete Ebene keine Ausgaben vornimmt), der Wirtschaftlichkeit und der Zweckmäßigkeit entsprechen müssen, vorhanden1317. Themen der ökonomischen Effizienzregelung innerhalb der europäischen Wirtschaftsverfassung unter den Stichworten Regulation, Deregulierung, Selbststeuerung des Marktes und Wettbewerb der Systeme wurden trotz des Zusammenhanges mit dem Subsidiaritätsgedanken nicht unter diesem Stichwort diskutiert1318. – Subsidiarität als Architekturprinzip
Eine allgemeine, gemeinsame Ordnung, welche sich nicht neu formt, sondern ewig existiert und immer wieder neu bestätigt, ist Voraussetzung für das Subsidiaritätsprinzip bei Althusius: Die Idee der „consensio“ innerhalb des „ius symbioticum“ ist die Basis dieser Ordnung1319. Das Subsidiaritätsprinzip zieht sich in der aus der Gesellschaft abgeleiteten Staatsordnung bei Althusius wesentlich stringenter durch die Ordnung der über- und untergeordneten Einheiten als dies in der EU der Fall ist, da bei Althusius eine konsequente Ordnung der ramistisch1320 gegliederten, politischen Ebenen mit jeweils weiter nach oben „durchgereichten“ Entscheidungsträgern die Ordnungsstruktur architektonisch bestimmt. Insofern kann gemäß seiner politischen Theorie kein Subsidiaritätsdefizit wie in der EU auftreten.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 45 f., S. 102. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 20 ff., S. 325 f. 1317 Vgl. Rothschild, K.W. (1994), S. 195. 1318 Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 377. 1319 Vgl. die Ausführungen bei Scattola, M. (2002), S. 357 f. 1320 Benannt nach der Vorgehensweise des reformierten Philosophen Petrus Ramus (bürgerlich Pierre de la Ramée), 1515 – 1571, (vgl. dazu Janssen, H. (1992), S. 35 f. sowie Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), S. XV f.), welcher von einer theoretischen hin zu einer praktischen Gliederungsweise als dialektische Logik des Definierens und dichotomischen Zergliederns ging und die drei Grundsätze Zweckbestimmung der Wissenschaft, Verwendung allgemeingültiger, universal-zeitloser Elemente und adäquate Problemzuordnung verwendet (vgl. dazu Hüglin, Th. (1991), S. 80 ff.). Vgl. zur ramistischen Methode auch Strom, Ch. (1999). 1315 1316
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
283
– Subsidiarität und Souveränität
Bei Althusius ist das Verhältnis zwischen Subsidiarität und Souveränität wie folgt zu sehen: Gemäß dem Konsoziationenaufbau von unten nach oben und dem ausschließlich per Mandatsvertrag dem Magistraten zugestandenem Herrschaftsrecht liegt die eigentliche Souveränität beim Volk, nicht zuletzt auch durch das Wiederstandsrecht. Nur die Ausführung des Souveränitätsrechtes liegt beim Magistraten. Betrachtet man nun das Verhältnis zwischen Subsidiarität und Souveränität in der EU, so stellt man den folgenden Sachverhalt fest: Die Souveränität liegt faktisch bei den „Herrschaftsorganen“ Kommission und Rat, da diese die Gesetze erlassen und ausführen. Das Parlament hat dabei zwar Mitentscheidungsrechte, unterliegt jedoch nicht einer so stringenten Volkssouveränität wie bei Althusius. Subsidiär ist jedoch, daß Verwaltungsakte gemäß dem Subsidiaritätsprinzip „nach unten“ gegeben werden und dort entschieden und umgesetzt werden. Die Souveränität ist stufenweise angeordnet. Auch sind die Ziele des Prinzips in der EU und bei Althusius grundsätzlich unterschiedlicher Natur, was in der Gesellschafts- und Staatskonstruktion begründet ist: – Ziel der EU: Unterbindung des Zentralisierungs- und Bürokratisierungsprozesses – demnach Wiederherstellung der Souveränität auf unterer Ebene1321 – sowie Beseitigung des Demokratiedefizits (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3 und Kapitel 3.2.6.2.7.2), – Ziel bei Althusius: Erreichung des Idealzustandes der „consociatio symbiotica“.
3.2.7.3.7 Das Solidaritätsprinzip: die EU und Althusius im Vergleich Eng verknüpft mit dem Subsidiaritätsprinzip ist das Solidaritätsprinzip; daher wurden auch in der katholischen Soziallehre Subsidiarität und Solidarität unter dem Oberbegriff „bonum commune“ (Gemeinwohl) zusammengefasst1322. Die Verknüpfung des Solidaritätsprinzips mit dem Subsidiaritätsprinzip erfolgt über die positive Komponente (Gebot)1323 des Subsidiaritätsprinzips mit der Hilfeverpflichtung und gesellschaftlichen Vorleistung1324 (vgl. Kapitel 3.2.7.3.2). Subsidiarität und Solidarität sind zum einen inhaltlich und zum anderen hinsichtlich der Zielrichtung zu unterscheiden1325: Während Subsidiarität den Handlungsvorrang der untergeordneten Einheiten (Dezentralisation) begünstigt, zielt Solidarität auf das Ziel der Kohäsion ab (Zentralisation). 1321 1322 1323 1324 1325
Vgl. Bruha, Th. (1994), S. 380. Vgl. Calliess, Ch. (2002), S. 372 f. und S. 396. Vgl. Calliess, Ch. (2002), S. 371. Vgl. Groser, M. (1998), S. 622. Vgl. Calliess, Ch. (2002), S. 396.
284
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU Tabelle 24 Subsidiarität in der EU und bei Althusius
Subsidiarität
EU
Althusius
Hauptausprägung des Prinzips
& ✓ , Administrationsprinzip sowie politisch-gesellschaftliches Kompetenzzuordnungsprinzip
✓ , Sozialprinzip mit regio& nalem und sozialem Ausgleich sowie rechtliches Kompetenzordnungsprinzip
Definitorische Begriffsinhalte
✓ &
& ✓ , ohne Sicherung kultureller, sprachlicher und ethnischer Vielfalt; Wettbewerb eingeschränkt
Zielführung
✓ , Dezentralisierung, Beseiti& gung Demokratiedefizit
& ✓ , Idealzustand der „consociatio symbiotica“
Verfassungsmäßigkeit
✓ , Präambel und § 5 Abs. 2 & ✓ , verfassungsmäßig & Maastrichter Vertrag subsidiäre Verankerung der 19921326; Teil I Titel III Herrschaftsmacht1328 Art. 9 Abs. 3 des Entwurfes eines Vertrags über eine Verfassung für Europa 20031327
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Solidarität ist gemäß Dudendefinition wie folgt zu übersetzen: Zusammengehörigkeitsgefühl, Übereinstimmung, gegenseitige Verpflichtung, gegenseitige Hilfe sowie Hilfs- und Opferbereitschaft1329. Insofern ist die Bedeutung des Solidaritätsprinzips bei Althusius in der Konstruktion der „consociatio symbiotica“ (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1) nieder gelegt und beschreibt genau deren Wesen: – Die Lebensgemeinschaften verpflichten sich untereinander zur wechselseitigen Teilhabe und allem, was zum Zusammenleben nützlich und notwendig ist1330. – Ziel des Zusammenlebens ist eine fromme, gerechte, angemessene und glückliche Lebensgemeinschaft1331. 1326 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 84. 1327 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 15. 1328 Vgl. Hüglin, Th. (1994), S. 113. 1329 Vgl. Der große Duden (1986), S. 443. 1330 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel I, § 2, S. 24. 1331 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel I, § 3, S. 24.
3.2 Elemente der politischen Theorie des Althusius in Beziehung zur EU
285
– „Die Symbioten sind also einander Helfende“1332. – Die Eintracht („concordia“) ist wichtige Voraussetzung für die Bildung politischer Gemeinschaften und bedeutet für Althusius „die von Natur gegebene Grundlage von politischen Gemeinschaften“1333.
Erstaunlich ist der direkte Vergleich der Dudendefinition des Begriffes Solidarität mit der Beschreibung des Wesens der „consociatio symbiotica“ mit den offensichtlichen Übereinstimmungen der Begrifflichkeiten: Die „consociatio symbiotica“ ist demnach definitionsgemäß eine Solidargemeinschaft. Das Solidaritätsprinzip ist somit eindeutig ein wesentliches und konstitutives Element der politischen Theorie des Althusius. In der EU findet sich das Solidaritätsprinzip insbesondere in folgenden Zusammenhängen1334: – die wirtschaftliche Integration des Binnenmarktes erforderte ein zentrales Regelungs- und Harmonisierungsbedürfnis auch in den die Wirtschaft flankierenden Politikbereichen (so z. B. in der Umweltpolitik, Sozialpolitik, Verbraucherschutz, Gesundheitspolitik) unter Beachtung des Solidaritätsprinzips, jedoch auf der Grundlage der Zuweisung von EU-Kompetenzen, – Niederlegung des Solidaritätsprinzips in Art. 2 EG-Vertrag: „Aufgabe der Gemeinschaft ist es, . . . die Solidarität zwischen den Mitgliedstaaten zu fördern“1335, – Niederlegung das Solidaritätsprinzips in Art. 1 Abs. 3 EUV: „Aufgabe der Union ist es, die Beziehungen zwischen den Mitgliedstaaten sowie zwischen ihren Völkern kohärent und solidarisch zu gestalten“1336, – in der Ausprägung des Solidaritätsprinzips in Art. 158 EGV1337 und Art 2 EUV1338 für wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalt (sog. Kohäsion) mit den Mitteln des Struktur- und des Kohäsionsfonds gemäß Art. 161 EGV1339, – in der Ausprägung des Solidaritätsprinzips in Art. 10 EGV in Zusammenhang mit der Konkretisierung durch den EuGH im Sinne der Durchführung geeigneter Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kapitel I, § 6, S. 25. Friedrich, C. J. (1975), S. 84. 1334 Vgl. die näheren Ausführungen bei Calliess, Ch. (2002), S. 379 ff. 1335 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 81. 1336 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 21. 1337 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 239. 1338 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 21. 1339 Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999b), Band 1, S. 240. 1332 1333
286
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
Maßnahmen für die Erfüllung der Verpflichtungen der EU (sog. Grundsatz der Gemeinschaftstreue), – indirektes Solidaritätsprinzips in Art. 220 EGV mit der Wahrung des Rechts (Rechtssetzung, Rechtsanwendung und Rechtschutz) durch den EuGH im gemeinsamen Interesse, – im „Schlachtprämien-Urteil“ des EuGH aus dem Jahre 1973, wo die Mitgliedstaaten zur Solidarität verpflichtet gesehen werden.
Insofern ist auch in der EU Solidarität ein wesentlicher Baustein der politischen Organisation. Ein wesentlicher Unterschied zwischen Althusius und der EU besteht jedoch in der Tatsache, daß die Solidarität in der politischen Theorie des Althusius primär gesellschaftlich auf der Ebene des Individuums seine Basis findet, welche sich dann erst durch die politischen Einheiten – welche der gesellschaftlichen unmittelbar folgen – weiter ziehen. In der EU dagegen ist das Solidaritätsprinzip ein politisches Prinzip; die Ausübung auf der Ebene des Individuums dagegen ist im Gegensatz zum Gesellschaftsvertrag des Althusius in der EU keine Verpflichtung.
3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius 3.3.1 Integrations- und Konstitutionsmodell Die Begriffsdefinition der Integration zielt auf zwei Elemente ab1340: In der Soziologie ist damit die Bildung und innere Stärkung der gesellschaftlichen Einheit definiert, während in Wirtschaft und Politik der Zusammenschluß mehrerer Wirtschaftsgebiete oder Länder zu übernationalen wirtschaftlichen oder politischen Einheiten gemeint ist. Dabei ist ein dynamischer Prozeß zugrunde zu legen (Zeitraummodell). Der Prozeß ist als Kontinuum ohne scharfe Grenzen zu verstehen, innerhalb dessen die Integration von lockeren Formen internationaler Organisationen bis über die Staatenbünde hin zum Bundesstaat statt finden kann1341. Teilgebiete der Integrationstheorie sind die föderalistische Theorie1342, der klassische Funktionalismus, die neofunktionalistische Theorie sowie das soziokausale Integrationsmodell1343. Ein konstitutives Modell dagegen bedeutet einen Zusammenschluß mehrerer Wirtschaftsgebiete oder Länder zu übernationalen wirtschaftlichen oder politischen Einheiten durch eine rechtsbegründende Wirkung von Rechtsakten wie z. B. eine Vgl. Herder Verlag (1988), S. 102. Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 381. 1342 Wobei Althusius als historischer Vater des Ansatzes gesehen wird; so z. B. bei Frei, D. (1985), S. 121. 1343 Auf die Integrationstheorie soll hier nicht näher eingegangen werden; Vgl. die Inhalte der Integrationstheorien bei Calliess, Ch. (2002), S. 390 und die dortigen Quellenangaben; vgl. zu den Ansätzen der Integrationstheorie auch Frei, D. (1985), S. 121 ff. 1340 1341
3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius
287
Verfassungsgebung. Im Gegensatz zum Integrationsmodell ist die Setzung des Rechtsaktes statisch (Zeitpunktmodell). Im Vergleich der politischen Modelle des Althusius mit dem der EU stellt sich die Frage, auf welchem Wege man zum bestmöglichen Ordnungsmodell für die EU kommen kann. Zusammen mit der Analyse der entscheidenden Aktionsschwerpunkte der bisherigen Integrationsbemühungen (vgl. Kapitel 2.2.1 und Kapitel 2.3.1) sowie dem zweigeteilten Inhalt des Integrationsbegriffes führt dies zu folgenden Thesen: – Soziologisch
Das gesellschaftliche Idealmodell der EU könnte auf Basis einer strukturierten Solidargemeinschaft, welche gleichzeitig die politische Basis bildet, entstehen. – Politisch und wirtschaftlich
Das politische Idealmodell der EU könnte ein Zentralstaat mit eigener Verfassung, direkter Demokratie und föderalistischer Struktur der eigenständigen Mitgliedstaaten sein. Um das Idealmodell zu erreichen stehen das Integrations- und das Konstitutionsmodell sowie Mischformen zur Verfügung.
3.3.2 Integrationsstufen Den Grad der Integration und somit die Annäherung an eine perfekte Integration zu messen, ist aufgrund des mit stufenlosen Integrationsprozessen verbundenen Zeitraummodells sehr schwierig. Insofern müssen verschiedene Kriterien gewichtet betrachtet werden, um den Grad der Integration anzugeben1344: – Wirkung der Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane (bloße Empfehlung oder verpflichtender Beschluß oder unmittelbar innerstaatliche Verbindlichkeit), – Zahl der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen, – Wichtigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen, – Dauerhaftigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen, – Durchsetzungsmöglichkeiten der Organisation für ihre Beschlüsse (abhängig vom Organisationsgrad oder dem Vorhandensein einer organisationseigenen Gerichtsbarkeit), – Grad der Selbständigkeit der Organisation gegenüber ihren Mitgliedern (Beschlüsse der Organisation durch Einstimmigkeit oder Mehrheit sowie Freistellung supranationaler Organe von Weisungen der Mitglieder), – Wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verflechtungen, 1344
Vgl. Zippelius, R. (1985), S. 381.
288
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Verteidigungspolitische Abhängigkeiten und Verflechtungen, – Kulturelle und weltanschauliche Zusammengehörigkeit, – Maß des nationalen Selbstbehauptungswillens der Mitglieder
sowie – Maß des nationalen Protektionismus1345
In der EU zeigten sich insbesondere ab 2005 Tendenzen der Mitgliedstaaten, welche durch protektionistische Maßnahmen die Integration und damit die fortschreitende Globalisierung hemmen. Dies zielt vor allem darauf ab, Unternehmensübernahmen in bestimmten Wirtschaftssektoren, insbesondere im Bankensektor, aus dem Ausland abzuschirmen und den Wettbewerb aus dem Ausland zu verringern. Weiterhin regt sich nationaler Widerstand gegen den von Brüssel gemachten Vorstoß zur Öffnung der Dienstleistungsmärkte mit der Begründung des Entstehens eines „Sozialdumpings“. Die protektionistischen Tendenzen sind in allen EU-Mitgliedstaaten zu spüren, besonders jedoch in Frankreich, Deutschland und Italien1346.
3.3.3 Integrationsmodelle der EU Im Folgenden soll nicht die Diskussion um die europäische Integration dargelegt werden1347, sondern vielmehr der direkte Vergleich zwischen den Integrationsmodellen der EU und dem bei Althusius gezogen werden. Für die EU werden vier Szenarien für die weitere Integration gesehen1348: – Superioritätssystem
Weitere Kompetenzverlagerungen hin zum Europäischen Parlament sowie zur Kommission würden zu einer höheren Entscheidungsverfügung und somit zu einer Zentralisierung zugunsten der EU führen. – Balancesystem
Den drei Hauptebenen EU-Mitgliedstaaten und Regionen würden wie bisher ein ausgeglichenes Verhältnis der Kompetenzen zukommen mit komplementärer Funktionen der Regionen innerhalb der Mitgliedstaaten. – Subsidiaritätssystem
Ein klar durchdekliniertes und ausdifferenziertes System der Kompetenzzuweisung der einzelnen Ebenen mit Verfassungsrang auf Basis des Subsidiaritätsprinzips könnte die Mehrebenenproblematik der EU auffangen. Ergänzung des Verfassers zu den vorangegangenen Punkten. Vgl. FTD (2005v), S. 1. 1347 Die Literatur dazu ist erschöpfend; vgl. z. B. die Quellenangaben bei Nitschke, P. (2002), S. 441 ff. 1348 Vgl. Nitschke, P. (2002), S. 440 f. 1345 1346
3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius
289
– Asymmetriesystem
Eine Fragmentierung und Segmentierung würde die Verfügungschancen der – jedoch unterschiedlich starken und somit gestaltungsrelevanten – Regionen erhöhen.
3.3.4 Das Althusius’sche Integrationsmodell im Vergleich zur EU Das Althusius’sche Integrationsmodell ist wie folgt zu beschreiben: – Verzahnungssystem
Da die Basis der Kompetenzträger auf unterster Ebene beim Volk als Individuum liegt und die Führung der jeweils untergeordneten Kollegien als Basis der nächsthöheren Ebene dient, ist ein direkter Zusammenhang der Kompetenzträger (vgl. Kapitel 3.2.5.1.2) im Bottom-up-Föderalismus (vgl. Kapitel 3.2.7.1.1.2) gegeben während in der EU die Kompetenzträger sowohl auf Mitgliedstaaten-, Regionen und EU-Ebene losgelöst voneinander sind und durch das Parteiensystem statt durch die Gesellschaft rekrutiert werden. Die Elemente der Integrationsszenarien der EU führen im Althusius’schen Modell – wobei zugegebenermaßen ein theoretisches mit einem praktischen Modell verglichen wird und theoretische Modelle mit den gesetzten Prämissen definitionsgemäß funktionsfähig sein müssen – wegen folgender Gründe nicht zu Problematiken wie in der EU: – Superiorität
Eine Superiorität mit Zentralisierung zugunsten des Zentralstaates ist definitionsgemäß bei Althusius durch die Identität von Gesellschaft und politischen Körper und damit der politischen Entscheidungen auf Basis der Volkssouveränität und nur mit Vertretungsmacht ausgestatteten Magistraten (vgl. Kapitel 3.2.3.1.2 sowie Kapitel 3.2.4.1.1) ausgeschlossen. – Balance
Den Ebenen kommt wegen des Verzahnungssystems ein ausgeglichenes Verhältnis der Kompetenzen mit den Elementen Repräsentation durch Versammlung, Repräsentation durch Magistraten, Institutionalisierung der Verfahren und Gleichstellung der Repräsentativbefugnisse zu (vgl. Kapitel 3.2.5.1.3). – Subsidiarität
Das System der Kompetenzzuweisung der einzelnen Ebenen (z. B. Kriegs- und Münzrecht auf Zentralstaatsebene) mit Verfassungsrang ist bei Althusius – was im Unterschied zu den wesentlich komplexeren EU-Strukturen im Spätmittelalter einfacher zu regeln war – genau geregelt (vgl. Kapitel 3.2.7.3.3).
290
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Asymmetrie
Eine Asymmetrie ist durch das Verzahnungssystem der Ebenen nahezu ausgeschlossen. Der direkte Vergleich der Kriterien zwischen der EU und Althusius veranschaulicht nachfolgende Tabelle: Tabelle 25 Integrationstheorieelemente in der EU und bei Althusius Integration
EU
Althusius
Integrationsmodelle
& ✓ , Föderalismus, Funktionalismus1349, soziokausale Integration
✓ , Föderalismus, Korpora& tismus (heute: Neo-Funktionalismus)
Superiorität
✓ &
& ✓
Balance
& ✓
& ✓
Subsidiarität
& ✓
& ✓
Asymmetrie
& ✓
& ✓
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Nachfolgend wird der gewagte1350 Versuch unternommen, mit Hilfe des ursprünglich betriebswirtschaftlichen Instrumentes der Nutzwertanalyse eine Bewertung des Grades der Integration des Althusius’schen Modells im Vergleich zu dem der EU vorzunehmen. Der Nutzwert ist definiert als „subjektiver, d. h. durch die Tauglichkeit zur Bedürfnisbefriedigung (den Nutzen) bestimmter Wert eines Gutes“1351. Die Nutzwertanalyse selbst ist ein geeignetes Instrument eines multiattributiven Rangfolgemodells und ein „Verfahren zur Alternativenbewertung, wobei Alternativen auch an solchen Bewertungskriterien gemessen werden, die nicht in Geldeinheiten ausdrückbar sind“1352. Zunächst werden die Kriterien mit Punkten auf der Skala von 1 (schlecht) bis 5 (gut) bewertet, um sodann über die gewichteten Kriterien den Nutzwert des jeweiligen Modells zu berechnen. Folgende Überlegungen führen zur Punktebewertung: – Wirkung der Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane: Sowohl bei Althusius als auch der EU liegen für die Mitglieder verbindliche Beschlüsse vor. 1349 Welcher v. a. in der Präambel der Römischen Verträgen mit der Spillover-Hypothese der Funktionalistischen Theorie zu finden ist, vgl. dazu Frei, D. (1985), S. 128. 1350 Welcher durch die aufgrund der qualitativen Bewertungskriterien sowie der immer subjektiven Einschätzung des Bewerters keinen Anspruch auf den objektiven und nachweisbaren Grad der Integration erhebt. 1351 Gablers Wirtschaftslexikon (1988), S. 639. 1352 Gablers Wirtschaftslexikon (1988), S. 639.
3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius
291
– Zahl der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen: Durch die Komplexität (sowohl aus der Historie heraus als auch aufgrund der Größe) sind innerhalb der EU wesentlich mehr Funktionen auf die Gemeinschaft übertragen als bei Althusius. Anzumerken ist hier jedoch, daß genau dies derzeit bei der EU kritisch betrachtet wird im Sinne einer Überregulierung und Zentralisierung. – Wichtigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen: Bei der Wichtigkeit der Funktionen liegt Althusius mit seinem klaren Fokus auf nur für die Gemeinschaft wichtigste Funktionen vorne in der Punktebewertung, während die EU im Rahmen der starken Bürokratisierung viele unwesentliche Funktionen auf sich gebündelt hat. – Dauerhaftigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen: Die Dauerhaftigkeit der übertragenen Funktionen dürfte bei der EU im Vergleich zu Althusius etwa gleich zu bewerten sein, da Ämter und Organe von dauerhaftem Bestand sind. – Durchsetzungsmöglichkeiten der Organisation für ihre Beschlüsse (abhängig vom Organisationsgrad oder dem Vorhandensein einer organisationseigenen Gerichtsbarkeit): Die Durchsetzungsmöglichkeiten erscheinen durch die rigidere Praxis der Durchführung von Maßnahmen im Spätmittelalter und die geringere Ahndungsmöglichkeit der härteren Durchsetzung bei Althusius schärfer. Weiterhin sind viele EU-Organe nur mit Empfehlungsbefugnissen (z. B. durch Gutachtenerstellung oder durch Stellungsnahmen) ausgestattet, so daß in Summe die Durchsetzungsmöglichkeiten bei Althusius höher zu bewerten sind. – Grad der Selbständigkeit der Organisation gegenüber ihren Mitgliedern: Die Beschlüsse der Gemeinschaft werden beiderseits bei Althusius und der EU durch Einstimmigkeit oder Mehrheit erreicht. Die Freistellung der Organe von Weisungen der Mitglieder ist (theoretisch) ebenfalls gleichverteilt gegeben. – Wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verflechtungen: Durch die Komplexität (sowohl aus der Historie heraus als auch aufgrund der Größe) sind innerhalb der EU wesentlich mehr wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verflechtungen vorhanden als bei Althusius. Die wirtschaftliche Verzahnung innerhalb der EU ist vollständig mit der WWU und der Binnenmarktregelungen gelungen. – Verteidigungspolitische Abhängigkeiten und Verflechtungen: Die außenpolitischen Verhältnisse und politischen Bündnisse sind heute in der EU genauestens vertraglich geregelt und mit den Mitgliedern der Gemeinschaft abgestimmt. Die Verhältnisse im Spätmittelalter sind im Vergleich dazu niedrig zu bewerten. – Kulturelle und weltanschauliche Zusammengehörigkeit: Die Defizite der kulturellen und weltanschaulichen Zusammengehörigkeit in der EU werden insbesondere in der Diskussion um den Beitritt der Türkei in die EU offen gelegt. Die Problematik liegt daher schon in der Größe der zu vergleichenden Gemeinschaften. Die EU ist als multinational, -religiös und -kulturell zu bewerten, während bei Althusius die Wertegemeinschaft der „consociatio symbiotica“ per Definition zusammengehörig ist.
292
3. Reflexion der politischen Theorie des Althusius auf die EU
– Maß des nationalen Selbstbehauptungswillens der Mitglieder: Der nationale Selbstbehauptungswille der europäischen Mitgliedsstaaten ist nicht zuletzt einer der Hauptgründe, weshalb die EU bisher keine gemeinsame Verfassung verabschiedet hat (vgl. Kapitel 4.2.1.6.1). Andererseits haben sich die Mitgliedstaaten relativ weit angenähert, was dieses Manko abfedert. Bei Althusius ist jedoch eine Selbstbehauptung von Gemeinschaftsmitgliedern schon durch die Konstruktion, daß jeweils ein Mitglied der unteren Hierarchie auch Mitglied der nächsthöheren ist („Insofern stellt die Althusius’sche Repräsentationslehre eine lineare Ansammlung von Repräsentationen der Repräsentationen dar . . . Repräsentation bei Althusius ist demnach keine formale Herrschaftsangelegenheit, sondern Ausdruck einer organisch-dynamischen Interessensvermittlung“1353) ausgeschlossen.
Das Ergebnis der Nutzwertanalyse zeigt für den Integrationsgrad einen minimalen Vorsprung der EU gegenüber dem System des Althusius, wobei die EU mit der fortgeschrittenen Verzahnung und Regelung von komplexen Wirtschafts- und Rechtsfunktionen punktet, während bei Althusius die – zugegebenermaßen theoretische – moralphilosophische Integration einer Wertegemeinschaft im Vordergrund steht:
1353
Nitschke, P. (1995), S. 166.
20,00 20,00 10,00 5,00 5,00
Durchsetzungsmöglichkeiten der Organisation für ihre Beschlüsse
Grad der Selbständigkeit der Organisation gegenüber ihren Mitgliedern
Wirtschaftliche Abhängigkeiten und Verflechtungen
Verteidigungspolitische Abhängigkeiten und Verflechtungen
Kulturelle und weltanschauliche Zusammengehörigkeit
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
100,00
10,00
Dauerhaftigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen
SUMME
5,00
Wichtigkeit der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen
10,00
5,00
Zahl der auf die Gemeinschaft übertragenen Funktionen
Maß des nationalen Selbstbehauptungswillen der Mitglieder
10,00
Wirkung der Entscheidungen der Gemeinschaftsorgane
Gewichtung %
29,00
3,00
2,00
4,00
5,00
2,00
3,00
2,00
1,00
4,00
3,00
EU
27,00
4,00
4,00
1,00
2,00
2,00
4,00
2,00
4,00
1,00
3,00
Althusius
Punktbewertung
Nutzwertanalyse für den Integrationsgrad in der EU und bei Althusius
Tabelle 26
2,85
0,30
0,10
0,20
0,50
0,40
0,60
0,20
0,05
0,20
0,30
EU
2,80
0,40
0,20
0,05
0,20
0,40
0,80
0,20
0,20
0,05
0,30
Althusius
Nutzwert 3.3 Integrationsmodelle der EU und des Althusius 293
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius 4.1 Systematik und Abgrenzung des Begriffes des politischen Systems Der dreidimensionale Begriff des politischen Systems besteht in der klassischen vergleichenden Regierungslehre und daraus folgend der vergleichenden politischen Systemanalyse aus folgenden Komponenten1: – Politische Institutionen (Strukturen) und Kräfte, – Politische Prozesse, – Inhalte politischer Entscheidungen.
Das politische System ist definiert als „die Gesamtheit jener staatlichen und außerstaatlichen Einrichtungen und Akteure, Regeln und Verfahren, die innerhalb eines i. d. R. noch nationalstaatlich, aber zunehmend supranational verflochtenen abgegrenzten Handlungsrahmens an fortlaufenden Prozessen der Formulierung und Lösung politischer Probleme sowie der allgemein verbindlichen Durchsetzung politischer Entscheidungen beteiligt sind“2. Vom Begriff des Staates unterscheidet sich der des politischen Systems durch die abstraktere Kategorie des Staates, dessen andere konstituierende Bedingungen wie z. B. das Staatsgebiet, die Staatsbürger etc., die langfristige Zeitdauer des Staates und dessen umfassendere Fragenstellungen hinsichtlich Staatsziel, -funktion, Eigentums- und Produktionsverhältnisse, gesellschaftliches System usw. beschreiben3. Der politische Systembegriff ist weiterhin abzugrenzen vom Begriff der Verfassung, da bei der Verfassung die formell normierten, auf Dauer angelegten, institutionellen Einrichtungen und verfahrensmäßigen Regelungen für die politischen Prozesse zwar bedeutsam sind, diese jedoch nicht vollständig erfasst und strukturiert werden und zudem nicht wie bei der Verfassung auf das juristisch-normative abzielen, sondern auf das empirisch-tatsächliche 4. Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 732 und Lehmbruch, G. (1971), S. 128. Holtmann, E. (Hrsg.) (2000), S. 546 f., wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 3 Vgl. Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 732. 4 Vgl. Lehmbruch, G. (1971), S. 126 und Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 732. 1 2
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
295
Im Vergleich zum Begriff des Regierungssystems als institutionalisierte Ordnung des Staates umfaßt das politische System nicht nur die institutionellen Einrichtungen, sondern auch die Struktur und Entwicklung des gesellschaftlichen Umfeldes und die Wirkungszusammenhänge innerhalb der institutionellen Einrichtungen im Sinne eines Institutionengefüges sowie zwischen den institutionellen Einrichtungen und dem gesellschaftlichem Umfeld als bewegende Glieder der politischen Prozesse innerhalb eines Input-Output-Systems5. Im Folgenden wird auf das politische System im Sinne der Gesamtheit von interdependenten Institutionen sowie auf die politischen Prozesse eingegrenzt sowie auf die Funktionen und Aufgaben der Organe abgestellt und auf diese begrenzt. Dabei wird die deskriptive Erfassung der institutionellen Kategorien dem behavioristischen Ansatz vorgezogen.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte Zu den politischen Institutionen und Kräften zählen insbesondere die Staatsorgane, die Parteien innerhalb der EU und analog dazu die Konsoziationen bei Althusius. In diesem Kapitel wird noch die Verfassung als Institution betrachtet und analysiert. Die soziale und politische Gesellschaft ist ebenfalls politische Kraft6 – welche jedoch in den vorherigen Kapiteln ausführlich behandelt wurde (vgl. Kapitel 2.3.4 und Kapitel 3.2.1.1) – wie die öffentliche Meinung7, welche jedoch hier nicht Gegenstand der Betrachtung sein soll. Die Staatsorgane haben institutionalisierte Funktionsbereiche, zu welchen Ämter, Amtsträger und Behörden mit deren staatlicher Funktionsverteilung und Zentralisierung zu klassifizieren sind8. Wichtige Elemente bei der Analyse der Staatsorgane sind die Übertragung öffentlicher Ämter, die Kompetenzzuweisung sowie die Willensbildung in den Institutionen9. Nachfolgend werden die politischen Kräfte der EU mit denen der politischen Theorie des Althusius vergleichend analysiert.
5 Vgl. Lehmbruch, G. (1971), S. 126 f. und Nohlen, D. / Schultze, R.-O. (Hrsg.) (2002), S. 732. 6 Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 197 ff. sowie S. 241 ff. 7 Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 254 ff. 8 Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 92 ff. 9 Vgl. die näheren Ausführungen bei Zippelius, R. (1985), S. 97 ff.
296
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
4.2.1 Politische Institutionen und Kräfte der EU Um das Funktionieren eines Staates zu garantieren, legt dessen Verfassung fest, welche staatlichen Organe mit welchen Aufgaben ausgestattet sind. Die EU ist zwar weder Staat – sondern Staatenverbund – noch hat sie eine gültige Verfassung, besitzt aber dennoch eigene Organe und Institutionen. Sie hat eine eigene Gesetzgebung, ein eigenes Parlament und unterhält diplomatische Beziehungen mit 166 Staaten10. Die Struktur der EU unterscheidet sich schon durch die Institutionen und die Art und Weise des Zustandekommens von Beschlüssen wesentlich von der anderer internationaler Organisationen und Zusammenschlüsse. Die Mitgliedstaaten haben zum einen bestimmte Hoheitsrechte der EU übertragen und zum anderen bestimmte Bereiche der Gemeinschaftspolitik, welche Vorrang vor der nationalen Politik hat11. Die wichtigsten Institutionen sind in folgendem Organigramm zusammenzufassen12: Europäischer Rat 15 Regierungschefs
Vorschläge
Kommission Exekutive
Ministerrat Oberhaus der Legislative
Entscheidungen
Anfragen, Kontrollen, Vertrauens- & Mißtrauensvotum
Wirtschafts- + Sozialausschuß
Ausschuß der Regionen
Beratung
Beratung
Europäischer Gerichtshof Judikative
Europ. Rechnungshof Ausgabenkontrolle
Europäisches Parlament Unterhaus der Legislative
Quelle: Vgl. Thiel E. (2001), S. 67.
Abbildung 6: Institutionen der EU
10 11 12
Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 25. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 68. Vgl. Thiel, E. (2001), Abb. S. 67.
Haushaltsbeschlüsse, Anhörung, Mitentscheidung
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
297
4.2.1.1 Legislative Die Legislative der EU besteht aus drei Teilbereichen: – Europäischer Rat, – Ministerrat und – Europäisches Parlament
mit den nachfolgend beschriebenen Zusammensetzungen, Amtszeiten und Funktionen. – Europäischer Rat als Oberhaus der Legislative auf höchster Ebene
a) Zusammensetzung und Sitzungen Der Europäische Rat entstand aus den seit 1974 geführten gemeinsamen Sitzungen der Staats- und Regierungschefs der EG und wurde 1987 in der EEA vertraglich fixiert13. Er besteht aus den Staats- und Regierungschefs aller Mitgliedstaaten sowie aus dem Präsidenten der Kommission. „Der Europäische Rat ist also gewissermaßen ein Ministerrat auf höchster Ebene, der „PremierministerRat“: Die wichtigste politische Instanz in der Union“14. Den Vorsitz des Europäischen Rates – die Ratspräsidentschaft – hat jeweils für ein halbes Jahr immer ein anderer Mitgliedsstaat inne, die Reihenfolge wird vom Ministerrat festgelegt. Die Ratspräsidentschaft legt die Termine der etwa 100 offiziellen und informellen Ministertreffen, der wöchentlichen Sitzungen des Ausschusses der Ständigen Vertreter und der etwa 1500 Sitzungen der Ratsarbeitsgruppen fest, ist für die GASP zuständig, vertritt die EU nach außen, ist Ansprechpartner für Drittstaaten und stellt zu Beginn der Ratspräsidentschaft dem Europäischen Rat und dem Europäischen Parlament sein Programm vor15. b) Amtszeit Der Europäische Rat hat keine bestimmte Amtszeit. c) Funktionen und Aufgaben Der Europäische Rat fällt die Grundsatzentscheidungen und legt die allgemeinen politischen Zielvorstellungen für die EU fest16. Er hat die entscheidende Initiativfunktion für wesentliche Meilensteine in der Entwicklung der EU17: – April 1978 Kopenhagen: Festsetzung der ersten direkten Wahl des Europäischen Parlaments für Juni 1979, – Dezember 1985 Luxemburg: Änderung der Gründungsverträge durch Freigabe der Grenzen für den europäischen Binnenmarkt, 13 14 15 16 17
Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 10. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 46 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 50. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 69 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 46. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 48 f.
298
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– Juni 1988 Hannover: Formulierung der WWU in drei Stufen, – Juni 1993: Definition der Beitrittskriterien für die EU-Erweiterung („Kopenhagen-Kriterien“), – Juni 1997 Amsterdam: Für das Europäische Parlament wird das Verfahren der parlamentarischen Mitentscheidung gesetzlich geregelt, – März 1999 Berlin: Billigung der „Agenda 2000“ mit den Regelungen für die EU-Finanzierung bis 2006, – Dezember 2000 Nizza: Reform der Zusammensetzung und Arbeitsweise der europäischen Institutionen, – Dezember 2001 Laeken: Signalisierung der EU-Erweiterung 2004 und Einberufung des Europäischen Konvents. Weiterhin legt der Europäische Rat die allgemeinen Leitlinien für die EU-Politik fest, welche für den Ministerrat bei seinen Entscheidungen verbindlich sind. Wird im Ministerrat keine Einigung in bestimmten Fragen erzielt, so entscheidet der Europäische Rat (Schiedsorganfunktion18). Der Europäische Rat tritt mindestens einmal, meist jedoch zweimal pro Halbjahr in einem regulären und einem Sondertreffen zusammen, an welchen auch die Außenminister der Mitgliedstaaten und ein Mitglied der Kommission teilnehmen19. Über die Treffen wird ein Bericht erstellt, welcher an das Europäische Parlament übergeben wird20. Bis 2002 fanden die Treffen in dem Land statt, welches die Präsidentschaft inne hatte, seit 2002 finden diese in Brüssel statt21. – Ministerrat (Rat der Europäischen Union) als Oberhaus der Legislative
a) Zusammensetzung und Sitzungen Der Ministerrat besteht aus den Ministern der Mitgliedstaaten. Er kann in 16 verschiedenen Kombinationen zusammen treten, da er sich in verschiedene Räte unterteilt wie z. B. der Rat „Allgemeine Angelegenheiten“ (Außenminister). Bei Entscheidungen der Fachbereiche wird der Name des jeweiligen Ministeriums angehängt wie z. B. Rat Landwirtschaft, Rat Wirtschaft, Rat Finanzen („ECOFIN“) usw.22. Den Vorsitz des Ministerrates hat der Minister desjenigen Mitgliedstaates, welcher zu dieser Zeit die sechsmonatige Präsidentschaft hat23. Die Räte mit den umfangreichsten Aufgaben – Allgemeiner Rat, ECOFIN-Rat und Landwirtschafts-Rat – tagen in der Regel einmal pro Monat, die anderen Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 10. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 46. 20 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 38 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 47. 21 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 47. 22 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 41 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 35. 23 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 9 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 9. 18 19
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
299
Räte je nach Bedarf etwa zwei- bis viermal im Jahr24. Die Ministerratstagungen erfolgen zu mehr als 25 verschiedenen Sachbereichen25. Ein besonderes, nicht beschlußfähiges Gremium ist die sog. „Euro-Gruppe“ als informelle, gesonderte Treffen der ECOFIN-Minister mit dem Ziel der Gewährleistung der Stabilität des Euro; die Ergebnisse der Treffen werden umgehend allen Ministern zugeleitet26. b) Amtszeit Der Ministerrat hat keine bestimmte Amtszeit. c) Funktionen und Aufgaben Der Ministerrat ist ein wichtiges Organ der EU mit Entscheidungsbefugnis, wobei er die Entscheidungsbefugnis nicht nach Belieben ausüben kann, sondern seine Zuständigkeit sowie das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments zu beachten hat27. Der Ministerrat fasst seine Beschlüsse entweder einstimmig (z. B. bei GASP, bei der politischen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen ZJI, bei der Asyl- und Einwanderungspolitik, bei Fragen des wirtschaftlichen und sozialen Zusammenhalts, bei der Steuerpolitik u. a.), mit qualifizierter Mehrheit (z. B. bei Fragen der Vollendung des Binnenmarktes u. a.) oder mit einfacher Mehrheit (bei Verfahrensfragen)28 gemäß § 205 EGV29. Der Ministerrat hat folgende Stimmengewichtung für die Beschlußfassung inne, wobei sich die Stimmenzahl an den Bevölkerungszahlen orientieren30: Die Vorbereitung der Beschlüsse des Ministerrates wird durch den Ausschuß der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten (AStV31) vorbereitet; der AStV wird dabei durch Ausschüsse aus Fachbeamten der nationalen Ministerien unterstützt. Dem Generalsekretariat des Ministerrates obliegt sodann die Vorbereitung und Durchführung der Beschlüsse32. 24 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 41 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 9. 25 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 9. 26 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 36. 27 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 32. 28 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 74, Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 9, Presseund Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 32 f. sowie Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 10. 29 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 10. 30 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 44 f., Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 10 f. sowie Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 34 f. 31 Die Mitgliedstaaten unterhalten in Brüssel Ständige Vertretungen, welchen die Ständigen Vertreter, in der Regel Diplomaten im Botschafterrang, vorstehen. Die Ständigen Vertreter bilden den AStV, welcher wöchentlich zusammen tritt; vgl. zum AStV die Ausführungen bei Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 11 sowie bei Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 36. 32 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 72 und Fontaine, P. (1988), S. 10.
300
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius Tabelle 27 Stimmengewichtung für die Beschlußfassung in der EU
Land
Stimmen ab 1.1. 2005
Deutschland
29
Frankreich
29
Großbritannien
29
Italien
29
Spanien
27
Niederlande
13
Belgien
12
Griechenland
12
Portugal
12
Österreich
10
Schweden
10
Dänemark
7
Irland
7
Finnland
7
Luxemburg
4
Polen
27
Tschechien
12
Ungarn
12
Slowakei
7
Litauen
7
Lettland
4
Slowenien
4
Estland
4
Zypern
4
Malta
4
Stimmen ab Beitritt
Rumänien
14
Bulgarien
10
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
301
Der Ministerrat hat folgende Funktionen: – Schließen von internationalen Übereinkünften zwischen der EU und anderen Staaten oder Organisationen, welche zuvor von der Kommission ausgehandelt wurden33, – Zuständigkeit für Politikbereiche, welche bisher noch nicht zum Aufgabenbereich der EU gehören wie z. B. Außenpolitik, Sicherheits- und Verteidigungspolitik, Zusammenarbeit von Polizei und Justiz bei Strafsachen34, – Teilung der Gesetzgebungs- und Haushaltsbefugnis der EU mit dem Europäischen Parlament35: Beschluß aller wesentlichen Rechtsakte wie Verordnungen, Richtlinien, Beschlüsse36, nachdem die Europäische Kommission durch ihr Initiativrecht entsprechende Entwürfe von Verordnungen und Richtlinien vorgelegt hat37, – fordern Ministerrat und Europäisches Parlament die Kommission auf, Gesetzesentwürfe zu bestimmten Aufgaben vorzulegen, so muß dem die Kommission nachkommen38, – wichtigstes Entscheidungsorgan für GASP sowie bei der politischen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen39, – setzen der politischen Ziele der EU40, – Koordination der nationalen Politiken41, – Konfliktregelung für die Organe und andere Institutionen42. Nachfolgende Abbildung (siehe S. 302) zeigt die Struktur der Teilorgane des Ministerrates43. Der Ministerratsvorsitz liegt bei der jeweiligen Ratspräsidentschaft und hat folgende Funktionen: – Vorbereitung und Leitung aller Tagungen des Ministerrates44, 33 34 35 36 37 38 39 40
Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 42 und Fontaine, P. (1988), S. 9. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 42. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 9. Vgl. Fontaine, P. (1988), S. 9. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40. Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40. Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 9. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 9. 41
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 9. 42
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 9. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 10 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 37. 43 44
302
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– Ausarbeitung von Kompromissen und pragmatischen Lösungen für dem Ministerrat unterbreitete Probleme45, – Sicherung der Kohärenz und der Kontinuität der Entscheidungen46, – besondere Koordinierungsaufgaben47, – Ergreifen der Initiative für neue Vorhaben48, – Vermittlung zwischen Organen, um Angelegenheiten voran zu bringen49, – oft Funktion des „Sprechers der EU“ auf internationaler Ebene50.
Ministerrat Oberhaus der Legislative
Zentrales Beschlußorgan der EU besteht aus Ministern der Mitgliedstaaten in wechselnder fachlicher Zusammensetzung je nach dem Gegenstand der Beratungen
Ratspräsidentschaft wechselnd halbjährlich zwischen den EUMitgliedstaaten
AStV Ausschuß der Ständigen Vertreter der Mitgliedstaaten
Generalsekretariat (Brüssel)
Quelle: Vgl. Thiel E. (2001), S. 73.
Abbildung 7: Teilorgane des Ministerrates
– Europäisches Parlament
a) Zusammensetzung und Sitzungen Als Vertretungsorgan der Bürger der Mitgliedstaaten ist das Europäische Parlament in parteipolitische, jedoch übernationale Fraktionen51 unterteilt und umfaßt gemäß dem Vertrag von Nizza auch im Hinblick auf die EU-Erweiterung maximal 732 Abgeordnete52, während im Vertrag von Amsterdam noch 700 Ab45 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 10. 46 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 10. 47 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73. 48 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73. 49 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73. 50 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 73. 51 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 28 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 36. 52 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 7 f.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
303
geordnete vorgesehen waren53. Bis 2004 bestand es aus 626 Abgeordneten54. Das Europäische Parlament wird vom Präsidium, welches aus einem Präsidenten und 14 Vizepräsidenten besteht, geleitet55. Seit Juni 2004 besteht es aus 732 Abgeordneten, welche 457 Millionen EU-Bürger repräsentieren; die Sitze sind im Verhältnis zur Bevölkerung der einzelnen Mitgliedstaaten verteilt, wobei die Höchstzahl 99 und die Mindestzahl 5 Sitze beträgt56. Die Anzahl der Sitze je Land beträgt57: 1999 – 2004
2004 – 2007
2007 – 2009
Belgien
25
24
24
Bulgarien
–
–
18
Zypern
–
6
6
Tschechische Republik
–
24
24
Dänemark
16
14
14
Deutschland
99
99
99
Griechenland
25
24
24
Spanien
64
54
54
Estland
–
6
6
Frankreich
87
78
78
Ungarn
–
24
24
Irland
15
13
13
Italien
87
78
78
Lettland
–
9
9
Litauen
–
13
13
Luxemburg
6
6
6
Malta
–
5
5
Niederlande
31
27
27
Österreich
21
18
18
Polen
–
54
54
Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 11 und Thiel, E. (2001), S. 85. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 5, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 28 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 35 ff. 55 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7. 56 Vgl. http: // www.europarl.eu.int / parliament. 57 Vgl. http: // www.europa.eu.int / institutions / parliament / index_de.htm. 53 54
304
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Fortsetzung Zusammensetzung Europäisches Parlament 1999 – 2004
2004 – 2007
2007 – 2009
Portugal
25
24
24
Rumänien
–
–
36
Slowakei
–
14
14
Slowenien
–
7
7
Finnland
16
14
14
Schweden
22
19
19
Vereinigtes Königreich
87
78
78
INSGESAMT (MAX.)
626
732
786
Die Plenarsitzungen des Europäischen Parlaments finden normalerweise in Straßburg, die der 20 parlamentarischen Ausschüsse und der Fraktionen vorwiegend in Brüssel statt58. Die Sitzungen sind öffentlich; über sie werden regelmäßig Berichte erstellt und der Öffentlichkeit zugänglich gemacht59. b) Amtszeit und Sitz Das Europäische Parlament wird auf fünf Jahre direkt von den Bürgern gewählt60. Zuletzt wurde im Juni 2004 gewählt61. Der Sitz ist in Straßburg / Luxemburg62. Der Sitz des Generalsekretariats mit 3500 Beschäftigten ist ebenfalls in Luxemburg63. Das Präsidium wird auf zweieinhalb Jahre gewählt64. c) Funktionen und Aufgaben Das Europäische Parlament hat folgende Funktionen und Aufgaben – Gesetzgebungsbefugnisse Das Europäische Parlament kann Gesetzesentwürfe ändern, verabschieden, sie zu Fall bringen oder deren Ausarbeitung verlangen65. Im Anhörungsverfahren 58 59
Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 11. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 8. 60 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 5 und Fontaine, P. (1998), S. 11. 61 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 28. 62 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 5, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 30 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 39. 63 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 30 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 39. 64 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 39. 65 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 31.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
305
(vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) nimmt das Europäische Parlament zu von der Kommission vorgeschlagenen Rechtsakten Stellung, bevor diese vom Rat verabschiedet werden können66. Im Kooperationsverfahren (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) hat das Europäische Parlament die Möglichkeit der Änderung von vorgeschlagenen Rechtsakten67. Im Mitentscheidungsverfahren (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) besteht eine Gleichverteilung der Entscheidungsbefugnis auf das Europäische Parlament und den Rat68. Bei internationalen Vereinbarungen und Verträgen wie z. B. Beitritten von neuen Mitgliedstaaten, Assoziierungsabkommen, GASP-Fragen oder Aufgabenzuweisung für die Europäische Zentralbank ist die Zustimmung des Europäischen Parlaments ebenfalls erforderlich69. – Haushaltsbefugnisse Das Europäische Parlament stellt jährlich den Haushaltsplan der EU fest und hat die Befugnis, diesen abzulehnen70. Der Ausschuß für Haushaltskontrolle kontrolliert ständig die Ausgaben und überwacht die zweckmäßige Verwendung der Mittel71. – Kontrolle der Exekutive Das Europäische Parlament übt ständig die politische Kontrolle über die gesamte Tätigkeit der EU aus. Bei der Kommission hat es eine wichtige Rolle hinsichtlich der Ernennung des Präsidenten und der Kommissionsmitglieder, es kontrolliert die Kommission, kann mündliche und schriftliche Anfragen an diese stellen und sie per Mißtrauensvotum (vgl. Kapitel 3.2.1.3.2) zum Rücktritt zwingen72. Der Ratspräsident hat dem Europäischen Parlament sein Programm vorzustellen und Bilanz über seine Tätigkeit zu ziehen; die Ratsmitglieder nehmen an den Plenartagungen, den Fragestunden und wichtigen Debatten des Europäischen Parlaments teil73. 66 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6 und die Ausführungen bei Borchardt, K.-D. (1999), S. 73 ff. 67 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6 und die Ausführungen bei Borchardt, K.-D. (1999), S. 73 ff. 68 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6, Fontaine, P. (1998), S. 11 und die Ausführungen bei Borchardt, K.-D. (1999), S. 73 ff. 69 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6, Fontaine, P. (1998), S. 11, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 27 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 33 f. 70 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 6, Fontaine, P. (1998), S. 12, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 31. 71 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7, Fontaine, P. (1998), S. 12, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 26 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 31. 72 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7, Fontaine, P. (1998), S. 12, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 27 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 32.
306
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Als „schärfste Waffe“ der Kontrolle gilt die Einsetzung von Untersuchungsausschüssen für die Wahrnehmung seiner Kontrollpflichten74. Die EZB muß dem Europäischen Parlament einen Rechenschaftsbericht vorlegen75. – Impulsgebung Eine wichtige Aufgabe des Europäischen Parlaments ist, der EU neue politische Impulse zu verleihen sowie die Weiterentwicklung und Neugestaltung von Politiken maßgeblich zu beeinflussen76.
4.2.1.2 Exekutive Die Exekutive der EU besteht im Gegensatz zur Legislative nur aus dem Teilbereich der Europäischen Kommission mit den nachfolgend beschriebenen Zusammensetzungen, Amtszeit und Funktionen. Die Europäische Kommission geht hervor aus den mit Inkrafttreten des Fusionsvertrages am 01. 07. 1967 ehemals eigenständigen Organen der Hohen Behörde des EGKS, der Kommission der EWG und der Kommission der Euratom77. – Europäische Kommission als Exekutive mit Legislativinitiativfunktion
a) Zusammensetzung und Sitzungen Jeder Mitgliedstaat der EU entsendet Kommissare für die Europäische Kommission. Die Kommissare waren i. d. R. vorher Abgeordnete des Europäischen Parlaments, nationaler Parlamente oder auch Minister bzw. Ministerialbeamte 78. Die Kommission gliederte sich 1999 in 24 Generaldirektionen und etwa 15 Sonderdienste; sie hat etwa 16.000 Bedienstete79; in 2002 waren es bereits 36 Generaldirektionen und 21.750 Bedienstete80. Die Kommission hatte 2002 Vertretungen in allen Mitgliedstaaten der EU sowie Delegationen in 161 Ländern und Organisationen (davon 128 Botschaften)81. Die Zusammensetzung und Berufung der Kommissare änderte sich mit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza in 2001. Vor Inkrafttreten hatte die Europäische 73 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 7 und Fontaine, P. (1998), S. 12. 74 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 33. 75 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 33. 76 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 12. 77 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 13. 78 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 14. 79 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13 und S. 14. 80 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 56. 81 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 56.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
307
Kommission 20 Mitglieder für die EU-1582, je Mitgliedstaat eines und für die großen Mitgliedstaaten Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Italien und Spanien je zwei. Weiterhin wurden die Kommissare durch die Regierungen der Mitgliedstaaten mit einstimmiger Zustimmung des Europäischen Parlamentes und Zustimmung des Präsidenten der Kommission berufen. Dabei unterlag die Benennung der Kommissare der zweifachen Zustimmung des Europäischen Parlaments, da nach der Benennung der Kommissare durch die Regierungen der Mitgliedstaaten im Einvernehmen mit dem Präsidenten sich nochmals das gesamte Kollegium einem Zustimmungsvotum des Europäischen Parlaments zu stellen hatte83. Nach Inkrafttreten des Vertrages von Nizza kann jeder Mitgliedstaat nur noch einen Kommissar stellen; die Zahl der Kommissare wird sich über die Mitgliedstaatenzahl (und wegen der EU-Erweiterung) über die Zahl von 20 hinaus erhöhen. Die Kandidatennominierung und -ernennung wird sodann durch einen qualifizierten Mehrheitsbeschluß des Europäischen Rates erfolgen84; die Zahl der Mitglieder des Kollegiums muß dabei unter 27 liegen und das Kollegium wird zum Zwecke der Gleichbehandlung aller Mitgliedstaaten bei mehr als 27 Mitgliedstaaten in einem Rotationssystem besetzt85. Die Kommission wird vom Präsidenten geleitet, welcher durch die Regierungen der Mitgliedstaaten mit einstimmiger Zustimmung des Europäischen Parlaments benannt wird86. Der Präsident ist zugleich auch immer Mitglied des Europäischen Rates87. Seit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza entscheidet der Präsident über die Ressortverteilung, hat die Möglichkeit der Neuverteilung der Zuständigkeiten während der Amtszeit und kann mit Zustimmung des Kollegiums einen Kommissar zum Rücktritt auffordern88. Die Kommission hält wöchentliche Sitzungen als Kollegium, um Vorschläge anzunehmen, politische Dokumente auszuarbeiten und Debatten zu führen89. b) Amtszeit Bis zum Vertrag von Maastricht betrug die Amtszeit der Kommission vier Jahre90. Derzeit beträgt die offizielle Amtszeit der Kommission fünf Jahre und
Die EU mit zu dieser Zeit 15 Mitgliedstaaten. Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 13. 84 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42 und Thiel, E. (2001), S. 78. 85 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 14. 86 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42. 87 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 55. 88 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 14. 89 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 14 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 54. 90 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 78. 82 83
308
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
ist damit an die Wahlperiode des Europäischen Parlaments angepasst91. Im Falle des Ausspruches eines Mißtrauens des Europäischen Parlaments gegenüber der Kommission könnte sich diese jedoch im Falle des Rücktrittes verkürzen92. Auf Antrag des Ministerrates oder der Kommission kann jeder Kommissar seines Amtes durch den EuGH enthoben werden, wenn er die Vorraussetzungen nicht mehr erfüllt oder Verfehlungen begangen hat93. c) Funktionen und Aufgaben Die Kommission hat folgende Funktionen: – Gesetzesentwürfe Die Europäische Kommission hat das Initiativrecht für Entwürfe von Verordnungen und Richtlinien; die Entscheidung darüber liegt jedoch beim Ministerrat und beim Europäischen Parlament94. Fordern der Ministerrat und das Europäische Parlament die Kommission auf, Gesetzesentwürfe zu bestimmten Aufgaben vorzulegen, so muß dem die Kommission nachkommen95. Das alleinige Initiativrecht hat die Kommission nur im traditionellen Gemeinschaftsbereich der ersten Säule, während sie sich im Bereich der zweiten und dritten Säule (vgl. Kapitel 2.3.3)96 das Initiativrecht mit den Mitgliedstaaten teilt97. Die Kommission hat beim Initiativrecht eine sehr starke Stellung inne, da der Ministerrat die Vorschläge mit nur qualifizierter Mehrheit annehmen kann, für die Ablehnung jedoch einen einstimmigen Beschluß benötigt98. Bei der Ausarbeitung von Vorschlägen für Rechtsvorschriften ist die Kommission drei Grundsätzen verpflichtet99: Wahrung des europäischen Interesses, Anhörung der betroffenen Kreise sowie Subsidiaritätsprinzip (vgl. zum Subsidiaritätsprinzip Kapitel 3.2.7.3).
91 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 55. 92 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 42. 93 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 55. 94 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40, Thiel, E. (2001), S. 76 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 51. 95 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40 sowie Thiel, E. (2001), S. 76 96 Die erste Säule bilden die Verträge der EGKS, der EG und der EAG; die zweite und dritte Säule bilden die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik GASP sowie die Zusammenarbeit der Polizei und der Justizbehörden in Strafsachen ZJI; vgl. dazu auch Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 59. 97 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 77 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 15. 98 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 77. 99 Vgl. dazu die näheren Ausführungen in: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 15.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
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– „Hüterin der Verträge“100 Eine Exekutivfunktion der Kommission ist die Überwachungspflicht für die Einhaltung der EU-Verträge und des Rechts101. Die Kommission erhält Kenntnis von Verstößen durch eigene Überwachung, auf Antrag einer Regierung oder durch Beschwerde von Unternehmen und Bürgern. Wird ein Verstoß fest gestellt, so muß die Kommission einschreiten, wird zur Stellungnahme auffordern, Fristen zur Abhilfe setzen, Bußgelder verhängen und notfalls beim EuGH Klage erheben102. – Exekutivorgan Die Kommission hat die Aufgabe, die geltenden Verordnungen in die Praxis umzusetzen. Dazu kann sie – sofern der Ministerrat das Recht dazu übertragen hat und es sich nicht selbst vorbehält – Durchführungsvorschriften erlassen103. Richtlinien der EU dagegen werden von den Parlamenten der Mitgliedstaaten in nationales Recht umgesetzt104. Die Kommission überwacht weiterhin das ordnungsgemäße Funktionieren des Binnenmarktes105. Die Exekutivbefugnisse reichen von Schutzmaßnahmen für die EU vor Dumping durch Drittländer, Einhaltung der Wettbewerbsregeln, Fusionsgenehmigung bis zur Genehmigung von Unternehmensübernahmen106. Die Kommission ist außerdem zuständig für die Durchführung von Aktionsund Rahmenprogrammen in den Bereichen Bildung, Forschung und Kultur107. – Politikkonzipierung Die Kommission ist mit der Konzipierung und gleichzeitig Durchführung der Gemeinsamen Agrarpolitik, der Politik für die regionale Entwicklung, der Zusammenarbeit mit den Ländern Afrikas, des karibischen Raumes und des Pazifischen Ozeans sowie der Programme für Forschung und technologische Entwicklung betraut108. 100 Während die Mitgliedstaaten wegen ihres alleinigen Rechtes der Änderung der Verträge als „Herren der Verträge“ bezeichnet werden; vgl. dazu Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 53. 101 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13. 102 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40, Thiel, E. (2001), S. 77, Fontaine, P. (1998), S. 13, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 15 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 53. 103 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 52. 104 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 40. 105 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13. 106 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 16. 107 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 52.
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– Haushaltsentwurf Der Vorentwurf des Haushalts der EU wird durch die Kommission aufgestellt. Im Nachgang wirkt sie bei den Beratungen bis hin zur Verabschiedung des Haushaltes mit109. – Haushaltsmittelverwaltung und -auskehrung Die Kommission verwaltet fast alle Finanzmittel der EU und sichert die sachgerechte sowie zweckbestimmte Ausgabenverwendung gemäß den Verträgen sowie den Beschlüssen. Dazu zählen die Mittel für das Finanzinstrument für die Ausrichtung der Fischerei FIAF sowie des Europäischen Ausrichtungsund Garantiefonds für die Landwirtschaft EAGFL, welche erhebliche Anteile des Haushaltes umfassen. Auch die Europäischen Fonds wie den Europäischen Sozialfonds ESF, den Europäischen Fonds für regionale Entwicklung EFRE, den Europäischen Entwicklungsfonds EEF sowie den Kohäsionsfonds zugunsten der ärmeren Mitgliedstaaten verwaltet die Kommission110. – Vermittlungsaufgabe Im Verfahren der Mitentscheidung (vgl. Kapitel 3.2.6.2.8.4) können Rechtsakte nur noch mit der Zustimmung des Europäischen Parlaments verabschiedet werden. Die Kommission hat in diesem Entscheidungsprozeß eine Stellung als Vermittler zwischen den unterschiedlichen Positionen in Ministerrat und Parlament inne111. – „Antriebsfunktion“ Der Europäischen Kommission wird durch die zugewiesenen Aufgaben eine zentrale Rolle innerhalb der EU zugesprochen („Kernstück Europas“). „Von ihr beziehen die übrigen Organe einen wesentlichen Teil ihres Antriebs und ihrer Ziele“112. Sie gibt oft den entscheidenden Anstoß für die weitere Integration der EU, so wie auch die Einführung des Binnenmarktes 1993 oder die WWU113 und ist „Motor des gesetzgeberischen Prozesses“114 – Vertretungsfunktion gemäß vom Ministerrat erteilter Ermächtigung Die EU wird im Bereich der gemeinsamen Handelspolitik durch die Kommission auf internationaler Ebene vertreten. Weiterhin führt die Kommission die 108
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 13. 109 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 41 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 52. 110 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 41 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 52. 111 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 76. 112 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13. 113 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 13. 114 Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 13.
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Verhandlungen mit der Welthandelsorganisation WTO und schließt Handelsverträge mit Drittländern, so z. B. auch das Lomé-Abkommen115. Die Kommission ist auch in die Zusammenarbeit der Regierungen in der Außen- und Sicherheitspolitik einbezogen116. Bei der Durchführung ihrer Aufgaben ist die Kommission im Gegensatz zum Ministerrat und dem Europäischen Rat allein dem Wohl der EU als Ganzes statt dem Interesse der Mitgliedstaaten verpflichtet und hat dabei eine von den Regierungen unabhängige Stellung gemäß Art. 213 EGV117. Sie ist weitgehend unabhängig und unterliegt keinerlei Weisungen eines Mitgliedstaates; sie ist dem Europäischen Parlament gegenüber verantwortlich, welches per Mißtrauensantrag den Rücktritt der Kommission veranlassen kann (demokratische Kontrolle)118.
4.2.1.3 Judikative Die Judikative der EU besteht aus dem Europäischen Gerichtshof mit den nachfolgend beschriebenen Zusammensetzungen, Amtszeit und Funktionen. Der Europäische Gerichtshof wurde 1957 als Rechtssprechungsorgan der Europäischen Gemeinschaften gegründet. Er hat seinen Sitz in Luxemburg. Der Europäische Gerichtshof besteht aus sechs Kammern mit je drei bis sieben Richtern119. Seit 1989 wurde zusätzlich ein Gericht erster Instanz als weiteres Organ hinzu genommen, welches bestimmte, vom EuGH übertragene Kompetenzen wahrnimmt. Seit dem Vertrag von Nizza soll die Verteilung zwischen Europäischem Gerichtshof und Gericht erster Instanz wegen der Überlastung des Europäischen Gerichtshofes besser erfolgen. Weiterhin sollen besondere Kammern, welche mit bestimmten Rechtsgebieten betraut werden, die Gerichte entlasten 120. – Europäischer Gerichtshof als Judikative
a) Zusammensetzung und Sitzungen Dem Europäischen Gerichtshof gehören so viele Richter wie Mitgliedstaaten an und acht Generalanwälte121. Die Vollsitzung, an welcher alle Richter teilnehmen, wird mit dem Vertrag von Nizza durch eine aus 13 Richtern bestehende Kammer abgelöst122. 115 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 78, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 16, Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 53 und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 13. 116 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 53. 117 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 75 f. und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 54. 118 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 13, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 14 und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 14. 119 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 120 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 15. 121 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91 und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 15.
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
b) Amtszeit Die Richter und Generalanwälte werden von den Regierungen der Mitgliedstaaten auf sechs Jahre ernannt123. c) Funktionen und Aufgaben Der Europäische Gerichtshof hat folgende Funktionen: – Wahrung des Gemeinschaftsrechts als Zentralaufgabe 124, – Verhandlung von Nichtigkeitsklagen gegen unrechtmäßige Handlungen von EU-Organen125, – Vorabentscheidungen über Auslegung oder Gültigkeit von Gemeinschaftsrecht auf Vorlage nationaler Gerichte126, – Schadensersatzklagen gegen Organe der Europäischen Union oder deren Bedienstete127, – Vertragsverletzungsklagen der Europäischen Kommission gegen einen Mitgliedstaat der Europäischen Union128, – Vertragsverletzungsklagen eines Mitgliedstaates gegen einen anderen129, – Untätigkeitsklagen gegen das Europäische Parlament, die Europäische Kommission oder den Ministerrat130, – Klagen von Unternehmen gegen Beschlüsse der Organe z. B. im Bereich des Wettbewerbsrechts131. 4.2.1.4 Sonstige Organe und Institutionen 4.2.1.4.1 Finanzorgane und -institutionen – Europäischer Rechnungshof EuRH a) Zusammensetzung und Sitz Der Europäische Rechnungshof wurde 1975 als unabhängiges Instrument eingerichtet und ist seit 1993 vollwertiges EU-Organ132. Dem Europäischen RechVgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 15. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 124 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 125 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 126 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 127 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 128 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 129 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 130 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 91. 131 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 92. 132 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46 und Thiel, E. (2001), S. 92. 122 123
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nungshof gehört seit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza pro Mitgliedstaat je ein Mitglied an133. Der Sitz ist in Luxemburg134. b) Amtszeit Die Mitglieder werden vom Ministerrat nach Anhörung des Europäischen Parlaments auf sechs Jahre ernannt, wobei die Amtszeit verlängert werden kann135. Seit dem Vertrag von Nizza ist dazu statt der einstimmigen die qualifizierte Mehrheit des Ministerrates nötig136. c) Funktionen und Aufgaben Die Mitglieder des Rechnungshofes sind völlig unabhängig und dürfen während ihrer Amtszeit keine anderen entgeltlichen oder unentgeltlichen Berufstätigkeiten ausführen137. Der Rechnungshof prüft, ob die Einnahmen und Ausgaben der EU auf Rechtsakte der EU zurück zu führen sind und somit rechtmäßig sind sowie über die Übereinstimmung der Ausgaben mit den Zahlungsermächtigungen ordnungsgemäß sind. Weiterhin prüft er die Wirtschaftlichkeit der Haushaltsführung sowie die Angemessenheit der Gegenleistungen für EU-Ausgaben und kontrolliert die Verwendung von EU-Geldern, welche Drittstaaten zur Verfügung gestellt werden138. Die Ergebnisse der Arbeit werden dem Europäischen Parlament und dem Ministerrat in einem jährlichen Bericht vorgelegt, welcher im Amtsblatt der EU veröffentlicht wird139. Weiterhin veröffentlicht der Rechnungshof die Ergebnisse seiner Arbeit in Sonderberichten, nimmt zu Anfragen der EU-Organe hinsichtlich Fragen zur Haushaltsführung Stellung, muß für den Erlaß von Rechtsakten betreffend die Haushaltsordnung oder die Eigenmittel angehört werden und stellt dem Europäischen Parlament eine Erklärung über die Zuverlässigkeit der Rechnungsführung sowie Rechtmäßigkeit und Ordnungsmäßigkeit der zugrunde liegenden Vorgänge aus140. Der Rechnungshof kann zur Durchsetzung seiner Befugnisse seit Inkrafttreten des Vertrages von Amsterdam den Europäischen Gerichtshof anrufen141. Jede Stelle der EU, welche über Zugriff auf EU-Mittel verfügt, unterliegt zum einen der Kontrolle des EuroVgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 60. 135 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46 und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 16. 136 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 16. 137 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 60. 138 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 20 und Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 60. 139 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 46 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 20. 140 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 20 und Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 61. 141 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14. 133 134
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päischen Rechnungshofes und zum anderen der Informationspflicht gegenüber dem Europäischen Rechnungshof142; der Rechnungshof führt dazu auch unterjährige Vor-Ort-Prüfungen durch143. – Europäisches System der Zentralbanken ESZB
Mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages 1993 – welcher die rechtliche Grundlage für die WWU ist – ist auch der Anhang zum Maastrichter Vertrag mit der Satzung des ESZB und der EZB wirksam144. a) Zusammensetzung und Sitz Das ESZB besteht aus der EZB und den nationalen Zentralbanken der einzelnen EU-Mitgliedstaaten. Eine Sonderstellung nehmen diejenigen Mitgliedstaaten ein, welche (noch) nicht an der WWU teilnehmen, da diese die nationale Geldpolitik weiterführen und in den Entscheidungsprozessen der Euro-Geldpolitik nicht involviert sind. Das ESZB wird von den Beschlußorganen der EZB – dem EZB-Rat, dem Direktorium und dem Erweiterten Rat – geleitet145. Das ESZB sitzt in Frankfurt / Main146. b) Amtszeit Das ESZB ist eine laufende und unbegrenzte Einrichtung. c) Funktionen und Aufgaben Das ESZB ist ein unabhängiges, nicht weisungsgebundenes System147. Das ESZB legt die Geldpolitik der EU mit dem vorrangigen Ziel der Preisstabilität148 fest und führt diese aus, führt Devisengeschäfte durch, hält die Währungsreserven der Mitgliedstaaten und verwaltet diese; weiterhin fördert es das reibungslose Funktionieren der Zahlungssysteme, unterstützt bei den Maßnahmen der Behörden im Bereich der Aufsicht über die Kreditinstitute und der Stabilität des Finanzsystems z. B. auch durch Interventionen und berät die EU und die Mitgliedstaaten bei der Gesetzgebung. Die zur Umsetzung der Aufgaben notwendigen Daten und Informationen holt sich das ESZB von den nationalen Behörden oder direkt von den Wirtschaftssubjekten 142
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 19. 143
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 20. 144
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 22. 145 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 22 und Thiel, E. (2001), S. 139. 146 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 21. 147 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 23 und Thiel, E. (2001), S. 141. 148 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 141.
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ein149. Jede Kreditgewährung des ESZB an staatliche Stellen ist wegen der Inflationsgefahr verboten150. – Europäische Zentralbank EZB
Der Vorgänger der EZB war das Europäische Währungsinstitut EWI, welches zu Beginn der zweiten Stufe151 der WWU eingerichtet wurde, Aufgaben zur Vorbereitung des ESZB übertragen bekam und mit Einrichtung der EZB liquidiert wurde152. a) Zusammensetzung und Sitz Die EZB besteht aus den Beschlußorganen EZB-Rat (bestehend aus den Mitgliedern des Direktoriums der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der EU-Mitgliedstaaten), Direktorium (bestehend aus Präsident, Vizepräsident und vier weiteren Mitgliedern aus anerkannten und erfahrenen Personen in Währungs- und Bankfragen) und Erweiterter Rat (bestehend aus dem Präsidenten, dem Vizepräsidenten der EZB und den Präsidenten der nationalen Zentralbanken der EU-Mitgliedstaaten) 153. Die EZB sitzt in Frankfurt / Main154. b) Amtszeit Die EZB ist eine laufende und unbegrenzte Einrichtung. Das EZB-Direktorium wird von den Regierungen der Mitgliedstaaten für eine Amtszeit von acht Jahren ohne eine Möglichkeit der Wiederernennung ernannt155. c) Funktionen und Aufgaben Die EZB ist dem grundsätzlichen Ziel der Preisstabilität verpflichtet; sie ist auch weisungsungebunden und unabhängig und darf keine Kredite an Regierungen zur Staatsfinanzierung vergeben156. 149
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 22. Vgl. Thiel, E. (2001), S. 142. Die Stufe eins begann 1990 mit der Liberalisierung des Kapitalverkehrs im Binnenmarkt, die zweite Stufe der WWU begann 1994 als Übergangsphase zur WWU, die dritte Stufe begann 1999 mit der Euro-Einführung; vgl. dazu Fontaine, P. (1998), S. 28 ff. sowie Thiel, E. (2001), S. 137. 152 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 22. 153 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 22 f. 154 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 21. 155 Vgl. Thiel, E. (2001), S. 139 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 23. 156 Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 23. 150 151
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Der EZB-Rat erläßt Leitlinien und trifft Entscheidungen zur Erfüllung der Aufgaben des ESZB. Er legt die Geldpolitik der EU fest, fällt Entscheidungen hinsichtlich der geldpolitischen Zwischenziele, der Leitzinssätze sowie der Bereitstellung von Zentralbankgeld im ESZB157. Das Direktorium führt nach den Leitlinien und Entscheidungen des EZB-Rates die Geldpolitik aus, erteilt Weisungen an die nationalen Zentralbanken und nimmt die ihr vom EZB-Rat übertragenen Befugnisse wahr158. Der Erweiterte Rat erfüllt die vom EWI übernommenen Aufgaben für die dritte Stufe der WWU, hat die Beratungsfunktion des ESZB inne, erstellt vierteljährliche und jährliche Berichte sowie den wöchentlichen konsolidierten Ausweis des ESZB; weiterhin legt er die Beschäftigungsbedingungen des EZB-Personals fest und leistet die Vorarbeiten für die Wechselkursfestlegung der Währungen der EU-Mitgliedstaaten, für welche eine Ausnahmeregelung gilt159. – Europäische Investitionsbank EIB
a) Zusammensetzung und Sitz Die EIB ist die Finanzierungsinstitution der EU160. Organ der EIB ist der Rat der Gouverneure, welcher aus je einem Minister pro Mitgliedstaat besteht161. Die EIB beschafft sich als Bank ihre Mittel aufgrund ihres AAA-Ratings162 zinsgünstig auf den Kapitalmärkten und gibt diese an ihre Darlehensnehmer weiter163. Die EIB sitzt in Luxemburg164. b) Amtszeit Die EIB ist eine laufende und unbegrenzte Einrichtung. 157
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 23. 158
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 23. 159
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 23. 160
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 25. Vgl. Europäisches Parlament (Hrsg.) (2002), S. 29. Rating (englisch Beurteilung, Einschätzung, Klasse, Kategorie) bezeichnet allgemein das Verfahren für die Einschätzung von Personen, Gegenständen oder Unternehmen. Im Bankbereich: Einschätzung der Zahlungsfähigkeit eines Schuldners. Dabei werden Ratingcodes verwendet. Die Einordnung erfolgt mit eigenen Kriterien der Bank, oder wird von international tätigen Ratingagentur, wie Moody’s, Standard & Poor’s oder Fitch vorgenommen. Dabei steht AAA (sprich: triple-A) für eine hohe Bonität und C oder gar D für eine sehr schlechte. Die einzelnen Kategoriebezeichnungen unterscheiden sich von Agentur zu Agentur. So verwendet Moody’s Zahlen als Zusatz, z. B. A1, A2, A3; während bei Standard & Poor’s das „+“ und “-“ Zeichen angehangen werden, z. B. B+, B, B-. 163 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 27. 164 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 25. 161 162
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c) Funktionen und Aufgaben Die EIB finanziert mit ihren Darlehen Investitionsvorhaben in der EU, welche den Zielen Entwicklung der schwächeren Regionen, Ausbau der Verkehrs-, Telekommunikations- und Energieübertragungsnetze, Verbesserung der Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und deren Integration, Unterstützung kleiner und mittlerer Unternehmen, Umweltschutz, Lebensqualitätssicherung, Strukturverbesserung städtischer Gebiete, Bewahrung architektonischen Erbes, Sicherung der Energieversorgung sowie Ausbau und Modernisierung von Infrastruktureinrichtungen für Bildung, Gesundheit und Stadterneuerung dienen165. Die EIB finanziert auch Darlehen in der Zusammenarbeit zwischen EU und Drittländern166. 4.2.1.4.2 Ausschüsse – Wirtschafts- und Sozialausschuß WSA
Der Wirtschafts- und Sozialausschuß wurde mit dem Vertrag von Rom 1958 gegründet167. Der Wirtschafts- und Sozialausschuß besteht aus 222 Mitgliedern und berät den Ministerrat sowie die Kommission in Fragen der EG und Euratom168. Er kann auch vom Europäischen Parlament gehört werden169. Die maximale Mitgliederzahl darf 350 nicht überschreiten170. Die 222 Mitglieder vertreten die Interessengruppen des wirtschaftlichen und sozialen Lebens wie z. B. der Erzeuger, der Landwirte, der Arbeitnehmer, Kaufleute, Handwerker etc. (Art. 257 EGV)171 und sind in drei annähernd gleich große Gruppen – Gruppe 1: Arbeitgeber, Gruppe 2: Arbeitnehmer und Gruppe 3: verschiedene Interessen – und diese wiederum in neun Fachgruppen aufgeteilt172. Der Wirtschaftsund Sozialausschuß hat beratende Funktion, muß bzw. kann (je nach Rechtsvorschrift) bei bestimmten Beschlüssen angehört werden und kann jedoch auch aus Eigeninitiative Stellungnahmen abgeben173. Die Mitglieder werden vom Ministerrat einstimmig – seit Inkrafttreten des Vertrages von Nizza mit quali165
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 25. 166 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 26 f. 167 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 28. 168 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14. 169 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47. 170 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 17. 171 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47. 172 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 28 f. 173 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14, Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 17, Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 28.
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fizierter Mehrheit – auf vier Jahre ernannt und arbeiten nebenberuflich im WSA174. Der Arbeitsort ist Brüssel, wo die monatlichen Plenartagungen statt finden175. Der WSA ist die Beobachtungsstelle für die Entwicklung des Binnenmarktes, um Fehlentwicklungen zu analysieren, wozu das sog. „Binnenmarktforum“ installiert wurde und ist weiterhin Informationsstelle für die Bürgergesellschaft176. – Ausschuß der Regionen AdR Der Ausschuß der Regionen wurde mit Inkrafttreten des Maastrichter Vertrages geschaffen und ist jüngstes Organ der EU. Er besteht aus 222 Vertretern der regionalen und kommunalen Körperschaften und ebenso vielen Stellvertretern177, welche in sieben Fachkommissionen unterteilt sind178. Mit dieser Besetzung v. a. aus Bürgermeistern, Landräten und Ministerpräsidenten soll dem Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3) entsprochen und dem bürgerfernen Zentralismus entgegengewirkt werden179. Die maximale Mitgliederzahl darf 350 nicht überschreiten180. Die Mitglieder werden auf Vorschlag der Mitgliedstaaten vom Ministerrat auf vier Jahre ernannt181. Der Ausschuß der Regionen hat beratende Funktion und muß vom Ministerrat und der Kommission für die im Maastrichter Vertrag genannten Fälle angehört werden, kann jedoch auch aus Eigeninitiative Stellungnahmen abgeben182. Er kann auch vom Europäischen Parlament gehört werden183. Der Arbeitsort ist Brüssel, wo fünf Plenarsitzungen pro Jahr statt finden184. – Wirtschafts- und Finanzausschuß185. – Beratender Ausschuß (EGKS)186. 174 175
Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 47. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 28. 176
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a),
S. 29. 177 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. .14, Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 18 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 48. 178 Vgl. dazu die näheren Ausführungen in: Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 31. 179 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 30. 180 Vgl. Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 17 und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 48. 181 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14. 182 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 14 und Europäische Kommission (Hrsg.) (2001b), S. 18. 183 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 48. 184 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 30. 185 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 24. 186 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 24.
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4.2.1.4.3 Der Konvent Eines der finalen Ziele der EU ist eine gemeinsame Verfassung (vgl. Kapitel 2.3.1 und 2.3.2 sowie Kapitel 4.2.1.6). Auf dem Weg dorthin stand jedoch zunächst eine Modernisierung und Neuordnung der EU als Zwischenziel, zu dessen Zweck der Konvent zur Zukunft Europas gebildet – er wurde vom Europäischen Rat auf seiner Tagung am 14. / 15. 12. 2001 in Laeken / Belgien einberufen187 und trat erstmals am 28. 02. 2002 unter der Leitung des ehemaligen französischen Staatspräsidenten Valerie Giscard d’Estaing zusammen188 – wurde und welcher zunächst die Regierungskonferenz 2004 vorbereitet hat189. Der Konvent sollte eine neue Methode der Zukunftsgestaltung Europas darstellen, da bisher die Verträge von Rom (1957), Maastricht (1992), Amsterdam (1997) und Nizza (2000) durch die Staats- und Regierungschefs verhandelt wurden und nunmehr unter Einbeziehung von Europa-Abgeordneten und der Öffentlichkeit eine neue Dimension erhalten sollten190. Der Konvent setzte sich wie folgt zusammen191: Der Europäische Rat hat Herrn Valéry Giscard d’Estaing zum Vorsitzenden des Konvents und Herrn Giuliano Amato sowie Herrn Jean Luc Dehaene zu stellvertretenden Vorsitzenden ernannt. Dem Konvent gehören die wichtigsten Parteien für die Debatte über die Zukunft der Union an. Neben seinem Vorsitzenden und seinen beiden stellvertretenden Vorsitzenden umfaßt der Konvent 15 Vertreter der Staatsund Regierungschefs der Mitgliedstaaten (1 pro Mitgliedstaat), 13 Vertreter der Staats- und Regierungschefs der beitrittswilligen Länder (1 pro Bewerberland), 30 Vertreter der nationalen Parlamente der Mitgliedstaaten (2 pro Mitgliedstaat), 26 Vertreter der nationalen Parlamente der beitrittswilligen Länder (2 pro Bewerberland), 16 Vertreter aus den Reihen der Mitglieder des Europäischen Parlaments sowie 2 Vertreter der Europäischen Kommission. Jedes Mitglied des Konvents hat einen Stellvertreter. Der Wirtschafts- und Sozialausschuß (drei Vertreter), der Ausschuß der Regionen (sechs Vertreter), die Sozialpartner (drei Vertreter) und der europäische Bürgerbeauftragte sind als Beobachter eingeladen. Nach der Erklärung von Laeken werden die Bewerberländer in vollem Umfang an den Beratungen beteiligt, ohne freilich einen Konsens, der sich zwischen den Mitgliedstaaten abzeichnet, verhindern zu können. Sitz des Konvents ist Brüssel192.
187 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 8. 188 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 14. 189 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 5. 190 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 6. 191 Vgl. http: // european-convention.eu.int. 192 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 14.
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Der Konvent hatte folgenden Auftrag193: – Das Anliegen, den Bürgern das europäische Projekt und die Organe näher zu bringen. – Die Strukturierung des politischen Lebens und des europäischen politischen Raumes. – Erhebung der EU zu einem Stabilitätsfaktor und einem Vorbild der neuen Weltordnung.
Der Konvent gab folgende Empfehlungen194: – Bessere Aufteilung der Zuständigkeiten der EU und der Mitgliedstaaten, – Zusammenfassung von EU-Verträgen, – Ausstattung der EU mit einer Rechtspersönlichkeit, – Vereinfachte Handlungsinstrumente für die EU, – Maßnahmen für mehr Demokratie, Transparenz und Effizienz: Stärkere Mitwirkung der Parlamente an der Legitimierung des europäischen Projektes sowie Vereinfachung der Entscheidungsprozesse und Verbesserung der Funktionsweise der Organe, – Verbesserung der Struktur der Organe, – Stärkung der Rolle der drei Organe unter Berücksichtung der EU-Erweiterung.
Der Konvent hat dazu den Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa ausgearbeitet195. Der Europäische Konvent hat seine Arbeit am 10. 07. 2003 abgeschlossen.
4.2.1.4.4 Der Europäische Bürgerbeauftragte Um das Recht auf Beschwerde für jeden EU-Bürger zu gewährleisten, wurde der Europäische Bürgerbeauftragte seit 1995 institutionalisiert (Art. 195 EUV). Er wird vom Europäischen Parlament für die Dauer seiner Wahlperiode gewählt196. Die Aufgabe des Europäischen Bürgerbeauftragten ist die Untersuchung von Unzulänglichkeiten und Mißständen wie Unregelmäßigkeiten, Unfairneß, Diskrimi193 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort. 194 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), Vorwort. 195 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003) und Maull, H. W. / Kirt, R. (2003). 196 Vgl. Fontaine, P. (1998), S. 40, Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 32 ff. und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 31.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
321
nierung, Machtmißbrauch, Fehlen oder Verweigern von Informationen und unnötige Verzögerung. Sodann wird er Untersuchungen einleiten, gütliche Lösungen suchen, gegenüber der betreffenden Stelle Empfehlungen aussprechen und Berichte für das Europäische Parlament verfassen197. Der Bürgerbeauftragte hat dazu das Recht, von den EU-Institutionen Auskünfte einzuholen sowie Unterlagen anzufordern und sich Beweismittel aushändigen zu lassen198. Der Bürgerbeauftragte ist völlig unabhängig199. 4.2.1.4.5 Geistliche Organe und Institutionen Geistliche Organe und Institutionen der EU werden deshalb hier außen vor gelassen, der Vollständigkeit halber jedoch erwähnt, da diese keinen unmittelbaren Einfluß200 auf das politische System der EU haben.
4.2.1.5 Parteien Die Geschichte der Parteien in Deutschland und Europa zeigt, daß diese ab Ende des 18. Jahrhunderts aus Interessensverbänden hervor gingen; aus dieser Zeit stammen die ersten Abhandlungen über das Wesen der Parteien201. Mitte des 19. Jahrhunderts wurden die Fraktion als Anzahl eng verbundener Personen mit unerlaubtem selbstischem Zwecke von der Zusammenscharung aufgrund des Wunsches vieler Bürger ohne eine Organisation bis hin zur staatlichen Partei als Gesamtheit derjenigen, welche der Staatsgewalt eine bestimmte Richtung geben, unterschieden202. Die Parteien hatten unterschiedlichste Ziele wie z. B. in Deutschland „Die Burschenschaft“ (1815 – 1832) als politische Organisation von Studenten an deutschen Universitäten mit dem Ziel der Schaffung eines einheitlichen Nationalstaates mit bürgerlichen Rechten203 oder die Deutschen Jakobiner (um 1890) als revolutionäre bürgerliche Demokraten, welche der fortschrittlichen Intelligenz und dem Klein197 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (1999a), S. 32 ff. und Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 31. 198 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 31. 199 Vgl. Presse- und Informationsamt der Bundesregierung (2001), S. 31. 200 Wohl aber einen mittelbaren z. B. über medien- und öffentlichkeitswirksame Ansprachen des Papstes zu politischen Themen oder über soziopolitische Einflüsse der kirchlichen Institutionen hinsichtlich der Lehre von einer kirchlichen Gemeinschaft, welche ähnliche Grundsätze hat wie die politische Gemeinschaft (Nächstenliebe etc.). 201 So z. B. der Aufsatz von David Hume „Über Parteien im allgemeinen“ aus dem Jahre 1741 / 1742; vgl. Ziebura, G. (1969), S. 3 ff. 202 Vgl. Mohl, von R. (1859), S. 11 f. sowie als Auszug in Stöss, R. (Hrsg.) (1983), S. 24. 203 Vgl. Fricke, D. / Fritsch, W. / Gottwald, H. / Schmidt, S. / Weißbecker (Hrsg.) (1983), Band 1, S. 383.
322
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
bürgertum entstammten und die feudalen Verhältnisse in Deutschland zugunsten einer bürgerlich-demokratischen Ordnung beseitigen wollten204. Auch die Deutsche Fortschrittspartei (1861 – 1884) entwickelte sich als politische Vertretung der Mehrheit der preußischen Bourgeoisie und eines Großteil des Bürgertums, jedoch mit einer antidemokratischen und antisozialistischen Grundhaltung205. Der mittlere und kleine Adel dagegen wurde politisch in seinen Interessen vertreten durch die interkonfessionelle und antipartikularistische Deutsche Adelsgenossenschaft (1874 – 1945), mit dem Ziel, den Adel und die Gesellschaft ständisch und den Staat autoritär zu erneuen206. Selbst der Demokratische Turnerbund und Deutsche Turnerbund (1848 – 1868) als ursprünglich geschlossene Organisation für Körperkultur hatte die politische Zielsetzung von 1811 zur Befreiung von der Fremdherrschaft und Schaffung der Einheit Deutschlands207. Politische Parteien sind als politische Institutionen zu betrachten. Parteien sind wie folgt definiert208: „Organisierte, nicht nur kurzfristige Vereinigungen einer größeren Anzahl von Personen zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele. Jede politische Partei ist ein Kampfverband; sie will ihren politischen Willen zu dem im Staate geltenden machen . . . Eine politische Gruppe ist nur dann echte politische Partei, wenn sie ihre Aufgabe nicht in der Vertretung von Gruppeninteressen sieht, sondern eine politische Gesamtauffassung entwickelt, die das Beste für alle Staatsbürger schafft.“ Oder die nach wie vor bedeutsame Parteidefinition von Sigmund Neumann: „Partei ergreifen, heißt immer, sich zu einer bestimmten Gruppe zu bekennen und von einer anderen distanzieren . . . Darum bedeutet jede Partei ihrem Wesen nach Absonderung und Teil der Gesamtheit . . . sie findet sich zusammen in der Übereinstimmung bestimmter Zwecke und Ziele . . . Für die Politik . . . gewinnen Gruppierungen erst Sinn und Bedeutung, wenn sie in den Kampf um die bewußte Beeinflussung der politischen Spitze aktiv eintreten“209. In den einzelnen Mitgliedstaaten haben sich jeweils unterschiedliche Parteienlandschaften gebildet. Die Analyse der einzelnen Parteien wurde hinreichend publiziert und soll hier nicht näher behandelt sein210. Sie sind als Regierungs204 Vgl. Fricke, D. / Fritsch, W. / Gottwald, H. / Schmidt, S. / Weißbecker (Hrsg.) (1983), Band 1, S. 719. 205 Vgl. Fricke, D. / Fritsch, W. / Gottwald, H. / Schmidt, S. / Weißbecker (Hrsg.) (1983), Band 1, S. 623. 206 Vgl. Fricke, D. / Fritsch, W. / Gottwald, H. / Schmidt, S. / Weißbecker (Hrsg.) (1983), Band 1, S. 530. 207 Vgl. Fricke, D. / Fritsch, W. / Gottwald, H. / Schmidt, S. / Weißbecker (Hrsg.) (1983), Band 1, S. 484. 208 Herder Lexikon (1988), S. 165 f., wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 209 Zitiert aus: Stöss, R. (Hrsg.) (1983), S. 25. 210 Vgl. z. B. Binsenbach, G. / Schäfer, M. / Schnieder, F. (1993 / 1998).
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
323
oder Oppositionspartei maßgeblich an der Führung der Mitgliedstaaten beteiligt oder zumindest – wenn sie nicht Regierungs- oder Oppositionspartei ist – am politischen Willensbildungsprozeß beteiligt und daher als Institutionen zu betrachten. 4.2.1.6 Verfassung Eines der finalen Ziele der EU ist die politische Union mit einer gemeinsamen Verfassung (vgl. auch Kapitel 2.3.1 und 2.3.2). Zu dessen Zweck wurde der Konvent zur Zukunft Europas (vgl. Kapitel 4.2.1.4.3) gebildet, welcher den seit Juni 2003 vorliegenden Entwurf eines Vertrages über eine Verfassung für Europa ausgearbeitet hat211.
4.2.1.6.1 Historie der EU-Verfassung mit Ratifizierungsprozeß Der jüngste Versuch, Europa eine Verfassung zugeben und somit eine politische Union herzustellen (vgl. zu den Bemühungen der Verfassungsgebung in der EU Kapitel 2.2.1, 2.3.1 und 2.3.2), zeigt Tabelle 28 (siehe S. 324) die historischen Ereignisse auf dem Wege zur Verfassung212. Die EU-Verfassung wäre frühestens am 1. November 2006 nach deren Ratifizierung durch die Mitgliedstaaten je nach juristischer und geschichtlicher Tradition der Mitgliedstaaten durch eines der beiden folgenden Verfahren in Kraft getreten, wobei je nach Land Abweichungen oder Kombinationen der Verfahren möglich waren213: – Parlamentarisches Verfahren: Der Text wird mit einem Gesetz zur Ratifizierung einer mehrseitigen Übereinkunft von den nationalen Parlamenten angenommen. – Volksabstimmung: Die Bürgerinnen und Bürger werden in einer Volksabstimmung direkt aufgefordert, sich für oder gegen den Vertragstext auszusprechen.
Die Ratifizierung unterliegt den in Tabelle 29 (siehe S. 325) aufgeführtenen Aktionen (Stand 21. 07. 2005)214.
211 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003) und Maull, H. W. / Kirt, R. (2003). 212 Vgl. http: // europa.eu.int / constitution / history_constitution_de.htm. 213 Vgl. http: // europa.eu.int / constitution / referendum_de.htm. 214 http: // europa.eu.int / constitution / ratification_en.htm.
324
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius Tabelle 28 Historie der EU-Verfassung
– Geschichtliche Übersicht –
Quelle: http: // europa.eu.int / constitution / history_constitution_de.htm.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte Tabelle 29 EU-Verfassungs-Ratifizierungsaktionen
Quelle:http: // europa.eu.int / constitution / ratification_en.htm.
325
326
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Die Ratifizierung der EU-Verfassung unterliegt folgendem Prozedere215: Am 29. Oktober 2004 wurde von den Staats- und Regierungschefs der 25 EU-Mitgliedstaaten und der drei Kandidatenländer der Vertrag über eine Verfassung für Europa unterzeichnet. Der Vertrag kann jedoch erst in Kraft treten, wenn er von jedem Unterzeichnerstaat nach dem in seiner Verfassung vorgeschriebenen Verfahren angenommen (ratifiziert) wurde. Je nach juristischer und geschichtlicher Tradition der einzelnen Länder unterscheiden sich die hierfür von den Verfassungen vorgesehenen Verfahren: – Parlamentarisches Verfahren: Der Text wird mit einem Gesetz zur Ratifizierung einer mehrseitigen Übereinkunft von den nationalen Parlamenten angenommen. – Volksabstimmung: Die Bürgerinnen und Bürger werden in einer Volksabstimmung direkt aufgefordert, sich für oder gegen den Vertragstext auszusprechen.
Je nach Land sind Abweichungen von diesen beiden Verfahren oder Kombinationen möglich, beispielsweise wenn die Ratifizierung des Vertrags vorab eine Änderung der einzelstaatlichen Verfassung erforderlich macht. Wenn der Vertrag ratifiziert ist und alle Unterzeichnerstaaten dies offiziell mitgeteilt haben (Hinterlegung der Ratifizierungsurkunden), tritt er – frühestens am 1. November 2006 – in Kraft und wird wirksam.
4.2.1.6.2 Politische und nationale Wertung der EU-Verfassung Da die Ratifizierungsverfahren in den einzelnen Mitgliedstaaten unterschiedlich sind und die demokratische Basisnähe bei Nichtverwendung der Volksabstimmung als Verfahren abnimmt, bildet nachfolgendes Umfrageergebnis (siehe folgende Abbildung 8) die Meinung des Volkes ab (Zustimmung in %)216. Die EU-Verfassung erfuhr während ihres Ratifizierungsprozesses unterschiedliche Akzeptanz in Politik und Bevölkerung der EU, was nachfolgende Beispiele zeigen: – EU
– Ratifizierung Der geplante Verfassungsvertrag der Europäischen Union wurde mit einer deutlichen Mehrheit des Europaparlaments am 12. 01. 2005 gebilligt hinsichtlich des Verfassungstextes; seine Ratifizierung wurde rückhaltlos befürwortet. 500 Abgeordnete stimmten für einen Antrag, den Verfassungsvertrag anzunehmen, 137 dagegen und 40 enthielten sich der Stimme. Die meisten der Verfassungsgegner kommen aus den Reihen der Euroskeptiker, der extremen 215 216
Vgl. http: / / europa.eu.int / constitution / futurum / referendum_de.htm. Vgl. FTD (2005 f.), S. 11.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
327
Quelle: Vgl. FTD (2005 f.), S. 11.
Abbildung 8: Umfrageergebnis Ratifizierungsverfahren
Rechten und der Kommunisten. Der Verfassungsvertrag muß entweder per Parlamentsbeschluß oder per Volksentscheid in den Mitgliedsländern ratifiziert werden217. Der deutsche Bundeskanzler Schröder hat unmittelbar nach der Ablehnung Ende Mai bzw. Anfang Juni 2005 durch Frankreich und durch die Niederlande für den 05. 06. 2005 versucht, ein Treffen der sechs Gründerstaaten Deutschland, Frankreich, Italien und der Beneluxländer in Berlin zu organi217
Vgl. http: // www.spiegel.de / politik / ausland.
328
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
sieren, um den Brüsseler EU-Krisengipfel zur Verfassung am 16. / 17. 06. 2005 vorzubereiten. Dies scheiterte an der Absage des niederländischen Ministerpräsidenten Peter Balkenende. Ziel war, den Verfassungsgebungsprozeß zu retten218. – Abstimmungsverhalten zur Verfassung Unter den Bürger der EU herrschte Ende 2004 noch Unentschlossenheit bezüglich der EU-Verfassung219: Eine Eurobarometer-Studie, die zwischen dem 27. Oktober und 29. November 2004 unter 25.000 Personen durchgeführt wurde, zeigt, daß sich die öffentliche Meinung zur Verfassung positiv stellt. Jedoch ist in den meisten Ländern auch ein hohes Maß an Unentschlossenheit festzustellen. Mehr als die Hälfte der EU-Bürger geben an, wenig über den Verfassungsentwurf zu wissen und ein Drittel hat noch nie von ihm gehört. 49 % der Befragten würden die Verfassung befürworten, 16 % würden sie ablehnen. Insgesamt überwiegt jedoch mit Ausnahme des Vereinigten Königreiches die zustimmende Haltung in allen Ländern. 35 % der Befragten äußerten keine Meinung. Die Unschlüssigkeit ist in einigen Ländern, die ein Referendum angekündigt haben, besonders hoch: 67 % in Irland, 53 % in Portugal und 50 % im Vereinigten Königreich. – Ablehnungsgründe Die Referenden für die Ratifizierung der EU-Verfassung führten zu einer Ablehnung im Mai 2005 durch Frankreich und kurz darauf durch die Niederlande. Das Nein der Franzosen wurde als vernünftiges Nein220 eingestuft und hatte den Hintergrund einer Abstimmung gegen die Regierung Frankreichs, der Angst vor der Globalisierung nach dem Vorbild angelsächsischer Märkte mit einem fehlenden Gleichgewicht zwischen liberaler Wirtschaftsordnung und solidarischer Gesellschaftsordnung221 des „Chauvinismus der Linken“222, während das Nein der Niederländer ein emotional-romantisches Nein als Ablehnung gegen Führung überhaupt sowie aus Überdruß gegen politische Rhetorik gewertet wird223. Beide negativen Voten wurden als „Nein für immer mehr Regelungen und immer mehr Bürokratie aus Europa“224 gewertet. Das Aussetzen der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei wurde ebenfalls als Grund für die Ablehnung der EU-Verfassung durch Frankreich und die Niederlande gehandelt225. 218 219 220 221 222 223 224 225
Vgl. FTD (2005g), S. 1. Vgl. http: // www.eu-kommission.de / html / presse. Vgl. Die Zeit (2005b), S. 4 und SZ (2005 f.), S. 13. Vgl. Die Zeit (2005b), S. 4 und SZ (2005 f.), S. 13. SZ (2005k), S. 11. Vgl. SZ (2005 f.), S. 13. Europa-Union Bayern e.V. (2005b). Vgl. FAZ (2005d), S. 2.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
329
– Folgediskussion „schwere EU-Krise“ Mitte 2005 (vgl. auch Kapitel 2.3.5) Die Ablehnung der beiden Länder wurde in der politischen Diskussion als schwere Krise der EU angesehen und ließ Zweifel an deren Handlungsfähigkeit aufkommen226; die EU-Verfassung wurde gar totgesagt: „Noch wehren sich Europapolitiker in Brüssel und anderswo gegen die logische Einsicht: Dieser Vertrag ist nicht nur in ein Koma gefallen, er ist tot“227. In der Folgediskussion wurde wegen der beiden negativen Referenden in Verbindung mit dem Haushaltsstreit für den EU-Haushalt 2007 bis 2013 von einer „dramatischen Lage“, von einer „extrem tiefen Krise“ der EU sowie von einem Abdriften in „eine schwere, vermutlich länger andauernden Orientierungskrise“228 und vom Scheideweg zwischen politischer Integration und Degeneration zur Freihandelszone229 gesprochen; nicht zuletzt, da Ratspräsident Juncker hinter den Diskussionen nur zwei Konzepte für Europa sah230: „Es gibt jene, die ohne es wirklich zu sagen, einen großen Markt und nichts als einen großen Markt wollen; und jene, die ein politisch integriertes Europa wollen“. Der deutsche Außenminister Fischer sprach von einer dreifachen Krise Europas, die Vereinigungs-, die Globalisierungs- und die Identitätskrise231. Mit der Ablehnung von Frankreich als EU-Gründungsmitglied wurde das Inkrafttreten einer EU-Verfassung grundsätzlich in Frage gestellt, eine Periode größter Unsicherheit vorausgesagt, die Einigung auf den EU-Haushalt 2007 bis 2013 als nicht sicher erachtet sowie der Beginn der Beitrittsverhandlungen mit der Türkei als fraglich erachtet232. Im Kontext der Verfassungsdiskussion während der Referenden wurde sogar das Scheitern der Währungsunion als Folge der Verfassungskrise wegen der größer werdenden Wachstumsunterschiede, der unterschiedlichen Inflation und des unterschiedlichen Realzinses diskutiert und vom Wissenschaftlichen Dienst des deutschen Bundestages ein Gutachten über die rechtlichen Möglichkeiten des Ausstiegs aus der Währungsunion erstellt233. – Frankreich
Frankreich hat im März 2005 in einer Sondersitzung von Nationalversammlung und Senat mit drei Fünftel-Mehrheit der 907 Abgeordneten eine Verfassungsänderung vorgenommen, welche verbindliche Volksabstimmungen erlauben: Die Regierung ist somit bei der Ratifizierung der EU-Verfassung an das Votum des Volkes gebunden234. 226 227 228 229 230 231 232 233 234
Vgl. SZ (2005e), S. 1. Vgl. FAZ (2005e), S. 1. FAZ (2005g), S. 1 und dto., S. 3. Vgl. Europa-Union Bayern e.V. (2005b). FAZ (2005h), S. 3. Vgl. FAZ (2005j), S. 1. Vgl. FTD (2005i), S. 1. Vgl. FAZ (2005c), S. 11 und FTD (2005g), S. 1. Vgl. Europa-Union Bayern e.V. (2005a), S. 3.
330
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
„Frankreichs Staatspräsident Jacques Chirac hat seine Landsleute aufgerufen, bei der Volksabstimmung über die EU-Verfassung am 29. Mai 2005 mit Ja zu stimmen. Dabei sollten ausschließlich europäische Angelegenheiten eine Rolle spielen. Laut Umfragen wollten die Franzosen die EU-Verfassung aus innenpolitischen Gründen knapp ablehnen“235 sowie deswegen, weil die Verfassung für zu liberal gilt236. „So gaben 53 Prozent der von Ifop im Auftrag der Zeitschrift Befragten an, beim Referendum am 29. Mai 2005 mit „Non“ stimmen zu wollen. Für die Konstitution wollen sich dagegen nur 47 Prozent aussprechen. Allerdings gaben 43 Prozent an, eventuell noch ihre Meinung zu ändern. Die gestern veröffentlichte Umfrage ist bereits die fünfte, die mit einer Ablehnung der Verfassung beim Referendum rechnet. Demzufolge wollen sich 51 bis 55 Prozent der Franzosen dagegen aussprechen“237. Auch in der sechsten Ifop-Umfrage stimmten 55 % dagegen und nur 45 % dafür, wobei 63 % der Befragten angaben, sich des Abstimmungsverhaltens bei der Volksabstimmung am 29. 05. 2005 völlig sicher zu sein238. Der Verlauf der Debatte um die Zustimmung zur EU-Verfassung in Frankreich in Prozent mit Hinweis auf markante politische Themen stellt sich in der folgenden Abbildung 9 dar239. Im Referendum am 29. Mai 2005 lehnten 54,87 % der Franzosen die EU-Verfassung ab, 45,13 % stimmten zu; die Wahlbeteiligung lag bei etwa 70 %240. Die Ablehnung am 29. 05. 2005 hat zunächst zur Folge, daß die EU-Verträge in der bestehenden Form ihre Gültigkeit behalten241. Der Vollständigkeit halber soll darauf hingewiesen sein, daß im Jahre 1954 durch Beschlüsse der französischen Nationalversammlung mit dem Scheitern der EVG und der EPG bereits schon einmal eine Verfassungsgebung an Frankreich scheiterte (vgl. Kapitel 3.2.1.1). – Italien
Das italienische Abgeordnetenhaus hatte am 25. 01. 2005 mit einer großen Mehrheit für die Verfassung gestimmt; nur die populistisch orientierte Regionalpartei Lega Nord und Abgeordnete der „Partei der Kommunistischen Wiedergründung“ stimmten dagegen. Am 07. 04. 2005 hat sodann der italienische Senat mit 217 zu 16 Stimmen die EU-Verfassung gebilligt242. 235 Meldung der afp im Hamburger Abendblatt vom 29. 03. 2005; http: // www.abendblatt.de / daten / 2005 / 03 / 29 / 414786.html. 236 Vgl. FTD (2005b), S. 14. 237 Meldung in der Welt vom 01. 04. 2005; http: // www.welt.de / data / 2005 / 04 / 01 / 619957.html. 238 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ (2005a), S. 1. 239 Vgl. FTD (2005i), S. 13. 240 Vgl. FTD (2005j), S. 12 und FAZ (2005 f.), S. 1. 241 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ (2005a), S. 1. 242 Vgl. Frankfurter Allgemeine Zeitung FAZ (2005b), S. 1.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
70
59
60
60
52
54
52
53
55
50 40
41
30
40
48
48
46
47
331
52 48
45
47
47
50
49
53
50
51
55 45 53
20 10
7. 1. 05 4. 3. 05 18 .3 .0 5 25 .0 3. 05 1. 4. 05 8. 4. 05 15 .4 .0 5 22 .4 .0 5 29 .4 .0 5 6. 5. 05 13 .5 .0 5 20 .5 .0 5 25 .5 .0 5
0
20.02: Spanien stimmt für EUVerfassung
15.03: Streit um BolkesteinDirektive
10.03.: Proteste gegen Regierung
22.03: EU stoppt BolkesteinDirektive
14.04: TV-Debatte Chirac mit jungen Erwachsenen
03.05: TVInterview mit Chirac
28.04: Auftritt von Ex-Premier Jospin
16.05: PfingstmontagProteste
Quelle: Vgl. FTD (2005 f.), S. 11.
Abbildung 9: Verlauf der Debatte um die Zustimmung zur EU-Verfassung in Frankreich
– Deutschland
Seitens der Regierungsopposition CDU / CSU wurde im Mai 2005 im Vorfeld der Abstimmung über die EU-Verfassung auf gravierende Mängel in der EUVerfassung hingewiesen, jedoch trotzdem nach Abwägung der Vor- und Nachteile und trotz schwerwiegender Bedenken zugestimmt243. Am 12. 05. 2005 hat der Bundestag die Europäische Verfassung mit 569 von 594 anwesenden Stimmen ratifiziert (zwei Enthaltungen und 23 Neinstimmen)244. Der Bundesrat stimmte am 27. 05. 2005 ab und ratifizierte die Verfassung245. Gemäß einer Forsa-Umfrage vom 11. / 12. 04. 2005 hätte das deutsche Volk bei einer 243 244
Vgl. Süddeutsche Zeitung SZ (2005a), S. 5. Vgl. Süddeutsche Zeitung SZ (2005d), S. 1, FTD (2005e), S. 1 und FTD (2005 f.),
S. 11. 245
Vgl. FTD (2005i), S. 1.
332
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
direkten Abstimmung bezüglich der EU-Verfassung mit 47 % für, mit 20 % gegen und mit 33 % unbestimmt abgestimmt246. – Österreich und Slowakei
Das österreichische Parlament sowie die Slowakei haben am 11. 05. 2005 die Ratifizierung der EU-Verfassung beschlossen. In Österreich wurde mit nur einer Gegenstimme abgestimmt und das Vertragswerk von Vertretern aller Parteien begrüßt247. – Niederlande
Die Volksabstimmung in den Niederlanden am 01. 06. 2005 führte zu einer deutlichen Ablehnung der EU-Verfassung: 61,6 % stimmten dagegen und 38,4 % dafür bei einer Wahlbeteiligung von 62,8 %. Die Gründe für die Ablehnung lagen im Verlust an Souveränität, am Tempo der Veränderungen in der EU, an der geringen Möglichkeit der Teilnahme an den Veränderungsprozessen sowie am unverhältnismäßig hohen finanziellem Beitrag der Niederlande am Haushalt der EU248. – Großbritannien
Großbritannien gilt als grundsätzlich pro-europäisch. Nach der Ablehnung Ende Mai bzw. Anfang Juni 2005 durch Frankreich und durch die Niederlande hat der britische Premierminister Tony Blair den Ratifizierungsprozeß für Großbritannien auf zunächst unbestimmte Zeit vertagt, jedoch das Referendum – welches für Mai oder Juni 2006 geplant war249 – nicht abgesagt250. Damit zieht der Premierminister die Konsequenz aus einem möglichen Scheitern einer englischen Abstimmung wegen folgender Gründe251: – Negative Auswirkungen der kurz vorher gefallenen negativen französischen und niederländischen Abstimmungen auf das englische Votum, – Taktische Verzögerung des Ratifizierungsprozesses als „Denkpause“ für erneute Abstimmungen in Frankreich und Niederlande, – Vorantreiben weiterer Reformen der EU, da ein Europa der 25 nicht so funktionieren kann wie ein Europa der 15, – Umfragen zu diesem Zeitpunkt Mitte Juni 2005 zufolge würde die Abstimmung negativ verlaufen und somit die dritte Ablehnung (Frankreich, Niederlande und sodann Großbritannien) der EU-Verfassung eine Gesamtratifizierung nahezu ausschließen, – Unbehagen und Angst gegenüber dem angelsächsischen Wirtschaftsmodell, welches in der EU Fuß fasst und die erstrebenswerten sozialen Komponenten 246 247 248 249 250 251
Vgl. Die Zeit (2005d), S. 5. Vgl. Handelsblatt (2005c), S. 9. Vgl. FAZ (2005d), S. 1. Vgl. SZ (2005g), S. 1. Vgl. FTD (2005k), S. 1 und SZ (2005g), S. 1. Vgl. FTD (2005k), S. 1 und FTD (2005l), S. 16.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
333
neben den wirtschaftlichen vernachlässigt („Man muß die soziale Absicherung nicht opfern, um eine wettbewerbsfähigere Wirtschaft zu bekommen“252), – Vermeidung eines harten innenpolitischen Kampfes oder gar eines Abtrittes von Tony Blair wegen einer gescheiterten Abstimmung. Die gescheiterten Abstimmungen in Frankreich und den Niederlanden verhalfen Tony Blair Mitte 2005 mit seiner zunächst scheinbar destruktiven Kritik und dem Aussetzen des Ratifizierungsprozesses und seinem anschließenden Vorschlag der Haushalts-Erneuerung der EU durch Umschichtung von Haushaltsmitteln von der Landwirtschaft in die Technologie, Forschung und Bildung253 zu einer Führungsrolle für das neue Europa254, nicht zuletzt wegen der anstehenden britischen EU-Präsidentschaft ab 01. Juli 2005, nachdem die französischdeutsche Führungsrolle erheblichen Schaden erlitten hat. Blair strebt einen neuen Konsens zwischen Globalisierung und sozialer Gerechtigkeit für Europa an; Schröder und Chirac würden als „Männer von gestern“ angesehen255 . Die EU-Verfassung erfuhr auch weltweit während ihres Ratifizierungsprozesses unterschiedliche Akzeptanz in der Politik, was nachfolgende Beispiele zeigen: – USA
In den USA hielt sich das Bedauern über das Scheitern der EU-Referenden in Frankreich und den Niederlanden im Mai bzw. Juni 2005 in Grenzen. Die Ablehnung der EU-Verfassung gilt dort als Begrenzung des europäischen Machtanspruches und somit des Scheiterns der Bestrebungen des französischen Präsidenten Chirac, „Europa zu einem Gegengewicht und Konkurrenten Washingtons aufbauen zu wollen“256. Die massive Kritik an der EU-Verfassung und die Möglichkeit des Scheiterns ist somit durch obige, unterschiedlichste politische und nationale Standpunkte bedingt. Weiterhin sind daneben folgende Gründe dafür maßgeblich257: – Imperialer Ehrgeiz Europas mit schneller räumlicher Ausdehnung, Verfassungsgebung und Aufrüstung mit Weltmachtanspruch, – strukturelles Demokratiedefizit (vgl. Kapitel 3.2.4.2.3) mit demokratiefeindlichen Entscheidungsstrukturen und nicht verständlichem Verfassungstext, – soziale Schieflage Europas durch den freien Binnenmarkt mit Deregulierung und Wettbewerb sowie einem Rückbau sozialer Sicherungssysteme, FTD (2005l), S. 16. Da etwa sieben mal so hohe Ausgaben für die Landwirtschaft wie für Forschung, Technologie und Bildung zu einer verzerrten Haushaltsstruktur führen, vgl. FAZ (2005i), S. 3 und FAZ (2005j), S. 1. 254 Vgl. FAZ (2005h), S. 3. 255 Vgl. FAZ (2005j), S. 1. 256 Vgl. FTD (2005h), S. 15. 257 Vgl. SZ (2005h), S. 30. 252 253
334
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– wirtschaftliche Stagnation in den Kernländern Europas
sowie – Problematik der Grenzen der „Entgrenzung“258 Europas mit der Frage der Möglichkeiten der Gestaltung der Globalisierung durch Herstellung eines Gleichgewichtes zwischen liberaler Wirtschaftsordnung und solidarischer Gesellschaftsordnung259 sowie der Angst, die schon als bedrohlich empfundene Entgrenzung nicht mehr unter Kontrolle zu haben260.
4.2.1.6.3 Inhalte der EU-Verfassung Der Vertragstext des Entwurfes der EU-Verfassung wurde vom Konvent erarbeitet und als Publikation heraus gegeben. Er umfaßt verschiedene Kapitel261, deren wichtigste Inhalte nachfolgend skizziert werden. In der EU-Verfassung sind gegenüber den einzelnen EU-Verträgen (vgl. Kapitel 2.2.1.1 ff.) folgende maßgebliche Änderungen nieder gelegt262: – Änderung der Beziehungen zwischen der EU, den Mitgliedstaaten, Ländern, Regionen und Bürgern, – neue Regeln für das Zusammenwirken bei der Ausgestaltung der Gemeinschaft, – Grundrechtscharta als Teil der Verfassung (vgl. Kap. 3.2.6.2.8.3 und Kap. 3.2.6.2.9), – Vorrangstellung der Bürger, – Stärkung der Rechte des Europaparlaments mit der Wahl des Kommissionspräsidenten und der Billigung der gesamten EU-Kommission. Das Mitentscheidungsrecht des Europäischen Parlaments in der EU-Gesetzgebung wird weiter ausgebaut, unter anderem im Haushaltsrecht sowie im Agrar- und im Justizbereich. Die Anzahl der Abgeordneten wird ab 2009 auf 750 begrenzt; kleine Mitgliedsstaaten stellen mindestens 6 Abgeordnete, große höchstens 96, – Mitentscheidung in der Gesetzgebung und mehr Haushaltsbefugnisse durch das Europaparlament, – Ausweitung der Mehrheitsentscheidung im Ministerrat von 137 auf 181 Politikfelder, 258 „Grenzen beengen, geben aber auch Sicherheit und schaffen Zusammenhalt. Entgrenzung heißt mehr Freiheit, aber auch mehr Unsicherheit, mehr Ungleichheit – und Lockerung des nationalen Zusammenhalts, nicht nur der sozialen Solidarität“, aus: Die Zeit (2005b), S. 4. 259 Vgl. Die Zeit (2005b), S. 4. 260 Vgl. Die Zeit (2005d), S. 5. 261 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003) und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003). 262 Vgl. Frankfurter Rundschau (2005a), S. 2, FTD (2005c), S. 17, SZ (2005c), S. 2, Die Zeit (2005a), S. 1 sowie http: // www.spiegel.de / politik / ausland / 0,1518,355672,00.html.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
335
– Prinzip der doppelten Mehrheit (55 % der Mitgliedstaaten plus 65 % der EUBevölkerung) im Ministerrat, – partizipative Demokratie durch das europäische Bürgerbegehren, – Trennung der Aufgaben durch die neue Kompetenzordnung, – Subsidiaritätskontrolle durch Rüge oder Subsidiaritätsklage vor dem EuGH der nationalen Parlamente bei Verstößen, – Einführung eines EU-Außenministers, welcher gleichzeitig Vizepräsident der EU sein soll, mit doppelter Verankerung im Ministerrat und der Kommission, – die bisher nur zwischenstaatlich vernetzte Justiz- und Asylpolitik wird zu Gemeinschaftsrecht, – Möglichkeit der „strukturierten Zusammenarbeit“ innerhalb der Außen- und Sicherheitspolitik, wenn Mitgliedstaaten unterschiedliche verteidigungspolitische Ambitionen haben, – in der Währungspolitik stehen EU-eigene Entscheidungsstrukturen wirtschaftspolitischer Art zur Verfügung, welche abgetrennt von den anderen Politikfeldern sind; weiterhin hat nunmehr die Preisstabilität Verfassungsrang, – die EU erhält eine eigene Rechtspersönlichkeit mit der Fähigkeit des Abschlusses von z. B. völkerrechtlichen Verträgen oder dem Beitritt zu internationalen Organisation wie z. B. der UNO, – die Staats- und Regierungschefs können einstimmig beschließen, Politikbereiche, welche bisher einen einstimmigen Beschluß erforderten, einem Mehrheitsbeschluß zu unterstellen – das EU-Parlament entscheidet statt wie bisher in 35 jetzt in 90 Gesetzgebungsbereichen, ohne Parlamentsbeteiligung verbleiben 13, – Begrenzung der Mitgliederzahl des EU-Parlamentes auf 750; die Mindestzahl der Mandate pro Land ist sechs, die Höchstzahl 96, – Verkleinerung der EU-Kommission (bisher: Pro Land ein Kommissar) ab 2014 auf zwei Drittel der Kommissare, wobei deren Benennung sodann nach dem Rotationsprinzip erfolgen wird, – Wahl des Kommissionspräsidenten durch das Europäische Parlament auf Vorschlag der Staats- und Regierungschefs, – Ausweitung der Befugnisse des Kommissionspräsidenten: Bestimmung der Richtlinien der Politik sowie Rücktrittserzwingung von Kommissaren, – Schaffung des Organs eines Präsidenten des Europäischen Rates, welcher auf zweieinhalb Jahre gewählt wird und der Arbeit der Regierungschefs die nötige Kontinuität verschaffen soll. Der Präsident soll von den EU-Staats- und Regierungschefs auf zweieinhalb Jahre gewählt werden, koordiniert die Arbeit im Europäischen Rat und bereitet die EU-Gipfel vor. Die bislang halbjährlich zwi-
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
schen den Mitgliedsländern rotierende EU-Ratspräsidentschaft wird damit abgeschafft. Der EU-Präsident soll die Union auch nach außen vertreten, dabei aber die Zuständigkeiten des EU-Außenministers beachten, – Schaffung einer neuen Bürgerinitiative, welche mit der Anzahl von 1 Mio. Stimmen die Kommission zum Handeln zwingen kann, – Schaffung eines Stabilitäts- und Wachstumspaktes: Auf Vorschlag der EU-Kommission stellt der Ministerrat ein übermäßiges Haushaltsdefizit eines Landes fest. Auf Empfehlung der EU-Kommission wird das Defizitverfahrens eingeleitet, welches von einer qualifizierten Mehrheit der Länder im Ministerrat beschlossen wird; diese Mehrheit muß mindestens drei Fünftel der EU-Bevölkerung repräsentieren, – als Symbole der Europäischen Union werden die blaue Fahne mit den 12 Sternen als Europaflagge, Beethovens „Ode an die Freude“ als Hymne und der 9. Mai als Europatag festgeschrieben. Das Motto der EU lautet: „Einig in Vielfalt“.
4.2.1.6.3.1 Definition, Werte und Ziele der EU Die EU hat den Zweck der Koordination der Politik der Mitgliedstaaten und ist den Werten der Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte verpflichtet263. Ziel der EU ist die Friedens-, Wettbewerbs-, Rechts-, Kultur-, Unabhängigkeits- und Freiheitssicherung, der Umweltschutz sowie der wirtschaftliche, technische, wissenschaftliche und soziale Fortschritt264. Statt eines direkten Gottesbezuges enthält der Text einen Verweis auf die religiösen und kulturellen Traditionen Europas. 4.2.1.6.3.2 Unionsbürgerschaft und Grundrechte Unionsbürger sind alle Staatsangehörigen der Mitgliedstaaten; sie haben alle in der Verfassung vorgesehenen Rechte und Pflichten265. Die EU erkennt die in der Charta der Grundrechte als Teil der Verfassung niedergelegten Grundrechte als Grundsätze an266: Würde des Menschen, Freiheit, Gleichheit, Solidarität, Bürgerrechte und justizielle Rechte267. 263
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003),
S. 9. 264 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 10 und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 19. 265 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 14 und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 21. 266 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 13 und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 19. 267 Vgl. die näheren Ausführungen zu den jeweilig zu den Oberbegriffen gehörenden einzelnen Grundrechte bei Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 21 ff.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
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4.2.1.6.3.3 Zuständigkeiten der EU Die Abgrenzung der Zuständigkeiten erfolgt über das Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung, die Ausübung der Zuständigkeiten über das Subsidiaritätsprinzip und das Verhältnismäßigkeitsprinzip268. Die Verfassung und das Recht der EU haben Vorrang vor denen der Mitgliedstaaten269. Es gibt verschiedene Arten von Zuständigkeiten, so die ausschließliche (z. B. Währungspolitik270) und die geteilte Zuständigkeit (z. B. Binnenmarkt271) sowie die Zuständigkeit für die Förderung und Gewährleistung der Koordinierung der Wirtschafts- und Beschäftigungspolitik, die Außen- und Sicherheitspolitik, die Verteidigungspolitik und die sog. Unterstützungs-, Koordinierungs- und Ergänzungsmaßnahmen272. 4.2.1.6.3.4 Organe der EU Die Organe bilden den institutionellen Rahmen der EU, um die Ziele und die Politik der EU zu verfolgen, den Werten Geltung zu verschaffen und den Interessen der EU und ihrer Bürger zu dienen273. Die Organe der EU sind274: Europäisches Parlament, Europäische Staatenkammer, Europäische Kommission, Europäischer Rat, Europäischer Gerichtshof, Europäischer Rechnungshof, Europäische Zentralbank und Ausschuß der Regionen (vgl. Kapitel 4.2.1). 4.2.1.6.3.5 Ausübung der Zuständigkeiten und Durchführung der Maßnahmen der EU Die EU übt ihre Zuständigkeiten unter der Maßgabe der Rechtsakte – bestehend aus Europäischem Gesetz, Europäischem Rahmengesetz, Europäischer Verordnung, Europäischem Beschluß, Empfehlung und Stellungnahme – sowie der Gesetzgebungsakte, der Rechtsakte ohne Gesetzescharakter, der delegierten Verordnungen und der Durchführungsrechtsakte aus275. 268
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003),
S. 17. 269
Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003),
S. 18. 270 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 20 f. 271 Vgl. dazu die näheren Ausführungen bei Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 21 f. 272 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen S. 19. 273 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen S. 27 und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 34. 274 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen S. 27 und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 34.
Amt für amtliche Veröffentlichungen der Amt für amtliche Veröffentlichungen der der Europäischen Gemeinschaften (2003), der Europäischen Gemeinschaften (2003), der Europäischen Gemeinschaften (2003),
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Die besonderen Bestimmungen für die GASP, die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik und die Verwirklichung des Raums der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts gelten darüber hinaus276. Die Zuständigkeit für eine verstärkte Zusammenarbeit zur Verwirklichung der Ziele der EU regeln die Vorschriften innerhalb der nicht ausschließlichen Zuständigkeiten der Mitgliedstaaten277. Um die Maßnahmen und Aufgaben nach Maßgabe der Verfassung zu erfüllen, wird als Instrument eine Gesetzgebung mit den Gesetzgebungsverfahren und einem Vermittlungsausschuß institutionalisiert278. 4.2.1.6.3.6 Demokratisches Leben der EU Für das demokratische Leben in der EU gelten folgende Grundsätze279: Gleichheit der Bürger vor den Institutionen, Grundsatz der demokratischen Gleichheit, Grundsatz der repräsentativen Demokratie, Grundsatz der partizipativen Demokratie, autonomer sozialer Dialog, Einsatz eines Europäischen Bürgerbeauftragten, Transparenz der Arbeit der Organe, Schutz personenbezogener Daten sowie Achtung des Status der Kirche und weltanschaulicher Institutionen. 4.2.1.6.3.7 Finanzen der EU Die EU finanziert den gesamten Haushalt aus Eigenmitteln, zu deren Bestreitung sie das Recht der Steuer- und Beitragserhebung hat280. Der Haushalt unterliegt bestimmten Haushalts- und Finanzgrundsätzen wie Aufstellung eines jährlichen Haushaltsplanes und eines mehrjährigen Finanzrahmens, Ausgeglichenheit von Einnahmen und Ausgaben, Rechtsaktvoraussetzung für Ausgaben, Wirtschaftlichkeit und Betrugsverfolgung281.
275 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 45 ff. 276 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 51 ff. 277 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 59 ff. 278 Vgl. Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 45 ff. 279 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 63 ff. und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 49 ff. 280 Vgl. Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 51 und Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 70. 281 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 69 f. und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 51 f.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
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4.2.1.6.3.8 Politiken der EU Die Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU basiert auf einer sozial ausgerichteten Marktwirtschaft. Durch die Koordination der nationalen Wirtschafts- und Sozialpolitiken soll die Stabilität und Konvergenz der Entwicklung in der EU erreicht werden. Es werden die Ziele Vollendung des Binnenmarktes, Wachstum, Verringerung der Arbeitslosigkeit, Wettbewerbsfähigkeit und Hebung des Lebensstandards verfolgt282. Die europäische Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik ist den Zielen des internationalen Friedens, der Sicherheit, der Einhaltung und Förderung der Demokratie, den Menschenrechten, der sozialen Gerechtigkeit, der nachhaltigen Umwelt- und Entwicklungspolitik sowie dem friedlichen Zusammenleben verpflichtet. Die EU wird durch den Präsidenten der Europäischen Kommission nach außen vertreten. Außenpolitische Beschlüsse kommen mit relativer Mehrheit der Europäischen Kommission und des Europäischen Parlaments zustande; sodann setzt der Kommissar für Außenpolitik im Einklang mit dem Präsidenten der Europäischen Kommission die Beschlüsse in Aktionen um. In der Sicherheits- und Verteidigungspolitik stellt die EU eigene Streitkräfte auf, das Europäische Parlament bestellt einen Ausschuß für Verteidigung und im Verteidigungsfall übernimmt der Präsident der Europäischen Kommission den Oberbefehl283. Im Zuge der Nachbarpolitik mit Staaten der Nachbarschaft der EU sollen enge, friedliche Beziehungen durch Zusammenarbeit geschaffen werden. Zu diesem Zweck können Abkommen mit Rechten und Pflichten geschlossen werden284. 4.2.1.6.3.9 Zugehörigkeit zur EU Die EU steht allen europäischen Staaten offen, welche die Werte der EU nach § 2 der Verfassung285 achten. Die Staaten können Antrag auf Aufnahme in die EU stellen; sodann werden die Modalitäten und Bedingungen der Aufnahme durch ein Abkommen geregelt. Den Beitritt können nach Prüfung der Europäischen Kommission die Europäische Staatenkammer und das Europäische Parlament mit jeweils absoluter Mehrheit beschließen. Jeder Mitgliedstaat kann im Einvernehmen mit der EU aus der EU austreten286. 282 283 284
Vgl. Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 52 f. Vgl. Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 53 ff. Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003),
S. 73 285 Die da sind: Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte; vgl. Kapitel III.2.1.6.3.1 und Kapitel III.2.1.6.3.10. 286 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 75 ff. und Maull, H.W. / Kirt, R. (2003), S. 58 ff.
340
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
4.2.1.6.3.10 Charta der Grundrechte der EU Die Charta der Grundrechte besteht aus sieben Titeln mit folgenden Inhalten287: – Würde des Menschen
– – – –
Recht auf Leben, Recht auf Unversehrtheit, Folterverbot, Sklaverei- und Zwangsarbeitsverbot.
– Freiheiten
– – – – – – – – – – – – – –
Recht auf Freiheit und Sicherheit, Achtung des Privat- und Familienlebens, Schutz personenbezogener Daten, Recht, eine Ehe einzugehen und eine Familie zu gründen, Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit, Freiheit der Meinungsäußerung und Informationsfreiheit, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, Freiheit von Kunst und Wissenschaft, Recht auf Bildung, Berufsfreiheit und Recht zu Arbeiten, unternehmerische Freiheit, Eigentumsrecht, Asylrecht, Schutz bei Abschiebung, Ausweisung und Auslieferung.
– Gleichheit
– – – – – – –
Gleichheit vor dem Gesetz, Nichtdiskriminierung, Vielfalt der Kulturen, Religionen und Sprachen, Gleichheit von Männern und Frauen, Rechte des Kindes, Rechte älterer Menschen, Integration von Menschen mit Behinderung.
– Solidarität
– Recht auf Unterrichtung und Anhörung der Arbeitnehmer(-innen) im Unternehmen, 287 Vgl. Amt für amtliche Veröffentlichungen der Europäischen Gemeinschaften (2003), S. 83 ff.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
341
– Recht auf Kollektivverhandlungen und Kollektivmaßnahmen, – Recht auf einen Zugang zu einem Arbeitsvermittlungsdienst, – Schutz bei ungerechtfertigter Entlassung, – gerechte und angemessene Arbeitsbedingungen, – Verbot der Kinderarbeit und Schutz der Jugendlichen am Arbeitsplatz, – Familien- und Berufsleben, – soziale Sicherheit und soziale Unterstützung, – Gesundheitsschutz, – Zugang zu Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse, – Umweltschutz, – Verbraucherschutz. – Bürgerrechte
– aktives und passives Wahlrecht, – Recht auf eine gute Verwaltung, – Recht auf Zugang zu Dokumenten – der Europäische Bürgerbeauftragte, – Petitionsrecht, – Freizügigkeit und Aufenthaltsfreiheit, – diplomatischer und konsularischer Schutz. – Justizielle Rechte
– Recht auf einen wirksamen Rechtsbehelf und ein unparteiisches Gericht, – Unschuldsvermutung und Verteidigungsrechte, – Grundsätze der Gesetzmäßigkeit und der Verhältnismäßigkeit im Zusammenhang mit Straftaten und Strafen, – Recht, wegen derselben Straftat nicht zweimal strafrechtlich verfolgt oder bestraft zu werden. – Allgemeine Bestimmungen über die Auslegung und Anwendung der Charta.
4.2.2 Politische Institutionen und Kräfte bei Althusius 4.2.2.1 Legislative Die Gesetzgebung wird bei Althusius grundsätzlich als allgemeines weltliches Hoheitsrecht verstanden288. Sie erfolgt durch den Magistraten289. 288 289
Vgl. Achterberg, N. (1988), S. 504 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 4, S. 298.
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
a) Zusammensetzung Die Legislative bei Althusius erfährt eine Stufigkeit, in welcher jede politische Gemeinschaft auch ihre eigene Legislative inne hat. Die Stufigkeit beschreibt Althusius wie folgt290: – Die Leitung des Königreichs erfolgt durch den König, – die Leitung des Fürstentums erfolgt durch den Fürst oder den Herzog, – die Leitung der Provinz erfolgt durch den Graf, – die Leitung der Stadt erfolgt durch das Senatskollegium.
Die Legislative bedarf zum Teil der Zustimmung durch die Volksvertretung (siehe unten: Funktionen und Aufgaben). Die Legislative muß weiterhin den sog. Rat, in welchem nach sorgfältiger Auswahl tugendhafte, kluge, sittenhafte, gelehrte, neutrale, verschwiegene, praxiserfahrene, aufrichtige und treue Ratgeber aus allen ständischen Ordnungen tätig sind, hören291 (vgl. unten: Funktionen und Aufgaben). b) Amtszeit Die Amtszeit der Legislative ist zeitlich begrenzt, jedoch ist die Begrenzung nicht nach Jahren benannt (vgl. Kapitel 3.2.6.2.4): „Diese hohen Präsiden . . . sind jedoch zeitlich begrenzt tätig, während die Körperschaft bzw. die Stadt immerwährend und fast unsterblich ist“292. Weiterhin ist eine Wiederwahl nicht möglich: „. . . und daß das Magistratsamt nur einmal bekleidet werden kann, oder nur ganz selten und für wenige Jahre . . .“293 und „Bei diesem Status des Gemeinwesens ist es nützlicher, daß die Magistratsämter zeitlich befristet und nicht auf Dauer gestellt sind.“294 c) Funktionen und Aufgaben Die Legislative in geteilter Form findet sich bei Althusius in folgendem Ansatz: Das „ius majestatis generale“ ist das allgemeine Recht der Souveränität der Verfassungsgesetzgebung, während das „ius majestatis speciale“ das öffentliche Recht der Verwaltung mit Verordnungen im Sinne der heutigen einfachen Gesetzgebung darstellt. Die Gesetzgebungsbefugnisse der der jeweiligen Gemeinschaft zugehörigen Legislative analog der Gliederung der Zusammensetzung (vgl. oben: Zusammensetzung) sind folgende: 290 291 292 293 294
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 52, S. 80. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 8 ff., S. 272 f. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 25, S. 61. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 64, S. 432. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 69, S. 433.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
343
Der Bürgermeister als Präfekt oder Obere einer Stadt hat das Recht, gesetzmäßige Beschlüsse zu erlassen295. Die Stadt hat eigene Rechte wie z. B. das Territorialrecht, die Autonomie, den Gebrauch der Regalien und andere öffentliche Rechte, selbst wenn diese Stadt einen höheren Herrscher anerkennt oder ihrem Magistrat aufgrund fester Verträge unterstellt ist296 sowie das Recht, Statuten – also Satzungen – zu erlassen297. In freien Städten liegt das Recht der Gesetzgebung beim Senatskollegium298. Ein Gewaltenteilungsansatz findet sich bei Althusius in der Unterscheidung der Funktionen des Rates gegenüber dem Bürgermeister. Der Rat als übergeordnetes Organ hat Gewalt über alle Bürger, der Bürgermeister dagegen nur gegen den einzelnen Bürger. Althusius unterscheidet also zwischen allgemeinem Recht („ius generale“) und spezifischer Maßnahme („ius speciale“), was ansatzweise heute der Trennung zwischen Legislative und Exekutive entspricht299. Der Graf als Präfekt der Provinz erläßt die allgemeinen Gesetze und Dekrete; dabei ist die Zusammenkunft und Zustimmung der Stände erforderlich300. Der Präfekt muß den Landtag der Provinzstände einberufen und ihm Vorschläge unterbreiten, was erwogen und beraten werden muß. Was sodann einmütig oder mit Mehrheit der Stände beschlossen wurde, wird durch den Präfekt bestätigt und als Gesetz erlassen301. Insofern liegt die Gesetzgebung bei der Regierung und beim Volk dergestalt, daß keine strikte Gewaltenteilung im Sinne der Institutionentrennung vorliegt, sondern gewissermaßen ein Gewaltenzustimmungssystem vorliegt. Der Kaiser kann neue Gesetze nur nach der Beratung mit den sieben Kurfürsten erlassen302. Neben der Konsultation der Volksvertretung z. B. des Senats muß der Gesetzgeber zusätzlich den sog. Rat (vgl. oben: Zusammensetzung) zusammen mit dem Senat hören, um Gesetze beschließen zu können303. Im Erlaß neuer Gesetze soll der Magistrat Zurückhaltung üben, ebenso wie bei Gesetzesänderungen und -aufhebungen304. Folgende Gesetze werden durch den Magistraten und Zustimmung bzw. Hörung von Senat und Rat erlassen305: – Fundamentalgesetze, – Luxusgesetze, 295 296 297 298 299 300 301 302 303 304 305
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 50, S. 63 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 41, S. 77. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 43, S. 78. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 51, S. 79. Vgl. Friedrich, C. J. (1975), S. 92 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 50, S. 103. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 64 f., S. 105 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 38, S. 204. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 42 f., S. 274. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 8 f., S. 299. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 9 f., S. 299.
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4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– Diverse Wirtschaftsgesetze wie z. B. Handelsgesetze, – Gesetze zur Beseitigung von Uneinigkeit, Zwietracht usw., – Sozialgesetze wie z. B. zur Sorge für hilfsbedürftige Personen.
Die Legislative ist grundsätzlich an das göttliche und natürliche Gesetz gebunden306. Die bürgerlichen Gesetze stimmen mit dem Dekalog überein und bauen auf diesem auf307, wodurch ein grundsätzlicher Rahmen für die Gesetzgebung vorgegeben ist. Ein bürgerliches Gesetz, welches nicht Elemente des Naturrechts enthält und von dessen Aussage abweicht, ist nicht des Ausdruckes Gesetz wert; wenn dem so ist, kann aufgrund der Gegensätzlichkeit zum Naturrecht diesem Gesetz keiner verpflichtet werden308. Das Gesetz und darüber der Magistrat ist grundsätzlich an den Dekalog gebunden; die Tätigkeiten der Gemeinschaft sind auf dieses Recht hin auszurichten und an ihm zu messen309. Wenn Gesetze dem Gebot Gottes widersprechen, so ist eher Gott als dem Magistraten zu gehorchen310.
4.2.2.2 Exekutive a) Zusammensetzung Die Exekutive soll mit „geeigneten, fähigen und in besonderer Weise um das öffentliche Wohl bemühte Personen“311 sowie „freie Amtsträger . . . die keinem anderen als ihm (dem Magistraten, Anm. d. Verf.) verpflichtet sind“312 besetzt werden. Sie sollten geeignete, ihrer Aufgabe gewachsene, treue, sorgfältige, integere und rechtschaffene Ausführende sein313. Sie sollten Einwohner des Reiches sein und das Bürgerrecht von Geburt aus besitzen314. Die Verwaltung hat eine dreigeteilte Struktur: Die höchsten Beamten, welche nur der Herrschaft des Magistraten unterstehen, die mittleren, welchen den Weisungen der Oberen Folge zu leisten haben und die Unteren befehlen sowie die Unteren, welche die Gesetze des Magistraten zu befolgen haben und keine Befehlsgewalt haben außer gegenüber Privatpersonen315. In einem Reich sollten nur wenige und nur die erforderlichen 306 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 21, S. 117 und ders., Kap. X, § 8, S. 126. 307 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 49, S. 257. 308 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 21, S. 117 und ders., Kap. X, § 8, S. 126. 309 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 1 f., S. 124 f. und ders., Kap. XXIV, § 48, S. 256. 310 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 26, S. 227. 311 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 35, S. 327. 312 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 88, S. 333. 313 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 89, S. 333. 314 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 44, S. 328. 315 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 92, S. 333.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
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mittleren Exekutiven eingerichtet sein, wobei die verschiedenen Aufgaben nicht einem „Vielbeschäftigten“, sondern mehreren Amtsträgern übertragen werden sollte316. Es wird insofern deutlich, daß für die Zusammensetzung bei Althusius eher qualitative als quantitative und strukturelle Vorgaben gesetzt werden. Die Ämter im Reich – in diesem Falle die bürgerschaftliche Verwaltung – sollen getrennt gehalten und ihre Lasten aufgehoben317 werden: An dieser Stelle trennt Althusius die Gewalten. Die universale Versammlung (Senat, Reichstag) setzt sich zusammen aus beratenden, beschließenden, urteilenden, bittstellenden, beschwerdeführenden und angeklagten Personen. Die beratenden Personen, welche ihr Votum abgeben sind getrennt nach Kollegien der Stände und Ordnungen sowie Gesandten318. Die Mitglieder der universalen Versammlung sollten innerhalb der einzelnen Kollegien sowohl Weltliche als auch Geistliche sein319. Die Stände sind dabei in folgende drei Kollegien zu trennen320: – Kollegium der Kurfürsten, welches aus den sechs Kurfürsten des Reiches besteht und die anderen beiden Kollegien an Autorität, Bedeutung und Herrschaftsgewalt bei weitem übertrifft, – Kollegium der Reichsfürsten, Erzbischöfe, Meister des Deutschen Ordens, Äbte, Prälaten und Reichsgrafen, die unmittelbar dem Reich unterstehen (der Fürsten Rath), – Kollegium der Vertreter der Reichsstädte, bestehend wiederum aus zwei Klassen bzw. Kurien.
Althusius sieht zwei Arten von universalen Versammlungen vor: Die ordentlichen, innerhalb welcher in einem förmlichen und ordnungsmäßigen Verfahren321 über die „normalen“ Belange wie z. B. öffentlicher Frieden und Ruhe, Auferlegung von Steuern u. ä.322 beschlossen wird. Die außerordentlichen universalen Versammlungen dagegen finden an anderem Ort und zu anderer Zeit als die ordentlichen statt und sind Versammlungen eines oder mehrerer Kreise (= große Region aus verschiedenen, benachbarten Provinzen), Versammlungen von Deputierten, Versammlungen von Visitatoren oder Versammlungen der Kurfürsten des Reiches323. Die außerordentlichen Versammlungen sind weiterhin Konvente der Stän316 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 97, S. 334 und Kap. XXXVII, § 25, S. 374. 317 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 35, S. 327 sowie § 61, S. 330. 318 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 10 f., S. 339. 319 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 13, S. 339. 320 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 55 ff., S. 343 f. 321 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 47, S. 342. 322 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 49, S. 343. 323 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 93 f., S. 346 f.
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de, welche nach Sachlage und Notwendigkeit von Angelegenheiten, welche entweder nicht auf den ordentlichen Versammlungen abgehalten werden oder eine schnelle Erledigung erfordern, zusammen treten324. Die Exekutive ist bei Althusius kein von der Legislative (vgl. Kapitel 4.2.2.1) und Judikative (vgl. Kapitel 4.2.2.3) getrenntes Organ. Sie ist Teil der universalen Versammlung und setzt sich daher aus denselben Personen zusammen wie die Judikative. Den Vorsitz der Exekutive hat zudem der oberste Magistrat als Legislative inne. Die Gewalten sind somit nicht getrennt. b) Amtszeit Die Amtszeit der Exekutive (Senate, Reichsstände, Ephoren) ist nicht unbedingt begrenzt (vgl. Kapitel 3.2.6.2.4): „Es gibt Ephoren, deren Stellung dauerhaft . . . ist und solche mit einem zeitlich befristetem Amt“325. Die Amtsträger des Königs haben dabei die unbefristete Stellung wegen erblicher Ämterwürden inne, während die Magistraten zeitlich befristet eingesetzt sind, jedoch nach Ermessen des Herrschers durch besondere Gnade und Gunst zum unbefristeten Amt erhoben werden können326. Die unbefristeten Ämter sollten eher in der Monarchie, die befristeten in der Polyarchie verwendet werden327. c) Funktionen und Aufgaben Die Ausführung des Gesetzes ist bei Althusius beschrieben als „die Verwaltung und Regierung des Gemeinwesens“328. Die Aufgabe der Exekutive besteht im wesentlichen aus fünf Punkten329: – Einsetzung des obersten Magistraten, – Überwachung, daß sich der Magistrat innerhalb der Grenzen und Schranken seines Amtes bewegt; Verteidigung und Schutz der Freiheit und der übrigen Rechte, – Einsetzung eines Kurators bis zur erneuten Besetzung des Magistratenamtes, wenn der Magistrat zur Verwaltung des Gemeinwesens ungeeignet ist oder ein Interregnum eintritt, – Absetzen des obersten Magistraten, wenn dieser ein Tyrann ist, – Verteidigung des Magistraten und seiner Rechte.
Althusius beschreibt die Beziehung zwischen Gesetzgebung und Vollziehung der Gesetze recht umfangreich. Die Regierungsgewalt hat ihre Grenzen in der 324 325 326 327 328 329
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 88, S. 346. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 107, S. 188. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 44, S. 328. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 94, S. 334. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXI, § 16, S. 225. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 63, S. 179.
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Orientierung am Gemeinwohl. Sie ist nicht unbegrenzt und absolut. Der Herrscher ist nicht dem Recht übergeordnet, sondern sein Wächter, Diener und Ausführer330. Schon deshalb darf er die Grenze nicht überschreiten; überschreitet er diese dennoch, so steht er nicht mehr als Herrscher über dem Volk und ist nicht mehr über die Geschäfte des Volkes eingesetzt331. Es gibt zwei Arten der Gesetzesausführung: – Verwaltung der Gerechtigkeit
Zuteilung von Strafen und Belohnungen gemäß der ausgleichenden und austeilenden Gerechtigkeit332. Die Verwaltung der Gerechtigkeit erfolgt durch den Magistraten333; dies bedeutet, daß hier keine Gewaltenteilung vorliegt, da der Magistrat auch Legislative ist (vgl. Kapitel 4.2.2.1). – Zensur
„Untersuchung und Rüge derjenigen Sitten und Ausschweifungen, die durch die Gesetze zwar nicht gehindert und gestraft werden, jedoch die Herzen der Untertanen verderben oder ihre Güter unnütz verbrauchen“334. Die Ausführung der Zensur erfolgt durch Zensoren, Sittenlehrer, Inspektoren und Hüter der Disziplin, welche durch den Magistraten berufen werden335. Um die Ausführung der Verwaltung der symbiotischen Gemeinschaft zu gewährleisten, hält die Exekutive sog. universale Versammlungen ab, wo über die gemeinsamen Angelegenheiten beraten wird und dazu Beschlüsse gefasst werden. Die universalen Versammlungen werden auch universaler Konvent, Senat des Reichs, Komitien des Reichs oder Reichstag genannt. Die Angelegenheiten sollen dort strukturiert unter den Gesichtspunkten Sache und Gegenstand, beteiligte Personen, Zeit und Ort sowie Art und Form der Durchführung verhandelt werden336. Der oberste Magistrat hat den Vorsitz der universalen Versammlung, das Recht der Einberufung, der Antragstellung, der Abstimmungsbitte, der Beschlußveröffentlichung sowie der Schließung der Versammlung inne337. Hier findet sich bei Althusius weder der Ansatz einer Gewaltentrennung noch einer Gewaltenkontrolle wie in anderen Bereichen seiner politischen Theorie. Die universale Versammlung (Senat, Reichstag) setzt sich aus Kollegien der Stände und Ordnungen sowie Gesandten zusammen338. Diese „Fraktionen“ sollten von der Zahl her ungleich sein, Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 46, S. 175. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 94, S. 185 f. 332 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 15, S. 301. 333 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 26, S. 301. 334 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXX, § 1, S. 307. 335 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXX, § 3, S. 307. 336 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 1 ff., S. 337 f. 337 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 5, S. 337 und § 29, S. 342. 338 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 10 f., S. 339. 330 331
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so daß die universale Versammlung Mehrheitsbeschlüsse fassen kann; sind sie dennoch von der Zahl her gleich, so hat der oberste Magistrat seine Stimme abzugeben und so einen Mehrheitsbeschluß herbeizuführen339. Grundsätzlich beschließt die universale Versammlung mit einmütiger Übereinstimmung oder mehrheitlich in ihren einzelnen Kollegien340. Dabei liegt innerhalb des Beschlußfassungssystems der ordentlichen universalen Versammlungen eine doppelte Stufigkeit341: – Konsens in den einzelnen Kollegien
– Beschluß zu den Anfragen aller Stände und auch der einzelnen Stände. – Konsens zwischen den drei Kollegien (a: Kollegium der Kurfürsten, b: Kollegium der Reichsfürsten, Erzbischöfe, Meister des Deutschen Ordens, Äbte, Prälaten und Reichsgrafen, c: Kollegium der Vertreter der Reichsstädte)
– mündlicher Austausch der Beschlüsse der einzelnen Kollegien, – schriftlicher Beschluß des Kollegiums der Kurfürsten und Weitergabe an das Kollegium der Reichsfürsten, – stehen die Beschlüsse des Kollegiums der Kurfürsten des Kollegiums der Reichsfürsten nicht im Einklang, so wird das Kollegium der Reichsstädte sein Votum über die strittigen Punkte eröffnen. Wiederspricht das Votum des Kaisers dem der drei Kollegien, so darf kein Dekret oder allgemeiner Reichsschluß erlassen werden342. Der Kaiser verfügt sozusagen über den „last call“; somit ist auch hier keine Gewaltentrennung bei Althusius gegeben. 4.2.2.3 Judikative a) Zusammensetzung und Sitz Das Kollegium der Richter ist als zunächst als weltliches Kollegium und als Körperschaft zu verstehen343, welches wie folgt besetzt ist: „Rechtliche Untersuchung und Verteidigung leiten im Namen des Reichs oder . . . seinem obersten Magistraten . . . eingesetzte Männer, die dem höchsten Tribunal und Gericht vorstehen“344. Angeklagte bringen vor der universalen Versammlung ihre Verteidigung vor; sie werden von der universalen Versammlung gehört, um zu vermeiden, daß Unschuldige ungerecht behandelt werden345. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 12, S. 339. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 14, S. 339 f. 341 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 65, S. 344 f. 342 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 81, S. 345. 343 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 24, S. 53 und § 30, S. 53. 344 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 9, S. 151. 345 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIII, § 3, S. 338 sowie § 10, S. 339 und § 16, S. 340. 339 340
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Die Judikative ist bei Althusius kein von der Legislative und Exekutive getrenntes Organ. Sie ist Teil der universalen Versammlung (vgl. dazu die Ausführungen und die Zusammensetzung der Judikative – und Exekutive – in Kapitel 4.2.2.2 und Kapitel 4.2.2.3) und setzt sich daher aus denselben Personen zusammen wie die Exekutive: „Im deutschen Gemeinwesen ist ein solcher Gerichtshof die Kammer in Speyer . . . Sie ist der Senat des ganzen Reichs“346 oder „in den Händen des Senatskollegiums liegt daher . . . das Recht, Gesetze zu erlassen, . . . die Strafen gegen Delinquenten“347 bzw. „. . . muß der Magistrat den Gesetzen entsprechend in eigener Person Rechtserkenntnis gewinnen und Recht sprechen“348. Den Vorsitz der Exekutive hat zudem der oberste Magistrat als Legislative inne: „Den Vorsitz . . . haben Senatoren, die vom ganzen Königreich eingesetzt sind und dieses repräsentieren“349. Die Gewalten sind somit nicht getrennt. Zu unterscheiden sind somit die Richter oberster Instanz350, welche innerhalb der universalen Versammlung zu finden sind von den Gerichten oberer Instanz, welche je nach Größe des Volkes ein oder mehrere Gerichte in den einzelnen Regionen des Reiches (Provinzen) sein können351. Weiterhin sieht Althusius Richter mittlerer und unterer Instanz, welche in den einzelnen Städten angesiedelt sind, vor352. Dabei ist die Systematik der Gerichtsinstanzen denen der EU (z. B. in Deutschland erste Instanz Amtsgericht, zweite Instanz Landgericht, dritte Instanz Oberlandesgericht usw.) gleichzusetzen: „Auch muß denen, die sich durch eine rechtswidrig ergangene richterliche Entscheidung beschwert glauben, die freie Möglichkeit gegeben werden, sich von den mittleren Instanzen und unteren Richtern mit einer Appellation an den obersten Magistrat zu wenden“353. Die sog. königlichen Richter werden vom König unmittelbar eingesetzt, während die sog. munizipalen Richter (mittlerer Instanz) von den Städten mit Genehmigung der Magistraten bestellt werden354 oder vom Senat bestellt werden355 (dies ist bei Althusius nicht eindeutig, da an unterschiedlichen Stellen geregelt). Die Zahl der Richter ist begrenzt356.
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 9, S. 151. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.VI, § 51, S. 79. 348 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 30, S. 302. 349 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 10, S. 151. 350 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 57 ff., S. 304. 351 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 41, S. 302 und Kap. VIII, § 62, S. 105. 352 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 40, S. 302 und Kap.VI, § 43, S. 77. 353 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 57, S. 304. 354 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 46, S. 303. 355 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 69, S. 67. 356 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 50, S. 304. 346 347
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Das höchste Gericht sollte in der Hauptstadt des Reichs sitzen357; in Deutschland ist dies die Kaiserliche Kammer, die ihren gewöhnlichen Sitz in Speyer hat358. b) Amtszeit Die Gerichte sollen beständig und unveränderlich besetzt werden, so daß die Klugheit der Richter durch ihre lange Praxis genutzt werden kann. Ein häufiger Wechsel ist für das Gemeinwesen verderblich und bringt eine unterschiedliche und veränderliche Rechtssprechung hervor, welche zur Anarchie und zu Aufständen führt359. c) Funktionen und Aufgaben Die Gerichte – müssen „den Gesetzen entsprechend . . . Rechtserkenntnis gewinnen und Recht sprechen“360, – halten öffentliche Sitzungen zum Zwecke der Erhaltung des hohen Ansehens, des Lernprozesses der Bevölkerung sowie der öffentlichen Überwachung von Gerichtsprozessen ab361, – untersuchen in ihren Rechtssprüchen umstrittene und konverse Fälle362, – entscheiden unvoreingenommen und ohne jedes Vorurteil363, – bessern und wenden Mißbrauch der Streitenden ab364, – haben die Prozeßkosten zu begrenzen365, – unterliegen Sanktionen bei nachlässiger rechtlicher Untersuchung366, – folgen ihren Kammergerichtsordnungen367.
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 11, S. 152. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 60, S. 304 f. und Kap.V, § 81, S. 69. 359 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 95, S. 334. 360 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 30, S. 302. 361 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 49, S. 304. 362 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 48, S. 304. 363 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 48, S. 304. 364 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap.XXIX, § 48, S. 304. 365 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 50, S. 304. 366 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 50, S. 304. 367 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIX, § 60, S. 305. 357 358
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4.2.2.4 Sonstige Organe und Institutionen Betrachtet man innerhalb der EU z. B. die Europäische Zentralbank (vgl. Kapitel 4.2.1.4.1) als Verwaltungsorgan für die Finanzmittel der EU, so muß – einer stringenten Gliederung folgend – z. B. das Reichsarchiv als Verwaltungsorgan für die Dokumentenaufbewahrung ebenfalls als staatliche Institution gesehen und als solche interpretiert werden. Im folgenden sollen weltliche und geistliche Organe unterschieden werden.
4.2.2.4.1 Weltliche Organe und Institutionen – Reichsarchiv
Das Reichsarchiv ist als Verwaltungsorgan für die Dokumentenaufbewahrung als staatliche Institution zu sehen. Das Reichsarchiv ist mehr als nur ein Aufbewahrungsort historischer, für den aktuellen Gebrauch nicht mehr relevanter Materialien. Es ist vielmehr eine Einrichtung zur Aufbewahrung aller wichtigen Dokumente, Urkunden, Akten wie Reichsmatrikel mit rechtlichem Beweiswert368. Vorsteher des Reichsarchivs ist der Reichskanzler369. – Ratgeber des Magistrats
Ratgeber des Reichs sind Personen, welche dem Gemeinwesen mit ihren Ratschlägen zur Seite stehen370. Befähigt sind Ratgeber, wenn sie die Sitten und Herzen der Untertanen kennen, in politischen Dingen kundig sind, Freund des Magistrats sind, das Richtige klar erkennen, scharf und schnell die Gründe dafür sehen und darlegen, klug, weise, erfahren und praktisch veranlagt, aufrichtig, treu, verschwiegen, fromm, menschlich, lauter, beständig, beredsam, freimütig, bedachtsam und über einen freien Sinn verfügend sind371. Die Ratgeber sollen nach genauer Prüfung unter einheimischen Untertanen – und hier aus allen Ständen des Reiches – ausgewählt werden. Ihnen obliegen Belohnungen und Pflichten; sie müssen einen Treueeid schwören372. Die Form des Ratschlages kann ein Vorschlag, eine Anfrage, eine Prüfung, und ein Beschluß sein373. Der Rat hat folgende Arten374: – Hofrat (für höfische Angelegenheiten und Beratungen), 368 369 370 371 372 373 374
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIV, § 4, S. 143. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIV, § 5, S. 143. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIV, § 6, S. 143. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 7 ff., S. 272. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 27 ff., S. 272 f. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 41, S. 274. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 46 f., S. 274 f.
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– Konsistorialer Rat, – Rat der öffentlichen Finanzen, – Nautischer Rat, – Militärrat. Der Magistrat muß den Rat hören375 und an den Verhandlungen des Rats teilnehmen376. 4.2.2.4.2 Geistliche Organe und Institutionen Auf die geistlichen Organe und Institutionen soll insbesondere wegen der im Spätmittelalter und der Frühen Neuzeit stärkeren politischen Bedeutung und Einflußnahme der Geistlichkeit eingegangen werden; die Machtstellung der Kirche wurde erst in der Folgezeit immer weiter von den politischen Machtstrukturen zurück gedrängt. Althusius galt als einer der Vorreiter der Trennung zwischen Staat und Kirche. Heute sind Staat und Kirche vollständig getrennt (vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 3.2.2.4). – Geistliche Ephoren
a) Zusammensetzung Die geistlichen Ephoren setzen sich aus kirchlichen Personen zusammen377. Die geistlichen Ephoren sind der Erzbischöfe von Mainz, Köln und Trier378. Die Struktur ist gleich der der weltlichen Ephoren bzw. Exekutive (vgl. Kapitel 4.2.2.2). b) Funktionen und Aufgaben Die geistlichen Ephoren nehmen sich der kirchlichen Angelegenheiten an379. Die Funktionen sind gleich der der weltlichen Ephoren bzw. Exekutive (vgl. Kapitel 4.2.2.2). – Presbyterium (Kirchensenat)
a) Zusammensetzung und Sitz Das Presbyterium ist ein Kollegium bedeutender und frommer Menschen380. Es besteht aus Pastoren und Dienern am Wort Gottes und denjenigen, welchen die getrennte Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten übergeben ist; sie werden Presbyter und Diakone genannt381. 375 376 377 378 379 380 381
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 50, S. 275. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVII, § 64, S. 276. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 108, S. 189. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 110, S. 189. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 108, S. 189. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 10, S. 96. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 12, S. 96.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
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Der Sitz des Presbyteriums ist innerhalb der Parochie (Parochie = nachbarschaftliche Vereinigung oder Vereinigung mehrerer Dörfer, Städte, Bürgergemeinden oder Provinzen zur Ausübung des öffentlichen Gottesdienstes382), wobei jede Parochie über ein Presbyterium verfügen soll383. b) Funktionen und Aufgaben Die Presbyter haben dafür Sorge zu tragen, daß die Erhaltung der Disziplin, das Buße tun, die Ausführung von Lehre und Predigt, die Ausführung des Amtes der Versöhnung, die gemeinschaftliche Verbindung der Gläubigen, der Dienst am Leib Christi, die Verwaltung der kirchlichen Angelegenheiten sowie die Hütung und Verwaltung der Sakramente384 und die Zensur, Wahrung der Kirchendisziplin, Inspektionen und Visitationen von Schulen385 durchgeführt wird. Die Presbyter i.e.S. sind die Bischöfe, deren Aufgabe es ist „auf die Diener der Kirche Acht zu geben . . . , so daß diese ihre Pflicht tun, sie auf Irrtümer, Spaltungen, Anstößiges und öffentliche Notstände hinzuweisen und sie zum Gebet und zur Buße zu bewegen“386. Die Diakone sind mit der Leitung der Verteilung der Almosen und der Sorge für die Armen betraut und tragen Sorge für die Nächstenliebe sowie die Kirchengüter387. Das Kollegium der Presbyter wählt und beruft die Diener am Wort Gottes mit Zustimmung und Billigung der Gemeinde und Bestätigung des Magistraten388. Das Presbyterium stimmt nicht mit Mehrheit oder in einem sonstigen quantifizierbaren Verfahren ab, sondern es entscheidet nach dem, was dem Worte Gottes entspricht 389. Dieser Leitung der geistlichen Angelegenheiten ist auch der Magistrat unterworfen390, insofern ist die Kirchenleitung von der weltlichen getrennt und unabhängig, was auch dem Althusius’schen Ansatz der Trennung von Kirche und Staat entspricht. – Kirchliche Verwaltung
a) Zusammensetzung Der kirchlichen Verwaltung steht der oberste Magistrat vor, welcher die Leitung, Aufsicht, Verteidigung und Leitung der kirchlichen Dinge übernimmt, während die Verwaltung der kirchlichen Aufgaben den Kirchenpersonen obliegt391. 382 383 384 385 386 387 388 389 390 391
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 9, S. 96. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 8, S. 96. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 12, S. 96. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 24, S. 99. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 14, S. 97. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 15, S. 97. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 18, S. 98. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 28, S. 99. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 32, S. 100. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 5, S. 280.
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b) Funktionen und Aufgaben Die kirchliche Verwaltung ist zuständig für die Angelegenheiten der Kirche, durch welche im Gemeinwesen oder in der politischen Ordnung das Reich Gottes eingeführt wird392; insofern ergibt sich hier jedoch keine strikte Trennung zwischen Kirche und Politik – wie dies sonst Althusius verficht – sondern eine politische Zweckbestimmung der Kirche durch den Staat bzw. die Politik und umgekehrt: Der oberste kirchliche Magistrat hat – auch per Anordnung – dafür Sorge zu tragen, daß die politischen Amtsträger den kirchlichen bei der Ausübung ihrer Ämter behilflich sind393. Sowohl der oberste Magistrat als auch die Kirchenpersonen unterliegen grundsätzlich dem Wort Gottes394. Die kirchliche Verwaltung hat folgende Aufgaben395: Öffentliche Weitergabe der Lehre der wahren Religion, Einführung und Erhaltung des freien Bekenntnisses bei ihrer Ausübung und Praxis, Sicherstellung des geheiligten und frommen Lebens der Glieder des Reiches sowie die Erhaltung, Verteidigung und Weitergabe der Lehre an die Nachgeborenen. Dazu soll sie ein geistliches Amt und Schulen einrichten396. Weiterhin ist der oberste Magistrat der kirchlichen Verwaltung befugt, öffentliche Strafedikte zu erlassen397, Normen des rechten Glaubens oder die feierliche Formel der wahren Religion gesetzlich festzulegen398, eine ordentliche kirchliche Gerichtsbarkeit sowie Presbyterien, Synedrien (= Synoden) und Konsistorien einzusetzen und durch diese Gesetze zu erlassen, Bischöfe und Pastoren zu berufen, zu prüfen, zu ordinieren, zu leiten, zu richten und abzusetzen399. Auch für die äußerliche Berufung, Wahl und Bestätigung der Kirchenpersonen / -diener ist er zuständig400 sowie für die Einberufung und Leitung von kirchlichen Versammlungen (Presbyterien, Kirchenverbände und Teilsynoden der Provinz) und die Kirchenvisitationen401. Weiterhin zählt die Besserung und Reinigung der Kirche von Irrlehren mittels öffentlicher Edikte zu deren Beseitigung und Aufhebung zu seinen Aufgaben402 sowie die Zensur von Büchern und die Ämterbesetzung403 von Häretikern404. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 4, S. 280. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 46, S. 288. 394 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 5, S. 280. 395 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 12 f., S. 281 f. 396 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 25, S. 285. 397 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 27, S. 285. 398 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 28, S. 285 f. 399 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 29, S. 286. 400 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 31, S. 286. 401 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 41 ff., S. 287 f. 402 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 50 ff., S. 289 ff. 403 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 68, S. 295 und Kap. VIII, § 39, S. 101. 392 393
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– Verband von Kirchengemeinden a) Zusammensetzung und Sitz Mehrere Parochien (Parochie = nachbarschaftliche Vereinigung oder Vereinigung mehrerer Dörfer, Städte, Bürgergemeinden oder Provinzen zur Ausübung des öffentlichen Gottesdienstes405) mit deren Presbyterien bilden einen kirchlichen Verband, welchem der Bischof vorsteht406. Der Konvent aller kirchlichen Verbände bildet die Provinzialsynode407. Leiter des Kirchenverbandes ist der Erzbischof oder Generalsuperintendent der Provinz408. b) Funktionen und Aufgaben Der Kirchenverband hat die gleichen Aufgaben wie die kirchliche Verwaltung. Jedoch werden in dessen Konvent „größere Fragen und Differenzen zur Entscheidung gebracht . . . , die hinsichtlich der Lehre und geistlicher Angelegenheiten anfallen und die vom Presbyterium nicht entschieden werden können“409.
4.2.2.5 Konsoziationen: Parteien der EU und Konsoziationen des Althusius im Vergleich Die Konsoziationen bei Althusius sollen als politische Institutionen hier in Analogie zu den Parteien in der EU untersucht werden. Dazu soll nochmals auf die Definition von Parteien zurück gegriffen werden410: „Organisierte, nicht nur kurzfristige Vereinigungen einer größeren Anzahl von Personen zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele. Jede politische Partei ist ein Kampfverband; sie will ihren politischen Willen zu dem im Staate geltenden machen . . . Eine politische Gruppe ist nur dann echte politische Partei, wenn sie ihre Aufgabe nicht in der Vertretung von Gruppeninteressen sieht, sondern eine politische Gesamtauffassung entwickelt, die das Beste für alle Staatsbürger schafft“. Politische Parteien haben folgende Hauptfunktionen411: – Vorentscheidung über die Personen, welche leitende Stellen im Staat besetzen, – Aufstellung von Kandidaten für politische Wahlen, 404 Zu den Häretikern sind z. B. Anhänger des Arianismus, einer christlichen Lehre des 4. Jahrhunderts, zu zählen, welche das Trinitätsdogma in Frage stellte und auf dem Konzil von Nicäa 325 verurteilt wurde; vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXVIII, § 56, Fußnote 18, S. 292. 405 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 9, S. 96. 406 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 33 f., S. 100. 407 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 36, S. 100. 408 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 35, S. 100. 409 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 33, S. 100. 410 Herder Lexikon (1988), S. 165 f., wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 411 Vgl. Herder Lexikon (1988), S. 165 f.
356
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– Mitgliedschaftsfreiheit, – Einflußnahme des Volkes auf die politische Willensbildung (auch verfassungsmäßig), – Vorentscheidung auf den Einfluß der Gesetzgebung, – Träger der öffentlichen Meinung, – Vorhandensein einer inneren Ordnung nach demokratischen Grundsätzen, – Parteigründung unterliegt keinem Zwang.
Nunmehr erfolgt der rein formale Vergleich der Kriterien der Partei in der EU mit den Konsoziationen bei Althusius, mit der Feststellung erstaunlicher Identität, jedoch auch Abweichung, welche sich aus dem Selbstverständnis der Historie heraus sowie der Ständeordnung ergibt: Tabelle 30 Parteien und Konsoziationen in der EU und bei Althusius Partei- / Konsoziationskriterium
EU Althusius
Organisierte, nicht nur kurzfristige Vereinigungen einer größeren Anzahl von Personen
& ✓
& ✓ 412
zur Durchsetzung bestimmter politischer Ziele
& ✓
& ✓ , das Wohl Aller413
politischen Willen zu dem im Staate geltenden machen
& ✓
& ✓ 414
nicht Vertretung von Gruppeninteressen
& ✓
& ✗ , da Vertretung der Stände
politische Gesamtauffassung
✓ &
& ✗
Vorentscheidung über die Personen, welche leitende Stellen im Staat besetzen
& ✓
& ✓ , da lineare Ansammlung von Repräsentationen der Repräsentationen415
Aufstellung von Kandidaten für politische Wahlen
& ✓
& ✓ , da z. B. die Kollegien die Ephoren stellen416
Mitgliedschaftsfreiheit
& ✓
& ✗ , bedingt, da zwingende Zugehörigkeit zum Stand, jedoch freiwillige Mitgliedschaft417
412 413 414
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 1 f., S. 48. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 1, S. 48. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 6 f., S. 49 und Kap. IV, § 8,
S. 49. 415 416 417
Vgl. Nitschke, P. (1995), S. 166. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVIII, § 109, S. 189. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 3, S. 48.
4.2 Politische Institutionen und Kräfte Partei- / Konsoziationskriterium
EU
357
Althusius
Einflußnahme auf die politischeWillensbildung
✓ &
& ✓ 418
Vorentscheidung auf Einfluß der Gesetzgebung
& ✓
& ✓
Träger der öffentlichen Meinung
& ✓
& ✓
Vorhandensein einer inneren Ordnung
& ✓
& ✓ , Ständeordnung, Kollegiumssatzung419, Zunftbücher420
Gründung unterliegt keinem Zwang
& ✓
& ✓ 421
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Ein interessanter Aspekt im Vergleich der Parteien der EU mit den Konsoziationen der Frühen Neuzeit ist die Tatsache, daß deren Ursprung und Ziel nicht weit voneinander entfernt ist. Die Ausführungen zur Historie der Parteien in der EU (vgl. Kapitel 4.2.1.5) zeigt, daß die Parteien aus Interessensverbänden hervor gegangen sind und diese somit als Vorläufer der Parteien zu betrachten sind. Lediglich deren soziale und inhaltliche Struktur hat sich folgendermaßen verändert: – Konsoziation der Frühen Neuzeit
– Sozialstruktur: Stände und Gruppierungen (z. B. Handwerker), – Inhalte: Ständische und Gruppenziele sowie politische Ziele. – Partei der EU
– Sozialstruktur: Querschnitt durch das gesamte Volk, – Inhalte: Politische Ziele. Insofern stellt sich die Frage, ob die außerhalb der i. e. S. politischen Ziele, nämlich die ständischen sowie die Gruppenziele nicht ebenfalls als politische Ziele innerhalb der Sozialpolitik oder der Wirtschaftspolitik zu betrachten sind. Dies würde zu der Aussage führen, daß das politische Engagement der Konsoziationen einen weiteren Horizont beinhaltet als das der Parteien. Umgekehrt wurden von den Konsoziationen und auch von den ersten Parteien nicht umfängliche, sondern nur partielle politische Ziele verfolgt (vgl. Kapitel 4.2.1.5), so daß in diesem Bereich wiederum deren Horizont beschränkter war.
418 419 420
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 16, S. 51. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 16, S. 51. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 8, S. 49 und Kap. IV, § 17,
S. 51. 421
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IV, § 1, S. 48.
358
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
4.2.2.6 Staatsverfassung: die EU und Althusius im Vergleich Eine Staatsverfassung nach heutigem Verständnis gab es zu Zeiten Althusius im Späten Mittelalter und der Frühen Neuzeit nicht; sie entstand erst Ende des 18. Jahrhunderts422. Eine Verfassung ist „die Institution, durch die in einem politischen Gemeinwesen soziales Handeln, aus dem das Sein des politischen Verbandes hervorgeht, organisiert, der Zusammenhang der Gruppe als politischer Verband gesichert, das Gemeinwesen leistungs- und handlungsfähig gemacht wird“423. Dennoch ist ein direkter Vergleich der heutigen Definition der Staatsverfassung mit der „Politica“ – so man diese politische Theorie als Verfassung bezeichnen könnte – des Althusius zuträglich: Tabelle 31 Staatsverfassung in der EU und bei Althusius Verfassungsdefinition
EU
Althusius
Institution
& ✓
& ✗ , Verfassung ist nicht institutionalisiert
Organisation sozialen Handelns
✓ &
& ✓ , als Selbstverständnis der consociatio symbiotica424
Ursprung des Seins des politischen Verbandes
& ✓
& ✓ 425
Sicherung des Zusammenhangs der politischen Gruppe
& ✓
& ✓ , per Vertrag und Übereinstimmung426
Sicherung der Leistungs- und Handlungsfähigkeit des Gemeinwesens
& ✓
& ✓ , „Gemeinwesen einzurichten und zu verwalten“427
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt.
Althusius kennt und verwendet den Begriff der Verfassung in folgenden Zusammenhängen: – die Verfassung als Ordnung eines Gemeinwesens ist Teil der „politie“428, Vgl. Herder Lexikon (1988), S. 221. Herder Lexikon (1988), S. 221 f., wobei wiederum bewusst auf Lexika-Definitionen als Dokumentation des aktuellen wissenschaftlichen Standes bestimmter Begriffsdefinitionen als Diskussionsgrundlage zurück gegriffen wird. 424 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 4 ff., S. 24 ff. 425 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 1, S. 24. 426 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 6, S. 25 und Kap. I, § 29, S. 29. 427 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 5, S. 25. 428 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 5, S. 25. 422 423
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
359
– das Fundamentalgesetz des Reiches als Grundpfeiler entspricht einem Verfassungsbegriff: „. . . bestimmte Verträge, unter denen mehrere Städte und Provinzen übereingekommen sind, ein und dasselbe Gemeinwesen zu bilden . . .“429, – eine Verfassung kann bei der freien Wahl neu geschaffen oder auch abgeschafft werden430.
Im folgenden soll ausschließlich zum Zwecke der Vergleichbarkeit der Verfassung der EU mit der der politischen Theorie des Althusius eine Analyse der politischen Elemente des Althusius in der Struktur der Verfassung der EU (vgl. Kapitel 4.2.1.6) erfolgen: a) Definition und Ziele des Staates b) Bürgerschaft und Grundrechte c) Zuständigkeiten des Staates d) Organe des Staates e) Ausübung der Zuständigkeiten und Durchführung der Maßnahmen f) Demokratisches Leben im Staat g) Finanzen des Staates h) Politiken des Staates i) Zugehörigkeit zu einer Konföderation j) Grundrechte Aus diesem Grunde wird die Gliederung der Verfassung der EU heran gezogen und die Verfassungselemente bzw. politischen Elemente des Althusius analog zusortiert, um den direkten Vergleich zu ermöglichen:
4.2.2.6.1 Definition und Ziele des Staates Der Althusius’sche Staat ist eine politische Gemeinschaft, welche aus der Gemeinschaft der Güter, der Leistungen und des Rechts besteht431. Ziel ist, per Vertrag432 „dasjenige in die Gemeinschaft einzubringen, was einer für Leib und Seele förderlichen Lebensführung angemessen ist mit dem Ziel, daran Anteil zu nehmen und zu geben“433.
429 430 431 432
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 49, S. 205. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIX, § 72, S. 210. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 7 f., S. 25. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 6, S. 25 und Kap. I, § 29,
S. 29. 433
Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. I, § 6, S. 25.
360
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
4.2.2.6.2 Bürgerschaft und Grundrechte Bürger sind alle Angehörigen der körperlichen Gemeinschaften. Sie haben alle Bürgerrechte (politeuma), die nützlichen und notwendigen Dinge in Anspruch zu nehmen434. Die Pflichten des Bürgers sind bei Althusius nicht direkt angeführt; sie ergeben sich nur mittelbar aus der „consociatio symbiotica“. Althusius sieht im Staat bestimmte Grundrechte verankert (vgl. Kapitel 3.2.6.2.9). 4.2.2.6.3 Zuständigkeiten des Staates Die Abgrenzung der Zuständigkeiten erfolgt bei Althusius grundsätzlich in der bis dahin unbekannten Trennung der kirchlichen und weltlichen Angelegenheiten. Die Zuständigkeiten sind über die Gliederung des politischen Gemeinwesens durch deren Struktur vordefiniert: Jede Stufe von der des Kollegiums bis über die Stadt, die Provinz hin zum Reich hat ihre eigenen politischen Zuständigkeiten. Die Zuständigkeit des Staates ist gemäß dem „ius majestatis“ (Recht der Souveränität) als Reichsrecht mit höherem Rang und größerer Autorität als das entsprechende Stadt- oder Provinzrecht435 versehen und umfasst: Lebensunterhalt, Autarkie, eigene Ordnung, Lenkung der Handlungen der Glieder und Aufgabenvorschrift436. Weiterhin zählen dazu die Besteuerung und die aus den Steuergeldern vorzunehmende Umverteilung zum Wohle des Gemeinwesens437, das Kriegsrecht und der Abschluß von Friedensverträgen438. Die Ausübung der Zuständigkeiten erfolgen ebenso wie in der EU über das Subsidiaritätsprinzip (vgl. Kapitel 3.2.7.3). 4.2.2.6.4 Organe des Staates Die Organe sind (vgl. die näheren Ausführungen in Kapitel 4.2.2): – Magistrat (König, Fürst oder Herzog, Graf, Senat), – Ephoren, – Kollegium der Richter, – Reichsarchiv, – Ratgeber. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. V, § 12 ff., S. 59 ff. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 13, S. 115. 436 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 15, S. 115. 437 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 25, S. 133. 438 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 4, S. 150 und § 16, S. 152 sowie Kap. XXXV, § 7, S. 358. 434 435
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
361
4.2.2.6.5 Ausübung der Zuständigkeiten und Durchführung der Maßnahmen Der Staat bei Althusius übt – ebenso wie die EU – seine Zuständigkeiten unter der Maßgabe der zugrunde zu legenden Gesetze – bestehend aus dem Naturrecht und dem Zivilrecht (vgl. Kapitel 3.2.6.2.1) – aus mit dem Ziel, die allgemeine Zucht und Ordnung im Staatsgebiet aufrecht zu erhalten, die Glieder des Staates zu einem Volk zu vereinigen und das Volk wiederum zu einem Körper mit einem Haupte zu verbinden 439. Weiterhin ist geltendes Recht das generelle und spezielle Recht mit dem „ius majestatis generale“ und dem „ius majestatis speciale“ (vgl. Kapitel 3.2.6.2.3). Das Instrument der Gesetzgebung ist das Gesetzgebungsverfahren durch die Magistraten (vgl. Kapitel 4.2.2.1), wobei der Willkürlichkeit des Magistraten über die Konstruktion der Ephoren Einhalt geboten wird (vgl. Kapitel 3.2.1.3).
4.2.2.6.6 Demokratisches Leben im Staat Die Demokratie selbst wird bei Althusius aus zwei Standpunkten betrachtet: – Bottom-up-Betrachtung
Demokratisch zusammengesetzt ist jegliches Staatsleben bei Althusius schon durch die Struktur der Gesellschaft (vgl. Kapitel 3.2.1.1.1), welche direkt in die Struktur der Politik übergeht: Das politische Leben wird über die Mehrheitsentscheidungen durch das Ephorensystem (vgl. Kapitel 3.2.1.3.1) innerhalb der Konsoziationen, Dörfer, Städte, Provinzen und im Reich durchgängig organisiert und gesteuert. Über die Zugehörigkeit zu den Ständen und den Konsoziationen hat jeder Bürger die Möglichkeit aktiv am politischen Leben und somit am demokratischen Leben teilzunehmen. – Top-down-Betrachtung
Die Demokratie entsteht mit der Art der Ausübung der Souveränitätsrechte des Magistraten: „Ein demokratischer Status . . . ist dann gegeben, wenn im Namen des . . . Volkes bzw. aller Reichsbewohner einige von ihnen, nachdem sie zu bestimmter Zeit von allen gewählt worden sind, über alle Übrigen . . . herrschen, die Souveränitätsrechte und die Rechte der höchsten Herrschaftsgewalt ausüben und verwalten“440. Das demokratische Leben wird im Althusius’schen Staat durch folgende Momente ausgeübt: – die Volksvertreter üben die Herrschaftsgewalt demokratisch aus441, Vgl. Eßer, H.H. (1988), S. 168. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 57, S. 431. 441 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 57, S. 431 und § 61, S. 432 und § 64, S. 432. 439 440
362
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
– das Volk übt die Souveränitätsrechte gemeinsam aus442, – es besteht eine Gewaltenteilungstemporalität (vgl. Kapitel 3.2.6.2.7.1), – jedem Gemeinschaftsmitglied stehen alle Ämter offen443, – Volksherrschaft wird gemäß der Stimmenanzahl ohne Gewichtung ausgeübt444, – die demokratischen Elemente der Volkssouveränität (vgl. Kapitel 3.2.4.1.1), der Freiheit („. . . das leibliche Leben unter Einschluß der Unversehrtheit des je eigenen Körpers und seiner Freiheit. Dem stehen Gewalttätigkeit, Tötung, Verletzung und Verwundung, Zwang und Nötigung, Knechtschaft, Freiheitsberaubung und Fesselung entgegen . . .“445) und der Rechtsstaatlichkeit (vgl. Kapitel 3.2.6.3.1) sind bei Althusius modelltheoretisch vorhanden.
4.2.2.6.7 Finanzen und Steuern des Staates Als Emdener Syndikus vertrat Johannes Althusius in seinem praktischen politischen Wirken als Sachwalter die spezifischen Emdener Interessen neben dem Gerichts- und Landtagswesen auch auf dem Gebiet des Finanzwesens446, weswegen entsprechende Ausführungen in der Politica zu diesem Gebiet zu finden sind. Das Finanzwesen des Staates besteht aus folgenden Komponenten für die Mittelzuflüsse447: – Finanzmittel aus fiskalischen oder Reichsgütern, – Einkünfte aus Geldstrafen und konfiszierten Gütern, – Finanzmittel aus entzogenem und herrenlosem Besitz, – Finanzmittel aus im Krieg erworbenen Besitztümern, – Finanzmittel aus Besitztümern und Gütern aus Schenkungen, – Steuern- und Abgabenerhebung448, – im Notfall aus der Entnahme von Kirchengütern449.
Die Steuererhebung des Staates ist ebenso hierarchisch-föderal gegliedert wie dies in der EU der Fall ist: Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 59, S. 431. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 63 f., S. 432 f. 444 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIX, § 64, S. 433. 445 Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 6, S. 126. 446 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Einleitung, S. XIII. 447 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 26, S. 133 sowie Kap. XVII, § 15 ff., S. 156 ff. und Kap. XVII. 448 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 24 ff., S. 129 ff., Kap. XII und Kap. XIII. 449 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XIII, § 16, S. 141. 442 443
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
363
– Die Bürger der Stadt leisten Zahlungen an die Stadt, welche der städtischen Gemeinschaft und den öffentlichen Diensten zur Verfügung stehen450. – Die in der Provinz lebenden Symbioten haben die Pflicht, Abgaben und Steuern für den öffentlichen Bedarf der Provinz zu erbringen451. Der Landtag befindet über Steuern und Abgaben in der Provinz452. – Das Reich sollte in Friedenszeiten durch die Einnahmen aus Steuern und Abgaben den Staatsschatz für Notzeiten vermehren453, was nach heutiger Notation einer Art antizyklischer Fiskalpolitik entsprechen würde.
Die Steuererhebung hat Rechtscharakter und ist bestehendes Gesetz; die Ausführungen über die Erfordernisse, Arten und Verwaltung von Steuern454 subsumiert Althusius unter dem Kapitel XI. „Das besondere Souveränitätsrecht“. Weiterhin sind dem Steuerwesen in der Politica des Althusius die Kapitel XII und XIII gewidmet455, wo die Erhebung der ordentlichen Steuern erster und zweiter Art, der außerordentlichen Steuern, der Geldabgaben, des Tributs, der Verkehrs-(= Zoll)steuer, der Ein- und Ausfuhrsteuer sowie der Nachsteuer geregelt ist. Die Bürger sind per Eid verpflichtet, Steuerzahlungen zu leisten456. Steuern sollen nur durch vertrauenswürdige und bewährte Bedienstete eingetrieben werden sowie deren Notwendigkeit dem Volk zum Zwecke des Verständnisses und der Anerkenntnis einsichtig erklärt werden457. Steuern und Abgaben werden durch den obersten Magistrat erhoben458. 4.2.2.6.8 Politiken des Staates Die politischen Gebilde haben im politischen System des Althusius folgende Politikfelder: – Außen- und Verteidigungspolitik
Für die Ausführung der Verteidigungspolitik ist der sog. Wehrstand (der Adel) als gesamte gesellschaftliche Gruppe dazu bestimmt, die Verteidigung sowie die 450
Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 34, S. 76 und Kap. VI, § 61,
S. 90. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VII, § 12, S. 84. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 64, S. 105 f. 453 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 9, S. 114 und Kap. XII, § 12, S. 137. 454 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 24 ff., S. 129 ff. und Kap. XXXII, § 79, S. 332. 455 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XII, § 1 ff., S. 135 ff. und Kap. XIII, § 1 ff., S. 139 ff. 456 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XX, § 18, S. 218. 457 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXIV, § 30, S. 252. 458 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 46, S. 374. 451 452
364
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
Abwehr von Gewalt und Unrecht zu gewährleisten459. Der Schutz der universalen Gemeinschaft durch Verteidigung und auch Kriegsführung ist im Souveränitätsrecht als Pflicht der Magistraten verankert460. Die Verteidigungsfähigkeit und die Unterhaltung einer Armee mit Kriegsgerät ist auch in Friedenszeiten nicht zu vernachlässigen461. Außenpolitische Aktionen wie z. B. das Eingehen eines Bündnisses zwischen staatlich organisierten Einheiten sind bei Althusius explizit vorgesehen und umfassen sodann auch eine gemeinsame Verteidigungspolitik der Konföderierten462. Internationale Zusammenhänge sowie außenpolitische Sachverhalte sind generell nicht Gegenstand in der Politica des Althusius463, wenngleich auch Althusius selbst während seiner Emdener Zeit mit seiner (auch außen-)politischen Tätigkeit im Brennpunkt des bipolaren Mächteringens in Europa zwischen dem spanisch-katholischem und dem niederländisch-evangelischem Block stand464. – Innenpolitik
Im Rahmen der Territorialrechte 465 werden die innenpolitischen Befugnisse und die zustehenden Rechte der staatlichen Organisation und deren Autonomie verankert. Der Magistrat kann das Reichsrecht als höchstes Recht der Souveränität zum Zwecke der innenpolitischen Regierung ausüben466 und weiterhin die Beachtung und Ausführung des Gesetzes als Ausprägung des Souveränitätsrechtes durchsetzen467. Die Gewährleistung der Umsetzung des Rechtes z. B. durch Gerichte gehört ebenso wie die Verteidigung zum Schutz der universalen Gemeinschaft und ist im Souveränitätsrecht als Pflicht der Magistraten verankert468. – Wirtschaftspolitik
Die Wirtschaftspolitik ist im besonderen weltlichen Souveränitätsrecht verankert; sie soll die einzelnen Mittel, welche bestimmt sind, Bedürftigkeit und Not der Symbioten zu lindern, den Nutzen zu mehren und Nachteile abzuwenden469, verwalten. Die Wirtschaftspolitik umfaßt z. B. auch die Teilbereiche der SteuerVgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VIII, § 41 f., S. 102. Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 1 ff., S. 149 ff. 461 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXIV, § 1 ff., S. 351 ff. 462 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 25 ff., S. 158 ff. 463 Vgl. Schilling, H. (2004), S. 50 und S. 65. 464 Vgl. Schilling, H. (2004), S. 51. 465 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. VI, § 41, S. 77. 466 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. IX, § 13, S. 115. 467 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 2 f., S. 125. 468 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVI, § 1 ff., S. 149 ff. 469 Wobei die soziale Komponente deutlich weiter im Vordergrund steht, als dies in der EU der Fall ist (Anm. d. Verf.). Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 1, S. 130. 459 460
4.2 Politische Institutionen und Kräfte
365
politik (vgl. zum Steuerwesen auch Kapitel 4.2.2.6.7)470, der Geldpolitik471 oder der Handelspolitik472. – Haushaltspolitik
Die Haushaltspolitik liegt beim Magistrat und ist für die Umsetzung der politischen Ziele wie Unabhängigkeit, hinlänglicher Lebensunterhalt, Gesetzlichkeit, Ordnung, Ruhe, öffentliche Disziplin notwendig, weshalb es der Verwaltung der Mittel bedarf473. 4.2.2.6.9 Zugehörigkeit zu einer Konföderation Den Zusammenschluß von politischen Gebilden sieht Althusius durchaus zweckmäßig. Er unterscheidet zwei Arten von Konföderationen, die vollständige und die nicht vollständige, teilweise und begrenzte Konföderation474. Für Konföderationen gelten drei Kategorien475 von Gesetzen und Bedingungen, nämlich fest abgesprochene Gesetze in bezug auf die gegenseitige Abwehr von Gewalt und Unrecht, die Pflege und Erhaltung der Eintracht unter den Verbündeten sowie die Verwaltung der gemeinsamen Rechte der Bundesgenossen476 (vgl. dazu auch die näheren Ausführungen in Kapitel 3.2.7.2.1). 4.2.2.6.10 Grundrechte Grundrechte finden sich bei Althusius ansatzweise (vgl. dazu Kapitel 3.2.6.2.7.1 unter dem Stichwort „Soziale Teilungslehre). Althusius sichert den Bürgern folgende Grundrechte zu: Das leibliche Leben unter Einschluß der Unversehrtheit des je eigenen Körpers und seiner Freiheit, keine Gewalttätigkeit, keine Tötung, keine Verletzung und Verwundung, kein Zwang und Nötigung, keine Knechtschaft, keine Freiheitsberaubung und Fesselung sowie das Ansehen, der gute Name, die Ehre, Würde und äußere Güter477 stehen dem Bürger ebenso zu wie die Sorge für die Güter der Privaten, die da sind: Erstens das Leben und die körperliche Unversehrtheit, zweitens der Ruf und das Ansehen, drittens die äußeren Güter478. 470 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 25 ff., S. 133 ff. sowie Kap. XII, S. 135 ff. und Kap.XIII, S. 139 ff. 471 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XI, § 13, S. 131. 472 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXII, § 1 ff., S. 320 ff. 473 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 1 ff., S. 371 ff. 474 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 26, S. 159. 475 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XVII, § 33, S. 161. 476 Vgl. Kappen, O.M., van (1997), S. 165. 477 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. X, § 6, S. 126. 478 Vgl. Althusius, J. (2003) (Hrsg. Wyduckel, D.), Kap. XXXVII, § 98 f., S. 380.
366
4. Das politische System der EU im Vergleich zu Althusius
4.2.2.6.11 Zusammenfassung des Vergleiches Nachfolgende Tabelle zeigt die Zusammenfassung des Vergleiches der Elemente der Verfassung bei Althusius und der EU479: Tabelle 32 Verfassungselemente in der EU und bei Althusius Verfassungselemente
EU
Althusius
Staatsdefinition und -ziele
& ✓ , Koordination der Politik ✓ , Vertragsgemeinschaft zur & der Mitgliedstaaten, Achidealen Lebensführung tung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und Wahrung der Menschenrechte u. a.
Bürgerschaft
& ✓ , mit Bürgerrechten und -pflichten
Staatszuständigkeiten
& ✓ , Förderung und Gewährlei- & ✓ , Lebensunterhalt, Autarkie, stung der Koordinierung eigene Ordnung, Lenkung der Wirtschafts- und Beder Handlungen der Glieschäftigungspolitik, Außender und Aufgabenvor+ Sicherheitspolitik, Verteischrift, Besteuerung, Umdigungspolitik, Unterstütverteilung zum Wohle des zungs-, KoordinierungsGemeinwesens, Kriegsund Ergänzungsmaßn. recht
Organe
✓ , Exekutive, Legislative, Ju- & ✓ , Exekutive, Legislative, Ju& dikative und andere Organe dikative und andere Organe
Ausübung der Zuständigkeiten
✓ , unter der Maßgabe der & Rechtsakte
& ✓ , unter der Maßgabe der zugrunde zu legenden Gesetze
& ✓ , mit Bürgerrechten
Demokratisches Leben
✓ &
& ✓
Finanzen und Steuern
& ✓
& ✓
Politiken des Staates
& ✓ , Außen-, Sicherheits- und Verteidigungs-, Wirtschafts- und Sozialpolitik, Haushaltspolitik
& ✓ , Haushalts- / Innen-, / Außen- + Verteidigungs- / Wirtschaftspolitik
✓ Zugehörigkeit / Bestand- & teil einer Konföderation
Grundrechte
& ✓
& ✓ & ✓ , ansatzweise
Quelle: Vom Verfasser selbst erstellt. 479 Unter der Prämisse der Verfassungsgliederungsstruktur der EU sowie der Annahme der Verfassungsähnlichkeit der „Politica“.
5. Zusammenfassung 5.1 Intention und Ziel des vorliegenden Werkes Die EU kam und kommt immer wieder in die Kritik der politischen Diskussion, was auch am Werdegang dieses politischen Strukturgebildes feststellbar ist: Immer wieder gerät die EU in Stagnationsphasen oder Krisen. Diese sind ganz unterschiedlicher Art und reichen von der „innen“-politischen (Zentralisierungsbestreben) zur außenpolitischen (EU-Erweiterung) über die gesellschaftliche (Türkeibeitritt) und finanzwirtschaftliche (Haushaltsstreit) bis hin zur strukturellen (Verfassungsgebung) Unstimmigkeit. Insofern war und ist der Integrationsweg ein steiniger und nicht einfacher. Der Gedanke der systematischen politischen Strukturierung von Individuen und Gesellschaften wurde bereits in der Antike ausgiebig diskutiert. Insofern ist der Grundgedanke eigentlich Jahrtausende alt. Daher liegt die Fragestellung nahe, inwiefern die philosophisch-politischen Gedanken der Vergangenheit genutzt werden können für die Gestaltung der Zukunft. Dabei ist jedem bewußt, daß sich die Strukturen und Gesellschaften seit dieser Zeit massiv verändert haben und die Gültigkeit der Aussagen dieser Zeit kritisch für die Anwendbarkeit auf die Gegenwart gesehen werden müssen. Dennoch wurde mit diesem Werk der Versuch unternommen, Gedankengut aus dem Spätmittelalter zu analysieren und dessen Gehalt mit dem der Gegenwart zu vergleichen. Weshalb wurde gerade Johannes Althusius dafür gewählt, eine politische Theorie der Vergangenheit mit den Strukturen der EU der Gegenwart zu vergleichen? Mehrere Gründe waren dafür ausschlaggebend: – Althusius war der erste Politikwissenschaftler, welcher den Subsidiaritätsbegriff in rein politischem Kontext gebrauchte; in der EU ist das Subsidiaritätsprinzip ein tragendes Strukturmerkmal. – Althusius war Politikwissenschaftler, Philosoph und Jurist zugleich und demnach in der Lage ein interdisziplinäres politisch-sozial-rechtliches Szenario aufzustellen; die EU ist politischer Körper, vereint schon durch seine räumliche Ausdehnung unterschiedliche soziale Gesellschaften und wird ausschließlich durch Rechtsstrukturen institutionalisiert. – Sowohl Althusius’ Politica als auch die Dicaeologica als vollständige politische bzw. juristische Lehrbücher sind zusammenhängend, in sich konsistent und aus seiner Sicht modern und revolutionär hinsichtlich der Befugnisse der Bürger
368
5. Zusammenfassung
gegenüber dem Herrscher. Insofern liegt der Vergleich mit den konsistenten EUStrukturen auf Basis einer Demokratie nahe. – Althusius war einer der ersten Politikwissenschaftler – noch vor dem eigentlichen Vater der Gewaltenteilung Montesquieu – welcher heute noch gültige und anerkannte politische demokratische Mechanismen und Verfahren in seiner politischen Theorie verwendet. – Althusius beschreibt bestimmte gesellschaftsrelevante und soziale Mechanismen, welche er als staatsnotwendig deklariert. Diese Mechanismen sind heute – und gerade wegen ihrer Selbstverständlichkeit – aus dem Blickpunkt der gesellschaftspolitischen Diskussion geraten und könnten helfen, ein neues Gesellschaftsverständnis zu implementieren.
Das Werk ist ein Strukturvergleich der politischen Theorie sowie der politischen Systeme. Verglichen werden dabei die theoretischen Ansätze des Althusius – und somit ein imaginärer, idealpolitischer Zustand einer Struktur – mit der empirisch nachweisbaren Struktur der EU. Es wurde bewußt nicht der Vergleich der tatsächlichen politischen Strukturen des Spätmittelalters mit denen der EU der Gegenwart angestellt, da – die revolutionär-modernen Ansätze von Althusius wie z. B. die Gewaltenteilung nicht tatsächlich im politischen System des Spätmittelalters vorhanden waren. – supranationale politische Zusammenschlüsse im Spätmittelalter sicher nicht im Fokus der politischen Bemühungen standen, die politische Theorie jedoch aufgrund ihres Abstraktionsgrades gerade diesen Vergleich zuläßt und eine Übertragung des politischen Systems des Althusius auf die EU zuläßt.
5.2 Inhalt und Aussagen des Werkes Die Vorgehensweise des Strukturvergleiches zwischen Althusius und der EU ist folgender: – Im Bereich der politischen Theorie (vgl. Kapitel 2.) werden die Elemente der politischen Theorie – die da sind Gemeinschaft, Theologie, Kultur, Staatsstruktur, Souveränität, Repräsentation, Recht, Föderalismus, Konföderation und Subsidiarität – aus der politischen Theorie des Althusius her analysiert und sodann mit den heutigen Begriffen innerhalb der EU verglichen. Aus dem Vergleich wird deutlich, daß die Analyse des Althusius Strukturdefizite der EU ableiten läßt und schon deshalb Althusius modelltheoretisch wertvoll ist. – Im Bereich der politischen Systeme ist die Vorgehensweise eine umgekehrte: Die Elemente der politischen Institutionen Legislative, Exekutive, Judikative, Sonstige Organe, Parteien und Verfassung werden anhand der EU analysiert und sodann mit denen bei Althusius verglichen.
5.2 Inhalt und Aussagen des Werkes
369
Erstaunlich ist, daß dieser Vergleich durchgängig erfolgreich durchgeführt werden kann und systematisch-tabellarisiert darstellbar ist. Dies ist jedoch der Zugrundelegung der politischen Elemente zuzuschreiben; ein derartiger Vergleich auf detaillierterer Ebene wie z. B. der Vergleich des Wortlautes eines bestimmten Artikels der EU-Verfassung mit dem Komplementärartikel aus Althusius’ politischer Theorie wäre nur schwerlich möglich gewesen. Dies zeigt jedoch, das die Grundelemente der politischen Theorie und des politischen Systems des Althusius durchaus mit denen der EU vergleichbar sind und daß erstaunliche Übereinstimmungen feststellbar sind, wobei eher in der Ausprägung und Interpretation der einzelnen Elemente, nicht jedoch in deren Existenz Unterschiede feststellbar sind. Insofern ist klar erkennbar, daß es ein Europa gab und gibt und dieses in eine jahrhundertelange Tradition aber auch Lehre eingebettet ist. Ableitbar aus der Theorie des Althusius ist auch, dadurch daß Althusius einen Idealzustand politischer Strukturen beschreibt, daß bei genauer Betrachtung aus der vergleichenden Analyse heraus Defizite im politischen System der EU feststellbar werden. Diese Defizite – Volks- und Staatssouveränitätsdefizit, Föderalismusdefizit und Subsidiaritätsdefizit – werden explizit in eigenen Kapiteln beschrieben; dabei ist auffällig, das diese aus diesem Systemvergleich klar heraus zu arbeitenden Defizite auch in der öffentlichen politischen Diskussion stehen und somit gegenständlich sind.
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Sachwortverzeichnis Abgestufte Integration 56, 251 Althusius, Johannes 69 ff. Analyse, deskriptive 25, 26 Analyse, dimensionale 25 Anhörungsverfahren 98, 222, 304 f. Ausschuss der Regionen 87, 318 Beauftragungsvertrag (pactum mandati) 89 ff., 92, 93, 120, 138 f., 174 Bibelzitat 70, 75, 106, 109 f., 112 ff., 236 f. Bottom-up-Prinzip des Föderalismus 235 f., 361 Bundesschluss 95 Bundesstaat 58, 245, 247, 248, 251 Bürger(-rechte) 85 f., 336, 341, 360 Calvinismus 90, 103 ff. 131 Charta der Grundrechte 86, 207, 219, 340 f. Checks and balances 201 Consociatio symbiotica 73 ff., 88, 93, 112, 120, 126, 133 f., 174, 184, 250 f. Dekalog 108, 111, 112, 149, 191, 226 Demokratie 130, 131 f., 138, 157, 176, 361 f. Demokratiedefizit 157 f., 213 Dezentralisation 262 f., 264, 280 Differenzierte Integration 56, 251 EAG-Vertrag 41, 44, 217 EEA 40 ff., 84, 207 EFTA 33, 41 EGKS 32 f., 40 f., 44, 217 f., 220 Eigentum 150 Ephoren 93 f., 152, 169 f., 194 f., 352, 360 EU-Krisen 29, 48, 64 ff. Europa 35 f. Europa à la carte 57 Europa der konzentrischen Kreise 57, 251 Europa der Nationen 57, 251 Europa der variablen Geometrie 57, 251
Europäische Investitionsbank 316 f. Europäische Kommission 41, 98 f., 100, 201 f., 306 ff. Europäischer Bürgerbeauftragter 320 f. Europäischer Gerichtshof 38, 99 f., 200, 231, 311 ff. Europäischer Konvent 47, 54, 159, 319 f. Europäischer Rat 38, 40, 97, 100, 220, 297 f. Europäischer Rechnungshof 312 ff. Europäisches Parlament 97, 100, 201 f., 222, 302 ff. Europäische Zentralbank 315 f., 351 EU-Staaten 32 ff. EUV 41 ff. EU-Verfassung 47, 52 f., 319, 323 ff., 358, 366 EWG 33, 41, 44 EWG-Vertrag 41 Exekutive 195, 200, 306 ff., 344 ff. EZB 41 ff. Finanzwesen 269, 362 f. Föderalismus 204, 231 ff. Föderalismusdefizit 31, 248 ff. Föderaltheologie 236 ff. GASP 38, 47, 155, 198, 297, 301 Gemeinschaftsbegriff 72 ff., 80 ff., 267 f., 284 Gemeinschaftsrecht 191 f., 198 f. Gerechtigkeit 184 ff., 278 f. Gerechtigkeit, ausgleichende 186 Gerechtigkeit, zuteilende 186 Gesamtkirche 165 f., 262 Gesellschaftsvertrag 89, 93, 112, 239 Gesetz 186, 190, 195 Gesetzesentwurf 308 f. Gesetzgebung 193, 195, 200, 217 f., 221 ff., 301, 304 f., 341 ff., 361 Gewaltenbalance 193 f., 280
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Sachwortverzeichnis
Gewaltenteilung 199 ff., 245, 264, 280 Gewaltenteilungsdefizit 212 ff. Glossatoren 160 f., 164 Grundrechte 207, 219 f., 225 ff, 336, 365 ff. Haushalt 60, 66, 68, 301, 305, 310, 338 f. Herrschaft 136, 138 ff., 140 ff., 149 f., 177 f. Herrschaftsform 130, 179 Herrschaftsvertrag 93, 102, 122 f., 138, 142, 216 Institution, politische 296 ff., 312 ff., 337, 341 ff. Integration 81, 177, 251, 286 ff. Integration, abgestufte 251 Integration, differenzierte 251 Integration, europäische 286 ff. Judikative 200, 311 ff., 348 ff. Kanonisten 160 f., 163, 165 Kerneuropa 57, 251 Kollegium 75 f., 166, 168 Konföderation 256 f., 365 Konsoziation 75 f., 170, 236, 258 f., 267 f., 355 ff. Kooperationsverfahren 97, 305 Korporation 160 ff., 172 Korporationslehre 161 ff., 168 Korporatismus 181 KSZE 43 Kultur(politik) 117 ff. Legislative 121, 297 ff., 341 ff. Legitimität 121, 124 f., 129 ff., 141 f., 147, 157, 192 Lomé-Abkommen 43, 83, 311 Macht 136, 138, 140 ff., 199, 204, 212, 242, 268 Magistrat 90, 114, 121 f., 143, 147 ff., 168, 171 ff., 190, 203, 268 f. Mandatsvertrag (pactum mandati) siehe Beauftragungsvertrag Marktwirtschaft 59, 207 Marshall-Plan 38 Methode, vergleichende 25, 26 Ministerrat (Rat der EU) 91, 97 f., 298 ff.
Misstrauensvotum 97, 101 Mitentscheidungsverfahren 97, 223, 298, 305, 310 Monarchomachen 102 ff. Monopolverbot 282 Naturrecht 103, 123, 184, 190, 196 f., 214 f., 226 Norderweiterung 41 ff., 57, 84 OECD 38 Organe (Institutionen) 296 ff., 312 ff., 337, 341 ff. Osterweiterung 46, 48, 58, 84 Partei 178, 182, 321 ff., 355 ff. Partikularismus 243 ff., 254 Philosophie, analytische 24 Pleven-Plan 39 Pluralismus 132 ff., 178, 244 Politische Systeme 23, 25, 27, 294 ff. Politische Theorie 23, 25, 27, 69 ff. Polyarchie 131, 136, 138 Presbyterium 114, 206, 352 f. Rat der EU (Ministerrat) 91, 97 f., 298 ff. Ratgeber des Magistrats 342, 360 Ratifizierung 47, 48, 52, 157, 323 ff. Recht 186 ff., 196 ff., 216 ff. Recht, positives 190, 196, 214 ff. Rechtsordnung 60 f., 186, 192, 214 f., 217 Rechtsstaat 229 ff., 231 Rechtssystem 196 ff., 214 ff., 265 Reichsarchiv 351 Religion 102 ff., 151 Repräsentant 151, 168 ff., 174 ff., 180 Repräsentantenversammlung 169 f. Repräsentation 160 ff., 173, 175 ff. Repräsentationsprinzip 168 ff., 174 ff. Repräsentationsrecht 171 Repräsentationstheorie 160 ff. Repräsentativsystem 175 ff., 182 ff. Römische Verträge 38, 41 Senat 169 f. Solidarität 283 ff., 340 Souveränität 124, 142 ff., 152 ff., 204, 252, 254, 283
Sachwortverzeichnis Souveränität, äußere 153 Souveränität, innere 154 Souveränitätsrecht 112, 134, 145, 193, 210, 237, 242, 255, 360 Sozialismus 134 Soziallehre 258 ff., 272 Sozialpolitik 208, 210 Staatenbund 58, 221, 251, 257 f. Staatenverbund 58, 96, 137, 258 Staatsform 131 ff., 176 Staatsgewalt 124, 130, 150, 179, 212 Staatssouveränität 143, 147 ff., 154 ff. Staatssouveränitätsdefizit 31, 159 Staatsvertrag 119 ff., 127 ff. Stände 80, 124, 133, 151, 184, 194 f., 208 f., 281 f. Steuerrecht (Steuerpolitik) 80, 209, 240, 269, 360, 365 Subsidiarität(-sbegriff) 30, 58, 258 ff. Subsidiaritätsdefizit 31, 276 f. Subsidiaritätsprinzip 58, 156, 258 ff., 367 (Summus) magistratus 77, 147 ff., 169 f., 171 f., 193, 203 Trennung zwischen Kirche und Staat (Dualismus) 108, 115 ff., 205 f., 243, 360 Türkei-Beitritt 47, 57, 84
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Tugend 149 Tyrannis 33, 93 f., 135, 145, 157, 190 Untersuchungsausschuss 306 Verfahren der Zusammenarbeit 222 Verfassung 137, 158, 179, 192, 272 f., 319, 323 ff. Verfassungsentwurf 39, 54, 158, 226 Versammlung, universale 348 f. Vertrag von Maastricht 45, 65, 249, 271 f. Vertrag von Nizza 47, 65 Volkssouveränität 143 ff., 154 ff., 174 Volkssouveränitätsdefizit 31, 157 ff. Wertegemeinschaft 80, 81 f., 116 WEU 39 Wiederstandsrecht 92 ff., 125, 159, 241, 267 Wirtschaftsgemeinschaft 80, 82 ff. Wirtschafts- und Sozialausschuss 317 f. WWU 44 f., 298, 310 Zensur 109, 114, 353 Zentralstaat (Zentralismus, Zentralisierung) 116, 157, 212, 263 Zentralverwaltungswirtschaft 59, 207 ZJI 45, 47, 198