Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung: Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume 9783787330461, 9783787306251

Die vorliegende Arbeit behandelt vor allem den von Shaftesbury begründeten Diskussionszusammenhang der Moral-sense-Theor

122 94 5MB

German Pages 214 [238] Year 1979

Report DMCA / Copyright

DOWNLOAD PDF FILE

Recommend Papers

Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung: Der Wandel der moral-sense-Theorie von Shaftesbury bis Hume
 9783787330461, 9783787306251

  • 0 0 0
  • Like this paper and download? You can publish your own PDF file online for free in a few minutes! Sign Up
File loading please wait...
Citation preview

WOLFGANG H . S CHRADER

Ethik und Anthropologie in der englischen Aufklärung

S TUDIEN Z UM ACHTZ EHNTEN JAHRHUNDERT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 6

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

WOLFGANG H . S CHRADER

ETHIK UND ANTHROPOLOGIE IN DER ENGLISCHEN AUFKLÄRUNG Der Wandel der moral-sense-theorie von Shaftesbury bis Hume

FELIX MEINER VERLAG

·

HAMBURG

Im Digitaldruck »on demand« hergestelltes, inhaltlich mit der ursprünglichen Ausgabe identisches Exemplar. Wir bitten um Verständnis für unvermeidliche Abweichungen in der Ausstattung, die der Einzelfertigung geschuldet sind. Weitere Informationen unter: www.meiner.de/bod.

Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliogra­phi­­sche Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-0625-1 ISBN E-Book: 978-3-7873-3046-1 © Felix Meiner Verlag GmbH, Hamburg 1984. Alle Rechte vorbehalten. Dies gilt auch für Vervielfältigungen, Übertragungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen, soweit es nicht §§  53 und 54 URG ausdrücklich gestatten. Gesamtherstellung: BoD, Norderstedt. Gedruckt auf alterungsbeständigem Werkdruck­papier, hergestellt aus 100 % chlor­frei gebleich­tem Zellstoff. Printed in Germany.  www.meiner.de

Meiner Frau

INHALT

Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XI

Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . XIII I. Sl"\aftesbury . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

1 3 3 10 18 19 29 31 34

II. Mandeville . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

39

1 . Religion und Moral . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. >>virtue, considered by itself« . . . . . . . . . . . . a) Der Begriff des Guten (mere Goodness) . b) moral sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3 . Die Einheit der Natur (»the Great One okkulte Qualität< . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Die moralische Billigung bzw. Mißbilligung (moral perceptions) . 3 . Die Natur moralischer Urteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Broads Vorschläge zur Deutung der moral-sense-Theorie . . . . . . .

73 75 75 77 78 82 82

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

VIII

Inhalt

b) Frankenas Interpretation der moral-sense-Theorie Hutchesons 4. Benevolence als Motiv tugendhaften Handeins . . . . . . . . . . . . . . . . 5. Moralischer Kalkül. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . a) Das größte Glück der größten Zahl . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Wohlwollen und Selbstliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6. Moralische Perfektibilität . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

.

.

. . . . .

. . . . .

. . . . .

. . . . .

87 89 95 96 97 101

IV. Butler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 .

1 . Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2 . Die Natur des Menschen als ein System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3. Das Gewissen (conscience) als systemkonstituierendes Prinzip a) Begriff und Funktion des Gewissens . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . b) Gewissen und moral sense . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . c) Gewissen und Selbstliebe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 . System und Selbst . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

.

.

.

V. Hume

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

.

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

. . . . . . .

.

.

.

.

.

.

.

1. Philosophie als WisseAsehaft ,. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2. Humes Kritik der Begriffe »Natur>Selbst>Treatise>persona! Identity with regard to the Passionsgut>Inquiry>Virtue, considered by itself>Kometenbuch>Rechtschaffenheit oder Tugend an sich selbst>Inquirynaturalisti­ sche< Tugendauffassung zu entwickeln und die theologische Oberformung der Ethik abzustreifen, begründet die Bedeutung Shaftesburys als Aufklärer und ver­ anlaßt die nachhaltige Wirkung seines ethischen Werkes in den ersten beiden Drit­ teln des 18. Jahrhunderts . 10

2. »Virtue, considered by itself«

a) Der Begriff des Guten (mere Goodness) Shaftesbury leitet seine Untersuchungen über das, was die Tugend an sich selbst betrachtet sei (vgl. Ch 1, 238) , ein mit Reflexionen zum Theodizee-Problem (bk. I, sect. II) . Sie stehen zwar scheinbar >>nur in losem Zusammenhang mit dem Fol­ gendenInquiry>gut>TugendFreidenker< und Begründer der Frei­ denkerei, erweist sich damit als eine scharfsichtige Beobachtung, die den Nerv der Lehre Shaftesburys (trotz aller sonstigen Mißverständnisse) trifft (vgl. vor allem G. Berkeley, Al­ ciphron or the minute Philosopher, 1732; dazu: R. Metz: George Berkeley, Leben und Lehre, Stuttgart-Bad Cannstatt 1925; 21968, S. 31 f. , 39; H. W. Orange, Berkeley as a Moral Philoso­ pher, in: Mind, Old Series, Bd. 15, 1890, S. 514ff.). 11. P. Ziertmann, Einleitung zu: Shaftesbury, Untersuchung über die Tugend, Lpz. 1905, S. VIII.

4

Shaftesbury

aber wird durch die Uberlegungen Shaftesburys zum Theodizee-Problem vorbe­ reitet. Er stellt zunächst unter systematischem Gesichtspunkt die verschiedenen Ansichten »Concerning superior power>For to what end in Nature many things, even whole species of creatures, refer, or to what purpose they serve, will be hard for any one justly to determineto what end the many proportians and various shapes of parts in many creatures actually serve, we are able, by the help of study and observation, to demonstrate with great exactness>Inquiry>what that quality is which we give the name goodness or virtue>the many proportians and various shapes>gut>everything in his constitution>To this end if anything, either in his appetites, passions, or affections, be not condu­ cing but the contrary, . . . he is ili with respect to himself>gutrichtige< oder >falsche< Beschaffenheit thematisiert. Das aber wäre nur dann zulässig, wenn davon ausgegangen werden könnte, ein Ge­ schöpf sei >>perfect in himselfabso­ lute and complete in himself, without any real relation to anything in the universe besides>System or wholeTeile< eines Geschöpfs. Insofern aber ist der Zweck (end) eines Geschöpfs nicht durch es selbst bestimmt, sondern nur im Hinblick auf das System, dessen Teil es ist, be­ stimmbar. Wenn daher gilt, daß der >richtige< Zustand eines G eschöpfs >>is by na­ ture forwarded and by hirnself affectionately sought >virtue, considered by itselfrichtigen< Systemzustands ein. Und umgekehrt gilt: »that goodness by which he is thus useful to others (is) a real good and advan­ tage to himself« (Ch 1, 244) . Mit diesen Uberlegungen zum Verhältnis von Teil und Ganzem (System) hat Shaftesbury die Bedingungen, unter denen ein angemessener Begriff von >>good­ ness or virtue>a private good and interest of his own, which Nature has compelled him to seek« (Ch I, 243), umschreibt Shaftes­ bury den Gedanken, daß ein Geschöpf von Natur aus strebt, sich zu erhalten. Das Streben nach Selbsterhaltung ist das, was nach Shaftesbury den natürlichen Zu­ stand eines G eschöpfs charakterisiert: >> . . . if anything be natural, in any creature, or any kind, 'tis what is preservative of the kind itself, and conducing to its welfare and support« (Ch I, 74; vgl. auch 248) . Eine entsprechende Aussage findet sich in Shaftesburys Philosophischem Tagebuch (Philosophical Regimen) : >>Everything is natural which affects the preservation and good of that which nature has assigned to it. « 1 2 Indem Shaftesbury den Ausdruck >>natural« im Rekurs auf den Begriff der Erhal­ tung definiert, nimmt er eine das frühneuzeitliche Denken grundlegend bestim­ mende Thematik auf: >>Selbsterhaltung« wurde zu einem Grundwort zunächst der politischen Theorie und Ethik 1 3, um schließlich, im Rahmen der Philosophie Spi­ nozas, den Rang einer >>fundamentale(n) Kategorie alles Seienden« 1 4 zu erhalten. Selbsterhaltung sei, erklärt Spinoza im >>Tractatus Theologico-Politicus«, die Iex summa naturae 1 5; und in der >>Ethica« heißt es: >>Unaquaque res, quantum in se est, in suo esse perseverare conatur. « 16 Bereits der Herausgeber der >>Characteristics«, J. M . Robertson, hat in einer Anmerkung auf die scheinbare Nähe der Uberlegun­ gen Shaftesburys in der >>lnquiry« zu Bestimmungen Spinozas hingewiesen (vgl. Ch 1, 243) . Tatsächlich entspricht die Definition von >>natural« im Rekurs auf >>Selbsterhaltung« grundsätzlich der Aussage Spinozas, Selbsterhaltung sei die Wesenheit eines jeden Dinges (actualem essentiam rei) . 1 7 Unmittelbar augenfällig wird jedoch die tiefgreifende Differenz zwischen beiden Denkern, wenn man er12. Shaftesbury, The Life, Unpublished Letters, and Philosophical Regimen (hrsg. v. B. Rand), London 1900, S. 9 (in der Folge zitiert als »Regimen«). 13. Vgl. R. Spaemann, Reflexion und Spontaneität. Studien über Fenelon, Stuttgart 1963, S. SO ff. 14. H. Blumenberg, Die Legitimität der Neuzeit, Frankf./M. 1966, S . 97; vgl. auch ders. , Selbsterhaltung und Beharrung. Zur Konstitution neuzeitlicher Rationalität, in: H. Ebeling (Hrsg.), Subjektivität und Selbsterhaltung, Frankf./M. 1976, S. 144 ff.; D. Henrich, Die Grundstruktur der modernen Philosophie, in: a. a. 0., S. 97 ff. 15. B. de Spinoza, Tractatus Theologico-Politicus XVI, 4. 16. B. de Spinoza, Ethica, Pars III, propositio 6. 17. Spinoza, a. a. 0., propositio 7; vgl. IV, prop. 6. Ferner scheint der Bestimmung Shaf­ tesburys, jedes Geschöpf habe »a privat good and interest of his own«, Spinoza, a. a. 0., IV, Propositio XX zu entsprechen.

6

Shaftesbury

gänzend die den Selbsterhaltungsgedanken Spinozas fundierende Definition her­ anzieht: »Per realitatem et perfectionem idem intelligo. perfect in himself>in the structure of this or other animal, there be anything which points beyond himselfTeil< eines Systems ist, ist für es >>natural . . . what is preservative of the kind itselfrichtige< Zustand eines Geschöpfs »is by nature forwar­ ded and by hirnself affectionately sought« (Ch I, 243) weist darauf hin, daß Shaftesbury »Selbsterhaltung« im Sinne der stoischen Tradition interpretiert, nach der jedes Lebewesen von Geburt aus darauf angelegt ist, sich zu erhalten und das zu lieben, was zu seiner Konsti­ tution und deren Bewahrung gehört (ad se conservandum et ad suum statum eaque, quae conservatia sunt eius status, diligenda; Cicero, De finibus bonorum et malorum, 3, 16) . Erst auf dem Hintergrund der stoischen Oikeiosis- Lehre gewinnen die Ausführungen Shaftesbu­ rys in Ch I, 243 ihren präzisen Sinn. Oikeiosis schließt die Bezugnahme auf die G emeinschaft und somit der Selbsterhaltungstrieb die Förderung des Wohls der anderen als Bedingung ei­ nes der Natur gemäßen Lebens ein (Zur Oikeiosis-Lehre vgl. M. Forschner, Die stoische Ethik, Stuttgart 1981, S. 142 ff. ; ferner: Max Pohlenz, Die Stoa, Bd. I, Göttingen 1948, S . 113 ff . , Bd. II, Göttingen 1949, S . 64 ff. ; S . G . Pembroke, Oikeiosis; i n : A. A. Long, ed. , Pro­ blems in Stoicism, London 1971, S. 114 ff.; G. Watson, The Stoic Theory of Knowledge, Bel­ fast, o. } . , S. 22 ff.) . 21 . Selbsterhaltung im Sinne von Selbstbehauptung verkürzt nach Shaftesbury den Er­ haltungsgedanken auf das Moment bloßer »selfishness« . Mit polemischer Spitze gegen die >modernen< Theoretiker, für die Selbsterhaltung zum Grundprinzip der Erklärung der menschlichen Natur geworden ist, bemerkt Shaftesbury daher in der zweiten Abhandlung der »Characteristics« (»Sensus communis«) : »Modern projectors, I know, would . . . new frame human heart, and have a mighty fancy to reduce all its motions, balances, and weights, to that one priciple and foundation of a cool and deliberate selfishness« (Ch I, 78; vgl. 79) . Eine solche Betrachtungsweise, die die Lebensvollzüge des Menschen aus nur einem Prin­ zip zu erklären versucht, findet nach Shaftesbury ihren theoretischen Ausdruck im philoso­ phischen System, das sich auszeichnet »durch die Kohärenz von Aussagen untereinander und ihre Ableitung von einem gemeinsamen >Prinzip< « (Spaemann, a. a. 0 . , S. 61; vgl. 60 ff. über den Zusammenhang von > Selbsterhaltung< und > System>Treatise>Treatise>A passion is an original existence, or if you will, modification of existence, and contains not any representative quality, which renders it a copy of any other existence or modification>existence>modification of existence>an original existence>simple and uniform impressions> ' tis impossible we can ever, by a mulwird, bildet die >>Dissertation on the Passions« (D. Hume, Essays, hrsg. v. T. H. Green und T. H. Grose, Bd. II, London 1907, S. 139 ff.) . Sie stimmt zwar inhaltlich grundsätzlich mit den Ausführungen im zweiten Buch des >>Treatise>Dissertation>Affekt>Leidenschaft>simple and uniform>Original>ursprünglich>naturalwithout any antecedent perception arise in the soulSecondary, or reflective impressions>such as proceed from some of these original ones, either immediately or by the in­ terposition of its idea>belief is absolutely requisite to the exciting our passions>a natural impulse or instinct, which is perfectly unaccountable>the desire of punishment to our enernies and of happiness to our friends; hunger, Iust, and a few other bodily appetites>Treatise>vulgar and specious>Treatise>impressions of sensations>reflected impressions« vom Moralphilosophen (moral philosopher) untersucht (T 8, S. 276) . 55. Aber auch umgekehrt gilt, daß >>the passions in their turn are very favourable to belief>such as proceed from the same principles, but by the conjunction of other principes>Simple and uniform impressions>Stolz«, »Demut« etc. bezeichneten Impres­ sionen hat (vgl. T 277) . Wie aber ist unter solchen Voraussetzungen überhaupt eine sachgemäße Einteilung und befriedigende Darstellung der verschiedenen Leiden­ schaften möglich? Die Antwort Humes lautet: durch eine Beschreibung der Lei­ denschaften »by an enumeration of such circumstances, as attend themUmstände< sind zu thematisieren. Denn Leidenschaften sind mentale Zustände, die nicht wie die origi­ nal impressions unmittelbar, »without any introduction make their appearance in the soul«, sondern die auf Grund von >>antecedent perception(s) arise in the soulUm­ stände< die Leidenschaften selbst in ihrer Bestimmtheit charakterisiert und unter­ schieden werden können. Die Frage, wodurch das Entstehen von Leidenschaften veranlaßt wird, fragt nach den Ursachen der Leidenschaften. So entstehen die direkten oder unmittelba­ ren Affekte (Begehren und Abscheu, Kummer und Freude etc . ) - wie Hume zu Be­ ginn des dritten Teils seiner Affektenlehre ausführt - durch ein Gut oder übel, durch Freude oder Schmerz, die insofern die Ursachen jener Affekte sind (vgl. T 399, 438) . Aber der Rekurs auf die Ursachen der Leidenschaften ist kein hinrei­ chendes Differenzierungsprinzip . Wie etwa sollten auf Grund der sie bewirken­ den Ursache die Affekte Freude und Liebe unterschieden werden, da doch beide durch ein und denselben >Gegenstand< verursacht sein könnten? Es bedarf des­ halb eines weiteren Kriteriums zur Unterscheidung der Affekte. Hume gewinnt

152

Hume

dieses Kriterium, indem er zeigt, daß zumindest ein Teil der Affekte, die indirekten Affekte, intentional57 gedeutet werden muß, d. h. es muß nicht nur eine Ursache der Affekte, sondern auch »their ultimate and final object>We must, therefore, make a distinction betwixt the cause and the object of these passions; betwixt that idea, which excites them, and that to which they direct their view, when excited>This object is self, or that succession of related ideas and impressions, of which we have an inti­ mate memory and consciousness>every valuable qualityGegenständen>simple and uniform impressions« (T 277) . Ursache und Objekt der Affekte können deshalb auf Grund der epistemologischen Voraussetzungen Humes nicht als den Affekten >inhärierende< Bestimmungsmo­ mente gedeutet werden. Vielmehr erscheinen sie der Reflexion als distinkte Per­ zeptionen (ideas), die insofern von der in sich einfachen und gleichförmigen Per­ zeption Stolz/Demut unterscheidbar sind und nun nachträglich in Beziehung zu ihr gebracht und mit ihr >verbunden< werden müssen. Im Rahmen der theoreti­ schen Philosophie (Buch I) hatte Hume die Möglichkeit einer solchen Verbindung von Perzeptionen aus dem Wirken der Einbildungskraft erklärt, die uns veranlaßt, von einer Perzeption zur anderen >Überzugehen< (vgl. T 8 ff. , 259f.) . Im Kontext der gegenwärtigen Untersuchungen, in denen es um die Beschreibung der Affekte als >>simple and uniform impressions« geht, ist ein solcher Rekurs auf die Einbil­ dungskraft zweifellos nicht möglich. Aber analog den Überlegungen im ersten Buch des >>Treatise« scheint Hume auch jetzt davon auszugehen, daß eine >Verbin­ dung< zwischen den Vorstellungen der Ursache (des Objekts) einerseits und dem Affekt andererseits nur gedacht werden kann, wenn von einer Perzeption zur an­ deren >übergegangen< wird. Dieser Übergang wird jetzt als ein Hervorbringen, Produzieren gedeutet. 61. A. a. 0 . 62 . A. a. 0 . , S . 284 . 63. Dadurch entstehen letzlieh Prcbleme, die analog denen sind, auf die Hume im Zu­ sammenhang mit der Identitätsproblematik selbst hingewiesen hat.

Affektenlehre

155

Aber der Ausdruck >produzieren< führt notwendigerweise zu Mißdeutungen, da er einen Vorgang bezeichnet, der erst mit der Hervorbringung des Produkts ab­ geschlossen ist. In diesem Sinne ist j edoch die Beziehung zwischen Selbst und Af­ fekt offenkundig nicht zu verstehen. Stolz und Demut sind zwar bezogen auf das Selbst als ihr Objekt, aber diese Beziehung ist sicherlich kein Produktionsverhält­ nis. 64 Was Hume vermutlich ausdrücken will, wenn er sagt, Demut bzw. Stolz sei >>a passion plac'd betwixt two ideasTreatise>Whence these objects and causes are deriv' dnot only by a natural, but also by an original property>from the constancy and steadiness of its (this property's) operations>distinguishing characteristic of these passions>proceeds from an original quality or primary impulse>these qualities, which we must consider as original, are such as are most inseparable from the soul, and can be resolv' d in no other: And such is the quality which determines the object of pride and humility>Contingent relationthat quality, which operates, and the subject, on which it is plac' d> The quality is the beauty, and the subject is the house, consider'd as his property or contrivance>that the idea, or rather impressions of ourselves is always intimately present with USTräger< der Qualitäten und uns selbst ( >>the subjects . . . are related to self(which) are either parts of ourselves, or some­ thing nearly related to US>the passion is deriv' d>Any thing, that gives a plea­ sant sensation, and is related to self, exites the passion of pride, which is also agreeable, and has self for its object>Bienenfabel>the 68. Entsprechendes gilt unter umgekehrten Vorzeichen für Demut.

158

Hume

Seecis of most VirtuesPride is that natural Faculty by which every Mortal that has any Understanding over-values, and imagines ·better Things of hirnself than any impartial Judge, thoroughly ac­ quainted with all his Qualities and Circumstances, could allow him>values itself above its real WorthAußenaspekt< von Stolz und Demut, d. i. der Hin­ weis auf die sie bewirkenden Ursachen. Nur weil die Qualitäten von Gegenstän­ den, die in Beziehung zu uns stehen, als solche Freude oder Unlust bereiten, kön­ nen Stolz und Demut entstehen. Indem'Hume den Außenaspekt beider Affekte in seine Beschreibung aufnimmt, kann er vermeiden, Stolz als eine Weise der Über­ bewertung des eigenen Selbst zu deuten, und statt dessen Stolz und Demut als ein den eigenen Qualitäten und Lebensumständen gemäßes Erleben des eigenen Selbstwertes begreifen. Wenn aber Stolz und Demut Erlebensformen sind, in denen wir uns unserer selbst und unseres Verhältnisses zur Welt inne werden, dann gehen in die Be­ schreibung beider Affekte Elemente ein, die nach Butler für das, war er >>vernünf­ tige Selbstliebe>Our love and hatred are always directed to some sensible being external to us; and when we talk of self-love, 'tis not in a proper sense>self-loveCool consideration>that the true idea of the human mind, is to consider it as a system of different perceptions or different existences« (T 261) . Aber im Un­ terschied zu Butler schließt für ihn der Begriff des Systems des menschlichen G ei­ stes nicht den Gedanken eines geordneten Ganzen von Teilen ein, sondern der Be­ griff des Systems verweist nach Hume lediglich darauf, daß die Teile untereinan­ der in einem wechselseitigen Kausalverhältnis stehen. Wenn aber nicht davon ausgegangen werden kann, daß die menschliche Natur auf Grund des ihr imma­ nenten Zwecks (end) ein geordnetes Ganzes ist, wird der Begriff der vernünftigen Selbstliebe, dessen Konzeption bei Butler diesen Gedanken voraussetzt, obsolet. Er verliert daher bei Hume folgerichtig jene Bedeutung, die ihm im Rahmen der Theorie Butlers zukam. Dafür werden Funktionen, die bei Butler der vernünftigen Selbstliebe zukamen, auf die Affekte Stolz/Demut übertragen. So hatte vernünf­ tige Selbstliebe die Funktion, die partikularen Bedürfnisse des Menschen, die un69. Noch naheliegender wäre es allerdin !J)? , Butlers vernünftige Selbstliebe im Zusam­ menhang mit Humes Theorie der indirekten Affekte Liebe und Haß zu diskutieren. Aber im Unterschied zu Butler zeigt Hume, daß Liebe im eigentlichen Sinne nicht das Selbst, sondern stets nur eine andere Person zum Objekt haben könne, so daß >>when we talk of self- love, 'tis not in a proper sense, nor has the sensation it produces any thing in common with that tender emotion, which is excited by a friend or mistress« (T 329) . Wenn daher überhaupt der Butler­ sehe Begriff der vernünftigen Selbstliebe in diesem Zusammenhang thematisiert werden kann, dann nur in bezug auf den Affekt des Stolzes, dessen Objekt das Selbst ist.

160

Hume

mittelbar auf Befriedigung drängen, daraufhin zu überprüfen, ob sie der Natur des Menschen gemäß sind oder nicht. Diese Funktion übernehmen bei Hume in ge­ wisser Hinsicht die Affekte Stolz und Demut. Denn die indirekten, nicht unmittel­ bar handlungsmotivierenden Leidenschaften verstärken oder stützen nach Hume die direkten Leidenschaften, durch die »The mind by an original instinct tends to unite itself with the good, and to avoid the evik »These indirect passions, being always agreeable or uneasy, give in their turn additional force to the direct pas­ sions, and encrease our desire or aversion to the objectpositiv< empfunden. Und analog dem Gedanken Butlers, daß vernünftige Selbstliebe die richtige Ordnung des Systems der menschlichen Natur bewahren bzw. wieder herstellen soll, könnte auch die Funktion der Affekte Stolz/Demut in ihrer Bedeutung für das Bewußtsein persönlicher Identität (und d. h. zugleich: für das >system< des menschlichen G eistes) bestimmt werden: Da das Objekt beider Affekte das Selbst ist, wird die Zusammenstimmung von indirekten und direkten Affekten, die das Selbstwertgefühl steigert, der Ausbildung des Bewußtseins per­ sönlicher Identität förderlich sein. Umgekehrt muß die systematische und an sich angenehme Befriedigung direkter Affekte, die jedoch nicht zu Stolz, sondern zu Demut Anlaß gibt, letztlich zu einem Persönlichkeitszerfall führen7 0 •

(2) Konstanz und Veränderbarkeit der Ursachen von Stolz und Demut. - Nach die­ sen Uberlegungen zur Bedeutung und Funktion der Affekte Stolz und Demut ist in einem anschließenden Reflexionsgang der Begriff der Ursache zu präzisieren. Denn ebenso wie im Hinblick auf das Objekt von Stolz und Demut, das Selbst, kann auch mit Bezug auf die Ursachen beider Affekte gefragt werden, ob sie »not only by a natural but also by an original propertythat there are some one or more circumstances common to all of them, on which their efficacy depends>power, riches, beauty or personal me­ rit« Stolz hervorrufen, gilt nicht nur für die gegenwärtige Epoche, sondern auch für vergangene und zukünftige Zeitalter. Und nur weil wir davon ausgehen kön­ nen, daß diese Ursachen natürlicherweise immer dieselbe Wirkung haben wer­ den, ist es uns möglich, die affektive Reaktion nicht nur unserer Zeitgenossen sondern auch historischer Gestalten vorherzusagen bzw. zu verstehen. Gerade historische Erklärungen etwa müssen die Voraussetzung machen, daß zwischen den jeweilig zu erklärenden menschlichen Verhaltensweisen und den sie bewir­ kenden Ursachen ein natürlicher Zusammenhang besteht, da ohne eine solche Voraussetzung eine rationale Rekonstruktion vergangener Handlungsabläufe oder fremder Seelenzustände für uns unmöglich wäre. Andererseits aber sind es nicht immer dieselben Ursachen, die Stolz und Demut hervorrufen. Am Beispiel des Ursachentyps personal merit hatte ja bereits Mande­ ville mit seinen Analysen zum Wandel des Ehrbegriffs gezeigt, wie sich die Wert­ schätzung bestimmter Qualitäten verändert und der >schweremassige< ritterli­ che Ehrbegriff verdrängt wird durch den >handlicheren< bürgerlichen Ehrbegriff. Sowohl Ritterwürde als auch Bürger-Ehre waren bzw. sind Ursachen für das Ent­ stehen von Stolz . Gleichwohl würde das starre Festhalten am ritterlichen Ehrbe­ griff unter veränderten Lebensumständen, im bürgerlichen Zeitalter, dysfunktio­ nal sein und den, der es dennoch tut, lächerlich machen. Dadurch wird keines­ wegs in Frage gestellt, daß Ehrenhaftigkeit ein persönliches Verdienst darstellt und insofern Anlaß zu Stolz gibt, wohl aber behauptet, daß sich die Interpretation des­ sen, was >>Ehreoffen< ist: Daß Ehrenhaftigkeit für den, der sich dieses Verdienst beimes­ sen kann, regelmäßig (mit »steadiness and constancy