Der Einfluß der niederländisch-neustoischen Ethik in der politischen Theorie zur Zeit Sullys und Richelieus [1 ed.] 9783428440870, 9783428040872


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German Pages 266 Year 1978

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Der Einfluß der niederländisch-neustoischen Ethik in der politischen Theorie zur Zeit Sullys und Richelieus [1 ed.]
 9783428440870, 9783428040872

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KARL SIE'DSCHLAG

Der Einfluß der niederländisch-neustoischen Ethik in der politischen Theorie zur Zeit Sullys und Richelieus

Historische Forschungen

Band 13

Der Einfluß der niederländischneustoischen Ethik in der politischen Theorie zur Zeit Sullys und Richelieus

Von

Dr. Karl Siedschlag

DUNCKER & HUMBLOT I BERLIN

Alle Rechte vorbehalten

® 1978 Duncker & Humblot, Berlln 41

Gedruckt 1978 bei Buchdruckerei Richard Schröter, Berlin 61 Printed in Germany ISBN 3 428 04087 2

Dem Andenken meines verehrten Lehrers Gerhard Oestreich gewidmet

Vorbemerkung Die vorliegende Schrift ist unter dem Titel "Untersuchungen zur politischen Theorie des Neustoizismus zur Zeit Sullys und Richelieus" bei Herrn Prof. Dr. Gerhard Oestreich, Marburg, entstanden und vom Fachbereich Geschichtswissenschaften der Philipps-Universität Marburg als Dissertation 1978 angenommen worden. Sie wurde für die Drucklegung leicht überarbeitet. Herrn Professor Oestreich möchte ich an dieser Stelle für Anregung, verständnisvolle Betreuung und großmütige Förderung dieser Arbeit, die neben den beruflichen Verpflichtungen eines Lehramtes am Gymnasium angefertigt wurde, meinen ganz besonderen Dank aussprechen. Dem Korreferenten, Herrn Prof. Dr. August Buck, Marburg, bin ich für zusätzliche Anregungen dankbar. Zur Veröffentlichung in der vorliegenden Form trug die Friedrich Flick Förderungsstiftung durch einen namhaften Druckkostenzuschuß bei. Bad Oeynhausen, im November 1977

In haitRübersieht A. Einleitung. Justus Lipsius, ein niederländischer Humanist und Universalgelehrter . . . . . ......... ............

9

B. Die Grundlegung der politischen Theorie des frühmodernen Machtund Ordnungsstaates in den politischen Hauptschrüten von J. Lipsius . . . . . ..........................................

34

1. De la Constance, Traicte auquel en forme de devis familier est

discouru des afflictions et principalement des publiques et comme il se faut resoudre a les supporter, 1584 . . . . . .........

34

2. Les Politiques ou doctrine civile, 1589 .... . .. .... .... .. ........ .

54

3. Die Weitergabe in Frankreich: du Vair, Charron, Fornier

89

C. Das Fortleben der neustoischen Doktrin in der Ära Sullys . . . . . . . .

110

1. Billon, Principes de l'Art militaire, 1612

113

2. Le Caton franc;ois au Roi, 1614 . . . . .

118

3. Discours politique, 1614 . .

119

4. L'Ombre de Henry le Grand, 1615

121

5. De la Mare, De la justice, 1618 . . . .

128

6. Sully, Sages et Royales Oeconomies d'Estat, 1626

132

D. Die politische Theorie im Umkreis von RiebeHeu . . . . . . . . . . . . . . . . .

142

1. Silhon, Ministre d'Estat, 1631 ........... .

142

2. Richelieu, Testament politique, 1632 . . .

164

3. Balzac, G. de . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Lettres, 1624 ff. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

........... .

b) Le Prince, 1632 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Aristippe ........ .. .. .............. .. ... d) Advis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

189 189 203 210 215

4. Bethune, Conseiller d'Etat, 1633 . ..

218

5. Le Bret, De la souverainete du Roy, 1632

240

6. Naucte, Considerations politiques sur les Coups d'Etat, 1639

243

Inhaltsübersicht

8

E. Allgemeine Bemerkung

254

Literaturhinweise: . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

258

I. Quellen.

258

11. Schrifttum

259

A. Einleitung. J ustus Lipsius, ein niederländischer Humanist und Universalgelehrter In einer Epoche, die das Recht auf Herrschaft an kollektive Willensentscheidungen zu knüpfen gewohnt ist und dies zu den festen Grundlagen ihres Selbstverständnisses rechnet, büßen andersgeartete Herrschaftsmodelle an Attraktivität ein, insbesondere dann, wenn der Rückblick und die überstürzte Erstellung gewünschter Kausalketten der Verzerrung und Verengung weder ausweichen kann noch will. So ist es ein mühsames und wohl immer noch mutiges Unterfangen, den Kampf gegen Voreingenommenheit und Haftbarmachungsneurosen, gegen eine zu durchsichtige Vergangenheitsbewältigung aufzunehmen, die, vom Verdammungswürdigen zurecht herausgefordert, sich der Einseitigkeit nicht zu entziehen vermag, um dem Geschiehtsahlauf durch neue Zäsuren und Markierungspunkte den gewünschten Stempel aufzudrücken. Wenn neuerlich neben der geschichtlichen Betrachtung auch die politische Befähigung zu einem institutionell abzusichernden Anliegen moderner Bildungspolitik erklärt wirdt, so wird damit für einen nützlichen, aber durchaus nicht neuartigen Funktionszusammenhang plädiert. Seine Preisgabe käme in der Tat dem unheilvollen Verzicht gleich, den politischen Reifeprozeß des nach Mündigkeit strebenden Staatsbürgers aus der Breite und Vielfalt geschichtlicher Erfahrungen anzureichern, denn es gilt weiterhin einen Damm zu errichten gegen die hereinbrechende Flut ideologisierter Meinungsmonopole. Ihr Einhalt zu gebieten, heißt nicht zuletzt der unverkürzten Wahrheitsfindung Raum zu gewähren, der politischen Freiheit im umfassenden Sinn einen Dienst zu erweisen. Viele Symptome mögen dem kritischen Staatsbürger die Grenzen und Gefährdungen des demokratischen Herrschaftsvollzuges deutlich erkennbar werden lassen. Nicht selten genug lautet das Fazit Ernüchterung, kritische Distanz, Resignation. Rechtens und notwendig erscheint dagegen das Streben nach Optimierung zu sein, nach sinnvoller Erneuerung und Ausgestaltung der Rechts- und Sozialstaatsidee. Bei zunehmender Bereitschaft zum Hören und Sehen, frei von Vorbehalten, mangelt es nicht an Orientierungshilfen. 1 Vgl. Richtlinien für den Politikunterricht, 2. Aufl. 1974, hrsg. vom Kultusminister des Landes NRW; 1. Ortsbestimmung des Politikunterrichts, S. 8.

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A. Einleitung

Der zeitübergreifende Sinn der Beschäftigung mit Justus Lipsius soll nicht überschätzt werden. Seine Zeitprobleme, die des konfessionellen Zeitalters, der Religionsspaltung und der Organisation des frühmodernen Staates, sind nicht mehr unsere. Aber sein politisches Anliegen fußt auf der Freilegung und Erzeugung moralischer Intentionen und Kraftfelder und drängt auf ihre enge Verzahnung mit den Regeln politischer Klugheit. So entwickelt sich eine normative Kraft, ein human-ethisches Regulatif der Binnensteuerung des Individuums, das bei aller Inpflichtnahme, der Würde und Selbstbestimmung keinen Abbruch tut. Es hat den Anschein, daß auch in Zukunft - solange es gelingt, der Brutalität des totalitären Machtanspruchs zu widerstehen - derartig konzipierte Steuermechanismen ein unverzichtbarer Bestandteil jenes politischen Tuns sein müssen, das auf die Verbindung von Effektivität und Menschlichkeit abzielt. Das Zeitalter zwischen Renaissance und Barock, das den Hintergrund abgibt für eine umfassende Neubelebung der antiken Bildungswelt, für die Begründung des philosophischen Neustoizismus, hat einen Universalgelehrten von nicht zu unterschätzendem Rang und Ansehen hervorgebracht: den Niederländer Justus Lipsius (1547-1606). Sein Name steht neben vielen anderen für ein hochentwickeltes Problembewußtsein, das die Symptome der allenthalben sich verschärfenden politischen Krise klar auszumachen vermochte und, aus dem Fundus antiker Weisheits- und Erfahrungslehren schöpfend, eine Antwort erteilte, die eine beeindruckende, langanhaltende Zustimmung fand und fortan als politischer Neustoizismus zu einem nachhaltig wirkenden geistigen Ferment in Theorie und Praxis des frühmodernen Staates wurde. Einblicke in den Lebensweg des niederländischen Humanisten eröffnet ein breit angelegtes Briefwerk, eine, wie Oestreich bemerkt, sehr bewußte, den aktuellen politischen und kirchenpolitischen Bedürfnissen angepaßte, daher von Ausgabe zu Ausgabe auch in der Auswahl der Briefe wechselnde große Autobiographie2 • Es ist eine ungeheuer vielseitige Korrespondenz, die die engeren Grenzen des jeweiligen Wirkungskreises nach allen Richtungen überschreitet und die führenden Persönlichkeiten des geistigen und politischen Lebens zu ihren Adressaten rechnen darf. Innerhalb dieses, die Bedeutung von Lipsius markierenden Briefwerkes nimmt der Brief vom Oktober 1600 an seinen zu Studienzwecken in Spanien weilenden Lieblingsschüler Johannes Woverius eine Sonderstellung ein. Es handelt sich um ein Schreiben mit stark ausgeprägten 2 G. Oestreich, Justus Lipsius in sua re; in: Geist und Gestalt des frühmodernen Staates, Berlin 1969, S. 82; A. Gerlo et H. D. L. Vervliet, Inventaire de la correspondance de Juste Lipse 1564-1606, Anvers 1968. Hier werden mehr als 4300 Briefe von oder an Lipsius nachgewiesen.

A. Einleitung

11

autobiographischen Zügen, das lange Zeit als charakteristische Form der Selbstdarstellung eines führenden Vertreters des niederländischen Späthumanismus begriffen wurde, nach einer neuerlich durchgeführten kritischen Analyse allerdings einem anderen Primärzweck dienen sollte: der Irreführung der Nachwelt3 • Aus nicht unerheblichen persönlichen Gründen mußte es dem Autor zu diesem Zeitpunkt offenbar angezeigt erscheinen, den kirchlich-politischen Gegebenheiten des spanischen Herrschaftsbereiches Rechnung zu tragen, der hier aus Kirche, Hof und Adel gebildeten Führungsschicht das Bild eines unverdächtigen, rechtgläubigen Gelehrten zu vermitteln, dessen Aktivitäten sich vornehmlich auf drei wesensgemäße Bereiche erstrecken: docere, legere, scribere. Ein Schriftsteller, dieser Eindruck war beabsichtigt, der nach Herkunft und Bildungsgang die Tugenden eines spanischen Spätscholastikers verkörpert und dessen politische, also südniederländische Loyalität und Strenggläubigkeit ungebrochen sind. Und dennoch vermag diese gewollte Selbstbescheidung nicht seinen Rang zu schmälern, nicht das wahre Bild von Lipsius zu verstellen, das eines Humanisten von europäischem Format. Justus Lipsius entstammte einem begüterten Elternhaus im Brabantischen. Er wurde in Overijsche geboren. Hier bekleidete sein Vater das Amt des Bürgermeisters, wurde später in Brüssel stellvertretender Bürgermeister und Leiter der Bürgergarde. Mit 15 Jahren wurde der junge Lipsius auf dem Jesuitenkolleg in Köln in die Rhetorik und Philosophie eingeführt und trat als Novize der Gesellschaft Jesu bei. Die Eltern billigten diesen Entschluß nicht, und der Sohn nahm daraufhin an der Universität Löwen das Studium der Rechte auf. Nach dem frühen Tode der Eltern wandte er sich schließlich ganz dem Studium der klassischen Philologie zu. Ein erstes Werk "Variarum lectionum libri quattuor", dem engen Vertrauten und Mitarbeiter Philipps II., dem Kardinal Granvella gewidmet, machte den Autor schnell bekannt und verhalf ihm, vom Kardinal auf den Posten eines Sekretärs für die lateinische Korrespondenz berufen, zu einem zweijährigen Aufenthalt in Rom. Wohl nicht zu Unrecht wird die Bedeutung dieses Aufenthaltes sehr hoch veranschlagt. Eine Vielzahl von Impulsen vergrößert das Umfeld seiner Neigungen, in die Zukunft w eisende Interessenhorizonte und neue wissenschaftlich-politische Erfahrungsbereiche eröffnen sich ihm hier. So wird er etwa mit der Vorstellungswelt Machiavellis konfrontiert, findet Zugang zu den Handschriften antiker Schriftsteller und schließt Freundschaft mit dem Franzosen Antoine Muret, der den weiteren Entwicklungsgang von Lipsius nachhaltig beeinflußt hat. Ganz 3

Vgl. Oestreich, Justus Lipsius in sua re, S. 100.

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A. Einleitung

den Intentionen des Humanisten Muret folgend, die Philosophie nicht isoliert zu betrachten, sondern sie mit Moral und Politik zu verknüpfen, sie ihren Zwecken dienstbar zu machen, widmet sich nun Lipsius mit besonderer Leidenschaft der Wiederherstellung und Verbreitung der Schriften von Tacitus und Seneca. Mit der Vollendung der Ausgabe der Werke von Tacitus, eine, wie Oestreich formuliert, philologische Großtat•, ist Lipsius nun endgültig in die Reihe der Berühmtheiten aufgerückt. Nach Löwen zurückgekehrt, zwingen ihn bald die politischen Verfolgungen, ausgelöst durch das Regiment Albas, die Stadt zu verlassen und nach Wien zu flüchten. Aber es bleibt Durchgangsstation, nicht minder wie der zweijährige Aufenthalt im protestantischen Jena, an dessen Universität er mit dem Amt eines Professors der Beredsamkeit und Geschichte betraut wurde. Über Köln, wo die Tacitusedition ihren Abschluß fand, führt der Weg zurück nach Löwen. Hier schließt Lipsius nach einer allgemeinen Amnestie das unterbrochene Jurastudium ab. Nach nochmaliger Vertreibung aus Löw en erreicht ihn schließlich der Ruf an die Universität Leiden, die in den folgenden zwölf Jahren zur Hauptwirkungsstätte wird. Seine Tätigkeit als Professor für Geschichte und Recht sprengt nun endgültig den vorgegebenen Rahmen einer Universitätslaufbahn und läßt ihn "zum anerkannten Führer des europäischen Späthumanismus" werden, der nun eine historisch-politische Ausrichtung erhält, mit der antiken Philosophie, und im weiteren Sinne mit der Alterturnswissenschaft überhaupt, ein moralisch-pädagogisches Anliegen verknüpft, im Sinne ihrer Nutzbarmachung bei der Lösung politischer Gegenwartsfragen und darüberhinaus auf Verbreitung und Intensivierung ihres derart verstandenen Wirkungshorizontes bedacht ist. So begegnet uns Lipsius in einer ergiebigen wissenschaftlichen Schaffensperiode mit weiteren Editionen lateinischer Autoren und bei fortgesetzten Bemühungen um den Lieblingsautor Tacitus. Zu einer kaum vergleichbaren literarischen Sensation wurde jedoch der unmittelbare, aufsehenerregende Erfolg seiner berühmtesten Werke, der 1584 herausgegebenen Abhandlung "De constantia", mit gleichzeitiger Übersetzung in die französische Sprache, mit späteren Übersetzungen in fast alle modernen Sprachen und über 80 Auflagen in den folgenden 150 Jahren. Ein nicht minderer Erfolg war endlich seinem politischen Hauptwerk beschert, den 1589 veröffentlichten "Politicorum libri sex". Diese Form der Aktualisierung antiken Bildungsgutes war zweifellos richtungsweisend und blieb ein Spezifikum der Wirkungsstätte von Lipsius bis in 4 G. Oestreich, Justus Lipsius als Universalgelehrter zwischen Renaissance und Barock; in: Leiden University in the seventeenth century, 8.178.

A. Einleitung

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die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts hinein. Die Auffächerung, Verarbeitung und Fortsetzung dieser Ideen vollzieht sich auf einer breiten Basis und läßt sich fortan als wichtiger Teilbereich innerhalb der sich ausbildenden "Niederländischen Bewegung" klassifizieren. In seinem politischen Hauptwerk hatte Lipsius für das Staatswesen den Gedanken der Erhaltung der Religionseinheit mit eindeutigen Worten propagiert und sich damit bei Coornhert verdächtig gemacht, der sich daraufhin nicht scheute, ihm die Meinung anzulasten, daß alle Andersgläubigen zu verfolgen seien. Die stark emotional geführten Auseinandersetzungen ließen es wohl nicht zu, die ausschließlich moralischpolitische Unterbauung seines Standpunktes zu erkennen und zu berücksichtigen. Da sich eine Verschärfung des Konfliktes abzeichnete, wählte Lipsius abermals Löwen als neue Wirkungsstätte. Die anstehende Aussöhnung mit der katholischen Kirche und dem spanischen König, situationsbedingt vollzogene Anpassungen in seinen Schriften, haben jedoch die Fortsetzung seines eigentlichen Lebenswerkes kaum zu beeinträchtigen vermocht. So erfolgt in diesen Jahren die Herausgabe zweier militärwissenschaftlicher Werke, die Publikation der "Monita et exempla politica", eines ebenfalls viel beachteten politischen Werkes, sodann die Veröffentlichungzweier wissenschaftlicher Hauptwerke über die stoische Philosophie und die Edition der Gesamtschriften Senecas. Nach seinem Ableben im Jahre 1606 wurde sehr bald deutlich, daß der Parteienstreit der sich bekämpfenden Konfessionen seiner Bedeutung als Moralphilosoph und Begründer einer historisch-politischen Wissenschaft nichts mehr anhaben konnte. Sein humanistisches Erbe, das eben nicht einseitig ausgerichtet und nicht einseitig beanspruchbar war, wurde so von beiden Bekenntnissen angetreten und mit sich fortsetzender, zunehmender Wirkung gepflegt. Überblickt man das breitgefächerte Werk von Lipsius, so faszinieren die hervorragenden Leistungen des späthumanistischen Philologen nicht minder wie die des Universalgelehrten. Mit seinen Texteditionen, Kommentaren und Darstellungen, deren anregender Einfluß auf Gechichtsschreibung und Philosophie bis in das 18. Jahrhundert hinein zu registrieren ist, schuf Lipsius die Grundlagen für sein weiteres Schaffen, das nun, auf Aktualisierung, Nutzbarmachung und Praktikabilität hin drängend, einen stark pädagogischen Grundzug nicht verleugnen kann, und damit einen wesentlichen Teilaspekt der sich ausbildenden neustoischen Weltanschauung bildet, dem "Grundelement der barocken Lebens- und Gesellschaftsauffassung" (Oestreich). Ihr sind nun diejenigen Publikationen verhaftet, die zu den meist verbreiteten Schriften ihrer Art geworden sind; die grundlegende, auf humanistischer Grundlage fußende Darlegung einer Morallehre in der "Constantia" und die Fort-

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A. Einleitung

entwicklung der Staats-, Regierungs- und Militärwissenschaften in dafür konzipierten Handbüchern, deren internationaler Erfolg sich unmittelbar einstellte. Mit seinem 1584 erschienenen Werk "De constantia libri duo qui alloquium praecipue continent in publicis malis" leistete Lipsius einen vielbeachteten Beitrag zur weltanschaulichen Diskussion seiner Zeit, der der Begründung des philosophischen Neustoizismus weitgehend gleichzusetzen ist5 • Nach den Untersuchungen Diltheys gilt es als erwiesen, daß die Erneuerung der römischen Stoa, für die Lipsius auch durch die philologische Aufbereitung und Analyse die entscheidenden Voraussetzungen geschaffen hatte (Manuductio; Physiologia 1604; Opera Omnia Senecas 1605) ihre Wirkung auf Ethik und Anthropologie, den wesentlichen Stützen der Geisteswissenschaften im 17. Jahrhundert, nicht verfehlt hat. Die Untersuchungen von Gestreich haben nun das Verdienst, die Verständnisdimension um ein wesentliches Element erweitert zu haben durch den Nachweis der von Lipsius durchaus beabsichtigten Einbettung seiner Ethik in einen über das Private hinausgehenden politischen Zusammenhang6 • Entgegen der Meinung Diltheys, der die "Politik" von Lipsius noch als "vielgelesene, doch recht unbedeutende politische Schrift" einstufte7 , muß die Wertung heute anders lauten. "Constantia" und "Politik" sind nur als Einheit, als Elemente einer Gesamtidee zu begreifen. Die "civilis doctrina", die die Strukturen und Organisation des zu errichtenden Machtstaates vorzeichnete, steht nicht nur äußerlich - die meisten Ausgaben haben beide Werke in einem Band zusammengebunden- in einem intimen Abhängigkeitsverhältnis zur Morallehre der erneuerten Stoa. Die so erfolgte Rezeption der römischen Philosophie kam nicht von ungefähr. Neben dem humanistisch-wissenschaftlichen Interesse an der Rekonstruktion des ursprünglichen antiken Textes, neben der sich verstärkenden Abwendung von mittelalterlich-scholastischer Philosophie, ist die Identität der politischen Konstellationen als entscheidendes Mos Bis zum 18. Jahrhundert wurden 79 Auflagen nachgewiesen, davon 15 in französischer Übersetzung. Vgl. Bibliographie Lipsienne, publiee par F. Van der Haeghen, 3 Bde., (1886-1888). 6 G. Oestreich, Das politische Anliegen von Justus Lipsius' De Constantia . . . in publicis malis (1584); in: Festschrift für Herrmann Heimspiel zum 70. Geburtstag am 19. September 1970, Erster Band. S. 618 ff. Die beachtliche Wirkung, die der Stoizismus im Verlauf seiner Entwicklungsgeschichte erzielte, hat auch die letzte große, zusammenfassende Darstellung von Michel Spanneut, Permanence du Stoicisme. De Zenon a Malraux. Duculot - Gembloux 1973, aufgezeigt, der außer einem Kapitel über Lipsius, du Vair und Charron - les trois grands du neo-stoicisme- den Einfluß des Neustoizismus auf die Literatur- und Geistesgeschichte des 17. Jahrhunderts behandelt hat. 7 W. Dilthey, Gesammelte Schrüten II, Weltanschauung und Analyse des Menschen seit Renaissance und Reformation, 5. Aufl., 1957, S. 269.

A. Einleitung

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tiv in Rechnung zu stellen. Bedingt durch die aus der Glaubensspaltung sich ergebenden Konflikte und Unruhen, kommt es zu neuen Gewichtungen. Es ist die Neubesinnung auf die dem Menschen Unabhängigkeit verheißenden, die Widerstandskräfte belebenden inneren Werte, die auf Christen aller Konfessionen und die Libertiner gleichermaßen eine wachsende Anziehungskraft auszuüben begannen. Überblickt man die mit dem 16. Jahrhundert beginnende Rezeptionsgeschichte der stoischen Ethik, die das Interesse des Humanismus an der der antiken Philosophie innewohnenden ,eruditio moralis' widerspiegelt, so dominiert zunächst eine von einem latenten Stoizismus beflügelte und hauptsächlich auf das Individuum ausgerichtete Zielsetzung: die Erlangung der ,tranquillitas animi'. Ausgelöst durch die konfessionspolitische Krise des 16. Jahrhunderts in den Niederlanden, Frankreich und Deutschland erfuhr diese Erwartungshaltung eine nachhaltige Verstärkung, welche die sich in zahlreichen Traktaten fortentwickelnde, mit christlichen Elementen angereicherte stoische Ethik nicht enttäuschte. An dieser Stelle wird nun der Einfluß des Niederländers Lipsius deutlich spürbar, der der bislang stoischen Individualethik in dem von ihm ausgebauten politisch-moralischen System einen festen Platz zuweist. Mit der von ihm bewußt herbeigeführten Verknüpfung von Moral und Politik setzt eine weitere, die nun eigentlich neustoische Rezeptionsphase ein, die die wesentliche Grundlage für das politische System des Späthumanismus darstellt. Auf diesem eingeschlagenen Weg werden dann in Frankreich Guillaume du Vair, Pierre Charron und Balzac fortschreiten. Die in der politischen Theorie in Frankreich sogleich auf breite Zustimmung stoßende Idee, der ,prudentia' als zu erfolgreichem politischem Handeln befähigender Kraft zwar auch weiterhin nicht zu entraten, ihre schädlichen Wirkungen aber durch das moralische Gegengewicht der ,virtus' einzudämmen, überbrückt einen kaum überwindbar erscheinenden Gegensatz zwischen den Interessen des Machtstaates und den Geboten der Moral, ein Gegensatz, den Montaigne noch allzu deutlich empfunden hat und der ihn dazu veranlaßte, der Teilnahme an den politischen Geschäften zu entsagen (III, 8). Hier zeichnet sich auch die Trennungslinie ab zwischen den politischen Auffassungen Machiavells und dem mit dem Namen von Lipsius verbundenen Neustoizismus, der zu einem Grundelement der barocken Lebens- und Gesellschaftsauffassung wurde8 • Das hindert den Niederländer jedoch nicht daran, ihn ausdrücklich als seinen Lehrmeister zu nennen und dessen ,ingenium acre, subtile ac igneum' in der Vorrede 8 Den geistigen Einfluß der Stoa im 17. und 18. Jahrhundert unterstreicht auch A. Rüstow, Ortsbestimmung der Gegenwart, li, 1951, S. 377 f.

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A. Einleitung

seiner Politik mit mutigen Worten zu loben. Aber Machiavell hatte eben dem politisch Handelnden neue Wege gewiesen und einen eher skrupellosen, von moralischer Einengung freien Gebrauch der ,prudentia' propagiert, als eine unentbehrliche Hilfestellung für den Einzelnen, um den Lebenskampf in Kenntnis und bei voller Anwendung aller Klugheitsregeln zu bestehen, was schließlich auf einer höheren Ebene mit dem neu aufgekommenen Begriff der Staatsräson gleichzusetzen war. An die Stelle des von Machiavell verkündeten rein machtstaatlichen Denkens und einer einseitigen Nützlichkeitslehre, die aufgrund gewandelter politischer Umstände in Mißkredit geraten waren, läßt Lipsius den die bisherige Staatslehre entschärfenden Begriff der ,prudentia civilis' treten, die die durch eine gemäßigte Gewaltausübung (vis temperata) abgesteckten Grenzen nicht mehr zu überschreiten beabsichtigt. Deutlich erkennbar hat sich Lipsius mit der Ausbreitung seiner neustoischen Philosophie in der ,Constantia', die zugleich eine umfassende Ethik enthält, von dem den Weg zur Tugend verfehlenden Italiener moralisch distanziert und den vom humanistischen Vorkämpfer uneingeschränkter Toleranz, Dirck Coornhert, gegen seine "Politik" erhobenen Vorwurf "Ille machiavellisat" zu entkräften versucht. Vielmehr schwebte Lipsius die Verbindung von ,prudentia' und ,virtus', von italienischer Staatsräson und neustoischer Ethik vor, die Entschärfung der Staatslehre Machiavellis durch die Ethik Senecas.

Die europäische Wirkung des niederländischen Universalgelehrten, für die die erstaunliche Auflagenhöhe sämtlicher Werke und der mit der führenden Intelligenz Europas geführte Briefwechsel eindrucksvoll Zeugnis ablegt, hat Gestreich noch einmal in einem Essai, 1975, zusammengefaßte. Sie läuft parallel mit der Rezeption Senecas und der politischen Bewegung des Tacitismus in den verschiedensten europäischen Staaten, wobei an dieser Stelle nur die Romania Berücksichtigung finden soll. Gerade in dem letzten Jahrzehnt sind über diese geistigen Strömungen mehrere grundlegende Werke erschienen. Auf den in diesen Schriften berührten oder herausgearbeiteten Einfluß des niederländischen Späthumanismus gilt es also hinzuweisen. Die von Muret vollzogene Abkehr vom ciceronianischen Stil und die Hinwendung zu Tacitus und Seneca, seinem Interesse an einer politisch-praktischen Zwecken dienenden Philosophie entspringend, wurde auch für den ihm in Freundschaft verbundenen Lipsius zu einem entscheidenden Bildungserlebnis. Die von ihm glänzend betriebene Wiederherstellung und Verbreitung ihrer Werke machte sie zu Leitbildern des europäischen Humanismus wie auch der nationalen Literaturen • G. Oestreich, Justus Lipslus als Universalgelehrter zwischen Renaissance und Barock. In: Leiden University in the seventeenth century, S. 177 ff.

A. Einleitung

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eine Rezeption, die sich bis zu einer nun ·m ilitärisch knapp anmutenden Sprachform fortsetzt. Die alle früheren Editionen überholende Tacitus-Ausgabe des achtundzwanzigjährigen Lipsius (1575) ließ Tacitus für ein Jahrhundert zum bevorzugten historischen und politischen Schriftsteller werden. Darüberhinaus legten verbesserte Editionen und der Tacitus-Kommentar (1581) wichtige Grundlagen für die Begründung einer historisch-politischen Wissenschaft. Mit der Veröffentlichung der beiden wissenschaftlichen Hauptwerke des 17. Jahrhundert über die stoische Philosophie, 1604, und der Herausgabe der ,Opera Omnia Philosophi Senecae', 1605, machte sich Lipsius auch zum Wortführer einer ebenfalls von Leiden ausgehenden und nicht minder wirksamen pädagogisch-rnoralphilosophischen Strömung. Für eine zu betreibende Altertumswissenschaft hat Lipsius somit eine neue Verständnis- und Verantwortungsdimension entworfen: sie geriet zu einer den konfessionellen Meinungsstreit überbrückenden politischen und moralistischen Wissenschaft, die alsbald ihre Ausgestaltung zur praktischen Staatswissenschaft und Regierungslehre erfuhr. Hier fand der politische Neustoizismus seine eigentliche Ausdrucksform. In einer der maßgebenden Untersuchungen über den Tacitismus hat E.-L. Etter wichtige Einsichten vermittelt zur Wiederentdeckung und Bedeutung des Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts10. Zweifellos rankt sich die Auseinandersetzung mit Tacitismus und Senecarezeption um die Grundtexte des Barockzeitalters. Aber die verdienstvolle Untersuchung, einer besonderen Tacitus-Verehrung verpflichtet, verschließt sich doch der mittlerweile gewonnenen Einsicht, den Tacitismus als Teilbereich eines größeren Zusammenhanges zu begreifen, der die auf aktive Einflußnahme drängende Komponente einbezieht. Arbeitete die bisherige Forschung unter eher philologisch-geisteswissenschaftlichen Vorzeichen1 \ gelangte sie über die theoretische Atmosphäre nicht hinaus, so gilt es nun, die von Lipsius vorangetriebene praktische Ausschöpfung der Lehren von Seneca und Tacitus für das private und staatliche Leben sichtbar zu machen und anzuerkennen. Immerhin läßt sich für den west-und mitteleuropäischen Raum ausschnitthaft erkennen, in welchem Maße der Tacitismus an Boden gewonnen hat, wenn auch diesbezügliche Einflüsse in England und Schwe10 E.-L. Etter, Tacitus in der Geistesgeschichte des 16. und 17. Jahrhunderts. Basler Beiträge zur Geschichtswissenschaft, Bd. 103, Basel und Stuttgart 1966. 11 J. v. Stackelberg, Tacitus in der Romania. Studien zur literarischen Rezeption des Tacitus in Italien und Frankreich. Tübingen 1960. Die Bedeutung von Lipsius und die niederländische Komponente kommen bei dieser einer mehr philologischen Fragestellung zugewandten Arbeit zu kurz. 2 Siedschlag

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A. Einleitung

den, ja die Ausstrahlungskraft in den gesamten europäischen Raum hinein bei Etter nicht berücksichtigt worden sind. Wie kam es nun zur Wiederentdeckung des Tacitus gegen Ende des 16. Jahrhunderts, was hatte das aufgekommene Interesse an der antiken Geschichte so stark beflügelt? Das zunächst philologische Anliegen von Lipsius, die Schriften der römischen Historiker, textkritisch mustergültig überprüft und kommentiert, herauszugeben, war von dem Gedanken einer auch praktischen Nutzbarmachung der Geschichte begleitet, ganz im Sinne der im Tacitus-Kommentar vertretenen Auffassung, daß dieser Autor gleichsam das Schauspiel des heutigen Lebens biete, "velut theatrum hodiernae vitae". Wie zuvor schon Machiavelli und Muret, greift auch Lipsius den von Polybius stammenden Gedanken der ,similitudo temporum' auf, zumal doch eine Übereinstimmung zwischen der politischen Konstellation der römischen Kaiserzeit und der eigenen Gegenwart offenkundig zu sein schien. Auf den am praktischen Nutzeffekt der Geschichte Interessierten mußten also die Werke des Tacitus mit der darin herausgestellten politischen Klugheitslehre, "prudentia, quae res publicas constituit, servat, auget", eine besondere Anziehungskraft ausüben: als übertragbare Zeitgeschichte, deren suggestive Wirkung durch die hier angewandte Rhetorik, den knappen taciteischen Stil der silbernen Latinität, noch zugenommen hatte. Die Affinität im Inhaltlichen birgt zugleich einen großen Stilzusammenhang, d. h. die Preisgabe einer ausschließlichen Nachahmung des Stilempfindens Ciceros zugunsten einer wachsenden Vorliebe für den attischen Prosastil, einer Bewegung, die Morris W. Croll zusammen mit dem Tacitus-Kult und der Seneca-Renaissance für den Zeitraum von 1580-1650 aufgedeckt hat und deren Durchschlagskraft zu einem großen Teil den Bemühungen von Lipsius zuzuschreiben ist. "Il n'en fut pas, naturellement, l'unique promoteur; le mouvement etait trop general pour n'avoir qu'une seule source; il aurait pu naitre spontanement des besoins intellectuels du siecle, sans l'enseignement de Lipse. Cependant plus on l'etudie, plus on se rend compte de l'importance du röle qu'y joua le maitre" 12• Es sollte jedoch nicht übersehen werden, daß bereits Muret die anticiceronianische Wende herbeigeführt und zum entscheidenden Vorläufer und Wegbereiter von Lipsius geworden ist, "a pioneer in the development of the rhetorical and intellectual program of the triumphant Anti-Ciceronianism (or "Atticism") of the seventeenth century" 18• Daraus leitet sich dann die von Lipsius in seiner ,Institutio epistolica' aufgestellte Forderung ab, sich dem "genus brevium 12 M. W. Croll, Style, Rhetoric and Rhythm, Princeton 1966, S. 40. Zum späthumanistischen Anticiceronianismus vgl. auch K. Blüher, Seneca in Spanien, München 1969, S. 309 ff. ~ Croll, S. 125.

A.

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subtiliumque scriptorum" wie Sallust, Seneca und Tacitus zuzuwenden14. So fand der von Muret, Montaigne und vor allem von Lipsius als Moralist meisterhaft gehandhabte, der Weitschweifigkeit abgeneigte, karge taciteische Stil Eingang in die Rhetorik und in die europäische Dichtung15• Dieser mehr auf einen Überredungseffekt hin angelegten, den Leser und Zuhörer innerlich packenden Rhetorik ist eine große Bedeutung zuzumessen als eines der grundlegenden Fächer in der Philosophischen Fakultät der frühneuzeitlichen Universität. Ihr oblag die Sprach- und Stilpflege des Lateinischen, sie stand im Dienste der gesamten Barockdichtung, ja gedieh zu einem den Unterricht allenthalben bestimmenden Erziehungsinstrument in einer Zeit, die von dem festen Glauben an die Gestaltbarkeit des Daseins durchdrungen war. Das Zusammenspiel von moralphilosophischer Bildung, historisch-politischem Lehrstoff und pädagogisch-rhetorischer Lehre, der "rhetorische Grundzug" (Günter Müller) der Barockkultur überhaupt, ergeben schließlich ein abgerundetes Bild, veranschaulichen mit die außergewöhnliche Wirkung von Lipsius. "E philologia philosophiam feci" hatte Lipsius verkündet und verband damit das Anliegen einer die römisch-stoische Weltanschauung erneuernden politischen Philosophie, einer "philosophia practica". Das verleiht nun der stoischen Lebenslehre Senecas ein neues Gewicht. Sie erfährt in der "Constantia" (1584) ihre lipsianische Ausprägung und wird so ihren weltanschaulichen Siegeszug antreten. Innerhalb der durch ,fatum' und ,providentia' gesetzten Grenzen bleibt der Mensch zu freier Selbstverantwortung aufgerufen. Die der ,opinio' entgegengesetzte Vernunft und eine von dogmatischen Fesseln befreite ,pietas' beflügeln zugleich seine Seelenstärke, eine kämpferische Widerstandskraft und Lebensenergie, die zu entschlossener Standhaftigkeit, "rectum et immotum animi robur", ertüchtigen soll. Dem von Seneca verkörperten Anspruch der Moralphilosophie, ,sapienta', trat innerhalb einer im italienischen Humanismus wurzelnden historisch-politischen Strömung, die mittlerweile als Staatsräson aufgefaßte ,prudentia', gegenüber, als deren Kronzeuge Tacitus angesehen wurde. Diese Richtung, in Frankreich von Bodin angeführt, gewann zunehmend an Boden durch die Tacitus-Ausgabe von Lipsius (1574) und die Veröffentlichung der ,Politicorum libri sex' (1589) und begünstigte auch die europäische Bewegung des Tacitismus. u Justi Lipsi Epistolica Institutio, ed. Leyden, 1591, cap XI., zitiert nach Etter S.11. 15 Vgl. Croll, S. 175; eine nähere Bestimmung des Lipsian style entwirft Croll S. 29 f. 2"

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Für die Wirkung des Tacitus war es von größter Bedeutung, so bemerkt Etter18, daß er um die Mitte des 16. Jahrhunderts mit Machiavelli in Verbindung gebracht worden ist, boten doch insbesondere die ersten sechs Bücher der Annalen, die von der Herrschaft des Tiberius handeln, ~ine dem ,Principe' vergleichbare Lektüre. Nun bezog das politische Denken vorwiegend von hier aus seine befruchtenden Impulse. "Das Verfahren, anstelle des verbotenen Machiavellismus dieselben politischen Regeln aus Tacitus abzuleiten, ließ den Tacitismus entstehen. Der Name des Tacitismus wurde geradezu ein Pseudonym für Machiavelli17." Die Frage nach dem Verhältnis von Politik und christlicher Religion, die dem Florentiner zum Verhängnis geworden war, hatte sich ja für Tacitus nicht gestellt, und er konnte als politisch unverdächtige und ungefährliche Autorität eine Ersatzfunktion bekleiden. So rückte er an die Stelle von Machiavelli, der bei den Konfessionen auf Ablehnung stieß und von ihnen bekämpft wurde. Mit der konfessions-politischen Krise des 16. Jahrhunderts, die das bisherige politische Ordnungsgefüge schwer erschütterte und im Verlauf des erbittert geführten ideologischen und militärischen Kampfes der kirchlichen Parteien einen allgemeinen Autoritätsverfall mit sich brachte, entstand ein Vakuum, das Lipsius mit seinem Frühwerk auszufüllen verstand. Den so erfolgreichen Bemühungen um eine Aktualisierung von Tacitus kam ferner entgegen seine als nicht ausgesprochen antichristlich zu bezeichnende Grundhaltung, die Verträglichkeit seiner in ihren Ansprüchen weniger überspitzten politischen Grundsätze mit der Lebenslehre Senecas, deren Synthese geradezu das spezifische, den Rahmen einer nur ästhetischformalen Bildung sprengende Anliegen des politischen Späthumanismus markierte und nicht zuletzt der Vorzug einer schriftstellerisch glänzenden Darstellung. Der Tacitismus, der sich als Bewegung aus der über Machiavelli verhängten Acht herleitete und wie der AntitacHismus erst nach 1650 seine Bedeutung einbüßte, wurde zu einem maßgeblichen Faktor der Politik. "Die Heftigkeit der Auseinandersetzung in der Zeit von 1580 bis 1650 erklärt sich aus dem Umstand, daß Tacitus und Machiavelli nicht Gegenstand gelehrter Erörterungen blieben. Der Tacitismus, der seinen Höhepunkt um 1580 und 1620 erlebte, wurde in das politische Geschehen einbezogen, galt er doch als Maxime des habsburgisch-spanischen Reiches18." Die Bedeutung des Tacitus für das Geistesleben Frankreichs erhellt aus der Tatsache, daß der Tacitismus zumeist eine Begleiterscheinung Etter, S. 24. n Etter, S. 25. 18 Etter, S. 25. 1'

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des Machiavellismus war19• Die zunehmende Beschäftigung mit dem Florentiner \ließ hier seit der Mitte des 16. Jahrhunderts die meisten und frühesten Übersetzungen seiner Werke entstehen bis schließlich nach den blutigen Ereignissen der Bartholomäusnacht, im französischen Bürgertum stärker als in der Umgebung Heinrichs III., die Bereitschaft zunahm, sich den Lehren von Tacitus zuzuwenden. Einen deutlichen Beleg für die Bereitschaft, den Machiavellismus durch den Tacitismus zu ersetzen, liefert der 1581 in Paris erschienene, von Charles Pascha! verfaßte Kommentar zu den ersten vier Büchern der Annalen, der bei aller gedanklichen Übereinstimmung mit dem ,Principe' seinen Autor unerwähnt läßt. Der aus dem Kreis piemonteseher Emigranten stammende spätere Diplomat in französischen Diensten hatte sich zum Calvinismus bekannt und später in Paris Zugang zum Kreis der französischen Stoiker gefunden. Seine Bewunderung von Tacitus und Seneca rückte ihn in die Nähe von Lipsius. Konzentrieren sich aber die Bemühungen des Niederländers zunächst auf eine wissenschaftlich fundierte, textkritische Aufbereitung, setzt Pascha! bereits auf die politische Nutzanwendung im Sinne einer Erziehung zu politischer Klugheit, die den Pfaden der Verschlagenheit nicht mehr folgt, ein Anspruch, den der Titel der zweiten Ausgabe seines Kommentares unterstreicht: ,Gnomae seu axiomata politica e Taciti Annalibus excerpta'. Angeregt vom Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges erfährt auch die tacitistische Bewegung in Frankreich, in Anlehnung an den italienischen Tacitismus, eine Neubelebung. Zu seinen Wegbereitern zählen Jean Baudouin, Rodolphe Le Maistre, Achilles de Harley-Chanvallon, Nicolas Perrot d'Ablancourt, Nicolas Amelot de la Houssaie. Amelots literarisches Wirken kennzeichnet das Bemühen um eine neuerliche Rechtfertigung des Florentiners durch den Nachweis politischer Übereinstimmung mit Tacitus, wie er es im Vorwort seiner französischen Übersetzung des ,Principe' (1683) zum Ausdruck bringt: "Si Tacite est bon a lire pour ceux qui ont besoin d'apprendre l'art de gouverner, Machiavel ne l'est guere moins, l'un enseignant comment les empereurs romains gouvernaient, et l'autre comment il faut gouverner aujourd'hui, de sorte qu'on ne saurait ni approuver, ni condamner l'un sans l'autre20." 19 Etter, S. 36. 20 Nicolas Amelot de la Houssaie, Le Prince de Nicolas Machiavel, Amsterdam 1683, Vorwort. Zu den Tacitusverehrern ist auch Pierre Bayle zu rechnen: Ses Annales et son Histoire sont quelque chose d'admirable et l'un des plus grands efforts de l'esprit humain, soit que l'on y considere la singularite du style, soit que l'on s'attache a la beaute des pensees et a cet heureux pinceau avec lequel il a s~:u peindre les deguisemens et les fourberies des politiques et le foible des passions. Dictionnaire historique et critique, 4, Rotterdam 1720, S. 2683 f.

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Kritisch setzt sich jedoch Etter mit der häufig vertretenen Ansicht auseinander, daß Marc-Antoine Muret als Initiator und maßgeblicher Vertreter des Tacitismus anzusehen sei. Immerhin kann sich auch Muret, mit den Werken des Tacitus seit längerem vertraut, nicht der Einsicht verschließen, "daß die veränderten Verhältnisse in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts eine den Bedürfnissen der eigenen Zeit entsprechende Auswahl des klassischen Bildungsstoffes erforderten. Auf welche Art man diese Anpassung vornehmen müsse, erkannte er im Verlauf seiner eingehenden Lektüre des Seneca und Tacitus21 ." So stößt er, 1572 zum Professor der Rhetorik an der Universität zu Rom ernannt, mit seinem Beitrag zur Wiederentdeckung des Tacitus auf eine neue geistige Bewegung, die durch die im Jahre 1580 veröffentlichten ,Gnomae' und den Lipsius-Kommentar maßgeblich vorangetrieben wurde. Es hat allerdings den Anschein, daß Muret, bei eher republikanischer Gesinnung, einer rein tacitistischen Ausdeutung und Kommentierung des Tacitus abgeneigt war. "Was ihn an der Lektüre des Tacitus fesselte, so bemerkt Etter, war das Verhalten einzelner Männer, die auch unter schlechten Kaisern unbeirrt ihren Weg gegangen waren. Seine Beschäftigung mit der römischen Kaiserzeit war von dem Gedanken geleitet: "Plerumque, ubi maxima vitia dominantur, maximae virtutes erumpunt, quae cum illis certarnen suscipiant ... " 22 • Nachdem Lipsius durch seine großartigen philologischen Bemühungen die gesicherte Textgrundlage geschaffen hatte, erfreute sich Tacitus wachsender Beliebtheit auch in den führenden Kreisen des Pariser Bürgertums, zu dessen angesehensten Vertretern die Mitglieder des obersten Gerichtshofes zählten23 • Eine besondere Rolle spielten die beiden Vertreter der Parlamentsaristokratie Jean Brinon und Henri de Mesmes sowie der Man~chal des logis de Catherine de Medicis et Maitre d'hötel du Roi, Jean de Morel, die als Förderer des geistigen Lebens Mitglieder der Pleiade, Gelehrte, Parlamentsangehörige um sich versammelten. In diesen Kreisen setzte sich das Bürgertum mit Tacitus auseinander, indem es seiner Sprachkunst ebenso viel Verständnis entgegenbrachte wie dem Inhalt seiner Werke. Aber erst nach ihrer Übertragung übten seine Schriften einen zunehmenden Einfluß auf das Geistesleben in Frankreich aus. Die Veröffentlichung der ersten vollständigen Übersetzung des Tacitus durch Estienne de la Planche und Claude Fauchet begann im Jahre 1548. Etter, S. 51. Etter, S. 54. 23 Roman Schnur, Die französischen Juristen im konfessionellen Bürgerkrieg des 16. Jahrhunderts, Berlin 1962, S. 50ff. stellt die Verbindung des Pariser Parlaments zum Neustoizismus her. 21

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Während Fauchet, dessen vorbildlicher Übertragung die Tacitusedition von Lipsius zugrunde lag, auf eine integrale Wiedergabe der Vorlage bedacht war, liefen die Bemühungen Estienne Pasquiers auf eine von Nützlichkeitserwägungen bestimmte Auswahl hinaus: "Ce que je desirerois, seroit que quelque homme studieux triast les plus helles pieces de luy pour en faire une marqueterie qui se tournast au profit et edification du lecteur24." Das Urteil über Tacitus, zu dessen Werken der Zugang nun leichter geworden war, ging in zwei verschiedene Richtungen auseinander. Von nachhaltiger Wirkung war einerseits der von Guillaume Bude in seiner Schrift ,De asse et partibus eius' (1514) erhobene Vorwurf der Gottlosigkeit und Christenfeindlichkeit, der sich am Ende des 16. Jahrhunderts mit einer Anklage gegen den noch immer als Ketzer gebrandmarkten Florentiner verband. Größeres Gewicht für das französische Bürgertum besaßen dagegen die Äußerungen J ean Bodins. Der 1566 erschienene ,Methodus ad facilem historiarum cognitionem' stellte Tacitus neben Plutarch, Guicciardini und Machiavelli, würdigte insbesondere seine Verdienste um die Erhellung der Vergangenheit und ·widerlegte die gegen ihn erhobenen Vorwürfe. Diese Rechtfertigung, bei Muret mehr aus einem gelehrten Anliegen resultierend, fand bei Bodin ihr Motiv in persönlicher Übereinstimmung: in der Gleichartigkeit der jeweiligen politischen Laufbahn. "Dank dem gemeinsamen Stand fühlte sich Bodin von Tacitus persönlich angesprochen, und dieses Gefühl der geistigen Verwandschaft teilte er mit allen anderen Würdenträgern. In Paris vollzog sich die Beschäftigung des Bürgertums mit Tacitus hauptsächlich innerhalb der Magistratur2s." Es waren der Mut und die Standhaftigkeit der römischen Senatoren, denen bei der Lektüre der Annalen Bewunderung gezollt wurde. Als eine der bedeutendsten Persönlichkeiten der Geistesgeschichte des 16. Jahrhunderts ist auch Montaigne, seine Abneigung gegen Cicero offen bekundend, mit Tacitus in Berührung geraten. Sein spät gereiftes Verständnis für die antike Geschichtsschreibung favorisierte vielmehr die von Plutarch und Tacitus augewandte Methode der psychologisch untermauerten Tatsachenübermittlung: "Les bien excellens ont la suffisance de choisir ce qui est digne d'estre sc;eu, peuvent trier de deux raports celuy qui est plus vraysemblable; de la condition des Princes et de leurs humeurs ils en concluent les conseils et leur attribuent les paroles convenables28." 24 25

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Zitiert nach Etter, S. 61. Etter, S. 63. Essais, II, 10, S. 459.

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Nach seiner Rückkehr aus Italien (1580), in Rom war er seinem Lehrer Muret begegnet, gelangte Montaigne zu einer noch intensiveren Auseinandersetzung mit Tacitus und hob nun noch entschiedener den exemplarischen Wert seiner Geschichtsschreibung hervor: "Ce n'est pas un livre a lire, c'est un livre a estudier et apprendre ... c'est une pepiniere de discours ethiques et politiques, pour la provision et ornement de ceux qui tiennent rang au maniement du monde 27." Und weist nicht gerade Tacitus wirklichkeitsbezogene und erfolgversprechende Wege zur Überwindung der Gegenwartskrise? "Son Service est plus propre a un estat trouble et malade, comme est le nostre present; vous diriez souvent qu'il nous peinct et qu'il nous pinse28." So verkörperte Tacitus die Eigenschaften, denen der alternde Montaigne, der sich trotz eines freundschaftlich geführten Briefwechsels mit Lipsius vom Stoizismus abgewandt hatte, seine Bewunderung zollte: "C'estoit un grand personnage, droicturier et courageux, non d'une vertu superstitieuse, mais philosophique et genereuse2~." An der Tacitusrezeption beteiligt sich auch Pierre Charron. Insbesondere in seiner Weisheitslehre ,De la Sagesse' (1601) ist neben der Verarbeitung der von Montaigne, Lipsius und Du Vair vermittelten Anregungen die Verwendung des Gedankengutes antiker Autoren ein bemerkenswerter Tatbestand. Unter ihnen genießen Plutarch, Seneca und Tacitus eine Vorrangstellung. Die bei der Erstellung politischer Klugheitsregeln sich häufende Verwendung der Tacituszitate dient jedoch, nach bisherigem Verständnis, einer einseitigen Zielsetzung. Nunmehr von Tacitus als ,Magister rerum politicarum' inspiriert, gerät Charron mit der Verkündung der Idee der Staatsräson in das Fahrwasser tacitistischer Kommentierung. "Charrons Tacitusrezeption, so urteilt Stackelberg, ist, auf diesem einen, politischen Sektor, weitaus vollständiger als diejenige seines größeren Vorfahren Montaigne. Diese Vervollständigung ist aber keine Bereicherung, sondern eine Vereinseitigung, daher Verarmung. Montaignes, auch an der Tacitusrezeption ablesbarer, vielseitiger Humanismus erscheint hier zusammengeschrumpft zum einseitigen Tacitismus30." Allerdings bedarf auch die hier gewonEssais, III, 8, S. 1054. a.a.O. 29 a.a.O. S. 1056. Zur Tacitusrezeption Montaignes vgl. auch Stackelberg, Tacitus in der Romania, S. 164 ff. Er kommt zu folgender Beurteilung: Einen gleich bedeutenden, selbständigen und vielseitig interessierten Tacitusleser hat jedenfalls Frankreich zur seihen Zeit, neben Montaigne, nicht aufzuweisen. Bodin könnte sich zwar vielleicht, was die Zahl der Entnahmen aus Tacitus angeht, mit Montaigne messen, seine Tacitusrezeption reicht jedoch weniger tief, und sie ist weniger vielseitig als diejenige Montaignes. Die Vielseitigkeit seiner Tacitusrezeption aber spricht nicht zuletzt für ihn: Montaigne ist Humanist- er ist kein Tacitist. A.a.O. S. 186. so Stackelberg, S. 188. rr

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nene Anschauung einer Einbindung in den von der Neustoa geprägten und erweiterten Bildungszusammenhang. Taciteisches Gedankengut, teilweise in Anlehnung an den durch Tacitus inspirierten ,Discours de la servitude volontaire' von Estienne de la Boetie, fand Berücksichtigung in zahlreichen hugenottischen Streitschriften, in dem 1616 von Agrippa d'Aubigne veröffentlichten Versepos ,Les Tragiques', in der von namhaften Tacituskennern wie Jacques Gillot, Pierre Pithou und Jean Passerat mitverfaßten ,Satyre Menippee'. Auch am Hofe der Valois wurde Tacitus zum bevorzugten historischen und politischen Schriftsteller, obschon, so ergaben die Untersuchungen von Etter, die Hofleute diese Auseinandersetzung unter anderen Vorzeichen führten: sie vollzogen die Verschmelzung von Tacitus und Machiavelli91 • Diese Bemühungen fielen hauptsächlich in die Zeit Heinrichs III. Zu seinen Vertrauten und persönlichen Beratern, die ihn mit den Werken von Tacitus und Machiavelli bekannt gemacht haben, zählten die Florentiner Delbene und Jacobo Corbinelli. Delbene wie auch sein Landsmann, der Piemontese Paschal, hatten zuvor den Herzögen von Savoyen gedient, den Wegbereitern für die Ausbreitung des Tacitismus, der von hier aus über den französischen Hof und sodann unter maßgebender Beteiligung Giovanni Boteros nach Italien gelangte. Eine erhebliche Bedeutung ist daneben den Horentinischen Gesandten am Hofe Heinrichs III. zuzumessen. Filippo Cavriana ist der Verfasser der 1597 veröffentlichten ,Discorsi sopra i primi cinque libri di Cornelio Tacito', eines Tacituskommentars, der die bei der diplomatischen Tätigkeit in Frankreich gewonnenen Erfahrungen aufgriff und verwertete. Curzio Pichena, diplomatisch weniger erfolgreich und 1578 aus Frankreich ausgewiesen, wurde vielmehr berühmt durch die im Jahre 1600 erfolgte Herausgabe einer Sammlung von Noten, die, nach Einsichtnahme in die Codices Medicei, alle von der bisher üblichen Lesart abweichenden Textvarianten zusammentrug, ein Werk, das schließlich Lipsius dazu veranlaßte, seine letzte Ausgabe des Tacitus einer Überarbeitung zu unterziehen. Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang die von Antoine de Bai:f gegründete und 1576 von Guy du Faur de Pibrac im Auftrag Heinrichs III. erneuerte Palastakademie~ 2 . Im Rahmen der hier behandelten Probleme der Altertumskunde und Sprachgeschichte fanden auch die Gallien betreffenden Kapitel der Historien Beachtung. Von Blaise de ViEtter, S. 78. Dazu auch Fritz Neubert, Die Academie du Palais unter Heinrich III. Französische Literaturprobleme. Ges. Aufsätze, Berlin 1962. 31

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genere, dem Sekretär Heinrichs III. und Mitglied der Akademie, wurden sie in die französische Sprache übertragen und zusammen mit einer Caesarübersetzung, der noch weitere Übersetzungen der Germania und von Teilen der Historien folgten, veröffentlicht. Und Henri Estienne, der Henri de Mesmes, Jacques-Auguste de Thou, Antoine de Balf und Estienne de Pasquier zu seinen Freunden rechnete und durch die Fürsprache seines Beschützers, des Beraters Heinrichs III., Pompone de Bellievre Aufnahme in die Akademie fand, versäumte es nicht, der Überlegenheit des Französischen unter den modernen Sprachen das Wort zu reden und diesbezüglichen Ansprüchen der Italiener entgegenzutreten. Der in seiner Schrift ,De la Precellence du langage fran