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German Pages 218 [227] Year 2019
DI R K SCH UCK Die Verinnerlichung der sozialen Natur
S T U DI E N Z U M ACH TZ EH N T E N JA H R H U N DE RT Herausgegeben von der Deutschen Gesellschaft für die Erforschung des achtzehnten Jahrhunderts Band 40
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
DI R K SCH UCK
Die Verinnerlichung der sozialen Natur Zum Verhältnis von Freiheit und Einfühlung in der Sozialpsychologie des frühen Liberalismus bei Locke, Shaftesbury, Hume und Smith
FELIX MEINER VERL AG · HAMBURG
Bibliographische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über ‹http://portal.dnb.de› abrufbar. ISBN 978-3-7873-3630-2 ISBN eBook: 978-3-7873-3631-9
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Inhalt
Danksagung ..................................................................................
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Siglenverzeichnis ............................................................................
3 5
Einleitung .................................................................................... Der Begriff der sozialen Natur im frühen Liberalismus ...................... Unterschiedliche Auffassungen der sozialen Natur ............................. Soziale Natur zwischen negativer und positiver Freiheit ...................... Der moralische Sinn als freiheitliche Ermächtigung des Individuums .... Gesellschaftsstruktur und moralischer Sinn .....................................
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I. John Locke ..............................................................................
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1. Lockes soziale Tugenden: Dem Gentleman die Höflichkeit zur zweiten Natur machen ............................................................ 1.1 Lockes widersprüchliches Menschenbild: tabula rasa vs. natürliches Machtbegehren ................................................. 1.2 Selbstbeherrschung im Dienst eines größeren Guts .................. 1.2.1 Lockes Diskussion der Frage nach dem größeren Gut in seinem Hauptwerk .................................................... 1.3 Das Paradoxon einer Gewöhnung an Vernunft ........................ 1.3.1 Rousseaus Kritik an Lockes Idee der Einübung von Freigiebigkeit und Höflichkeit ..................................... 1.4 Lockes Sanktionsinstrument der Beschämung durch den Entzug von Anerkennung ............................................................. 1.4.1 Detailanalyse: Die Verinnerlichung des Wunsches nach einem guten Ruf ...................................................... 1.5 Die das Ich begleitende Furcht vor den Anderen und die Einfühlung als Antidot ...................................................... 1.5.1 Detailanalyse: Lockes vier Formen der Unhöflichkeit ........
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VI
Inhalt
53
II. Shaftesbury .............................................................................. 2. Moralische Handlungskompetenz als sinnliches Vermögen .............. 2.1 Der moralische Sinn als intuitive Abneigung gegenüber einem beobachteten Unrecht ....................................................... 2.2 Shaftesbury als Motivationspsychologe: Sozialer vs. sklavischer Charakter ....................................................................... 2.3 »Sympathy« als neue soziale Grundbindung der bürgerlichen Gesellschaft ..................................................................... 2.3.1 Zwei Wirkungen der sozialen Liebe: Bedürfnis nach Sympathie und Ansehen ............................................. 2.3.2 Die gerechte Verteilung der sozialen Liebe ...................... 2.4 Die soziale Rückbindung der Introspektion an den guten Ruf ....
66 69 74
III. David Hume ............................................................................
81
3. Humes sozialpsychologische Neufassung der Frage nach dem moralischen Sinn ................................................................... 3.1 Humes Handlungspsychologie im Verhältnis zur Annahme eines moralischen Sinns ............................................................ 3.2 Die soziale Generierung der Anbindung an bürgerliche Wertvorstellungen ............................................................ 3.2.1 Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von den mir zugehörigen Objekten ................................................ 3.2.2 Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von der Wertschätzung durch Andere ....................................... 3.3 Das Ziel der psychischen Stabilisierung des Einzelnen ............... 3.3.1 Die paradoxe Wechselwirkung im Strom der Ideen und Gefühle .................................................................. 3.3.2 Wahrscheinlichkeit als ein sich schwankend anfühlender mentaler Zustand ..................................................... 3.4 Der wechselseitige Ausschluss von Vergleichsbedürfnis und Mitleidsempfindung ......................................................... 3.4.1 Uneindeutiger Einfühlungszweck: Mitleid oder Schadenfreude ......................................................... 3.4.2 Die beiden Ähnlichkeitsräume des Mitleidens: Die Familie und die Nation ........................................................ 3.5 Selbsttäuschung vs. Selbstbewusstsein: Humes Primat des sozialen Nutzens ......................................................................... IV. Adam Smith ............................................................................ 4. Die Ersetzung des moralischen Sinns durch den unparteiischen Zuschauer ............................................................................ 4.1 Sympathie, Selbstbeherrschung und Mitleiden ........................
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Inhalt
4.1.1 »Sympathy« als Reflexion auf die Wechselseitigkeit der Perspektivübernahme ................................................. 4.1.2 Der Selbstbeherrschungs- und Disziplinierungseffekt von »sympathy« ............................................................. 4.1.3 Die Reziprozität im Mitleiden und der Einbildungscharakter von »sympathy« ........................... 4.2 Die Angemessenheit von Mitleid oder Vergeltungsgefühl ........... 4.2.1 Das Nachempfinden von sozialen und unsozialen Affekten 4.2.2 Vergeltungsgefühl als gemeinschaftsbildender Affekt und Mitleid zweiter Ordnung ............................................ 4.2.3 Die Notwendigkeit des unparteiischen Zuschauers angesichts der Wut der Affekte ..................................... 4.3 Das Modell des unparteiischen Zuschauers als Transzendierung des moralischen Sinns ....................................................... 4.3.1 Genese der Selbst- aus der Fremdbeurteilung .................. 4.3.2 Der Konventionalismus des unparteiischen Zuschauers ..... 4.3.3 Feministischer Exkurs: Das Bild der Frau als männliche Projektion ............................................................... Konklusion: Aufstieg und Fall des Sentimentalismus .............................. Literaturverzeichnis ......................................................................... Personenregister ............................................................................. Sachregister ...................................................................................
VII
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D A N K S AG U N G
Ich danke Wolfgang Fach für die konstante Unterstützung beim Schreiben dieser Dissertation. Es war eine große Freude für mich, die Arbeit im Sommer 2016 an der Fakultät für Sozialwissenschaften und Philosophie der Universität Leipzig verteidigen zu dürfen, die eine so lange und lebendige Tradition der Auseinandersetzung mit dem angloamerikanischen Denken hat. Wer die Arbeiten von Fach zum vorliegenden Thema kennt, wird sehen, wie detailliert ich mich an seinen Thesen zur Geschichte bürgerlichen Regierens abgearbeitet habe. Wer ein gelungenes Bonmot entdeckt, kann sicher sein, dass es eigentlich von Fach stammt und von mir nur bei einem Gespräch mit ihm im Café Einstein aufgeschnappt wurde. Auch Ulrich Bröckling und Alex Demirovic´ haben mich bei dem Projekt unterstützt. Dirk Quadflieg hat mir wertvolle Hinweise für die Überarbeitung der Druckfassung gegeben. Marcel Simon-Gadhof vom Verlag Felix Meiner hat ein hervorragendes Lektorat besorgt. Die Gespräche mit Oliver Schupp und Daniel Nitsch waren in einer Frühphase des Projekts von großem Wert für mich. Oliver Schupp hat eine frühe Version des Locke-Kapitels sehr gewinnbringend kritisiert. Die Gespräche mit Tobias Jäcker und Stefan Gerbing waren für mich ein wichtiger gedanklicher Bezugspunkt während der gesamten Zeit. Beide haben eine spätere Version des Locke-Kapitels ausführlich kommentiert, und Tobi hat eine mittlere Version des Smith-Kapitels mit mir diskutiert. Mit Katharina Miuschka Rettelbach rede ich seit vielen Jahren über die Geschichte bürgerlicher Vergesellschaftung. Sie hat das Shaftesbury-Kapitel und das Hume-Kapitel kommentiert. Die Gespräche mit Chantal Witzmann über die Funktionsweisen des Mitleids haben mir sehr dabei geholfen, diese Fragen systematisch zu präzisieren. Sie hat eine noch stärker auf das Problem der Einfühlung fokussierte Version des HumeKapitels ausführlich kritisiert. Mit Maja Baradaran Rahmanian habe ich das sentimentalistische Körperverständnis diskutiert und in den letzten Jahren viele für mich produktive Gespräche über den Leib-Seele-Dualismus geführt. Christiane Ketteler hat mir einige Male gedanklich auf die Sprünge geholfen. Andrea Knaut hat eine frühe Version der Einleitung und das Hume-Kapitel kommentiert. Alexandra Colligs hat das Hume-Kapitel kommentiert. Steffi Bahro hat mir Sternes Tristram Shandy erklärt und damit sehr geholfen. Mit Theodora Becker habe ich das Smith-Kapitel in seiner letzten Version ausführlich besprochen. Theo hat großen Anteil daran gehabt, die Thesen der Arbeit am Ende richtig zuzuspitzen. Sie hat, neben Stefan Gerbing und Christoph Kasten, auch Teile der Korrekturfassung gelesen und kommentiert.
2
Danksagung
Als Kollegiat des Walter-Rathenau-Kollegs am Moses-Mendelssohn-Zentrum in Potsdam konnte ich mit meinen Kollegiatinnen und Kollegiaten viele anregende Gespräche führen. Die Seminare, die wir zusammen zur Geschichte des Liberalismus veranstaltet haben, habe ich in guter Erinnerung. Die Friedrich-NaumannStiftung hat die Arbeit in dieser Zeit mit einer Förderung unterstützt. Auch dafür herzlichen Dank. Herr Laub von der Staatsbibliothek Berlin hat an den vielen Tagen der textlichen Millimeterarbeit stets ein aufmunterndes Wort für mich gehabt. Die beiden Fragen, ob ich »Locke schon eine Dauerwelle verpasst« hätte oder »den Adam schon zum Schmitz gemacht« habe, sind an dieser Stelle als rhetorische Glanzpunkte hervorzuheben. Für die vielen Streitgespräche über Geschichte und Zukunft von »Freiheit« als politischer Verfassung sei dieses Buch Bernd Volkert gewidmet.
SIGLENVERZEICHNIS
Verzeichnis der für Quelltexte verwendeten Abkürzungen: Characteristics Anthony Ashley Cooper, dritter Earl von Shaftesbury, Characteristicks of Men, Manners, Opinions, Times, Vol. 1 – 3, London 2001, Liberty Fund Corr.
The Correspondence of Adam Smith, hg. v. E. C. Mossner u. I. S. Ross, The Glasgow Edition of the works of Adam Smith Vol. 6, Indianapolis 1987, Liberty Fund
DC/DH
Thomas Hobbes, Vom Menschen (De Homine), Vom Bürger (De Cive), Hamburg 1968, Meiner, übers. v. M. Frischeisen-Köhler, nach dem lat. Orig. verbessert v. Günter Gawlick
Emile
Jean-Jacques Rousseau, Emile oder: Über die Erziehung, Stuttgart 1998, Reclam, herausg. v. Martin Rang, übers. v. Eleonore Sckommodau
Essays
David Hume, Politische und Ökonomische Essays, Bd. 1 u. 2, Hamburg 1988, Meiner, übers. v. Susanne Fischer
E
Thomas Hobbes, Naturrecht und allgemeines Staatsrecht in den Anfangsgründen (Elements of Law), Darmstadt 1976, Wissensch. Buchgesellschaft, übers. v. Ferdinand Tönnies
Ged.
John Locke, Gedanken über Erziehung, Stuttgart 2007, Reclam, übers. v. Heinz Wohlers
L
Thomas Hobbes, Leviathan, 1. u. 2. Teil, Stuttgart 2012, Reclam, übers. von Jacob Peter Mayer
PdM
David Hume, Eine Untersuchung über die Prinzipien der Moral, Hamburg 2003, Meiner, übers. u. hg. von Manfred Kühn
TMS
Adam Smith, Theorie der ethischen Gefühle (Theory of moral sentiments), Hamburg 2010, Meiner, übers. v. Walther Eckstein, herausg. v. Horst D. Brandt
TMS (GE)
Adam Smith, The theory of moral sentiments, The Glasgow Edition, hg. v. D. D. Raphael u. A. L. MacFie, Indianapolis 1984, Liberty Fund
TMS (o)
The theory of moral sentiments, or: an essay towards an analysis of the principles by which men naturally judge concerning the conduct and character, first of their neighbours and then of themselves, hg. v. Knud Haakonssen, Cambridge 2002, Cambridge University Press
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Siglenverzeichnis
TN
David Hume, Traktat über die menschliche Natur, Buch 2 u. 3, Hamburg 1978, Meiner, übers. v. Theodor Lipps
TN (o)
David Hume, A treatise of human nature, reprinted from the original edition in three volumes, hg. v. L. A. Selby-Bigge, Oxford 1960, Clarendon Press
UT
Anthony Ashley Cooper, dritter Earl von Shaftesbury, Eine Untersuchung über Tugend und Verdienst, Bd. 2.3 der Standard Edition, übers. v. Erwin Wolff, auf Grundlage der Ausgabe d. Characteristics von 1713, Stuttgart-Bad Cannstatt 2006, Frommann-Holzboog
Versuch
John Locke, Versuch über den menschlichen Verstand Bd. 1 u. 2, Bd. 3 u. 4, Hamburg 1981, Meiner, übers. v. C. Winckler, hg. v. Reinhard Brandt
E I N LE I T UN G
Der Begriff der sozialen Natur im frühen Liberalismus Die um die Mitte des 18. Jahrhunderts in Paris gefeierte Schauspielerin und Autorin von Briefromanen Marie-Jeanne Riccoboni ist die einzige Frau, von der überliefert ist, dass sie erotische Gefühle für Adam Smith hegte. Die gewandte Pariser Salondame, die ihrerseits die Geliebte einiger einflussreicher Männer ihrer Zeit war und die mit einer Frau zusammenlebte, zu der ihr ebenfalls eine amouröse Beziehung nachgesagt wurde, fühlte sich zu der tragikomischen Gestalt des schottischen Intellektuellen hingezogen, der im Jahr 1766 für einen Sommer in Paris weilte. Umgeben von Pariser Salonlöwen, die um ihre Gunst buhlten, fand Riccoboni ausgerechnet Gefallen an dem schüchternen Smith, der, damals 43 Jahre alt, zuhause in Schottland noch bei seiner Mutter lebte. Das widersprüchliche Verhältnis zwischen Frankreich und der 1707 gerade gegründeten britischen Union im 18. Jahrhundert bestand darin, dass, während die französischen Materialisten um Diderot und Voltaire die großen rationalistischen Systeme des neuen Zeitgeists der Aufklärung entwarfen, es in England zwar schon politische Freiheit gab, man sich in der Theorie aber bescheidener gab. Adam Smith war die Personifikation dieser pragmatischen Bescheidenheit, und es war gerade das, was Marie-Jeanne Riccoboni an ihm schätzte, wie man in ihren Briefen nachlesen kann. An den späteren Diplomaten Sir Robert Liston, mit dem sie in dessen Jugendjahren, als sie schon eine gestandene Dame der Pariser Gesellschaft und der junge Liston gerade mal zwanzig Jahre alt war, eine Affäre hatte, schrieb Riccoboni über Smith: »Er spricht nur mit Schwierigkeiten durch seine großen Zähne – er ist hässlich wie ein Teufel. Es ist Herr Smith, der Autor eines Buches, das ich nicht gelesen habe.«1 Riccoboni versuchte, dem bodenständigen Smith in der heiteren Londoner Gesellschaft zu mehr Ansehen zu verhelfen. Noch im selben Jahr, 1766, schrieb sie an ihren Vertrauten, den gefeierten Londoner Schauspieler David Garrick, aus dem Anlass, dass Smith auf dem Weg zurück nach London war und ihr gegenüber den Wunsch geäußert hatte, Garrick kennenzulernen: »Ich bin sehr zufrieden mit mir, mein lieber Garrick, Ihnen das anbieten zu können, was ich so heiß vermisse: die Freude der Gesellschaft von Herrn Smith. Ich bin wie ein dummes kleines Mädchen, das ihrem Geliebten lauscht und dabei niemals an den Verlust denkt, der solchen Freuden stets folgt. Schelte mich, schlage mich, töte mich! Aber ich vereh»Il parle durement avec de grandes dents – il est laid comme un diable. C’est Mr Smith, l’autheur d’un livre que je n’ai point lu.«; Riccoboni 1976, S. 71. 1
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Einleitung
re Herrn Smith, ich verehre ihn sehr. Der Teufel kann alle unsere eifrigen Briefschreiber holen, alle unsere Philosophen, solange er mir Herrn Smith zurückbringt.«2 Das von Riccoboni erwähnte Buch ist die Theorie der ethischen Gefühle, das heute weitgehend unbekannte, moralphilosophische und erste Werk von Adam Smith, während die später geschriebene Untersuchung über den Ursprung und die Ursachen des Wohlstands von Nationen als Beginn der politischen Ökonomie gilt und bekannter geblieben ist. Doch auch die Theorie der ethischen Gefühle kann als Beginn einer eigenständigen wissenschaftlichen Tradition verstanden werden, nämlich des sozialen Intersubjektivismus.3 Smith entwickelt in der Theorie der ethischen Gefühle zum ersten Mal ein interaktionistisches Verständnis von Subjektivität. Das Individuum ist nur deshalb in der Lage, auf sich selbst zu reflektieren, weil es die Sichtweisen Anderer auf sich selbst zuvor internalisiert hat. Aus diesen verinnerlichten Spiegelungen seiner selbst entwickelt sich ein soziales Gewissen, das Smith den »unparteiischen Zuschauer« nennt. Smiths Transzendierung der Philosophie des moralischen Sinns besteht darin, dass er durch seine intersubjektivistische Methode erklären kann, wie Individuen »moralische Gefühle« verinnerlichen, die sie ohne ihr Leben in der »Gesellschaft« nicht entwickelt hätten. Der »moralische Sinn« ist in diesem Sinn zweite Natur: Er entsteht erst allmählich aus den Verhaltenserwartungen Anderer. So bescheiden, wie er Marie-Jeanne Riccoboni erschien, war Adam Smith als Wissenschaftler nicht. Doch gerade dadurch, dass seine Sichtweise ihrer Zeit ein wenig voraus war, gibt es noch kein Vokabular, in dem sie sich adäquat ausdrücken kann. Indem Smith beschreibt, wie man einen moralischen Sinn internalisiert, hält er an der Idee des moralischen Sinns auf dialektische Art und Weise fest: Er verneint die frühere Vorstellung eines moralischen Sinns erster Natur und zeigt zugleich, wie man ein vergleichbares Empfindungsvermögen gesellschaftlich hervorbringen kann. Smith befürwortet eine Gesellschaftsordnung bürgerlicher Freiheit, glaubt aber nicht, dass Menschen von Natur aus zum Leben in Freiheit in der Lage sind. Das Problem ist nur, dass die politische Philosophie der Aufklärung gemeinhin so funktioniert, dass eine Brücke gebaut werden muss zwischen Realität und Ideologie: Wenn man eine freiheitlich-bürgerliche Gesellschaftsordnung befürwortet, muss man sie auch aus der menschlichen Natur herleiten. Diese Notwendigkeit gebiert erst die Idee eines »moralischen Sinns«: Anthony Ashley Cooper, der 3rd Earl of Shaftesbury, der den Begriff prägt, will gegen den autoritären Staatsdenker Thomas Hobbes beweisen, dass man den Individuen mehr selbstbeherrschte Freiheit in ihren Handlungen lassen kann, genau weil sie ein Vermögen in sich haben, das Richtige zu tun. »Je suis comme ces folles jeunes filles qui écoutent un amant sans penser au regret, toujours voisin du plaisir. Grondez-moi, battez-moi, tuez-moi! Mais j’aime Monsieur Smith, je l’aime beaucoup. Je voudrois que le diable emporta tous nos gens de lettres, tous nos philosophes, et qu’il me rapporta Mr Smith.«; Riccoboni 1976, S. 88. 3 Vgl. Small 1907, Marshall 1986, Leys 1993, Campbell 2010 (1971), Urquhart 2010. 2
Der Begriff der sozialen Natur im frühen Liberalismus
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Doch auch Shaftesbury ist nicht so naiv, dass er meinen würde, man könne die Leute einfach machen lassen. In moralischen Dingen kann es kein Laissez-faire geben, daran hat kein Philosoph der Aufklärung geglaubt, denn dafür waren die Verhältnisse und die Mehrzahl der Menschen damals viel zu brutal. Dies passt nicht so recht zur sentimentalen Gefühlsbegeisterung für den »moralischen Sinn«. Es ist eine kleine Elite, die sich durch die Kultivierung ihrer Sozialkompetenz gleichzeitig legitimiert und ihren Herrschaftsanspruch naturalisieren will. Die Entwicklung eines »moralischen Sinns« ist Folge des Lebens in guter Gesellschaft. Unmerklich bricht sich auf diese Art und Weise aber die Idee Bahn, dass alle Individuen, die in einer »Gesellschaft« leben, sich darum sorgen, wie Andere sie sehen, und diese Sorge um das eigene Ansehen in den Augen Anderer macht diese Individuen »freiheitlich« regierbar. Es geht darum, dass Individuen ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung entwickeln. Sofort wird der »Pöbel« [mob] definiert als diejenigen, die kein solches Bedürfnis nach sozialer Anerkennung haben und insofern immun sind gegen die Erziehung zu »bürgerlicher Freiheit«. Bei diesen Individuen hilft dann nur äußere »Zucht«. Die frühmoderne Theorie der »sozialen Natur« kommt nicht aus der Unterschicht, im Gegenteil. Und in dem Moment, in dem sie einmal zur »natural sociability« einer ersten Natur verklärt ist, erscheint derjenige, der nie mit den geselligen Kreisen der Gesellschaft, in denen wechselseitige Sympathie gepflegt wird, in Berührung kam, plötzlich nicht mehr als sozial benachteiligt, sondern als eine Art Untermensch, dessen natürlich-soziale Veranlagung defizitär ist. Doch dies ist eine so offensichtliche Mär der neuen Elite, dass selbst Locke ihre Unwahrheit offen ausspricht.4 Sie stellt nur die ideologische Oberfläche eines sozialkonstruktivistischen Unterbaus dar, der den Diskurs um den »moralischen Sinn« stets begleitet: Eine freiheitlich-bürgerliche Gesellschaftsordnung beruht darauf, dass Individuen ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung entwickeln, und die Disposition dazu ist ihre »soziale Natur«.5 Vgl. Versuch 4.20.16. Die Auswahl der Autoren Locke, Shaftesbury, Hume und Smith – unter Auslassung von Hutcheson – stellt eine narrative Vorentscheidung dar, die die Idee der sozialen Natur als dem menschlichen Bedürfnis nach der Anerkennung durch Andere für gewichtiger als die spezifischere eines moralischen Sinns nimmt. Letztere wird als ein Durchgangsstadium zu einer voll entwickelten Theorie der sozialen Natur verstanden, die sich zuerst bei Smith und in Vorformen bei Locke, Shaftesbury und Hume findet. Besonders für das spätere Verständnis von Smith wäre eine ausführlichere Behandlung von Joseph Butler wünschenswert gewesen (ansatzweise in Kap. 4.2). Butler ist anglikanischer Theologe und Moralist. Ich werde später ausführlich begründen, warum ich Shaftesbury für den wichtigeren Einfluss auf Hume und Smith erachte als Hutcheson. Hutcheson vertritt wie Shaftesbury die Theorie eines »moral sense« in ihrer stärksten Form als unmittelbare Empfindung sittlicher Angemessenheit bei einem desinteressierten Beobachter, aber bei Shaftesbury gibt es auch eine parallel laufende, zweite Argumentation, nach der sozial-tugendhaftes Handeln von der damit verbundenen sozialen Anerkennung durch Andere abhängig ist. Meine These beinhaltet, dass Hume und Smith an diese zweite Argumentationslinie anknüpfen und darin einer Linie folgen, die von Hobbes ausgehend über Locke zu Shaftesbury, Joseph Butler und Rousseau verläuft. 4 5
8
Einleitung
In dieser Einleitung werde ich in einem ersten Schritt zeigen, dass es von Beginn an zwei Legitimationslinien der »sozialen Natur« im frühen Liberalismus gibt, deren dialektische Spannung sich nur gesellschaftstheoretisch erschließt, d. h. aus einem widersprüchlichen Verhältnis zwischen der Ideologie der »sozialen Natur« als erster Natur und der realen Notwendigkeit, ein Modell zu entwickeln, durch das freie Individuen tatsächlich eine »soziale Natur« als zweite Natur verinnerlichen. Auf der ideologischen Oberfläche wird »Menschen«6 von ihrer ersten Natur her eine Veranlagung zu Güte und Wohlwollen zugeschrieben, und deshalb kann man diesen Menschen mehr Freiheiten lassen – weil sie »gute Menschen« sind. Unter dieser »sentimentalistischen« Oberfläche vollzieht sich aber der tatsächliche regierungstechnologische Diskurs, wie man den Einzelnen ihre »soziale Tugendhaftigkeit« anerziehen kann. Erst dieser regierungstechnologische Unterbau macht verständlich, dass als Kernphänomen der »sozialen Natur« schließlich nicht die natürliche Güte des Menschen erscheint, sondern dessen Bedürfnis nach sozialer Anerkennung. Während der sentimentalistische Enthusiasmus für die »soziale Natur« auf ideologischer Ebene so weit geht, dem überkommenen aristotelischen Mitleidsverständnis, nach dem Mitleid einer auf den Anderen projizierten Furcht vor dem Erleiden eines ähnlichen Leids bedarf, wegen dieser egoistischen Herleitung »selfishness« zu unterstellen, geht es dem frühen Liberalismus auf der hintergründigen Ebene seiner Regierungstechnik um genau diese Verbindung: um die soziale Rückkoppelung des individuellen Selbstwertempfindens an die Ansehung seiner selbst aus der Sichtweise Anderer, die sich damit als Grundachse der Internalisierung bürgerlicher Sittlichkeit offenbart (1). In einem zweiten Schritt möchte ich diese mit und durch »das Soziale« regierende Freiheitsidee in den zeitgenössischen Diskurs um »positive« und »negative« Freiheitsideen einordnen. Während sich die liberale Entwicklungslinie selbst immer mehr auf eine »negative« Freiheitsvorstellung als bloße »Freiheit von Zwang« beschränkt, hat sich im angloamerikanischen Diskurs seit den 1980er Jahren eine neorepublikanische Kritik an diesem immer stärker reduzierten Freiheitsverständnis entwickelt. Vor deren Hintergrund erscheinen einige Elemente der Auffassung der »sozialen Natur« im frühen Liberalismus als »republikanische« Elemente, allen voran die Kritik am »sklavischen Charakter«, der durch das Leben in personalen Abhängigkeitsverhältnissen entsteht, in denen despotische Willkür herrscht. Im 18. Jahrhundert richtet sich diese Kritik gegen Thomas Hobbes’ Staatsidee. TatDiese Untersuchung handelt von der Genealogie einer bestimmten Vorstellung »menschlicher« Natur. Dadurch ist nicht ausgesagt, dass der damit verbundene Begriff vom Menschen unproblematisch ist, sondern wird im Gegenteil der Konstruktionscharakter der Vorstellung »menschlicher« Natur betont. Zugleich geht es aber darum, deutlich zu machen, dass jede Vorstellung gemeinsamer »Natur«, die »Menschen« entwickeln, gedanklicher Synthesis bedarf. Dies bedeutet im Rückschluss nicht, dass alle diese Vorstellungen sinnlos sind. Im Gegenteil geht es mir im Folgenden darum zu zeigen, dass die Reflexion auf die »menschliche Natur« notwendig ist, um die »menschliche« Gesellschaftsgeschichte zu verstehen. 6
Der Begriff der sozialen Natur im frühen Liberalismus
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sächlich erscheint Hobbes vor dem Hintergrund des gegenwärtigen Neorepublikanismus von Phillip Pettit und Quentin Skinner als erster radikaler Vertreter einer rein »negativen« Freiheitsvorstellung.7 Durch diese einleitende zeitdiagnostische Verortung der Vorstellung der »sozialen Natur« des frühen Liberalismus im gegenwärtigen Diskurs wird das kritische Potential sichtbar, das die frühliberalen Modelle der Regulation sozialer Interaktionsformen für die Gegenwart entfalten können. Gesteht man den Vertretern einer »negativen« Freiheitsidee aber zu, dass deren Skepsis gegenüber einer zu starken inhaltlichen Bestimmung freiheitlicher Lebensweisen eine partielle Legitimität hat, ergibt sich dennoch zugleich ein Kritikmaßstab der »sozialen« Regierung von Freiheit im frühen Liberalismus. Präzise gefasst zeigt sich ein bestimmtes autoritäres Potential der gesellschaftlichen Vermittlung sozialer Interaktionsformen, das realisiert wird, wenn die Internalisierung »moralischer Gefühle« – wie im Modell des inneren »unparteiischen Zuschauers« von Adam Smith allerdings der Fall – auf eine völlige psychosoziale Vereinnahmung des Selbstverhältnisses hinausläuft (2). Nachdem auf diese Weise eine ideengeschichtliche Brücke zwischen neoliberaler Gegenwart und frühliberaler Vergangenheit geschlagen und der frühliberale Diskurs um die »soziale Natur« im Spannungsfeld »positiver und »negativer« Freiheit verortet ist, geht es im dritten Teil der Einleitung dennoch darum, die politische Bedeutung der Entwicklung dieses Diskurses in seiner Zeit zu betrachten, d. h. die stark demokratisierende Wirkung, die besonders von der Idee des »moralischen Sinns« – gegen die elitäre Intention ihres Verkünders Shaftesbury – ausgeht. Der »moralische Sinn« ermächtigt das Individuum zum bürgerlichen Leben in Freiheit und Gleichheit. Hobbes hatte die natürliche Freiheit und Gleichheit des Menschen eher bedauernd als »Naturzustand« diagnostiziert, der unausweichlich in einen »Krieg aller gegen alle« führe, solange man diese Freiheit des Individuums nicht durch den Staatsaufbau entscheidend einschränke. Der »moralische Sinn« stellt die bestimmte Negation dieses »Kriegs aller gegen alle« dar, insofern er die freiheitlichbürgerliche Handlungsfähigkeit des Individuums meint (3). Leider zwingt der Realismus meiner analytischen Untersuchungsmethode mich dann im vierten und letzten Teil dieser kurzen Einleitung dazu, den anfänglichen Enthusiasmus für den »moralischen Sinn« empirischer Ernüchterung weichen zu lassen. Wer einen moralischen Sinn entwickelt, lernt vor allem, sich in Andere einzufühlen. Dies kann zu dem Schluss verleiten, dass die Anerziehung von Einfühlung umgekehrt hinreichend ist, um einen moralischen Sinn zu entwickeln. Leider zeigt die eingehende Analyse des Einfühlungsvorgangs im Traktat über die menschliche Natur von David Hume schon bald, dass man sich aus vielen Gründen in Andere einfühlen kann: dass hinter dem Zeigen von Einfühlsamkeit sich zuweilen ganz andere Handlungsabsichten verbergen. Es zeigt sich schnell, dass unter der sentimentalen Oberfläche der »Krieg aller gegen alle« fortwährt. Die Frage, die bleibt, ist daher: warum? Ist die menschliche Natur nicht gütig, wie der 3rd Earl of 7
Vgl. Skinner 2008.
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Einleitung
Shaftesbury meint, sondern doch gemein, wie Hobbes behauptet? Im Geist der Rekonstruktion früher Sozialwissenschaft deutet sich eine alternative Möglichkeit an: Menschen sind vielleicht nicht prinzipiell schlecht, aber die Verhältnisse um sie herum haben sich in ihrer kapitalistischen Form von der Bestimmung durch einzelne Individuen abgelöst und verselbständigt. Die Hypothese einer umgekehrten Emanzipation der Moderne: nicht des Menschen, sondern seiner Verhältnisse, kann zumindest erklären, warum der »Krieg aller gegen alle« den »moralischen Sinn« überlebt (4).
Unterschiedliche Auffassungen der sozialen Natur Worum geht es bei der Idee der sozialen Natur? Die Frage nach der sozialen Natur des Menschen ist so alt wie die Philosophie selbst. Für Aristoteles entwickelt sich die Hinwendung zum Anderen aus der Furcht: Nur weil ich ein ähnliches Schicksal für mich selbst fürchte, kann ich Mitleid mit Anderen empfinden. Die Gleichheit, welche die Menschen aneinander wahrnehmen, lässt sie solidarische Gefühle mit anderen Menschen empfinden. Die Auffassung des Aristoteles schlägt eine bemerkenswerte Brücke zwischen der Sorge um sich selbst und der Sorge um Andere: Weil man sich zunächst um sich selbst sorgt, d. h. Angst hat, es könnte einem etwas Schlimmes zustoßen, beginnt man erst damit, mit Anderen, denen etwas Schlimmes geschehen ist, Mitleid zu fühlen. Um Mitgefühl kultivieren zu können, muss man lernen, existentielle Ängste, die man von sich selbst kennt, auch Anderen zuzugestehen. Diese projektive Übertragung der eigenen Innerlichkeit auf Andere ist vielleicht überhaupt notwendig dafür, die Vorstellung einer gemeinsamen »menschlichen Natur« entwickeln zu können. Sozialpsychologisch betrachtet ist die Vorstellung, dass Menschen eine gemeinsame »Natur« teilen, nicht voraussetzungslos und bedarf vorhergehender gedanklicher Anstrengung und Reflexion. Mit der Aussage, dass Menschen eine »soziale Natur« haben, können sehr unterschiedliche bis sogar entgegengesetzte Auffassungen verknüpft sein. Dies kann man besonders gut deutlich machen am widersprüchlichen Verhältnis der Philosophie des moralischen Sinns zum Mitleidsverständnis von Aristoteles. Shaftesbury spitzt die Vorstellung einer »social nature« so radikal zu, dass Aristoteles trotz der psychosozialen Genese von Mitleid, die er beschreibt, als Gegner der Auffassung, dass Menschen eine »soziale Natur« haben, erscheint und als Anhänger der damals so genannten »selfish hypothesis«. Indem Shaftesbury behauptet, dass Menschen angeborene Gefühle der Zuneigung für Andere haben, und es in einer »civil society« darum geht, genau diese genuinen »social affections« zu kultivieren, wird jede Herleitung des Mitgefühls aus der Selbstliebe umgekehrt zur Beschreibung eines schlechten Charaktertyps, der »selfish« ist, stilisiert. Das Mitleidsverständnis des Aristoteles erscheint im Spiegel dieser radikalen Auffassung natürlicher menschlicher Güte, welche die sogenannten »Sentimentalisten« [sentimentalists] auszeichnet, als Gegenposition, nur weil die Sorge um Andere bei ihm ursprünglich aus
Der Begriff der sozialen Natur im frühen Liberalismus
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der Sorge um sich selbst hervorgegangen ist. Im Blick des harten Kerns der »Sentimentalisten« verneint er damit die Idee einer sozialen Natur des Menschen, obwohl Aristoteles sogar vom zoon politicon spricht – vom Menschen als Wesen, das erst im politischen Zusammenleben zu sich selbst kommt. Wie in vielen anderen philosophischen Fragen auch findet sich eine interessante Zwischenposition zur »sozialen Natur« bei John Locke. Die bis heute nicht endenden Auseinandersetzungen um die korrekte Auslegung von Lockes politischer Philosophie zeigen, dass sie doch schwieriger zu verorten ist, als eine strikt linke Interpretation, wie die von Crawford B. MacPherson, oder eine strikt rechte Interpretation, wie die von Leo Strauss, es der historischen Eindeutigkeit halber wollen. Aus marxistischer Perspektive erscheint Locke als Haus- und Hofphilosoph der Großgrundbesitzer und ersten Agrarkapitalisten, wie Shaftesbury selbst einer ist. Locke liefert der Whig-Fraktion, die das englische Königtum 1688 in der »glorreichen«, weil blutlosen »Revolution« des Großteils seiner politischen Macht entledigt, stets die Stichworte, die deren polit-ökonomische Vorstellungen im Diskurs nach vorne bringen. Die Glorious Revolution ist ein Staatsputsch des bis dahin nicht mit legislativen Befugnissen ausgestatteten Parlaments, in dem mit dem großen und mittleren Grundbesitz und dem städtischen Kaufmannskapital die versammelte ökonomische Macht des Landes sitzt. Die Vorgeschichte dieser verfassungsrechtlichen Kompromisslösung, die der Baron von Montesquieu 1748 spöttisch kommentiert als »Republik, die sich unter dem Deckmantel der Monarchie versteckt«, stellt der englische Bürgerkrieg 1642 – 49 und die daran anschließende Regierungszeit Oliver Cromwells bis 1660 dar, der häufig nicht im Kapitalinteresse regiert. Die Levellers, die Cromwell als Soldaten zur Macht verhelfen, prägen die Metapher der »Freiheit« als »Besitz an sich selbst« und meinen damit das Recht zur demokratischen Partizipation an der Verfassung. Dieser Metapher zieht Locke den das Zensuswahlrecht gefährdenden Stachel, wenn er sie umdefiniert zur »Freiheit« als ökonomischen und nicht politischen »Besitz an sich selbst« – d. h. als Recht, »frei« auf dem Markt zu agieren, jedoch nicht als Recht, politisch an der Regierung zu partizipieren, als die sie ursprünglich gemeint ist.8 Dennoch hat Phillip Pettit recht damit, dass Locke ein entscheidendes Element der republikanischen Kritik an der entstehenden sozioökonomischen Ordnung, die Smith »commercial society« nennt, in seine eigene Sozialkritik integriert, nämlich die Kritik an »slavishness«. Autoritäre Systeme produzieren »sklavische« Charaktere, weil sie Subjekte hervorbringen, die ihr Leben lang von der persönlichen Willkür Anderer abhängig bleiben. Dies ist der Ausbildung subjektiver Vernunft, wie Locke in seinem Erziehungsbuch feststellt, so nachteilig, dass kein Mitglied der Gesellschaft, wenn deren Ordnung stabil sein soll, solcher Willkür ausgeliefert sein sollte. Die neue Abhängigkeit aller von den gesetzlich festgelegten politischen und ökonomischen Verhältnissen kann aber nur dann funktionieren, wenn die autoritäre Unterwerfung alten Stils durch etwas Neues ersetzt wird, d. h. eine alternative 8
Vgl. MacPherson 1962, Meiksins Wood/Wood 1997.
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Verbindung zwischen Individuum und Gesellschaft entsteht, die das subjektive Verhalten weiterhin durch die Gesellschaft beeinflussbar sein lässt. Dies ist das neue Verhaltensregime sozialer Anerkennung. Auch wenn dieses soziale Tugendregime für Locke selbst »künstlich« ist, insofern es »gesellschaftlich« ist, kann es doch an eine bestimmte Disposition – eine »sensibility« im »human sensorium« – anschließen und sich diese zunutze machen: »Unter zehntausend ist nicht einer so unbeugsam und so unempfindlich, als dass er die fortgesetzte Missbilligung und Geringschätzung von seiten seiner eigenen Gesellschaft ertragen könnte.«9
Soziale Natur zwischen negativer und positiver Freiheit Ist das freiheitlich-bürgerliche Regime einmal intakt, wacht die Öffentlichkeit als »allgemeiner Zuschauer« über die Sitten.10 Hier ist nicht der Ort, den Verfallsprozess bürgerlicher Öffentlichkeit nachzuzeichnen, sondern wir müssen uns mit der Feststellung begnügen, dass die bürgerliche Freiheitsidee immer »privater« wird.11 Der Liberalismus des 19. Jahrhunderts wird von der Idee der »bürgerlichen Freiheit« vor allem deren »negative« Basis zurückbehalten: dass man »frei« ist, wenn einen niemand daran hindert, das zu tun, was man will. »Frei« sein bedeutet dann nur, dass keine äußere Gewalt einen am subjektiven Handeln hindert. Isaiah Berlin nennt diese Freiheit »negativ« oder »Freiheit von«, und Phillip Pettit und Quentin Skinner bezeichnen diese Freiheitsidee als »Nicht-Einmischung« [non-interference].12 Hobbes löst im 17. Jahrhundert mit der Behauptung, dass es überhaupt keine andere Freiheit als diese Freiheit »von äußeren Ketten« gäbe, einen Skandal aus. Auch jemand, der sich im Konflikt mit einem übermächtigen Gegner »freiwillig« unterwirft, handelt nach Hobbes »frei«, weil er einsieht, dass Widerstand zwecklos ist, und sich in Konfrontation mit der realen Übermacht für seine »freiwillige« Unterwerfung entscheidet.13 Die Kritik am »sklavischen Charakter« zielt auf die Widerlegung genau dieses Freiheitsverständnisses. Skinner bezeichnet sie als »neoromanisch«, weil sich der englische Republikanismus des 17. und 18. Jahrhunderts hier Denkfiguren bedient, die aus der römischen Republik herrühren.14 Trotz des deutlich gehaltvolleren Zugs dieser »anti-sklavischen« Freiheitsidee (d. h. gehaltvoller, als es eine Vorstellung von Freiheit als einer bloßen Nicht-Einmischung in das, was man will, ist) kann man diese Bestimmung von Freiheit – weil sie gegen die Vorstellung eines Lebens in persönlicher Abhängigkeit gerichtet ist – nach wie vor als »negativ« bezeichnen. Als den Kern dieser anti-sklavischen, repu-
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Versuch 2.28.12, S. 448. Vgl. Moebus 1989. Vgl. Habermas 1990 (1968). Vgl. Berlin 1969, Pettit 1997, Skinner 1998. Vgl. Skinner 2008. Ebd.
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blikanischen Freiheitsidee versteht Pettit das Verlangen nach der Unabhängigkeit von persönlicher Willkür, d. h. den Wunsch nach »non-domination«.15 Die Vorstellung »sozialer Tugenden« aber, die »freie« Individuen kultivieren müssen, damit eine »civil society« möglich wird, die alle der im Folgenden schwerpunktmäßig diskutierten Autoren teilen, geht auch darüber hinaus. Man kann sie nur als »positive« Freiheitsvorstellung verstehen.16 »Freiheit« kann es nur geben, wenn es ein soziales Regelwerk von Verhalten gibt, das in mehr zum Ausdruck kommt als einer bloßen »Freiheit von Zwang«. Im Gegenteil geht es genau darum, das freie Individuum unsichtbar zu »zwingen«, indem man sein Verhalten in bestimmte Bahnen lenkt. Der frühe Liberalismus lässt sich dennoch ideengeschichtlich schon als Liberalismus bezeichnen, weil er die soziale Funktionsweise einer freiheitlich-bürgerlichen Gesellschaftsordnung analysiert. Aber – und dies unterscheidet ihn von den meisten seiner späteren Varianten – dafür entwirft er eine komplexe Sozialpsychologie17 zwischenmenschlichen Verhaltens und nennt sie »soziale Natur«. Der Einwand Isaiah Berlins gegen »positive« Freiheitsvorstellungen ist, dass sie mit einer Theorie des »wahren Selbst« operieren, d. h. sie projizieren auf das Individuum bestimmte Erwartungen an sein soziales Verhalten, die im Zuge dieser Projektion als authentische Wünsche seiner ersten Natur ausgegeben werden. Auf der Grundlage dieser projektiven Identifikation kann ein Individuum dann pathologisiert werden, das sich nicht auf die entsprechende Art und Weise verhält. Jede positive Freiheitsvorstellung hat für Berlin diesen proto-totalitären Makel, weil sie als Freiheit zur Auslebung eines bestimmten Bedürfnisses – »Freiheit zu« – einer Person der Tendenz nach schon deren wahre Bedürfnisse vorschreibt. Öffentliche Schulbildung etwa vollzieht sich in bestimmten Erziehungsanstalten, die bestimmte Bildungsideale verkörpern. Louis Althusser beschreibt diesen Konflikt als das Problem gesellschaftlicher Subjektwerdung oder »subjectivation«: Genau darin, wie man sich bestimmte, zum Leben in der Gesellschaft notwendige Fertigkeiten und Fähigkeiten aneignet, liegt schon eine bestimmte Form von Unterwerfung unter das Macht- und WissensreVgl. Pettit 1997. Im Vorfeld des englischen Bürgerkriegs in den Jahren 1620 – 1640 wird für diese Form der Willkürherrschaft der Begriff »arbitrary government« geprägt. 16 Vgl. Pocock 1985. 17 Diese Verwendung des Begriffs »Sozialpsychologie« muss – wie die Verwendung des Begriffs »früher Liberalismus« für Locke u. a. – den Vorwurf des Anachronismus entkräften können. Als Disziplinenbegriff gibt es den Begriff »Sozialpsychologie« seit dem frühen 20. Jahrhundert, so wie der Begriff »Liberalismus« sich erst im 19. Jahrhundert für »freiheitliche« Regierungsformen etabliert. Ich benutze im Folgenden die Zuschreibung »sozialpsychologisch« in dem Sinn, in dem der US-Pragmatismus von »social psychology« spricht, d. h. im Sinn des Gewahrwerdens der Abhängigkeit subjektiver Entscheidungen von gesellschaftlich vermittelten Wertzuschreibungen, die einhergeht mit der sozialen Indienststellung dieses Wissens für ein demokratisch-freiheitliches Regieren. Die weitgehend theoretisch gebliebene Bedeutung des Begriffs »Sozialpsychologie« in der deutschen Tradition hat mit der verspäteten demokratischen Entwicklung im deutschsprachigen Raum zu tun und sollte daher überdacht werden. Den Begriff »Liberalismus« verwende ich in der oben genannten Bedeutung. 15
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gime der Gesellschaft, in der man lebt. Die Frage ist nur, was die libertäre Alternative zu dieser gesellschaftlichen Subjektformung sein soll. Die neoliberale Tendenz geht dahin, die gesellschaftliche Formung des Einzelnen zu einem »sozialen« Wesen – zusammen mit der Existenz der »Gesellschaft« als Zielscheibe des Regierungshandelns – zu ignorieren. Der strikte Reduktionismus auf negative Freiheit – »Freiheit von Zwang« – beruht auf der Annahme, dass jede Form der Bildung eines Gesellschaftskörpers, die über die bloß formale Verfassungsebene hinausgeht, schon einen totalitären Keim in sich trägt, insofern sie das Einzelwesen immer in einer bestimmten Gestalt von Individualität vergesellschaftet. Dann aber muss das sozialwissenschaftlich auf Subjektemanzipation zielende Denken der Aufklärung des 18. Jahrhunderts noch nicht mal einer Dialektik verfallen, um das Gegenteil einer »freien Gesellschaft« hervorzubringen. Eine ähnliche Position vertritt Ende des 18. Jahrhunderts schon Edmund Burke. Burke kritisiert die Emanzipationsvorstellung der Aufklärungsphilosophie dafür, einen vollkommen vermessenen Anspruch zu erheben, nämlich, dass die menschliche Gesellschaft auf einer lediglich rationalen Grundlage organisiert werden kann. Diese Idee einer grundlegenden rationalen Umorganisation menschlichen Lebens steht für Burke im Gegensatz zur menschlichen Natur, die sich in jahrhundertealten »naturwüchsigen« Traditionen, wenn überhaupt, nur sehr langsam verändert.18 Was Burkes modernen Konservatismus aber von der zuvor skizzierten neoliberalen Kritik an der gesellschaftlichen Institutionalisierung eines Tugendregimes sozialer Anerkennung grundlegend unterscheidet, ist, dass er vollkommen selbstverständlich davon ausgeht, dass es in einer »freien« Gesellschaftsordnung einen geteilten Wertekonsens geben muss. Vielmehr stellt dies sogar einen der Kernpunkte seiner Kritik am Rationalismus der Aufklärungsphilosophie dar, dem er – wie Burkes geistiger Schüler im 20. Jahrhundert Leo Strauss – genau diese Herstellung eines solchen »gesellschaftlich Gemeinsamen« nicht zutraut. Neokonservatismus und Neoliberalismus scheiden sich an dieser Frage eines »common good«: Für kompromisslose Vertreter der negativen Freiheitsidee, wie die durch ihre rhetorisch brillanten Reden im englischen Unterhaus ideologisch einflussreich gewesene ehemalige britische Regierungschefin Margaret Thatcher, bezeichnet das Wort »Gesellschaft« deshalb schon eine »unfreie« Vermittlungsstruktur, weil die »Gesellschaft« dem Individuum die bestimmte Form seines Handelns in ihr vorzeichnet. Das alte Leitbild der »bürgerlichen Gesellschaft« sieht sich von einer strikt negativen Freiheitsvorstellung schon deshalb in Frage gestellt, weil sie sich überhaupt auf einen »common sense« verständigen will. Was dadurch aus dem Blick gerät, ist die Frage, um die sich im frühen Liberalismus alles dreht: wie sich dieser Gemeinsinn auf »freiheitliche« Art und Weise hervorbringen lässt. Dass er sich gar nicht herstellen soll, stellt hier keine Alternative dar. Die Verinnerlichung des »moralischen Sinns« als bestimmte Gestalt des freiheitlich-bürgerlichen Gemeinsinns macht nicht nur die Notwendigkeit zur autori18
Vgl. Burke 2014 (1790).
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tären Unterwerfung alten Stils überflüssig, indem sie eine neue Form sozialer Stabilität schafft. Der »moralische Sinn« ist ein »freiheitliches« Regierungskonzept deshalb, weil er auf die Regulation der Interaktionsformen selbst zielt. Mit Wolfgang Fachs Worten bedeutet Regieren durch Gemeinsinn, mit der Freiheit zu regieren und nicht gegen sie.19 Die neorepublikanische Kritik an der immer weiteren Entleerung des Freiheitsbegriffs lässt sich dahingehend zuspitzen, dass ohne gemeinsamen »Geist« gar keine soziale Handlungskoordination möglich ist. Und soll dieser »Geist« mehr sein als bloßer Funktionalismus, stellt sich die Frage, wie dieses Gemeinsame interaktiv entsteht.
Der moralische Sinn als freiheitliche Ermächtigung des Individuums Die Philosophie des »moralischen Sinns« in ihrer radikal naturalistischen Form behauptet, dass eine Form des »sozialen« Gemeinsinns immer schon dort im Keim gegeben ist, wo sich »freie« Individuen begegnen. Der »moralische Sinn« wird verstanden als eine »spontane Ordnung«: Dafür, dass er sich sozial implementiert, bedarf es lediglich der formal-rechtlichen Verfassung bürgerlicher Freiheit. Anachronistisch betrachtet verkennt diese zu einfache Fassung des »moralischen Sinns« das Diktum Bockenfördes, nach dem die Bedingungen der demokratischen Verfasstheit der Gesellschaft sich nicht schon durch die Rechtsgültigkeit einer demokratischen Verfassung von alleine reproduzieren.20 Schief an diesem Anachronismus – abgesehen davon, einer zu sein – ist allerdings, dass man von einer demokratischen Verfassung damals selbst auf der britischen Insel noch weit entfernt ist. Was Shaftesbury an den begeisterten Reaktionen auf seine Philosophie des moralischen Sinns aber gehörig ärgert, ist, dass seine Anhänger die Sache mit dem Gemeinsinn etwas zu »gemein« nehmen: Der 3rd Earl hatte doch lediglich seinesgleichen gemeint.21 In Deutschland sprechen die Anhänger Shaftesburys gar begeistert vom »Gleichgefühl«.22 Die Idee eines »moralischen Sinns« erster Natur entfaltet einen naturalistischen Gehalt, der in seinem demokratischen Universalismus über die damalige politische Realität hinauswächst. Die Annahme eines moralischen Sinns fungiert wie eine Initialzündung für frühe Ordnungsmodelle von »civil society« und stellt Hobbes’ Staatsgläubigkeit in Frage: Wenn das freie Individuum ein Sozialempfinden schon mitbringt, das es zwischen Recht und Unrecht unterscheiden lassen kann, wofür braucht es dann überhaupt eine staatliche Autorität, die es darin bevormundet? In ideologiegeschichtlicher Hinsicht ist die Naturalisierung der bürgerlichen Moral zu einem
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Vgl. Fach 2003. Vgl. Bockenförde 2011. Vgl. Barker-Benfield 1992, S. 108. Vgl. Sauder 1974, S. 184.
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Sinn vielleicht notwendig gewesen, um dem freiheitlich-bürgerlichen Menschenbild zum gesellschaftlichen Durchbruch zu verhelfen.23 Hinter dem ideengeschichtlichen Streit, ob den Menschen »erste Prinzipien« ihres Denkens und Handelns von der Natur mitgegeben sind oder ob sie am Anfang »leer« sind, d. h. ihr Geist ein »weißes Blatt Papier« ist, auf das sich die Eindrücke erst einschreiben, wie Locke sagt, verbirgt sich eigentlich eine – wenn nicht die – genuin sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung, wie man den Menschen zu einem vernünftigen Zusammenleben erziehen kann. Die Antwort von Hobbes darauf blieb letztlich autoritär: Der Staat als das Seemonster »Leviathan« muss so furchterregend sein, dass die in ihm lebenden Menschen so viel Angst vor ihm haben, dass sie nicht auf dumme Gedanken kommen. Aber schon in diesem Bild des »Leviathan« liegt etwas »Freiheitliches«, weil der Leviathan ein Seeungeheuer ist, das nur auftauchen muss, wenn auf der – ansonsten ruhigen – Wasseroberfläche Unruhe herrscht. Auch Hobbes’ Staat ist bereits weitgehend unsichtbar. Ein republikanisches Element in der Idee der sozialen Natur im frühen Liberalismus liegt darin, dass die Anhänger dieser Idee glauben, dass Furcht als Handlungsmotiv »sklavische« Menschen erzeugt. Um dieser Auffassung anzuhängen, muss man nicht zwingend von einem moralischen Sinn erster Natur ausgehen, sondern man muss nur gegen Hobbes und alle autoritären Staatstheoretiker einwenden, dass der sozial kompetente Bürger nicht der ängstliche Bürger ist. Auch Hobbes hält den Menschen für frei und meint damit die freie Verfügungsgewalt über die politische Form seines Zusammenlebens. Die Widersprüchlichkeit von Hobbes’ Position zur menschlichen Freiheit lässt sich so ausdrücken: Zwar gibt es keine fest vorgegebene Form menschlichen Zusammenlebens, aber da diese politische Freiheit gefährlich ist, führt sie im besten Fall dazu, dass der Einzelne sein demokratisches Mitspracherecht an einen absoluten Souverän abtritt. Hobbes drückt dies aus, indem er den Menschen nicht als »soziales«, sondern als »politisches Tier« bezeichnet.24 In dieser Unterscheidung kommt zum Ausdruck, dass die Form menschlichen Zusammenlebens genau nicht durch die Natur vorgegeben ist, sondern Menschen über diese Form erst übereinkommen müssen. Die Ameise ist nach Hobbes’ Definition dagegen ein soziales Tier, weil ihr die Form ihres Zusammenlebens im Ameisenstamm schon mitgegeben ist. Niemand sah bis jetzt Ameisen auf ihrem Hügel sitzen und über ihre Stammesordnung beraten. Die Geschichte der Demokratie beginnt aber so: auf einem Hügel bei Athen, auf dem sich die männlichen Bürger der Stadt treffen, um über die politische Ordnung der Auffällig ist jedenfalls, dass das neuzeitliche Naturrecht zuvor große Probleme bei der Begründung der Natürlichkeit der bürgerlichen Rechtsnormen hat. Hobbes kann sie lediglich als logische Schlüsse aus der Vernunft herleiten, und Pufendorf und Locke bemühen sich krampfhaft darum, eine überzeugendere Begründung zu liefern. Locke verlegt die Existenz der Familie in den Naturzustand und spricht der menschlichen Natur damit beide Seiten zu: eine fürsorgend-soziale Seite (nach innen) und eine kämpferisch-destruktive Seite (nach außen). Auch für Pufendorf gibt es eine natürliche Disposition zur Geselligkeit; vgl. zu Pufendorf Hont 2010 u. Haara 2016. 24 DC 5.5. 23
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Stadt zu beraten. Dass Menschen für ihn politische und keine sozialen Tiere sind, begeistert Hobbes keineswegs, denn im Gegensatz zur vorprogrammierten Ameise kann menschliches Zusammenleben deshalb als gesellschaftliches Zusammenleben scheitern. Die Stimme [tongue] jedes einzelnen Individuums sieht Hobbes als potentielle »Trompete des Aufruhrs« [trumpet of sedition], und eine gute politische Ordnung zeichnet sich dadurch aus, dass sie diese Individuen so weit voneinander isoliert, dass sie bloß nicht auf die Idee kommen, sich gegen die Obrigkeit zu diesem »Aufruhr« zusammenzuschließen.25 Das Paradox seiner politischen Theorie besteht also darin, dass er die radikale politische Freiheit, die er den Menschen von Natur aus zuspricht, ihnen zu ihrem eigenen Schutz sofort wieder wegnimmt. Die zentrale Einsicht, die alle Menschen nachzuvollziehen haben, ist, dass sie ihre eigene politische Gewalt um des »Friedens« willen lieber an einen absoluten Souverän übertragen sollen. Es ist dennoch zu einfach, zu behaupten, dass Hobbes den Menschen für nicht fähig zur Freiheit hält. Man muss dann präzisieren, was mit »Freiheit« – einem der widersprüchlichsten und mehrdeutigsten Begriffe der politischen Philosophie – genau gemeint ist. Denn ist der gesellschaftliche »Frieden« bei Hobbes einmal installiert, läuft in seiner Gesellschaftsvorstellung vieles wie von alleine, d. h. ohne weiteren Eingriff der Staatsmacht. Den größten Teil seines Kapitels zur »bürgerlichen Freiheit« in De Cive widmet Hobbes der Frage, welche die naturrechtlich begründbaren sozialen Umgangsformen sind und wie sie sich gesellschaftlich entfalten lassen.26 Heißt das aber, dass der Konflikt zwischen Hobbes und den frühen Liberalen, die sich so sehr an ihm abarbeiten, lediglich einer der Worte bzw. ein schlecht ideologischer ist? Streitet man sich hier nur darum, ob man dem Menschen von Natur aus Sozialkompetenz zutraut oder doch erst nach der staatlichen Konstitution politischer Souveränität? Die entscheidende Differenz zwischen Hobbes und der Philosophie des moralischen Sinns, die auf ihn antwortet, liegt in der Frage, ob man den Menschen für »freiheitlich« regierbar hält. D. h. will man dem Individuum als Akteur gesellschaftliche Handlungsmacht zusprechen oder nicht?
Gesellschaftsstruktur und moralischer Sinn Wie soll man Mitleid für jemanden aufbringen, mit dem man um knappe Güter konkurriert? Gegen zwielichtige egoistische Motive, die sich hinter einfühlsamen Charaktermasken verbergen, hilft nur, ins Innere des Subjekts vorzudringen: in sein Selbstverhältnis. Freiheitliche soziale Kontrolle bedarf der Verinnerlichung – so lässt sich Adam Smiths Antwort auf das zuvor von seinem Freund David Hume diagnostizierte Dilemma beschreiben, dass Einfühlung in Schadenfreude umschlagen kann. Die Internalisierung gesellschaftlicher Werte zielt immer darauf, wie 25 26
Ebd. DC 3.8 – 26.
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man sich selbst sieht. Dies ist das von Adam Smith durchschaute paradoxe Verhältnis von erster und zweiter Natur: Indem sich die Gesellschaft ins Individuum einprägt, erscheinen deren Anschauungsweisen notwendig als unmittelbar gegeben, aber reproduzieren sich dennoch keineswegs von alleine. Adam Smiths intersubjektivistische Genese von Selbstreflexion in seiner Theorie der ethischen Gefühle verfällt Isaiah Berlins Kritik an »positiver Freiheit«, denn sie stellt eine gesellschaftlich vermittelte Projektion eines »wahren Selbst« auf das einzelne Individuum dar.27 Das Problem ist nur, dass jede Gesellschaftsformation, die sich in der Selbstreflexionsweise von Individuen niederschlägt, dann schon ein totalitäres Potential in sich trägt. Das soll nicht heißen, dass dieses Problem damit als nicht auflösbares Paradox abgetan wäre, sondern im Gegenteil den Blick darauf lenken, auf welche Arten und Weisen der frühe Liberalismus subjektive Anschauungsweisen sozial reguliert. Wie schon beim von Shaftesbury ungewollt herbeigerufenen »Gleichgefühl« wird man den Eindruck nicht los, dass sich mit der »Freiheit« gesellschaftsgeschichtlich etwas Bahn bricht, das die Köpfe derjenigen, durch die es hindurch geistert, übersteigt. Die sittliche Vorschrift der Einfühlung nützt wenig, stellt Hume fest, wenn das Motiv dieser Einfühlung »schlecht« ist und man das gewonnene Wissen über das Innenleben eines Anderen zu dessen Schaden verwenden will.28 Dass die neugewonnene Augenhöhe des bürgerlichen Individuums mit Anderen damit einhergeht, dass es in »freie« Konkurrenz zu diesen Anderen tritt, konterkariert die soziale Botschaft, die der Sentimentalismus an den Mann bringen will. Besonders an den Mann, weil – da ist man sich in der Sache einig, allerdings nicht in deren Bewertung – Frauen ohnehin empathischer veranlagt sind als Männer: Früher galt es als Zeichen weiblicher Schwäche, jetzt wollen Männer plötzlich auch einfühlsam sein. Man muss mit einem Schritt Abstand auf die Sache schauen und sich klar machen, was hier sozialgeschichtlich passiert: Früher war ein selbstbestimmtes Leben Privileg der Herrschaft. Jetzt wollen auf einmal alle »frei« sein. Der Adel lässt sich schon lange von sozialer Anerkennung leiten: Ehre zählt hier einfach alles, und Anderen schmeicheln zu können ist am königlichen Hof sicher nicht unmännlich. Im französischen Moralismus der »honnêteté« des 16. und 17. Jahrhunderts – der aristokratischen Handlungskunst, zugleich freigeistig und machtvoll zu agieren – geht es um die Kunst subjektiver Verstellung, durch die man seine Interessen zu verbergen und zugleich durchzusetzen, soziale Macht auszuüben und zugleich zu gefallen weiß.29 Sie steht im genauen Gegensatz zur republikanischen Forderung nach innerer Redlichkeit.30 Die Idee des »moralischen Sinns« vermittelt zwischen diesen beiden Extremen. Geht es aber im älteren französischen Moralismus darum, jede gütige Handlung skeptisch zu hinterfragen, und das egoistische Motiv in ihr 27 28 29 30
Vgl. Berlin 1969. Vgl. Breithaupt 2009, ders. 2016. Vgl. Keohane 1980. Vgl. Wollstonecraft 1995, S. 12, 101, 180.
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zu demaskieren, fragt die Philosophie des moralischen Sinns umgekehrt, wie wechselseitiges Vertrauen entsteht, damit die soziale Interaktion freier Individuen auf sittliche Art und Weise verläuft. Bei dem einen handelt es sich um moralistischen Skeptizismus und beim anderen um moralistischen Konstruktivismus.31 In der Philosophie des moralischen Sinns lebt der ältere französische Moralismus dennoch fort in der Frage, wie wichtig die Internalisierung einer Auffassung im Verhältnis zu ihrer habituellen Vortäuschung ist. Lockes pädagogisches Argument ist, dass subjektive Vortäuschung ausreicht, um »civility« herzustellen, wenn sie vom Gegenüber als solche nicht durchschaut wird. Auch dieses Argument trägt schon interaktionistische Züge, was daran liegt, dass es hier um Erziehung geht: Durch die soziale In-Szene-Setzung höflicher Umgangsweisen unter Kindern entwickeln diese, so Locke, schließlich wirklich Zuneigung für einander. Was aber tun, wenn Erwachsene bewusst und ohne Hoffnung auf Besserung Wohlwollen vortäuschen, während sie anderes im Sinn führen?
Im 19. Jahrhundert war der Begriff »british moralism« für die hier verhandelten Autoren geläufig. Dieser Begriff ist heute unüblich und wird daher aus Gründen der Klarheit vermieden. Als »british moralism« bezeichnete man im Gegensatz zum älteren französischen Moralismus einen Moralismus, dem es nicht wie dem letzteren nur um die Kritik gesellschaftlicher Sitten ging, sondern um deren soziale Reproduktion und erweiterte Institutionalisierung. 31
I . J O H N LO C K E
1. Lockes soziale Tugenden: Dem Gentleman die Höflichkeit zur zweiten Natur machen Die Entstehungszeit der Gedanken über Erziehung von John Locke (1632 – 1704) fällt in die erste Hälfte der 1690er Jahre, d. h. sie sind ein Spätwerk. Ebenso spät in Lockes Leben erscheint 1690 zum ersten Mal sein mehrbändiger Versuch über den menschlichen Verstand, an dem er mehr als drei Jahrzehnte gearbeitet hat und den Locke nach dem Machtumsturz von 1688/89, in den er involviert ist, nun endlich zu veröffentlichen wagt. In den letzten knapp fünfzehn Jahren seines Lebens, beginnend mit der Niederschrift der Gedanken über Erziehung, beschäftigt er sich mit der Frage praktischer Lebensführung, wie auch seine anderen Schriften aus dieser Zeit zeigen.1 Retrospektiv erscheint dies wie eine Antizipation der pragmatistischen Wende, welche die neue »britische« politische Philosophie spätestens mit David Hume und Adam Smith nehmen wird. Mit »pragmatistischer Wende« meine ich, dass die Frage der metaphysischen Herkunft von Moral zurücktritt vor dem praktischen Zweck, wie sie effektiv institutionalisiert wird. Adam Smith wird in seiner Theorie der ethischen Gefühle die Frage danach, ob moralische Gesetze von Gott eingegeben oder aus der menschlichen Vernunft abzuleiten sind oder – die genuin sentimentalistische Antwort – einem natürlichen Empfinden entstammen, für letztlich nicht beantwortbar und, was dabei das Entscheidende ist, als für das praktische Zusammenleben für unerheblich erklären: »[Ich] muss […] bemerken, dass die Entscheidung dieser Frage zwar von der größten Wichtigkeit für die Theorie ist, aber keine Bedeutung für die Praxis hat. […] Die Untersuchung darüber, aus welchem inneren Mechanismus jene verschiedenen Vorstellungen und Gefühle entspringen, ist bloß eine Angelegenheit der philosophischen Neugierde« (TMS 7.3, S. 516). Um den spezifischen Ort und die Funktion zu bestimmen, welche die »sozialen Tugenden« für Locke im Gesellschaftsaufbau haben, lässt sich die im engeren Sinn »soziale« oder »gesellige«2 Sphäre – die spätere »civil society« – als dialektische Spiegelung dessen verstehen, wie sich die vom Selbstinteresse bestimmten Interaktio1 Die andere wichtigste Schrift ist der Conduct of the understanding. Nathan Tarcov macht zudem auf ein spätes Manuskript Lockes On Ethics aufmerksam, in dem Locke zwei Arten von Ethik unterscheidet, eine naturrechtlich orientierte und eine auf Handlungsmotive zielende, praktisch-psychologische; vgl. Tarcov 1984, S. 77. 2 Die damalige deutsche Übersetzung für »social virtues« ist »gesellige Tugenden«. Es gibt den Begriff »sozial« in dieser interaktionistischen Bedeutung im Deutschen damals noch nicht; vgl. dazu HistWdPh Bd. 9, S. 1114 f.
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I. Kapitel · John Locke
nen auf dem Markt herstellen: Während der freie Bürger im ökonomischen Tauschhandel auf dem Markt vordergründig selbstinteressiert handelt, aber dieses selbstinteressierte Handeln hintergründig auf die Bedürfnisse Anderer bezogen sein muss, um erfolgreich zu sein, verhält sich diese Relation im »sozialen« Handeln in der »Gesellschaft« genau umgekehrt. Für Locke ist den »geselligen Tugenden« [social virtues] gemeinsam, dass der Einzelne sein »geselliges« Handeln vordergründig an den Bedürfnissen Anderer ausrichtet und hintergründig sein jeweils spezifisches Eigeninteresse verfolgt. Kant nennt diese Verhaltensweise »ungesellige Geselligkeit«, weil sie die »Geselligkeit« um der eigenen Selbsterhaltung willen pflegt.3 Aber wenn in der Befolgung der sozialen Konvention die Einzelnen immer in ihrem Eigeninteresse handeln, stellt sich die Frage nach der Redlichkeit der im sozialen Umgang geübten »Gentleman«. Handeln diese auch noch sittlich, wenn niemand hinschaut? Shaftesbury fragt: »Why should a man be honest in the dark?«4 Locke, der Shaftesburys persönlicher Erzieher war, bietet in seinen Gedanken über Erziehung eine Lösung für dieses Problem an: »Jeder Mensch muss früher oder später sich selbst und seiner eigenen Führung überlassen werden; und wer ein guter, rechtschaffener und tüchtiger Mensch ist, muss es von innen heraus geworden sein.«5 Verinnerlichung ist der Schlüsselbegriff einer Gesellschaftsvorstellung, die freien Individuen ein intuitives Rechtsgefühl anerziehen will. Die Frage lautet: Wie muss ein Interaktionszusammenhang beschaffen sein, der seine Teilnehmer die Disposition zu einer zivilen Umgangsweise mit Anderen ausbilden lässt; einen »Wunsch, Andere nicht zu verletzen«6, verinnerlichen lässt? Die Gedanken über Erziehung sind einer der ersten Texte, in denen der Begriff »social« im Sinn der sozialen Interaktion freier Individuen vorkommt. Locke ist damit einer modernen Verwendung des Begriffs »social« schon näher als sein Ziehsohn Shaftesbury, weil bei Locke der Begriff »social« sich nicht auf eine wohlwollende Veranlagung der menschlichen Natur bezieht, sondern einfach bestimmte Umgangformen – social virtues – bezeichnet. Bemerkenswerterweise ist Locke dennoch ein Vertreter der Idee der sozialen Natur im Sinn einer Anerkennungsbedürftigkeit des Individuums. Nur wenige Menschen, stellt er schon in seinem Versuch über den menschlichen Verstand fest, scheinen ohne die soziale Anerkennung ihrer Mitmenschen leben zu können.7 Der Mensch, obwohl bei Geburt eine Tabula rasa, ist zum angemessenen Leben in der Gesellschaft erziehbar. Zu bedenken ist, dass das radikale Staatsverständnis von Hobbes, für den jede politische Ordnung ein künstliches Konstrukt des Menschen darstellt, denjenigen, die eine bürgerlich-freiheitliche Gesellschaftsordnung favorisieren, das Problem aufgibt, begründen können zu müssen, warum diese po3 4 5 6 7
Idee zu einer allgemeinen Geschichte in weltbürgerlicher Absicht, 4. Satz, GW Bd. 11, S. 37. Characteristics Bd. 1, S. 78. Ged. § 42, S. 44, Hervorh. hinzugef. Ged. § 143, S. 175. Vgl. Versuch 2.28.12, S. 448.
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litische Ordnung der »bürgerlichen Freiheit« mit der »menschlichen Natur« in Einklang stehen soll. Für dieses Problem wird die sentimentalistische Vorstellung einer »social nature«, die Shaftesbury im Anschluss an Locke entwickelt, eine ideologisch tragfähige Lösung bieten. Denn indem Shaftesbury davon ausgeht, dass es in der »sozialen Natur« des Menschen liegt, seine Ordnung zwar freiheitlich selbst zu konstruieren, doch dafür als Anlage zugleich eine natürliche Güte mitzubringen, die ihn dazu auch ethisch in der Lage sein lässt, ist seine »natürliche Freiheit« auf einmal nicht nur kein Problem mehr, sondern zu begrüßen. Bei Hobbes führt diese »natürliche Freiheit« dagegen noch in den »Krieg aller gegen alle«. Lockes Subjektauffassung steht genau zwischen dem pessimistischen Menschenbild von Hobbes und dem optimistischen Menschenbild Shaftesburys. Locke optimistische Seite drückt sich darin aus, dass er den Menschen für weitgehend durch die Gesellschaft formbar hält. Die pessimistische Seite liegt darin, dass er ihm von Natur aus einen Hang zur despotischen Herrschaft zuschreibt. In seinem Erziehungsbuch beschreibt er die »soziale« Umformung eines natürlichen Verlangens des Menschen, Andere zu unterdrücken. Das triebhafte Verlangen nach der Dominierung Anderer [love of dominion] lässt sich umformen in ein Verlangen nach sozialer Anerkennung bzw. danach, die Anderen in einem gesellschaftlichen Wettbewerb um größere Tugendhaftigkeit zu übertreffen.8 Das »Soziale« muss sich in die menschliche »Natur« einschreiben, um das menschliche Potential zur »Freiheit« zu erfüllen. Locke entwirft in seinen Gedanken über Erziehung das bürgerliche Individuum, wie James Tully es ausdrückt, »from scratch«.9 Von den ersten Eindrücken an darf in der Erziehung wenig dem Zufall überlassen werden, damit am Ende ein vernünftiger Bürger dabei herauskommt. Im Gegensatz dazu glaubt Hobbes noch nicht an die Möglichkeit der sozialen Umgestaltung der menschlichen Natur. Weil die politische Ordnung des Menschen immer eine künstliche ist, wird es dieser künstlichen Ordnung auch nie gelingen, die »menschliche Natur« selbst zu überwinden. Die Argumentation dieses Kapitels lässt sich wie folgt argumentativ umreißen. Zunächst wird gezeigt, welches Menschenbild Locke seiner Erziehungslehre zugrunde legt. Dabei wird deutlich werden, dass dieses Menschenbild genau zwischen Hobbes und der späteren Philosophie des moralischen Sinns steht. Locke geht nicht von einer natürlichen Anlage des Individuums zur Güte gegenüber Anderen aus, sondern im Gegenteil von bestimmten malignen Bedürfnisimpulsen, die aber durch die Erziehung umgeformt werden können (1.1). Die operative Grundlage dieser Formung stellt für Locke das Erlernen von Selbstdisziplin dar. Auf der Beherrschung seiner »inneren Begehren« [desire] beruht sowohl die Befähigung zum rationalen Denken als auch die soziale Handlungskompetenz (1.2). Es ist wahrscheinlich, dass Locke diese Einsicht aus seiner Auseinandersetzung mit Pierre Nicole gewinnt, dessen Essais de Morale er teilweise ins Englische übersetzt; vgl. Keohane 1980, S. 294. 9 Tully 1993, S. 179 f. 8
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I. Kapitel · John Locke
Danach wird eingehend analysiert, was das Wort »reason« in Lockes Erziehungslehre bedeutet. Bis heute existiert das Missverständnis über die im Nachhinein so bezeichneten »frühen Aufklärer« – zu denen gemeinhin auch Locke gezählt wird – dass diese geglaubt hätten, man müsse Menschen nur erklären, was vernünftig ist, um sie zu einem entsprechenden Handeln zu bewegen. Dies verkennt die Lebensführungslehren dieser Zeit. Einer der ersten, der diese Mär in die Welt gesetzt hat und es eigentlich besser wusste, war Rousseau. Am Konflikt zwischen Locke und Rousseau um die Bedeutung der Eingewöhnung in der Erziehung lässt sich präzisieren, was als »freiheitlich« an Lockes Erziehungstheorie gelten kann: Locke lässt das Kind Individualität einüben, indem es eine Interaktionstechnik erlernt, die ihm ermöglicht, im sozialen Handeln sowohl die Wünsche Anderer zu beachten als auch seine subjektiven Interessen weiterzuverfolgen (1.3). Diese erzieherische Herbeiführung einer Befähigung zur wechselseitigen Interaktion mit Anderen ist das, was das Erlernen von »social virtues« im Kern auszeichnet. Locke entwickelt eine Erziehungsmethode, die auf »Lob und Anerkennung« im Gegensatz zu »Schelten und Schlägen« beruht. Jedoch weist Lockes Bezugnahme auf diese Erziehungsmethode der Anerkennung im Verhältnis zur heutigen Anerkennungspädagogik eine entscheidende Differenz auf: Während heutige Anerkennungstheorien in der Regel gegen die pädagogische Möglichkeit der Beschämung des Kindes gerichtet sind, bildet in Lockes Anerkennungsverständnis »shame and disgrace« die gewollte negative Kehrseite der positiven Erhebung durch »praise and commendation«. Die Beschämung wird als alternatives Sanktionsinstrument zum Ausschimpfen und zur körperlichen Züchtigung verstanden. Das Kind ist beschämt, wenn ihm die Anerkennung entzogen wird, und ist daraufhin bemüht, sie zurückzuerlangen. (1.4). Der letzte Teilabschnitt des Kapitels dreht sich noch einmal um »social virtues« als einer Lehre der Handlungsbefähigung im engeren Sinn. Hier zeigt sich, wie die Anerkennungsmethodik mit dem, was anerzogen werden soll – das Wie mit dem Was –, zusammenhängt. Das Kind lernt, auf die Verhaltenserwartungen seiner Umgebung zu achten, und der »junge Gentleman« beherrscht die »geselligen Tugenden » dann, wenn er »in Gesellschaft« [company] dazu in der Lage ist, sich den Erwartungen Anderer gemäß zu verhalten. Die Tugendhaftigkeit dieses Verhaltens kommt im Kern darin zum Ausdruck, dass die Anderen in ihrem personalen Status nicht gekränkt werden – mit dem Ziel, sie sich zu Verbündeten zu machen. Äußert sich die erlernte Sozialkompetenz in der Achtung Anderer, geschieht dies doch immer vor dem Hintergrund eines Ziels, und zwar der Selbstbehauptung in einer Gesellschaftsordnung freier Einzelner. Der »Gentleman« fühlt sich in Andere ein, um diese Anderen seinen eigenen Absichten gewogen zu machen (1.5).
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1.1 Lockes widersprüchliches Menschenbild: tabula rasa vs. natürliches Machtbegehren Lockes Erziehungslehre ist voller Widersprüche. Einer der bedeutendsten dieser Widersprüche ist derjenige, dass der »junge Gentleman« in den Händen seines Erziehers »Wachs« sein soll, das dieser daher »formen« kann, wie es ihm beliebt, aber dem Kind doch zugleich von Locke eine bestimmte Begehrensanlage zugeschrieben wird, die über die Grundannahme, Menschen seien Wesen, die dem Erlangen von Glücks- und Lustempfindungen zustreben und Unlustempfindungen zu vermeiden suchen, hinausgeht. Um das Subjektivitätsverständnis des 17. Jahrhunderts in diesem Punkt zu verstehen, muss man die scharfe Entgegensetzung von »Geist« und »Körper« in dieser Zeit in Betracht nehmen: Der »Geist« mag für Locke formbar sein und soll auch in letzter Konsequenz den »Körper« beherrschen, aber der »Körper« behält als Ausgangsort bestimmter triebhafter Begehren auch eine bestimmte Macht gegenüber dem »Geist«. Vor dem Hintergrund einer Rekonstruktion des in ihnen enthaltenen Menschenbildes ist es nur bedingt sinnvoll, in Lockes Gedanken über Erziehung der Chronologie des Quelltextes zu folgen. Diese sind als ein pragmatisch am Verlauf der Erziehung orientiertes Ratgeberwerk aufgebaut und nicht in erster Instanz als Abhandlung über die menschliche Natur gemeint. Dennoch geht Locke in seinen Gedanken über Erziehung von einer bestimmten Auffassung der menschlichen Natur aus – genauer gesagt von einer bestimmten Möglichkeit der sozialen Umformung einer natürlichen Begehrensanlage. Dies besagt auch seine Grundmetapher des kindlichen Geistes als »tabula rasa«. Doch trotz dieser Verwendung des Bildes einer »leeren Tafel« muss für das Verständnis von Lockes Subjektvorstellung beachtet werden, dass bestimmte natürliche Begehren für ihn bereits mit dem Selbsterhaltungsdrang des Individuums gegeben sind. Dabei legt Locke erst in § 103 der Gedanken über Erziehung seinem Leser explizit offen, dass er von einem natürlichen Machtbegehren des Kindes als einem fundamentalen menschlichen Antriebsimpuls ausgeht: »Ich habe gesagt, dass Kinder die Freiheit lieben; daher sollte man sie dazu bringen, das, was für sie geeignet ist, zu tun, ohne dass sie fühlen es werde ihnen Zwang auferlegt. Ich füge jetzt hinzu: es gibt etwas, das sie noch mehr lieben: herrschen. Das ist der Ursprung der meisten schlechten Gewohnheiten, die weit verbreitet und angeboren sind. Dieses Trachten nach Macht und Herrschaft zeigt sich sehr früh […]« (Ged. § 103).
Locke steht darin, dass er Kindern ein solches ursprüngliches »Trachten nach Macht und Herrschaft« zuschreibt, Gedanken von Hobbes noch deutlich näher als dem optimistischeren Menschenbild der späteren Philosophen des moralischen Sinns. Im folgenden § 104 erscheinen Lockes Äußerungen über das kindliche Begehren ausgesprochen harsch, indem er bereits das »Schreien« von Kindern als Ausdruck einer »love of dominion« interpretiert. Wobei Locke damit nur solche infantilen Begehrensäußerungen meint, mit denen das Kind den eigenen Willen durchzusetzen versucht, während er die Artikulation von Grundbedürfnissen wie Hunger, Durst usw. davon bewusst ausnimmt. Hobbes interpretiert in De Homine
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das Schreien von Kindern dagegen als die verbale Expression des Gewahrwerdens eigener Schwäche und Abhängigkeit.10 Im Kontext der Rekonstruktion frühen sozialwissenschaftlichen Denkens ist an Lockes Ausführungen zur »love of dominion« zudem bemerkenswert, dass sie sich auch so auffassen lassen, dass eine bestimmte Individualitätsgenese abhängig von bestimmten Lebensverhältnissen ist. Das Kind, das Locke in seinem Erziehungsbuch als exemplarisch annimmt, ist ein Sohn des besitzenden englischen Landadels, was sich auch in dessen Bezeichnung als »junger Gentleman« zeigt. Wobei er bemerkenswerterweise auch den weiblichen Nachwuchs dieses Landadels – die »kleine Prinzessin« – als einem natürlichen Hang zur Herrschaft folgend vorstellt. Dass er Kindern ein Machtbegehren zuschreibt, kann daher auch als Milieubezogenheit seines Erziehungsratgebers gedeutet werden. Dies wird deutlich anhand des folgenden Satzes aus § 104: »Sie wollen, dass man sich ihren Wünschen unterwirft; sie streben danach, dass ihre ganze Umgebung sich ihnen bereitwillig fügt, besonders diejenigen, die ihnen im Rang oder im Alter nahe oder unter ihnen stehen, sobald sie anfangen, Andere nach solchen Unterscheidungsmerkmalen zu betrachten« (Ged. § 104).
Das Aufwachsen des Kindes wird hier als ein Hineinwachsen in eine bestimmte soziale Lebenswelt vorgestellt. Und es ist in diesem Fall eine Lebenswelt, in der man zu einem bestimmten Zeitpunkt realisiert, dass es Andere gibt, die »im Rang […] unter« einem »stehen«. Locke ist nicht auf die Idee gekommen, dem Tagelöhner, den er im vorletzten Kapitel seines vierbändigen Hauptwerkes mit einem »Lastpferd« vergleicht, welches »Tag für Tag auf engem Seitenweg und schmutziger Landstraße zum Markt getrieben« wird, und von dem man deshalb nicht erwartet, mit »der Geographie des Landes vertraut zu sein«, eine natürliche »love of dominion« zuzuschreiben. Andererseits zeugt seine Beschreibung der »working poor« dennoch von Lockes Bewusstsein einer diesen auferlegten, alltäglichen Frustration, die sich mit der Zeit in ressentimenthaften Groll verwandelt.11 Die obige Stelle ist exemplarisch für eine bestimmte Ambivalenz, die Lockes Vorstellung der menschlichen Natur mit sich führt: Deren innere Begehren können stets so interpretiert werden, als würden sie erst aus einer bestimmten Kontextbezogenheit erwachsen.12 In diesem Sinn ist »love of dominion« in den Gedanken über Erziehung gar nicht zu unterscheiden von dem infantilen Gewahrwerden, tatsächlich dazu in der Lage zu sein, Herrschaft auszuüben. Bemerkenswert ist allerdings nun, wie Locke im Folgenden für die Unterdrückung, ja sogar für die »Ausjätung« dieser »love of dominion« votiert. Zu begreifen, wieso Locke das tut, ist essentiell dafür zu verstehen, was die »sozialen Tugenden« für ihn darstellen. Die »sozialen Tugenden« stehen bei Locke für eine egalitäre Dimension, die er dem Habitus des »Gentleman« DH 12.7; vgl. Tarcov 1984, S. 132. Vgl. Versuch 4.20.2. 12 Das Argument der kontextuellen Gewordenheit innerer Überzeugungen trägt auch Lockes Kritik angeborener Prinzipien im ersten Buch seines Versuchs; siehe Mackie 1976, S. 205. 10 11
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gibt. Der feudalistischen Verhaltensnorm eines »Gentleman« als dem niedrigsten Titel des englischen Landadels13 hätte es noch entsprochen, unbedenklich Selbstbewusstsein aus der habituell ausgelebten Überlegenheit gegenüber niederen Ständen zu ziehen.14 Kaum ein Habitus ist Locke in seiner Erziehungslehre verhasster als der überkommene feudale Gestus des Zeigens einer nicht weiter begründungsbedürftigen – natürlichen – Überlegenheit von Geburt an. Wenn Locke daher hier von der »Ausjätung« einer »love of dominion« im »jungen Gentleman« spricht, reflektiert sich darin sein humanistisches Anliegen, dem Landadel ein der bürgerlichen Ordnung angemessenes Sozialverhalten anzuerziehen. Dem Humanismus gelingt es, den Adel auf ein Bildungsideal zu verpflichten, in dem diesem der soziale Vorteil, der mit solcher Bildung verbunden ist, deutlich wird. Es erscheint von einem bestimmten historischen Entwicklungszeitpunkt an als aussichtslos, gesellschaftliche Macht ohne persönliche Handlungskompetenzen noch ausüben zu können.15 Dennoch dürfen das Aufkommen des Humanismus im 16. Jahrhundert und der Aufstieg des englischen Bürgertums im 17. Jahrhundert ideengeschichtlich nicht als bruchloser Prozess angesehen werden. Auch dafür sind die Gedanken über Erziehung eine aufschlussreiche Quelle. Ein humanistischer Grundgedanke, den der frühe Liberalismus im Wahlspruch, dass Eigentum verpflichte, allerdings übernimmt, ist der, dass gesellschaftliche Führungsfiguren einen moralischen Vorbildcharakter haben.16 Davon zu unterscheiden ist, dass sich Lockes Erziehungsbuch bewusst gegen den geisteswissenschaftlichen Kern des humanistischen Erziehungsideals richtet und dagegen eine pragmatische, auf den weltlichen Nutzen des Erlernten angelegte Erziehung fordert.17 Dies kann aber auch als eine Radikalisierung bestimmter funktionalistischer Tendenzen im humanistischen Erziehungsbild selbst verstanden werden, die nun zum Durchbruch gelangen. Der Wert eines Erziehungsinhalts liegt ausschließlich in seinem späteren »sozialen Nutzen«. Hierbei ist es aber für ein angemessenes Verständnis notwendig, die damalige Bedeutung bestimmter Begriffe adäquat zu rekonstruieren. Die damalige Bedeutung von »utility« schließt auch eine Art »sittlichen Nutzen« mit ein.18 Nach der schon bei Hobbes vorkommenden frühliberalen Denkfigur sind 13 Die Gentry oder der Landadel war der Stand, in den zu Besitz gekommene städtische Kaufleute oder Handwerker ab Mitte des 16. Jahrhunderts durch Kauf von Land leicht aufsteigen konnten. Begünstigend hinzu kam dabei die staatliche Enteignung der kirchlichen Ländereien unter Heinrich VIII. Die Krone war aufgrund hoher Kriegskosten gezwungen, den Großteil der bei der Gründung der Church of England in Staatsbesitz übergegangenen Ländereien der geschlossenen Klöster und Mönchsorden zum Kauf anzubieten. 14 Zur Verurteilung des adligen Hochmuts im damaligen Zeitgeist s. Caspari 1988, S. 182 f. 15 Siehe Caspari ebd., S. 177 f. 16 Der Glaube an die Effektivität dieser Vorbildlichkeit legitimiert dabei innerhalb des frühliberalen Denkens das Absehen von einer Analyse des charakterlichen Zustandes der weniger Wohlhabenden; dazu Fach 2003, S. 66 f. 17 Vgl. § 147; das entgegengesetzte humanistische Erziehungsprogramm wäre der Schoolmaster von Asham von 1570. 18 Vgl. Hirschman 1997 (1977), S. 42 f.
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»self-preservation« und »civility« zwei ineinander verschränkte Prozesse, d. h. die wohlverstandene Selbsterhaltung zielt auf einen guten Gesellschaftszustand. Im Sinn der Unterscheidung zwischen einem verkürzten und einem rationalen Selbstinteresse lässt sich auch Lockes Darstellung der zweiten Ausdrucksform von »love of dominion« in § 105 verstehen. Dort bezeichnet er als eine »weitere« Form, »worin [Kinder] ihre Herrschsucht zeigen die Begierde, Dinge als ihr Eigentum zu besitzen«, was nicht zuletzt deshalb immer wieder kontrovers diskutiert wurde, weil Locke derjenige Naturrechtstheoretiker ist, dem es erfolgreich gelingt, die Vorstellung des Privateigentums zu naturalisieren. Tarcov hat darauf aufmerksam gemacht, dass diese Äußerung mit Lockes Naturrechtslehre in Einklang steht. Denn Locke unterscheidet dort zwischen der Habgier, Dinge ohne eigene Arbeit in den eigenen Besitz bringen zu wollen, und einem natürlichen Erwerbstrieb als positiver Triebfeder des eigenen Arbeitsvermögens.19 Das Kind hätte demnach zu lernen, dass es etwas nur vermittelt über einen adäquaten Gegenwert erwerben darf. Dies ist bei Kindern aufgrund ihrer von der Selbsterhaltungsökonomie noch ausgeschlossenen sozialen Rolle – was zumindest auf die Kinder zutrifft, die Locke im Blick hat – schwer vorzustellen, aber es wird sich im Folgenden zeigen, inwiefern es Locke genau darum geht, Kinder die Vorstellung verinnerlichen zu lassen, dass individueller Besitz rechtmäßig erworben sein muss. Auch der Familienbesitz gilt in diesem Sinn aber als rechtmäßig erworben durch die eigenen Vorfahren. Die Vorstellung, dass Besitz rechtmäßig erworben sein muss, wäre dennoch einem Adelskind traditioneller Prägung fremd geblieben. Locke zielt darauf ab, dem Kind eine prinzipielle Rücksichtnahme gegenüber dem personalen Status anderer Individuen – auch wenn diese sozial untergebene sind – anzuerziehen, wobei er die Person als »Besitz an sich selbst« versteht.20 Darin, dass es Locke um die erzieherische Umpolung einer malignen Begehrensanlage zu tun ist, stehen seine Ausführungen zur »love of dominion« noch Hobbes nahe.21 Die beiden Hauptantriebe der Charakterbildung unter Bedingungen der Selbsterhaltung, die gesellschaftlich gebändigt werden müssen, sind Herrschaft ausüben zu wollen und sich unrechtmäßig Besitz aneignen zu wollen: »Wer nicht beobachtet hat, dass diese beiden Neigungen sich sehr frühzeitig in Kindern auswirken, hat auf ihr Tun wenig geachtet und wer da meint, dass diese beiden Wurzeln fast aller Ungerechtigkeit und allen Streites, die das menschliche Leben so beunruhigen, nicht früh ausgejätet und entgegengesetzte Gewohnheiten nicht früh an ihre Stelle gesetzt werden müssten, der versäumt die rechte Zeit für die Grundlegung einer Erziehung zu einem guten und tüchtigen Manne« (Ged. § 105).
Ohne die erzieherische Intervention verwickelt sich die menschliche Natur von ihren Neigungen her in einen permanenten Konfliktzustand mit Anderen. Auch darWie Tarcov deutlich macht, bezieht sich Lockes Bezeichnung der »covetousness« als »root of all evil« (die der »aquisitiveness« entgegengesetzt wird) auf Paulus, 1. Timotheus 6, 5 – 11 & 15 – 17; vgl. Tarcov, S. 144. 20 Vgl. Meiksins Wood/Wood 1997, S. 123, Zweite Abhandlung über die Regierung § 26. 21 Siehe aber DH 13.8 – 9. 19
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in liegt noch die Nähe zu Hobbes, insofern es hier zunächst um die Herstellung eines Zustandes der gewaltfreien Aushandlung von Konflikten geht, auf dem alles weitere aufbauen muss. Es geht Locke darum, dass das Kind eine Gegendisposition zum friedfertigen Verhalten internalisiert, d. h. die »innere Neigung, Andere nicht zu verletzen«22, ausbildet.
1.2 Selbstbeherrschung im Dienst eines größeren Guts Es ist eine introspektive Technik der Selbstbeherrschung, die das Fundament der Charaktergenese bildet, die Locke beschreibt. Ein ausgedehnter erster Teil der Gedanken über Erziehung behandelt das Erlernen einer Beherrschung des eigenen Körpers, wobei diese Selbstdisziplinierung als hervorgehend aus der kindlichen Unterordnung unter die rationale Leitung Anderer vorgestellt wird. Denn derjenige, welcher in der frühen Kindheit nicht gelernt hat, »seinen Willen der Vernunft Anderer zu unterwerfen«, ist auch später nicht dazu in der Lage, »sich seiner eigenen Vernunft zu unterwerfen, wenn er in dem Alter ist, dass er sich ihrer bedienen kann« (§ 36). Die Strenge, mit der ein Kind in seinem körperlichen Begehren diszipliniert werden soll, rechtfertigt sich dadurch, dem Kind in dieser Befähigung »den Grund aller Tugend und Vortrefflichkeit« anzuerziehen (§ 38). Je früher Kinder daher lernen, »ihre Begierden zu unterdrücken und auf ihre Wünsche zu verzichten«, desto besser für ihre spätere Leistungskapazität: Schon »von der Wiege an« soll dem Kind beigebracht werden, sich in seinen Bedürfnisäußerungen beherrschen zu können (ebd.). Diese Technik der »Selbstverleugnung« [self-denial] bildet die Grundlage für den Erwerb von Rationalität deshalb, weil Selbstreflexion für Locke auf der Basis einer intrapsychischen Mechanik des temporären Befriedigungsaufschubs beruht: »Wer nicht Herr seiner Neigungen ist, wer dem Andrängen augenblicklicher Lust oder Unlust nicht zu widerstehen weiß, wie die Vernunft ihm anempfehlen würde, dem fehlt die echte Grundlage der Tugend und Strebsamkeit; er läuft Gefahr, nie für irgend etwas brauchbar zu sein. Diese der ungeleiteten Natur so entgegengesetzte Geistesverfassung muss daher frühzeitig erworben werden; diese Gewohnheit, die wahre Grundlage künftiger Fähigkeit und künftiger Glückseligkeit, muss dem Gemüt so früh wie möglich eingepflanzt werden, ja, vom ersten Dämmern der Erkenntnis oder der Begriffsfähigkeit an, sie muss mit aller Sorgfalt und allen nur vorstellbaren Mitteln in den Kindern gefestigt werden von allen, die ihre Erziehung zu überwachen haben« (Ged. § 45).
Erst die Befähigung zur Verschiebung momentaner Befriedigungen auf ein imaginiertes Später, d. h. die Aufgabe »augenblicklicher Lust« zugunsten eines durch diese Aufgabe erst zu erlangenden »größeren Gutes«, legt für Locke die Grundlage zu subjektiver Handlungsfreiheit, da erst die Aneignung dieser Fähigkeit zur Diszipli22
Ged. § 143.
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nierung des eigenen Körpers es dem Verstandesdenken erlaubt, sich auf ein zukünftiges Ziel hin auszurichten, und somit erst die operative Grundlage der Entfaltung individueller Rationalität bildet (§§ 31, 33, 38 – 40, ebd.). Doch darf dabei nicht übersehen werden, inwiefern Locke in seiner Erziehungslehre zugleich Stellung bezieht gegen eine asketische Dämonisierung der körperlichen »Begierden« [desires]. Es geht Locke nicht darum, dem Kind Lustfeindlichkeit zu vermitteln, sondern der instrumentelle Zweck von »self-denial« ist die Anerziehung einer bestimmten Art von Realitätsempfinden. Das Kind soll die Kompetenz erwerben, aus eigener Kraft vernünftig handeln zu können. Indes kann es dies erst als rational selbstberrschtes, was andererseits aber bedeutet: schon nicht mehr als Kind. Die Definition von »Kind« schließt »rationale Selbstbeherrschung« aus. Der Prozess der Kindheit bleibt bis zu seinem Abschluss einer der fortwährenden Übung darin, »sich selbst seine eigenen Wünsche zu versagen, seinen eigenen Neigungen entgegenzutreten und lediglich dem zu folgen, was die Vernunft als das beste anweist, mag auch die Begierde in eine andere Richtung gehen«.23 Aber wie Locke in § 36 ausführt, »liegt der Fehler [nicht darin], dass man Wünsche hat, die den Begriffen und dem Geschmack jener verschiedenen Altersstufen angemessen sind, sondern darin, dass man sie nicht den Gesetzen vernunftgemäßer Beschränkung unterwirft«.24 D. h. nicht nur wird derjenige, der »Begierden hat«, dadurch nicht mehr bereits sündig, sondern es sind, wie Locke fortfährt, den Kindern ihre Bedürfnisse grundsätzlich nicht vorzuwerfen: »der Unterschied liegt nicht darin, dass wir Begierden haben, oder nicht haben, sondern darin, ob wir uns in der Gewalt haben, sie zu beherrschen und uns selbst in ihnen zu verleugnen« (§ 36). Es dauert dennoch noch bis § 106, bis Locke zwischen »wirklichen, natürlichen Bedürfnissen« und »eingebildeten Bedürfnissen« [wants of fancy] unterscheidet. Demnach »[fühlen] den Schmerz der Krankheit und körperliche Verletzung, Hunger, Durst und Kälte, Entbehrung des Schlafes und der Ruhe und Entspannung der durch Arbeit ermüdeten Glieder […] alle Menschen«, und diesen Bedürfnissen muss auch in der Erziehung nachgegeben werden, aber wiederum »nicht mit Ungeduld oder übergroßer Eile, sofern ein Aufschub keine nicht wiedergutzumachenden Folgen hat«. Denn »je mehr Kinder an Abhärtung dieser Art gewöhnt werden können durch weises Bemühen, sie an Körper und Geist stärker zu machen, um so besser wird es für sie sein« (ebd.). Lockes Ausführungen sollten nicht so verstanden werden, dass es ihm um die Bevormundung von Kindern hinsichtlich der Legitimität ihrer Bedürfnisse geht. Es geht Locke darum, den Eltern nahezulegen, ihren Kindern eine bestimmte Art und Weise der Artikulation ihrer Bedürfnisse anzuerziehen, die von Selbstbeherrschung und Mäßigung geprägt ist. Denn erlernen die Kinder, ihre Bedürfnisse so lange zurückzuhalten, wie sie diese beherrschen können, und äußern sie dann mit der 23 24
Ged. § 33. Hervorh. hinzugef.
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gebotenen Zurückhaltung, gibt es auch »in nebensächlichen Dingen« für Eltern keinen Grund, »den Wünschen ihrer Kinder absichtlich entgegen[zu]treten; im Gegenteil, wenn ihr Betragen es verdient und man sicher ist, es werde ihren Charakter nicht verderben oder verweichlichen und sie nicht in Tand verliebt machen, […] sollte [man] soweit man kann, alles zu ihrer Zufriedenheit ersinnen, damit sie Lust und Vergnügen als Folge guten Betragens erkennen« (§107).
1.2.1 Lockes Diskussion der Frage nach dem größeren Gut in seinem Hauptwerk Dies führt zurück zu der Frage nach dem größeren Gut, d. h. der Belohnung, die einem Kind für die Mühen der Selbstbeherrschung in Aussicht gestellt wird. Die Motivation zur Verschiebung momentaner Befriedigungen auf später, die so charakteristisch für die bürgerliche Selbstbeherrschung ist, indem sie dieser erst ihre rigorose, durchdringende Kraft verleiht, bedarf der begründeten Aussicht auf einen größeren Genuss, der am Ende den Verzichtenden erwarten soll. Nur von einem in diesem philosophischen Sinn hedonistischen Standpunkt aus wird jene Zentralität des Befriedigungsaufschubs für die subjektive Begehrensökonomie verständlich. Auch von Shaftesbury wird soziale Anerkennung als »größerer Genuss« gedacht, und die In-Aussicht-Stellung dieses »größeren Genusses« dient dem Befriedigungsaufschub. Für wie fundamental Locke diese Aufschiebung in der bürgerlichen Charakterstruktur hält, zeigt sein Hauptwerk. Im Versuch über den menschlichen Verstand fasst er die Möglichkeit, momentane Lust- und Unlustempfindungen intrapsychisch aufzuschieben, als »Quelle aller Freiheit« auf (2.21.47). Damit eng verbunden ist seine Auffassung, dass der mentale Grundzustand des Einzelnen »uneasiness« ist (ebd., 2.21.29 – 37). Locke diskutiert im Versuch »uneasiness« (deutsch »Unbehagen«) als positiven Mangelzustand, der zum Wunsch des Erlangens des jeweiligen Gutes führt. Um dem Individuum ein bestimmtes Gut näherzubringen, muss man es eine auf dieses Gut bezogene »uneasiness« verinnerlichen lassen. Wie ich in 1.4 deutlich machen werde, stellt Locke auch die Anerziehung des Verlangens nach einem »guten Ruf« auf diese Art und Weise vor, d. h. als verinnerlichte »uneasiness« bezüglich des eigenen Ansehens. In der Form eines antreibenden »Unbehagens« kommt für Locke ein Gefühl des »Mangel[s] eines abwesenden Gutes« zum Ausdruck, das der Einzelne daher begehrt und das er durch seine Handlungen zu erlangen sucht (2.21.31). Mit dem Begriff des »größeren Gutes« [greater good] ist eine bestimmte, auf die Zukunft gerichtete Erwartung gemeint. Bemerkenswert ist, dass Locke auch die christliche Hoffnung, im Jenseits erlöst zu werden, die einen Christen den Dekalog befolgen lässt, als – nicht mehr als – eine solche Erwartung konzipiert. Das »größere Gut« ist hier die in Aussicht gestellte Erlösung als eine imaginierte Befriedigung in der Zukunft. Inwiefern das »größere Gut« dabei einen als körperlich vorgestellten Lustzustand bezeichnen muss oder hingegen als ein Befriedigungszustand geistiger Sublimation gedacht werden kann, ist im 17. Jahrhundert
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philosophisch umstritten. Ähnlich seiner pluralistischen Haltung der Toleranz in Fragen des wahren Glaubens versucht Locke auch hier eine subjektivistische Wende der Diskussion einzuleiten, indem er anmerkt, dass »alle Menschen […] das Glück [suchen], aber nicht alle ein Glück gleicher Art« favorisieren (2.21.55). Die Selbstbeherrschungsmodelle des 17. Jahrhunderts sind in ihrer ambivalenten Bezugnahme auf »desire« [deutsch meist »Begehren« oder »Begierde«] schon mit dem späteren Bild einer inneren Dialektik von Lust- und Realitätsprinzip bei Freud vergleichbar, was in einem besonderen Ausmaß auf die hier verhandelten Autoren zutrifft. Deren Vorstellung von »civility« beruht auf dem Gedanken einer rationalen Einsicht des Individuums darein (Realitätsprinzip), dass nur in der Respektierung des personalen Status des Anderen die eigene Selbsterhaltung effektiv abgesichert ist. Aber diese Einsicht ist hedonistisch rückgebunden darin, dass die subjektive Verfolgung von Bedürfnisbefriedigung (Lustprinzip) als eigentliches Movens des Einzelnen verstanden wird. Lockes Beitrag zu dieser Debatte ist von gesellschaftspolitischer Relevanz, weil Locke der Lehre vom Leitbildcharakter des »größeren Gutes« eine sozialwissenschaftliche Wendung gibt, die darin zum Ausdruck kommt, dass er die Verinnerlichung des Begehrens nach diesem »Gut« als Voraussetzung für das Unbehagen begreift, das die Verfolgung dieses Verlangens dann in der Folge innerlich motiviert: »Gleichwohl sehe ich mich nach einer eingehenderen Untersuchung zu dem Schluss gezwungen, dass ein Gut, ein größeres Gut, auch wenn es als solches aufgefasst und anerkannt wird, den Willen nicht eher bestimmt, als bis unser Begehren, das in entsprechendem Maße entstanden ist, in uns ein Unbehagen erzeugt, weil wir es entbehren müssen« (ebd., 2.21.35). Michel Foucault versteht als zentrales Charakteristikum »biopolitischer« Vergesellschaftung die »Anreizung« bestimmter Bedürfnisse im Gegensatz zu einer autoritären Repression von Begehren, und Locke gibt an dieser Stelle hierfür ein Lehrstück.25 Auch Lovejoy hat der Gedanke der Verinnerlichung eines Mangels, der ein Begehren provoziert, an Locke stark fasziniert.26 Lockes Vorstellung ist, dass ein innerer Zustand subjektiven Mangels als Gefühl in eine positiv wirksame Motivation verwandelt wird. Damit ist die Bedeutung von »Anreizung« bestimmt. Entscheidend dafür ist allerdings, dass man sich darauf versteht, dem Einzelnen die Aufhebung seines »Unbehagens« glaubhaft in Aussicht stellen zu können. Dies muss gewährleistet sein, um »uneasiness« als positiven Motivationsfaktor denken zu können: »Denn da der Wille die Kraft ist, unsere Fähigkeit zu wirken auf irgendein Ziel zu lenken, so kann er niemals auf etwas gerichtet werden, was in dem betreffenden Augenblick für unerreichbar gilt« (ebd., 2.21.40). Diese Überlegung wird ein Grundgedanke der Affektlehre von Hume werden. Das Argument der notwendigen Glaubhaftigkeit des verfolgten Handlungsziels wird von Locke und Hobbes dabei noch als Verteidigung des christlichen Glau25 26
Foucault 1977, S. 135 f. Lovejoy 1961, S. 134 – 136.
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bens – der Hoffnung auf jenseitige Erlösung bzw. Furcht vor der ewigen Verdammnis – in Anschlag gebracht. Bei Shaftesbury wird sich das ändern. In seinem Erziehungsbuch kommt Locke allerdings der Ablehnung christlicher Erlösungshoffnung als des in Aussicht gestellten »größtmöglichen Gutes« schon bemerkenswert nahe, wie sich noch zeigen wird. Doch dies liegt an dem klassenspezifischen Adressaten seiner Gedanken über Erziehung. Denn wie Locke an anderer Stelle seine Sozialpolitik paraphrasiert, ist »christendom […] a religion for the poor who labour«, was heißt: für die Unaufgeklärten, die noch an die Hölle glauben.27 Dem »jungen Gentleman« seinen Hang zu »Luxus, Stolz, Begehrlichkeit« mit der Furcht vor Gott austreiben zu wollen, stellt sich dagegen schon als nicht mehr möglich dar. Hier muss ein anderes »greater good« herhalten – das soziale Ansehen. Der »Pöbel« [mob] ist von Locke über Smith zu Hegel bestimmt dadurch, das Bedürfnis nach Anerkennung nicht verinnerlicht zu haben. Und wenn dazu noch niemand mehr an Gott glaubt? Die Religion wird in der Moderne zur Motivationspsychologie: »Nimm Hoffnung und Furcht weg, und alle Zucht ist am Ende« (§ 54).
1.3 Das Paradoxon einer Gewöhnung an Vernunft Rousseau hat Lockes Erziehungsbuch in seiner eigenen Erziehungslehre brüsk dafür kritisiert, dass Kinder dort nicht nur zur Vernunft, sondern auch vernunftgemäß bzw. mit den Mitteln der Vernunft erzogen werden sollen. Eine solche Erziehung der Kinder durch Vernunft, d. h. indem sie bereits früh als Verstandeswesen angesprochen werden, hält Rousseau – der große Pädagoge einer zu beachtenden Eigenlogik der Kindheit – für eine Methode, die dem Wesen eines Kindes nicht gerecht wird: »Den Kindern mit Vernunftgründen zu kommen, war Lockes Hauptmaxime, und heute ist sie große Mode. Indessen scheint mir ihr Erfolg nicht recht geeignet, ihr Vertrauen zu schenken. Ich für meine Person kenne nichts Dümmeres als diese Kinder, denen man so viel vorräsoniert hat. Von allen Fähigkeiten des Menschen entwickelt sich die Vernunft, die sozusagen eine Zusammenfassung aller Anderen ist, am schwierigsten und spätesten, und ausgerechnet ihrer will man sich bedienen, um die ersten zu entwickeln« (Emile, S. 205).
Mir wird es im folgenden Abschnitt darum gehen, diese Polemik Rousseaus als ein Fehlverständnis von Lockes Erziehungsmethode aufzuzeigen. Die Kritik an Locke ist ein wiederkehrendes Thema des Emile. Locke dient Rousseau als Abstoßungspunkt seiner eigenen Erziehungstheorie, die sich dadurch als kontrabürgerlich präsentieren kann. Im Folgenden werde ich zeigen, dass Rousseau an Locke viel eher anknüpft, als von ihm grundlegend abzuweichen. Entscheidend ist die Frage, was Locke in seinen Gedanken über Erziehung unter einer vernunftgemäßen Erziehung versteht. Damit ist keine Erziehung durch ein 27
Conduct of the understanding § 8.
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räsonnierendes Zurechtweisen des Kindes gemeint, das Locke ähnlich wie Rousseau scharf kritisiert, weil es dem kindlichen Verstand unangemessen ist.28 Eine vernunftgemäße Erziehung ist für Locke aber auch nicht nur – insoweit hat Rousseau recht – eine Erziehung, die selbst einen vernünftigen Plan verfolgt, sondern sie ist in der Tat eine Erziehung, die das Kind schon früh als ein verständiges Wesen ansprechen soll. Aber damit meint Locke etwas anderes, als einem Kind »Vernunftgründe« für die eigenen pädagogischen Anweisungen darlegen zu wollen. Vielmehr geht es im Kern darum, das Kind in seinem Erleben der Anderen – und d. h. vor allem seiner Eltern bzw. des Vaters – den Vorzug einer Praxis rationaler Lebensführung konkret erfahren zu lassen. Was ist damit gemeint? Zunächst ist es wichtig zu sehen, dass diese Erziehungsmethode bei Locke nicht im Widerspruch dazu steht, Nachahmung und schrittweise Gewöhnung als die habituellen Grundpfeiler des realen pädagogischen Lernprozesses zu begreifen. Für Locke ist es selbstevident, dass Kinder primär durch Nachahmung lernen: »Von allen Arten aber, Kinder zu belehren […] ist die einfachste, leichteste und wirksamste die, ihnen Beispiele dessen vor Augen zu stellen, was sie tun oder lassen sollten; weist man sie darauf hin, wie Personen, die sie kennen, handeln, knüpft man daran Bemerkungen über das Gefällige und Ungefällige ihres Tuns, so ist das wirksamer, sie zur Nachahmung anzuregen oder sie abzuschrecken, als alle Reden die man ihnen darüber halten könnte« (§ 82).
Diese Nachahmungsverwiesenheit des kindlichen Lernprozesses, der wesentlich eine Art Abschauen des Verhaltens Anderer ist, zeigt dabei auch, wie wichtig das soziale Milieu ist, in welchem ein Kind aufwächst. Lockes Empfehlung, eine gute Privaterziehung öffentlichen Schulen vorzuziehen, beruht in § 94 auf diesem Argument. Auch der antike Gedanke, die »Freiheit« nur von einem Vorbild erlernen zu können, welches diese selbst beherrscht, wird von ihm aufgegriffen. Dies tut er unter Verweis auf Solon, was man so verstehen kann, dass damit der politische Zweck angezeigt ist, den Locke der Einübung eines »bürgerlichen« [civil] Verhaltenshabitus zuschreibt.29 Es ist für Locke, der darin in seiner Zeit ein Vordenker der Tugendlehren des französischen Materialismus ist, kein Widerspruch, ein Kind die Form eines durch den Verstand angeleiteten, selbstreflexiven Handlungsvermögens einüben zu lassen. Wie schon beim sukzessiven Erlernen der Selbstdisziplin durch Anweisung Anderer bedarf es vielmehr dieser habituellen Grundlegung einer an Handlungspraktiken rückgebundenen Selbstreflexivität. Das Verhaltensmuster, das dabei erlernt wird, ist dasjenige eines Beachtenkönnens der intentionalen Wünsche des Anderen im subjektiven Handeln. Dies ist die Kernkompetenz, die allen »social virtues« zugrunde liegt. Die erzieherische Fokussierung des Kindes auf die praktische Nachahmung des beispielhaften Verhaltens Anderer steht für Locke nicht im Gegensatz dazu, »Kin-
28 29
Vgl. §§ 64, 65. Vgl. § 34.
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der als vernunftbegabte Wesen zu behandeln«30, im Gegenteil: Das Kind kann die durch die Eltern resp. den Vater durch praktische Anschauung vermittelten Verhaltensratschläge nur dann selbst ernst nehmen, wenn auch das elterliche Verhalten gegenüber dem Kind selbst eine für dieses berechenbare Verhaltenskonstanz aufweist. Eine Erziehungsinstanz, die für Locke ein Kind nicht in diesem Sinn als ein verständiges Wesen behandelt, schadet damit der eigenen »Autorität«: »Es setzt die Autorität der Eltern und die Achtung der Kinder herab; denn ich bitte dich, immer daran zu denken, dass sie früh zwischen Leidenschaftlichkeit und Vernunft unterscheiden; und da sie nur vor dem Achtung haben können, was aus der Vernunft entspringt, zeigen sie sehr schnell Verachtung für die Leidenschaftlichkeit; wenn diese auch für den Augenblick Einschüchterung bewirkt, so nutzt sie sich doch ab, und die natürliche Neigung lernt leicht solche Vogelscheuchen verachten, die Lärm machen, aber nicht von Vernunft durchdrungen sind« (Ged. § 77).
Das Verhalten der Eltern gegenüber dem Kind muss einer in den einzelnen Handlungen wiedererkennbaren, in sich konsistenten Handlungsrationalität folgen. Es ist »von Vernunft durchdrungen« [animated by reason] und als solches für das Kind einsehbar. Nicht gemeint ist damit, dass jede Handlungsanweisung der Eltern für das Kind rational nachvollziehbar sein muss, sondern das Kind soll in die Lage versetzt werden, auf erzieherische Anweisungen auf der Grundlage des bisher Gelernten eigenständig handelnd reagieren zu können, d. h. in die Lage versetzt werden, von sich aus angemessen (re-)agieren zu können – z. B. um Verzeihung bitten zu können und sich nicht einfach vor der Wut des Vaters fürchten zu müssen. Es ist dieser Appell an die Achtung vor dem sich entwickelnden Verstandesdenken des Kindes, der Lockes Erziehungskonzept heute noch einen aufklärerischen Charakter verleiht. Bemerkenswert ist hieran wiederum, dass diese Achtung vor dem kindlichen Verstand nicht darin zum Ausdruck kommt, ihm eine bestimmte klassische Bildung angedeihen zu lassen, sondern darin, das Kind vernünftig zu behandeln. Dabei beruht dieses rationale Umgehen miteinander für Locke wesentlich auf dem Erlernen einer bestimmten Form der »sozialen« Wechselseitigkeit, die es dem Kind erlaubt, auf die Verhaltenserwartungen Anderer rechnen – bzw. vertrauen – zu können. Hier mag der unterschwellige Konflikt zwischen Locke und Rousseau liegen, für den die subjektive Einübung dieser »sozialen« Abhängigkeit vom Blick der Anderen ein zutiefst ambivalentes Faktum bürgerlicher Vergesellschaftung ist, insofern es den Einzelnen seiner vorgeblichen, natürlichen Autonomie beraubt. Für Locke, der wiederholt den instrumentellen Charakter von »social virtues« betont, die den »jungen Gentleman« ja dazu in die Lage versetzen sollen, unter den Interaktionsbedingungen einer »civic society«31 für sich selbst zu sorgen, steht die Einübung des Achtenkönnens auf Andere unter einem nahezu umgekehrten Vorzeichen. Der § 81. Locke verwendet in den Gedanken die untypische Wendung »civic society« (im Gegensatz zu »civil society«) für die zwischenmenschliche Sphäre bürgerlichen Umgangs im Besonderen, d. h. im Sinn der späteren »Zivilgesellschaft«. 30 31
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Möglichkeitsraum persönlicher Autonomie wird in der Aneignung einer »sozialen« Disposition für ihn erweitert. Locke versteht den normierenden Blick der Anderen nicht als freiheitseinschränkend, sondern als freiheitsermöglichend. Das offenherzige Eingeständnis Lockes, nach dem im »geselligen Handeln« stets ein hintergründiges Eigeninteresse wirksam ist, bringt Rousseau – als den erklärten Verteidiger des einfachen Mannes, der solche Raffinessen nicht beherrscht – dabei so sehr gegen Locke auf, dass er ihn als zynischen Herrschaftstechnologen denunziert.
1.3.1 Rousseaus Kritik an Lockes Idee der Einübung von Freigiebigkeit und Höflichkeit Für Tarcov dreht sich der pädagogische Konflikt zwischen Rousseau und Locke um die methodische Funktion der habituellen Einübung oder Eingewöhnung in der Erziehung. Doch spielt auch das divergierende Autonomieverständnis Rousseaus und Lockes in diesem Konflikt eine Rolle: Das Gewöhnen eines Kindes an die Beachtung der Erwartungen Anderer wird von Rousseau als ambivalent und in seinem Sittlichkeitseffekt zuweilen sogar als negativ, von Locke dagegen als grundweg positiv betrachtet. Rousseau versteht die Einübung eines bestimmten Besorgtseins um die Erwartungen Anderer als für die Entwicklung von Autonomie nachteilig und lehnt diese daher ausdrücklich ab.32 Für Locke legt dieses Erlernen eines Bemühens um Andere umgekehrt erst das »soziale« Fundament späterer »civility«. Doch ist Tarcov darin rechtzugeben, dass es auch noch einen spezifisch methodischen Sinn gibt, in dem Rousseau und Locke hinsichtlich einer »Erziehung durch Gewöhnung« differieren. Dieser lässt sich am besten anhand dessen erläutern, wie Locke sich den Vorgang des Erlernens von »civility« und »liberality« vorstellt, mit dessen Betrachtung ich diesen Teilabschnitt abschließe. Hinsichtlich des Erlernens von »civility« weist Locke die Eltern an, bei der Beobachtung von Streitsituationen zwischen Kindern eine selbständige Befriedung dieses Streites unter den Kindern bewusst zu inszenieren. Daran, wie Locke sich den Eingriff der Eltern in zwischenkindliche Auseinandersetzungen vorstellt, lässt sich ersehen, wie dieser Eingriff nach seiner Vorstellung darauf zielt, die streitenden Parteien dazu zu bringen, ihre Konflikte »selbständig« beilegen zu können. Diese selbständige Konfliktbefriedung ist eine zunächst durch die Eltern bewusst herbeigeführte. Als »richterliche Instanz« sollen die Eltern nur verdeckt in einen kindlichen Konflikt eingreifen. Nur wenn ein Elternteil eine Handlung des einen Kindes gegenüber dem anderen beobachtet, »tadle es« dieses »vor der geschädigten Partei; bezieht sich die Klage aber auf etwas, von dem du keine unmittelbare Kenntnis hast und das von Bedeutung für die Verhinderung künftiger Vorkommnisse ist, dann stelle den Missetäter unter vier Augen zur Rede, außer Sichtweise des Klägers, und veranlasse ihn, hinzugehen und um Verzeihung zu bitten und Genugtuung zu leisten; das 32
Vgl. ex. Emile S. 236 Fn. 1.
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wird, da es den Anschein hat, als geschähe es aus freien Stücken, um so freudiger ausgeführt und freundlicher aufgenommen werden, die Liebe zwischen beiden wird sich festigen und Höflichkeit unter deinen Kindern zur Gewohnheit werden« (Ged. § 109).
Lockes Ziel ist, die »Höflichkeit […] zur Gewohnheit werden« zu lassen, und dafür ist es notwendig, diesen Habitus zunächst als Habitus einzuüben. An dieser Stelle ist es sinnvoll, sich die elterliche Anweisung zur selbständigen kindlichen Streitschlichtung als begleitet von verbalen Überzeugungsversuchen an die Adresse des Kindes vorzustellen. Entscheidend ist dennoch weniger die Einsicht des Kindes, als vielmehr die Ausführung der interaktiven Praxis, auf deren soziale Eigendynamik Locke spekuliert: Da das Friedensangebot, welches »den Anschein hat, als geschähe es aus freien Stücken, um so freudiger ausgeführt und freundlicher aufgenommen« werden wird, tritt die elterliche Manipulation in dem Moment in den Hintergrund, indem es zu der gewünschten, reziproken Rekognition zwischen den Kindern als freien Handlungsagenten kommt.33 Eine angemessene Beobachtung des Kindes schafft den Ansatzpunkt dafür, diesem eine Handlungsanweisung so zu erteilen, dass man dem Kind dabei das Gefühl gibt, das Handlungsziel sei sein eigener Wunsch gewesen. Nun wird es das, was es soll, von sich aus wollen. Es ist dabei entscheidend zu sehen, inwiefern für Locke die habituelle Einübung von Selbständigkeit diese als eine später von selbst geschehende erst möglich macht. Die neuere Entwicklungspsychologie stimmt Locke in diesem Punkt zu. Auch dort wird die Projektion eines bestimmten Subjektstatus auf das Kleinkind, d. h. dessen vorgängige Simulation, durch eine primäre Bezugsperson als notwendig für das Erlernen dieses Subjektstatus durch das Kind begriffen.34 Die Angewöhnung ziviler Umgangsformen greift von der habituellen Oberfläche mit der Zeit ins Subjektinnere durch und führt dann tatsächlich zu dem selbständigen Wunsch nach friedlicher Streitschlichtung. Der theoretische Konflikt zwischen Locke und Rousseau besteht in diesem Fall darin, aus welchem Motiv das Kind tatsächlich handelt. Rousseau beharrt darauf, dass das Kind in seiner Performanz von Selbständigkeit weiterhin schlicht seinen Bezugspersonen gefallen will. Locke würde darauf entgegnen, dies sei für die soziale Anerziehung von Selbstständigkeit zunächst notwendig. Sehr schön lässt sich dieser Konflikt am Anerziehen von »liberality« verdeutlichen, wobei hier Rousseaus Kritik, dass es entscheidend sei, zu verfolgen, welches Motiv das Kind lernt, mehr Tarcov fasst die diesbezügliche pädagogische Absicht Lockes wie folgt zusammen: »Civility initiated for an extrinsic purpose, whether in fulfillment of an imposed duty, as here, or in order to obtain the esteem, or simply the cooperation, of others, as in other cases, can become genuine civility by eliciting civility on the part of others, which in turn elicits one’s own esteem for them.«; ebd., S. 138. 34 In der neueren Entwicklungspsychologie ist es in den letzten Jahren zu einer Wiederaufwertung des Mechanismus der Projektion gekommen, indem die Genese des Ichs als abhängig von der Ansprache des Kindes (durch eine primäre Bezugsperson) als Wesens mit eigenen Wünschen und einem psychischen Innenleben verstanden wird. Dies gilt vor allem für den Ansatz von Peter Fonagy und Mary Target; vgl. Fonagy/Target 2007. 33
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Berechtigung hat: »Alle Beispiele«, wie Locke in § 110 ausführt, die ein Kind »von […] Freigiebigkeit gibt, sollten sich immer bezahlt machen, und zwar mit Zinsen; und lass es ihm spürbar deutlich werden, dass die Freundlichkeit, die e[s] Anderen erweist, für [es] selbst kein schlechtes Wirtschaften bedeutet, sondern die Erwiderung der Freundlichkeit sowohl seitens des Empfängers als auch seitens der Zuschauer zur Folge hat« (ebd.). Das Erlernen der »Freigiebigkeit« [liberality] will Locke dadurch absichern, dass die Eltern dafür sorgen, dass ein Kind für seine »liberality« immer einen höheren Gegenwert zurück erhält. Die Befolgung dieses Erziehungsratschlages impliziert in diesem Sinn die Möglichkeit einer bewussten Manipulation der ersten »sozialen« Erfahrungen. Denn nur so kann es gelingen, das Kind diesen »großzügigen« Habitus einüben zu lassen. Für Rousseau aber korrumpiert diese Tauschlogik ein Kind gerade, weil es dann lernt, für seine Großzügigkeit einen aufrechenbaren und sogar höheren Gegenwert zu erwarten. Rousseau kommentiert diese Anweisung Lockes im Emile daher mit der Bemerkung, ein Kind würde auf diese Art und Weise »nur scheinbar freigiebig, in Wirklichkeit aber geizig«.35 Wie auch im Fall der Anerziehung von »civility« handelt es sich für Locke jedoch lediglich um die Initiation eines Habitus, der sich dann unabhängig von seinem ursprünglichen Movens verfestigen soll. Dennoch ist in diesem Fall die Kritik Rousseaus weniger leicht von der Hand zu weisen, wenn man die Anerziehung von »liberality« so versteht, dass diese eigentlich auf die Verinnerlichung einer Disposition zum Wohlwollen an sich – also ohne Gegenleistung – zielt. Rousseau versteht Freigiebigkeit auf diese – keine Gegenleistung erwartende – Art und Weise, was deutlich wird durch die von ihm beschriebene erzieherische Alternative, dem Kind diese Freigiebigkeit einfach vorzuleben: »Anstatt von dem meinigen [Zögling, DS] schon früh [selbst] Akte der Wohltätigkeit zu fordern, vollziehe ich sie lieber selbst in seiner Gegenwart und nehme ihm sogar die Möglichkeit, es mir gleichzutun, da es um eine Ehre geht, die nicht seines Alters ist« (ebd.). An dieser Stelle kann man gut sehen, dass Rousseaus Emile und Lockes Gedanken über Erziehung beides pädagogische Ratgeberwerke sind, die in ihrem methodischen Grundverständnis der Beschreibung des Erziehungsvorgangs als einer nachahmenden Anähnelung des Kindes an seine Bezugspersonen identisch sind. Beim Anerziehen von »liberality« geht es Locke um etwas ganz anderes als um die Verinnerlichung einer kindlichen Disposition zu Akten eines selbstlosen Wohlwollens, als die Rousseau »Freigiebigkeit« [liberalité] versteht. Locke geht es hier im Gegenteil um die Anerziehung eines Habitus der Großzügigkeit zwischen gleichwertigen Besitzenden. Dieser Habitus beinhaltet faktisch, einen Gegenwert erwarten zu dürfen. »Liberality« als späteres »Win-Win« hat als soziale Tugend einer Führungselite, die sich gemeinsam bereichert, bei Locke mehr einen handfesten als einen moralischen Sinn. Dies ist die Art und Weise, wie der »junge Gentleman« lernt, im Geschäftsleben zu agieren. Man will u. U. keinen »geizigen« Freund ha35
Emile 2. Buch, S. 233.
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ben, doch vor allem will man keine Geschäfte mit jemandem machen, der nicht darauf bedacht ist, gezeigte Gefälligkeiten zu erwidern. Auch hier geht es daher um die Vorbereitung auf die kommende Konkurrenzsituation im Selbsterhaltungskonflikt, in dem man stets darauf bedacht sein sollte, »liberal« zu bleiben: »Mach daraus einen Wettstreit unter deinen Kindern, die in dieser Hinsicht einander übertreffen sollen; und wenn auf diese Weise und durch ständige Gewohnheit es ihnen leicht geworden ist, sich von dem ihrigen zu trennen, wird Gutmütigkeit ihnen zu fester Gewohnheit werden, und sie werden Gefallen daran finden und es sich zur Ehre anrechnen, Anderen gegenüber freundlich, freigiebig und höflich zu sein« (§ 110).
1.4 Lockes Sanktionsinstrument der Beschämung durch den Entzug von Anerkennung In seiner Diskussion der Motivationskraft des »Greater Good« (1.2) beharrt Locke darauf, dass sie erst dann gegeben ist, wenn das Individuum zuvor auch ein Bedürfnis nach diesem »Greater Good« verinnerlicht hat. Diese Internalisierung bewirkt im Individuum ein Grundgefühl von »uneasiness«, das es antreibt, diese »uneasiness« zu überwinden. Wie bereits hervorgehoben, ist bemerkenswert an Lockes Diskussion des »Greater Good« deren sozialpsychologische Qualität, die sich darin zeigt, was für dieses »größere Gut« alles eingesetzt werden kann: Der Begriff kann als Synonym für die christliche Erlösung gelten – sofern noch an diese geglaubt wird –, aber es lässt sich für das größere Gut, je nach subjektiver Präferenz, auch schon, wie Locke bemerkt, die einfache Vermehrung von Reichtum setzen.36 Lockes Idee der zuvorigen Verinnerlichung eines Gefühls der Ermangelung, die ein Begehren hervorrufen soll, lässt sich auch als sein Modell für die Art und Weise verstehen, wie dem Kind ein bestimmtes Anerkennungsbedürfnis anerzogen wird. Besonders im resümierenden Schlussparagraphen der Gedanken über Erziehung klingt es so, als wäre das Bedürfnis nach Anerkennung – als das prinzipielle Verlangen, gelobt zu werden – lediglich anerzogen: »I know nothing which so much contributes [to education, DS], as the love of praise and commendation, which should therefore be instilled into [a young man, DS] by all arts imaginable« (§ 200). Das Verb »instill« legt nahe, dass das Verlangen nach Lob und Anerkennung einem Kind überhaupt erst anerzogen werden muss. Schaut man aber auf die Gesamtdiskussion des Anerkennungsthemas, fällt auf, dass Locke Kindern zumindest eine bestimmte »Empfänglichkeit« [sensibility] dafür zuspricht, gelobt werden zu wollen und Anerkennung zu erfahren. Sein Punkt ist, dass es nun gilt, diese »Empfänglichkeit« dafür nutzbar zu machen, dem Kind eine bestimmte Form des Begehrens nach gesellschaftlichem Ansehen anzuerziehen. Anders als Rousseau will Locke das Begehren nach dem Zuspruch Anderer in der Erziehung nicht beschwichtigen und
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Vgl. Versuch 2.21.44.
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von der späteren Abhängigkeit vom Lob Anderer entlasten, sondern er möchte diese Abhängigkeit im Gegenteil verstärken. Die Eltern, die dem Kind ein Verlangen nach deren Lob erst anerziehen sollen, sollen dieses Lob dann gezielt entziehen und an die Performierung bestimmter Verhaltensweisen durch das Kind koppeln. Das Selbstwertempfinden des Kindes soll daran gebunden werden, dass es auf seinen »guten Ruf« achtet. Locke lässt sich so verstehen, dass er dazu rät, ein Anerkennungsbedürfnis des Kleinkindes, das zunächst in dessen existentieller Abhängigkeit von den Eltern gründet, in einer ritualisierten Art und Weise zu befriedigen, bei der ein Kind bestimmte habituelle Gepflogenheiten einübt. Diese habituellen Gepflogenheiten sind keine erste Natur in dem Sinn, dass sie von sich aus identisch sind mit jeder denkbaren Form reziproker Anerkennungsmechanismen, sondern die Einübung dient genau dazu, bestimmte soziale Interaktionsweisen wie eine zweite Natur zu verinnerlichen. In der folgenden Detailanalyse wird zuerst der instrumentelle Charakter von Anerkennung als eines Mittels zum Zweck der Verstärkung und Sanktion bestimmter Verhaltensweisen dargelegt. Daraufhin wird deutlich gemacht, dass Locke zumindest das Vermeiden von Beschämung als so tief in der menschlichen Psyche verankert ansieht, dass es als mehr als nur als Mittel zum Zweck der Verinnerlichung von etwas anderem – z. B. von Selbstdisziplin und Fleiß – gelten kann. Abschließend wird der »gute Ruf«, wie Locke ihn als sozial geteilten »common sense« darlegt, als Vorform eines geteilten »moralischen Sinns« im Sentimentalismus verstanden.
1.4.1 Detailanalyse: Die Verinnerlichung des Wunsches nach einem guten Ruf Nachdem Locke in § 56 die Entdeckung der kindlichen »Empfänglichkeit« [sensibility] für Lob und Anerkennung als »das große Geheimnis der Erziehung« bezeichnet hat, beginnt er in § 57 die pädagogische Ausnutzung dieser »Empfänglichkeit« gezielt zu diskutieren. Es geht um einen inneren, quasi-organischen Anschluss an den Willen des Kindes, der – im Gegensatz dazu – durch »Drohungen oder Schläge« als bloß äußerliche Sanktionsformen verfehlt wird: »Erstens sind Kinder (vielleicht früher als wir meinen) sehr empfänglich für Lob und Anerkennung. Es tut ihnen wohl, geachtet und geschätzt zu werden, besonders von ihren Eltern und von denen, von denen sie abhängig sind. Wenn daher der Vater sie liebkost und lobt, wenn sie artig sind, dagegen eine kalte und abweisende Miene aufsetzt, wenn sie unartig gewesen sind, und wenn die Mutter und alle anderen, die mit ihnen zu tun haben, dem Vater durch gleiches Verhalten beipflichten, so werden die Kinder in kurzer Zeit den Unterschied spüren; und wenn das beständig befolgt wird, wird es zweifellos von selbst mehr als Drohungen oder Schläge wirken, die ihre Macht verlieren, wenn man sich einmal an sie gewöhnt hat, und nutzlos sind, wenn sie nicht von dem Gefühl der Schande begleitet sind, und daher vermieden und nie angewendet werden sollten, außer in dem später erwähnten Falle, wenn es zum äußersten kommt« (ebd.).
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Der »später erwähnte Fall[…]«, in dem es »zum äußersten kommt«, wird sich als »Widersetzlichkeit« [obstinancy] herausstellen. Unter »Widersetzlichkeit« versteht Locke die kindliche Verweigerung des Erlernens von Selbstdisziplin, die soziale Handlungskompetenz erst bedingt. Tarcov versteht Locke in § 57 so, dass er den erzieherischen Rat gibt, Eltern sollten das kindliche Gewahrwerden der eigenen Abhängigkeit bewusst herbeiführen und gezielt ausnutzen.37 Auffällig ist, dass Lokke den Topos »Lob und Anerkennung« [praise and commendation] zunächst im Rahmen der Diskussion von »rewards and punishments« zur Sprache bringt. Die Praxis des Lobens – und bewussten Ignorierens – des Kindes soll an die Stelle seiner Sanktionierung durch »Schläge und Schelte« (§ 59) treten. Der Zweck, der für Locke in der wiederholten Anreizung des Verlangens danach, gelobt zu werden, liegt, ist nicht zuletzt, dass die spätere Verweigerung dieses Lobs – ein bewusstes Zeigen von Gleichgültigkeit gegenüber dem Kind – ein Gefühl der »Scham« [shame] verursacht und der Erziehungsinstanz so ein alternatives und qualitativ hochwertigeres Sanktionsinstrument kindlichen Verhaltens zur Verfügung steht. Dieses Sanktionsschema der gezielten Abweisung setzt Locke nicht nur der Erziehungsmethode entgegen, »Kinder durch Schläge zurecht[zu]w[ei]sen«, sondern auch derjenigen, wie er in § 77 hinzufügt, Kinder durch »häufiges und besonders leidenschaftliches Schelten« [chiding] zu bestrafen, das für ihn »fast ebenso folgenschwer« wie »jene rohe Zucht der Rute« darin ist, ein Kind demotivieren zu können. Das Motiv, aus dem heraus ein Kind sein Verhalten modifiziert, das befürchtet, geschlagen oder ausgeschimpft zu werden, ist das der Vermeidung dieser Strafe. Nach Lockes Kritik »[erzeugt] eine solche Art sklavischer Zucht […] eine sklavische Wesensart« (§ 50). Bemerkenswert ist, dass Locke die Differenz von repressiver und ermächtigender Motivation dabei nicht einfach parallel zur Unterscheidung einer am Körper ansetzenden und einer am Geist ansetzenden Sanktion zieht. Wie Locke in § 51 feststellt, verwandelt eine »auf die Spitze getriebene Strenge« das Kind in »ein niedergeschlagenes, trübseliges Geschöpf«. Die übermäßige erzieherische Repression »zerbricht den Geist« und erzeugt ein »stille[s] und energielose[s] Kind[…]«, das »sein Leben lang sich selbst und Anderen unnütz sein wird« (ebd.). Doch auch in Bezug auf § 51 – wo immerhin die Rede davon ist, dass der »Geist« des Kindes »zerbricht« [breaking the mind] – scheint es mir unangemessen, davon zu sprechen, Locke würde hier aus normativen Gründen für ein alternatives Erziehungsmodell plädieren, wie Phillip Pettit nahelegt, wenn er Locke als einen Vertreter der republikanischen Kritik am »sklavischen Charakter« des späten 17. Jahrhunderts versteht.38 Dies wird besonders klar dann, wenn man sich Lockes Argument für die Wirksamkeit seines methodischen Ansatzes vergegenwärtigt. Denn wie er in § 57 ja deutlich macht, beruht für ihn die Wirksamkeit seiner Erziehungsmethode darauf, dass es sich bei »Eltern« um Personen handelt, »von 37 38
Vgl. Tarcov, S. 102. Vgl. Pettit 2016, S. 136.
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denen [Kinder] abhängig sind« (ebd.). Locke scheint demnach davon auszugehen, dass es sich bei dem kindlichen Begehren nach »Lob und Anerkennung« der Eltern deshalb um ein existentiell bedeutsames Bedürfnis handelt, weil das sich noch nicht selbst erhalten könnende Kind für seine Fortexistenz auf Andere angewiesen ist. Lockes Erziehungsmethode ist keineswegs als eine für das Kind angstfreie zu verstehen und verglichen mit heutigen pädagogischen Anerkennungstheorien nicht bloß in der Wortwahl deutlich rigider. Gleichzeitig zeigt diese frühe pädagogische Anerkennungstheorie, dass Anerkennung und Beschämung in der Pädagogik nicht prinzipiell unvereinbar sind. Der Unterschied zu heutigen Pädagogiken der Anerkennung besteht darin, dass bei Locke die Anerziehung des Bedürfnisses nach »Achtung« [esteem] so verlaufen soll, dass das Kind im Fall seiner Sanktionierung – durch den Entzug dieser »Achtung« – gezielt beschämt wird. Heute verstehen sich Pädagogiken der Anerkennung dagegen als Gegenmodelle zu einer Pädagogik der Beschämung.39 Locke aber schreibt: »Achtung [esteem] und Schande [disgrace] sind vor allem anderen die mächtigsten Antriebe für den Geist, wenn er einmal dazu gebracht worden ist, sie zu würdigen. Wenn man die Kinder nur einmal so weit hat, dass sie gutes Ansehen schätzen und Schande und Entehrung fürchten, dann hat man den wahren Grundsatz in sie gelegt, der beständig wirken und sie in die rechte Richtung weisen wird« (Ged. § 56).
Die Kinder sollen »gutes Ansehen schätzen«, aber auch »Schande und Entehrung fürchten« lernen. Worauf es demnach bei der erzieherischen Umorientierung in der von Locke vorgeschlagenen Art und Weise ankommt, ist nicht etwa, das System von »Lohn und Strafe« aufzuheben (denn »Behagen und Unbehagen, Lohn und Strafe, sind die einzigen Beweggründe eines vernunftbegabten Wesens«40), sondern dessen Wertkoordinaten ins richtige Verhältnis zueinander zu bringen. Das durch dessen Abweisung im Kind wachgerufene »Gefühl der Schande« (§ 57) muss im Verhältnis zum Sanktionsinstrument der körperlichen Züchtigung in der richtigen Gewichtung stehen, insofern dieses »Gefühl der Schande« (ebd.) für das Kind auch im Fall seiner körperlichen Züchtigung das dominante Gefühl – die größere Bestrafung – darstellen muss. Wenn die Locke’sche Erziehung greift, muss »die aufrichtige Scham und die Furcht, zu missfallen«, den »Schmerz der Rute« bei weitem überwiegen (§ 60). Die genaue Ausmalung der Art und Weise der psychosozialen Sanktion des Entzugs der Anerkennung ist das Hauptthema der folgenden beiden Paragraphen § 58 und § 59. Hier kommt noch eine weitere Ambivalenz ins Spiel, die durch die Frage ausgedrückt werden kann, ob Anerkennung etwas ist, das man um seiner selbst willen begehrt, oder ob man vor allem deshalb nach ihr verlangt, weil sie als Folge ihrer selbst dazu ermächtigt, andere Dinge zu tun, zu denen man sonst keine Möglichkeit hat – was einem im Verlangen nach Anerkennung bewusst ist. Auffallend ist, dass für Locke – was Rousseau erneut scharf kritisiert – dem Kind die Verbin39 40
Vgl. ex. Hafeneger 2013, S. 67 f. Ged. § 54.
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dung der Anerkennung mit anderen Vorteilen selbstverständlich gemacht werden soll. In § 58 beharrt Locke darauf, dass dem Kind begreiflich gemacht werden muss, dass ein bestimmtes Reputationsniveau vorteilhaft für das Erlangen von materiellen bzw. Genussgütern ist. Die Anerkennung soll hier dem Kind als Mittel zum Zweck des Erlangens von etwas anderem nähergebracht werden – während Shaftesbury dagegen später behaupten wird, von Anderen geliebt zu werden, sei selbst der größte Genuss: »Zweitens aber, um das Gefühl für Achtung oder Schande tiefer zu gründen, und um ihm um so mehr Gewicht zu geben, sollten andere angenehme oder unangenehme Dinge diese unterschiedlichen zwei Zustände ständig begleiten, nicht als besondere Belohnungen oder Strafen für diese oder jene besondere Tat, sondern als Dinge, die mit Notwendigkeit denjenigen ständig und regelmäßig betreffen, der sich durch sein Verhalten selbst in den Zustand der Schande oder der Belobigung gebracht hat. Wenn man Kinder so behandelt, werden sie, soweit sie nur können, begreifen lernen, dass diejenigen, die wegen ihrer Artigkeit gelobt und geachtet werden, notwendigerweise auch von jedermann geliebt und geschätzt werden und alle anderen Dinge als eine Folge davon genießen, und dass andererseits jemand, der durch schlechtes Benehmen in Missachtung geraten und nicht darauf bedacht ist, seinen guten Ruf [credit] zu wahren, unvermeidlich der Geringschätzung und Verachtung anheimfallen wird und in diesem Zustand folgerichtig alles entbehren muss, was ihm Befriedigung oder Vergnügen bereiten könnte« (Ged. § 58).
Lockes Verwendung kleiner Genussgüter als in Aussicht gestellte Handlungsanreize dafür, dem eigenen »guten Ruf« gemäß zu handeln, provoziert erneut die Kritik Rousseaus, der einwendet, dass man die Tugend dann nur deshalb begehre, weil sie einem mittelbar materiellen Genuss verschafft. Es scheint tatsächlich etwas bedenklich, wie Locke hier die Verkopplung von Anerkennung und materiellem Genuss als etwas darstellt, an das ein Kind gewöhnt werden soll. Nach heutigem Forschungsstand zur »sozialen Natur« wäre diese Verdoppelung der Motivation eher nachteilig, weil sie von der eigentlichen Motivation (dem Zuspruch selbst) gerade ablenkt.41 Zu Lockes Verteidigung lässt sich vorbringen, dass er in § 58 darum bemüht ist, dem Kind begreiflich zu machen, dass es »Achtung« als einen Zustand von Dauer anstreben sollte. Nur so belegt das Kind in seinem Verhalten die Wahrhaftigkeit seiner Tugendbemühungen, und erst dies sollte auch die Sicherung materieller Genussgüter nach sich ziehen. Tarcov macht hierbei allerdings wohl zu Recht darauf aufmerksam, dass der Rigorismus der Methode, kleine Belohnungen daher nicht an bestimmte konkrete Teilaufgaben zu koppeln, sich bei kritischer Inbetrachtnahme der daraus folgenden Erziehungspraktiken nicht halten lässt.42 Auch wenn das, was Locke meint, hier nicht schwer zu verstehen ist: Man soll für eine konkrete Aufgabe keine konkret daran gekoppelte Belohnung in Aussicht stellen, um die intrinsische Motivation – für z. B. das Lesen eines Buchs – nicht zu ersticken, ist es dennoch nicht vermeidbar, dass ein Kind aufgrund seiner Erfahrun41 42
Vgl. Tomasello 2002. Vgl. Tarcov, S. 100 f.
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gen in einer solchen Situation – zumindest auch – auf konkrete Belohnungen kalkuliert. Die Form kluger Kalkulation auf einen aus dem eigenen Verhalten folgenden Vorteil soll es zudem ja lernen. Daran, dass Locke nun in § 59 die Beschämung des Kindes – ohne einen aus dieser Beschämung folgenden anderweitigen, z. B. den Genuss von Süßigkeiten betreffenden, Nachteil – selbst als effektive Strafsanktion versteht, zeigt sich m. E. doch, dass er ein basales Zuspruchsbedürfnis für etwas von sich aus nach Befriedigung verlangendes hält. An § 59 ist zudem bemerkenswert, wie Locke die Effektivität dieser Sanktion durch soziale Abweisung für davon abhängig hält, dass sie von allen Bezugspersonen der kindlichen Lebenswelt – und damit Psyche – geteilt wird: »Wenn der Vater oder die Mutter unfreundlich auf das Kind hinabschauen, sollte jeder Andere ihm die gleiche Kälte entgegenbringen und keiner ihm die Gunst erweisen, bis erbetene Verzeihung und Wiedergutmachung des Vergehens wieder alles in Ordnung gebracht und ihm die frühere Achtung zurückgegeben haben. Wenn man dies beständig beachtete, würde man, vermute ich, wenig Schläge und Schelte nötig haben: das eigene Wohlbehagen und die eigene Befriedigung würde die Kinder schnell lehren, nach Lob zu trachten und zu vermeiden, was erfahrungsgemäß jedermann verdammt und wofür sie mit Sicherheit leiden müssten, ohne gescholten oder geschlagen zu werden. Dadurch würden sie Bescheidenheit und Scham lernen und schnell dahin kommen, natürlichen Abscheu vor dem zu empfinden, was ihnen nach ihrer Erfahrung Verachtung und Missbilligung seitens aller eingebracht hat« (ebd.).
Betrachtet man diese Ermahnung im Zusammenhang mit den mannigfachen Äußerungen Lockes über die fehlende Disziplin der Dienerschaft, die ich hier nicht zitiere43, richtet sich die Ermahnung Lockes an dieser Stelle einerseits selbst an diese Dienerschaft und ist andererseits als Hinweis gemeint, diesbezüglich auf das eigene Hauspersonal zu achten. Auch wenn mit dem affektiven Entzug der »Gunst« des sozialen Umfeldes des Kindes noch materielle Sanktionen verknüpft sind, scheint es doch hier vor allem um eine Sanktionierung des Kindes über diese emotionale Abweisung selbst zu gehen. Und diese greift deshalb nur dann, wenn es nicht jemanden gibt, der diesen Raum der Abgeschlossenheit durchbricht. Der zuletzt zitierte § 59 ist noch unter einem anderen Aspekt bemerkenswert, der von dem Erziehungsfokus wegführt und hinzielt auf die Frage, inwiefern sich Locke trotz des selbsterhaltungsbezogenen Instrumentalcharakters seiner Vorstellung von »social virtues« als Vorbereiter einer Philosophie des moralischen Sinns verstehen lässt. Insofern sich der Ratschlag an die Erziehungsverantwortlichen richtet, lässt er sich so verstehen, dass diese ihren »common sense« – ihr mit Anderen geteiltes soziales Urteil – vor dem Kind aufeinander abstimmen sollen. Das Kind lässt man so lernen, welche Verhaltensweisen es sind, die »erfahrungsgemäß jedermann« ablehnt und daher die »Verachtung und Missbilligung seitens aller« nach sich ziehen. Dieser Aspekt der erzieherischen Vermittlung eines sittlichen »common sense« lässt sich als Nähe dessen, woran Locke das Kind gewöhnen will, zur späteren Idee eines sozial geteilten moralischen Sinns bei Hutcheson und Shaftes43
§§ 19, 59, 68, 69, 76, 89, 107, 117, 138.
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bury verstehen. Dazu, dass dieser Gemeinsinn bei Locke zunächst internalisiert werden muss, passt eine polemische Anmerkung Bertrand Russells: »John Locke invented common sense, and only Englishmen have had it ever since!«44 Und diese Einübung ist genau darin eine über die Zeit der Kindheit hinausgehende, indem die an das Anerkennungsbedürfnis anknüpfende Verinnerlichung eines Gefühls für das der »sozialen« Situation angemessene Verhalten auch später verbunden bleibt mit der Wahrung des eigenen »guten Rufs«. Genau in diesem Sinn eines »geselligen« Grundgerüsts, an dem man sich im eigenen Urteil orientiert, handelt es sich beim »guten Ruf« Lockes bereits um das identische Modell zu der verhaltensanleitenden Funktion von sozial geteilter »sympathy« bei Shaftesbury: »Was den guten Ruf [credit] betrifft, so will ich nur noch dieses eine dazu anmerken, dass er zwar nicht die wahre Grundlage und das Maß der Tugend ist (denn dieses besteht darin, dass der Mensch seine Pflicht erkennt, und in der Befriedigung seinem Schöpfer zu gehorchen, indem er den Geboten jenes Lichts folgt, das Gott ihm verliehen hat, mit der Hoffnung, erhört und erlöst zu werden), dass er diesem jedoch am nächsten kommt: und da er das Zeugnis und der Beifall ist, den die Vernunft anderer Menschen wie durch allgemeine Übereinkunft tugendhaften und rechtschaffenen Handlungen zollt, ist er der geeignete Führer und eine Ermunterung für Kinder, bis sie fähig werden, für sich selbst Entscheidungen zu treffen und durch eigene Vernunft herauszufinden, was recht ist« (Ged. § 61).
Locke beharrt zwar darauf, dass der Wahrheitsgehalt des moralischen Gemeinsinns nicht dem der geoffenbarten Religion entspricht. Dies steht im Einklang mit seinen wahrheitstheoretischen Ausführungen im 4. Buch seines Versuchs über den menschlichen Verstand, wo die Bezeugung der Wahrheit durch Offenbarung – also Übereinstimmung mit dem Bibeltext – immer noch über der Bewahrheitung durch weltliche Empirie steht.45 Dennoch muss man bedenken, dass in seinen Gedanken über Erziehung an keiner Stelle von einer besonderen handlungsanleitenden Funktion der Religion im Alltag die Rede ist, was auch für seine andere Schrift zur praktischen Lebensführung, Conduct of the understanding, gilt. Die Aussage, dass der »gute Ruf« zwar nicht das »Maß der Tugend« ist, »diesem jedoch am nächsten kommt«, kann daher auch so verstanden werden, dass der »gute Ruf« diesem Maß immerhin nah kommt. Bei Shaftesbury wird sich die Wertigkeit der Argumente insofern umkehren, als dass der »gute Ruf« deshalb, weil er das öffentliche Urteil bezeugt, mehr natürlich-religiösen Wahrheitsgehalt in sich birgt, als es ein nur durch textliche Überlieferung tradierter Gottesglaube könnte. Offenbar muss man dafür darauf vertrauen, dass die Kriterien, nach denen diese Öffentlichkeit urteilt, angemessene sind, d. h. einen »moralischen Sinn« annehmen.
44 45
Zit. n. Dennett 1995, S. 26. Versuch 4.19.4.
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1.5 Die das Ich begleitende Furcht vor den Anderen und die Einfühlung als Antidot Indem das Kind den sozialen Umgang mit Anderen erlernt, lernt es auch seine Furcht vor diesen Anderen zu überwinden.46 Die Sorge um möglicherweise feindliche Handlungsmotive der Anderen bleibt für Locke in der sozialen Situation präsent, und der »junge Gentleman« muss lernen, diese Angst zu beherrschen. Wenn die Sorge um die Absichten der Anderen sich aber zu einem Zustand paranoischer Angst vor diesen Anderen – wie im Hobbes’schen »Naturzustand« – steigert, kommt man in das von Hobbes beschriebene Interaktionsdilemma hinein, dass das eigene misstrauische Verhalten auf einen Anderen so befangen wirkt, dass dieser Andere selbst misstrauisch wird. Hobbes und Locke haben beide die Vorstellung, dass der Ausgangspunkt zwischenmenschlicher Interaktion die Überwindung der Furcht vor dem Anderen ist. Dies gelingt dadurch, dass man sich imaginär in die Perspektive des Interaktionspartners hineinversetzt und sich so vergewissert, dass dieser Andere keine malignen Motive verfolgt. Dies ist für Hobbes der Sinn der »Goldenen Regel«.47 Auch bei Locke steht diese Befähigung zur imaginären Perspektivübernahme noch im Zeichen einer dadurch erst erzielten Befriedung einer vorgängigen Konfliktsituation. Der nur in der Einbildung gelingende Versuch des Ichs, sich vorzustellen, wie die jeweilige Situation sich aus der Sicht des Anderen darstellt, überwindet mit dieser Vorstellungsbarriere zwischen beiden – so die Vorstellung von Hobbes und Locke – auch die grundlegende Furcht davor, dass der Andere einem Böses will, die – solange sie noch gegeben ist – den kalkulierenden Verstand immer dazu reizt, einen Präventivschlag auszuführen. Aber der ethische Makel von Lockes Vorstellung von imaginärer Perspektivübernahme ist, dass diese innere Vergegenwärtigung der Perspektive des Anderen einen offen instrumentellen Zweck verfolgt. Dabei ist der offene Umgang damit, den Anderen nur als Mittel eigener Interessen zu sehen, sicher ein Grund dafür, warum diese frühen Modelle bürgerlich-geselliger Interaktion – Kants »ungesellige Geselligkeit« – bis heute als Beweisgrund für die Heuchelei bürgerlicher Moral herhalten müssen. Wie bereits angedeutet, muss dabei allerdings beachtet werden, dass die Benutzung des Anderen für meine Zwecke impliziert, dass ich mich Anderen ebenso zur Verfügung stelle: Der Kontakt zwischen »Gentlemen« wird als dem beiderseitigen Vorteil dienend gedacht und war dies vermutlich auch häufig. Der Andere ist für das Ich noch nicht der »soziale« Halt, wie dies im Sentimentalismus gedacht ist, sondern eher ein Handelspartner, mit dem es sich einzulassen lohnt. Das Soziale ist der Ort dieses Tauschhandels. An diesem Handel teilnehmen zu können, setzt die Kenntnis der Regeln des »Benehmen[s]« und der »guten Lebensart« voraus. Auf deren Aneignung zielt die Erziehung:
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Vgl. § 94. Vgl. E 2.17.9, DC 3.26, zit. in. Kapitel 4, Fn. 4.
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»[Es] bedarf […] zweierlei: erstens einer inneren Neigung, Andere nicht zu verletzen, und zweitens der gefälligsten und angenehmsten Weise, jener Neigung Ausdruck zu geben. Nach dem einen bezeichnet man Menschen als höflich und gesittet [civil], nach dem andern als weltmännisch [well-fashioned]. Letzteres ist jene Schicklichkeit und jener wohlgefällige Anstand in Blicken, Stimme, Worten, Gebärden und dem ganzen äußeren Sichgeben, das die Gesellschaft für uns einnimmt und diejenigen, mit denen wir verkehren, sich wohl fühlen lässt und angenehm berührt. Es ist sozusagen die Sprache, in der die innere Höflichkeit des Herzens sich ausdrückt […] Der andere Teil, der tiefer liegt als das Äußere, sind jenes allgemeine Wohlwollen und jene Rücksichtnahme gegenüber anderen Menschen, die jedermann darauf bedacht sein lassen, in seinem Benehmen keinerlei Geringschätzung, Missachtung oder Nachlässigkeit gegenüber Anderen an den Tag zu legen, sondern jedem entsprechend seinem Rang und seiner Stellung […] Achtung und Wertschätzung zu erweisen. Es ist eine Geisteshaltung, die sich im Benehmen zeigt und durch die man vermeidet, dass der Andere sich im geselligen Umgang unbehaglich fühlt« (Ged. § 143).48
Auch wenn es in Lockes Tugendlehre um die Aneignung eines Verhaltenshabitus geht, der bewusst der eigenen Selbsterhaltung dient, gelingt dieses »soziale« Verhalten dennoch für Locke nur dann, wenn in ihm eine »innere Neigung, Andere nicht zu verletzen«, tatsächlich zum »Ausdruck« kommt. Genau darin aber, dass man den Eindruck erwecken können muss, dass einem bestimmte charakterliche Eigenschaften zu eigen sind, liegt das Topos der Vortäuschung, das die moralische Kritik auf den Plan ruft. Rousseaus Kritik am bürgerlichen Als-jemand-Erscheinen [paraître] richtet sich genau gegen diese Idee »vorgetäuschter« Zivilität. Locke wird von bürgerlichen Pädagogen gegen den Heucheleivorwurf häufig mit dem Verweis darauf verteidigt, dass es ihm um einen im Kern redlichen Charaktertyp geht, dessen innere Anbindung an ein bestimmtes Tugendregime sicherstellt, dass dieser Charaktertyp tatsächlich keine böswilligen Absichten verfolgt.49 Aber Lockes Position lässt sich in diesem Punkt auch radikaler interpretieren. Denn man kann ihn auch so verstehen, dass eine bestimmte Form subjektiver Verstellung für die Herstellung von »civility« notwendig ist. Dies würde ihn stärker in die Tradition der französischen »Honnêteté« als zivilisierter Handlungskunst des französischen Hochadels und der dort praktizierten, älteren Moralistik stellen.50 Es mag sein, dass ich einem Anderen innerlich Böses will, aber der Punkt ist zunächst einmal, ob ich diese Boshaftigkeit äußerlich auslebe oder innerlich beherrsche. Insofern Locke die Effektivität von »civility« als von der Wahrhaftigkeit des Handlungsmotivs unabhängig versteht – wie auch seine in 1.3.1 diskutierte Anerziehung von »civility« zeigt –, wendet er sich gegen gesinnungsethische Auffassungen von Moral allgemein. Es scheint für Locke weniger entscheidend zu sein, aus welchem
48 Die zwei von mir vorgenommen Auslassungen aus dieser längeren Passage diskutieren das Zeigen von Zuneigung im Verhältnis zur Kenntnis von »Brauch und Sitte« des Landes; vgl. Ged. ebd., S. 175. 49 Vgl. ex. Weimer 1992, S. 101 f. 50 Vgl. Keohane 1980. Schon die Zentralstellung von »uneasiness« sieht Paul Rahe als Lockes Verarbeitung von Montaignes Auffassung, dass die Ruhelosigkeit [inquiétude] die Grundverfassung des modernen Menschens sei; vgl. Rahe 2010.
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Grund jemand »höflich« ist, als vielmehr, dass er es ist. Denn die Faktizität des Verhaltens schafft die zivile Atmosphäre, um deren Herausbildung es Locke geht. Lockes Desiderat der Internalisierung einer »inneren Neigung, Andere nicht zu verletzen«, sollte daher nicht so verstanden werden, dass diese »Neigung« einen Charaktertyp hervorruft, der sich vermeintlich nie mehr boshaft gegenüber Anderen verhält. Es geht vielmehr um die Schaffung eines bloßen Gegengewichts zur angeborenen Herrschsucht, die stets die Gefahr birgt, wieder an die habituelle Oberfläche zu dringen. Dass Lockes Subjektivierungsmodell mehr der »Honnêteté« als der Schein- und Authentizitätskritik des Republikanismus seiner Zeit verpflichtet ist, zeigt auch die moralphilosophische Aufwertung des Habitus – im Verhältnis zu einem auf Innerlichkeit fixierten Beharren auf Wahrhaftigkeit. Erst Smith wird mit dieser Aufwertung wieder brechen (s. 4.3.2). Zwar beharrt auch Locke darauf, das äußere »Tun« müsse mit der »seelischen Einstellung« im Einklang sein, aber diese »Übereinstimmung« wird von ihm deshalb angestrebt, weil sie selbst für das Auftreten notwendig ist.51 Klarer als in der Philosophie des moralischen Sinns ist »civility« dabei ein habituelles Exklusionskriterium eines sozialen Elitenmilieus. Sie muss aber auch von diesen Eliten zunächst erlernt werden. Niemand beherrscht »civility« von Natur aus. Es kann retrospektiv betrachtet wohl nicht genug betont werden, dass für Locke die Aneignung eines zivilisierten Habitus als Voraussetzung des sozialen Friedens erscheint. Wohlers übersetzt die oben zitierten Anstandsregeln höflichen Verhaltens (§ 143) in der deutschen Fassung der Gedanken über Erziehung zwar sachlich treffend mit »Schicklichkeit«, doch der von Locke verwandte Begriff ist »civility« und nicht »propriety«.52 Dies zeigt die das Gemeinwesen stützende Bedeutung, die Locke dem höflichen Umgang zuspricht. In seiner Vorstellung von »civic society« bleibt die Unzivilisiertheit als »sozial« zu bannende Möglichkeit offener Konfrontation präsent.
1.5.1 Detailanalyse: Lockes vier Formen der Unhöflichkeit Dass für Locke »civility« erst erlernt werden muss und kein intrinsischer Bestandteil der menschlichen Natur ist, zeigt sich deutlich anhand der vier Formen, in denen man in der höflichen Kommunikation scheitern kann. Diese vier Verhaltensweisen sind »Ungeschliffenheit« [natural roughness], »Geringschätzung« [contempt], »Krittelei« [censoriousness] und »Streitsucht« [captiousness]. »Ungeschliffenheit« hebt sich von den drei übrigen dadurch ab, dass unklar ist, ob hinter ihr Ged. § 66. Gemeinhin wird »propriety« mit »Schicklichkeit« übersetzt, aber »civility« meist mit »Höflichkeit«. »Propriety« hat dabei die Doppelbedeutung von »Schicklichkeit« und »Eigentum«, dem späteren »property«; zur Etymologie von »propriety/property« vgl. Meiksins Wood/Wood 1997, S. 85 u. S. 127. 51 52
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eine bewusste Absicht steht oder nicht, d. h. jemand, der »ungeschliffen« ist, kann auch einfach überhaupt keine Erziehung genossen haben. Die drei anderen Arten eines ungeselligen Fehlverhaltens können für Locke dagegen auch dann noch hervortreten, wenn jemand zwar eigentlich gut erzogen ist, sich aber für einen Moment lang »selbst vergisst«. Interaktionstheoretisch besonders interessant ist außerdem der Fall eines herumkrittelnden Verhaltens, in dem »Spott« [raillery] zum Ausdruck kommt (s. u.). Zunächst zur »natürliche[n] Ungeschliffenheit«: »Die erste ist eine natürliche Ungeschliffenheit, die einen Menschen ungefällig gegen Andere macht, indem er auf ihre Neigungen, Stimmungen oder Verhältnisse keine Rücksicht nimmt. Es ist das unverkennbare Zeichen eines Grobians [ruffian], nicht zu beachten, was denen, mit denen er zusammen ist, gefällt oder nicht gefällt; und doch findet man so manchen in vornehmen Kleidern, der seiner Laune die Zügel schießen lässt und ihr erlaubt, jeden, der ihr im Wege ist, anzurempeln und zu überrennen, wobei ihm vollkommen gleichgültig ist, wie der Betroffene es aufnimmt. Das ist eine Rohheit, die jeder sieht und verabscheut, und die keinem behagen kann; daher ist sie nicht vereinbar mit einem, der auf den geringsten Anstrich von guter Lebensart Anspruch erhebt. Denn das Ziel und die Aufgabe guter Lebensart bestehen gerade darin, die natürliche Härte geschmeidig, und so das Wesen der Menschen sanfter zu machen, damit sie sich zur Nachgiebigkeit bequemen und sich denen anpassen, mit denen sie zu tun haben« (G § 143).53
Ein solcher Mensch ist jemand, der an höfliche Umgangsformen nicht gewöhnt ist.54 Er beherrscht es nicht, gestisch zum Ausdruck zu bringen, dass er der Anwesenheit der anderen Person gewahr ist. Aber auch hier richtet sich Lockes konkrete Kritik an den Adelsstand. Denn auch wenn (wie oben zitiert) Andere in »Rang und […] Stellung« unter einem stehen, verdienen sie basalen Respekt. Dem »ungeschliffen« Agierenden ist dabei nicht immer anzusehen, ob er nur schlecht erzogen ist oder ob er mit Absicht respektlos ist. Man denke in diesem Zusammenhang etwa an den brutalen Junker Wenzel in Kleists Michael Kohlhaas: Dadurch, dass Wenzel und seine Ritterschar sich vor Kohlhaas grob und ungeschickt verhalten, verbergen sie auf eine bestimmte Weise, dass sie diesen – sein »Rechtgefühl«, wie Kleist es nennt55 – bewusst missachten und »geringschätzen« wollen. Als »Geringschätzung oder Mangel an gebührender Achtung« bezeichnet Locke dagegen einen Habitus, der anders als die »Ungeschliffenheit« immer als bewusste Konfrontation des Anderen erscheint, weil sie sich auf eine Art und Weise äußert, die auf eine bestimmte Person bezogen ist. Diese »Geringschätzung« äußert sich »in Blicken und Worten oder in Gebärden«, die den schlechten Eindruck, den jemand auf einen macht, zum für alle sichtbaren Ausdruck bringen. Unabhängig davon »von wem [die Geringschätzung] ausgeht, bringt [sie] immer Unbehagen mit sich«, da »niemand […] es mit Gelassenheit ertragen [kann], wenn er missachtet wird« (ebd.).
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Vgl. dagegen Versuch 4.20.2 – 3. Vgl. Hobbes’ Besprechung der »Undankbarkeit« in De Cive; DC 3.8 – 9. Der letzte Satz des ersten Absatzes lautet: »Das Rechtgefühl aber machte ihn zum Mörder.«
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Deutlich betrachtet Locke hier also nicht mehr nur die soziale Interaktion zweier Einzelner, sondern die »Gesellschaft« als einen öffentlichen Raum, in dem weitere Andere anwesend sind. Dies ist deshalb wichtig zu betonen, weil das »geringschätzende« Verhalten in der Bloßstellung einer bestimmten Person gegenüber Anderen liegt. Indem man durch sein eigenes Verhalten deutlich macht, wie wenig man von jemandem hält, schätzt man diesen gering vor noch anwesenden Dritten. »Krittelei« oder »an Anderen herumzunörgeln« steht »in direktem Gegensatz zur Höflichkeit«, denn »[w]as wir auch verschuldet oder nicht verschuldet haben, wir sehen es nicht gern, wenn unsere Fehler offen zur Schau gestellt und vor unseren eigenen oder anderer Leute Augen ans Licht der Sonne gebracht werden. Ein Makel, den man jemandem anhängt, ist immer mit Schande verbunden; und das Aufdecken oder auch nur die bloße Bezichtigung eines Mangels kann man nicht ohne ein gewisses Unbehagen ertragen« (ebd.).
Es zeigt sich damit nun schon bei Locke die radikale Abhängigkeit des Selbstwertgefühls des bürgerlichen Individuums vom Blick der es umgebenden Anderen. Aber bei Locke erscheint diese soziale Abhängigkeit des Individuums von seiner Wahrnehmung durch Andere noch in der Form einer gesellschaftlichen Benimmlehre, die der Einzelne im Sozialen beherrschen muss. Bei Adam Smith wird es dagegen schon nicht mehr vollstellbar sein, dass ein Individuum – abseits dieser Spiegelung in der Wahrnehmung Anderer – überhaupt auf sich selbst reflektieren kann (s. 4.3.1). Als »raffinierteste Art« der »Krittelei« versteht Locke »Spott«. Und zwar »raffiniert« deshalb, weil der Spottende versucht, »die Fehler Anderer« auf eine für Dritte amüsante Weise »bloßzustellen«, d. h. er versucht gegen jemanden zu agieren, indem er dafür sorgt, dass die Anderen Anwesenden miteinander über diesen Anderen lachen. Locke warnt den »jungen Gentleman« vor den Tücken dieses gesellschaftlichen Spiels. Der Spott ist ein anschauliches Beispiel für die in sich ambivalente Form, die das Sozialverhalten des Gentlemans annimmt. Da »Spott […] in der Regel mit Geist und gewählten Worten geschieht und der Gesellschaft Unterhaltung bietet, lässt man sich« als amüsierter Anwesender fälschlich »zu dem Irrtum verleiten, es sei keine Unhöflichkeit«, den Ausführungen einer Person, die eine Andere verspottet, »ein geneigtes Ohr [zu leihen], und die auf seiner Seite stehenden Zuhörer spenden ihm durch ihr Gelächter allgemein Beifall«. Doch da hier »die Unterhaltung der übrigen Gesellschaft auf Kosten des einen geht«, wird dieser folglich »ein gewisses Unbehagen« empfinden. So wird nach Locke »im Gemüt de[s] Betroffenen die bleibende Erinnerung« entstehen, »zwar witzig, aber beißend wegen irgendeiner Schwäche verhöhnt worden« zu sein. Die Teilnahme am Spott hat daher nach Locke – selbst für den bloß amüsiert Beistehenden – oft zur Folge, dass man sich im Nachhinein einen heimlichen Feind gemacht hat. Dies wiegt besonders schwer dadurch, dass derjenige, der verspottet wurde, sich seinen Groll nicht anmerken lassen wird, dennoch aber auf die Gelegenheit wartet, sich für diese Bloßstellung später zu rächen. In der »Streitsucht«, d. h. der Fixierung des Streitsüchtigen auf einen bestimmten Anderen, mit dem man sich um jede Kleinigkeit streitet, kommt eine »schwei-
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gende Anklage« dieses Anderen zum Ausdruck. Es handelt sich um den impliziten »Vorwurf irgendeiner Unhöflichkeit« gegenüber »denen, mit denen wir uns zanken«, weil sich nur so das streitsüchtige Verhalten erklären lässt. Interaktionstheoretisch bemerkenswert ist, dass es sich hierbei für Locke um ein unterschwelliges Zum-Ausdruck-Bringen einer eigentlich diesem Anderen unterstellten Antipathie gegenüber einem selbst handelt. D. h. man unterstellt dem Anderen eine bestimmte abwertende Sichtweise auf sich selbst. Indem man damit dem Anderen pejorativ eine bestimmte Haltung zu einem selbst zuspricht, handelt es sich um eine pathische Projektion. Vor dem Hintergrund der Frage des sozialen Befriedungspotentials von Einfühlung wiegt dabei besonders schwer, dass der »Streitsüchtige« hier in seiner Einbildung die Perspektive des Anderen einnimmt, d. h. sich (vermeintlich) in diesen einfühlt. »Eine solche Verdächtigung oder Unterstellung kann niemand ohne Unbehagen ertragen« und »ein einziger Ungehaltener« kann so »die ganze Gesellschaft auseinander[bringen]«, denn »die Harmonie hört nach jedem solchen Misston auf«. Dennoch kann auch ein zu starkes Harmoniestreben nachteilig für den »jungen Gentleman« sein. Da »Gefälligkeit […] nicht [verlangt], […] allen Auseinandersetzungen oder Gesprächen, mit denen sich die Gesellschaft unterhält zu[zu]stimmen, oder […] alles, was in unser Gegenwart vorgebracht wird, stillschweigend hingehen zu lassen«, kann die »stillschweigend[e]« Hinnahme dem »jungen Gentleman« auch als Charakterschwäche ausgelegt werden. Intern muss dieser daher abwägen, welchen Gewinn oder Verlust er davon hat, jemandem zuzustimmen oder zu widersprechen. Zwar ist es »manchmal eine Forderung der Wahrheit und der Nächstenliebe […] die Irrtümer der Anderen zu berichtigen«. Doch soll sich der junge Gentleman stets fragen, gegen wen er das Wort ergreifen will und ob er im eigenen Interesse handelt, wenn er es tut. Vor allem »Menschen, […] die sozusagen vom Geist des Widerspruchs besessen sind«, vergessen, dass »[j]eder Widerspruch gegen das, was ein Anderer gesagt hat, […] selten ohne ein Gefühl der Demütigung hingenommen [wird]«. Wenn man daher widerspricht, sollte dies »auf die behutsamste Weise und mit denkbar schonendsten Worten« geschehen. Erst dann, wenn das »ganze Verhalten zum Ausdruck bring[t], […] nicht von Widerspruchsgeist erfüllt« zu sein, handelt man mit der gebührenden Vorsicht und läuft nicht Gefahr, »zwar die Auseinandersetzung [zu] gewinnen, die Achtung [sein]er Zuhörer aber [zu] verlieren«.
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2. Moralische Handlungskompetenz als sinnliches Vermögen Der heute als »Shaftesbury« bekannte Philosoph heißt mit vollem Namen Anthony Ashley Cooper, 3rd Earl of Shaftesbury (1671 – 1713). Locke kennt Shaftesbury seit dessen früher Kindheit gut, weil Locke eine enge Verbindung mit dem ersten Earl of Shaftesbury, also dem Großvater des späteren Philosophen, unterhält. Dieser erste Earl ist einer der Drahtzieher der Glorious Revolution als des progressiven Machtumsturzes von 1688/89, in dessen Zuge die gesetzgebende Macht ans Parlament übertragen wird und somit der englische Großgrundbesitz gegenüber der Krone zum ersten Mal faktisch die politische Macht innehat. Da Shaftesburys Vater, der zweite Earl, früh verstirbt, wird Locke, der für den ersten Earl of Shaftesbury sowohl als Leibarzt als auch als politischer Berater tätig ist, schließlich auch noch der Privaterzieher des dritten Earls. Diese Mischung von Tätigkeiten in einer Person in einem Haushalt des hohen Adels ist damals nicht ungewöhnlich und entspricht der Rolle, die humanistische Gelehrte in Adelshäusern haben. Wie wir aber im letzten Kapitel gesehen haben, versteht Locke sich zumindest inhaltlich nicht mehr im Geist des Humanismus, der für ihn eine weltfremde Gelehrtenreligion ist. Es mag wohl sein, dass Locke bei der Niederschrift seiner Gedanken über Erziehung als »jungen Gentleman« den kleinen Shaftesbury vor Augen hatte, wobei Locke oft die Erziehung von Shaftesbury der dafür angestellten Dienerin Elizabeth Birch überließ, die er häufig lediglich instruierte.1 Den Text, den ich vor allem analysieren werde, ist Shaftesburys Inquiry concerning virtue and merit. Es ist die erste philosophische Abhandlung, die Shaftesbury im Alter von 20 Jahren, d. h. 1691, geschrieben hat und die ursprünglich von ihm nicht für eine Veröffentlichung vorgesehen ist. Der Deist John Toland veröffentlicht sie mit eigenen Ergänzungen zuerst 1699.2 Im Kontrast zu allen anderen Texten Shaftesburys bietet sich diese erste Abhandlung für eine systematische Analyse an, weil sie im Gegensatz zu seinen anderen Texten keine dialogische oder rhapsodische, sondern eine systematische Form hat. Es ist zu beachten, dass Lockes Gedanken über Erziehung und die erste Fassung von Shaftesburys Untersuchung über Tugend und Verdienst mehr oder weniger zeitgleich entstehen. Locke reflektiert auf Vgl. Barker-Benfield 1992, S. 106. Die Veröffentlichung geschieht gegen Shaftesburys Willen, vgl. Schrader 1984, S. 1 f.; vgl. Lechler 1841, S. 243 f.; Alle Zitate aus dem Original sind aus der später vom Autor autorisierten Fassung, die erst 1713 erscheint. Diese Fassung liegt auch der verwendeten Übersetzung von Erwin Wolff zugrunde. 1 2
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II. Kapitel · Shaftesbury
seine Erfahrungen als Erzieher in dem Moment, in dem Shaftesbury zum philosophischen Befreiungsschlag gegen seinen »foster-father« ansetzt.3 In seinem Inquiry concerning virtue and merit kritisiert Shaftesbury häufig Hobbes, doch tut er dies oft in Punkten, die inhaltlich auch eine Kritik an Locke sein könnten. Locke und Shaftesbury teilen zwar eine bestimmte Sichtweise darauf, wie bürgerliche Individuen zu einem tugendhaften Leben motiviert werden können, aber Shaftesbury verankert diese Motivationspsychologie nun in einer bestimmten Auffassung von der Sozialität der menschlichen Natur. Diese Ausweitung der Idee, dass Menschen von Natur aus einen bestimmten, förderbaren Hang dazu haben, sich Anderen gegenüber wohlwollend zu verhalten, nimmt bei ihm eine wichtige Funktion für den Aufbau einer »civil society« ein. Er zeigt, wie sich auf einem pragmatisch ausgerichteten Studium dieser »sozialen Natur« eine freiheitlich-bürgerliche Ordnung aufbauen, reproduzieren und stabilisieren lässt. Dass in der Untersuchung über Tugend und Verdienst der Begriff »Verdienst« in den Titel aufgenommen wird, ist kein Zufall, denn »Verdienst« [merit] spielt in Shaftesburys Tugendregime eine zentrale Rolle.4 Die Gesellschaft soll so eingerichtet werden, verlangt Shaftesbury, dass der (in den Augen Anderer) »Verdienst« eines Bürgers davon abhängig sein solle, wie tugendhaft sich dieser im bürgerlich-zivilen Alltagsleben gegenüber Anderen verhalten hat. Dieser Versuch der Installierung einer alltagsbezogenen Handlungs- oder Sozialmoral hat einen religionskritischen Unterton: Shaftesbury geht es darum zu zeigen, dass die Tugendhaftigkeit des Einzelnen sich nicht in einer ostentativ zur Schau gestellten Frömmigkeit zeigt, sondern darin, ob man sich wirklich wohlwollend gegenüber Anderen verhält. Und da dies alle in ihrem »Herzen« auch wüssten, zeige sich daran wiederum deren natürliche »social affection«. Ich werde in diesem Kapitel dem Aufbau von Shaftesburys Gedankensystem im Inquiry concerning virtue and merit systematisch folgen. Am Anfang steht hier eine bestimmte Form der Religionskritik, die auch als eine Kritik an Hobbes’ Subjektvorstellung genommen werden kann. Es geht Shaftesbury hierbei um den Nachweis, dass der Mensch aufgrund einer natürlichen »social affection« dazu in der Lage ist, die sozialen Parameter einer gerechten freiheitlich-bürgerlichen Ordnung aus seiner eigenen Natur zu schöpfen. Dies geschieht über die Konzeptionierung einer Vorstellung von »civil society«, die sich bei Locke bereits ankündigt. Diese »Gesellschaft« – verstanden als die das zivile Handlungsgeschehen beobachtenden, anwesenden anderen Bürger – fängt an, die Rolle eines öffentlichen Sichtbarkeitsgaranten zu übernehmen. Ich fasse die vier Teilabschnitte des Kapitels einleitend kurz zusammen: Um begründen zu können, warum die Freiheit des Individuums Vgl. Barker-Benfield, S. 107 f. Dass die ältere deutsche Übersetzung von Paul Ziertmann von 1905 den Begriff »Verdienst« im Titel kurzerhand weglässt, ist ein schönes Detail, an dem sich sehen lässt, wie unwichtig für die deutsche Diskussion die pragmatische Dimension des Textes der faktischen Installierung eines bürgerlichen Tugendregimes war. Ziertmann zeigt sich dennoch in seiner kurzen Einleitung als exzellenter Kenner der deutschen Rezeption Shaftesburys. 3 4
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der Sittlichkeit förderlich ist, muss Shaftesbury zunächst auf die originär naturrechtliche Annahme eines naturalen Gerechtigkeitsempfindens zurückgehen, dessen Nachweis er nun allerdings sentimentalistisch erbringt, d. h. als Nachweis eines im Menschen vorhandenen natürlichen Gefühls dafür, was »recht« und »unrecht« ist (2.1). Eine gerechtigkeitstheoretische Widerlegung von Shaftesbury lasse ich außer acht. Mich interessiert allein der »soziale« Mechanismus, wie die wechselseitige Achtung und Beachtung (damals meist: Beobachtung [observation]5) der freien Bürger statthat und wie an diese eine Motivationspsychologie anknüpft, die den alten Untertanencharakter, dem Hobbes noch das Wort redet, für »slavish« hält. Hier wirken Shaftesburys Ausführungen zunächst noch nah bei Locke, doch er nimmt nun eine folgenschwere Verkehrung vor: Die menschliche Natur verlangt danach, auf gleicher Ebene Wohlwollen durch Andere zu erfahren, verabscheut es dagegen, diese sich zu unterwerfen und sich ihnen zu unterwerfen. Dies ist eine Umkehrung von Lockes Ansatz, für den im Gegenteil Herrschsucht – love of dominion – angeboren, wenn auch ab- bzw. umerziehbar ist (2.2). Semantisches Scharnier der Ermächtigung des »Menschen« als eines selbstregulativen Wesens, das aufgrund seiner sozialen Natur dazu in der Lage ist, das gesellschaftliche Geschehen interaktiv selbst zu gestalten, ist der Begriff »sympathy«. Daher geht es mir im anschließenden Herzstück des Kapitels darum, zu verstehen, wie Shaftesbury diesen Begriff genau gebraucht. Es handelt sich einerseits um das schon von Locke betonte Geselligsein, das eine Atmosphäre der Zivilisiertheit stiftet. Diese Form der »Geselligkeit« wird zugleich verstanden als ein Gesehen- und ein Bestätigtwerden, und es ist seit Shaftesbury üblich, deren Notwendigkeit negativ zu beweisen. Es wird zunächst gezeigt, dass der Einzelne unglücklich ist, wenn es niemanden gibt, mit dem er seine Gefühle teilen kann. Doch was Shaftesbury nun qua »sympathy« vor allem naturalisiert, ist das Reputationsbegehren des Einzelnen. Der einzelne Bürger strebt danach, einen »guten Ruf« zu haben. Hierbei erlangt er diese Reputation deshalb für wahrhaft gerechtes Handeln, weil es einen moralischen Sinn gibt, der die Bürger in ihrem jeweiligen sozialen Zuspruch innerlich anleitet (2.3). Es geht mir hier nicht um den unschwer zu erkennenden Zirkelschluss dieser Gesellschaftskonstruktion vor dem Hintergrund des Nachweises ihrer Gerechtigkeit, sondern mich interessiert ausschließlich deren »soziale« Funktionsweise. Auch wenn es umstritten ist, ob das Bedürfnis nach wechselseitiger Bestätigung freier Individuen, also das Bedürfnis, durch Andere persönliche Achtung zu erfahren, von Locke bereits als natürlich angesehen wird (vgl. 1.4), ist dennoch klar, dass es Es ist hilfreich, sich einer Äquivokation im Quelltext bewusst zu sein, die durch den übertriebenen Gebrauch des Begriffs der Beobachtung [oberservation] in dieser Zeit entsteht. Sowohl die Beobachtung der Interaktion zwischen Anderen, die zur Erfahrung des moralischen Sinns führt, insofern sie von einer right/wrong-Intutition des beobachteten Handlungsgeschehens begleitet ist, wird von Shaftesbury als »observation« bezeichnet als auch die bloße Beachtung der Erwartungen Anderer im eigenen Handeln. Hier bedeutet »Beobachtung« Antizipation. 5
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II. Kapitel · Shaftesbury
von Locke für das soziale Funktionieren von »civility« als notwendig angesehen wird. Sozialisationstheoretisch bedeutet das: Es muss irgendwie »sozial verinnerlicht« werden. Diese Wiedererkennung des Selbst im Anderen kommt sowohl für Shaftesbury als auch für Locke in mehr als einer bloß passiven Spiegelung zum Ausdruck. Für das Ich hat sein Wissen darum, dass der Andere seiner gewahr ist, sowohl einen sozial disziplinierenden Effekt, was seine Selbstbeherrschung angeht, als auch den Effekt, dass die soziale Anerkennung sein Selbstwertempfinden stabilisiert. Und diese »sympathy« hat als »Gleichgefühl« denselben Effekt auf diesen Anderen – et voilà, la société civile! Dieses reziproke Selbstbeherrschungsmodell freier Bürger lebt davon, die menschliche Natur so umzudeuten, dass sie für die Konstruktion einer selbst-regulativen Ordnung von sich aus geeignet, d. h. »sozial« ist (2.4).
2.1 Der moralische Sinn als intuitive Abneigung gegenüber einem beobachteten Unrecht Shaftesbury meint, weil er dem Empfinden eine Indikatorfunktion für das Auffinden verlässlicher Gerechtigkeitsnormen zuspricht, sich in der Tradition organischer Ganzheitlichkeitsvorstellungen verorten zu können.6 Schaut man sich allerdings an, wie dieses Rechtsempfinden sich bei ihm herstellt, zeigt sich darin eine spezifisch neuzeitliche Ordnungsvorstellung, die Foucault in der Formel »Il faut defendre la société« zusammengefasst hat: Dieses Motto repräsentiert oder symbolisiert ein bürgerliches Rechtsempfinden, welches sich so umschreiben lässt, dass dessen grundlegende Empfindung eine bestimmte Art von Aufgebrachtheit ist, die bei Verletzung jener die »société civile« schützenden Rechtsnormen spürbar wird.7 In diesem Abschnitt möchte ich zeigen, dass dies genau die Art von Rechtsgefühl ist, die Shaftesbury als »moralischen Sinn« bezeichnet. Rationalistische Naturrechtler des 17. Jahrhunderts argumentieren in der Regel so, dass es ein rationales Verhaltensregelwerk gibt, das gegeben sein muss, damit der gesellschaftliche Zusammenschluss individueller Selbsterhaltungsentitäten funktionieren kann. So zeigt das rationalistische Naturrecht wiederholt, dass auch in der Räuberbande solche Normen eingehalten werden, weil sie eingehalten werden müssen. Leibniz bringt diesen Begriff von »Naturgesetz« auf den Punkt, indem er ihn als eine als notwendig erkannte Verhaltensmaßregel bestimmt: »Jene beobachten die Gesetze der Gerechtigkeit nur als angemessene Regeln, deren Ausübung für den Erhalt ihrer Gemeinschaft schlechthin notwendig ist.«8 Vgl. Klein 1994, S. 60 f.; vgl. Barker-Benfield 1992, S. 112 – 116. Vgl. Foucault 1999; vgl. auch Strauss, S. 165 f.; Hayek, S. 102 f. 8 Leibniz GA Bd. 3 1965, S. 51 f. Dieser Nachweis gehört zum Standardrepertoire der Naturrechtsdebatte des 17. Jahrhunderts. Lauren Wispé möchte am Räuberbandenbeispiel belegen, dass Charles Darwin Adam Smith gelesen hat, aber dies ist aus den genannten Gründen problematisch; vgl. Wispé 1991, S. 42. 6 7
Moralische Handlungskompetenz als sinnliches Vermögen
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Es gibt bestimmte Regeln des menschlichen Zusammenlebens, die für den Erhalt der Gesellschaft »schlechthin notwendig« sind, und von diesen Regeln handelt das Naturrecht. Zu diesen Regeln zählt etwa das Halten von Versprechen, das Hobbes als Naturgesetz gegenseitigen Vertrauens [trust] bezeichnet und in allen drei Versionen seiner Abhandlung der natürlichen Rechte jeweils an den Anfang seiner Erörterung der Voraussetzungen bürgerlicher Freiheit stellt.9 Auch wenn das Naturrecht des 17. Jahrhunderts immer rationalistisch argumentiert, indem diese Regeln Ableitungen aus der Vernunft sind, ist es doch ein essentieller Bestandteil der Rhetorik dieser Texte, dass es auch ein Empfinden dieses Naturrechts insofern gibt, als die Verletzung dieser Normen Unbehagen erzeugt. Shaftesbury stellt sich den moralischen Sinn so vor, dass er sich dann meldet, wenn der Einzelne »Unrecht« [wrong] beobachtet. Seine grundlegende Empfindungsweise ist insofern negativ und äußert sich als »Vergeltungsgefühl« [resentment], das im gerechten Zustand ungefühlt bleiben würde. In der später von Shaftesbury selbst editierten Ausgabe des Inquiry, die zum ersten Mal zwei Jahre vor seinem frühen Tod im Jahr 1713, also 1711 erscheint, in der er Randüberschriften einfügt, verwendet Shaftesbury den Begriff »moral sense« – lange bevor dieser im Fließtext überhaupt fällt – als Randüberschrift zuerst an der folgenden Stelle: »There is in reality no rational creature whatsoever, who knows not that when he voluntarily offends or does harm to anyone, he cannot fail to create an Apprehension or Fear of like harm, and consequently a Resentment and Animosity in every creature who observes him« (Charakteristics Bd. 2, S. 24). Auch in der sentimentalistischen Wende des bürgerlichen Rechtsempfindens bleibt demnach das »Resentment« im Sinn des im Namen der Allgemeinheit gegen den Einzelnen gerichteten Gefühls der Vergeltung – im Fall der Beobachtung des Bruchs einer Rechtsnorm – der fundamentale Affekt, auf dem diese Empfindungsweise beruht.10 So viel zur angeblichen Verzärtelung dieser Denkschule. Man muss hier genau zwischen der Sprache, in der sich die Vorstellung des moralischen Sinns artikuliert, und dem, was auf der sozialen Interaktionsebene faktisch beschrieben wird, unterscheiden. Was Shaftesbury hinsichtlich seiner Idee eines natürlichen Rechtsempfindens von seinen rationalistischen Vorgängern unterscheidet, ist zunächst seine Berufung auf die Urteilskraft des subjektiven »Herzens«. Doch hier macht er sofort wieder eine verständige Einschränkung: Diese Urteilskraft gilt nur für den »nicht interessiert[en]« Zustand [disinterested]. Der moralische Sinn zeigt sich nur verlässlich in der Dreierkonstellation von Täter, Opfer und einem beobachtenden Zuschauer – bei diesem beistehenden Zuschauer: »Bei diesen schweifenden Charakteren oder Bildern sittlichen Verhaltens, die der Geist sich mit Notwendigkeit bildet und die er dann mit sich herumträgt, kann das Herz unmöglich gleichgültig bleiben, Es ergreift ständig auf die eine oder andere Art Partei. Wie falsch und verderbt es auch in sich sein mag, es findet den Unterschied an Schönheit und Anmut zwi9 10
E 16.6, S. 116, DC 2.11, S. 91, L 1.14, S. 121 f. Vgl. Hasbach 1890, S. 106.
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II. Kapitel · Shaftesbury schen dem einen Herzen und dem anderen heraus, zwischen der einen Neigungsrichtung und der anderen, der einen Gemütsart und der anderen, der einen Empfindung und der jeweils anderen und muss dementsprechend auch in Fällen, in denen es unbeteiligt ist, in gewissem Maße seine Zustimmung zu dem geben, was natürlich und ehrenhaft ist, und missbilligen, was unehrenhaft und verderbt ist (UT 1.2.3, S. 61).
Der darstellerische Trick ist hierbei, das Individuum zugleich als prinzipiell involviert und dabei doch als in ein spezifisches Handlungsgeschehen zwischen zwei bestimmten Anderen nicht involviert zu betrachten.11 Involviertheit wird als allgemeiner Fall genommen und auf diese Art und Weise eine intuitive Evidenz für eine Art des moralischen Sinns erbracht. Der Gerechtigkeitswillen des natürlich-sozial eingebundenen Einzelnen wird dadurch belegt, dass dieser bei der Beobachtung der Interaktion zweier Anderer als Dritter nicht »neutral« sein wird, wenn er Unrecht beobachtet hat. Dieser Dritte – wenn er nicht eine »absolute wicked creature«, d. h. »unnatural« ist, s. u. – wird dann, wenn Ego sich gegenüber Alter ungerecht verhält, deshalb mit Alter sympathisieren. Dies ist die bis heute charakteristische Dreierszene für die Evidentmachung eines natürlich-sozialen Gerechtigkeitsempfindens. Benötigt werden für diese Evidentmachung drei Positionen, die aufeinander bezogen sind und eine »minimale Öffentlichkeit« bilden: Täter, Opfer und Zuschauer. Das »Herz« als verlässliches Auskunftsorgan dieser Beurteilung anzurufen, markiert dabei einen diskursgeschichtlichen Wendepunkt. Im älteren Diskurs steht das »Herz« umgekehrt für den Ausgangspunkt von Selbsttäuschung [self-deceit].12 Aber die Divergenz zu diesem älteren Modell der rationalen Selbstbeherrschung der in erster Instanz Verwirrung stiftenden Affekte des »Herzens« ist nicht so fundamental, wie es zunächst erscheint. Dem frühneuzeitlichen Rationalismus und dem Sentimentalismus liegt ein ähnliches Subjektivitätsverständnis zugrunde, das sich darin zeigt, wie die Relation zwischen Verstand und Gefühl konzipiert ist. Auch im Diskurs über die rationale Vermeidung der Selbsttäuschung im frühen 17. Jahrhundert ist das Handeln des Einzelnen immer geleitet durch Affekte, um deren rationale Kultivierung es geht.13 Versteht man das »Herz« Shaftesburys als eines, aus dem schon eine bestimmte Form der Reflektiertheit spricht, ist die Differenz nurmehr eine der Gewichtung in der Betrachtungsweise. Die auch bei Shaftesbury notwendige Vermittlung von Verstand und Gefühl zeigt sich im letzten Zitat daran, dass er für die Verlässlichkeit des Herzens den Fall ausschließt, in dem eigene Interessen im Spiel sind. Doch das ist genau der Beispielfall, an dem sich der vorherige Diskurs um das Problem der ethischen Rationalisierung eigentlich egoistischer Motive entfaltet: Das »Herz« täuscht hier deshalb, weil sich das eigene Empfinden den subjektiven Selbsterhaltungsinteressen intrapsychisch anpasst – und daher – im selbstinteressierten Fall – kein verlässlicher Gerechtigkeitsindikator Vgl. Forman-Barzilia 2010, S. 65 f. Vgl. Lovejoy 1961, S. 26. 13 Sogar Descartes beschreibt in den Leidenschaften der Seele eine Vermittlungsdimension von Verstand und Gefühl, die sich sozial generiert und derart erst die rationale Selbstbeherrschung sicherstellt; ebd., § 194, auch § 211. 11 12
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ist.14 Es gibt eine untergründige Kontinuität zwischen der rationalistischen und der sentimentalistischen Argumentationsweise, wobei »rationalistisch« hier im Sinn des 17. Jahrhunderts gemeint ist, d. h. »rationalistisch« bedeutet hier noch nicht, zu bestreiten, dass der Mensch ein leidenschaftsgesteuertes Wesen ist. Zudem zielen beide Positionen auf die Instituierung einer vergleichbaren Gerechtigkeitsvorstellung. Man könnte sogar soweit gehen, zu behaupten, dass die Verschiebung des Zentrums der Diskussion – vom die Leidenschaften beherrschen müssenden Verstand zum Leitbild eines »sittlichen Gefühls« – wie ein »sozialer« Verwirklichungsschritt der bürgerlichen Gesellschaft erscheint, deren Rechtsordnung das hegemoniale Empfinden allmählich vereinnahmt. Shaftesburys Konzeption passt sich ein in ihren gesellschaftsgeschichtlichen Moment. Sie lebt von der Anrufung der Anderen, ob sie die neue Ordnung auch in sich fühlen. Die Unmittelbarkeit des Empfindens wird für die Evidenz des Empfundenen genommen. Es stimmt zwar, dass damit der Aufgebrachtheit oder Affiziertheit selbst vordergründig ein größerer Wert zugeschrieben wird als in den rationalistischen Affektlehren, doch es ist eine bestimmte Aufgebrachtheit, die damit markiert wird, die in der Verletzung der Verhaltensmaßregeln der »bürgerlichen Gesellschaft« zu sehen ist. Die Stelle, an der Shaftesbury zum ersten Mal die Randüberschrift »moral sense« verwendet, setzt sich im Original so fort, dass er »Offence and Injury« deshalb als eine den Zuschauer gegen den Täter aufbringende Verhaltensweise versteht, weil hier die bürgerliche Verhaltenskonvention der Achtung und respektvollen Gleichbehandlung aller Individuen – »equal behavior« – verletzt wird: »Thus Offence and Injury are always known as punishable by every-one; and equal behavior, which is therefore calld merit as rewardable and well-deserving from every-one. Of this even the wickedest Creature living must have a Sense. So that if there be any further meaning in this Sense of right and wrong; if in reality there be any Sense of this kind which an absolute wicked creature has not; it must consist in a real Antipathy or Aversion to Injustice or Wrong, and in a real Affection or Love towards Equity and Right, for its own sake, and on the account of its own natural Beauty and Worth.« (Characteristics Bd. 2, S. 24 f., Hervorh. i. Orig.)15
In feudalen Gesellschaftsverhältnissen war es durchaus vorstellbar, dass man der Demütigung eines Knechts durch seinen Herrn beiwohnt, ohne einzuschreiten oder dies als ungerecht zu empfinden. In Sparta galt es als Mutprobe, die ein junger Mann zu absolvieren hatte, öffentlich einen Heloten zu töten. Ähnlich wie Locke richtet sich Shaftesbury gegen eine herrschaftliche Gleichgültigkeit alten Stils, die bestimmten Menschen eine würdevolle Behandlung versagt. Anders als Locke betont Shaftesbury aber nun, dass diese Form der Ungleichbehandlung nicht natürlich ist. D. h. die soziale Gleichbehandlung ist schon von sich aus »angenehm« – sie wird nicht nur deshalb vom Handelnden als »gut« empfunden, weil er Dazu Lovejoy ebd., S. 24. Die deutsche Übersetzung erschwert das Verständnis des Gemeinten in dieser Passage, weil sowohl »injury« als auch »injustice« mit »Unrecht« übersetzt werden sowie »equal« veraltet als »billig« (Billigkeit); vgl. UT 1.3.1, S. 69 f. 14 15
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II. Kapitel · Shaftesbury
dafür eine soziale Belohnung erfährt. Der moralische Sinn ist diese innere Reflexion auf eine natürliche »Aversion to Injustice or Wrong«. Aus der unmittelbaren Idiosynkrasie gegen Unrecht entwickelt sich ein innerer Sinn, der sich als reflexivrationaler Wunsch nach einer Gesellschaft mit »equal behaviour« innerlich verfestigt. Die entscheidende Ambivalenz in diesen Ausführungen Shaftesburys, die uns weiter beschäftigen wird, liegt darin, dass die Tugend von sich aus gut/schön/angenehm sein soll und nur deshalb Belohnung erfährt, weil sie diese intrinsische Qualität an sich hat. Zugleich aber ist diese Belohnung in der Form der sozialen Anerkennung, die der Tugendhafte von allen Seiten erfährt, die soziale Art und Weise, wie sich eine »civil society« als bürgerliche Öffentlichkeit selbst reguliert. Shaftesbury beharrt darauf, dass nur »rational creatures« tugendhaft oder lasterhaft sein können. Tiere können nicht sittlich handeln. Dagegen liegt im sozialen Empfindungssensorium des Menschen eine reflexive Strukturiertheit, durch die eine bestimmte Moralität wie von sich aus Gestalt annimmt: »Es ist […] unmöglich zu begreifen, dass ein vernünftiges Geschöpf, wenn zuerst rationale Gegenstände auf dasselbe einwirken und es die Bilder oder Vorstellungen von Gerechtigkeit, Edelmut, Dankbarkeit oder anderen Tugenden in seine Seele aufnimmt, kein Wohlgefallen an diesen, kein Missfallen an ihrem Gegenteil haben, sondern absolut gleichgültig gegen alles befunden werden sollte, was sich ihm von diesen Dingen darstellt« (ebd.).
2.2 Shaftesbury als Motivationspsychologe: Sozialer vs. sklavischer Charakter Shaftesbury setzt seine Ausführungen fort mit einer deistischen Kritik an überkommenen religiösen Leitbildern. Der Glaube an die jenseitige Erlösung wird für ihn immer nur eine Moral möglich machen, die deshalb »sklavisch« bleibt, weil hier sittliches Handeln letztlich aus Furcht vor der Verdammnis geschieht. Aber durch das Tabu, mit dem die Kirche »das entgegengesetzte Glück eines lasterhaften Lebens«16 belegt, steigert sie dessen Attraktivität für den Einzelnen noch. Der Gläubige, dessen Glauben motiviert ist durch die Aussicht auf das Paradies, wird dadurch gleichgültig gegenüber der diesseitig-profanen Motivation, sich um das Wohlergehen Anderer zu sorgen. Und sollte diese überdimensional große Hoffnung dann einmal schwinden, verliert der Einzelne so auch den Grund seiner Tugend: »Andere Interessen werden kaum noch ins Kalkül gezogen, solange der Geist so sehr von der Verfolgung eines hohen Vorteils und eigenen Interesses hingerissen wird, die so eng auf unseren persönlichen Bereich beschränkt sind. Aus diesem Grund werden oft alle anderen Gefühle gegenüber Freunden, Verwandten oder der Menschheit als zu weltlich und von geringer Bedeutung eingeschätzt, verglichen mit dem Interesse unserer Seele. Und so wenig wird an die unmittelbare Befriedigung gedacht, die von den gut erfüllten Aufgaben des täglichen Lebens ausgeht, dass es bei vielen frommen Eifereren üblich ist, alle diesseitigen Vorteile des Gutseins, alle natürlichen Vorzüge der Tugend herabzusetzen, und in dem sie das entgegengesetzte 16
UT 1.3.3, S. 88.
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Glück eines lasterhaften Lebens übertreiben, zu erklären, sie würden alle Tugend sofort ablegen und sich ohne Hemmungen einem höchst unmoralischen und verderbten Lebenswandel hingeben, wenn es nicht um Lohn und Strafe in einem zukünftigen Leben ginge« (UT 1.3.3, S. 88).
Die Aussicht auf jenseitige Erlösung überlagert so den »weltlichen Lohn« sittlichen Handelns. Dieser besteht in der Anteilnahme am Wohlergehen der Anderen. Da Shaftesbury davon ausgeht, dass diese Form der Anteilnahme selbst natürlich ist, erhält bei ihm die Abgeschlossenheit der einzelnen Selbsterhaltungsentität bereits den Charakter der Entfremdung von einem – auf Andere »sozial« gerichteten – menschlichen Gattungswesen. Präzise gefasst ist für ihn auch das animalische Gattungswesen meist auf Andere gerichtet, aber dem Menschen kommt die besondere Fähigkeit zu, auf sich selbst als soziales Tier reflektieren zu können. Deshalb kommt ihm ein moralischer Sinn zu. Dieser entspricht einem »reflexiven Affekt«, insofern ein Mensch das intuitiv als gut Erkannte zum selbstgewählten sittlichen Zweck machen kann.17 Die menschliche Natur ist aufgrund dieser Freiheitsbefähigung nicht »slavish«. Besonders wer lernen will, sie als Gesetzgeber zu beherrschen, muss sie bei ihrem Willen und ihren Neigungen packen. Zwar mag ein Charakter, der furchtsam und autoritätshörig erzogen ist, äußerlich die Gesetze achten, doch er verharrt nur in Lauerstellung, seine ungeliebten Ketten einmal von sich zu werfen, wenn die Zeit dafür reif ist. Die Referenz auf den Untertanencharakter als »sklavisch« ist ein zentrales Topos der republikanischen Polemik gegen Hobbes.18 »In einem auf diese Weise gebesserten Geschöpf ist nicht mehr an Rechtschaffenheit, Frömmigkeit oder Heiligkeit als Milde oder Sanftheit in einem fest angeketteten Tiger oder als Harmlosigkeit oder Besonnenheit in einem Affen, der unter der Zucht der Peitsche steht. Denn wie sehr man diese Tiere oder gar den Menschen selbst unter solchen Bedingungen auch dazu bringen mag, sich ordentlich und gut zu benehmen, während weder der Wille gewonnen ist noch die Neigungen umgelenkt sind, vielmehr allein die Furcht überwiegt und den Gehorsam erzwingt: so ist doch dieser Gehorsam sklavisch, und alles, was durch ihn getan wird, nur sklavisch« (UT 1.3.3, S. 79).
Shaftesbury verwendet den Begriff »slavish« gleichbedeutend zu dessen pädagogischer Verwendung in Lockes Erziehungslehre, d. h. um eine anti-psychologische Herangehensweise an das Individuum zu bezeichnen, die nicht dazu in der Lage ist, dieses innerlich zu formen.19 Das Verinnerlichungspostulat bürgerlicher Wertvorstellungen kommt auch in der pejorativen Wendung gegen den »sklavischen« Charakter bei Shaftesbury zum Ausdruck, und auch hier wird dieses abgestützt durch die Annahme eines natürlich-menschlichen Freiheitswillens.20 Doch neu bei UT 2.1.3. Dazu Skinner 2008, S. 211 f. 19 Vgl. Kap. 1.5. 20 Es darf an dieser Stelle nicht unerwähnt bleiben, dass die tiefe Schizophrenie dieser pejorativen Verwendung der Metapher des Sklavischen im republikanischen Spektrum der Zeit darin zu sehen ist, dass viele der wohlhabenden Whigs in den beginnenden Sklavenhandel und die Skla17 18
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II. Kapitel · Shaftesbury
Shaftesbury gegenüber Locke ist die natürliche Disposition einer »social affection«, an die »civility« anschließen kann. Erst mit dieser Naturalisierung eines sozialen Freiheitsmodells, in dem die Selbstbeherrschung des Einzelnen als mit dem Anderen »sozial« verknüpfte verstanden wird, ist das regulative Vorstellungsniveau der »bürgerlichen Gesellschaft« erreicht. Nur die ideologische Hypostasierung des »bürgerlichen Individuums« reicht dafür nicht aus. Seit dem Horrorszenario des kriegerischen Naturzustandes bei Hobbes ist diese Konzeptionierung von Freiheit latent: Sie ist nur als zwischenmenschliche denkbar. Ego braucht Alter nicht erst als Objekt seiner Freiheit, sondern schon als deren »soziale Bedingung«. Shaftesbury übersetzt diese bei Hobbes noch im naturrechtlichen Gewand artikulierte Überlegung endgültig in eine sozialpsychologische Reflexion: Wie kann der Wunsch nach dem Wohlergehen der Anderen im geselligen Zusammenleben (d. h. Lockes »innere Neigung, Andere nicht zu verletzen«) als ein gesellschaftlich realisierter Wunsch denkbar gemacht werden? Dies führt Shaftesbury zur Behauptung eines intrinsischen Motivationspotentials bürgerlicher Sittlichkeit: der Lust am Wohlwollen.21 Stellt die Behauptung eines intrinsischen Motivationspotentials des Wohlwollens genau den »sozialen« Überschuss von Shaftesburys Menschenbild gegenüber dem Selbsterhaltungsatom im Hobbes’schen Naturzustand dar, geht Shaftesbury hier dennoch in einem wichtigen Punkt auf dem von Hobbes eingeschlagenen Weg weiter, nämlich in der mit dieser Behauptung verknüpften Problematisierung eines vor allem autoritär-strafend vorgestellten Gottes, dessen Urteil das Schwellenereignis zum ewigen Leben darstellt. Die Aussicht auf jenseitige Erlösung – d. h. das, was Hobbes »Hoffnung« nennt (s. u.) – lässt das Individuum für Shaftesbury von den lebensweltlich-nahen »pleasures of sympathy« absehen, welche die soziale Tugend motivieren sollen. Dies wird nun schärfer als bei Hobbes für Shaftesbury zur Basis der Unsittlichkeit des Einzelnen.22 Dies ist deshalb eine Anknüpfung an Hobbes, weil auch bei Hobbes das prekäre Gefahrenpotential religiöser Handlungsmotivation in deren Jenseitigkeit liegt, der nichts Weltliches gewachsen zu sein scheint. Folgerichtig versteht Hobbes in seiner Affektlehre »Hoffnung« [hope] neben ihrem Gegensatz »Furcht« [fear] als
venhaltung auf den Plantagen der neuen amerikanischen Kolonien verwickelt sind. Der Earl of Shaftesbury bildet dabei keine Ausnahme. Diese Verwicklung scheint die Adligen, die politisch betrachtet bürgerlich-progressive Republikaner sind, allerdings damals nur noch mehr darin bestärkt zu haben, selbst nicht »slavish« leben zu wollen; vgl. Billig 2008, S. 73 f. 21 Vgl. Hasbach 1890, S. 91 f. 22 Als ideengeschichtliche Zwischenstufe zwischen der Religionskritik von Hobbes und einer Neufassung der Sittlichkeit als lebensweltlicher Alltagspraxis bei Shaftesbury lässt sich die Problematisierung des Verhältnisses von Religion und Tugend bei Pierre Bayle fassen. Shaftesbury lernt Bayle allerdings erst 1698 kennen, d. h. zu einem Zeitpunkt, zu dem er den ersten Entwurf des Inquiry (nach Lechler) bereits geschrieben hat. Schrader übersieht dies in seiner ansonsten ungemein brillanten Darlegung der philosophischen Denkweise Shaftesburys; ebd., S. 2.
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den mächtigsten und damit gefährlichsten der Affekte.23 Daran knüpft Shaftesbury an. Bemerkenswert an Shaftesburys Konzeptionierung der bürgerlichen Moral ist damit, dass sie deren psychodynamische Motivationsfaktoren hier – im gleichen Atemzug mit den »sozialen« – lebensweltlich profanisiert, indem sie diese mit einer neuen normativen Aufladung versieht. Die wahrhafte »Frömmigkeit« zeigt sich im konkreten sozialen Handeln des Einzelnen und nicht anhand der Anzahl seiner Kirchenbesuche. Wie für Hobbes ist für Shaftesbury der Glaube an einen jenseitigstrafenden Gott als des höchsten Richters zu einem politischen Ordnungsproblem geworden, dem er aber anders als Hobbes eine Art natürliche Religiosität entgegenzusetzen weiß: »So viel kann inzwischen aus dem oben Gesagten geschlossen werden, dass diese Furcht oder Hoffnung unmöglich von der Art sein kann, die wir gute Gemütsbewegungen nennen, insofern sie Triebfeder und Quell aller wahrhaft guten Handlungen sind. Ebenso wenig kann diese Furcht und Hoffnung, wie oben dargetan wurde, in Wirklichkeit zusammen mit Tugend oder Gutsein bestehen, wenn sie entweder als wesentlich für eine sittliche Leistung oder als ein beachtliches Motiv für irgendeine Handlung angesehen werden, für die eine bessere Gemütsbewegung allein den Beweggrund hätte bilden sollen. […] Denn solange Gott nur als der Quell des eigenen Wohls geliebt wird, wird er nicht anders geliebt als irgendein sonstiges Mittel oder Werkzeug des Lustgewinns von irgendeinem lasterhaften Geschöpf geliebt wird.« (UT 1.3.3, S. 80 – 1.)
Gott kann bzw. sollte für Shaftesbury kein Mittel zur Erreichung persönlicher Erlösung sein. Wahrhafte Religiosität zeigt sich im konkreten sozialen Zusammenleben, das bei Shaftesbury den schillernden Glanz einer natürlichen sittlichen Ordnung erhält. Der Grund liegt darin, dass sich im »Menschen« ein natürliches Gleichgewicht zwischen der Selbstsorge und der Sorge um Andere austariert, die beide als wohlverstandene jeweils polar aufeinander verweisen. Dieses Prinzip zeigt sich für Shaftesbury nicht nur beim Menschen, sondern überall in der Natur, doch nur der Mensch kann es als ein Prinzip auch begreifen. Dies ist für die Einrichtung einer »civil society« ein ideologisch ungleich mächtigeres Schema als die rationalen Naturgesetze bürgerlichen Handelns bei Hobbes – der dazu noch dem aufmerksamen Leser eingestanden hatte, deren Natürlichkeit nicht beweisen zu können.24 In diese Lücke springt bei Shaftesbury der »soziale Affekt«. Womit Shaftesbury noch nicht das Problem gelöst hat, wie der »soziale Affekt« eine stärkere Motivation entfalten kann, als es die religiöse Verblendung tut. Diese kann das Individuum von den »sozialen Freuden« ja absehen lassen, wie er selbst beschreibt. Hierfür muss das »soziale« Handeln Belohnung erfahren. Die vorangegangene nicht-bürgerliche Ordnung, in der dies nicht der Fall war, war demnach »unnatürlich«. Weit davon entfernt, ein bloßer Gegner von Hobbes zu sein, löst Shaftesbury hier eines der Hauptprobleme der Konstruktion des Leviathan. Denn für das Problem der qualitativ stärkeren Motivation der Aussicht auf ewiges Leben gegenüber der Einhaltung der staatlichen Gesetze findet Hobbes im 23 24
E 1.9.8, S. 70; vgl. auch L 1.6, S. 53. Vgl. DC 3.33, S. 114.
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II. Kapitel · Shaftesbury
Leviathan keine Lösung. An diesem Punkt im dritten Buch, das vom »Christian Commonwealth« handelt, bricht seine Reflexion einfach ab. Shaftesbury hat dagegen eine Lösung für das Problem der Bedrohung ziviler Ordnung gefunden: Er verwirft diese Form der Motivation als unsittlich und verschiebt damit das motivationspsychologische Koordinatensystem, indem er der Hoffnung auf jenseitige Erlösung die »soziale« Motivation als natürliche entgegenstellt. Man kann sagen, dass er damit eine Idee von »civil society« begründet, die daraufhin beginnt, als das »soziale« Fundament des Staates zu erscheinen.
2.3 »Sympathy« als neue soziale Grundbindung der bürgerlichen Gesellschaft Kein Begriff zeigt deutlicher den Aufstieg eines bestimmten »sozialen« Regulationsmodells als der Begriff »sympathy«. Die Bedeutungsspannbreite dieses Begriffs zur Zeit Shaftesburys geht über den heutigen Begriff der Sympathie hinaus. Von seiner älteren Begriffsgeschichte her betrachtet, stellt allerdings schon die mit der modern-bürgerlichen Sozialphilosophie aufkommende Bedeutung der Sympathie als Kraft zwischenmenschlicher Affizierung eine Verengung der Semantik dieses Begriffs gegenüber seinem antiken Ursprung dar. Hier bezeichnet »sympathia« noch viel allgemeiner die wechselseitige mimetische Angleichung jedweder Naturentitäten.25 Seit der Neuzeit ist die Verwendung des Begriffs auf zwischenmenschliche Anziehung eingeschränkt. Vor allem in der neuen britischen Union, wo eine bürgerliche Gesellschaftsordnung zuerst in Europa zum Durchbruch gelangt, ist die Vorstellung von »sympathy« ein zentraler Bestandteil der Etablierung eines neuen Menschenbildes. Shaftesbury ist vielleicht der erste Autor, bei dem alle Bestandteile dieser Idee der sozialen Natur des Menschen zusammenfinden. Zudem zeigt die Betrachtung seiner Texte mit aller Deutlichkeit den politischen Entstehungszusammenhang dieser Vorstellung. Zwar stellt Shaftesbury selbst das bürgerliche Klischeebild eines Adligen dar. Er ist von einer schwachen nervlichen Verfassung, habituell effeminiert, latent homosexuell und lungenkrank.26 Doch das ändert nichts daran, dass sich in seinem Inquiry concerning virtue and merit zum ersten Mal das »soziale« Regulationsmodell der »bürgerlichen Gesellschaft« in seiner prinzipiellen Andersartigkeit zum »von oben« regierenden Staat zeigt.27 Diese beiden TeilmodelReinhardt 1926, dazu auch Foucault 1966, S. 32 f. Vgl. Billig 2008, S. 76. 27 Dies bildet den kategorialen Unterschied zu Pufendorf, der die natürliche sociabilitas innerhalb seiner Naturrechtskonstruktion schon zuvor wieder gegen Hobbes geltend zu machen versucht. Darin, die Geselligkeit wieder als natürliche Pflicht zu fassen, geht die Konstruktion von Pufendorf politisch gesehen allerdings eher einen antiliberalen Schritt hinter Hobbes zurück. Bei Shaftesbury spielt die naturrechtliche Fragestellung insofern keine Rolle mehr, als es ihm um die Frage der gesellschaftlichen Verwirklichung der Sozialkompetenz eines freien Einzelnen geht. Dies unterscheidet ihn auch von Cumberland und Thomasius, die ebenfalls zeitgleich eine Naturalisierung der Geselligkeit vornehmen. Man muss sich hier klar machen, dass es sich um einen gesell25 26
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le bilden eine komplementäre Entgegensetzung, bei der die soziale Interaktion freier Individuen als öffentliches Gegengewicht zur Staatsmacht erscheint. Die Naturalisierung einer bestimmten Idee der zwischenmenschlichen Relationiertheit als »sozial« ist dafür von zentraler Bedeutung. Die politischen Einrichtungen – die Verfassungsorgane und Regierungsinstitutionen – erscheinen plötzlich so, als wären diese Institutionen das Produkt zwischenmenschlicher Interaktionen, die bestimmten natürlichen Gesetzlichkeiten folgen. Allen gesellschaftlichen Apparaten, ob politisch oder ökonomisch, liegt eine unmittelbare »soziale Ordnung« der Interaktion freier Individuen zugrunde, auf der sie aufbauen. Noch der junge Karl Marx wiederholt dieses begriffliche Schema, wenn er die Aufhebung der verselbständigten Anteile der Vergesellschaftung als nachträgliche Rücknahme der »ökonomischen« und »politischen« Sphäre in die »soziale« Sphäre konzipiert.28 Was ist die Funktion der »sozialen« Sphäre bei Shaftesbury? Die soziale Funktion von »sympathy« liegt zunächst in der Evokation eines gefühlten Zusammenhalts und Gemeinschaftsgefühls, das damals auf Deutsch als »Geselligkeit« bezeichnet wird. In der »Geselligkeit« realisiert sich die Sympathie im Sinne einer menschlichen Anziehungskraft, deren Vorhandensein die soziale Natur des Menschen offenbart. Hier zeigt der Einzelne sein natürlich-altruistisches Bedürfnis nach dem Wohlergehen der Anderen, das Shaftesbury auch »social affection« nennt. Ego fühlt sich Alter »sozial« verbunden und Shaftesbury begrüßt diesen, die »Freuden der Sympathie« [pleasures of sympathy] ermöglichenden »sozialen Affekt« mit der uneingeschränkten Begeisterung eines Deisten, der nach der positiven Hinterlassenschaft Gottes in der menschlichen Natur fahndet und selbige darin erblickt. »Sympathy« schafft damit eine mediale Empfindungsgrundlage für das freiheitliche Zusammenleben in höflicher Friedlichkeit, d. h. in »civility«. Ähnlich wie sich in Lockes Erziehungsbuch ein basales Anerkennungsbedürfnis des Kleinkindes von dem entwickelten Reputationsbedürfnis des Heranwachsenden abgrenzen lässt (vgl. 1.4), unterscheidet Shaftesbury eine erste, unmittelbare Ebene des sozialen Umgangs, auf der die Sympathie Anderer für das Ich schiere »Freude« bedeutet, von einer zweiten Ebene, auf der die Wahrnehmung des eigenen Wohlverhaltens durch Andere zur subjektiven Akkumulation sozialer Reputation führt. Anders ausgedrückt erscheint derjenige als besonders tugendhaft, der sich im gesellschaftlichen Zusammenleben als besonders gütig erweist. Dass man dieses Gefälligkeitsbedürfnis aber überhaupt hat, liegt daran, dass die Zuwendung Anderer für das Ich »Freude« bedeutet. Die unmittelbare Lust des Individuums daran, das Wohlwollen Anderer zu erfahren, – und seine Angst davor, diese Sympathie verweigert zu bekommen – eröffnet für Shaftesbury auf eine ähnliche Art und schaftsgeschichtlichen Prozess handelt, der sich ideengeschichtlich jeweils niederschlägt. Zur deutschen Fassung der sociability/sociabilité als Geselligkeitstheorie bei Thomasius vgl. Schneiders 1971. Für die deutsche Gesamtdebatte im Kontext der europäischen Aufklärung siehe Vollhardt 2001; zu Pufendorf auch Hont 2010. 28 Marx, Zur Judenfrage, in: MEGA Abt. 1, Bd. 2, S. 648 f.
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II. Kapitel · Shaftesbury
Weise wie für Locke die Möglichkeit, dem Ich ein darüber hinausgehendes Streben nach der Akkumulation sozialer Reputation anzuerziehen. Während bei Locke allerdings dieser Anerziehungsprozess noch offen verhandelt wird, tritt bei Shaftesbury eine ideologische Verkehrung ein: Da »social affection« natürlich ist, sind es besonders die schlechten Menschen, welche nur deshalb sozial handeln, weil es ihrem »guten Ruf« zuträglich ist. Dieses erweiterte Reputationsbegehren basiert nun allerdings nur noch bedingt auf der »Freude des Mitempfindens« als einer unmittelbar-positiven Emotion, sondern auf dieser zweiten Ebene, die Shaftesbury in Abgrenzung zur ersten Ebene auch als »other effect of social love« bezeichnet (s. u.), sorgt sich der Einzelne darum, wie er Anderen erscheint (2.3.1). In einem zweiten Schritt möchte ich dann gesondert betrachten, inwiefern »soziale Liebe« [social love] bei Shaftesbury eine libidinöse Ressource bezeichnet, die das Individuum angehalten ist, nach Maßgabe der Gerechtigkeit in der Gesellschaft zu verteilen. Die Sympathie fungiert hier wie ein Filter, durch den sich das Mitgefühl als affektiver Zuspruch der Individuen »sozial« vermittelt. Die gelingende Selbstbeherrschung des Bürgers zeigt sich nicht in einer seinem Objekt gegenüber wahllosen sozialen Affiziertheit, sondern umgekehrt in deren sittlich erlernter Beschränkung (2.3.2).
2.3.1 Zwei Wirkungen der sozialen Liebe: Bedürfnis nach Sympathie und Ansehen Die soziale Abhängigkeit von Anderen birgt im klassisch-theologischen Moralverständnis als weltliche Bindung des Individuums für dieses primär die Möglichkeit, korrumpiert und sündig zu werden. Dagegen richtet sich Shaftesburys »natürlichreligiöses« Moralverständnis, bei dem sich das Individuum vor allem in seinen sozialen Bindungen als »natürlich-fromm« auszeichnen kann. Der Unterschied zwischen diesen beiden Auffassungen besteht vielleicht, trotz der machtvollen Polemik Shaftesburys (s. 2.2), weniger darin, dass sich nun in den weltlichen Bindungen des Individuums dessen Frömmigkeit zunächst einmal unter Beweis zu stellen hat. Denn auch im älteren klassisch-theologischen Moralverständnis muss jemand ja zeigen, dass er durch den Kontakt mit Anderen nicht korrumpiert wird. Der entscheidende Unterschied ist vielmehr, dass mit der »sozialen« Wendung des Menschenbildes, die Shaftesbury vorschwebt, die soziale Abhängigkeit von Anderen von einem Sündenpfuhl zum Garanten der Herstellung von Sittlichkeit avanciert. Das ist der kontrolltechnologische Subtext der frühliberalen Lobpreisung von »sympathy«. Besonders Shaftesburys Unterscheidung von »zwei Wirkungen der sozialen Liebe« [first and other effect of social love] offenbart eine Ambivalenz dieser Vorstellung von sympathetischer Bindung: Vordergründig positiv und lebensbejahend stellt diese hintergründig-medial doch auch eine Bedürfnisfixierung des Einzelnen sicher, die darin zu sehen ist, dass man sich dem Begehren der Erscheinung des eigenen Selbst als tugendhaft vor Anderen nicht entziehen kann. Erneut ähnlich zum vorherrschend neoepikureischen Affektverständnis des
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17. Jahrhunderts (s. 1.2) wird dieses Streben nach dem Ansehen Anderer von Shaftesbury als lustvolles Verlangen konzipiert: »Welch ein beträchtlicher Teil des Glücks aus der ersten dieser Wirkungen [der sozialen Liebe, DS] entspringt, wird jeder leicht einsehen, der nicht extrem bösartig ist. Man betrachte nur, wie viel Vergnügen es bereitet, Zufriedenheit und Freude mit Anderen zu teilen, sie mit Anderen in gegenseitiger Verbundenheit zu erlangen und sie gewissermaßen aus den angenehmen und glücklichen Lebensumständen derer zu sammeln, die um uns sind, wie auch aus Berichten und Erzählungen von solchem Glück, ja selbst aus dem Gesichtsausdruck, den Gebärden, Stimmlauten und Tönen auch der Kreaturen, die nicht von unserer Art sind und deren Anzeichen von Freude und Befriedigung wir einigermaßen unterscheiden können. Diese Freuden der Sympathie nehmen uns derart ein und durchdringen unser ganzes Leben, dass sie wohl von allem, was uns erfüllt und befriedigt, einen wesentlichen Teil ausmachen« (UT 2.2.1, S. 116 – 7).
Zunächst wird hier das »gesellige« Zusammengehörigkeitsgefühl deutlich, das »sympathy« bei Shaftesbury bezeichnen soll. Bemerkenswert an allen Beschreibungen Shaftesburys dieser Art ist es, dass er einen bestimmten Einbildungs- oder Imaginationscharakter von »sympathy« nicht nur nicht verleugnet, sondern oftmals sogar betont. »Sympathy« wird sozial funktional, indem im einzelnen »mind« die vermeintlich positiven Einschätzungen Anderer über einen selbst wachgerufen werden, d. h. auch schon als Phantasie eines zukünftigen geselligen Beisammenseins. Alle Regungen des bürgerlichen Individuums werden kommunikationstheoretisch vereinnahmt, indem schon das einfache Lächeln anfängt, etwas zu erzählen bzw. Teil der Interaktion zu werden. Die imaginär vermittelte »Freude« daran, wie Andere einen sehen, versteht Shaftesbury zunächst vor dem Hintergrund eines das einzelne Ich prinzipiell erhebenden Charakters. Der umgekehrte Fall, in dem einen die imaginierte Sichtweise der Anderen auf einen selbst in Hume’scher Wortbedeutung niederdrücken [humiliate] kann, bleibt hier zunächst noch außen vor (vgl. 3.2). Als »boshaft« erscheint zunächst, für wen die »Freuden der Sympathie« bedeutungslos bleiben. Die unmittelbare Freude an Sympathie hat selbst den Charakter eines Gutes, das sinnlich genossen wird. Die initiale Begeisterung Shaftesburys gilt vor allem dem Faktum, dass »pleasures of sympathy« sozialen Zusammenhalt stiften. Den unmittelbar sympathetischen Abglanz des freudigen Gesichtsausdrucks Anderer fasst Shaftesbury an anderer Stelle als eine Art von Genuss, den man sogar gegenüber »freudig« aussehenden Tieren hat. Auch wenn es sich bei Shaftesbury noch eindeutig so verhält, dass »pleasures of sympathy« als »first effect« von »social love« etwas sind, das offenbar nur positiv sein kann, kündigt sich doch der modern-sozialwissenschaftliche Schwenk der Hume’schen Reflexion auf »sympathy« bereits darin an, als deren Grundphänomen eine automatisierte emotionale Affiziertheit zu denken. D. h. phänomenal wird auch hier »sympathy« schon als emotionale Ansteckung gedacht (vgl. 3.2.2). Zwar stellt Shaftesbury unter dem Begriff »sympathy« noch kein »Mitempfinden« mit jeglicher Art von Affekten vor – d. h. auch der für einen selbst unangenehmen, wie dies dann Hume und Smith tun werden –, aber dennoch sind die vermeintlichen »pleasures of sympathy« auch bei Shaftesbury schon solche, de-
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nen sich der Einzelne nur zum Preis der Aufgabe seiner sozialen Identität überhaupt entziehen kann. Es ist dieser Charakter der Nicht-Hintergehbarkeit der »Freuden der Sympathie«, der für deren soziale Funktionsweise grundlegend ist, denn erst die kaum mögliche Entziehbarkeit des Subjekts gegenüber »sympathy« gewährleistet als »other effect« von »social love« das Bedürfnis nach einem »guten Ruf«. Shaftesbury scheint sowohl so zu argumentieren, dass man diesen »guten Ruf« begehrt, weil er selbst ein »imaginärer Genuss« ist, aber andererseits auch den zukünftigen Genuss von »pleasures of sympathy« ermöglicht – die sonst weniger Andere mit einem »teilen« wollen. Spätestens die Art und Weise, wie Shaftesbury das Individuum nun – als »other effect« von »social love« – als durchgängig besorgt um sein Ansehen bei Anderen zeigt, relativiert die zunächst angstfrei erschienene, positiv-emotionale Grundfärbung der »Freuden der Sympathie« erheblich. Zwar schematisiert Shaftesbury das subjektive Wissen um den eigenen »guten Ruf« als sensuellen Genuss eines »inneren Sinns«. Doch faktisch beschreibt Shaftesbury hier – umgekehrt betrachtet – auch eine subjektive Angst, nämlich die davor, von Anderen als eine Person wahrgenommen zu werden, mit welcher der soziale Umgang nicht lohnenswert ist. Die den Einzelnen innerlich beschäftigende »Einbildung« ist die, ob man selbst den Anderen als jemand erscheint, mit dem sich der Umgang lohnt. Ein lohnenswerter Partner im Umgang ist die Person, die – als jemand angesehen wird, die – »zumindest einige wenige zu Dank verpflichtet« hat: »Bei der zweiten Wirkung der sozialen Liebe, also dem Bewusstsein, zu recht geschätzt und geachtet zu werden, lässt sich leicht sehen, wie sehr sie inneres Vergnügen bereitet und den Hochgenuß und das Glück derjenigen Menschen ausmacht, die genußsüchtig im engsten Sinne sind. Ist es nicht für den Selbstsüchtigsten unter uns ganz natürlich, fortwährend eine gewisse Befriedigung aus seinem guten Ruf zu schöpfen und sich in der Einbildung verdienter Bewunderung und Achtung zu gefallen? Denn wenn es auch nur Einbildung sein mag, so wollen wir sie doch wahrhaben und schmeicheln uns selber, so gut wir können, mit dem Gedanken an irgendwelche Verdienste und reden uns ein, dass wir zumindest einige wenige, mit denen wir näheren und vertrauteren Umgang pflegen, zu Dank verpflichtet haben« (UT 2.2.1, S. 117).
Wieder spielt hier im Hintergrund die beliebte Differenzierung zwischen besseren und schlechteren Menschen eine Rolle, die den Vertretern der »sozialen Natur« ermöglicht, Zwangselemente ihres freiheitlichen Lebensführungskonzeptes als nur für die schlechteren als nötig darlegen zu können. Shaftesbury scheint mir hier sinngemäß folgende Vorstellung der sozialen Einbindung auch des »Selbstsüchtigsten« entwickeln zu wollen: Dieses Individuum will ein bestimmtes Ansehen genießen, das es nur erlangen wird, wenn es sich um Andere »verdient gemacht« hat. Seine »selfishness« sorgt so faktisch dafür, dass es Anderen Achtung entgegenbringen wird. Ein derart aus dem Ansehen Anderer generiertes Selbstwertgefühl verstärkt und stabilisiert somit auch die Tugendhaftigkeit dieses »selbstsüchtigen« Individuums. Wieder hängt hier die Beweislast an der unterproblematisierten Annahme, man erfahre soziale Anerkennung immer schon/nur für sein faktisches
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Wohlwollen. Shaftesbury denkt den Einzelnen als abhängig vom »guten Ruf«, und die subjektive Aneignung dieser Reputation als rückgebunden an das Zeigen eines aktiven Wohlwollens gegenüber Anderen. Damit bestimmt er das individuelle Wohlbefinden von Ego von seiner Wahrnehmung durch Alter zum ersten Mal auf eine Art und Weise als »sozial« abhängig, die es gesellschaftlich regulierbar macht. Denn es ist diese Abhängigkeit, die bei Shaftesbury den gesellschaftspolitischen Einsatzpunkt bildet, die sittliche Konformität des Einzelnen zu gewährleisten. Und zwar auch und vor allem desjenigen zu gewährleisten, der ohne diesen zusätzlichen Antrieb nicht zur Tugend geneigt hätte, sondern der nur an der genussbringenden Steigerung seiner sozialen Reputation interessiert ist. Zusammenfassend lässt sich damit Folgendes festhalten: »Sympathy« steht bei Shaftesbury für eine Art von sozialer Doppelbindung des Individuums, die einerseits – da jedes Glück einer sozialen Natur mit Anderen geteilt sein will – dadurch wirkmächtig wird, dass sie wenig bis gar kein Glück abseits von »sympathy« mehr erfahrbar werden lässt. Andererseits werden diese Anderen sich für das Ich kaum finden lassen, wenn dem Einzelnen nicht ein »guter Ruf« seiner selbst bereits anhaftet. Da »pleasures of sympathy« die stärksten Lusterfahrungen darstellen, die man haben kann – solange man ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung verinnerlicht hat –, werden so auch diejenigen Subjekte, die »genußsüchtig im engsten Sinne« [voluptuous in the narrowest sense] sind, effektiv auf soziale Normen verpflichtet, die diese »Selbstsüchtigsten« [the most selfish among us] sonst nicht eingehalten hätten. Nicht nur gleicht die Erfahrung von »sympathy« damit paradoxerweise einem narzisstischen Rausch, sondern ihre Erfahrung verstärkt auch die Eitelkeit. Für Shaftesbury unerheblich ist dabei, ob die Vorstellungen, die man davon entwickelt, was Andere über einen denken, faktisch zutreffen oder nicht, solange diese ihren Motivationszweck erfüllen, den Einzelnen zum sittenkonformen Handeln zu bewegen. Wie in Lockes Befürwortung von subjektiver Verstellung zur Herstellung von »civility« wird der Frage, ob das – als wohlwollend unterstellte – Urteil der Anderen über einen selbst »wahr« ist, eine untergeordnete Rolle gegenüber der zugewiesen, ob es psychisch wirksam ist.
2.3.2 Die gerechte Verteilung der sozialen Liebe Bevor ich mich abschließend mit der Frage beschäftige, welche Problemgeschichte mit Shaftesburys Modell von »civil society« zu einer Art ersten Lösung kommt, lohnt es sich, zuvor die Art und Weise näher zu beleuchten, wie sich »social love« für Shaftesbury gerecht verteilt. Dies ist zum einen wichtig, um eine präzisere Vorstellung davon zu gewinnen, wie er sich die affektiven Beziehungsverhältnisse zwischen einzelnen Bürgern vorstellt. Zum anderen lässt sich mit Hinblick auf die viel präziser ausgearbeiteten Mitleidsethiken von Hume und Smith bei Shaftesbury dennoch bereits ein Trend ausmachen. Etwas philosophischer ausgedrückt deuten Shaftesburys Ausführungen zur gerechten Verteilung von »social love« schon auf
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die dialektische Spannung der Mitleidsethik von Smith voraus, so dass die Diskussion der Frage, wann Mitleid angemessen ist, schließlich in die Überlegung mündet, wie ein sentimentalistisch veranlagtes Subjekt überhaupt dazu in der Lage ist, einem Anderen sein Mitleid zu verweigern. Obwohl der moralische Sinn die natürliche Disposition dazu anzeigt, dass einen das Leid Anderer nicht gleichgültig bleiben lässt, fordert Shaftesbury, dass man seine »social love« nicht verschwendet. Man soll seine Zuneigung nicht wahllos an beliebige Andere verausgaben. Im Gegenteil soll man sie dazu nutzen, Andere Bestätigung, aber – im Fall ihres Fehlverhaltens – auch die eigene Abneigung spüren zu lassen. Auch diese Überlegungen erinnern stark an Lockes Gegenüberstellung von Lob und Anerkennung als Reaktion auf das zu fördernde Verhalten von Kindern und der Beschämung von Kindern als Reaktion auf deren zu sanktionierendes Verhalten. Der Unterschied ist nun, dass jedes Individuum in einer »civil society« diese Macht zu Lob und Beschämung hat und insofern an der sittlichen Ordnung mitwirkt. Dementsprechend wird ein sentimentalistischer Überschwang, der von vornherein mit jedwedem Leid Anderer sympathisiert, von Shaftesbury als schwach charakterisiert. Systematisch ausgedrückt lässt sich dies auch als Begrenzungsproblem der Reichweite eines moralischen Sensoriums verstehen: Wenn sich Mitleiden mit Anderen impulsiv automatisiert vollzieht, stellt sich systematisch eher die Frage, wie man es begrenzt, als wie man es herbeiführt. Beide Perspektiven treffen sich in der Vorstellung der Kultivierung. Die Kultivierung beinhaltet zentral auch die Frage nach der Begrenzung des Mitleids: Wie im Angesicht von Leid bewusst gleichgültig bleiben, wenn ein bestimmter Anderer kein Mitleid verdient hat? Rousseau entwirft im Emile eine bedingungslose Hinwendung zum Leid Anderer als erste menschliche Natur. Auch Hume vertritt eine ähnliche Position zumindest insofern, als er die Diskussion der natürlichen Funktionsweise des Mitleids von derjenigen der gesellschaftlichen Herstellung von Gerechtigkeit trennt: Mitleid vollzieht sich zunächst aus einer unmittelbar-impulsiven Hinwendung zum Anderen, die von Gerechtigkeitsüberlegungen unabhängig ist. Und dies ist für Shaftesbury – und später Smith – genau das Problem: Für Shaftesbury ist »social love« eine libidinöse Ressource, die der Einzelne möglichst »gerecht« [just] unter seinen Mitmenschen verteilen muss. Die Gewährung dieser »sozialen Liebe« ist abhängig davon, ob der Andere dem Gerechtigkeitskodex der Gesellschaft gefolgt ist. Es gehört zu diesem Kodex, Zuneigung nicht grundlos zu zeigen. Shaftesbury ist selbst Aristokrat, und seine Vorstellung der Geselligkeit weist darin elitäre Züge auf, dass er hohe Ansprüche an die Sozialkompetenz und das Bildungsniveau sozialer Interaktionspartner stellt. Doch dadurch, dass er eine soziale Natur in allen Menschen hypostasiert, die sich in einer natürlichen Veranlagung zur Empathie zeigt, weist seine Sozialphilosophie in ihrem Demokratisierungspotential weit über seine eigenen realpolitischen Vorstellungen hinaus.29 Die Anhänger Shaftesburys im deutschsprachigen Raum sprechen begeistert vom »Gleichgefühl«, das seine Philosophie 29
Vgl. Barker-Benfield 1992.
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inauguriere.30 »Social love« manifestiert sich prinzipiell als die soziale Gleichbehandlung aller durch alle. Daher hat Shaftesbury vermutlich den alten Feudaladel im Blick, wenn er, wie unten zitiert, feststellt, dass es in einer gut eingerichteten Gesellschaft nicht darum gehen kann, lediglich den Anschein zu erwecken, am Schicksal Anderer teilhaben zu wollen. Vielmehr muss man daran ein »wahrhaft moralisches« Interesse nehmen. Diesen programmatischen Egalitarismus verknüpft er mit einer neorepublikanischen Vorstellung der Gesellschaft als einem holistischen Ganzen, in der aktive »Teilhabe« erst zwischenmenschliche »Gemeinsamkeit« schafft. Diese bemerkenswerte Anrufung eines nicht vorgetäuschten, ungespielten Interesses am Gemeingut lässt sich nur so interpretieren, dass sie sich hier gegen die in der »honnêteté« glorifizierte Kunst der höflichen Verstellung richtet: »Damit aber niemand sich einbilde, dass eine natürliche Gemütsbewegung geringeren Grades oder ihre unvollkommene, einseitige Beachtung die Stelle der ganzen, reinen und wahrhaft moralischen Gemütsbewegung einnehmen könne und eine leichte soziale Einfärbung der Neigung nicht für hinreichend gehalten werde, dem Ziel nämlich, der Freude an der Gesellschaft zu genügen und uns jenen Genuss der Teilhabe und Gemeinsamkeit zu gewähren, der so wesentlich für unser Glück ist, so werden wir zuerst bedenken, dass eine einseitige Neigung oder soziale Liebe für eine Seite, ohne Rücksicht auf die Gesellschaft, d. h. auf ein Ganzes, eine Ungereimtheit ist, und einen absoluten Widerspruch enthält. Wenn sich eine Neigung, zu was auch immer, ausgenommen uns selber, nicht nach Art der natürlichen Gemütsbewegungen, auf das System oder die Gattung richtet, dann muss sie, stärker als jede andere Gemütsbewegung, das allgemeine Wohl zersetzen und die Freude an der Gesellschaft zerstören« (UT 2.2.1, S. 118, Hervorhebung hinzugefügt).
Warum nimmt Shaftesbury hier ausgerechnet die Selbstliebe, d. h. die »Neigung zu uns selber«, davon aus, dass in ihr ein falsches Ausmaß nicht schädlich für die Gesellschaft sei? Dies hängt mit seiner Grundannahme zusammen, dass Eitelkeit [vanity] durch eine geschickte Einrichtung der Gesellschaft, d. h. präziser: durch die Kultivierung eines bestimmten Regimes sozialer Anerkennung formbar ist. Auch ein Übermaß an Selbstliebe kann daher dennoch den positiven Effekt entwickeln, dass man im Übermaß versucht, gesellschaftlichen Erwartungen zu entsprechen. Diese optimistische Vorstellung der sozialtechnologischen Bändigung des Narzissmus stellt zur älteren Theorie der Einbindung von »amour-propre« in ein soziales Tugendregime, wie sie m. E. zuerst von Pierre Nicole im französischen Moralismus des 17. Jahrhunderts formuliert wird, eine entscheidende Verflachung dar. Shaftesbury lässt z. B. den von Nicole ausführlich behandelten Aspekt, dass die Bestärkung der Selbstliebe durch Andere den widersprüchlichen Effekt der meist darauf folgenden Abwendung von diesen Anderen erzeugt, außer acht: Ist man einmal durch Andere im Selbstbild bestärkt, verlieren diese als Fürsprecher daraufhin meist an Bedeutung.31 Vgl. Sauder 1974. Vgl. Nicole 1715 (1671), De la civilité chrétienne, Kap. 1 Comment L’amour-propre produit la civilité, S. 94. 30 31
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Eher scheint es zu wenig Selbstliebe zu sein, die für Shaftesbury das Gefühlsregime sozialer Gerechtigkeit gefährdet. Zwar bedient er sich weiterhin zumindest ansatzweise christlicher Demutsrhetoriken darin, dass für ihn geringe Selbstliebe auch Ausdruck einer edlen, altruistischen Neigung sein kann. Für alle »sozialen Neigungen« aber gilt, dass ihre Gestalt und ihre Stärke durch das soziale Disziplinierungsregime der natürlichen Sympathie genau reguliert sein müssen. Ausmaß und Reichweite der Wohltätigkeit des Einzelnen sollen sich im Rahmen bürgerlicher Gerechtigkeit bewegen. Moralische Gefühle sollen in ihrer Empfindungsqualität und -quantität möglichst nicht persönlich eingefärbt sein. Wenn sich der Einzelne in einer bestimmten Situation innerlich einer zu dieser Situation passenden, spezifischen Empfindung gar nicht erwehren kann, ist das soziale Tugendregime gegenwärtig. Es ist nicht abwegig, in der minutiösen Rigorosität dieses Emotionalitätsdispositivs Shaftesburys bewusste Abwehr der deutlich weitreichenderen Gerechtigkeitsideen der englischen Dissentersekten des 17. Jahrhunderts zu erblicken. Über die Vorstellung der Gesellschaft als eines organischen und gerechten Ganzen wird jeder Einzelne in die egalitäre Pflicht genommen, mit den Anderen in sozialen Austausch zu treten. Dieser Zwang ist auch in seinem eigenen Interesse nicht zuletzt deshalb, weil das individuelle Glück so sehr von der Erfahrung seiner selbst in der Gesellschaft abhängig ist. Während Locke von einem hintergründigen Eigeninteresse ausgeht, das als Movens jedes soziale Handeln durchdringt, definiert Shaftesbury Tugendhaftigkeit umgekehrt als soziales Movens, das auch das Selbstinteresse beseelt. Wenn man lediglich aus Gründen des eigenen Fortkommens in der Gesellschaft »sozial« ist – ungesellig gesellig, um mit Kant zu sprechen –, ist man dem hohen Anspruch Shaftesburys gemäß nicht »innerlich« tugendhaft. Die Ironie dieser Ausführungen liegt jedoch darin, dass die »selbstsüchtigen« [selfish] Menschen genau auf diese Art und Weise motiviert werden, indem sie im Begehren nach sozialer Anerkennung nur ihre Eitelkeit befriedigen. Und Shaftesbury macht keinen Hehl daraus, dass er glaubt, dass dies auf die Mehrzahl der bürgerlichen Handlungsakteure zutrifft. Wer aber tugendhaft ist, sieht umgekehrt ein, dass sein individuelles Glück von einem guten Zustand der Gesellschaft als Ganzer abhängt, dem es daher zuzuarbeiten gilt. Bedenkt man hierbei allerdings nun, dass nach Whig-Ideologie ein solches Interesse am gesellschaftlichen Gemeinwesen in erster Linie Großgrundbesitzern wie Shaftesbury selbst zukommt – weil nur diese es sind, welche die für den gesellschaftlichen Wohlstand nötige sozioökonomische Infrastruktur schaffen32 –, lässt sich hier auch eine stark ideologische Lesart ansetzen, die ein Interesse an agrarkapitalistischer Expropriation hinter einem Interesse am gesellschaftlichen Gemeinwohl verbirgt. Besonders schwer würde dann wiegen, dass Shaftesbury selbst eine Verstellungs- und Heucheleikritik bemüht, um auf das »wahrhaftig moralische« Interesse der tugendhaften Besitzenden zu verweisen, zu denen er sich selbst zählt. Dazu passt auch, dass er an anderer Stelle, wie schon Victor Lechler 1841 hellsich32
Vgl. Smith 1978b, 2.3, S. 272 f.; vgl. auch Burke 2014, S. 105 f.
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tig bemerkt, gegen das parasitäre jüdische Spekulantentum – im Namen des schöpferisch-organischen Agrarkapitals – wettert.33 Es ist wichtig, dass diese oligarchische Seite seiner Idee von Gesellschaftsordnung, die Shaftesbury an dieser Stelle in systematische Nähe zu Edmund Burke bringt, nicht ineinsgesetzt wird mit der (ungewollt) demokratischen Wirkung seiner Idee der sozialen Natur. Burke verwendet den Begriff »Capital« in seinen Reflections on the Revolution in France im Sinn einer schöpferisch-organischen Einheit, welche die Gesellschaft zusammenhält, die so gegen die parasitäre Ausbeutung durch (jüdische) Finanzspekulanten geschützt bleibt. Es ist interessant zu sehen, dass frühe Agrarkapitalisten wie Shaftesbury diese antisemitisch eingefärbte Kritik an einem spekulationszentrierten Finanzkapitalismus teilen. Zugleich ist offensichtlich, dass deutlich mehr demokratisches Potential in Shaftesburys Idee der sozialen Natur steckt. Die Philanthropie hat mit der Sozialphilosophie Shaftesburys in England Hochkonjunktur, genau weil sie auf der Vorstellung einer sozialen/geselligen Vermittlung des Wohlbefindens aller Einzelnen miteinander – aller mit allen – beruht.34 Diese Denkweise ist gerade nicht utilitaristisch, da sie bestreitet, dass es ein vom Sozialen irgendwie abgelöstes Glück des einzelnen Individuums überhaupt geben kann. Es ist kein Wunder, dass John Stuart Mill in seinem Utilitarismusbuch, das eine immanente Grundlagenkritik der utilitaristischen Gesellschaftstheorie darstellt, auf die Annahme eines moralischen Sinns zurückkommt, um die vom vereinzelten Bewusstsein ausgehende Bentham’sche Glücksvorstellung als fehlgeleitet zu kritisieren.35 Shaftesbury bemüht noch einmal das im neuzeitlichen Naturrecht wichtige Räuberbandenbeispiel, aber bei ihm beweist der soziale Zusammenhalt in der Räuberbande nun nicht mehr die Notwendigkeit eines rationalen Regelwerks gesellschaftlichen Zusammenlebens, sondern bemerkenswerterweise die Sympathie- und Anerkennungsbedürftigkeit der sozialen Natur: »Welcher Tyrann, welcher Räuber oder offene Schänder der bürgerliche Rechte hätte nicht einen Spießgesellen oder eine besondere Sippschaft von Verwandten oder sogenannten Freunden, mit denen er gerne sein Gut teilt, deren Wohlergehen ihn erfreut, und deren Freude und Befriedigung er zu seiner eigenen macht? Wer bliebe unbeeindruckt, wenn vertraute Menschen ihm schmeicheln oder freundlich tun? Stehen nicht fast alle unsere Handlungen in einer Beziehung zu dieser süßen Hoffnung und Aussicht auf Freundschaft? […] Wäre es möglich, Freude so zu verrechnen wie gemeinhin andere Dinge, so könnte man wohl sagen, dass aus diesen beiden Zweigen (der Gemeinsamkeit oder Teilnahme an den Freuden Anderer und dem Glauben, sich um Andere wohl verdient gemacht zu haben) mehr als neun Zehntel aller Freuden im Leben entspringen. Und so gibt es summa summarum im Glück kaum einen einzigen Po-
Vgl. Lechler 1841, S. 243 f. Vgl. J. H. Harder 1933. 35 Mill 1976 (1871), S. 152. »Now it appears to me, that the desire to punish a person who has done harm to some individual, is a spontaneous outgrowth from two sentiments, both in the highest degree natural, and which either are or resemble instincts; the impulse of self-defence and the feeling of sympathy. It is natural to resent, and to repel or retaliate, any harm done or attempted against ourselves, or against those with whom we sympathize.« 33 34
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II. Kapitel · Shaftesbury sten, der sich nicht von der sozialen Liebe herschriebe und nicht unmittelbar von den natürlichen oder freundlichen Affekten abhinge« (UT 2.2.1, S. 117 f., Hervorh. hinzugef.).36
Der friedfertige soziale Umgang in der Räuberbande belegt im neuzeitlichen Naturrecht die Notwendigkeit der Naturgesetze der Gesellschaft, wie z. B. Vertrauen haben zu müssen. Bei Shaftesbury belegt nun das Bedürfnis der Gesetzlosen nach Freunden, seien sie Räuber oder Tyrannen, dass diese tief vergraben in ihrem Herzen auch eine soziale Natur haben. An dieser Stelle merkt man doch, dass die sentimentalistische Naturalisierung der Gesellschaft einen Verlust für die Artikulation normativer Maßstäbe gesellschaftlichen Zusammenlebens bedeutet, zumindest was deren notwendige rationale Begründbarkeit angeht. Anders ausgedrückt wandelt sich die Idee der sozialen Natur von einer normativen Kritik daran, dass sich feudale Gesellschaftsverhältnisse auf ihre rationale Begründbarkeit befragen lassen müssen, zum Emotionalitätsdispositiv eines bestimmten Anerkennungs- und Tugendregimes, das sich genau gegen diese Form von Kritik selbst naturalisierend abdichtet. Schaut man die Menschen so an, als hätten sie einen moralischen Sinn, erscheint jemand, welcher der im moralischen Sinn kodierten Gerechtigkeitsvorstellung zuwider handelt, nicht mehr als eine Person, die sich bewusst einer bestimmten Gesellschaftsordnung widersetzt, sondern als jemand, der seine Affekte nicht angemessen kontrollieren kann – als pathologischer Fall. Diese Pathologisierung politischer Dissidenz scheint ein modernes Phänomen zu sein, weil sie einer Herrschaftspsychologie bedarf, die mit einer identifikatorisch vereinnahmenden Idee menschlicher Natur verknüpft ist – einer Theorie des »wahren Selbst«, wie Isaiah Berlin es nennt.37
2.4 Die soziale Rückbindung der Introspektion an den guten Ruf Es geht Shaftesbury, wie schon Hasbach herausstreicht, um die soziale Neurahmung des bürgerlichen Individualismus und nicht um eine altruistische Gegenphilosophie. Was ihn stört, ist die Nicht-Beachtung des Ordnungspotentials der »sozialen Liebe« in einer Welt von Individuen. Diesem Individualismus, wie Hasbach zeigt, verhilft er damit erst zu seinem gesellschaftlichen Durchbruch, insofern er den gegen die Vorstellung einer Gesellschaft individueller Freiheit und Abhängigkeit der eigenen Selbsterhaltung vom Markt gerichteten Gerechtigkeitsdiskurs der
Locke schreibt in § 1 seines Erziehungsbuches, 9 von 10 Menschen seien das, was sie geworden sind, durch Erziehung geworden. 9/10 ist demnach jeweils der Anteil der durchdringenden Vergesellschaftung; Ged. § 1, S. 7. 37 Zwei Beispiele, die zeigen, wie erschreckend weit diese Pathologisierung gehen kann, sind die Behandlung von Kommunisten als geisteskrank in den USA von den 1930ern bis in die 1950er Jahre und die psychologische Pathologisierung politischer Gegner im Stalinismus. Letztere bekannten in den stalinistischen Schauprozessen am Ende selbst, dass sie so unheilbar psychisch krank seien, dass ihre eigene Liquidation notwendig ist. 36
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Zeit aushebelt.38 Die bürgerliche Welt der freien Individuen ist gerecht, weil sie »sozial« ist. Das ist Shaftesburys Botschaft. Diejenigen, die vor ihm dem Egoismus als Natur des Individuums das Wort redeten, haben der Freiheit, wie er es sieht, keinen guten Dienst erwiesen. Ja, sie haben auf die menschliche Natur etwas projiziert, was sie nicht ist. Sie haben den Menschen in Verruf gebracht. Und dies in einem historischen Moment, der auf die Natur dieses Menschen bauen können muss. Es gilt, diesen »modern projectors« einen neuen »Moralism« entgegenzusetzen, der die natürliche Benevolenz zum Gegenstand hat, wie Shaftesbury dann im Dialog The Moralists sein eigenes Projekt versteht: »Modern Projectors, I know, woud willingly rid their hands of these natural Materials [gemeint sind die »natural and friendly Affections«, DS] ; and woud fain build after a more uniform way. They woud new-frame the human heart; and have a mighty fancy to reduce all its Motions, Balances and Weights, to that one Principle and Foundation of a cool and deliberate Selfishness« (Charakteristics Bd. 1, S. 73).39
Der Beweis, den Shaftesbury in seinen späteren Schriften vor allem für die soziale Natur ins Feld führt, ist, dass ein Individuum unter seiner Fremd- und Selbstwahrnehmung als einer von Anderen einzeln abgelösten Selbsterhaltungsentität psychisch leidet. Wohlgemerkt stellt Shaftesbury nicht die Natürlichkeit der Selbsterhaltung in Frage, sondern nur deren individualistische Abgelöstheit. Diese muss »sozial« eingerahmt werden, wobei sich diese soziale Rahmung als natürlich versteht insofern, als sie gegen den Versuch eines artifiziellen »new-fram[ing]« des »human heart« als »cool and deliberate Selfishness« steht. Dies ist der aktuellen Debatte nicht unähnlich.40 Mir geht es hierbei vor allem darum, stark zu machen, dass es eine Differenz zwischen der Erkenntnis zwischenmenschlicher Abhängigkeit und deren Bewertung gibt. Hobbes hat mir in diesem Kapitel deshalb als Kontrastfolie zu Shaftesbury gedient, weil sich anhand dieser Kontrastierung ein Sachverhalt zeigen lässt, der bis heute Verwirrung stiftet. Auch Hobbes ist sich darüber im Klaren, dass Individuen sich in ihrem Empfinden im Anderen spiegeln können, aber für Hobbes ist dieser intermentale Sachverhalt ein Ordnungs-Problem, das eine diesen Individuen gegenüberstehende Autorität beherrschen können muss. Wie Wolfgang Fach deutlich macht, stehen sich bei Hobbes Staat und Gesellschaft noch im eindeutigen VerVgl. Hasbach 1890, S. 105: »Auch dieser kurze Umriss der Shaftesburyschen Ethik lässt darüber keinen Zweifel, dass kein ethisches System den Individualismus so sehr gefördert hat.« 39 Aus: An Essay on the Freedom of Wit and Humour, s. auch ebd., S. 72: »You have heard it (my Friend!) as a common Saying, that Interest governs the World. But, I believe, whoever looks narrowly into the Affairs of it, will find, that Passion, Humour, Caprice, Zeal, Faction, and a thousand other Springs, which are counter to Self-Interest, have as considerable a part in the Movements of this Machine. There are more Wheels and Counter-Poises in this Engine than are easily imagind.« (Hervorh. i. Orig.). 40 Vgl. Hodgson 2013. Man muss in diesem Zusammenhang der Anthropologie von Tomasello zugute halten, dass sie den Beweis der sozialen Natur so ansetzt, dass das Individuum eine Kooperationsbereitschaft auch dann zeigt, wenn es in seinem jeweiligen Selbsterhaltungsnachteil liegt, zu kooperieren; vgl. Tomasello 2009, S. 186 f. 38
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hältnis eines »ordnenden Staats« zur »geordneten Gesellschaft« gegenüber.41 Bei Shaftesbury avanciert dieses Problem der Abhängigkeit des Selbstwertempfindens des Individuums von der sozialen Anerkennung durch andere Individuen vom Problem zur »sozialen« Lösung. Was sich bei Shaftesbury diesbezüglich ändert, ist weniger das politische Faktum, dass die bürgerliche Ordnung auf einem staatlich institutionalisierten Gemeinwesen aufbaut, als vielmehr die Erscheinung der Relation zwischen den »sozialen« und »politischen« Verhältnissen. Die Naturalisierung von »sympathy« bewirkt, dass die »soziale Interaktion« nunmehr als etwas dem Staat irgendwie Zugrundeliegendes erscheint. Doch diese Vorgängigkeit einer »civil society« erweist sich bei genauerer Hinsicht als Illusion. Auch bei Shaftesbury ist der Staat als Rechtsfundament der sozialen Ordnung unerlässlich: »So sehen wir, dass in einem Staat oder einem verfassungsmäßigen öffentlichen Leben eine rechtschaffene Administration und eine angemessene und gerechte Verteilung von Lohn und Strafe von höchstem Nutzen sind, nicht nur weil dadurch die Lasterhaften gezügelt und dazu gezwungen werden, zum Besten der Gesellschaft zu handeln, sondern auch deshalb, weil dadurch, dass Tugend für jedermann ersichtlich zum Interesse Aller gemacht wird, alle Vorurteile gegen sie abgebaut werden, ihre günstige Aufnahme gesichert wird, und die Menschen auf einen Pfad gebracht werden, den sie später nicht so leicht verlassen können« (UT 1.3.3 S. 85).
Der Staat wird benötigt zur Bewahrung der Rechtsordnung als einer notwendigen Voraussetzung der Reproduktion der Gesellschaft. Wie nun die Einzelnen auf diesen »Pfad der Tugend« gebracht werden sollen, ist die Rückbindung ihres Selbstwertgefühls an die Erfahrung sozialer Anerkennung. Doch dies ist wohlgemerkt ein System der Freiheit, das auf einer staatlichen Rahmung beruht.42 Wenn Foucault die permanente Intervention im Sinn der Bereitstellung einer Hayek’schen »spontanen Ordnung« als ordnungspolitisches Charakteristikum des Neoliberalismus versteht, ist die von Shaftesbury beschriebene permanente Anreizschaffung zur Tugend davon nicht kategorial verschieden. Die Vermittlung, auf der für ihn eine »civil society« beruht, ist abstrakt gefasst eine sozial/sympathetisch hergestellte von Genuss und Benevolenz (Hedonismus und Wohlwollen). Eine Ordnung, die diese »Freuden der Sympathie« dagegen unterdrückt, ist »unnatürlich«. Der Widerspruch zwischen der Verinnerlichung/Anreizung von Tugendhaftigkeit und dem von Shaftesbury angerufenen intrinsischen Motivationspotential zur Sympathie mit Anderen transzendiert sich durch die Scharnierfunktion des Begriffs »sympathy« – abstrakt ausgedrückt: durch die Vorstellung des sozialen Interaktionsverhältnis zwischen freien Individuen –, indem dieses »soziale« Verhältnis dafür Sorge trägt, dass das innerste Verlangen des Individuums das nach der sozialen Anerkennung durch Andere ist. Was Lovejoy als positive Umdeutung von »love of praise« versteht, ist damit anders gefasst der Übergang zu einem »sozialen« Ordnungsdenken, innerhalb des41 42
Fach 1999, S. 29. Dazu Bohlender 2007, S. 29 f.
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sen der moralische Sinn zunächst wenig mehr als die Anrufung der heutigen Zivilcourage ist, nicht abseits zu stehen, wenn jemand Anderem Unrecht geschieht – wobei heute niemand denken würde, aus diesem Sachverhalt wären Gerechtigkeitsmaßstäbe ableitbar. Auch Shaftesbury denkt dies nur insofern, als über die Anbindung einer natürlichen »Eitelkeit« [vanity43] des Einzelnen an ein psychosoziales Netz von Verhaltenserwartungen sich ein Aneignungsprozess vollzieht, innerhalb dessen dieser Einzelne solche Gerechtigkeitsmaßstäbe faktisch verinnerlichen wird. Shaftesburys »Moralismus« beruht immer schon auf dem Gedanken einer Vermittlung von Verstand und Gefühl, vor deren Hintergrund die heute übliche Gegenüberstellung von Rationalismus und Affekttheorie unterkomplex wirkt. In seiner bereits 1941 gehaltenen und erst 1961 als Buch erschienenen Vorlesungsreihe Reflections on human nature, die vom Wandel des pessimistischen Menschenbildes des 17. Jahrhunderts zum optimistischeren Menschenbild des 18. Jahrhunderts handelt, umgeht Lovejoy bemerkenswerterweise die Auseinandersetzung mit Shaftesbury und springt an entsprechender Stelle unmittelbar zu Hume und Smith. Ich vermute dafür einen systematischen Grund, der mit Lovejoys in dieser Reihe vertretenen These zusammenhängt. Lovejoy sieht die frühe Entwicklung der bürgerlichen Moral vor allem durch eine Entproblematisierung von »love of praise« gekennzeichnet: Während der Diskurs des französischen Moralismus noch ein ambivalentes Verhältnis zur aus der Anerkennung Anderer bezogenen Selbstliebe einnimmt, beruht der »britische Moralismus« aufgrund der Notwendigkeit der sozialen Konstruktion einer »civil society« auf deren systematischer Affirmation. Was Shaftesbury in diese Entwicklung so schwer einordbar macht, ist die bei ihm im Vordergrund stehende Annahme der inneren Motivation zur Tugend. Diese wirkt auf den ersten Blick wie ein entschiedener Widerspruch zu der These, das Individuum solle vor allem durch Lob und Anerkennung zur Tugendhaftigkeit bestimmt werden. Doch wie ich zu zeigen versucht habe, ist das Bestechende an Shaftesburys Konstruktion gerade, dass dieser Gegensatz von Innen und Außen bei ihm »sozial« transzendiert wird. Die Tugend hat eine intrinsische Motivationskraft deshalb, weil der Mensch in seinem Inneren bereits ein soziales, d. h. dem Anderen aufmerksam zugewandtes Wesen ist. Es gibt in der Geselligkeit keinen Widerspruch zwischen innerer Motivation und äußerem Lob. Aus der Problemstellung der Frage nach den Notwendigkeiten gesellschaftlicher Regulation heraus betrachtet, zeigt sich die »soziale« Wendung des bürgerlichen Menschenbildes, die sich, wie schon die Zeitgenossen bemerkten, so wunderbar an den Antipoden Hobbes und Shaftesbury erläutern lässt, damit auch als eine problemgeschichtliche Fortentwicklung. Das Regulativ freiheitlicher Lebensführung wird – und dies ist das diskursgeschichtlich einschneidende Ereignis – rückgebunShaftesbury spricht hier von »vanity« (wie das folgende längere Zitat zeigt). Er unterscheidet nicht explizit zwischen »pride« als einem inneren Selbstwertgefühl (kongruent zur Smith’schen »praiseworthiness«) und »vanity« (als dem Selbstwertgefühl, das von äußerem Lob abhängig ist). Zur pride/vanity-Unterscheidung Cooper 1999, S. 164 f. 43
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II. Kapitel · Shaftesbury
den an den verinnerlichten Wunsch des Subjekts, den Anderen als tugendhaft zu erscheinen – und dafür soziale Anerkennung zu erfahren.44 Das Ziel sittlicher Reflexion spitzt sich hier konstruktiv zu und affirmiert dafür die gesellschaftliche Erscheinung, d. h. den gesamten Bereich des gesellschaftlichen Scheins, den Rousseau als »parâitre« bezeichnet und der den eigentlichen Reflexionsgegenstand des älteren französischen Moralismus bildete. Es geht nicht mehr um eine deskriptive Lehre der Sitten, welche die paradoxen Verwebungen aufzeigt zwischen der Befolgung dieser Sitten und der gesellschaftlichen Erscheinung als tugendhaft. Man denke etwa an La Rochefoucauld, der diejenigen, die auf einem Begräbnis am meisten weinen, als diejenigen versteht, die in ihrem Herzen am wenigsten um den Toten trauern.45 Im Gegensatz zu dieser skeptischen Reflexion geht es nun umgekehrt darum, pragmatisch auf das innere Bild, das sich das bürgerliche Individuum von sich selbst macht, gestalterisch Einfluss zu nehmen und dieses Individuum so zur Tugendhaftigkeit anzuleiten.46 Ein in seiner Kernnatur als lustorientiert verstandenes Wesen wird durch eine bestimmte »soziale« Anerkennungsapparatur, die diesem eine Lust am eigenen Gutsein verschafft, stolz auf seine soziale Tugendhaftigkeit gemacht und so dessen »selfishness« ausgetrickst. Auch wenn dies eine Verflachung in der moralistischen Reflexion bewirkt, ist es doch sozialtechnologisch betrachtet nicht ohne Raffinesse. Dies möchte ich anhand eines letzten längeren Zitats aus Shaftesburys Untersuchung über Tugend und Verdienst veranschaulichen, das prägnant zeigt, wie sich der ältere Diskurs um die Sündigkeit der menschlichen »vanity« bei Shaftesbury mit dem neuen Diskurs um die natürliche Güte des »sozialen« Menschen vermittelt. Diesen Übergang denkbar gemacht zu haben, lässt sich als die große Leistung des Systems von Shaftesbury verstehen. Was die »Selbstsucht« menschlicher »Eitelkeit« hier entgiftet, ist die Möglichkeit, sie im Sich-Verdient-Machen um Andere zu befriedigen. Dafür muss der Blick der Anderen in die Reflexion auf sich selbst aufgenommen worden sein. Smith nennt dies später den inneren »Spiegel der Gesellschaft«: »Man wird zugeben, dass ein Geschöpf wie der Mensch, der über verschiedene Stufen der Reflexion zu der Fähigkeit aufgestiegen ist, die wir Vernunft und Verstand nennen, gerade beim Gebrauch dieses seines Denkvermögens wiederum Reflexionen von dem, was in ihm selbst und in seinen Gemütsbewegungen oder seinem Willen vorgeht, kurz von allem, was sich auf seinen Charakter, sein Verhalten oder Betragen gegenüber seinen Mitgeschöpfen und der Gesellschaft bezieht, in seinem Geist empfangen muss. Oder sollte er selber nicht fähig sein, so werden Andere ihn bereitwillig daran erinnern und durch diese Art von Kritik sein Erinnerungsvermögen auffrischen. Wir alle haben genug Erinnerungen, die uns bei dieser Arbeit unterstützen. Auch die größten Günstlinge des Glücks sind von dieser Aufgabe der Selbstbetrachtung nicht befreit. Selbst Schmeicheleien machen uns in dieser Richtung aufmerksamer und verführen uns zu gewohnheitsmäßiger Selbstbetrachtung, weil sie uns den Anblick unserer selbst angenehm machen. Je eitler jemand ist, desto mehr heftet er den Blick 44 45 46
Vgl. Lovejoy, S. 153 f. La Rochefoucauld 2012. Vgl. Hume, Essays, S. 86 f., vgl. Kapitel 3.5.
Moralische Handlungskompetenz als sinnliches Vermögen
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innerlich auf sich selbst und macht diese häusliche Betrachtung gewissermaßen zu seiner Beschäftigung. Und wenn uns schon nicht wahre Achtung vor uns selbst zu dieser Schau auf uns selbst veranlassen kann, so liefern uns doch falsche Rücksichtnahme auf Andere und der Wunsch, angesehen zu sein, genügend Reflexionen über unseren eigenen Charakter und unser Verhalten (UT 2.2.1, S. 123).47
Zunächst ist bemerkenswert an dieser Stelle aus Shaftesburys Untersuchung über Tugend und Verdienst, die ich für deren problemgeschichtliche Verortung für eine Schlüsselpassage halte, dass es für ihn hier bereits vollkommen außer Frage steht, dass die sich nach innen wendende Selbstreflexion, d. h. die Introspektion des eigenen »Charakter[s], […] Verhalten[s] oder Betragen[s]« sich natürlicherweise darauf bezieht, wie dieses den »Mitgeschöpfen und der Gesellschaft« erscheint. Darin zeigt sich die liberale Entbindung der Introspektion vom als jenseitig imaginierten Prüfstein des Gottgefallens – dem alles sehenden Blick Gottes, den Locke dem Kind zumindest als zusätzliche Stütze noch anerziehen will48 – und die neue soziale Rückkopplung dieser inneren Selbstzweifel an die diesseitig-weltliche Anerkennung der nun so bezeichneten »Mitmenschen« [fellows], d. h. dem Blick der Anderen. Der alles sehende Blick Gottes stellt hier auch keine Rahmenhandlung der tugendhaften Charaktergenese mehr dar, wie dies bei Locke zumindest noch angedacht ist. Das ist der nächste entscheidende Punkt: Diese soziale Rückbindung der Selbstreflexion ist der Sitte förderlich, weil so die bürgerliche Abhängigkeit Egos von Alter in das soziale Regulativ ihrer Interaktion als Gleiche – gleich Abhängige – überführt wird.
Der letzte Satz lautet im Original: »And when a true regard to ourselves cannot oblige us to this inspection, a false regard to others, and a fondness for reputation raises a watchful jealousy, furnishes us sufficiently with acts of reflection on our own character and conduct.«; Characteristics Bd. 2, S. 68. 48 Ged. § 136, S. 167. 47
III. DAVID HUME
3. Humes sozialpsychologische Neufassung der Frage nach dem moralischen Sinn Obwohl zu erwarten wäre, dass ein Empirist hinaus in die Welt blickt, geht Hume introspektiv vor. Er zeigt auf, nach welchen Regeln sich die Selbstreflexion vollzieht und wie diese Denkgesetze mit dem Empfinden vermittelt sind. Schließlich zieht er daraus Rückschlüsse darauf, inwiefern und wie Menschen zum sittlichen Handeln fähig sind. Die »Wissenschaft vom Menschen« [science of man] versteht Hume als die disziplinäre Klammer, die Theorie und Praxis der Auseinandersetzung des Menschen mit der Natur – sowohl der äußeren als auch seiner eigenen, »inneren Natur« – zusammenhält. Wie der Mensch lernt, die äußere Natur zu beherrschen, lernt er auch, seine eigene, »innere Natur« zu beherrschen. Die empirische Erforschung dieser inneren »menschlichen Natur« zeigt, dass die Abfolge der menschlichen Gefühle eine Eigendynamik und Eigengesetzlichkeit hat, die mit »physischen und moralischen Ursachen« – d. h. Auslösern dieser Dynamiken in der natürlichen Umwelt und solchen in der sozialen Umwelt – korreliert. Die Analyse der inneren Wechselwirkung von Denken und Empfinden zeigt dabei zwar, in welchem herausragenden Ausmaß die Funktionsweise des menschlichen Denkvermögens von äußeren Bedingtheiten der sozialen Lebenswelt abhängig ist (die »natürlichen Ursachen« in der Lebenswelt wie klimatische Bedingungen lasse ich hier außer Acht1). Doch dies bedeutet umgekehrt nicht, dass die Psyche beliebig formbar ist. Die Frage nach der Genese von Moral wird für Hume zu einer sozialwissenschaftlichen Frage: »Mit moralischen Ursachen meine ich all jene Gründe, die geeignet sind, als Motive oder Begründungen auf den Verstand zu wirken, und die uns ein bestimmtes System von Sitten zur Gewohnheit werden lassen.«2 Zur Moral als diesem »System von Sitten« steht die Lehre von den Affekten, die Hume im zweiten Buch seines Traktats über die menschliche Natur darlegt, im Verhältnis einer Erörterung der natürlichen Grundlagen, auf denen diese Moral beruht. Hume verweist auf Locke und Shaftesbury in der Einleitung des Traktats über die menschliche Natur als Mitbegründer dieser neuen Sichtweise auf die menschli-
Für Humes Stellung innerhalb der ausgedehnten Diskussion klimatischer Einflüsse auf die Charakterbildung im 18. Jahrhundert und seine diesbezügliche Kritik an Montesquieu siehe Chamley 1975, S. 274 f. 2 Essays, S. 154. 1
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III. Kapitel · David Hume
che Natur, die auf deren empirischer Beobachtung beruht und in diesem Sinn die empirische Naturwissenschaft nachahmt.3 Hume versteht seinen Traktat über die menschliche Natur ausdrücklich als Teil dieser neuen Auseinandersetzung mit der menschlichen Natur. Mir wird es in diesem Kapitel allerdings darum gehen, zu zeigen, dass er in diesem Diskurs eine Sonderstellung einnimmt. Der Sentimentalismus steht im Geist eines sozialen Fortschrittsoptimismus, der zum einen dem Menschen einen natürlichen Hang zur Beachtung seiner Mitmenschen zuschreibt und zum anderen eine politische Ordnung der Freiheit durch das Aufzeigen der Möglichkeit der Erziehbarkeit des Individuums – vermittelt über sein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung – begründet (3.1). Es ist nicht so, das Hume diese beiden Grundannahmen explizit in Zweifel zöge, aber er gibt beiden eine deutlich andere Bedeutung. Einerseits fasst er die Frage nach einem natürlichen Bedürfnis nach sozialer Anerkennung in einer kritischen Rückwendung auf Hobbes wieder unter dem Oberbegriff »Stolz« [pride] auf. Dieses Bedürfnis ist naturgeschichtlich entstanden aus dem inneren Bedürfnis des Individuums als einer »sensible creature«, von Anderen als ein bestimmter Anderer – der stark, schön, mutig etc. ist – angesehen werden zu wollen (3.2). Andererseits setzt er der sozialen Formbarkeit des Menschen enge Grenzen, oder, präziser: er beharrt auf diesen Grenzen und dämpft damit den Optimismus des frühen Liberalismus, dass die Gesellschaft – und das sozial veranlagte Individuum in ihr – beliebig umkonstruierbar ist. Vielmehr zeigt die Analyse der menschlichen Empfindungsabfolgen eine dynamische Eigengesetzlichkeit, die durch die Veränderung der sozialen Lebenswelt nicht verschwindet und insofern erste menschliche Natur ist. Diese zeichnet sich durch das Bedürfnis nach der Herstellung einer bestimmten Ruhe und Konstanz4 in der affektiven »Selbstwahrnehmung« aus (3.3). Die Einleitung ist dem ersten Band vorangestellt, den ich im Folgenden nicht betrachten werde. Der betreffende Satz lautet dort im Original: »’Tis no astonishing reflection to consider, that the application of experimental philosophy to moral subjects shou’d come after that to natural at the distance of above a whole century; since we find in fact, that there was about the same interval betwixt the origins of these sciences; and that reckoning from Thales to Socrates, the space of time is nearly equal to that betwixt my Lord Bacon and some late philosophers in England, who have begun to put the science of man on a new footing, and have engag’d the attention, and excited the curiosity of the public.«; die entsprechende Fußnote nennt dann als diese Philosophen »Mr. Locke, my Lord Shaftesbury, Dr. Mandeville, Mr. Hutchinson, Dr. Butler, &c.«. Die Auffassung, dass in der Antike die theoretische der praktischen Philosophie vorausging, ist von Jean-Pierre Vernant eindrücklich bestritten worden. Auch der im vorigen Kapitel angeführte Karl Reinhardt vertritt die umgekehrte Theorie. Siehe aber Peter Loptson 2012, S. 748. 4 Von klinisch-psychologischer Seite ist folgender Einwand gegen meine Verwendung des Begriffs Konstanz denkbar: Die Verwendung des Begriffs »Konstanz« ist ungenau, insofern dabei nicht systematisch zwischen Konstanz im engeren Sinn und dem Bedürfnis nach Ausbalancierung oder Homöostase unterschieden wird. Auch ein manisch-depressives Wechselbad der Gefühle – das für Hume keine sinnvolle Art der Ausbalancierung des Selbstwertempfindens wäre – lässt sich aber als Versuch verstehen, eine subjektive Empfindungsbalance herzustellen. Dies stimmt zwar, 3
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Diese Ruhe und Konstanz des Selbstwertempfindens werden vereitelt – außer durch diese intrapsychischen Hindernisse – auch durch die Struktur einer konkurrenzförmigen Lebenswelt, oder, präziser: durch die Notwendigkeit, sich im Wettbewerb mit Anderen vergleichen zu müssen. Dieses Konkurrenzdenken steht auch der subjektiven Befähigung, Mitleid für Andere aufbringen zu können, entgegen. Hume ist daher, was den gesellschaftlichen Radius der sozialen Tugendhaftigkeit eines Individuums angeht, eher pessimistisch: auf dessen Mitleid etwa gegenüber fremden Marktteilnehmern oder gegenüber Mitgliedern einer anderen Nation sollte man lieber nicht hoffen. Da die menschliche Natur für »sympathy« Ähnlichkeit braucht, müsste dafür die Vorbedingung gegeben sein, dass man sich z. B. mit Menschen anderer Hautfarbe als »gleich« identifiziert. Diese sind zu Humes Lebzeiten sicher nicht gegeben. Mitleidsethisch bedeutet dies – im Gegensatz zum enthusiastischen Sentimentalismus Shaftesburys –, dass es schwer ist und komplexer sozialer Vorbedingungen bedarf, Mitleid aufbringen zu können. Das Aufbringen von Mitleid gelingt immer nur temporär und immer nur gegenüber einem konkreten Anderen, dessen Leid man selbst beobachtet hat oder von dessen Leid einem von einem Vertrauten berichtet wurde. Mitleid bedeutet für Hume immer Mitleid mit einem konkreten Anderen. Dies ist wichtig in der Vorausschau auf die Mitleidsethik von Smith, für den es auch eine Art »Mitleid« mit dem Gesellschaftskörper als einem Gesamtgebilde geben kann. Dieses Mitleid zweiter Ordnung vollzieht sich etwa dann, wenn man das kollektive Schicksal der Soldaten der eigenen Nation im Krieg – im Gegensatz zu den Soldaten der gegnerischen Nation – betrauert. Dass dem so ist, würde auch Hume nicht bestreiten und dies über die Voraussetzung projizierter Ähnlichkeit für das Aufbringen von Mitleid erklären. Aber er hat keine mitleidsethische Lösung dafür im Sinn eines »Mitleids« zweiter Ordnung mit einer sozialen Gesamtkörperschaft. In dem Sinn, in dem Mitleid für Hume immer Mitleid mit einem konkreten Individuum meint, versteht er Mitleid als Mitleid erster Ordnung im Gegensatz zu Smith, bei dem es auch ein Mitleid zweiter Ordnung gibt, das ggf. dieses Mitleid erster Ordnung intrapsychisch überlagert bzw. blockiert (3.4). »Sympathy« bedarf des sozialen Gefühls, sich mit Anderen auf bestimmte Art und Weise »gleich« zu wissen. »Gleichgefühl« nennen dieses Gefühl die deutschen Anhänger Shaftesburys.5 Nur ein paar Jahre später wird Rousseau für die Beschreibung dieses »Gefühls« eine psychologische Neudeutung des Begriffs »identification« ins Spiel bringen, die danach zur geläufigsten Bedeutung dieses Begriffs wird.6 Doch diese
aber es geht Hume m. E. genau darum, deutlich zu machen, dass ein solch heftiger Wechsel von in der Empfindungsqualität entgegengesetzten Affekten – obwohl es auch ein Versuch sein mag, eine Balance herzustellen – zu freiheitlichem Handeln unfähig macht. Es geht in diesem Sinn bei Hume tatsächlich um Konstanz, und seine Affekttheorie ist psychologisch betrachtet ein Vorläufer der Dissonanztheorie. 5 Vgl. Sauder 1974, S. 184 f. 6 Rousseau 1992 (1754); vgl. Force 1997.
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III. Kapitel · David Hume
Identifikation oder dieses »Gleichgefühl« ist nur die eine Seite des psychosozialen Spannungsfelds einer freiheitlich-sozialen Gesellschaftsordnung, wie Hume sie versteht. Andererseits verlangt das Individuum auch nach dem genauen Gegenteil davon: Um sich ausreichend »frei« fühlen zu können, muss es, wie Hume ausführlich beschreibt, sich über das große Ausmaß seiner sozialen Abhängigkeit von Anderen auch hinwegtäuschen können. Dieses zur Selbsterhaltung notwendige narzisstische Überlegenheitsgefühl, das insofern für Hume wie für Hobbes Teil einer ersten menschlichen Natur ist, steht als egoistische Seite des »Menschen« seiner Möglichkeit der Entwicklung sozialer Tugenden entgegen. Erst wenn man begreift, dass die »soziale Natur« als anerzogene Disposition ein Gegengewicht zum Narzissmus bildet – eine »countervailing passion«7 zur natürlichen »selfishness« – lässt sich das affektive Feld überblicken, mit dem eine bürgerlich-freiheitliche Gesellschaftsordnung umzugehen hat (3.5).
3.1 Humes Handlungspsychologie im Verhältnis zur Annahme eines moralischen Sinns Hume vertritt die Auffassung, dass Menschen einen »moralischen Sinn« haben. Dennoch verhält es sich bei Hume nicht so, dass seine Moralphilosophie auf der Annahme eines solchen »moralischen Sinns« aufbaut und von da aus den subjektiven Prozess der moralischen Urteilsbildung betrachtet. Hume geht vielmehr umgekehrt vor, indem er, nachdem er diesen Urteilsbildungsprozess betrachtet hat, den induktiven Rückschluss zieht, die Existenz eines »moralischen Sinns« sei »wahrscheinlich«. Dass man es überhaupt für legitim hält, über das Handeln einer Person moralisch zu urteilen, bedeutet, dass man dieser Person Wirkungsmacht über ihr Handeln, d. h. ein bestimmtes Ausmaß an »Freiheit« zuschreibt. Alle bestimmten Urteile über das, was tugend- oder lasterhaft ist, bedürfen der geistigen Tätigkeit bzw. einer Vermittlung von Verstand und Gefühl und sind in diesem Sinn nicht unabhängig von sozialen Einflüssen. Hume versucht, die Diskussion um den »moralischen Sinn« auf eine Metaebene zu bringen, auf der die Annahme, ob es diesen moralischen Sinn als ein angeborenes Empfindungsvermögen gibt oder nicht, dadurch wieder zweitrangig wird, dass er eine Einrichtung der sozialen Lebenswelt beschreibt, die es dem Individuum ermöglicht, Mitleid und Wohlwollen gegenüber Anderen aufbringen zu können. Die subjektive Selbsterhaltung als das Bedürfnis, sich gegenüber Anderen durchsetzen zu wollen, muss so domestiziert werden, dass das Individuum begreift, dass es zum Erreichen seines Selbsterhaltungszwecks der sozialen Kooperation bedarf. Diese an Locke anschließende Herbeiführung der Einsicht in den Selbsterhaltungsvorteil des Befolgens der Sittlichkeit wird flankiert von dem an Shaftesbury anschließenden Gedanken der Einrichtung eines sozialen Tugendregimes, das sich in die Anerkennungsbedürftigkeit – social sensibility – des Individuums ein7
Vgl. Hirschman 1997 (1977), S. 20 f.
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schreibt. Den Shaftesbury’schen Grundwiderspruch, nach dem erst die intrinsische Motivation zur Tugendhaftigkeit wahrhaft soziale Anerkennung verdient, thematisiert Hume als die handlungspsychologische Frage nach dem Motiv sittlichen Handelns. Dabei legt seine Handlungspsychologie die Annahme eines moralischen Sinns zunächst nahe, weil die Motivation zu einer Handlung für Hume immer affektiv vermittelt ist. Ob Hume der Philosophie des moralischen Sinns zugerechnet werden kann oder nicht, entscheidet sich an der Frage, wie dessen Aussage, tugendhaftes Handeln sei immer mit einem Lustgewinn verbunden, interpretiert werden kann. Ist damit gemeint, dass ein solches Handeln, weil es wohlwollend gegenüber Anderen ist, für den Einzelnen selbst einen sozialen Lustgewinn impliziert? Oder meint Hume damit, dass diese soziale Tugendhaftigkeit deshalb als lustvoll empfunden wird, weil sie dazu führt, von Anderen sozial anerkannt zu werden – in einer Lebenswelt, die so eingerichtet ist? Anders gefasst: Gibt mir ein sozial-tugendhaftes Handeln ein gutes Gefühl, weil es meiner Natur entspricht, oder fühle ich mich deshalb gut, wenn ich sittlich handele, weil ich in einer Gesellschaft lebe, in der diese sozialen Tugenden ein hohes Ansehen haben? Woran sich unmittelbar die Frage anschließt: Wird jemand noch auf eine bestimmte Art und Weise handeln, wenn dieses Handeln keine Anerkennung mehr erfährt? Anscheinend gibt es, wie die Gesellschaftsgeschichte zeigt, zumindest eine Variation von normativen Werten, die jeweils Anerkennung erfahren. D. h. es gibt unterschiedliche Arten und Weisen, an das Anerkennungsbedürfnis des Individuums anzuschließen. Hume, dessen gutmütiges Naturell ihm in den 1760er Jahren, d. h. lange nach der ersten Veröffentlichung seines zunächst kaum beachteten Traktats über die menschliche Natur im Jahr 1740, den Spitznamen »le bon David« einbringt, weicht einer eindeutigen Antwort auf die Frage nach der Natürlichkeit des moralischen Sinns aus. Auch in seiner Untersuchung über die Prinzipien der Moral von 1751 bleibt seine Position doppeldeutig, wie der Satz zeigt, der auf denjenigen folgt, in dem Hume die Existenz eines »moralischen Sinns« zunächst für »wahrscheinlich« erklärt: »Es ist wahrscheinlich, dass das endgültige Urteil, das Charaktere als liebens- oder hassenswert, lobens- oder tadelnswert erklärt, das ihnen die Prägung von Ehre und Niederträchtigkeit, Billigung oder Tadel verleiht, welches die Moralität zu einem Handlungsprinzip und die Tugend zu unserem Glück und das Laster zu unserem Unglück macht, es ist wahrscheinlich, sage ich, dass dieses endgültige Urteil von einem inneren Sinn oder Gefühl abhängt, das die Natur dem ganzen menschlichen Geschlecht verliehen hat. Denn was sonst kann einen Einfluss dieser Art haben? Um aber den Weg für ein derartiges Gefühl zu bahnen […] und eine richtige Einschätzung seines Gegenstandes zu erhalten, finden wir, dass oft viel Denken vorausgehen muss, dass feine Unterscheidungen gemacht, richtige Schlussfolgerungen gezogen, entfernte Vergleiche aufgestellt, komplizierte Verhältnisse untersucht, allgemeine Tatsachen festgestellt und bestimmt werden müssen« (PdM 1, S. 7, Hervorh. hinzugef.).
Hume nutzt hier den Topos des moralischen Sinns, um die dahinterliegende Alternative in Frage zu stellen, ob die Genese moralischer Urteile eine Frage des Gefühls oder des Verstands ist. Indem er die Aussage trifft, dass der moralische Sinn nur
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III. Kapitel · David Hume
ein solches »Gefühl« sein kann, das nicht im Gegensatz zum rationalen Denken steht, sondern diesem Denken hingegen eine bestimmte normative Richtung verleiht, zeigt er die Problembehaftetheit der Entgegensetzung von Verstand und Gefühl als zwei voneinander unabhängigen Fakultäten auf. Damit trifft er aber vor allem eine Aussage darüber, was unter einem moralischen Sinn nicht verstanden werden sollte, nämlich ein intuitives Vermögen erster Natur, durch das man sofort weiß, ob ein Handeln gut oder schlecht ist. Humes Handlungspsychologie beruht auf der Hinterfragung dieser Entgegensetzung von Verstand und Gefühl. Am drastischsten formuliert findet sie sich im Traktat über die menschliche Natur, wo Hume den Verstand als »slave of the passions« bezeichnet. Diese Aussage muss im Kontext der assoziationspsychologischen Affektenlehre verstanden werden, innerhalb derer sie von Hume entwickelt wird: Im zweiten Buch des Traktats geht es Hume darum, zu zeigen, wie Denken und Empfinden ineinander verwoben sind: Körperliche »Eindrücke« [impressions] rufen im »Geist« [mind] bestimmte »Vorstellungen« [ideas] hervor. Umgekehrt übersetzen bestimmte Vorstellungen – z. B. positive oder negative Erwartungen hinsichtlich eines zukünftigen Ereignisses –, wenn sie nur mit einer gewissen Konstanz im Geist präsent bleiben, sich auch in Gefühlszustände, wie z. B. »Hoffnung« oder »Furcht« hinsichtlich eines zukünftigen Ereignisses. Die subjektive Abfolge der Gedanken und die Abfolge der Affektzustände sind ein innerlich zusammenhängender Prozess ist, der unverstanden bleibt, solange die permanente Wechselwirkung zwischen beiden assoziativen Strängen unbeachtet bleibt. Die Provokation, dass der Verstand nur ein »Sklave der Affekte« ist, meint nur, dass das Verstandesdenken für sich genommen ein Instrument ist: Es kann von sich aus nicht das Ziel einer Handlung bestimmen. Anders ausgedrückt ist die Motivation, ein Handlungsziel zu erreichen, verschieden von der Überlegung, wie man dieses Ziel am besten erreicht. Die rationalitätskritische Aussage ist, dass rationales Denken im Dienste jeden Zwecks vollzogen werden kann, unabhängig davon, ob dieser ethisch gutzuheißen ist oder nicht. Es ist nicht die Befähigung dazu, eine Situation angemessen einschätzen zu können und in dieser Situation die besten Mittel zum Erreichen eines Zwecks auszuwählen, die darüber eine Aussage zulässt, ob die Verfolgung dieses Handlungszwecks tugend- oder lasterhaft ist. Die pornographische Literatur des Marquis de Sade treibt diesen Widerspruch auf die Spitze, indem sie Figuren gegenüberstellt, die auf der einen Seite sadistische Quälereien mit technologischer Präzision betreiben, während auf der anderen Seite die dagegen gestellten Vertreter der Tugend häufig einfältig und naiv wirken. Wie sich zeigen wird, ist Hume eine bestimmte Idee von Sadismus, nämlich die der genussvollen Einfühlung, um sich am Leid Anderer zu erfreuen, nicht fremd. Der metaphyische Topos, der hier aufgerufen wird, ist der ewige Kampf von Vernunft und Leidenschaft. Für den deutschen Kontext ist es wichtig zu betonen, dass es bei Hume keine systematische Unterscheidung von Verstand und Vernunft gibt. Diese Unterscheidung Kants lässt sich als Reaktion auf Humes Skepsis gegenüber der Befähigung des Verstandes verstehen, sich selbst Zwecke zu setzen. Folgt man
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dem Argument Humes, ist der Topos des Kampfes von Vernunft und Leidenschaft überhaupt nur deshalb zustande gekommen, weil die dem vernünftigen Denken zuträglichen, durchaus aber affektiven Zustände »ruhig« sind und deshalb als Gefühlszustände nicht so intensiv wahrgenommen werden wie »heftige« [violent] Affektzustände, wie z. B. Wut oder Angst. Es sind ruhige Gefühlszustände, die gemeinhin auch der Tugend förderlich sind. Weil diese »ruhig« [calm] sind, wird aber schnell übersehen, dass es sich überhaupt um Affekte handelt. Auch der Assoziationsstrom der geistigen Vorstellungen wird bei der Entstehung einer tugendhaften Handlungsmotivation in der Regel eine wichtige Rolle spielen, doch das ändert nichts daran, dass diese Motivation, selbst wenn sie sich »ruhig« anfühlt, sich erst als gefühlte realisiert. Dieses Niveau einer im Gefühl verfestigten Motivation nennt Hume »Wille«.8 Was demnach gemeint ist, wenn ein tugendhaftes Handeln als vernünftig bezeichnet wird, ist dessen »ruhige Gemütsbewegung«.9 Doch nur, weil ein mentaler Zustand »calm« und nicht »violent« ist, bedeutet das nicht, dass er keine affektive Qualität hat: »Sind nun diese Affekte still, erzeugen sie keine Störung der Ruhe in der Seele, so werden sie leicht für Nötigungen der Vernunft angesehen, man lässt sie also aus demselben Vermögen entspringen, das über Wahrheit und Irrtum entscheidet« (TN 2.3.3 S. 155). Ein Beispiel für eine solche »ruhige Gemütsbewegung«, die eine ethische Motivation darstellt, stellt etwa die »Liebe zum Leben« [love of life] dar (ebd.). Die Wendung »love of life« verwenden auch Shaftesbury und Smith. Bei dieser »Liebe zum Leben« geht es nicht um den Beleg ihrer Wahrheit, sondern der einer Handlung zugrundeliegende Wille wird als »gut« bestimmt. Kant bezeichnet diese wohlwollenden Handlungsabsichten im ersten Satz der Grundlegung zur Metaphysik der Sitten zusammenfassend als »guter Wille«, und unterscheidet diesen grundlegend von den willentlich nicht kontrollierbaren Folgen einer realen Handlung in der Welt. Hume geht es genau umgekehrt darum, den Affekt als lebensweltliche Äußerung und den Willen als Handlungsabsicht begrifflich nah aneinanderzurücken. Der Wille ist für Hume nicht mehr als eine Motivation, die eine leiblich gefühlte, impulshafte Empfindungsqualität annimmt. Theodor W. Adorno nennt diese impulshafte Verfestigung eines rationalen Wollens im Fühlen später »das Hinzutretende«.10 Handlungsmotive verfestigen sich immer zu einem Gefühl, wenn sie tatsächlich wirksam werden. Die Gefühltheit sittlichen Urteilens im Sinne einer nicht weiter begründbaren Intuition und letztlichen Irrationalität des Urteilens aufzufassen, ist m. E. kein angemessenes Verständnis von Humes Position. Vielmehr geht es um die Affektgeleitetheit jeden Handelns als notwendig in der Gefühlswelt – aber damit, wie sich zeigen wird: in der Lebenswelt – eines Subjekts irgendwie verankerten 8 9 10
Vgl. TN 2.3.1, S. 136. TN 3.1.1, S. 199. Adorno 2001 (1965), S. 304 f.
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Motivation. Hier weiß Hume sich mit dem frühen Rationalismus der Cartesianer durchaus einig. Kant umgeht genau dieses Problem der sozialen Institutionalisierung der Sitte in seiner Moralphilosophie durch das Konstrukt eines intelligiblen Wollens, das eine unmittelbare Verbindung zwischen Wille und Vernunft schafft.11 Hume übersetzt die Annahme eines moralischen Sinns in die Auffassung von der notwendigen Affektgeleitetheit des subjektiven Urteils- und Handlungsvermögens. Erst diese Verbindung macht den moralischen Sinn zu einem bewussten gesellschaftlichen Ordnungskonzept. Hume beharrt im zweiten Buch des Traktats darauf, seine Affektlehre sei als solche sowohl vereinbar mit der Hobbes’schen Position der Selbstinteressiertheit ziviler Friedenswahrung wie auch mit der Annahme eines angeborenen Impulses zum Wohlwollen gegenüber Anderen: »Es liegt meinem Zweck sehr fern, auf den Streit einzugehen, der in den letzten Jahren die Wissbegier des Publikums so sehr beschäftigt hat, nämlich den Streit, ob diese sittlichen Unterschiede auf natürlichen und ursprünglichen Prinzipien, oder ob sie auf Nützlichkeitserwägungen und Erziehung beruhen. […] [Ich] werde […] mich bemühen, zu zeigen, dass meine Theorie unter Voraussetzung jeder dieser beiden Hypothesen ihren Platz behauptet; dies wird ein gewichtiges Argument für ihre Zuverlässigkeit sein« (TN 2.1.7, S. 25).
Aber was ist es, das Humes Affekttheorie mit diesen beiden Positionen vereinbar macht? Anders ausgedrückt: Auf welcher Betrachtungsebene der »menschlichen Natur« operiert diese Affektlehre, wenn sie mit einer atomistischen und sozialen Auffassung dieser Natur vereinbar sein soll?
3.2 Die soziale Generierung der Anbindung an bürgerliche Wertvorstellungen Es ist die methodische Spezifik der Hume’schen Betrachtungsweise des bürgerlichen Individuums im zweiten Buch seines Traktats, dass er zwar noch bei diesem introspektiv ansetzt, aber durch die Art und Weise, wie er es beschreibt, zugleich dessen Eingebundenheit in ein bestimmtes integrales Gesellschaftsgefüge herausstellt. Dies schafft eine bestimmte Spannung, die für Humes Analyse der menschlichen Psyche typisch ist: Äußere, soziale Faktoren treffen auf innere, dynamische Bewegungsgesetze der »menschlichen Natur«. Damit überwindet Hume den Sozialkonstruktivismus avant la lettre und nimmt eine originäre Position im Disput um die Angeborenheit bestimmter menschlicher Grundzüge der Geistesgenese ein. Im Folgenden werde ich zunächst einen bestimmten Begriff der Hume’schen Affektenlehre besonders herausstellen, nämlich denjenigen des »indirekten Affekts«. In diesem dreht Hume das Verweisungsverhältnis zwischen dem Subjekt als Ursprung des eigenen Empfindens und dem mentalen Zustand dieses Subjekts kurzerhand um: Im »indirekten Affekt« ist das Individuum Objekt des Affekts, doch nicht mehr dessen »Ursache« [cause]. Dies ermöglicht ihm, eine bestimmte Ambivalenz in der Subjekt-Objekt-Bindung zwischen Individuum und Gesellschaft zu 11
Vgl. Hammacher 1996.
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erläutern: Auch wenn das Individuum es ist, dass die Affekte hat, stellen diese Affekte – d. h. zumindest die »indirekten« – sich in ihrer Empfindungsqualität als gesellschaftlich vermittelte dar (3.2.1). Erst im Anschluss erläutert Hume die zwischenmenschliche Affektübertragung. Hier ist auffällig, wie stark er »sympathy« – in einer immanent-kritischen Anknüpfung an Shaftesbury – vom Phänomen der emotionalen Ansteckung aus denkt. Diese wird assoziationspsychologisch aufgefasst. Hume entwirft die Vorstellung eines »mirroring« bürgerlicher Individuen ineinander und eröffnet so einen spezifisch deskriptiven Anschluss an den Begriff »sympathy«. Ähnlich wie in der Verkehrung von »object« und »cause« hinsichtlich des Verhältnisses des Subjekts zu seinem mentalen Affektzustand geht es darum zu zeigen, dass wenn eine »pleasure« durch »sympathy« übertragen wird, dies nicht zwingend bedeutet, dass sie dieser »sympathy« entstammt – wie Shaftesbury sich das vorstellt (3.2.2).
3.2.1 Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von den mir zugehörigen Objekten In den Mittelpunkt des ersten Teils seiner Affektlehre, der von den auf das Ich selbst bezogenen Affekten handelt, stellt Hume die Affekte »Stolz« [pride] und »Niedergedrücktheit« [humility12]. Im Gegensatz zu den »other-directed passions« von »Liebe« und »Hass«, die er im zweiten Teil bespricht, ist im Fall von »pride« und »humility« das Selbst derjenige »Gegenstand«, auf den die Affekte zielen. Bei »love« und »hate« wäre dieses »object« ein anderer Mensch. Es muss in diesem Zusammenhang zu Humes Schematisierung sofort angemerkt werden, dass er das Selbst im Fall von »pride« und »humility« zwar als »object« des Affekts versteht, doch nicht als dessen »cause«, d. h. das Subjekt nicht als deren Verursacher vorstellt. Der Sinn dieser auf den ersten Blick befremdlichen Ausdrucksweise wird sich noch erhellen. Um zu verstehen, was Hume mit »pride« und »humility« meint, muss man sich deren Empfindung wie eine Art skalares Kontinuum vorstellen, wobei der »Stolz« einen innerlich als Handlungssubjekt ermächtigt, während die »Niedergedrücktheit« bei Hume ein Gefühl der Scham aufgrund der eigenen Unzulänglichkeit bezeichnet, das verschiedene »Ursachen« haben kann (s. u.). Hume geht hier so weit, die Tendenz, durch »Stolz« und »Niedergedrücktheit« innerlich bewegt zu werden, auch Tieren zuzusprechen, d. h. jedweder »sensible creature«.13 Alle Lebewesen mit Sinnen scheinen demnach ein Bedürfnis danach zu haben, durch Andere bewundert zu werden, woraus folgt, dass sie sich diesen Anderen zeigen wollen. Affektiv rückgebunden ist dieses Expressionsbegehren in der inneren Lust, die durch jene Selbstpräsentation im Ich erzeugt wird. Aber auch wenn dieser »Stolz« innerlich empfunden wird, rührt er für Hume nicht aus dieLipps übersetzt »humility« zutreffend mit »Niedergedrücktheit« und nicht mit »Demut«, löscht aber damit den religionskritischen Unterton des englischen Originals aus. 13 TN 2.1.12, S. 59; dtsch. übers. als »vernunftbegabte Geschöpfe«. 12
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sem Inneren her. Dies kommt in der Unterscheidung zwischen »direkten« und »indirekten« Affekten zum Ausdruck: »Unter direkten Affekten verstehe ich solche, die unmittelbar aus einem Gut oder einem Übel, aus Schmerz oder Lust entspringen; unter indirekten Affekten dagegen verstehe ich solche, die auf derselben Grundlage beruhen, bei denen aber noch andere Momente mitwirken. Diesen Unterschied kann ich im Augenblick nicht rechtfertigen oder verständlich machen. Ich kann nur ganz allgemein bemerken, dass ich unter den indirekten Affekten Stolz, Kleinmut, Ehrgeiz, Eitelkeit, Liebe, Neid, Mitleid, Groll, Großmut und die aus ihnen ableitbaren Affekte begreife. Und unter den direkten Affekten: Begehren, Abscheu, Schmerz, Freude, Hoffnung, Furcht, Verzweiflung und beruhigende Gewissheit.« (TN 2.1.1, S. 5)
Humes Unterscheidung zwischen »direkten« und »indirekten« Affekten darf nicht so verstanden werden, als wären »direkte« und »indirekte« Affekte zwei im Erleben säuberlich voneinander trennbare Affektarten. Die Unterscheidung lässt sich überhaupt so treffen, dass man den betreffenden Affekt zuerst in der Betrachtung analytisch in seine Bestandteile zerlegt und dann diese Bestandteile synthetisch erneut zusammensetzt, d. h. der resolutiv-kompositorischen Methode von Gassendi folgt, die Hobbes zuerst auf die Analyse der »menschlichen Natur« überträgt. Trotz dieser Nicht-Trennbarkeit »direkter« und »indirekter« Affekte im realen Erleben ist diese Unterscheidung ausschlaggebend dafür, verstehen zu können, wie, hegelianisch ausgedrückt, Subjekt und Objekt miteinander verbunden sind. Dabei liegt der Unterschied nicht darin, dass nur »indirekte« Affekte überhaupt eine Verbindung zur Außenwelt haben. Auch die »direkten« Affekte können durch etwas dem Individuum Äußerliches ausgelöst werden. Dies ist sogar häufig der Fall: »Hoffnung« und »Furcht« habe ich meist hinsichtlich eines von mir in einem bestimmten Sinn unabhängigen – nicht kontrollierbarem – Ereignisses in der Zukunft, etwa der Entscheidung einer Firma oder Institution über mein Beschäftigungsverhältnis. Den Zustand der »beruhigende[n] Gewissheit« erreiche ich für Hume erst recht nicht ohne ein Zusammenspiel von sozialen Faktoren, die nicht immer in der eigenen Verfügungsgewalt liegen (s. 3.3). Aber was das innere »Begehren« [desire] zu einem »direkten« Affekt macht, ist dessen Wirkungsweise in Bezug auf das Selbst. Ich begehre etwas aus dem eigenen Inneren heraus. Bin ich hingegen »stolz« auf etwas, bin ich auf diese Sache als eine mir äußerliche »Ursache« meiner Empfindung bezogen. Humes Schema ist nur dann verständlich, wenn es ausschließlich als eines der modalen Wirkungsweise gefasst wird, aber es bleibt auch dann schwer zu verstehen. Logisch erläutern lässt es sich am besten an konkreten Objekten: So erregt ein Gegenstand, der »schön« ist, nach Hume aufgrund dieser Schönheit von sich aus bereits »Freude« (etwa ein Haus). Hingegen »stolz« kann ich auf dieses Objekt nur dann sein, wenn es zu mir in einem Besitzverhältnis steht (mein Haus).14 Für die Empfindung von Stolz sind beide Komponenten notwendig: Das Objekt muss schön sein und es muss mir zugehörig sein (oder es muss hässlich sein und ich schäme mich dafür). Wenn ich 14
Vgl. TN 2.1.6.
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z. B. Furcht vor etwas in der Zukunft empfinde (der Hölle), wird diese Furcht aufhören, wenn ich mir sicher bin, dass es nicht passieren wird (wenn mich Hume von der Nicht-Existenz Gottes überzeugt hat). Aber dennoch ist »Furcht« für Hume ein direkter Affekt deshalb, weil sie meine eigene innere Reaktion auf etwas mir Äußerliches ist. Im »indirekten« Fall dagegen bleibe ich mit der »Ursache« meiner Empfindung verbunden, d. h. ich bin »stolz« auf etwas, was in diesem Sinn von mir als ein ausgelagerter Teil meiner selbst vorgestellt wird. Bemerkenswert daran ist, dass Hume auch Charaktereigenschaften nach dem Schema eines mir zugehörigen Besitztums, auf das ich stolz bin, vorstellt. Dies ist ein Beleg für die von MacPherson herausgestrichene Wirkmächtigkeit des »possessive individualism« im frühen Liberalismus: »Alle wertvollen Eigenschaften des Geistes, sei es der Einbildungskraft, der Urteilsfähigkeit, des Gedächtnisses oder des Temperaments; Witz, Verstand, Gelehrsamkeit, Mut, Gerechtigkeit, Rechtschaffenheit; sie alle sind mögliche Ursachen des Stolzes, und die gegenteiligen Eigenschaften mögliche Ursachen der Niedergedrücktheit. Aber die fraglichen Affekte sind nicht ausschließlich an Eigenschaften des Geistes gebunden, sondern sie beziehen sich auch auf den Körper. Ein Mensch kann auf seine Schönheit, seine Kraft, seine Behendigkeit, sein gutes Aussehen, seinen Anstand beim Tanzen, Reiten, Fechten stolz sein, auf seine Geschicklichkeit in einem Handwerk oder einer Handfertigkeit. Und auch dies ist noch nicht alles. Der Affekt zieht seine Kreise weiter und umfasst alles, was uns irgendwie angehört. Unser Vaterland, unsere Familie, Gärten, Pferde, Hunde, Kleider, dies alles kann Ursache des Stolzes oder der Niedergedrücktheit werden« (TN 2.1.2, S. 7 f.).
Der »indirekte« Affekt ist es also, der Subjekt und Objekt verbindet. Objekte können direkte Affekte in mir auslösen (Furcht, Hoffnung, Begehren, Hunger, Wollust, Freude etc.), aber lediglich diese subjektive Empfindung ist Teil meiner selbst. Im »indirekten« Fall existiert hingegen zwischen Subjekt und Objekt ein Verhältnis der proprietären Zugehörigkeit. Deshalb ist hier der Gegenstand für Hume »Ursache« des Affektes: Ich bin meinem »Vaterland« zugehörig und nur deshalb bin ich »stolz« darauf. Auch habe ich – hoffentlich – einen Pass, über den sich dieser imaginäre Raum materialisiert. Der Technizismus seiner Ausdrucksweise macht Humes Affekttheorie damals wie heute schwer zugänglich, verleiht ihr aber auch ideologiekritische Sprengkraft. Die philosophische Prämisse der notwendigen Imaginiertheit jeder Affektbindung wird hier zu einer Kritik der Nation als »SubjektObjekt-Bindung«.
3.2.2 Die Abhängigkeit des Selbstwertgefühls von der Wertschätzung durch Andere Um erklären zu können, wie das Selbstwertempfinden des Einzelnen von seiner Wahrnehmung durch Andere abhängt, muss ich zunächst erläutern, wie Hume sich den Vorgang der intersubjektiven Affektübertragung vorstellt. Christopher Finlay hat geltend gemacht, dass Humes Erklärung des imaginären Zustandekommens des Gefühls affektiver Verbundenheit zwischen Einzelnen die erste mit den
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cartesischen Grundannahmen kongruierende Theoriefassung des Phänomens der emotionalen Ansteckung darstellt.15 Es ist bemerkenswert, dass der psychologische Erklärungsansatz des 18. Jahrhunderts und der heutige neurophysiologische Erklärungsansatz der zwischenmenschlichen Übertragung von Gefühlszuständen sich als wissenschaftliche Erklärungsansätze entgegenstehen, aber dennoch in beiden Diskursen die identische Grundmetapher der Spiegelung des Anderen vorherrscht. Und dies ist nicht die einzige inhaltliche Parallele, die sich zwischen dem damaligen Diskurs um »sympathy« und dem um Spiegelneuronen ziehen lässt: Hier wie dort hat die Konzeptualisierung dieses Phänomens mit dem Problem zu kämpfen, den Vorgang eines unmittelbaren Nachempfindens sinnvoll vom Vorgang einer bewussten Einfühlung in Andere kategorial abzugrenzen (zit. in 3.4). Obwohl Hume erst im zweiten Teil seiner Affektlehre »other-directed passions« besprechen wollte, kommt er nicht umhin, die Diskussion von »sympathy« systematisch in den ersten Teil vorzuziehen. Es muss daran erinnert werden, dass der Begriff »sympathy« damals eine deutlich größere Bedeutungsspannbreite hat als das heutige Wort »Sympathie«. Das englische Wort »sympathetic« hat noch etwas von dieser alten Bedeutung bewahrt. Auch eine unfreiwillige und wie unmittelbar erscheinende Affektübertragung, d. h. das Phänomen emotionaler Ansteckung, wird bei Hume als »sympathy« verstanden. Ich werde die weite Bedeutung von »sympathy« als auf jegliche Gefühlszustände bezogene Affektübertragung im folgenden Kapitel zu Smith noch ausführlich diskutieren. Auch bei Hume muss der Begriff »sympathy« zwar in bestimmter Hinsicht als grundlegend für seine Vorstellung der sozialen Verbundenheit einzelner Individuen gelten, aber im Gegensatz zu Smith entwickelt er noch keine Theorie der sozialen Interaktion. Dennoch muss Hume die Diskussion von »sympathy« in den ersten Teil seiner Affektlehre vorziehen, weil er sonst nicht erklären kann, wie die Affekte »Stolz« und »Niedergedrücktheit« ihre Wirkung entfalten: »Es gibt aber neben d[en] direkten Ursachen des Stolzes und der Niedergedrücktheit [gemeint sind die im obigen Zitat aufgezählten, DS] noch eine sekundäre Ursache. Dieselbe beruht auf den Meinungen Anderer und wirkt in gleicher Weise auf unsere Gemütsbewegungen. Unser Ruf, unser Rang, unser Name, das sind schwer wiegende und bedeutsame Gründe für den Stolz; ja die anderen Ursachen des Stolzes, Tugend, Schönheit und Reichtum, haben wenig Wirkung, wenn die Meinung und Anschauungen Anderer ihnen nicht Vorschub leisten. Um diese Erscheinung zu verstehen, müssen wir einen Umweg machen und erst das Wesen des Mitgefühls [sympathy] deutlich machen« (TN 2.1.11, S. 47 f., Hervorh. im Orig.).
Man sieht hier leicht, inwiefern die Übersetzung »Mitgefühl« irreführend ist. Gemeint ist mit »sympathy« hier nicht »Mitgefühl« im Sinn von Mitleid, sondern »sympathy« meint hier, dass man durch die Affektzustände Anderer selbst affiziert Finlay widerspricht damit Force, der dies Smith zuspricht. Beide übersehen den originär cartesianischen Ausgangspunkt dieser Idee von imaginär vermittelter Nachahmung bei Malebranche. Hume hat sich in der Zeit der Niederschrift des Traktats intensiv mit Malebranche auseinandergesetzt; Finlay 2007, S. 112; Force 2003, S. 29 f.; zur Verbindung Hume-Malebranche Kail 2007; vgl. Malebranche 1776, 2.1.7, S. 37. 15
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wird – vor allem dann, wenn in diesen Gefühlszuständen, etwa einem entgegengebrachte Bewunderung oder gezeigtes Entsetzen, eine Beurteilung des eigenen Verhaltens zum Ausdruck kommt. Den Vorgang der Affizierung durch einen am Anderen beobachteten oder wahrgenommenen Gefühlszustand stellt Hume als kognitive Wiedererkennung vor. In der Eigendynamik dieses Prozesses der kognitiven Rekognition liegt es, dass der Affekt des Anderen assoziationshaft reproduziert wird. »Imaginär vermitteltes Nachempfinden« ist die wohl treffendste deutschsprachige Bezeichnung für diesen Vorgang. Humes Assoziationspsychologie beweist vor dem damaligen Paradigma der subjektiven Imaginiertheit jeder Außenwahrnehmung hier ihre Erklärungskraft hinsichtlich des Phänomens einer als unmittelbar empfundenen Affektübertragung. Wie sich im nächsten Kapitel zeigen wird, profitiert Adam Smith stark von dieser assoziationspsychologischen Neufassung des Begriffs »sympathy« bei Hume. Das heute so genannte Phänomen »emotional contagion« erklärt Hume sich demnach als aufeinanderfolgendes Ineinandergreifen von erstens der Beobachtung der Expression des Affektzustandes eines Anderen, zweitens der Erinnerung daran, wie sich dieser Affekt anfühlt, und drittens der subjektiven Umsetzung dieser Einbildung in eine eigene Empfindung: »Wird irgend eine Gemütsbewegung uns auf dem Wege des Mitgefühls [sympathy] eingeflößt, so ist das Erste, dass wir sie an ihren Wirkungen, d. h. an jenen äußeren Anzeichen in Aussehen und in Rede [bei einem Anderen, DS], die eine Vorstellung derselben nach sich ziehen, erkennen. Diese Vorstellung verwandelt sich aber weiterhin in einen Eindruck und gewinnt einen solchen Grad von Stärke und Lebhaftigkeit, dass sie zum entsprechenden wirklichen Affekt wird, und die gleiche Gefühlserregung hervorruft, wie irgend eine originale Gemütsbewegung. So schnell aber diese Verwandlung der Vorstellung in einen Eindruck vor sich gehen mag, so ist sie doch die Folge gewisser Betrachtungsweisen und Überlegungen, die der genauen Untersuchung des Philosophen nicht entgehen, wenn auch die Person, in der sie sich vollziehen, vielleicht nichts davon merkt« (TN 2.1.11, S. 48 f.).
Dies ist die psychologische Alternativerklärung zur heute vorherrschenden neurophysiologischen Erklärung des Phänomens. Demnach muss ich zunächst auf der Grundlage meiner Wahrnehmung der anderen Person eine »Vorstellung« davon entwickeln können, in welchem Affektzustand die andere Person sich momentan befindet, um dann auf der Grundlage dieser »Vorstellung« [idea] selbst eine korrelierende Empfindung, d. h. einen dementsprechenden »Eindruck« [impression] zu entwickeln. Hierbei muss in Anschlag gebracht werden, dass für Hume die »Einbildung« etwas ist, das sich meist wie von alleine vollzieht, d. h. nur in einem bedingten Ausmaß selbstbeherrscht kontrollierbar ist (s. 3.3). So kann es sein, dass die innere Nachempfindung der Affektzustände von Anderen der erst dämmernden Bewusstwerdung über diesen Vorgang oftmals vorgängig ist. Anders ausgedrückt geht Humes Erklärung unmittelbarer Affektübertragung von einer im alltäglichen Umgang nicht sichtbaren, konstitutiven Funktion der Imagination in diesem Vorgang aus. Dies bedeutet bei Hume jedoch nicht, dass man sich qua »sympathy« notwendig in die Situation des Anderen hineinversetzt. Vielmehr
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reicht es völlig aus, am Anderen einen Affekt, den man selbst kennt, z. B. Angst, bemerkt zu haben, damit »sympathy« als Nachahmungsvorgang in Gang kommt. Dieser Unfreiwilligkeitsaspekt psychologischer Assoziation spielt in seiner Vorstellung, wie sich bürgerliche Gesellschaften reproduzieren, eine gewichtige Rolle. Diese sind soziale Strukturgebilde, die in einem bestimmten Sinn auf dem Anschein ihrer notwendigen Kausalität beruhen. An dieser Stelle ist es aber nur wichtig, die Bedeutung dieser psychosozialen Mechanik für Humes Theorie von »pride« und »humility« zu sehen: Beide Affekte sind ohne »sympathy« nicht denkbar. Hume schreibt hier »sympathy« zum einen eine Art Multiplikatorfunktion für erhebende oder beschämende Affekte zu, denn es nützt einem Individuum für das eigene Selbstwertgefühl weniger, wenn es schöne Dinge, die es besitzt, Anderen nicht zeigen kann. Bedenkt man, wie Hume den »Stolz« in einer Zeige- und Schaulust anthropologisch rückbindet, lässt sich aber auch so weit gehen zu behaupten, dass viele »stolz« machende Erhebungsgefühle – oder umgekehrt viele beschämende Erniedrigungsgefühle – durch »sympathy« erst möglich werden: Man macht sich zwar durchaus für sich selbst über die eigene Reputation Sorgen, aber ohne die »sympathetische« Mitwirkung Anderer spielt sich soziale Erhebung oder Beschämung nicht ab. Der Potenzierungseffekt, den »sympathy« haben kann, wird von Hume dabei nicht nur im Sinn der Verstärkung angenehmer Gefühle, sondern auch psychopathologisch ausgedeutet. Hume liefert so auch einen imaginationstheoretischen Erklärungsansatz für Massenhysterien oder für den in dieser Hinsicht klassisch-bürgerlichen Hang zur Hypochondrie: Indem der Anblick eines als krank wahrgenommenen Anderen die Idee dieser Krankheit wachruft, verstärkt diese Einbildung sich selbstsuggestiv zum körperlichen Eindruck, diese Krankheit zu haben. Das psychopathologische Diagnosepotential von Humes Assoziationspsychologie ist Thema im folgenden Teil. Die sich durch »sympathy« vollziehende Affektübertragung geschieht demnach so, dass das jeweilige Subjekt den wahrgenommenen Affekt aus der eigenen Erinnerung reproduziert. Dies macht sie mit dem cartesischen Subjektverständnis einer abgetrennten Geistesentität vereinbar. Die soziale Vervielfältigung von Affekten durch »sympathy« ist keine biochemische Übertragung, bei der ein Affekt wie ein Virus von einem Individuum zum anderen springen kann, sondern sie beruht auf der Reproduktion des Affekts in der Einbildung. Aber diese Einbildung würde nicht funktionieren, wenn sie nicht schon vorab mit der wechselseitigen Wahrnehmung und Projektion von Ähnlichkeit einherginge. »Ähnlichkeit« [similarity] ist gleichzeitig Ursache und Wirkung von »sympathy«. Beruhen muss »sympathy« auf der Ähnlichkeit – d. h. ihrer projektiven Unterstellung –, um sich überhaupt herstellen zu können, doch zugleich bewirkt sie auch weitergehende Anähnelung. Darin liegt ihre soziale Bindungskraft, die in dieser imaginären Verquickung auch ein Zwangsmoment hat: »Keine Eigenschaft der menschlichen Natur ist, sowohl an sich, als auch in ihren Folgen bedeutsamer als die uns eigentümliche Neigung, mit Anderen zu sympathisieren, und auf dem Wege der Mitteilung deren Neigungen und Gefühle, auch wenn sie von den unseren noch so
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verschieden, ja denselben entgegengesetzt sind, in uns aufzunehmen. Dies fällt nicht nur an Kindern auf, die jede Meinung, die ihnen begegnet, unbedenklich annehmen. Auch sehr urteilsfähigen und klugen Menschen wird es schwer, ihrer eigenen Vernunft oder Neigung zu folgen, wenn dieselbe sich im Widerspruch mit derjenigen ihrer Freunde und täglichen Gefährten befindet« (TN 2.1.11, S. 48).
Kinder lassen den Nachahmungscharakter von »sympathy« unbefangener erkennen, indem sie bedenkenlos das Aufgeschnappte reproduzieren. Erwachsene, die zwar weiterhin Andere nachahmen, aber zugleich auch ihre Freiheit und Unabhängigkeit von diesen Anderen unter Beweis stellen wollen, können – und wollen – nicht einfach die Affekte der Anderen kopieren. Dennoch merkt man auch Ihnen an, dass sie durch Andere beeinflussbar sind. Besonders dann, wenn sie ein Bedürfnis nach sozialer Anerkennung verinnerlicht haben, lässt diese Disposition sie vom Urteil der Anderen abhängig sein. Man sieht hier, wie das Tugendregime sozialer Anerkennung mit dem republikanischen Freiheitsverständnis des stolzen Zeigens von geistiger Unabhängigkeit und der eigenen Nicht-Beherrschtheit durch Andere in Konflikt steht. Anders ausgedrückt geht es beim Anerkennungsbedürfnis genau um die soziale Kontrolle von Selbstbeherrschung und Freiheit. Dennoch lässt sich die kritische Pointe von Humes Anerkennungsverständnis genau so verstehen, dass es ihm um die psychische Stabilisierung des Selbstwertempfindens des Individuums geht. Hume spricht »pride« eine ähnlich bedeutende gesellschaftliche Bindefunktion zu, wie es Hobbes tut. Humes soziale Pointe bei der Heraushebung der Bedeutung des Stolzes ist, dass dieser sich schließlich erst im Prozess des Sich-zeigen-Könnens performativ herstellt. Humes Naturgeschichte dieser Zeige- und Schaulust als dem Bewunderungsbedürfnis jeder »sensible creature« geht über Hobbes’ Anthropologisierung von »pride« hinaus, insofern nach Hume »pride« schon jeder »sensible creature« zukommt. Wichtig in Bezug auf die »Wissenschaft vom Menschen« ist, dass die affektive Anziehungskraft zwischenmenschlicher Verbundenheit sich damit aus dem Begehren heraus verstehen lässt, im Anderen erst den notwendigen »Spiegel« seiner selbst zu finden: »Ganz allgemein dürfen wir sagen: die Menschen verhalten sich […] zueinander wie Spiegel. Und dies nicht nur in dem Sinne, dass sie ihre Gefühlserregungen wechselseitig spiegeln; sondern es werden auch die Strahlungen der Affekte, Gefühle und Meinungen wiederholt hinund zurückgeworfen, bis sie allmählich verlöschen. Die Lust, die der Reiche durch seinen Besitz gewinnt, geht auf den Beschauer über, und weckt in ihm Lust und Wertschätzung; diese Gefühle vermehren wiederum die Lust des Besitzers, wenn er sie bemerkt und ihnen zustimmt; wieder zurückgeworfen, werden sie ein neuer Anlass zu Lust und Wertschätzung bei dem Beschauer. Reichtümer erzeugen sicher eine ursprüngliche Befriedigung dadurch, dass sie es ermöglichen, alle Freuden des Lebens zu genießen. Dies ist ihr eigenstes Sein und Wesen; und dies muss daher auch die erste Quelle aller aus ihnen entspringenden Affekte sein« (TN 2.2.6, S. 98 f.).16
Zur eckigen Klammer: Lipps Übersetzung: »die Menschen verhalten sich [in ihrem Inneren] zueinander wie Spiegel« ist an dieser Stelle irreführend. Hume schreibt »the minds of men are mirrors to each other«. 16
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Hume bindet hier die sentimentalistische Begeisterung für die sozialen »Strahlungen der Affekte« [rays of passion] gewissermaßen material rück, indem er die »Lust und Wertschätzung bei dem Beschauer« als sympathetische Anteilnahme an einer aus dem materialen Wohlergehen hervorgehenden »Lust« desjenigen, dessen mentalen Zustand man sympathetisch zu teilen versucht, versteht. Anders ausgedrückt entmystifiziert er die von Shaftesbury prosaisch besungene Magie sozialer Anziehung, indem er die einem »Lust« gewährende positive Ausstrahlung bestimmter Menschen als abhängig von deren »Reichtümer[n]« versteht. Dies ist in einem unmittelbar assoziationspsychologischen Sinn gemeint: Eine Person kann keine »Lust« ausstrahlen, wenn sie selbst keine empfindet, und die Möglichkeit der Empfindung dieser ursprünglichen »Lust« entstammt für Hume gerade nicht den von Shaftesbury beschworenen »pleasures of sympathy« (vgl. 2.3), sondern den materiellen Möglichkeiten des Reichtums. Hume ist im Traktat noch auffallend zurückhaltend damit, Einwände gegen die Grundannahmen der Philosophie des moralischen Sinns, wie Shaftesbury und Hutcheson sie formulieren, vorzubringen. Doch daran, wie Hume die zwischenmenschliche Affektübertragung als eine Spiegelung von nicht aus dieser Sozialität selbst ursprünglich herrührenden Lust-/Unlustempfindungen dechiffriert, zeigt sich, wie er die Diskussion um die »soziale Natur« disziplinär in die später zur empirischen Sozialwissenschaft werdende Richtung verschiebt. Die Vorstellung des Einzelnen als eines von Natur aus auf Andere relational gerichteten Wesens, die Shaftesburys Einsatz gegen Hobbes ist, wird bei Hume wieder vereinbar mit dem neo-epikureischen Grundverständnis des Menschen als bewegt durch das Verlangen nach Lust und die Vermeidung von Unlust. Dennoch verhält es sich so, dass Lust sublim erziehbar ist, insofern die bereits erwähnte »Liebe zum Leben« [love of life] in diesem Sinn auch »Lust« [pleasure] gewährt. Die »ursprüngliche Lust«, die einem materieller Besitz und dessen Genuss verschafft, ist in diesem Sinn zwar die genealogisch vorgängige Lust, doch wenn das Begehren des Ansehens Anderer erst einmal geweckt ist, wird dieses schnell zum »Hauptgrund« [chief reason], d. h. zum Motiv, weswegen man dann weiteren Besitz ansammelt – um sich in deren Bewunderung zu spiegeln: »Dem Besitzer bringt […] sein Reichtum noch die Nebenbefriedigung, die aus der Liebe und Achtung hervorgeht, welche er durch denselben erwirbt; diese Befriedigung ist nichts anderes als eine zweite Rückstrahlung der ursprünglichen Lust, die von ihm selbst ausging. Diese Nebenbefriedigung oder Eitelkeit empfiehlt den Reichtum am meisten, und ist der Hauptgrund, weswegen wir denselben entweder für uns selbst wünschen oder an Anderen wertschätzen. In letzterem haben wir eine dritte Rückstrahlung der ursprünglichen Lust. Später wird es wegen ihrer Schwäche und ihrer Durchkreuzung schwer, die Bilder von ihren Rückstrahlungen zu unterscheiden« (ebd., S. 99).
Mit »dritte[r] Rückstrahlung« ist gemeint, dass die Lust, die ursprünglich der Reichtum selbst gewährte, als sympathetische Teilhabe an der Lust beim Zuschauer reproduziert wird, der sie aber durch seine entgegengebrachte Bewunderung auf das ursprüngliche Ausgangssubjekt zurück überträgt. Man kann an dieser Stelle
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sehr schön sehen, was Hume damit meint, dass beim Stolz das Subjekt »object« des Affekts ist, aber nicht »cause«. Ursache ist in diesem Sinn der Reichtum, ohne den die »ursprüngliche Lust« beim Träger/Besitzer (als Gegenstand des Affekts) nicht zustande gekommen wäre, und diese »ursprüngliche Lust« (op. cit.) färbt in diesem Sinn auf den Besitzer des Reichtums durch die ihm entgegengebrachte Bewunderung noch einmal ab. Auch wenn es sich bei der aus »riches« zu ziehenden »vanity« nicht um eine »original pleasure« handelt in dem Sinn, dass es dieser »riches« ursprünglich bedarf, damit die Lust entsteht, kann »vanity« zum »chief reason« werden, zum handlungsbestimmenden Motiv, selbst reich zu werden. Man wünscht sich dann, selbst einmal auf diese Art und Weise im Mittelpunkt der öffentlichen Aufmerksamkeit zu stehen und bewundert zu werden. Zugleich deutet sich hier ein humanistisches Kritikelement an, das bei Smith noch klarer hervortritt. John O’Neill nennt diese Kritikfigur »the divorce of recognition from its proper object«.17 Denn es sollte ja – nach Shaftesburys Vorstellung von »pleasures of sympathy« – die soziale Tugendhaftigkeit sein, die Bewunderung erfährt. Die damalige »Freude« der »Geselligkeit« enthält hier schon einen Mechanismus, den die Kritische Theorie erst der Kulturindustrie zuschreibt, nämlich die surrogative Teilhabe an der materialen Sorglosigkeit Anderer – der späteren »Stars«. An der Lust Anderer Anteil zu nehmen, mag auch hier schon der Verdrängung der eigenen Unlust dienen. Wie »Reichtümer« in dieser Hinsicht zumindest mittelbar Lust auch für Andere generieren, bedeutet umgekehrt der »Anblick« [sight] der Armut – d. h. präzise: der »Anblick« von deren körperlich-seelischen Folgen – eine sympathetische Partizipation an der »Unlust« des Bettlers. Beschämend ist für den Armen in diesem Sinn sein Unlust erregender »Anblick« für Andere. Suspekt wie allen bürgerlichen Denkern ist Hume dabei die bewusste Zurschaustellung eigenen Leids, um absichtlich Mitleid zu erregen. Denn dies bedeutet, dass die Person, die sich so zeigt, gelernt hat, ihre eigene Scham zurückzustellen. Wie Mitleid für Hume zustande kommt, werde ich später noch gesondert diskutieren: Mitleid ist bei Hume die sittlich angemessene Reaktion auf den ursprünglich unlustvollen Impuls des AbgestoßenSeins durch den bemitleidenswerten Anderen. Hierfür muss eine bewusste Reflexion einsetzen, die diese idiosynkratische Abgestoßenheit überwindet. Die imaginäre Perspektivübernahme – »changing places« in der Einbildung – tritt als bewusste Einfühlung zur bloßen (unlustvollen) Nachempfindung des Leids hinzu, um Mitleid zu konsolidieren (s. 3.4). Aus Sicht des Mitleidenden erzeugt das wahrgenommene Leid eines Anderen zwar zunächst »Unlust«, aber in einem intakten Sozialzusammenhang erfährt er für sein mitfühlendes Trost-Spenden wieder soziale Anerkennung und vergegenwärtigt sich daher die Lage des bemitleidenswerten Anderen. Da für Hume Mitleid immer nur so denkbar ist, dass es sich als Mitleid gegenüber einem konkreten Anderen zeigt – d. h. Hume kennt nicht wie Smith die Vorstellung eines »höheren Mitleids« 17
O’Neill, S. 136.
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mit der Rechtsgemeinschaft als Ganzer (s. 4.2), die einen gegenüber jemandem, der die Regeln der Gerechtigkeit verletzt, das Mitleid verweigern lässt –, möchte ich Humes Mitleidsverständnis als Mitleid erster Ordnung bezeichnen – im Gegensatz zu Smiths Begriff des »höheren Mitleids« mit einem sozialen Gesamtkörper. Dieses spezifisch Smith’sche Mitleidsverständnis lässt sich dagegen als ein Mitleid zweiter Ordnung auffassen, wobei dieses Mitleid zweiter Ordnung bei Smith genau dazu dient, unmittelbares Mitleiden, d. h. Mitleid erster Ordnung, gegebenenfalls unterdrücken zu können.
3.3 Das Ziel der psychischen Stabilisierung des Einzelnen Hume schreibt der psychischen Stabilisierung des Individuums für die Ausbildung seines rationalen Denkvermögens eine herausragende Bedeutung zu. Doch anders als für Smith ist dieser Prozess für Hume nicht in erster Linie einer der sozialen Identifikation mit der Sittengemeinschaft, sondern einer der kontextuell-sozialen Einrahmung des Einzelnen. Hume gibt der damals geläufigen Sprachwendung »frame of mind«, die deutsch mit »Gemüt« übersetzt wird, einen präzisen Sinn. Diese Perspektivnahme auf die »Einrahmung« des Gemüts – Kant spricht von »Regierung des Gemüts«18 – ermöglicht Hume, bestimmte Grenzen der identitären Flexibilisierung, die in der psychosozialen Bedürfnisstruktur des menschlichen Individuums liegen, in den Blick zu bekommen. Er beschreibt diese Grenzen ausführlich im Rahmen seiner Assoziationspsychologie. Dass Hume den »moralischen Sinn« für anerziehbar hält, bedeutet daher nicht, dass die menschliche Natur im Ganzen für ihn beliebig formbar ist. Der Titel des Traktats über die menschliche Natur ist ernst zu nehmen. Das Widerständigkeitspotential des Menschen gegenüber seiner sozialen Formbarkeit ist allerdings erst eine Ebene tiefer anzusetzen, als sie durch die Frage, ob der Mensch von Natur aus »gut« oder »schlecht« sei, erreicht wird. Letztere Frage berührt, wie wir schon sahen, gerade einmal die Oberfläche des Problems. Entscheidend für die Ausbildung sozialer Tugenden ist, ob einem Individuum ein sozialer Weg zur Verwirklichung seines rationalen Denkund sensuellen Empfindungsvermögens offen steht. Hobbes und Locke betonen auf ähnliche Art und Weise die zentrale Bedeutung des Gefühls der Gesichertheit der eigenen Selbsterhaltung für die psychische Stabilität. Darin, den staatlichen Schutz von Privateigentum als Grundlage dieses Sicherheitsgefühls zu verstehen, drückt sich ein bestimmtes Klassenbewusstsein aus, das gerade ausblendet, dass dieser Schutz des Privateigentums für die unteren Klassen oftmals eher eine Bedrohung für deren kommunal organisierten Eigentumsverhältnisse darstellte. Die Privatisierung des Bodens in England und Schottland führte etwa zur Privatisierung des »gemeinen Weidelands« [common pasture land],
18
Anthropologie in pragmatischer Hinsicht, Akademieausgabe Bd. 7, S. 253.
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dessen Nutzung allen Dorfbewohnern offenstand und diese materiell absicherte.19 Da Hume an einem anderen Entwicklungspunkt der »civil society« steht, insofern es diese als politische Ordnung in England bereits seit einem halben Jahrhundert gibt, ist ihm auch ein tiefergehender Einblick in die soziale Problemstruktur dieser Gesellschaftsordnung möglich. Auch wenn Hume dabei den Aspekt der materiellen Sicherheit für das individuelle Wohlbefinden nicht unterschlägt, beschreibt er doch spezifische Probleme bürgerlicher Lebenswelten, wie etwa die Unsicherheitsgefühle bei einem Geschäftsabschluss. Wie vor ihm Locke bestreitet auch Hume nicht, dass die meisten Menschen in der Gesellschaft seiner Zeit zu arm sind, um die beschriebenen lebensweltlichen Probleme und die daraus resultierenden Pathologien der Charakterstruktur entwickeln zu können. Aber dies führt bei ihm dennoch nicht zu einer Infragestellung der in der damaligen Zeit so immensen gesellschaftlichen Klassenspaltung.20 Humes Analysen sind trotzdem heute noch von Interesse, weil sich in ihnen grundlegende Probleme der Subjektkonstitution in einer von einem Selbsterhaltungskonflikt geprägten Gesellschaft zeigen, die sich danach eher verstärkt haben und gegenwärtig massiv sind. Humes assoziationspsychologische Erklärung, die er für ein bestimmtes subjektives Nicht-zur-Ruhe-kommen-Können gibt, schließt an die Zentralstellung des Begriffs »uneasiness« bei Locke an. Neben der Analyse von »uneasiness« als Grundgefühl von Freiheit ist es vor allem das Buch über die »Assoziation der Ideen« im zweiten Band von Lockes Versuch über den menschlichen Verstand, in dem Locke die Habitualisierung und Formbarkeit gedanklicher Assoziationen beschreibt. Hier behauptet Locke, dass sich beliebige Ideen im Verstand durch Gewohnheit verketten können. Der Romanautor Laurence Sterne nimmt diesen Gedanken in The Life and Opinions of Tristram Shandy satirisch aufs Korn, wenn er beschreibt, wie sich beliebige Ideen im Verstand verbinden und durch diese Verkettungen bestimmte absurde Erwartungen erzeugen. So erwartet die Mutter von Tristram den sonntäglichen Beischlaf durch ihren Mann immer, nachdem dieser die Pendeluhr im Flur aufgezogen hat. Dass die Pendeluhr an einem bestimmten Sonntag nicht schlägt, lässt sie daher während des Geschlechtsaktes hochschrecken. Den ungewohnten Zwischenfall während seiner Zeugung macht der Vater von Tristram später für die vorgebliche charakterliche Deformiertheit seines Sohnes verantwortlich.21 In seinem posthum veröffentlichten, pragmatisch-lebensweltlich orientierten Conduct of the understanding – der anderen größeren Schrift aus der Spätphase seines Lebens neben den Gedanken über Erziehung – geht Locke verstärkt auf Probleme ein, die sich aus der Einrichtung sozialer Verhältnisse ergeben für die Art und Weise, wie der menschliche Verstand in diesen Verhältnissen funktioniert. Im zweiten Buch seines Traktats über die menschliche Natur dreht Hume diese Perspektive um. Er beschreibt, wie der menschliche Verstand strukturiert ist und welche Kon19 20 21
Vgl. Meiksins Wood/Wood 1997. Zu Humes Umgang mit den »working poor« s. Bohlender 2007. Vgl. Versuch Kap. 2.33 u. Sterne 1776/1963, Kap. 1, S. 9.
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sequenzen sich daraus für das gesellschaftliche Zusammenleben ergeben. Im Buch über die »Assoziation der Ideen« beschreibt Locke eine Eigendynamik der gedanklichen Assoziationen, die die bürgerliche Verstandestätigkeit stets begleitet: wie als sei diese assoziative Eigendynamik der getreue Schatten der Tätigkeit dieses Verstandes, eine Eigendynamik, welche die Möglichkeiten der Verstandesassoziation begrenzt. Darin, dass Humes Affektlehre die Grenzen und affektiven Voraussetzungen der Verstandestätigkeit auslotet, kann sie auch als Anleitung zur Selbstbeherrschung im moralistischen Sinn gelesen werden. In Subjekttheorien, die mit der Methode der Introspektion operieren, ist das Subjekt immer sowohl Gegenstand als auch reflektierendes Subjekt der Betrachtung.22 Die Auswirkungen, die der Selbsterhaltungskonflikt auf den mentalen Zustand des Individuums hat, diskutiert Hume nicht vor dem normativen Hintergrund einer selbst in Begriffen des guten Lebens operierenden Kritik. Er fordert etwa nicht, dass das Individuum aus Gründen einer gerechten Verteilung von Arbeit einen bestimmten Stundenanteil am Tag zur Entspannung und Reproduktion haben sollte.23 Die soziale Bedingtheit menschlichen Denkens und Fühlens wird von ihm vielmehr in einem kritischen Anschluss an Locke wahrnehmungspsychologisch aufgeschlüsselt, und dies hat vor dem Hintergrund heutiger Freiheitsverständnisse eine enorme ideologiekritische Sprengkraft. Besonders seine Diskussion der Auswirkungen existentieller Unsicherheit auf den Verstand zeigt das psychische Stabilisierungsdesiderat des frühen Liberalismus. Die gegenwärtige soziologische Diskussion ist häufig in einer Äquivokation von »Ungewissheit« befangen, indem existentielle Unsicherheit von Individuen und erkenntnistheoretische Ungewissheit als ein und dasselbe Phänomen behandelt werden und behauptet wird, ein bestimmtes Ausmaß an »Ungewissheit« würde Subjekte in ihrem Denkvermögen sogar aktivieren.24 Beides sind jedoch zwei in der Realität nicht nur verschiedene Phänomene, sondern man kann mit Hume sogar umgekehrt argumentieren, dass ein bestimmtes Ausmaß an subjektiver Sicherheit und Stabilität notwendig ist, um objektive Ungewissheit aushalten zu können. Außerdem stellt erkenntnistheoretische Ungewissheit für den Empirismus kein Praxisproblem dar, solange deutlich ist, welche Handlungsalternative die sinnvollste ist. Als moderner Handlungsakteur handelt man auf der Grundlage von Wahrscheinlichkeiten und hat keine letzte metaphysische Gewissheit. Dies stellt für Hume tatsächlich in bestimmter Art und Weise eine Befreiung von überkommenen scholastischen und metaphysischen Denkweisen dar, die einen emanzipatorischen Effekt auf die soziale Praxis haben kann. Aber die existentielle Verunsicherung von Individuen ist ein davon zu unterscheidendes Phänomen, das ein Subjekt eher lähmt und passiviert als aktiviert. Diese Form der
Vgl. kritisch dazu Habermas 1988. Es ist nicht so, dass es solche zeitgenössischen Kritiken nicht gibt; s. Hont/Ignatieff 1983, Kap. 1; vgl. Meiksins Wood/Wood 1997, S. 15 f. 24 Vgl. ex. Bogusz 2018. 22 23
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»Ungewissheit« kann die Denkfähigkeit des Individuums so weit einschränken, dass sie bis zum Versagen der Synthesis der Wahrnehmung führt. In diesem Unterkapitel werde ich die von Hume dargelegten Dynamiken beschreiben, die für ihn die »menschliche Natur« in ihrem körperlich-seelischen Empfinden charakterisieren. Alle diese Dynamiken beruhen auf der assoziationspsychologischen Anschauung der Korrespondenz im Wechsel der Gedanken im Verstand einerseits und der empfundenen Gefühle andererseits. Alle Psychopathologien des bürgerlichen Charakters fasst Hume als Störungen dieser Korrespondenz auf. Beginnen werde ich mit der Beschreibung der zwei assoziationspsychologischen Grundregeln, die sich dabei zeigen, nämlich erstens, dass Gedanken schneller wechseln können als Gefühle, und zweitens, dass diese Gefühle zwar einerseits aus noch zu klärenden Gründen immer dazu tendieren, sich auszubalancieren, doch andererseits sich ebenso permanent ändern (3.3.1). Daran anschließend werde ich gesondert betrachten, was im Zusammenhang seiner Affektlehre »Wahrscheinlichkeit« [probability] für Hume bedeutet und wie sie zur »Ungewissheit« [uncertainty] im genauen Verhältnis steht. Dabei werde ich die These vertreten, dass Hume darüber, dass er diese »Ungewissheit« als ein psychosoziales Balanceniveau begreift, bereits eine Sichtweise auf das bürgerliche Individuum antizipiert, die bis auf dessen Verschwinden als einer selbstreflexiven Instanz vorausgreift. Anders ausgedrückt bedarf die »affektive Lebenssituation« des Einzelnen bestimmter Stabilitätsparameter, um reflexives Denken möglich zu machen (3.3.2).
3.3.1 Die paradoxe Wechselwirkung im Strom der Ideen und Gefühle Der beste Ansatzpunkt, um in die Detailanalyse einzusteigen, sind die differierenden Tempi im Wechsel der sich ähnelnden »Eindrücke« einerseits und der miteinander assoziierten »Vorstellungen« andererseits: Während »Eindrücke« aufgrund ihrer sensuellen Qualität in der Regel nur langsam wechseln können, denn ein Mensch braucht eine bestimmte Zeitspanne, bis ein anderes Gefühl in ihm »aufsteigen« kann, kann sich der Strom der »Vorstellungen« als Abfolge der im »Geist« im engeren Sinn assoziativ wachgerufenen Bilder sehr schnell ändern. Dieser Aspekt lässt sich als dynamische Geschwindigkeitsdifferenz im Wechsel von Affekten und Gedanken fassen: Erstere wechseln sich in der Regel langsam ab, während letztere dies meist schnell tun. Dabei kann diese Ungleichzeitigkeit im Wechsel von »Eindrücken« und »Vorstellungen« zu einer ganzen Reihe von Empfindungs- und Wahrnehmungsstörungen führen: Wenn der »Geist« in der Imagination zwischen der positiven oder negativen Einschätzung eines das Subjekt betreffenden zukünftigen Ereignisses schwankt, wie z. B. der bevorstehende oder bereits getätigte Abschluss eines zunächst vielversprechend aussehenden Geschäftes, über dessen Ausgang man sich jetzt nicht mehr sicher ist, wechseln die »Vorstellungen« meist sehr viel schneller
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zwischen positiver und negativer Einschätzung »hin und her« (s. u.), als es das Empfinden tun kann. Dies wird zur Folge haben, dass die affektive »Selbstwahrnehmung«25 des Individuums mit den permanent schwankenden Wahrscheinlichkeitsprognosen des eigenen Verstandes in der Geschwindigkeit nicht mehr Schritt halten kann, und dies kann dann zu einem Zustand innerer Zerrissenheit führen, wenn das Individuum sich nun insgesamt unsicher darüber wird, welche »Art« von Affekt die angemessene Reaktion auf den betreffenden Lebensumstand darstellt. Diese Ungleichzeitigkeit von Empfindung und Vorstellung kann, wie im Folgenden ausführlich gezeigt, aufgrund des daraus entstehenden inneren »Schwankens« (s. u.) zu Angstzuständen führen. Lässt sich die dynamische Geschwindigkeitsdifferenz im Wechsel der Affekte und Gedanken dabei als das eine assoziationspsychologische Bewegungsgesetz verstehen, das Hume ausmacht, ist es wichtig, dessen Wirkung im Zusammenhang mit einem zweiten zu betrachten, das der Langsamkeit des Affektwechsels – im Verhältnis zum Vorstellungswechsel – entgegensteht. Dies ist die konstante Bewegungstendenz des Affektempfindens selbst, nach der Affekte zwar »langsam und beharrlich«, aber dennoch »stetig« wechseln.26 D. h. bei diesem zweiten dynamischen Bewegungsgesetz des menschlichen Selbstempfindens handelt es sich um die ambivalente Bewegungstendenz, die im Affektempfinden selbst liegt, nach der sich zwar einerseits der Charakter dieses Empfindens nur allmählich verändern kann, sich aber andererseits dennoch unaufhaltsam verändert. Die Eigendynamik des affektiven Empfindens, nach der einander ähnelnde Affekte dazu tendieren, sich aneinanderzureihen und aufeinanderfolgend empfunden zu werden (ausf. zitiert in 3.5), beruht daher bei Hume auf zwei sich fundamental entgegenstehenden Bewegungsdynamiken menschlichen Empfindens: Zwar sind die Affekte selbst »langsam und beharrlich«, zugleich aber »ist [es] für den durch einen Affekt bewegten Geist schwer, sich allein auf diesen Affekt, ohne Wechsel und Veränderung, zu beschränken. Die menschliche Natur ist zu unstet, um eine solche Beständigkeit zuzulassen. Veränderlichkeit gehört zu ihrem Wesen. Und zu was kann sie in natürlicherer Weise übergehen, als zu Gemütsbewegungen oder Gefühlserregungen, die der jedesmaligen Stimmung entsprechen, und mit der bereits die Seele beherrschenden Art von Affekten übereinstimmen« (TN 2.1.4, S. 13).
Dies ist der Grund, warum ein Affekt der einen »Art« – wie etwa »Stolz« – selten allein empfunden wird, sondern wenn einmal ausgelöst dazu tendiert, ihm ähnelnde Affekte nach sich zu ziehen – wie im Fall von »Stolz« etwa »Mut« (zit. in 3.5). Es interessiert hier zunächst nur der formale Aspekt dessen: Der Affektwechsel ist behäbig, insofern er dazu tendiert, in »Gemütsbewegungen oder Gefühlserregungen« ähnlicher »Art« umzuschlagen. Was aber dennoch feststeht, ist das Faktum, dass der Affekt umschlagen wird. Da »Veränderlichkeit zum Wesen« der »menschliHume: reflexion; die Übersetzung von Lipps als »Selbstwahrnehmung« ist aber der Sache nach treffender, als das deutsche Wort »Reflexion« in diesem Zusammenhang wäre. 26 TN 2.1.4, S. 12. 25
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chen Natur [gehört]«, kann diese nicht einen einzelnen Affekt über eine entsprechend lange Zeitspanne gesondert festhalten, d. h. »Gemütsbewegungen und Gefühlserregungen« wechseln sich ab. Neben dieser Wechseltendenz aber, die »[e]s für den durch einen Affekt bewegten Geist schwer [macht], sich allein auf diesen Affekt, ohne Wechsel und Veränderung, zu beschränken«27, gibt es zweitens auch eine gegenläufige Tendenz der Beständigkeit – die mit der Eigendynamik des individuellen Selbstempfindens verschwistert ist –, sich innerlich ausbalancieren zu wollen: Bei aller Veränderung versucht das Empfinden, eine emotionale Konstanz der individuellen »Selbstwahrnehmung« mehr oder weniger konsistent zu gewährleisten. Aufgrund dieser zweiten Tendenz gehen »Gemütsbewegungen oder Gefühlserregungen, die der jedesmaligen Stimmung entsprechen«, d. h. die jeweils »mit der bereits die Seele beherrschenden Art von Affekten übereinstimmen«, im Regelfall ineinander und nicht in Affekte der anderen »Art« über (ebd.). Was ist damit gemeint? Hierbei ist es erneut wichtig, das menschliche Selbstempfinden als ein bipolares Empfindungsspektrum zwischen »Stolz« und »Niedergedrücktheit« zu begreifen. Tendiert die Affektbewegung auf einen der beiden Pole zu, ist es wahrscheinlich, dass sich diesbezüglich die einander zugehörigen Affekte aneinanderreihen. Wird insofern »Stolz« im Individuum ausgelöst, wird dessen innere Erhebung eine Zeitlang andauern und das Individuum mit einer bestimmten – stabilen – Erwartung im Empfinden versehen. Dies hat für Hume seinen Grund im behäbigen Charakter des Fühlens selbst. Gleich dem Klang eines »Saiteninstruments« tendieren Affekte dazu, »noch eine Zeitlang fort[zu]fahren, ihren Klang zu erzeugen, und ihn nur allmählich und unmerklich ersterben [zu] lassen« (TN 2.3.9, S. 180). Es lohnt sich, vor dem Hintergrund des nun Entwickelten noch einmal auf das Beispiel der Unsicherheit hinsichtlich eines Geschäftsabschlusses zurückzukommen. Die naturgeschichtlich betrachtet jüngere Imaginationsfähigkeit ist in diesem Fall zu rasant für die noch animalischere Empfindungsebene. Doch gleichzeitig wird der Affektstrom selbst versuchen, jener abstrakteren Dimension der Selbstreflexion einen bestimmten, in sich konsistenten Charakter zu verleihen, d. h. eine emotionale Färbung zu geben. Solange man dabei von dem unproblematischen Normalfall ausgeht, in dem ein Individuum eine mentale Konstanz im Selbstempfinden herstellen kann, und – durch diese Empfindungskonstanz bestimmt – die Imagination ihrerseits diesen Gefühlen entsprechende »Vorstellungen« wachruft, fällt die paradoxe Strukturdynamik, welche die Wechselwirkung von Ideen und Gefühlen an sich hat, nicht weiter ins Gewicht. Der »Verstand« bleibt ausreichend »ruhig«. Beim pathologischen Fall springt der Gedankenstrom dagegen zwischen einer positiven und einer negativen Einschätzung »hin und her« und verunmöglicht ein konstantes Empfinden. In der Situation, in der dieses gedankliche »Schwanken« in seiner Wechselhaftigkeit länger anhält, stellt sich das sonst behäbige Empfinden also auf dieses »Schwanken« ein. Ein pathologisches Moment liegt
27
TN 2.1.4, S. 13.
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hierbei auch darin, dass nun die geistige Einbildung beginnt, das Empfinden zu dominieren, und dies stellt die Verkehrung des »natürlichen Verhältnisses« dar. Diese Verkehrung allein ist aber nicht in allen Fällen schon problematisch für das Selbstempfinden. Das Problem kommt vielmehr erst dadurch zustande, dass die Einbildungskraft selbst nicht zur Ruhe kommt. Die sich dann zusätzlich affektiv verfestigende »Ungewissheit« blockiert nun das rationale Denkvermögen gewissermaßen von beiden Seiten. Einerseits fehlt diesem die benötigte innere Dominanz der »ruhigen« Affekte und andererseits ist der sensuelle Zugang von außen, über den angenehme Empfindungen eindringen könnten, dadurch beeinträchtigt, dass kein konstanter Empfindungsstrom im Inneren mehr zustande kommt: Es mag schwer sein, jemanden aufzuheitern, der »traurig« ist, doch es ist noch einmal deutlich schwieriger, jemanden zur Ruhe zu bringen, der so unruhig geworden ist, dass diese Person zu einer einigermaßen verfestigten »Gemütslage« gar nicht mehr kommt.
3.3.2 Wahrscheinlichkeit als ein sich schwankend anfühlender mentaler Zustand In Humes Analyse der »Ungewissheit« verknüpfen sich seine Affektlehre und seine Erkenntnistheorie zur Diagnose einer bürgerlichen Psychopathologie. Denn was mentale Zustände der »Ungewissheit« nach Hume wie auch schon für Locke28 stark begünstigt, ist die probabilistische Wahrheitsauffassung des bürgerlichen Denkens.29 Die keine letzte Gewissheit als Halt mehr findende permanente Wahrscheinlichkeitsrechnung des bürgerlichen Verstandes ist auch eine ebenso permanente Unsicherheitsquelle. Die probabilistisch verfahrende Wahrheitsfindung ist »eine schwankende und unstete Art, einen Gegenstand aufzufassen«. »Ungewissheit« gehört zum Prinzip der Kalkulation von Möglichkeiten dazu: »Die Wahrscheinlichkeit erzeugt eine entsprechende Mischung und Unsicherheit des Affektes« (TN 2.3.9, S. 184). Die Pragmatik von Humes Moralphilosophie im eingangs zitierten Begriffsverständnis von Moral als einer sich lebensweltlich verfestigenden Lehre von den Sitten besteht darin, diese Probleme zu diagnostizieren, ohne sie dabei von sich aus Versuch 4.15. Ich verstehe meine Analyse als kongruent zu Louis Loebs Interpretation der Hume’schen Erkenntnistheorie. Loeb zeigt, inwiefern Hume im ersten Buch des Traktats ein mögliches Ungleichgewicht in der Annahme verschiedener Wahrheiten durch das Subjekt beschreibt, die gleichwohl alle zum Zeitpunkt ihrer empirischen Feststellung induktiv legitim gewesen sein können. Auch hier geht es Hume daher um die Darlegung eines notwendigen psychischen Gleichgewichts (Loeb: »doxastic-psychological equilibrium«) dafür, bestimmte Standpunkte gesichert einnehmen zu können. Alle der im zweiten Buch beschriebenen Fälle von »probability« – um die es mir hier geht – sind Fälle dessen, was Hume im ersten Buch als »unphilosophical probability« bezeichnet. Diese Fälle sind unphilosophisch deshalb, weil sie von zufälligen [Hume: contingent] Faktoren abhängig bleiben; s. Loeb 1995, S. 114 f., zur »eliminable instability« v. a. S. 118. 28 29
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lösen zu können, denn es handelt sich nicht um philosophische, sondern um reale Probleme.30 Dies allein wäre noch keine pessimistische Position, sondern in ihr kommt zunächst nur Humes Ansicht zum Ausdruck, die »Wissenschaft vom Menschen« sei noch zu jung, um definitive Aussagen über die beste Form des Umgangs mit den Problemen, welche dessen Natur mit sich bringt, treffen zu können.31 Es geht Hume daher zunächst nur darum, bestimmte innere Verhältnismäßigkeiten dessen, was er als »menschliche Natur« begreift, zu beschreiben, um so ein rationales – selbstbestimmtes – Umgehen mit ihr zu ermöglichen. Die »Ungewissheit« ist in diesem Sinn für ihn eines der Themen des modernen – weil »herrenlos« gewordenen – Menschen. Aber dieses Problem ist kein abstraktes, sondern ein konkretes. Es lässt sich empirisch beschreiben und »einkreisen«. Menschen haben nun mal eine eigendynamische Bedürfnisstruktur und ein rationales Reflexionsvermögen ihrer selbst. Bemerkenswert an Humes Beschreibung der »Ungewissheit« ist in diesem Punkt, dass auch das rationale Reflexionsvermögen für ihn eine Eigendynamik hat, die bei genauer Hinsicht einem selbstbeherrschten »conduct of the understanding« nicht immer zuträglich ist. Das Beispiel der stabilen Zukunftserwartung ist dabei der sich durchhaltende Topos, anhand dessen er seine Auffassung davon entfaltet, wie sich das prekäre Ineinandergreifen von »Ungewissheit« und einer fehlenden subjektiven Motivation darstellt. Am Ende wird er diesbezüglich sogar zu dem Schluss kommen, dass die »Ungewissheit« die subjektive Handlungsbereitschaft gänzlich zum Erliegen bringen kann.32 Dieser Fall ist dabei besonders bedenklich für die bürgerliche Freiheit dadurch, dass er die psychosozialen Voraussetzungen der subjektiven Handlungsfähigkeit berührt. Dies ist einer der zeitdiagnostisch wohl einschlägigsten Anknüpfungspunkte an Humes Affektlehre. Er ermöglicht etwa die Hinterfragung gegenwärtiger sozialtechnologischer Politikinstrumente wie der Vorstellung einer Aktivierung von Subjekten durch deren existentielle Verunsicherung. Es ist in diesem Sinn nicht nur die innere Ausgeglichenheit des Individuums, welche Schaden nehmen kann durch die Empfindung der »Ungewissheit«, sondern diese wird nach Hume dann zur Handlungsunfähigkeit führen, wenn sie existentiell bedrohlich wird, d. h. das Niveau erreicht, auf dem eine neoliberale Freiheitsvorstellung, die »Freiheit« als existentielle Bereitschaft zum unternehmerischen Risiko fasst, meist erst einsetzt. Andererseits lässt sich Humes Befund der Gefährdung der Willenskraft durch den zu groß werdenden Zweifel darüber, was mit »Gewissheit« gewusst werden kann, auch zur Grundlage einer weitergehenden Kulturdiagnostik der nihilistischen Schlagseite bürgerlicher Charaktergenese ausbauen, wie auch oft geschehen. Oder wie Annette C. Baier Humes Intention bei der Verfassung des Treatise fasst: »It is philosophy which must become worldly, not the world which must become philosophical.«; Baier 1991, S. 24. 31 Vgl. Essays, S. 94, 126 f. 32 Vgl. Essay 2.17. 30
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Folgt man Hume, scheint eine bestimmte Form der subjektiven »Ungewissheit« mit dem Liberalismus innerlich verschwistert zu sein, da freie Individuen in einem konkret-lebensweltlichen Sinn immer nur auf Wahrscheinlichkeiten »vertrauen« können. Es kann einem freiheitlichen Regierungsdenken daher nur um die Betrachtung von Spielräumen und in ihrem ambivalenten Charakter nicht aufhebbaren Spannungsverhältnissen gehen.33 Auch wenn das Problem einer Restunsicherheit beim Handeln aus Gründen der Wahrscheinlichkeit nicht absolut überwunden werden kann, kann es doch sozial hinreichend eingerahmt werden. Solche Denkfiguren einer Ausmessung der Wahrscheinlichkeit legt das frühliberale Denken nicht nur von sich aus nahe, sondern ruft sie als veränderte Form einer sozialempirisch gewordenen Notwendigkeitsbestimmung intrinsisch herbei. Die »Freiheit« fordert ihre »soziale« Durchdringung. Das »Soziale« an der »menschlichen Natur« bedeutet hier also, dass diese sich erst unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen vollends realisieren lässt.34 Das Innere dieser »Natur« ist aber kein sich entfaltender Kern mehr, wie man zunächst noch meinen könnte. Als Metapher tauglich ist hier eher, diese »Natur« als ein psychosoziales Spannungsfeld mit »natürlichen Dynamiken« zu betrachten. Dessen multifaktorielle Determiniertheit kann wie ein Orientierungsfeld kartographiert werden. Allerdings muss dabei erneut herausgestrichen werden, dass diese Perspektivnahme Hume gerade nicht zu einem Sozialkonstruktivisten macht. Die menschliche Natur ließe sich in diesem Sinn als der Schauplatz ihrer gesellschaftlichen Gestaltung begreifen, aber das auf diesem Platz aufgeführte Schauspiel kann deshalb dennoch nicht ein völlig beliebiges sein. Zwar gibt es keine gegenständlich klar und deutlich fassbare Vorstellung dieser Natur abseits ihrer sozialen Formung. Sehr wohl aber gibt es dynamische Grenzen ihrer Formbarkeit.
Zwei Stadien der Subjektauflösung: Schwanken und Verlust der Selbstwahrnehmung Hume beschreibt zwei Problemstadien, wobei erst das zweite in psychopathologischer Hinsicht dadurch gekennzeichnet ist, dass der mentale Gesamtzustand die Ebene der psychischen Verfestigung einer Empfindungskonstanz gar nicht mehr erreicht. Das Problem an einer »Verfestigung der Ungewissheit« ist in dieser Hinsicht, dass sie sich eigentlich gar nicht verfestigen kann, d. h. das Subjekt der »Selbstwahrnehmung« als eine durchgängige, in sich ausbalancierte Empfindungskonstanz verschwindet hier gänzlich. Diese Beschreibung hat ein starkes zeitdiagnostisches Gegenwartspotential. Hume hat dieses Problem als eines der (un-)angemessenen Regierung von »Freiheit« bereits deutlich gesehen. Dies zeigt sich auch daran, wie für ihn »Stolz« zugleich eine nicht immer der Wirklichkeit entsprechen33 34
Vgl. Essays, S. 8, S. 339 f. Vgl. TN 3.2.1, S. 219 f.
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de Erhebung des bürgerlichen Individuums bedeutet, in dieser Erhebung aber zugleich seine Stabilisierung. Das psychosoziale Grundproblem ist, ein Individuum zu generieren, dessen Selbstwertgefühl ausreichend ist, um den Anforderungen bürgerlicher Selbsterhaltung zu genügen. Dieses Individuum darf durch seinen »Stolz« aber zugleich nicht zu hochmütig werden und sich um Andere gar nicht mehr sorgen. Dennoch muss es ausreichend »stolz« auf sich selbst sein, um den nötigen »Mut« für sein Bestehen im Selbsterhaltungskonflikt aufbringen zu können (s. 3.5). Dieses Niveau von Stabilität ist das in einer »civil society« maximal erreichbare, weshalb sich im Traktat über die menschliche Natur zumindest implizit die Frage stellt, ob diese Gesellschaftsform mit der menschlichen Natur in Einklang steht. In Humes Theorie der Willensbildung wird aber auch noch ein zweites Problemstadium beschrieben, indem es zu einer für ein subjektives Wollen hinreichenden identitären Verfestigung des eigenen Gedankenstroms gar nicht kommt. Eine grundlegend stabile Ich-Identität ist auch dafür notwendig, dieses Ich überhaupt als »Charakter« einschätzen zu können. Das Subjekt wird durch die »Ungewissheit«, die es nie verlässt, nie hinreichend dingbar, um es überhaupt noch sinnvoll als einen selbstbewussten Akteur ansehen zu können. Denn dafür müsste es zu selbstbestimmten und willentlichen Handlungen zuallererst fähig sein, was aber durch seine psychische Lage vereitelt wird. Nach Hume »betätigt sich [der Wille]« erst dann, wenn der Verstand der Auffassung ist, dass »entweder das Gut oder die Abwesenheit des Übels durch eine Handlung des Geistes oder des Körpers erreicht werden kann«.35 Mit anderen Worten: Ein auf Dauer gestellter Zweifel an dieser Erreichbarkeit lähmt – und dies aus Gründen, die in der »menschlichen Natur« liegen – die schiere Befähigung, sich willentlich bewusst auf das Erreichen eines Ziels hin orientieren zu können. Dies ist dasselbe Problem wie die beschriebene gänzliche Handlungsunfähigkeit, unter dem Aspekt des – verunmöglichten – Wollens betrachtet. Das Problem ist erneut die »Ungewissheit« im Sinn eines unbestimmbaren Zukunftsausgangs. Anders ausgedrückt: Wenn man sich umgekehrt zunehmend sicher ist, dass ein bestimmtes Ereignis in der Zukunft nachteilig für einen verlaufen wird, ist dies hinsichtlich der psychischen Folgen in Bezug auf die Affektregulation u. U. sogar weniger schlimm, da sich hier zumindest ein Affektzustand verfestigt, nämlich derjenige der »Trauer«. Als skalares Spektrum vorgestellt, vollzieht sich die Zukunftserwartung für Hume stets als ein Wechselspiel von »Freude« [joy] und »Trauer« [sorrow]. Bevor ich anhand dieses Wechselspiels von Freude und Trauer zeige, an welchem Punkt die konsistente Selbstwahrnehmung selbst desintegrieren kann und warum manchmal das Empfinden eines »negativen Affektes« aus der Perspektive der Stabilisierung dieser Selbstwahrnehmung der permanenten Unsicherheit vorzuziehen ist, möchte ich noch zwei Formen des Gefühlswandels unterscheiden, nämlich den graduellen Übergang eines ähnlichen Affekts in einen anderen im Gegen35
TN 2.3.9, S. 178.
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satz zum Gefühlsumschwung von »gut« zu »schlecht«. Anhand der Verschiebung der affektiven »Stimmungslage« des Einzelnen lassen sich zwei Formen des Affektwechsels unterscheiden: einmal der Wechsel eines ähnlichen Affektes in einen anderen. Nur dies sind im strengen Sinn die Affekte, die für Hume ineinander übergehen können (Stolz, Freude, Großmut, Liebe auf der »guten« Seite gegen Niedergedrücktheit, Trauer, Kleinmut, Hass etc. auf der »schlechten« Seite; zit. in 3.5). Die andere Form des Affektwechsels, in der es zum Stimmungswechsel kommt, vollzieht sich nur insofern graduell, als der Grad der Affekte der einen Art gegenüber denen der anderen Art ab- oder zunimmt, bis die jeweilig andere Art überwiegt, d. h. der Affektwechsel ist hier gerade nicht charakterisiert durch ein Moment des fließenden Ineinanderübergehens, sondern was sich in diesem Moment verschiebt, ist die Dominanz der einen Seite über die andere Seite im Gesamtverhältnis. Was wechselt, ist nur der jeweils überwiegende Anteil positiver oder negativer Affekte im affektiven Mischungsverhältnis, was eine entsprechend verschobene Färbung des mentalen Gesamtzustandes zur Folge hat: »Nun werft in die Waagschale der Trauer einen höheren Grad von Wahrscheinlichkeit. Dann verbreitet sich dieser Affekt sofort über die ganze Mischung und gibt ihr die Farbe der Furcht. Vermehrt jene Wahrscheinlichkeit und damit die Trauer noch weiter, so wird die Furcht immer mehr vorherrschen und – während die Freude fort und fort abnimmt – sich zuletzt unmerklich in reine Trauer verwandeln. Habt ihr sie auf diese Stufe erhoben, so vermindert die Trauer auf dieselbe Weise, wie Ihr sie vorher vermehrt habt, indem Ihr die Wahrscheinlichkeit ihrer Berechtigung verringert. Ihr werdet sehen, wie der Affekt von Moment zu Moment heiterer wird, bis er sich unmerklich in Hoffnung verwandelt. Diese wird dann allmählich zur Freude, wenn Ihr diesen Teil der Mischung durch Steigerung der Wahrscheinlichkeit weiter vermehrt« (TN 2.3.9, S. 183).
Die »Ungewissheit« als dieser Zustand der »Mischung« ist demnach – ganz ähnlich wie subjektive »uneasiness« bei Locke – bei Hume eigentlich der unterliegende Normalzustand eines Subjekts, das permanent nach einer gewissen Zukunftserwartung strebt, aber durch seine verstandesgemäß assoziative Spekulation immer nur mehr oder weniger wahrscheinliche Ausgänge von Situationen voraussehen kann. Das Ziel bleibt zwar die Herstellung einer Gewissheit. Hume revoltiert keineswegs gegen die menschliche Natur und preist das dauerhafte Aushaltenkönnen von »Ungewissheit« als Freiheit. Dennoch bleibt die Erwartung der Zukunft affektiv betrachtet immer ein Wechselspiel zwischen positiven und negativen Voraussichten des Individuums, die sich als Erwartungshaltung genau deshalb immer wieder temporär stabilisieren können muss. Die Mischung dieses mentalen Gesamtzustandes ist skalar messbar, wobei es für die Ausbalancierung des Individuums ausschlaggebend ist, wie hoch der jeweilig graduelle Anteil der ihrer Art nach divergierenden Affekte am mentalen Gesamtzustand ist, d. h. ausschlaggebend ist die Affektstärke der »guten« und »schlechten« Affekte in ihrem Verhältnis zueinander. Das Individuum in der Situation des »[H] in- und [H]ergeworfen«-Seins zwischen einer hoffnungsvollen und angsterfüllten Zukunftserwartung gibt dabei das Modell ab, um den mentalen Gesamtzustand als
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affektiven Mischzustand zu erläutern. Dieser ist entweder durch ein Dominanzverhältnis einer Seite (Freude/Trauer) geprägt oder durch eine so starke Unsicherheit, dass der gesamte Gefühlszustand ambivalent bleibt. Hume geht hier erneut davon aus, dass sich hier »Vorstellungen« in »Eindrücke« übersetzen, d. h. die »hin- und hergeworfen[e]« Einbildungskraft des Verstandes zieht so viel Kraft auf sich, dass sie intrapsychisch dominant wird und sich selbst in affektive Zustände übersetzen kann. Dies ist für Hume bereits Signum eines psychopathologischen Zustandes und in diesem Sinn befinden wir uns heute ständig in solchen psychopathologischen Zuständen. Da »der Verstand bei Fragen, die nur einen Wahrscheinlichkeitsentscheid zulassen, durch entgegengesetzte Gesichtspunkte gespalten wird, werden auch die Affekte zwischen entgegengesetzten Gefühlserregungen hin und her bewegt«,36 was mit anderen Worten bedeutet: Die individuelle Einschätzung des in Frage stehenden zukünftigen Ereignisses bleibt so unentschieden, dass auch die Stimmungslage des Individuums in ihrer »traurigen« oder »freudigen« Manifestation selbst fortwährend schwankend bleibt. Es lässt sich nun so argumentieren, dass auch im Fall einer sich verfestigt habenden Trauer, wenn diese das (Nicht-)Erlangenkönnen eines »Guts« betrifft, der Wille keine Anstrengung mehr unternehmen wird, dieses zu erreichen. Das trifft zu, aber das psychisch Positive wäre, dass das Subjekt in diesem Fall auch vom Objekt wieder befreit ist, d. h. »frei« ist, ein anderes Ziel anzuvisieren. Motivationspsychologisch viel bedenklicher ist dagegen die Grauzone des Übergangs zwischen dem positiven und negativen Strang der Affektassoziation. Im Hinblick auf die Gewährleistung subjektiver Handlungsbereitschaft ist eine negative Einschätzung geeignet, eine negative Willensentscheidung zu bewirken, was die auf Dauer gestellte Unsicherheit nicht kann. Für Hume »gehört« demnach zwar die »Veränderung […] zum Wesen der menschlichen Natur«, aber sie muss als »Veränderung« durch Stabilisierungsfaktoren eingegrenzt werden, und zwar auch, um überhaupt als »Veränderung« selbst wahrgenommen werden zu können. Das neoliberale Bonmot, nach dem man nicht sein Leben ändern, sondern umgekehrt sein Ändern leben soll, verweist auf genau dieses Problem: Wird Veränderung selbst zur Norm gemacht, bedeutet das, dass es gar keine feststehende Norm mehr gibt. Die psychosozialen Formbarkeitsgrenzen verweisen auf die menschliche Naturgeschichte, indem sie einen archaischen Restbestand der Nichtbeherrschbarkeit und subjektiven Unkontrollierbarkeit von Gefühlsverkettungen darstellen. Anders ausgedrückt gibt es eine natürliche Eigendynamik der körperlich-seelischen Empfindungsabfolge selbst, die auf der vergleichsweisen Schwerfälligkeit der Affektveränderung beruht. Die Erinnerung an eine bestimmte Abfolge von Gefühlen determiniert durch Wiederholung die subjektive Erwartung hinsichtlich dieser Abfolge. Dabei geht es aber weniger wie in Sternes Tristram Shandy darum, dass ohne die schlagende Pendeluhr sich bei entsprechender Assoziation kein sexueller Höhepunkt einstellt, sondern die Affekte selbst haben natürliche Charakteristiken, die sie 36
Ebd., S. 179.
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einander ähnlich machen und dadurch schon – d. h. im Sinn einer ersten Natur – bestimmte Assoziationen auslösen. Humes Assoziationspsychologie gegen ein Verständnis von Freiheit als existentieller Risikobereitschaft lässt sich auf den einen Punkt bringen, dass auf dieser nicht sozialkonstruktivistisch überwindbaren archaischen Assoziationsebene der Gefühlsqualitäten die Affekte »Ungewissheit« und »Furcht« sich ähneln, weil beiden Gefühlszuständen ein »Schwanken« eigen ist, das die Psyche notwendig destabilisiert. Für die Gewohnheit ist Veränderung, und zwar vor allem dann, wenn sie sich unerwartet und schnell vollzieht, erst einmal furchteinflößend. Dies bedeutet nicht, dass sich keine »Neugier« entwickeln kann, aber die Faktizität der Bedrohlichkeit existentieller Veränderung zu verleugnen bedeutet, die sozialpsychologische Dimension freiheitlich-bürgerlicher Vergesellschaftung zu missachten. Dies ist aufgrund des Projektionscharakter der menschlichen Wahrnehmung umso bedenklicher, da sich so Unsicherheitsgefühle zu Panikzuständen verselbständigen können: »Die Plötzlichkeit und Fremdartigkeit einer Erscheinung ruft naturgemäß eine starke Bewegung im Geist hervor, so wie alles, worauf wir nicht vorbereitet sind und woran wir nicht gewöhnt sind. Diese Bewegung erzeugt wiederum naturgemäß eine Neugier oder einen Trieb, der Sache weiter nachzugehen, der vermöge des starken und plötzlichen, von dem Gegenstand ausgehenden Impulses sehr heftig ist und demgemäß beunruhigend wirkt, und in seinem Schwanken und seiner Unsicherheit dem Gefühl der Furcht oder des aus Freude und Kummer gemischten Affektes ähnelt. Dieses Abbild der Furcht verwandelt sich dann naturgemäß in die Sache selbst und flößt uns wirkliche Sorge vor einem Übel ein. Der Geist bildet seine Urteile ja immer mehr nach seiner augenblicklichen Stimmung, als nach der Beschaffenheit seiner Gegenstände« (ebd. S.185).
Der letzte Satz ist wohlgemerkt bei einem Empiristen keine leichtfertig hinzunehmende Aussage. Die Eigendynamik des Gefühlslebens, das eine bedingende Funktion auf die Projektion ausüben kann, steht immer auf dem Sprung, den Zugang zum empirischen Phänomen zu überlagern. Auch vor dem Hintergrund von Humes Beharren darauf, dass es nur unmittelbares Mitleid mit einem konkreten Anderen gibt und jede Form der Einbildung eines Mitleids mit der Nation als Gesamtheit oder einem anderen eingebildeten, sozialen Gesamtkörper – man denke etwa an die organische Bedeutungsdimension des deutschen Worts »Volk« im Gegensatz zum englischen »people« – an der empirischen Realität vorbeigeht.
3.4 Der wechselseitige Ausschluss von Vergleichsbedürfnis und Mitleidsempfindung Bei Hume verhält es sich so, dass er die Frage der Herstellung von Gerechtigkeit von der Frage der sozialen Funktionsweise von Mitleid getrennt diskutiert. Dies ermöglicht ihm bereits eine schärfere Sein-/Sollensunterscheidung als gemeinhin in der Zeit üblich. D. h. die Frage der gerechten Verteilung von Mitleid hat keinen Einfluss darauf, wie er die soziale Funktionsweise von Mitleid diskutiert. In einem bestimmten Sinn gilt dies auch für Smith, insofern Smith gerade die unkontrollier-
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ten Mitleidsimpulse erster Natur durch eine verinnerlichte zweite Natur, d. h. das soziale Über-Ich des »unparteiischen Zuschauers« (s. 4.3) kontrolliert sehen will. Dennoch folgt nach ihm diese verinnerlichte zweite Natur naturwüchsig aus der Lebensweise des Menschen in Gesellschaft mit Anderen. Uneindeutig bleibt dabei, ob Smith diese gesellschaftliche Lebensweise letztlich als natürlich ansieht. Ich werde später geltend machen, dass er dies bei genauer Lektüre nicht tut und insofern seine soziale Interaktionstheorie am Ende faktisch ohne eine Verankerung in der ersten Natur des »Menschen« dasteht. So wichtig diese Diskussion dafür ist, zu verstehen, wie der sentimentalistische Ordnungsdiskurs sich schließlich auf eine bestimmte Art und Weise selbst transzendiert, d. h. als Annahme einer ersten »sozialen Natur« von Smith transzendiert wird, so sehr würde man sich der Besonderheit des Hume’schen Verständnisses von »sympathy« begeben, dessen spezifische Auffassung der sozialen Funktionsweise des Mitleids nur vor diesem Hintergrund zu interpretieren. Daher möchte ich Humes Mitleidsverständnis zuerst immanent diskutieren und den bereits angedeuteten Bezug zu Smith erst in einem zweiten Schritt herstellen. Die Konkurrenzsituation, in der bürgerliche Individuen stehen, schafft für Hume eine bestimmte Form der Unfähigkeit, Andere noch abseits dieses Konkurrenzmusters wahrzunehmen. Dies gilt sicherlich für die Situation, in der zwei Einzelne faktisch in Konkurrenz zueinander stehen. Doch problematischer ist eigentlich, dass es auch für die Situation gilt, in der ein Anderer lediglich als Objekt der Vergleichung mit einem selbst herangezogen wird, um das eigene Selbstwertempfinden – d. h. den eigenen »Stolz« – zu erhöhen. Dieses Selbstwertempfinden ist – so, wie die bürgerliche Gesellschaft organisiert ist – abhängig davon, in diesem Vergleich gut abzuschneiden, weshalb es moralphilosophisch eine schwierige Gradwanderung ist, jemandem zum Vorwurf zu machen, dass er diesen »sozialen Vergleich« anstellt. Vor allem dann, wenn man wie Hume betont, dass »pride« für die willentliche Handlungsfähigkeit notwendig ist. Auch wenn Hume in bestimmter Hinsicht bewusst ist, dass diese Form der zwischenmenschlichen Relation einer bürgerlich-gesellschaftlichen Vermittlung unterliegt, geht er doch von der Natürlichkeit dieser Form des zwischenmenschlichen Vergleichens mit Anderen aus. Er bringt an dieser Stelle an, dass die Steigerung des eigenen Wohlbefindens durch das Sich-überlegen-Fühlen auch mit einem Kontrasteffekt des Empfindens zu tun hat, der einen das eigene Wohlbefinden stärker spüren lässt, wenn es mit dem Unwohlsein Anderer kontrastiert wird. Da das Selbstwertempfinden sich anhand des Vergleichs – der eigenen materiellen und immateriellen Güter, d. h. Charaktereigenschaften – mit Anderen bemisst, verstärkt die Erfahrung der (vorgeblichen) Niedrigergestelltheit dieser Anderen den »Stolz« auf sich selbst: »Zweifellos müssen wir beim Nachdenken über unsere eigene Lage und Lebensstellung mehr oder weniger Befriedigung verspüren, je nachdem uns diese mehr oder weniger glücklich oder unglücklich erscheint, also entsprechend dem Maß von Reichtum und Macht, Verdienst und Ansehen, in dessen Besitz wir zu sein glauben. Wir beurteilen aber die Dinge selten nach ihrem wahren Wert, sondern bilden uns unsere Ansicht von ihnen auf Grund des Vergleichs
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mit anderen Objekten. Daraus folgt, dass, je nachdem wir mehr oder weniger Glück oder Unglück bei Anderen sehen, wir unser eigenes Glück oder Unglück höher oder niedriger schätzen, und demgemäß Unlust oder Lust fühlen. Das Unglück eines Anderen gibt uns eine lebhaftere Vorstellung unseres Glücks, und sein Glück macht uns unser Unglück eindringlicher. Jenes erfreut uns also, dieses weckt Unlust« (TN 2.2.8, S. 110).
Humes Ausführungen scheinen hier zunächst mit seiner zuvor vorgetragenen These, dass der Anblick des Leids eines Bettlers qua unmittelbarer Affektübertragung immer erst einmal die gleiche »Unlust« in einem selbst weckt, im Widerspruch zu stehen. Dies ist weniger ein Widerspruch in Humes Theoriebildung als einer in der Sache bzw. ist dies genau der Punkt, um den es Hume geht: Wenn man sich zu Anderen in »Vergleich« [comparison] setzt, vereitelt dies die Befähigung, mit diesen Anderen Mitleid zu fühlen. Das kompetitive Vergleichsbedürfnis blockiert bei Hume die Möglichkeit, Mitleid zu fühlen, und die Einfühlung provoziert dann »Schadenfreude« [malice]. Wie im letzten Zitat des vorangegangenen Unterkapitels über »Furcht« macht Hume auch an dieser Stelle erneut darauf aufmerksam, dass die Wahrnehmung des »Objekts« – das in diesem Fall ein anderes Subjekt wäre – häufig stärker durch die eigene subjektive Anschauungsweise als durch dieses Objekt bestimmt ist. Der »Vergleich[…] mit anderen Objekten« nimmt als »Ursache« eines projektiven Charakters der menschlichen Außenwahrnehmung eine fundamentale Funktion im menschlichen Denken ein. Vereitelt in dem in 3.3 zitierten Fall der »Furcht« die »Stimmung« des Individuums eine adäquate Objektwahrnehmung, ist es hier ein Strukturmerkmal des menschlichen Denkens im engeren Sinn, nämlich dessen »natürliche« Veranlagung, Objekte zu vergleichen. Dieser vergleichende Charakterzug menschlichen Denkens ist für Hume vom Urteilsbildungsprozess nicht subtrahierbar. Doch bleibt er dann unproblematisch, wenn er reflexiv mitbedacht wird, d. h. als eine sich im Denken ständig vollziehende Projektion in der Selbstreflexion des Individuums mitreflektiert wird. Es ist etwa eine Notwendigkeit, bestimmen zu können, ob Objekte groß oder klein oder Dynamiken schwach oder stark sind, wobei diese Bestimmung als Verhältnisbestimmung verstanden sein sollte.37 Denken ist als aus Empirie induktiv schließendes nur vergleichsweise möglich. Allein: Hume beschreibt im zwischenmenschlichen Vergleichsbedürfnis mit Anderen noch etwas darüber Hinausgehendes, auch wenn er selbst dazu tendiert, diese Differenz zu verwischen. Dabei lohnt es sich, die Argumentation Humes im Detail zu verfolgen. Das, was für ihn hier zunächst auf Vergleich beruht, ist etwas, das sich als Kontrasteffekt im Empfinden von Affekten bezeichnen lässt: Das eigene »Glück« erscheint einem relativ zum »Unglück« der Anderen, und dieses Mehr an »Glück« wird stärker empfunden, wenn einem das »Unglück« von Anderen vor Augen steht. Nicht zwingend einleuchtend ist dagegen, warum einem aus diesem Grund schon der Anblick des »Unglücks« der Anderen »Lust« bereiten soll. Dies Lustgefühl nicht als 37
Vgl. TN 1.1.5.
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Boshaftigkeit zu verstehen, wäre nur möglich, wenn man es als bloße Folge des Kontrasteffektes interpretiert: Das angeschaute Leid Anderer verstärkt im Kontrast das eigene Glücksgefühl und führt zu »mehr Lust«. Aber was ist dann mit Humes vorheriger Argumentation, dass beim Empfinden von Mitleid das angeschaute Leid Anderer zunächst immer auch bei einem selbst assoziativ »Unlust« erzeugt? Wenn man diesen Widerspruch analysiert, lassen sich zwei Stufen des Nachfühlens unterscheiden. Die erste hatten wir zuvor schon besprochen: Es handelt sich um Nachahmung in ihrer sozialen Unmittelbarkeit – »sympathy« im empirisch-deskriptiven Sinn – für die es hinreicht, an einem Anderen den mir selbst bekannten Affekt – das beste Beispiel ist hier wieder Angst oder Panik – beobachtet zu haben. Hierfür muss man sich auch nicht in Andere eingefühlt haben. Die Affektübertragung, bei der das Leid eines Bettlers als »Unlust« zunächst auf einen emotional abfärbt, geschieht auf dieser ersten unmittelbaren Stufe von Nachahmung. Mitleid empfindet man dann durch die eigentliche Einfühlung in den Bettler, indem man sich in seine Situation hineinversetzt und ihn bedauert. Aber auf dieser zweiten Stufe kann man auch kein Mitleid empfinden, sondern sich am Unglück des Bettlers insofern ergötzen, als es einen das eigene Glück stärker spüren lässt. Dies passiert dann, wenn man aus dem Leid des Bettlers narzisstische Stärke zieht, indem es einem selbst zurückspiegelt, wie gut es einem selbst geht. Hume versteht diesen Fall als den, in dem das Vergleichsbedürfnis [comparison] das Empfinden beherrscht. Es lassen sich also zwei Stufen des Nachfühlens bei Hume unterscheiden, und die Vergegenwärtigung der Lage des Anderen – »changing places« oder Einfühlung im präzisen Sinn – wird erst auf der zweiten Stufe überhaupt möglich.38 Wie ich nun zeigen werde, ist auf dieser zweiten Stufe aber auch die Hinwendung zur »Schadenfreude« [malice] möglich. Dieser liegt auch eine bewusste Einfühlung oder ein »changing places« mit dem Anderen in der Imagination zugrunde, doch genau aus dem Grund, dass man sich daran erfreut, dass es diesem Anderen schlechter geht als einem selbst (3.4.1). Die Entscheidung darüber, ob man Mitleid oder Schadenfreude fühlt, ist durch äußere Faktoren nicht vollkommen determinierbar, insofern diese Entscheidung eine bewusste Wahl impliziert. Dennoch wird sie durch bestimmte äußere Faktoren begünstigt oder beeinträchtigt. So wird man Lipps überträgt in seiner Übersetzung den Unterschied zwischen basaler Nachahmung und Mitgefühl zum Teil mit den deutschen Begriffen »Mitgefühl« und »Mitleid«, womit er auf den Unterschied der buchstäblichen Wortbedeutung »Mit-fühlen« und »Mit-leiden« anspielt. Vor dem Hintergrund der im normalen Sprachgebrauch üblichen Verwendung von »Mitgefühl« als »Mitleid« stiftet dies aber eher zusätzliche Verwirrung. Kein geringerer Hume-Kommentator als John Leslie Mackie greift diese unglückliche Entgegensetzung der deutschen Worte »Mitgefühl« als einfachem Nachfühlen und »Mitleid« als bewusstem Mitleiden auf, wenn er zur Erläuterung der zwei Bedeutungen von »sympathy« auf die deutschen Begriffe verweist: »Sympathy does not (as it often does in modern use) mean compassion or pity, but rather to share what one takes to be the feelings of another, of whatever kind they are; sympathy is Mitgefühl, not Mitleid.«; Mackie 1980, S. 120, Hervorh. i. Orig. 38
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wahrscheinlich eher »Mitleid« empfinden, wenn der Andere einem persönlich nahe steht, wie das Empfinden von Mitleid sich ohnehin meist auf einen kleinen Radius von »Freunden und Verwandten« beschränkt (3.4.2).39 Erst die zweite Stufe des Nachfühlens, auf der bewusste Einfühlung stattfindet, lässt Mitleid zu. Als Empathie ist diese aber dennoch nur möglich gegenüber einem konkreten Anderen, d. h. Mitleid bleibt bei Hume immer ein Mitleid erster Ordnung, weil es für ihn im Gegensatz zu Smith ein »höheres Mitleid« – ein über das Mitleid mit einer konkreten Person transzendierend hinausgehendes Mitleiden mit einem sozialen Gesamtkörper als Ganzem, wie z. B. der eigenen Nation – als »Mitleid« nicht gibt. Das bedeutet nicht, dass es solche Mitleidsgemeinschaften nicht gibt – im Gegenteil beeinflussen sie für Hume in einem erheblichen Ausmaß, mit wem man überhaupt Mitleid fühlt. Doch dies bedeutet nicht, dass es für ihn eine »more enlarged compassion« mit der Sittengemeinschaft als solcher geben kann, die Smith als eine wirkliche Mitleidsempfindung mit einem Kollektiv denkt. Im Gegenteil verhält es sich bei Hume vielmehr umgekehrt so, dass die Aufbringung von Mitleid gegenüber einer konkreten Person, d. h. Mitleid erster Ordnung, bereits so komplexer Voraussetzungen und Ablaufbedingungen bedarf, dass es als unklug erscheinen würde, dieses Mitleid erster Ordnung – die Empathie für einen konkreten Anderen – durch ein Kollektivmitleid zweiter Ordnung zu reglementieren, das einen Gerechtigkeitsvorbehalt gegenüber dem Mitleid für einen konkreten Anderen erhebt, der dieses Mitleid u. U. nicht verdient hat.
3.4.1 Uneindeutiger Einfühlungszweck: Mitleid oder Schadenfreude Für Hume ist es nicht das Mitleid, das ambivalent wird – dieses wird im schlimmsten Fall schlicht blockiert – sondern es ist der Vorgang der Einfühlung, der sich als uneindeutig entpuppt. Als sozialer Modus betrachtet stellt sich die Frage, welchen Zweck das einfühlende Subjekt verfolgt. Vermischt sich die Kompetenz zur »sympathy« mit dem affektiven Ausleben eines kompetitiven Vergleichsbedürfnisses mit Anderen, entsteht »Schadenfreude« [malice]. Beachtenswert ist, dass Hume »Mitleid« [compassion] und »Schadenfreude« [malice] als gegensätzlich aufeinander bezogene Empfindungen diskutiert, die beide die Einfühlung in Andere zur Voraussetzung haben. Was die mitleidende Reaktion auf das Leid Anderer verhindern kann, ist das Bedürfnis danach, aus dem Vergleich mit dem unterlegenen Anderen narzisstische Stärke zu ziehen. Doch auch in diesem Fall imaginiert man sich die inneren Zustände dieses Anderen, d. h. man hat sich qua Einbildungskraft in ihn hineinversetzt. Aber im Fall der »Schadenfreude« nimmt man nicht die traurigen Affekte der Anderen »unmittelbar« [Hume: directly] in sich auf, sondern blockt sie ab:
39
Vgl. TN 3.3.3, S. 357.
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»Wir haben versucht, Mitleid und Schadenfreude zu erklären. Diese beiden Affekte entspringen aus der Einbildungskraft; es entsteht der eine oder der andere, je nach dem Licht, in dem diese ihr Objekt betrachtet. Beschäftigt sich unsere Einbildungskraft unmittelbar mit den [unlustvollen] inneren Zuständlichkeiten Anderer, und vertieft sich in dieselben, so lässt sie uns alle von ihr vorgefundenen Affekte nachfühlen, aber in einer besonderen Art von Missbehagen oder Kummer [die wir Mitleid nennen]. Vergleichen wir dagegen die Gefühle Anderer mit unseren eigenen, so haben wir ein Gefühl, das jenen direkt entgegengesetzt ist. Wir fühlen beim Missbehagen Anderer Freude, bei ihrer Freude Missbehagen« (TN 2.2.9, S. 116, sinngemäße Ergänzungen in eckigen Klammern v. Theodor Lipps; Hervorh. hinzugef.).
Die Art und Weise, wie Hume den Prozess des Mitleidens als Befähigung dazu fasst, das Leid Anderer bewusst »nachfühlen«40 zu können – mitfühlend in sich aufzunehmen –, erinnert wie schon Lockes Beschreibung der Verhaltensweise der guten, mitfühlenden Mutter gegenüber dem Kind an den Begriff »containment« bei Bion (vgl. 1.3). Die Überlegung ist auch dort, dass ein der anderen Person Erleichterung verschaffendes Nachempfinden eine faktisch mitleidende »Aufnahme« des Affekts dieses Anderen darstellt. Das Standardbeispiel in der Entwicklungspsychologie dafür, das mit den Ausführungen von Hume an dieser Stelle allerdings nicht so recht korrespondiert, ist immer das Verhältnis zwischen dem bedürftigen, schreienden Baby und seiner Mutter. Denn es ist verhältnismäßig schwer vorstellbar – wenn es auch nicht unmöglich ist –, dass eine Mutter beim Anblick ihres schreienden Babys »Schadenfreude« fühlt. Beim »containment« nimmt sich die primäre Bezugsperson eines Kleinkindes als Selbst zurück und nimmt den Affekt des Kindes, unter dem dieses temporär leidet, nachahmend in sich auf. Auch für Hume besteht die Befähigung zum Mitleid in einem temporären Absehen-Können vom eigenen Selbst. Es lohnt sich, an dieser Stelle seine Überlegung, nach der das Leid Anderer zunächst unmittelbar sensuell »Unlust« erzeugen muss, miteinzubeziehen, die auf den ersten Blick im Widerspruch zu seiner Aussage steht, dass nur ein »unmittelbarer« [directly] Zugang zum Leid Anderer Mitleid möglich macht. Man muss dieses »unmittelbare« Aufnehmen des Leids Anderer als Ausdruck einer bewussten Wahl des subjektiven Verhaltens durch den Mitleidenden verstehen, das so vorgestellt werden kann, dass es sich im Ablauf des Vorgangs der Einfühlung an diese anschließt bzw. die Einfühlung in Mitleid übergeht. Es gibt zwei aufeinander folgende Stufen des Nachempfindens, die beide im Begriff »sympathy« vermischt werden. Zunächst vollzieht sich ein unfreiwilliges, assoziatives Nachempfinden, das zur quasi-automatischen Reproduktion des am Anderen wahrgenommenen Affektzustandes führt. Aber dieser unmittelbaren Assoziationsabfolge kann dann eine bewusst empathische Reaktion des Ichs folgen. Diese ist »other-directed« in dem Sinn, dass sie bewusst diese andere Person als »Objekt« Es gibt keine wörtliche Entsprechung zu »nachfühlen« im englischen Original. Der Satz lautet dort: »When our fancy considers directly the sentiments of others, and enters deep into them, it makes us sensible of all the passions it surveys, but in a particular manner of grief or sorrow.«; TN (o), S. 381. 40
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der eigenen Einfühlung wählt. Aber dies bedeutet noch nicht, dass man sich schon sozial tugendhaft verhält. Vielmehr entscheidet sich auf dieser zweiten Stufe erst, ob man »Mitleid« oder »Schadenfreude« gegenüber dem Anderen empfindet, wobei »Mitleid« eine Unterform von »Liebe« darstellt und »Schadenfreude« eine Unterform von »Hass«41. In der Konzeptualisierung des Mitfühlens in der Spiegelneuronendebatte kehrt genau dieses Problem der Abgrenzung dieser beiden Stufen des Nachempfindens zurück. Auch hier wird mit einem weiten Begriff von Nachempfindung hantiert, der als dem Einfühlungsvorgang irgendwie zugrundeliegend, aber doch auch von ihm verschieden erscheint: Dass Spiegelneuronen »feuern«, sagt noch nichts darüber aus, was man in diesem hirnphysiologischen Nachahmungsmoment für diesen Anderen empfindet. Nicht anders als Hume machen Rizzolati und Sinigaglia deutlich, dass zum Nachempfinden soziale Bedingungsfaktoren gehören, um Mitleid möglich zu machen: »Das Mitleiden hängt außer vom Erkennen des Schmerzes noch von anderen Faktoren ab, zum Beispiel davon, wer der Andere ist, welche Beziehungen wir zu ihm haben, ob wir uns in seine Lage versetzen können, ob wir die Absicht haben, uns mit seiner emotionalen Situation zu belasten, von seinen Wünschen, seinen Erwartungen usw. Wenn es jemand ist, den wir kennen oder gegen den wir nichts haben, kann die durch den Anblick seines Leids verursachte emotionale Resonanz uns zu Mitgefühl oder Mitleid bewegen; die Dinge können jedoch einen anderen Verlauf nehmen, wenn der Andere ein Feind ist oder etwas tut, das in der gegebenen Lage eine potentielle Bedrohung für uns darstellt, oder wenn wir unverbesserliche Sadisten sind, wenn wir keine Gelegenheit auslassen, uns am Leid Anderer zu weiden usw. In all diesen Fällen nehmen wir den Schmerz des Anderen wahr, aber nicht in allen Fällen löst diese Art von Wahrnehmung dieselbe Art von empathischer Teilnahme aus« (Rizzolati/Sinigaglia 2008, S. 190).
Insofern zeigt sich auch in der Debatte um Spiegelneuronen, dass die bloße Beweisbarkeit von Nachahmungsvorgängen keine ethische Aussage über deren Zweck zulässt. Insofern ist auch hier die von den Protagonisten gepflegte Verklärung der Entdeckung von Spiegelneuronen zu einer hirnphysiologischen Evidenz für eine wohlwollende Veranlagung des menschlichen Individuums verfehlt. Das Bedürfnis nach dem Beleg dieser sozialen Veranlagung hat vielmehr auch hier eher ideologische Gründe, die sich anhand der politischen Frontstellung dieser Forschung gegen ein solipsistisches Menschenbild, das diese soziale Veranlagung verkenne, offenbart. Der breite Raum, den Hume dem Phänomen der Schadenfreude bei der Betrachtung des Vorgangs der Einfühlung einräumt, zeigt den systematischen Stellenwert, den er diesem Phänomen zuweist. Auch bei Shaftesbury wird das Problem der Schadenfreude im Kapitel über »unnatural affections« genannt, aber eben als unnatürliche Perversion verworfen. Auch Hobbes versteht die Freude am Leid Anderer schlicht als »monströs«, wobei beide die sadistische Lust des römischen Plebs bei den Zirkusspielen vor Augen haben. Bei Hume aber zeigt sich die Schadenfreude in aller Deutlichkeit als sadistische Mutation des Einfühlungsvorgangs, und dies 41
Vgl. TN 2.2.9, S. 116 ebd.
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bedeutet, am Grundgerüst einer sentimentalistischen Ethik ihren Hauptpfeiler anzusägen.42 Humes Einsicht, dass auch der »Schadenfreude« ein gedankliches Inden-Anderen-Hineinversetzen zugrunde liegt, ist in diesem Sinn auch der Grund, warum Hume dieses Phänomen überhaupt fasziniert: »Hier haben wir es darnach mit einer Art von umgekehrtem Mitleid zu tun« (TN 2.2.8, S. 110). Das Spannungsverhältnis von »Mitleid« und »Schadenfreude« ist nicht ein bloß gegensätzliches, sondern ein in sich widersprüchliches: Der »Mischcharakter« [mixture] der »Schadenfreude« zeichnet sich dadurch aus, dass ein zunächst erhebender Affekt (Freude) sich in einer Form auslebt, die darauf zielt, dass ein Anderer erniedrigt wird (Schaden): »Die Schadenfreude […] ist der durch nichts provozierte Wunsch, einem Anderen Schaden zuzufügen, nur um aus dem Vergleich damit Lust zu gewinnen« (TN 2.2.8, S. 111 f.). Als durch »nichts provoziert« versteht Hume die »Schadenfreude« an dieser Stelle deshalb, weil sie kein reaktives Folgeverhalten aus einer direkten Auseinandersetzung mit dem Anderen sein muss. Aber in diesem Sinn ist sie eine psychische Verfestigung dessen, Andere immer schon als Konkurrenten wahrnehmen zu müssen: »Schadenfreude« ist ein Affekt, der aus einer Einfühlung in Andere resultiert, die durch ein Wettbewerbsgebahren überdeterminiert wird. Dabei ist es wichtig zu sehen, dass es für Hume gerade nicht die reale Konkurrenzsituation ist, in der sich diese ambivalenten Affekte bevorzugt reproduzieren. In dieser ist die Konfrontation der Einzelnen für ihn vielmehr zu unmittelbar, um einen solchen »Mischcharakter« des Empfindens zu provozieren.43 Humes Festhalten am Subjekt-Objekt-Modell ermöglicht es ihm, das kompetitive Vergleichsbedürfnis, das die Schadenfreude motiviert, als eine Wahrnehmungsverzerrung zu deuten – wie sich auch das oben diskutierte Entstehen von »Furcht« aus dem affektiven »Schwanken« der Selbstwahrnehmung als Verzerrung einer angemessenen Wahrnehmung verstehen lässt. Wie schon beim Entstehen von »Furcht« aus dem »Schwanken« der »Ungewissheit« hat Hume also hier die psychische Verselbständigung einer bestimmten Anschauungsweise vor Augen, die sich so stark verfestigt, bis es gar keine Wahrnehmung – in diesem Fall des Anderen – abseits dieser Anschauungsweise mehr gibt. Diese Störung der Außenwahrnehmung – d. h. hier: der Anderen als »Objekte« meiner Anschauung – scheint zudem mit einer bestimmten Störung der »inneren Wahrnehmung« zu korrespondieren, die darin zum Ausdruck kommt, dass man für die Generierung des eigenen Selbstwertgefühls auf den Anblick des Unglücks/Leids Anderer verwiesen ist. Diejenigen, bei denen sich eine solche kompetitive Anschauungsweise der Anderen verfestigt hat, scheinen dabei vor allem solche Individuen zu sein, die dadurch fehlende andere Quellen der sozialen Generierung von Stolz kompensieren müssen. Dieses Kompensationsbedürfnis können nach Humes Beispielen aber auch wohlhabende Menschen haben. Beim Ekel vor Armut wäre z. B. die Frage, ob jemand sich hier 42 43
Vgl. L 1.6, S. 55 f.; vgl. UT 2.2.3, S. 107 f. Vgl. TN 2.2.9, S. 118.
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wirklich nur vor dem hygienischen Zustand des Anderen ekelt oder ob in diesem Affekt noch mehr zum Ausdruck kommt – eine bestimmte Distinktionshaltung etwa? Für Hume wird der psychosoziale Möglichkeitsraum zwischenmenschlicher Verhältnisse umrissen von den einander entgegengesetzten Wirkungen von »comparison« und »sympathy«: »Wir urteilen über die Dinge mehr vergleichsweise als nach ihrem eigenen absoluten Wert; wir halten Dinge für klein, wenn sie in Gegensatz treten zu größeren von derselben Art. Kein Vergleich aber liegt uns näher als der mit uns selbst; daher kommt es, dass derselbe bei jeder Gelegenheit von uns angestellt wird, und sich in fast alle unsere Affekte mischt. Diese Art der Vergleichung [comparison] nun wirkt dem Mitgefühl direkt entgegen; wir wir schon bemerkten, als wir über Mitleid und Übelwollen sprachen. […] Die unmittelbare Betrachtung der Lust eines Anderen bereitet uns von Natur Lust; deshalb erzeugt sie Unlust, wenn wir sie mit unserer eigenen [kleineren Lust, DS] vergleichen. Eines Anderen Schmerz ist an sich betrüblich; aber er steigert die Vorstellung unseres eigenen Glückes [wenn es uns im Empfindungskontrast zum Unglück des Anderen gut geht, DS] und gewährt uns dadurch Lust« (TN 3.3.2, S. 347 f., Hervorh. i. Orig.).
Das Bedürfnis, den eigenen Zustand mit dem des Anderen zu vergleichen, um daraus Lust zu ziehen, vereitelt die Möglichkeit von Mitleid gegenüber diesem. Zwar wird das Leid des Anderen dann nach wie vor wahrgenommen, aber eben nicht mehr »aufgenommen« (s. o.). Das Leid Anderer dient auf der Grundlage des Vergleichs mit sich selbst dann dem eigenen Sich-besser-Fühlen. Auch in diesem Fall findet aber eine Einfühlung statt, nämlich genau um diesen Empfindungskontrast mit dem eigenen Selbstwertempfinden herzustellen und dieses in Anschauung des Leids Anderer zu erhöhen. Man kann in diesem Sinn sagen, dass im Fall wirklichen Mitleidens zu dieser Einfühlung noch ein bewusstes Moment hinzukommen muss, das sich selbst aus der Betrachtung wieder zurücknimmt und den Anderen insofern als eigenständige Selbsterhaltungsentität betrachtet, dessen unglücklicher/ unwürdiger Zustand Mitleid erweckt.
3.4.2 Die beiden Ähnlichkeitsräume des Mitleidens: Die Familie und die Nation In einer Gesellschaft, die aus miteinander konkurrierenden Selbsterhaltungseinheiten besteht, sinkt die Möglichkeit des Fühlens von Mitleid proportional zur Verschärfung dieses Selbsterhaltungskonflikts. Dies liegt in der Logik der Sachverhalte, die Hume beschreibt. Dies gilt vor allem für die Abhängigkeit psychischen Wohlbefindens von materieller Sicherheit und den Umschlag von Mitleid in Schadenfreude, der durch ein exzessiv ausgelebtes Bedürfnis, sich mit Anderen vergleichen zu müssen, begünstigt wird. »Schadenfreude« als das »umgekehrte Mitleid« (op. cit.) zeigt damit vielleicht am deutlichsten, dass der Hobbes’sche Naturzustand in der bürgerlichen Gesellschaft keinesfalls erledigt ist. Zu diesem Bild passt auch die damals verbreitete Ansicht, dass sich der Hobbes’sche Naturzustand auf internationaler Ebene als Konflikt zwischen den Staaten als sich selbst erhaltende Einheiten wiederholt.
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Als Rückzugsraum im Innern bleibt die Familie. Diese ist daher nicht nur die sozialisatorische Keimzelle bürgerlicher Sittlichkeit, sondern auch der bevorzugte Ort, wo sie überhaupt aufzufinden ist. Dies hat seinen Grund darin, dass man hier von den eigenen Interessen absehen kann oder, anders ausgedrückt: in der eigenen Interessengruppe ist. Die Familie als ein Interessenbündnis ist der soziale Ort, an dem sich das Ich vorgeblich »unmittelbar« auf den Anderen einlassen kann und daher zu einem – nicht durch Eigeninteresse vereitelten – Mitleid fähig sei. Was Humes Analyse der »Schadenfreude« im Umgang mit (fremden) Anderen auszeichnet, dass es ihm dort gelingt, die Ambivalenz bürgerlicher Gefühle klar herauszuarbeiten, geht in seinem Blick auf die Familie verloren. Diese erscheint als idealisierter Raum unbedingten Mitleids. Wenn man nur mit jemandem Mitleid fühlt, weil er derselben familiären Gruppe angehört: liegt darin etwa keine Ambivalenz? Auch hier ergeben Humes Ausführungen einen schlüssigen Sinn, wenn sie materialistisch interpretiert werden. Sophie de Grouchy, deren mitleidsethische Kritik an Smith Humes Verteidigung eines unbedingten, ungefilterten Mitleids ähnelt, stellt in ihren Lettres sur la Sympathie heraus, dass unter den damaligen Gesellschaftsbedingungen für die meisten Menschen es überhaupt nicht anders vollstellbar war, als vor allem – und in der Regel ausschließlich – mit den Menschen zu sympathisieren, von denen sie als familiärer Lebenszusammenhang abhängig waren. Sympathie und Abhängigkeit voneinander lassen sich in einer naturwüchsigen Gesellschaft materiellen Mangels nicht unabhängig voneinander betrachten: »Es folgt, dass jeder Einzelne bald diejenigen erkennt, denen er den größten Teil seiner Existenz verdankt und welche die nächsten und dauerhaften Gründe seiner Sorgen und Freuden sind. Er kann daher nicht gleichgültig gegenüber ihrer Präsenz oder auch nur gegenüber dem bloßen Gedanken an sie sein. Es sind diese Leute, die ihn jederzeit Schmerz und Lust fühlen lassen.«44 In seiner Beschreibung der Hindernisse des Zustandekommens von Mitleid wirkt Hume zunächst radikaler als Shaftesbury, für den Mitleid durch das Eigeninteresse getrübt, meist aber nicht gänzlich vereitelt wird.45 Hume hingegen betont vordergründig wie später Rousseau den performativ interesselosen Charakter wahren Mitleids: Die eigenen Interessen stehen hier – zumindest für den Moment des Mitleidens, in dem sich ein »containment« vollzieht – zurück. Dies wird allerdings dadurch erheblich konterkariert, dass der Möglichkeitsradius dieses Mitleids selbst als soziales Interessenbündnis dechiffriert wird, welches das Einzelinteresse im Gruppeninteresse der Familie transzendiert. Neben dieser Transzendierung des Interessenkonflikts bedarf die Befähigung zum Mitleid der wahrgenommenen Ähnlichkeit der Mitfühlenden untereinander. »Il s’ensuit que chaque individu, envisageant bientôt ceux auquels il doit la plus grande partie de son existence, comme la cause prochaine et permanente de ses peines ou de ses jouissances, leur présence et leur seule idée ne peut lui être indifférente, et lui fait infailliblement éprouver une douleur ou un plaisir.«; De Grouchy 2010 (1798), S. 41, m. Ü. 45 Vgl. UT 2.1.3, S. 55 f. 44
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Weil im Mitleid die Befürchtung zum Ausdruck kommt, dass einem selbst etwas ähnlich Schlimmes geschieht, wird die Befähigung zum Mitleiden durch sympathetisch günstige Identifikationsbedingungen enorm verstärkt: Sich dem Anderen als ähnlich, wenn nicht sogar in einem substantiellen Sinn gleich zu fühlen, ist – zumindest bei den meisten Menschen – notwendig dafür, sich in dessen Schicksal einfühlen zu können. Bei Hume setzt sich damit der Anti-Kosmopolitismus des Sentimentalismus fort: Nicht die abstrakt-universelle Reflexion auf die Menschheit als Ganze, sondern im Gegenteil die lebensweltlich-nahe Verbindung zu denen, die mir besonders ähnlich sind, ist sittlichen Verhaltensweisen günstig: »Hat uns Erfahrung eine genügende Kenntnis der menschlichen Angelegenheiten gewinnen lassen, und uns gelehrt, in welchem Verhältnis sie zu den menschlichen Affekten stehen, so wissen wir, dass die Großmut der Menschen sehr begrenzt ist und nicht leicht über ihre Freunde und Verwandte hinausgeht, und höchstens bis zu ihrem Vaterlande reicht. Auf Grund solcher Kenntnis der menschlichen Natur erwarten wir nichts Unmögliches von Menschen, sondern beurteilen ihren sittlichen Charakter darnach, wie er sich zeigt in dem engen Kreis, in dem sie sich bewegen. Führt einen Menschen die natürliche Tendenz seiner Affekte dazu, in seiner Sphäre nützlich und brauchbar zu sein, so loben wir seinen Charakter und lieben seine Person, vermöge des Mitgefühls mit den Gefühlen derer, die in näherer Beziehung zu ihm stehen« (TN 3.3.3 S. 357).
Als sozialpsychologische Überlegung genommen, lässt sich hieraus aber dennoch eine progressive Definition der Familie gewinnen, denn diese Familie wird hier in erster Instanz als eine Art sozialer Freundeskreis verstanden, der sich dadurch auszeichnet, dass in ihm Mitleid gepflegt wird. Ein Widerspruch, der sich bei Hume schwerlich auflösen lässt, ist der zwischen diesem Lokalismus seiner Sittlichkeitsidee und der bei ihm dennoch gegebenen Einsicht, dass politische Emanzipation eigentlich voraussetzt, sich selbst und alle Anderen als »sensible creatures« zu begreifen – die Leid empfinden können. Diese ethische Basismotivation einer »Sorge um die andere Kreatur«, wie Adorno sie nennt, gilt es zu kultivieren oder, an diesem Punkt rousseauistisch ausgedrückt: vor den sie abtötenden Konkurrenzkräften der bürgerlichen Gesellschaft zu bewahren. Rousseau versucht diese zwischenmenschlichen Kräfte der konkurrenzhaften Auseinandersetzung gerade zu umgehen, wenn er den kleinen Emile das Mitleid beim Anblick sterbender Tiere erlernen lässt.46 Sowohl der Gesellschaftskontext – die Strukturiertheit einer konkurrenzförmig organisierten Lebenswelt, die das Empfinden von Schadenfreude begünstigt – als auch die menschliche Natur, die nur Mitleid mit denen zulässt, die einem selbst ähnlich erscheinen, setzen der Möglichkeit des Empfindens von Mitleid enge Grenzen. Dennoch provoziert die nationale Begrenzung des Mitleids und die über diese nationale Begrenztheit Gültigkeit beanspruchende Analyse der menschlichen Nachahmungsweisen, nach den Bedingungen eines Mitleids mit dem anderen Emile 4. Buch, S. 461: »Wie könnten wir uns denn zum Mitleid bewegen lassen, wenn wir uns nicht unsrer selbst entäußern und uns mit dem leidenden Tier identifizieren, indem wir sozusagen unser Ich verlassen, um das seine anzunehmen? Wir leiden nur soweit mit, als wir meinen, dass es leide; wir leiden nicht in uns, wir leiden in ihm.« 46
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Menschen als Menschen zu fragen. Dennoch sollte diese Fragestellung, der Logik von Humes Analyse folgend, nicht zur Folge haben, dass lokal begrenzte Mitleidsräume gering geschätzt werden. Was deren kosmopolitische Überwindung angeht, muss man Hume eher skeptisch verstehen. Er übernimmt von Shaftesbury die Vorstellung, dass menschliche »sympathy« sich zirkulär um ein Zentrum herum aufbaut. Diese »Kreise der Sympathie«47 versinnbildlichen die Begrenztheit des menschlichen Vermögens, Mitleid zu fühlen. Die meist lokal begrenzte Ausbildung menschlicher Beziehungen wird in der Antike von den Stoikern oikeiosis genannt. Unter Kosmopolitismus versteht die Stoa den bewussten Versuch, diese lokale Begrenzung zu überkommen. Was der moderne Kosmopolitismus meist übersieht, ist der Prozess der Desensibilisierung für die Belange des lokalen Umfelds, der mit dieser Überwindung einhergeht. Das stoische Ziel ist bewusste Apathie gegen die Sorgen und Belange des eigenen Herkunftskreises. Fonna Forman macht geltend, dass es nicht möglich ist, die frühliberale Mitleidsethik in diesem Sinn als »kosmopolitisch« zu verstehen. Hier ist leider nicht der Ort, diese Zusammenhänge weiter auszuführen, aber der moderne Kosmopolitismus ist zudem abhängig von der These vom »sanften Handel«, die besagt, dass die globale Verrechtlichung freien Warentauschs bereits von sich aus die nationalen Sitten besänftige. Dieser Gedanke ist der Antike fremd.48
3.5 Selbsttäuschung vs. Selbstbewusstsein: Humes Primat des sozialen Nutzens Meine Darstellung Humes hat den Schwerpunkt auf seine Affekttheorie gelegt und das dritte Buch des Traktats, das seine Morallehre im engeren Sinn enthält, dabei zurückgestellt. Dieses Vorgehen habe ich insofern als legitim ausgewiesen, als ich Hume als einen Theoretiker verstehe, dem es darum geht, die moralphilosophische Debatte in ihrer Schwerpunktsetzung selbst zu verschieben, nämlich auf die Frage hin, welcher psychosozialen Voraussetzungen sittliches Handeln bedarf.49
Vgl. Leibniz, zit. nach Ziertmann 1905; vgl. Forman-Barzilai 2010. Vgl. Forman-Barzilai 2010, S. 132. 49 Ich werde daher in diesem letzten Unterkapitel auch nicht mehr Humes Tugendkatalog entwickeln, weil das die Darstellung sprengen würde. J. L. Mackies Analyse zählt unter Humes »künstliche Tugenden«: Gerechtigkeit, Respekt vor Eigentum, das Halten von Versprechen, Keuschheit und Bescheidenheit. Als »natural virtues« zählt Hume auf: »meekness, beneficence, charity, generosity, clemency, moderation, equity«. Zu Humes Unterscheidung in natürliche und künstliche Tugenden merkt Mackie an: »[H]is natural virtues are, after all, a further set of artificial virtues. Although we may have some instinctive tendencies to develop these dispositons and actions (namely those that are close to us), the precise way in which we approve of them (namely interpersonally and impartially) must, like the rules of justice, be understood as a system which flourishes because as a system it serves a social function, helping human beings who are made pretty competitive both by their genetic make-up and by their situation to live together fairly peacefully and with a certain amount of mutual aid and cooperation«; Mackie 1980, S. 123. 47 48
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III. Kapitel · David Hume
Dies bedarf in diesem letzten Teil des Kapitels noch einer Spezifizierung. Was Hume aus dem Blickwinkel meiner Untersuchung – neben seinem zuvor diskutierten Mitleidsverständnis als eines sich immer nur konkret vollziehenden Mitleids erster Ordnung – eine besondere Relevanz verleiht, ist die sozialpsychologische Perspektive, die er auf die Genealogie der Moral selbst einnimmt: »Ein Mensch, der von einer hohen Meinung über seinen Rang und sein Wesen in der Schöpfung eingenommen ist, wird natürlich versuchen, danach zu leben. Er wird deshalb jede niedere oder gemeine Handlung verachten, mit der er unter jenes Bild sinken könnte, das er in seiner Einbildungskraft von sich selbst geschaffen hat. Entsprechend stellen wir fest, dass alle unsere gebildeten und modernen Moralisten auf dieser Annahme bestehen und sich bemühen, Laster als ebenso unwürdig für die Menschheit wie verabscheuenswert an sich darzustellen« (Essays, S. 86 f.).50
Zu einer sozialpsychologischen Aussage wird dieser Satz Humes durch die Feststellung, ein »Mensch« schaffe sich »in seiner Einbildungskraft« ein idealisiertes »[Bild] von sich selbst«, nach dem er dann handeln wird. Als relativ naiv erscheint an dieser Stelle, dass Humes Fürsprache für diese Form von »Moralismus« nun allein darin besteht, dass er den der Moralität förderlichen Effekt betont, den dieses idealisierte »Bild« als das einer »hohen Meinung« von sich selbst auf das tugendhafte Handeln haben soll. Dass die »hohe Meinung« von sich selbst vielleicht gar kein tugendhaftes Handeln zur Folge hat, sondern gelegentlich sogar als intrapsychische Kompensation für weniger tugendhafte Handlungen – wie die Einfühlung in Andere, um ihnen eigentlich zu schaden, die Hume doch so ausführlich beschreibt – vorkommen mag, wird hier von Hume nicht mitbedacht. Humes Position wirkt wie eine Adaption der genealogischen Satire Mandevilles auf die Entstehung der Moral: Diese ist in der Vorzeit einmal als eine Strategie von priesterlichen Herrschern erfunden worden, weil sie die Menschen zu bestimmten Handlungen befähigen wollten. Die Ermächtigung, die darin liegt, sich selbst zu einem »guten Menschen« zu (v-)erklären, entstammt bei Mandeville dieser ursprünglich religiösen Täuschung durch Priester. Allmählich entsteht so die Selbsttäuschung des Menschen, ein besseres Wesen zu sein, als er es eigentlich ist: »Sie [die Gesetzgeber, DS] untersuchten also gründlich alle uns von Natur aus zukommenden Stärken und Schwächen; und da sie fanden, dass niemand so roh sei, dass er nicht an Lob Gefallen fände, und niemand so verworfen, dass er Verachtung geduldig ertrüge, so schlossen sie mit Recht, die Schmeichelei müsse das machtvollste Werkzeug sein, um auf menschliche Wesen einzuwirken. […] Nachdem sie sich auf diesem sinnreichen Wege der Schmeichelei in die Herzen der Menschen eingeschlichen, begannen sie, sie mit den Begriffen der Ehre und Schande vertraut zu machen, wobei sie die eine als das schlimmste aller Übel, die andere als das höchste Gut, wonach Sterbliche trachten könnten, hinstellten. Darauf hielten sie ihnen vor, wie sehr es der Würde so erhabener Geschöpfe entgegen sei, die Befriedigung jener Begierden zu erstreben, die sie mit den wilden Tieren gemein hätten, und gleichzeitig jene höheren Anlagen, die ihnen den Vorrang vor allen bekannten Wesen gäben, zu vernachlässigen.«51
50 51
Aus Über Würde und Gemeinheit der menschlichen Natur, ebd., S. 86 f. Mandeville 1968, S. 95 f.; vgl. Sakmann 1897, S. 43 f.
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Dies ist Mandevilles Fassung der Naturalisierung von »love of praise«: Das Lob und der Zuspruch Anderer – systematisch ausgedrückt: deren soziale Anerkennung – ist der Ansatzpunkt, um der persönlichen Entwicklung von Individuen eine bestimmte »vernünftige« Richtung zu geben. Mit einer modernen Motivationspsychologie hat diese Ansicht, trotzdem sie relativ einfach gestrickt ist, eben doch den Fokus auf soziale Anerkennung bereits gemein, wenn auch die Kehrseite dessen bei Mandeville die Verbringung der notorisch Unmotivierten – des Packs oder Pöbels [mob] – in die Arbeitshäuser ist.52 Da für Hume das Selbstwertempfinden des bürgerlichen Individuums vom erfahrenen Zuspruch Anderer gar nicht abgelöst betrachtet werden kann und dieser »Stolz« für die freiheitliche Handlungsfähigkeit als gleichzeitig notwendig erscheint, verfolgt er im Grunde eine ähnlich funktionalistische Idee von der sozialen Nützlichkeit des Lobs wie Mandeville. Aber was seine Sichtweise außergewöhnlich macht, ist, dass er diesen Gedanken so weit treibt, dass er letztlich für einen Vorrang dieser sozialen Nützlichkeit gegenüber der Wahrheit votiert, d. h. das pragmatische Ziel des hervorgerufenen psychosozialen Effekts höher wertet als die klassisch moralistisch-introspektive Frage, ob die »Selbstwahrnehmung« [reflexion] eines Individuums der empirischen Überprüfung dieser Selbstevaluation standhält. Der »Stolz« gehört zur individuellen Selbständigkeit dazu. Wenn es keine Möglichkeit gibt, ihn als zentrales Handlungsmotiv des Individuums zu ignorieren, stellt sich die Frage, wie er auf eine Art und Weise befriedigt werden kann, die der Gesellschaft von Nutzen ist. Hierfür bietet das Modell der sozialen Natur die Lösung an. Wenn der Einzelne vor allem darauf »stolz« ist, sich um Andere sozial verdient zu machen, kommt das Streben des Individuums, sich diesen Anderen gegenüber auszeichnen zu wollen, unmittelbar der Sittlichkeit der Gesellschaft zugute. Man denke hier noch einmal zurück an Hobbes: Dieser kritisiert das Streben nach »honor« als eines der Hauptmotive, welche den englischen Bürgerkrieg ausgelöst haben. Doch war dieses Streben nach »Ehre« nicht vor allem darin problematisch, sich in einer Gesellschaftskonstellation zu vollziehen, in der man »Ehre« für ein solch kriegerisches Handeln erlangen konnte?53 Was, wenn man dieses Bedürfnis, sich vor Anderen auszuzeichnen, einem zivilen Nutzen zuführen würde? Was nicht mehr in Frage steht, ist die Abhängigkeit des subjektiven Selbstwertempfindens vom Zuspruch Anderer. Was sich in der bürgerlichen Gesellschaft dagegen ändern muss, sind die Gründe, für die man diesen Zuspruch erfährt. Auch Hobbes stellt nicht in Frage, dass sich »Stolz« faktisch aus dem Zuspruch Anderer generiert: Vgl. Bohlender 2007. Laurie Johnson hat einen kaum beachteten, brillanten Essay über den historischen Wandel dessen, was einem »Ehre« einbringt, in Bezug auf die Stellung, die Hobbes in dieser Entwicklung einnimmt, geschrieben. Die Gründe von Hobbes, die »Ehre« abzulehnen, werden hier ideengeschichtlich so kontextualisiert, dass es als die Tragik seiner Theoriebildung erscheint, dass er durch seine Ablehnung von »honor« als Modus der Kriegstugend eine mögliche Umlenkung des Stolzes auf soziale Tugendhaftigkeit nicht mehr mitbedenken konnte; vgl. Johnson 2009. 52 53
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III. Kapitel · David Hume
»Wenn in der Unterhaltung die freudige Empfindung, von den Anderen geschätzt zu werden, wach wird, dann steigen bisweilen die Lebensgeister empor, und dies Gefühl der Erhebung heißt Stolz; es ist darin begründet, dass bei den Menschen, die fühlen, dass ihre Worte und Taten Beifall finden, die Lebensgeister aus dem Herzen in das Antlitz emporsteigen, gleichsam als Zeugnis, dass man die gute Meinung über sich selbst aufgenommen hat« (DH 12.6, S. 30).
Entscheidend für meine Argumentation ist hier, dass auch Hobbes »Stolz« als eine erst aus dem Zuspruch Anderer hervorgehende »Erhebung« denkt. Auch hier im von ihm spät geschriebenen De Homine stellt Hobbes die interpersonale Bezogenheit des Selbstwertempfindens auf Andere aber nicht als natürlich-soziale Veranlagung vor. Als Grund dafür ließe sich anführen, dass für Hobbes die »Gesellschaft« selbst dennoch ein »künstliches« Gebilde bleibt. Im Naturzustand wird aufgrund des fehlenden, dafür notwendigen Friedens die Erfahrung sozialer Anerkennung nicht gemacht. Humes Trick, die Debatte um Künstlichkeit oder Natürlichkeit der Gesellschaft zu unterlaufen, besteht darin, das individuelle Verlangen nach dem anerkennenden Gesehenwerden durch Andere zum Kernphänomen der sozialen Natur zu machen: Jede »sensible creature« (s. 3.2.2) hat von Natur aus das Bedürfnis, diese basale Form von Anerkennung ihrer Existenz zu erfahren. D. h. das Bedürfnis nach der »Gesellschaft« ist natürlich, während die Gesellschaft selbst auch bei Hume eigentlich weiter als künstlich angesehen wird. Die Frage ist, wie die bei Hume allen sozialen Wesen eigene Lust am Sichselbst-Zeigen der Gesellschaft zugute kommen kann. Auch wenn der »Stolz« auf diese Weise legitim befriedigt werden kann, bewirkt dieser doch immer wieder eine Verfestigung der Identität, die der eigenen »sympathy« für Andere zugleich entgegenwirkt. Das Individuum soll ja durchsetzungsfähig gemacht werden. Doch der Einzelne muss zugleich offen bleiben für den Anderen. Dies allein schon deshalb, weil Ego auch für Alter als »Spiegel« von Alters Selbstwertgefühl fungieren muss. Beide müssen sich als freie und gleiche Einzelne – als »sozial ähnlich« – identifizieren können. Der pietistische Skandal von Lockes Idee der Konstituierung sozial-ziviler Tugenden liegt darin, deutlich zu machen, dass es letztlich zweitrangig ist, wie es im Inneren des Einzelnen aussieht, wenn dieser sich äußerlich vernünftig [reasonable] verhält. Sicher ist beides voneinander nicht völlig unabhängig, aber dafür, »civility« aufrechtzuerhalten, muss man den Anderen zunächst einfach nur nicht als »Feind« behandeln. Im vorherigen Teilabschnitt hatte ich gezeigt, dass dies für Hume durch die Organisationsweise einer konkurrenzförmig organisierten Gesellschaft oft schon schwer genug ist: Das Mitgefühl und das Bedürfnis, sich kompetitiv mit Anderen vergleichen zu wollen, stehen für ihn in einem permanenten intrapsychischen Zwist miteinander. Durch die falsche Vermischung dieser Begehren entsteht die sozialpathologische Regung der Schadenfreude. Nicht erst Humes Adaption, sondern schon die Philosophie des moralischen Sinns, wie Shaftesbury sie konzipiert, stellt eine bestimmte Antwort auf den Diskurs um die Selbsttäuschung dar, in dem sie pragmatisch das Faktum, dass ein
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Individuum auf wohlwollende Art und Weise gehandelt hat, über das Motiv oder den Grund stellt, warum es innerlich zu dieser Handlung bewegt wurde. Bei Shaftesbury wird aufgrund seiner schwärmerischen Anrufung der Güte einer inneren »sozialen Neigung« (s. 2.3.2), schnell übersehen, dass er unterm Strich dennoch als zweitrangig deklamiert, ob der Einzelne aus selbstsüchtigen oder wohlwollenden Motiven sittlich handelt, solange er dies faktisch tut (s. 2.4).54 Die Aufrechterhaltung von »civility« beruht insofern darauf, eine soziale Lebenswelt kreieren zu können, in denen die Einzelnen für ihr tugendhaftes Handeln soziale Anerkennung erfahren. Shaftesbury macht hierbei explizit deutlich, dass »der Trick« an dieser Art und Weise der Führung des Einzelnen – eigentlich seiner Verleitung, d. h. der Umleitung seines Reputationsbegehrens – auf den »Pfad der Tugend« darin liegt, dass durch die Verknüpfung von Wohlbefinden und Reputation auch diejenigen tugendhaft werden können, die zunächst von sich aus nicht tugendhaft gehandelt hätten. Es geht eigentlich um diese Vielen – die Nicht-Heiligen –, denen die Tugend erst durch eine entsprechende soziale Anerkennung als Belohnung schmackhaft gemacht werden muss, nicht um die wenigen »innerlich Tugendhaften«. Der freie Mensch muss über Anreize dazu gebracht werden, sich in eine bestimmte Richtung zu entwickeln. Dies bedeutet nicht zwingend, dass er schlecht ist, sondern es bedeutet nur, dass er nicht immer von alleine dazu fähig ist, gut zu sein. Was immer mehr in den Vordergrund tritt – weil die Entdeckung der Gesellschaftsgeschichte zeigt, dass es nicht von vornherein feststeht –, ist die Frage, wofür man als Individuum nun genau diese Anerkennung erfährt. D. h. welche konkreten Verhaltensweisen sind diejenigen, die faktisch sozial befördert werden? Hier unterscheiden sich die hier verhandelten Autoren stärker untereinander, als man zunächst annehmen könnte. Vor allem bei Smith, wie ich im nächsten Kapitel ausführlich zeigen werde, wird eine bestimmte Form der bewussten Gleichgültigkeit gegenüber Anderen paradoxerweise wieder in den sozialen Tugendkatalog aufgenommen. Diese bewusst-gleichgültige Haltung gegenüber Anderen wird affektiv für Smith paradoxerweise erst möglich durch die Anrufung eines »höheren Mitleids, welches alle Menschen umfasst«55 – und das insofern das konkrete Mitleid gegenüber Anderen intrapsychisch übertrumpfen kann. Wie das möglich sein soll, zeigt das nächste Kapitel. Die Grundthese, die sich seit Lockes Erziehungslehre durchhält, ist zunächst diese: Das freie Individuum sei anzurufen über sein Bedürfnis danach, von den Anderen bewundert zu werden bzw. von diesen Zuspruch zu erfahren. Hume ist vielleicht derjenige, der dieses Bedürfnis für am unproblematischsten hält: Der »Mensch« teilt es für ihn bereits mit jeder »sensible creature«. In diesem Sinne ist es auch nicht verwerflich, sich zuweilen selbst zu überschätzen bzw. den Zuspruch Anderer zu nutzen, um sich auf eine Art und Weise zu zeigen, die einem Mut macht und Kraft gibt. Worum es mir hier geht, ist zu verdeutlichen, dass Hume 54 55
Vgl. UT 1.3.3, S. 39 f., DC 3.27. TMS 2.2.3, S. 142.
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III. Kapitel · David Hume
damit auch eine bestimmte Ausdeutung des Anschlusses der Philosophie des moralischen Sinns an den frühneuzeitlichen Diskurs um die Selbsttäuschung [self-deceit] gibt. Diese Antwort erschließt sich im Werkzusammenhang erst von seiner Affektlehre aus. Und zwar deshalb, weil dafür die Eigendynamik des Affektempfindens bedacht werden muss, die sich aus dem Stabilitäts- und Ausbalancierungsbedürfnis der menschlichen Psyche selbst ergibt (vgl. 3.3). Das Selbstwertempfinden tendiert von sich aus dazu, eine Empfindungskonstanz in der Affektabfolge herstellen zu wollen. Dies gilt sowohl für die guten, leichten, stolzen und in diesem Sinn dem Individuum Mut machenden Affekte als auch für jene schlechten, schweren, niederdrückenden Affekte, die einem Angst machen. Man denke hier noch einmal an Lockes Erziehungsrat, das Kind spüren zu lassen, dass es einen Weg im Licht der Bewunderung gibt, wenn man den Erwartungen der Erziehungsperson Folge leistet, und einen Weg der »Schande« [disgrace], auf dem man landet, wenn man diese Erwartungen enttäuscht. Auf der Grundlage von Humes Affektlehre lässt sich sagen, dass Locke sich hier ein dynamisches Assoziationsgesetz der menschlichen Psyche zunutze macht: »Alle ähnlichen Eindrücke hängen zusammen; sobald einer lebendig wird, folgen gleich die übrigen. Schmerz und Enttäuschung erzeugen Ärger, Ärger Neid, Neid Bosheit, und Bosheit wieder Schmerz, bis der ganze Kreis durchlaufen ist. Ähnlich wendet sich unsere Stimmung, wenn sie durch Freude gehoben ist, naturgemäß zur Liebe, zum Großmut, zum Mitleid, zu Mut, Stolz und den anderen ähnlichen Gemütsbewegungen« (TN 2.1.4, S.12 f.).
Diese Hebung der »Stimmung« auf den positiven oder »stolzen« Pfad der Selbstbetrachtung stellt in der Logik der Affektlehre Humes aber eine psychosoziale Voraussetzung des tugendhaften Handelns selbst dar. Denn, wie oben gezeigt, macht die identitäre Festigkeit, die einem dieser »Stolz« auf sich selbst erst verleiht, ein Individuum zum willentlich-selbstbewussten Handeln zuallererst fähig. Die Freiheit bedarf daher in einem bestimmten Ausmaß der Selbstsuggestion, um aus ihr den nötigen »Mut« zu schöpfen, sich als Einzelner in der Gesellschaft behaupten zu können. Die für die Befähigung zum tugendhaften Handeln nötige Ich-Stärke bedarf damit einer bestimmten, im Freundeskreis sozial abgestützten Selbstsuggestion der Stärke oder des Muts. Der »moralische Sinn« – betrachtet als diese Art von psychosozialer Abhängigkeit vom »Pfad der Tugend« – ist daher keineswegs eine in erster Instanz altruistische Veranlagung, weil die Auslebung des »Rechtsgefühls« eines starken Ichs bedarf. Dies gesteht auch Shaftesbury zu, wenn er die Notwendigkeit einer gelungenen Balance von »selbstischen« [selfish] und sozialen Affekten betont. Dass tugendhaftes Handeln der Stärke bedarf, bedeutet umgekehrt aber nicht, dass die affektive Selbstsuggestion individueller Willenskraft keine soziale Rückbindung erfahren muss, um Anderen gegenüber eine bestimmte Form von Offenheit bewahren zu können. Es ist vielleicht nicht zufällig so, dass Hume auf genau dieses Problem zum Ende seines Traktats über die menschliche Natur noch einmal zu sprechen kommt. Hume erläutert hier das angemessene Verhältnis des Stolzes zum gesellschaftlich notwendigen Maß an Bescheidenheit. Dabei scheint es zunächst so zu sein, als
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wäre diese »Bescheidenheit« nur eine der Performanz. Daran ist wahr, dass sie als faktische »Demut« für Hume zum Leben in der bürgerlichen Gesellschaft unfähig machen würde. In seiner abschließenden Diskussion der »Seelengröße« [greatness of mind] schreibt er – nachdem er zuvor schon deutlich gemacht hat, dass das kompetitive Vergleichsbedürfnis eines Individuums dann problematisch wird, wenn es das Mitleiden gänzlich verunmöglicht – über den notwendigen »Anschein von Bescheidenheit«: »Wir sollten bei allem Stolz, der in unserer Brust wohnt, eine angenehme Außenseite zeigen und uns den Anschein von Bescheidenheit und wechselseitiger Ergebenheit in unserem ganzen Benehmen und Wesen geben. Wir sollten bei jeder Gelegenheit bereit sein, Andere uns selbst vorzuzuziehen und sie mit einer Art von Ergebenheit zu behandeln, auch wenn sie unseresgleichen sind; wir sollten immer bereit sein, als die Kleinsten und Letzten in der Gesellschaft zu erscheinen, wenn wir nicht etwa sehr hoch über den Anderen stehen. Solange wir diese Regeln in unserem Benehmen beobachten, sind die Menschen gegen unsere inneren Gefühle nachsichtiger, wenn wir dieselben einmal durchblicken lassen« (TN 3.3.2, S. 352).
Vergleicht man Humes Betonung eines gesellschaftlich notwendigen Zeigenmüssens dieser »angenehmen Außenseite« mit der in 2.3.2 zitierten Ermahnung Shaftesburys, dass man nicht denken soll, dass die Vorspiegelung eines bloßen Anscheins sozialer Neigung – die vielmehr verinnerlicht werden muss – genügt, um zur Geselligkeit fähig zu sein, erwecken beide Passagen den Eindruck eines genauen Gegensatzes. Auf der einen Seite stehen Locke und Hume, die sich als Apologeten der Heuchelei und der vorgespielten Höflichkeit verstehen lassen – d. h. als verkappte Anhänger der aristokratischen Handlungskunst der »honnêteté« –, während Shaftesbury und Smith dazu ein Gegengewicht bilden, indem sie die Notwendigkeit der Internalisierung eines Antriebs zur sozialen Tugendhaftigkeit betonen. Soziale Tugenden können nicht einfach vorgetäuscht werden. Stellt man aber Humes Apologie der bloßen Erweckung eines »Anscheins von Bescheidenheit« in den Gesamtkontext seiner Ausführungen, dann zeigt sich, dass diese »ergebene« und insofern immer noch vorgespielt »demütige« Haltung gegenüber dem Anderen einen realen psychosozialen Effekt auf den Handlungsakteur hat, der darin zu sehen ist, dass er auf diese Art und Weise tatsächlich in die Lage versetzt werden soll, in Anbetracht seines – im Inneren notorisch zu großen – Stolzes solch eine »wechselseitige Ergebenheit« herzustellen. Diese ist insofern nicht nur vorgetäuscht, sondern ermöglicht ein durch dieses Benimmritual eingeleitetes »changing places«. Dieses ist allerdings nur möglich, wenn man es nicht mit jemandem zu tun hat, der in der gesellschaftlichen Rangordnung deutlich unter einem steht, was sich allerdings insofern fast von selbst versteht, weil diese Person aufgrund ihrer »Ungeschliffenheit« (Hobbes/Locke) zu diesem Interaktionsritual ohnehin nicht in der Lage wäre. Bemerkenswert nun, dass Hume darauf beharrt, dass erst diese vorgespiegelte Demut die bedenkenlose bzw. abgedämpfte Hinnahme des wirklichen – egoistischen – Handlungsmotivs erlaubt. Die Beherrschung dieser Kunst der Verstellung dient damit schlussendlich doch dem sozialen Ertragenkönnen der zynischen Wahrheit, dass es unter den gegebenen Vergesellschaftungsbedingungen zu-
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III. Kapitel · David Hume
mindest gegenüber einem Fremden kein Handeln gibt, das vom Eigeninteresse ungetrübt ist. Auch in der Familie existiert unbedingtes Mitleid ja nur, weil diese eine Selbsterhaltungseinheit bildet. Der Ort des unbedingten Mitleids, für das als Anlass der Anblick des Leids eines beliebigen Anderen ausreicht, wird bei genauer Hinsicht zunehmend utopisch.
IV. A DAM SMI TH
4. Die Ersetzung des moralischen Sinns durch den unparteiischen Zuschauer Wie Smith die Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers« vorstellt, zeigt, dass er nicht mehr an einen moralischen Sinn im Sinn eines natürlichen Gerechtigkeitsempfindens des Individuums glaubt. Zugleich versucht er den Sentimentalismus zu retten, indem er einen Weg beschreibt, wie ein solches Rechts-/Unrechtsgefühl ins unmittelbare Empfinden des Einzelnen eingeschrieben werden kann. Das sittliche Subjekt fragt seinen »unparteiischen Zuschauer« aber nicht einfach nur um Rat, sondern es soll in Ansehung seiner selbst innerlich bereits so fühlen, wie es ein »unparteiischer Zuschauer« tun würde. Dies wird ihm zu seinem »heißesten Wunsch«.1 Die tiefgehende Identifikation, die das Individuum mit seinem inneren »unparteiischen Zuschauer« als dem verinnerlichten psychischen Repräsentanten seiner Gesellschaft eingehen soll, kommt bei Smith darin zum Ausdruck, dass es den inneren Zuspruch des »unparteiischen Zuschauers« der äußerlichen Erfahrung sozialer Anerkennung vorziehen muss, wenn es nach Smith sittlich handelt. Gegenüber dem realen »Lob« [praise] wird die durch den »unparteiischen Zuschauer« innerlich repräsentierte »Lobenswürdigkeit« [praiseworthiness] für das Subjekt zum normativen Maßstab der sittlichen Handlung. Man kann daher in Bezug auf den »unparteiischen Zuschauer« mit Recht von der Internalisierung eines sozialen ÜberIchs sprechen. Die Frage ist damit, wie sich diese Verinnerlichung vollzieht. Smiths Anspruch ist, die Philosophie des moralischen Sinns durch diese Fragestellung zugleich zu transzendieren und zu retten. Dennoch bleibt viel auf der Strecke: Das frühliberale Vertrauen in den Unrechtsimpuls [resentment] des Einzelnen teilt Smith nicht mehr. Obwohl es Smiths Absicht ist, dem Individuum durch die Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« ein Stück weit soziale Unabhängigkeit vom Urteil der Anderen zu verschaffen, indem es im Fall seiner ungerechten Behandlung immer noch seinen inneren »unparteiischen Zuschauer« hat, bleibt unklar, woher der »unparteiische Zuschauer« – als eine in der und durch die Gesellschaft verinnerlichte Gewissensinstanz – die Maßstäbe zur normativen Transzendierung spezifischer Sittlichkeitskontexte beziehen soll. Smith löst eine bis heute andauernde Diskussion darüber aus.2 TMS 2.2.2, S. 133, im Orig.: »greatest desire«; TMS 2.2.2.1, S. 97. Die zeitgenössischen Reaktionen auf die erste Auflage der Theory of Moral Sentiments sind zu großen Teilen dokumentiert in Reeder 1997. Besonders wichtig ist die Reaktion von Gilbert Elliot, der in einem leider verloren gegangenen Brief als erster den Konventionalismusvorwurf 1 2
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IV. Kapitel · Adam Smith
Das erste Unterkapitel des folgenden Kapitels behandelt noch einmal schwerpunktmäßig den Begriff »sympathy«. Bereits bei Shaftesbury und Hume hatte sich die Sonderstellung dieses Begriffs gezeigt. Obwohl Smith an das Verständnis von »sympathy« bei Hume anknüpft, entwickelt er eine originäre Vorstellung von »sympathy«, die stärker als bei seinen Vorgängern vom Problem der sozialen Interaktion aus gedacht wird. Dies begründet zum einen, warum »sympathy« und Selbstbeherrschung bei Smith eng zusammenhängen. Zum anderen analysiert er eingehender als Shaftesbury und Hume, inwiefern man sich bei der Einfühlung in Andere täuschen kann (4.1). Die mögliche Täuschung durch »sympathy« stellt Smith vor das Problem, wann man sicher sein kann, dass das individuelle Empfinden eines »sozialen« (wohlwollenden) oder »unsozialen« (aggressiv-konfrontativen) Affektes gegenüber einem Anderen angemessen ist. Smith rekurriert hierbei wie Shaftesbury auf das individuelle »resentment« gegenüber dem beobachteten »wrong«, das bei Shaftesbury als Ausgangspunkt für den Beleg eines »moral sense« dient. Dieses grenzt Smith von dem Fall ab, indem man »resentment« aufgrund eigener unmittelbarer Interessen fühlt. Beide sind jedoch für Smith keine angemessenen Verhaltensindikatoren. Um die aus der sozialen Involviertheit resultierende »Wut der Affekte« intrapsychisch zu konterkarieren, bedarf es vielmehr der Internalisierung eines inneren »unparteiischen Zuschauers«. Erst dieser kann für Smith die Objektivität/Angemessenheit sittlichen Handelns verbürgen. Der »unparteiische Zuschauer« ist Smiths Gegenmodell zum »moralischen Sinn« als Fundament der Gewährleistung sozialer Gerechtigkeit. »Sympathy« und »impartial spectator« bezeichnen als Grundbegriffe zwei divergierende Empfindungsebenen von sozialen Gefühlen: Es gibt eine erste Ebene der konkreten sozialen Sympathien des einzelnen Individuums, die aber nicht verlässlich genug dafür ist, um auf ihr ein System gerechten Mitfühlens aufzubauen. Dieser stellt Smith argumentativ eine zweite Ebene gegenüber, die be-
gegen Smith erhebt. Elliots Argumentation ist aus Smiths Antwort vom 10. Oktober 1759 rekonstruierbar (Corr. 40, S. 48 – 57). Die Renaissance der Smithforschung, die ungefähr mit der Herausgabe der Glasgower Gesamtausgabe beginnt, hat dafür gesorgt, dass diese Diskussion wieder in vollem Gang ist. Zu den elaboriertesten Verteidigern von Smiths Moralphilosophie zählen heute ohne Zweifel u. a. Samuel Fleischacker (Fleischacker 1999, 2005), Charles Griswold (Griswold 1999, 2018), James Otteson (Otteson 2002) und in Bezug auf die Theorie des »unparteiischen Zuschauers« als tragfähiges Modell des sozialen Gewissens besonders Christel Fricke (Fricke 2011, 2013). Eine bedeutende Kritikerin von Smiths Position ist Fonna Forman, die aktuelle Herausgeberin des Adam Smith Review. Für den großen Eindruck, den die Kritik von Gilbert Elliot auf Smith gemacht hat, siehe Raphael 2007. Elliots Kritik hatte zur Folge, dass Smith bis zu seinem Tod gut dreißig Jahre später nie aufgehört hat, die Theory of Moral Sentiments zu überarbeiten, ohne jemals damit zufrieden zu sein. Dass der »unparteiische Zuschauer« ab der zweiten Ausgabe 1760/61 diese Zentralstellung in der TMS erhält, lässt sich bereits als Antwort auf Elliots Kritik verstehen. Erst mit der letzten Überarbeitung 1790 führt Smith die Unterscheidung von »love of praise« und »love of praiseworthiness« ein, die dazu dient, die Unabhängigkeit des Urteils des inneren »unparteiischen Zuschauers« vom unmittelbaren Zuspruch anderer zu belegen; vgl. Raphael 2007, S. 36 – 42.
Die Ersetzung des moralischen Sinns durch den unparteiischen Zuschauer
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stimmt ist durch die Ansehung seiner selbst und der Anderen durch die Augen eines vorab internalisierten »unparteiischen Zuschauers« (4.2). So rettet Smith am Ende den Sentimentalismus: Wenn alles unmittelbare Empfinden durch den verinnerlichten »unparteiischen Zuschauer« vermittelt ist, kann sich die sittliche Ordnung auch wieder nach den »moralischen Gefühlen« der Einzelnen richten. Diese Lösung des Problems geht aber auf Kosten der Freiheit des Individuums, das in eine tiefgehende Identifikation mit der Gesellschaft hineingezogen wird, die seine Selbstwahrnehmung bis in deren kleinste Regungen hinein regieren und präformieren soll. Die Dialektik dieser Transzendierung des sentimentalistischen Subjektverständnisses liegt darin, dass die Vermittlung des eigenen unmittelbaren Gefühls gegenüber Anderen und gegenüber sich selbst zur Folge hat, dass es genau der ursprüngliche Mitleids- und Wohltätigkeitsimpuls ist – von dem der frühliberale Impuls des Sentimentalismus ursprünglich seinen Ausgang nimmt –, der bei Smith durch den »unparteiischen Zuschauer« überschrieben und intrapsychisch reglementiert wird. Es ist daher erhellend, in diesem Zusammenhang von einem Mitleid zweiter Ordnung zu sprechen, das genau dazu dient, unmittelbare Äußerungen des Mitleids – d. h. das noch nicht nach inneren/verinnerlichten Gerechtigkeitsmaßstäben beurteilte Mitgefühl erster Ordnung – innerlich zu beherrschen. Dieses Mitleid erster Ordnung stellt sich für Smith deshalb als ein Problem dar, weil es sich nicht nach der sozialen Angemessenheit des Mitleidens richtet. Individuen täuschen sich zu sehr über Andere und über sich selbst, als dass auf deren unmittelbare Gefühle in einer »civil society« wirklich vertraut werden könnte. Das Problem ist nur, dass die Lösung, deshalb alle Gefühle in der verinnerlichten Vermittlungsinstanz eines »unparteiischen Zuschauers« zu spiegeln, als frühliberales Kontrollmodell autoritärer ist als dasjenige von Hobbes, das an die innere Selbstwahrnehmung des Individuums nicht heranreicht.3 Die Philosophie des moralischen Sinns nimmt ihren Ausgang von der Kritik am autoritären Staat. Dieser spricht dem Individuum die Sozialkompetenz ab, selbst einschätzen zu können, ob ein Verhalten gerecht oder ungerecht ist. Damit begibt sich dieses autoritäre Staatsmodell der Möglichkeit, die sozialen Selbstregulationskräfte einer »civil society« zu entfalten. Bei Smith erwirbt man diese Sozialkompetenz zur bürgerlichen Freiheit aber erst durch die Internalisierung eines »unparteiischen Zuschauers« der eigenen Selbstwahrnehmung, der insofern sogar schon die Möglichkeit, unvermittelte Empfindungen zu haben, unterbinden soll (4.3).
3
Vgl. E 1.17.10, DC 3.27, s. Konklusion.
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IV. Kapitel · Adam Smith
4.1 Sympathie, Selbstbeherrschung und Mitleiden Sympathie, Selbstbeherrschung und Mitleiden sind bei Smith intrinsisch miteinander verbunden. »Sympathy« wird von Smith konzeptualisiert als soziale Interaktion zweier sich gegenüberstehender Subjekte, die sich beide in den Anderen hineinversetzen und zugleich sich vorstellen, wie der Andere dies auch tut. Erst diese soziale Wechselseitigkeit macht verständlich, wie »sympathy« als soziale Handlungskoordination abläuft. Der Vorgang, in dem man Mitleid aufbringt bzw. erbittet, kann auf diese Art und Weise als Interaktion verstanden werden. Auch derjenige, der das Mitleid erbittet, d. h. der Leidende, erscheint als aktiv handelnde Person. Dies zeigt sich besonders gut am Beispiel des Bettlers und seinen diversen Strategien, Mitleid zu erheischen (4.1.1). Durch die Inbetrachtnahme des permanenten Vorgangs sozialer Handlungskoordination wird deutlich, wie sehr »sympathy« dazu in der Lage ist, als kaum sichtbares soziales Disziplinierungsmedium zu dienen. Lediglich Kindern merkt man zuweilen noch an, dass diese »soziale Natur« erst verinnerlicht werden muss bzw. erzieherisch nicht voraussetzungslos ist. Die wie von selbst ablaufende soziale Verhaltensabstimmung qua »sympathy« erscheint aber nicht immer als der Sittlichkeit förderlich, sondern bringt auch pathogene Randphänomene hervor, wie die Beschämung Anderer qua »sympathy«. Unmerklich schreibt sich eine Naturwüchsigkeit in die Argumentation von Smith ein, durch welche die Verinnerlichung einer bestimmten Handlungsmoral als logische Konsequenz dessen erscheint, dieser pathogenen Nebeneffekte der Empathie durch ein soziales Tugendregime gesellschaftlich Herr zu werden (4.1.2). Dadurch, dass Smith ausdrücklich auf dem Einbildungscharakter von Einfühlung beharrt, gelingt es ihm gut, bestimmte Ambivalenzen des Mitleidsvorgangs zu verdeutlichen. Wie Literatur und Theater zeigen, braucht man für das Fühlen von Mitleid noch nicht einmal eine real leidende Person, in die man sich mitleidend einfühlt. Auf die Spitze getrieben, kann man sogar mit einer Imagination von sich selbst als gestorbener Person in der Zukunft Mitleid haben, weil man dann tot ist. Während Shaftesbury die Einfühlung in Andere noch als Überwindung der solipsistischen Abgeschlossenheit des Individuums denkt, scheint bei Smith Einfühlung so sehr von Projektionen abhängig zu sein, dass sie zur Täuschung des Individuums über Andere und über sich selbst häufig eher beiträgt als diese abmildert (4.1.3).
4.1.1 »Sympathy« als Reflexion auf die Wechselseitigkeit der Perspektivübernahme Für Smith fragt ein Subjekt nicht mehr nur, wie es selbst dem Gegenüber erscheint. Dies ist die Verhaltensanweisung, die aus der »Goldenen Regel« folgt, wie sie auch von Hobbes verwandt wird: Man versetze sich »an Stelle des Anderen« [in the other’s stead] und beurteile sich daraufhin aus dessen Perspektive selbst. Diese
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gedankliche Vergegenwärtigung der Sicht Anderer auf einen selbst soll bewirken, seine eigenen »Leidenschaften« abzukühlen, indem man sich die gleichzeitige Berechtigung des Interessenstandpunktes Anderer innerlich deutlich macht.4 Diese Vorstellung sozialen Interagierens, bei der das soziale In-Kontakt-Treten mit Anderen noch als Heraustreten aus einem vorgängig gedachten Selbstbezug konzeptualisiert wird, ist noch das Grundbild bei Locke, Shaftesbury und Hume, aber nicht mehr bei Smith. Der Paradigmenwechsel hin zu einem intersubjektivistischen Grundverständnis von Subjektivität zeigt sich vor allem im dritten Teil der Theorie der ethischen Gefühle, wo Smith die soziale Genese der »Selbstbilligung« [self-approbation] diskutiert. Diese Soziogenese der Selbstreflexion werde ich erst in 4.3 diskutieren. Wenn ich dem chronologischen Aufbau von Smiths Argumentation folge, geht es mir darum, eine Ambivalenz zu verdeutlichen, die dieser Aufbau mit sich bringt: Auch wenn Smith erst im dritten Teil dazu übergeht, zu erläutern, wie ein Individuum das soziale Gewissen des »unparteiischen Zuschauers« verinnerlicht, geht er zuvor bereits stillschweigend davon aus, dass die betrachteten Individuen ein soziales Gewissen in der Form eines »unparteiischen Zuschauers« entwickelt haben. Dazu kommt eine Rhetorik der Naturwüchsigkeit, die die Verinnerlichung eines »unparteiischen Zuschauers« als logische Konsequenz des Lebens in Gesellschaft erscheinen lässt. Ich möchte die Differenz des Grundbildes von Subjektivität bei Smith gegenüber seinen Vorgängern zunächst ausgehend von dem im Vergleich zu diesen deutlich höheren Reflexionsniveau der Vorstellung sozialen Interagierens aus entfalten: Hier lässt sich zunächst festhalten, dass bei Smith die Selbstbetrachtung aus der Perspektive Anderer so weitgehend internalisiert ist, dass das Individuum sich nicht mehr nur ins Gegenüber hineinversetzt, sondern sich zugleich auch immer schon vorstellen muss, wie dieses Gegenüber sich in es selbst hineinversetzt. Dies ist ein gewichtiger Unterschied, weil er erweiterte Möglichkeiten der sozialen Handlungsmanipulation eröffnet. Auch lässt sich die Smith’sche Vorstellung der sozialen Generierung von »Mitleid« ohne diese imaginäre Doppelbödigkeit der sozialen Interaktion nicht verstehen. Ja, man kann sagen, dass Smith der erste der hier behandelten Theoretiker ist, der so »Mitleid« als wechselseitigen Prozess erläutern kann, in der nicht »Ein Mann, der sieht, dass diese Naturgesetze mit so vielen Worten und so großer Mühe abgefasst und zu Papier gebracht werden, mag glauben, dass es noch viel mehr Schwierigkeit und Scharfsinn erfordert, die genannten Gesetze zu erkennen und zu halten, besonders bei plötzlichen Gelegenheiten, wo man wenig Zeit zum Überlegen hat. Und dies ist wahr, wenn wir uns die Menschen eingenommen denken von Leidenschaften, wie Zorn, Ehrgeiz, Habsucht, Ruhmsucht und dergleichen, welche alle darauf abzielen, die natürliche Gleichheit auszuschließen; aber von diesen Leidenschaften abgesehen, gibt es eine einfache Regel, um sofort zu wissen, ob die Handlung, die ich tun soll, gegen das Naturgesetz ist oder nicht, und zwar diese: dass ein Mensch sich in Gedanken in die Lage desjenigen versetze, mit dem er zu tun hat, und umgekehrt jenen in seine Lage, welches nichts weiter ist, als gleichsam eine Vertauschung der Waagschalen. Denn jedermanns Leidenschaft wiegt schwer in seiner eigenen Schale, aber nicht in der Schale seines Nachbarn. Und diese Regel ist sehr bekannt und wird ausgedrückt durch das alte Wort: Quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris.«; E 2.17.9, Hervorh. i. Orig.; vgl. auch DC 3.26. 4
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eine Seite – der Mitleidende – nur aktiv und die andere Seite – der Leidende/ Bemitleidete – nur passiv ist. Bei Shaftesbury und Hume erregt der Leidende – wie ein das Subjekt anregendes Objekt – das Mitleid des Beobachters. Shaftesbury und Hume stellen sich hier noch lediglich vor, wie sich dieser Beobachter in den Leidenden hineinversetzt und aus dieser subjektiven Nachempfindung heraus »Mitleid« fühlt. Bei Smith wird dagegen die Situation, in der sich Mitleidender und Leidender gegenüberstehen, dadurch mitbestimmt, dass auch dieser Leidende sich parallel vorstellt, wie er in den Augen seines Mitleidenden erscheint. Erst dies ermöglicht die wechselseitige Koordination, die zur Abstimmung zwischen den subjektiven Empfindungen führt. Der Leidende wird darauf bedacht sein, dem Mitleidenden sein Leid auf eine Art und Weise zu präsentieren, die für diesen Mitleidenden in der Intensität des Leids erträglich bleibt. So generiert sich Mitleid in einer Gesellschaft gleichwertiger Handlungsakteure: Der Leidende ist nicht passiv, sondern stellt sich in seiner Gefühlsäußerung darauf ein, wie Andere sein Leid wahrnehmen. Er zeigt noch in seinem Leiden Selbstbeherrschung, d. h. in der gezeigten Tapferkeit seine Würde. An dieser Stelle sind zwei Differenzen zwischen der Sichtweise Humes und der von Smith aufschlussreich. Zunächst hatte Hume durch seine assoziationspsychologische Vorstellung davon, wie sich Affekte im Gewahrwerden ihrer »Anzeichen« (3.2.2) wie unmittelbar übertragen, das Problem, überhaupt erklären zu können, wie jemand einen Affekt nachempfinden kann, den ein Anderer gar nicht gezeigt hatte: Wieso kann ich Mitleid empfinden gegenüber jemandem, der mir seine Trauer verbirgt, die insofern für mich kognitiv betrachtet gar nicht sichtbar ist? Da Smith im Gegensatz zu Hume »sympathy« immer schon als imaginäre Perspektivübernahme versteht, ist dies für ihn leicht erklärbar: Die performierte Tapferkeit im Nicht-Zeigen des eigenen Leids verstärkt sogar das Mitleid für jemanden, der sich so in der Lage zeigt, trotz seiner schwierigen Situation die Fassung zu bewahren. Der Leidende hat Teil an der interaktiven Koordination und dämpft sein Leid so stark in der Expression ab, dass es für den Mitleidenden erträglich bleibt. Auch Hume sieht dieses Phänomen, aber kann es durch sein Subjekt-Objekt-Modell nicht angemessen konzeptualisieren. Beide müssen sich jeweils aus der Perspektive des Anderen betrachten und sich darüber hinaus bewusst sein, dass das Gegenüber dies auch tut. Erst die Vergegenwärtigung des Leidenden, dass sich der Mitleidende in ihn hineinversetzt, lässt ihn in seinem Leid selbstbeherrscht bleiben. Die Gegenfigur zur angemessenen Abstimmung von Leid und Mitleid zwischen Bürgern ist der Bettler. Obwohl Hume das amüsanteste Beispiel für einen sozial-manipulativen Bettler liefert, kann man es erst mit dem Interaktionsmodell von Smith angemessen erklären. Hume beschreibt das Beispiel eines Bettlers, der versucht, das Verhalten seines bürgerlichen Gegenübers gezielt zu manipulieren, indem er in eine vorbeifahrende Kutsche hinein: »My Lord!« ruft – wohlwissend, dass in dieser Kutsche mit hoher Wahrscheinlichkeit kein »Lord« sitzt. Der Angesprochene fühlt sich aber dennoch geschmeichelt. Gesetzt nun der Fall, dass er aus der Kutsche ein Goldstück hinauswirft, um sei-
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nem noblen Ruf gerecht zu werden, ist er dem Bettler auf den Leim gegangen. Entscheidend ist das sozial-interaktionistische Koordinationsmoment, das der schlaue Bettler sich hier zunutze macht: Er spekuliert darauf, dass der Bürger sich »erhoben« fühlt, indem er sich in den Bettler, der ihn als »Lord« anspricht, hineinversetzt. Dies hat zur Folge, dass der Bürger in der Kutsche sich nun als vermeintlicher »Lord« auch beweisen muss. Von Humes Mitleidsverständnis her fällt an der offenen Zur-Schau-Stellung eigenen Leids durch einen Bettler vor allem die Schamlosigkeit des Bettlers gegenüber sich selbst auf. Der Bettler hat keine Hemmungen, sich als der Zuwendung Anderer bedürftig zu zeigen, und dies weckt im Bürger eine Skepsis davor, ob dieses Zur-Schau-Stellen des Leids der Wahrheit entsprechen kann. Smith kann dagegen nun das Verhalten von Bettlern als gezielte soziale Manipulation dechiffrieren, wobei dem Bettler verschiedene Strategien zur Verfügung stehen, das Mitleid eines Bürgers zu erregen. Die Strategie, die am häufigsten fehlgehen sollte, ist die, das eigene Leid zu übertreiben und sich als so bedürftig zu präsentieren, dass man die Spende des Bürgers durch die Intensität des gezeigten Leids zu erzwingen versucht. Neben dem einfachen Verdacht, dass das gezeigte Leid zu groß ist, kann diese Strategie zudem noch den Effekt haben, dass der Bürger den Bettler für seine defizitäre Selbstbeherrschung verachtet. Als bessere Strategie erscheint da schon, sich auch als Bettler im Erleiden des eigenen Schicksals als tapfer zu zeigen. Dies verlangt dem Beobachter Respekt ab und macht diesen u. U. gewogener zu helfen. Diese Strategie verfolgen auch heute noch viele Bedürftige, die in öffentlichen Transportmitteln betteln, wenn sie von der Schuldlosigkeit erzählen, mit der sie in ihre Situation hineingeraten sind, und den klaren Willen zum Ausdruck bringen, eines Tages nicht mehr auf der Straße leben zu müssen. Man kann sagen, dass Smiths sozial-interaktionistische Argumentation den Bettler auf eine bestimmte Art und Weise aus der Rolle des passiven Opfers befreit. Samuel Fleischacker argumentiert aus diesem Grund dafür, dass es deshalb bei Smith – im Gegensatz zu seinen nicht-interaktionistisch denkenden Vorgängern – die Vorstellung einer prinzipiellen Menschenwürde der Armen und Bedürftigen gibt, die als Interaktionsteilnehmer als gleichwertig angesehen werden.5 Dies ist einleuchtend argumentiert und trifft auf jeden Fall auf viele Passagen im Wohlstand der Nationen zu, in denen Smith unverschuldete Armut aufgrund systematischer Verfehlungen der gesellschaftlich-ökonomischen Organisation beschreibt. Wenn man aber mitbedenkt, dass der Vorgang der wechselseitigen Perspektivübernahme genau durch den darin enthaltenen interaktiven Wechsel von Projektion und Gegenprojektion immer schon verzerrt ist, eröffnet diese Entpassivierung des Bettlers in seiner Theorie der ethischen Gefühle umgekehrt auch die Möglichkeit seiner stärkeren Diffamierung als sozialer Manipulator. John Gays Beggar’s Opera von 1728 zeichnet genau dieses Bild vom schlauen, manipulativen Bettler und wird deshalb sowohl von den Bettlern selbst als auch von den konservativen Tories geliebt. In 5
Vgl. Fleischacker 2004, S. 214.
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der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts ist sie in London so erfolgreich, dass sie nahezu jede Nacht aufgeführt wird. Die Kritik an Philanthropie und sentimentaler Gefühlsduselei liegt in der Luft, die Smith atmet.6 Eine weitere Beispielsituation dafür, wie Smith »sympathy« als subjektiv-imaginäre Meta-Reflexion auf die Reziprozität des Perspektivwechsels denkt, ist das Fremdschämen. Auch hier hatte Hume das Problem, erklären zu können, wie sich ein Nachempfinden von durch den Anderen gar nicht gezeigten Affekten, d. h. in diesem Fall von Scham, erklären lässt. Da ein »changing places« im Fall des Für-einen-Anderen-Errötens [blushing] offensichtlich ist, hatte Hume hier so argumentiert, dass Fremdschämen eine Art Unfallsituation ist, in der sich ein tugendhafter Bürger in eine untugendhafte Person sympathetisch hineinversetzt hat. Smith beschreibt dies nun wie folgt: »Wir erröten für die Schamlosigkeit und Roheit eines Anderen, obwohl er doch selbst scheinbar kein Gefühl für die Unschicklichkeit seines Betragens hat; denn wir können uns des Gedankens an jene Beschämung nicht erwehren, die uns ergreifen würde, wenn wir selbst uns auf so unvernünftige Weise betragen hätten.«7
Neu bei Smith ist, dass er dies als gezielte Verhaltensmanipulation deuten kann: Derjenige, der das Schamgefühl in einem Anderen gezielt provoziert, stellt sich vor, wie dieser Andere sich in ihn hineinversetzt. Dies ist es ja, was das Fremdschämen auslöst, oder präziser gefasst: was es möglich macht, jemanden auf diese Art und Weise auszutricksen, ist das Wissen des Beschämenden, dass sein Gegenüber sich in ihn hineinversetzt. Wie bei einer Einfühlung, die in Schadenfreude übergeht, nutzt der Manipulator hier die sympathetische Verbindung zum Anderen, um sie gegen diesen Anderen zu verwenden (vgl. 3.4). Diese zweite soziale Natur im Sinn der verinnerlichten Interaktionskoordination verläuft als soziale Verhaltensabstimmung immer schon in beide Richtungen und wird von den in sie Involvierten auch auf diese schizoide Weise vergegenwärtigt: So wie man sich selbst mit dem Blick der Anderen sieht, »sieht« man umgekehrt auch – ähnlich der heute im Fernsehen beliebten Bildschirmaufteilung –, wie Andere diesen Perspektiventausch mit einem selbst in ihren eigenen Gedanken imaginär durchspielen. Hume referiert im Gegensatz dazu noch auf den einfachen Vorgang, wie man sich ins Gegenüber hineinversetzt, um sein eigenes Verhalten zu prüfen.8 Aber für Smith – bzw. dafür, wie Smith soziale Interaktion denkt – wird es essentiell, dass man sich zudem vorstellt, wie der Andere sich vorstellt, an der eigeVgl. J. H. Harder 1933. TMS 1.1.1, S. 11. 8 PdM Schluss (9.1), S. 115; der Folgesatz zeigt dabei Humes Affirmation der »love of praise«: »Durch unser stetes und ernstes Streben nach einem Namen, einem Charakter und einer Reputation in der Welt, bringen wir unser eigenes Auftreten oft zur Prüfung und überlegen uns, wie sie in den Augen der Anderen erscheinen, die uns ansprechen und betrachten. Eine andere Triebkraft unser Verfassung, die dem moralischen Gefühl einen großen Zuwachs an Kraft bringt, ist die Liebe zum Ruhm, die mit einer derart großen und unkontrollierbaren Autorität bei allen großzügigen Geistern vorherrscht und oft das große Ziel aller ihrer Pläne und Unternehmungen ist.« 6 7
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nen Stelle zu sein.9 Das Wissen darum, dass der Andere sich in einen selbst hineinversetzt, kann noch einmal auf ganz andere Art und Weise beschämend oder erhebend sein. Die Art der Beschämung etwa von Kindern, die kein Geld für Markenkleidung haben und sich ungern den Blicken ihrer Klassenkameraden aussetzen, verläuft auf die Art und Weise, dass diese Klassenkameraden jene Kinder wie Objekte exponieren, in deren Situation man sich versetzen soll, um sich für sie zu schämen. Diese Art der Beschämung drückt dabei auch Schadenfreude aus. Wenn diese Doppelimagination – man imaginiert sich selbst aus der Perspektive des Anderen, aber man imaginiert auch, wie man glaubt, dass dieser Andere sich selbst aus der eigenen Perspektive betrachtet – halbwegs angemessen vonstatten geht, führt sie zur sittlichen Handlungskoordination zwischen den einzelnen Individuen wie von alleine. Die Selbstbeherrschung [self-command] und die Befähigung, auf Andere achten zu können, fallen damit bei Smith in eins.10 »Schicklichkeit« [propriety] bedeutet für Smith, auf eine geschickte Art und Weise mit dieser die soziale Interaktion immer begleitenden, subjektiv-imaginären Meta-Reflexion ihrer selbst umgehen zu können. Selbst Bettler hält Smith dabei nicht mehr für sittlich so roh, dass für sie diese Perspektiveneinnahme gar nicht möglich wäre. Man denke an Lokke zurück, der sich durchaus noch vorstellen konnte, dass Adlige sie nicht besitzen. Was den Smith’schen Bürger am Bettler empört, ist nicht mehr, dass er keine sozialen Umgangsformen beherrscht, sondern dass er sich im Gegenteil das Wissen um deren interaktive Funktionsweise auf eine ungehörige Art und Weise zunutze macht. Etwa wenn sich hysterische Bürger kratzen müssen beim offen zur Schau gestellten Anblick eiternder Wunden, die ihr Mitleid gezielt erregen sollen. Oder wenn sich der angesprochene vermeintliche Lord in dieser Selbstphantasie gefällt und die Tatsächlichkeit seines Reichtum nun in Form eines Silber- oder Goldstücks unter Beweis zu stellen sucht. Wie viel Abwehr und Projektion in dieser bürgerlichen Perspektive stecken, nach der Bettler ihr Elend nur aus dem sozial-manipulativen Wunsch heraus offen zeigen, um damit das Mitleid Anderer zu erregen, sei dahingestellt. Zumindest einige mögen auch so verzweifelt sein, nicht anders zu können. Der projektionsbesessene Bürger, den Smith beschreibt, würde sich wohl einbilden, einem Anderen auch das noch ansehen zu können.
Vgl. Marshall 1986, S. 174: »In Smith’s view, one does not simply imagine oneself seen by others; one imagines oneself imagined by others, who either can or cannot enter into one’s feelings (as they imagine them).« 10 Dies reflektiert sich auch im Textaufbau: Smith macht ab der sechsten und vorletzten Edition der TMS die Betrachtung des »self-command« zu einem Anhangsexkurs (neuer Teil VI.III, vgl. TMS (GE), I-5), d. h. er erläutert sie erst, nachdem er sein Interaktionskonzept entwickelt hat. In den ersten fünf Ausgaben fehlt eine gesonderte Betrachtung der Selbstbeherrschung gänzlich, was sich dadurch erklären lässt, dass die »sympathy« bei ihm die Funktion der Verhaltensdisziplinierung übernimmt, die so anders als noch bei Locke von Beginn an »sozial« aufgefasst wird. 9
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4.1.2 Der Selbstbeherrschungs- und Disziplinierungseffekt von »sympathy« »Sympathy« bewirkt, dass der Einzelne lernt, sich selbst innerlich aus einer sozialen Außenperspektive zu betrachten. Dies impliziert nicht nur, sich selbst aus der Perspektive von Anderen zu sehen, sondern auch, sich vorstellen zu müssen, wie diese Anderen sich in einen selbst hineinversetzen: Ich beginne, mich auf eine Art und Weise zu verhalten, die für Andere nachvollziehbar bleibt, und versichere mich so ihres sympathetischen Zuspruchs. Der Entzug dieses sympathetischen Zuspruchs wäre insofern repräsentiert in der Aussage: Ich kann Dein Verhalten nicht nachvollziehen. Das hieße im Smith’schen Schema: Als Betrachter hat man ohne Erfolg versucht, sich in das Verhalten von jemandem hineinzuversetzen. An dieser Stelle lohnt es, sich noch einmal Humes Affektbegriff ins Gedächtnis zu rufen: Auch wenn Hume zwischen den »other-directed passions« wie »Liebe« und »Hass« im engeren Sinn und den primär selbstbezogenen Affekten wie »Stolz« und »Niedergedrücktheit« unterscheidet, liegt die Pointe seines Affektbegriffs doch darin, jegliche Affektexpression als in einem bestimmten Ausmaß immer schon auf Andere bezogen zu verstehen (s. 3.5). D. h. das bürgerliche Individuum muss lernen, seine Affekte immer schon in einer der sozialen Situation angemessenen Art und Weise zu äußern. Auch bei Smith hat »sympathy« bereits an dieser basalen Koordinationsfunktion der Expression von Gefühlen Anteil, indem sie die soziale Außenperspektive des Einzelnen auf sich selbst meint. Auch dies zeigt einen noch primär deskriptiven Begriff von Sittlichkeit an, mit dem zunächst nicht mehr gemeint ist als eine sich intersubjektiv eingespielt habende Sitte, d. h. eine Regel, wie man sich in einer bestimmten Situation zu verhalten hat. Die Moralität im engeren Sinn geht für Smith zwar aus diesen Habitualisierungsmustern hervor, doch muss sie auch von ihr unterschieden werden. Wie Fonna Forman es ausdrückt, ist für Smith »conscience […] the psychological effect of sympathetic discipline«.11 Bevor ich mich diesem sozialen Gewissen im engeren Sinn zuwende, möchte ich zuvor noch kurz bei der Erläuterung dieser »sympathetic discipline« bleiben: Als spezifisch soziale Disziplinartechnologie stellt sie einen Weg dar, dem Individuum eine Form von Selbstbeherrschung anzuerziehen, die allein aus der zwischenmenschlichen Interaktion erwächst. Ja, das Individuum wird auf eine so weitgehende Art und Weise in diese Interaktion eingebunden, dass es sich abseits dieser keinen subjektiven Zugang zu sich selbst mehr vorstellen kann. Das Verinnerlichungsniveau dieser zweiten Natur bemisst sich an der Selbstverständlichkeit der sozialen Verhaltensmodifikation in jeder gezeigten Regung. Lediglich bei Kindern wird das Nicht-gewöhnt-Sein an diese Form permanenter sozialer Handlungskoordination qua »sympathy« noch sichtbar.12 Für den Erwachsenen findet dagegen jede Expression eines Affektzustandes wie selbstverständlich im Rahmen seiner sozialen Bezogenheit statt. Kinder beherrschen hingegen das 11 12
Forman-Barzilai 2010, S. 90. Vgl. TMS. 3.3, S. 227; TMS (o) 3.3.22, S. 167.
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Zurückhalten-Können innerer Begehrungen im Angesicht der Anwesenheit von Anderen noch nicht. So wird an Kindern noch offenbar, dass der innere Zusammenhang der Selbstbeherrschung mit der Beachtung der Erwartungen Anderer erlernt ist (vgl. 1.3). Erwachsene dagegen wirken »lächerlich«, wenn sie sich in der Anwesenheit Anderer nicht beherrschen können. Ein Kind, das etwa über den Verlust eines Eishörnchens im Sommer in Tränen ausbricht, zeigt, dass es noch nicht gelernt hat, seine Affekte in einer den Anforderungen seiner sozialen Umgebung adäquaten Art und Weise zu dämpfen. Der Beobachter erwartet dies auch nicht von einem Kind. Wahrscheinlich wird dieses Kind daher durch lautes Weinen sogar bei den Umstehenden erfolgreich dementsprechendes Mitleid generieren können. Unter Umständen werden die Eltern die Situation erzieherisch nutzen, indem sie das Kind zwar trösten und das Eis ersetzen, doch ihm zugleich auch deutlich machen, dass »nichts Schlimmes« passiert sei. Ein Erwachsener, den ein vergleichbarer Verlust zu Tränen reizt, wird »lächerlich« wirken. Eine solche Reaktion wird hinsichtlich des Niveaus von Affektkontrolle, das man in dieser Situation von ihm erwartet, als »unangemessen« empfunden. Diese Situation hat zwar zunächst mit »moralischen Gefühlen« nichts zu tun. Für Smith ist sie damit aber insofern verknüpft, als ein Individuum hier zeigt, in welchem Maß es zur Beachtung Anderer in der Lage ist. Die Befähigung zur Selbstdisziplinierung stellt hier wie schon bei Locke die notwendige Grundvoraussetzung dafür dar, dass das eigene Verhalten sittlich, d. h. zu einer sozial einübbaren Verhaltensform, werden kann. Beherrscht ein Ich die Beachtung eines Anderen nicht im alltäglichen Umgang, so ist es nach dieser – zwar noch nicht hinreichend feingliedrigen, aber zumindest eine psychosoziale Größe wie »Charakter« in die Betrachtung miteinbeziehenden – Habitualisierungslogik unwahrscheinlich, dass dieses Ich einen Anderen in einer ethisch triftigeren Situation »beachten« wird.13 Von der Feinvermittlung subjektiver Affektregulation und zwischenmenschlicher Bezogenheit her wird halbwegs vorstellbar, was für Smith eine »civil society« als soziales Feld von »sympathy« bedeutet, nämlich eine permanent-zwischenmenschliche Koordination aller individuellen Gefühlsäußerungen. Zurück zum Eishörnchen-Beispiel: Man stelle sich vor, das betreffende Kind sei in den Augen der eigenen Eltern vielleicht bereits zu weinerlich und sollte langsam lernen, nicht mehr wegen jeder Kleinigkeit in Tränen auszubrechen. Es kommt daher u. U. zu einem hintergründigen Verhaltenskonflikt zwischen den Eltern als Erziehungsinstanz und anderen dem Weinen des Kindes beiwohnenden Erwachsenen, welche diesem unbefangen »Trost« spenden. Dies ist der Grund, warum Locke in § 58 der Gedanken dazu rät, darauf zu achten, dass alle mit dem »jungen Gentleman« in Kontakt stehenden Erwachsenen stets dem Verhaltensbeispiel des Vaters folgen (s. Ein dafür geeignetes Schema der Habitualisierung muss bereits die Einübung basaler Wahrnehmungskapazitäten miteinbeziehen. Diese Verbindung zwischen erlernter Erkenntniskapazität und sozialer Handlungsfähigkeit leistet Hanley 2012 in seiner Rekonstruktion von »Rousseaus Virtue Epistemology«; ebd. 239 f. 13
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1.4). Denn nur so wird dessen symbolische Autorität als Erziehungsinstanz gestärkt bzw. erst manifest. Umgekehrt lässt sich ein nicht mit der Reaktion der Erziehungsinstanz konformes oder koordiniertes Trost-Spenden gegenüber dem Kind vor dem Hintergrund seiner Einübung in die soziale Abstimmung der eigenen Gefühlsäußerungen mit Anderen bereits als Akt der Subversion der symbolischen Autorität der Erziehungsinstanz verstehen. In der bürgerlichen Familie ist dies ein klassischer Generationenkonflikt zwischen den Eltern und zu großzügigen Großeltern. Es gibt demnach eine zwischenmenschliche Bezogenheit von Verhaltensweisen aufeinander, die so stark verinnerlicht ist, dass sie dem Individuum zur (zweiten) sozialen Natur wird. Und es ist dieses Aktions-/Reaktionsfundament, auf dem für Smith schon die basale Sittlichkeit fußt, insofern man dieses Schema beherrschen können muss, um am zwischenmenschlichen Gefühlsaustausch sinnvoll qua »sociability« partizipieren zu können. Auch wenn Sozialkompetenz daher für Smith aus einer fortschreitenden Ablagerung empirisch erlebter Interaktionen erwächst, liegt ihr sozialer Disziplinierungseffekt doch wesentlich darin, das »Wissen« darum, dass Andere sich sympathetisch in einen hineinversetzen, zu verinnerlichen. Die Befähigung des Ichs, seine Affektzustände bereits so zu äußern, wie es der sozialen Situation angemessen ist, ergibt sich bei Smith nicht mehr eigentlich aus einer Selbstbetrachtung aus der Perspektive eines realen Gegenübers. Sondern innerlich betrachtet man sich als handelnde Person bereits wie von Außen. Das Verinnerlichungsniveau der sozialen Natur, das Smith beschreibt, wird erst vollends verständlich, wenn man sich klar macht, dass das Ich sich selbst innerlich bereits aus der Perspektive eines imaginären Alters betrachtet. Dieser imaginäre Andere versucht, sich in das eigene Ich als Handlungsakteur [Smith: the person whom I properly call myself ] sympathetisch hineinzuversetzen. Und zwar noch bevor dieses überhaupt seinem Empfinden in der Welt Ausdruck verleihen kann. Dieser innere oder imaginäre Andere macht den Habitualisierungscharakter der Relation von »sympathy« und »self-command« auch darin unsichtbar, dass er gerade in der antizipativen Zurückhaltung [modesty] der eigenen Gefühle »natürlich« wirkt.
4.1.3 Die Reziprozität im Mitleiden und der Einbildungscharakter von »sympathy« Noch einmal zum Aspekt der sich im Mitleiden zeigenden Verhaltenskoordination: Der »concord« der Empfindungen, der eine »harmony« zwischen dem Leidenden und dem Mitleidenden herstellt, ist auch deshalb auf ein imaginäres Eingedenken der sozialen Wechselseitigkeit des Perspektivwechsels verwiesen, weil ein Subjekt das vorgestellte Leid eines Anderen nie so fühlen kann, wie es eigenes Leid fühlen kann.14 Dies muss es sich klarmachen, um Mitleid zu erlangen: Der Andere muss das eigene Leid nachfühlen können und deshalb am besten auf eine abgemilderte 14
TMS 1.1.1, S. 5 f.
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Art und Weise damit konfrontiert werden. Auf eine bestimmte Art und Weise wird im Mitleiden für Smith eigenes Leid nur erinnert und erst über diese Erinnerung des eigenen Leids stellt sich ein Bild der Situation [view of his situation] des Anderen her.15 Auch wenn »sympathy« daher für Smith ein »intersubjective-transmitter«16 ist, bleibt sie eingebildet, d. h. sie kann den »epistemological void«17 zwischen den Einzelsubjekten nur in der Imagination überbrücken. Diese Skepsis gegenüber der realen Möglichkeit von Einfühlung rückt die real-sympathetische Interaktion für Smith in ihrer imaginären Funktionsweise nah an die imaginäre Identifikation mit fiktiv-eingebildeten, z. B. literarischen Figuren heran. Es ist wichtig zu sehen, dass Smith sich die fiktive Identifikation mit einer erdachten Figur nach dem gleichen Muster wie die nur imaginär mögliche Identifikation mit real existierenden anderen Personen vorstellt.18 Eine Art Grenzbeispiel dafür ist der »Bruder auf der Folterbank«: Das Beispiel dient zunächst zur Erläuterung dessen, dass ich nie das Leid eines Anderen so nachfühlen kann, wie es ihm selbst geschieht. Doch als fiktive Imagination gedacht, vermag der Schauder, der einen bei dieser Vorstellung befällt, auch eine bestimmte Befriedigung zu vermitteln, die darin liegt, sich selbst in dieser Phantasie als denjenigen zu imaginieren, der ein derart großes Leid des eigenen »Bruders auf der Folterbank« durch das eigene »Mitleid« lindert. Denn für diesen »Bruder« wäre, so Smith, selbst in diesem schrecklichen Fall der auf ihn gerichtete, mitleidige Blick eines ihm Nahestehenden in dem Sinn schmerzlindernd, dass man das eigene momentane Leid so besser ertragen kann.19 Der Blick des »Mitleidenden« verschafft dem »Leidenden« hierbei dadurch Linderung, dass dieser sich in den Mitleidenden hineinversetzen kann und dies für den Leidenden eine innere Distanzierung von seinem real erlebten Leid bewirkt. Ein weniger extremes Beispiel für die Linderung von Leid durch die Präsenz des Mitleidenden wäre die Situation, wenn ein Elternteil einem Kind die Hand hält, wenn dieses beim Arzt etwa eine Spritze bekommt. Smith ist es einerseits wichtig, zu verdeutlichen, dass das sympathetische Mitund Nachfühlen immer imaginär bleibt. Andererseits bedeutet dies für ihn nicht, 15 Dies ist eine Absetzung von Hume, die dann interessant ist, wenn man fragen wollte, ob es für Hume Einfühlung gibt, für Smith hingegen nicht. Smith beharrt stärker darauf, dass »neither that faculty [of the imagination, DS] help us any other way, than by representing to us what would be our own [sensations], if we were in his case. It is the impressions of our own senses only, not those of his which our imaginations copy.«; TMS (o), 1.1.1.2, S. 11; vgl. dazu auch Otteson 2002, S. 19. 16 Urquhart 2010, S. 183. 17 Marshall, S. 172. 18 Marshall macht darauf aufmerksam, dass Lord Kames, der ein philosophischer Mentor von Smith war, in seinen Elements of Criticism dafür einen eigenen Begriff hat, nämlich »ideal presence«. Während Hutcheson und Kames diese »ideal presence« aber als ausreichend dafür, eine auch sittlich angemessene Nachempfindung zu haben, betrachten, weicht Smith genau in diesem sentimentalistisch entscheidenden Punkt von ihnen ab; vgl. ebd., S. 171. 19 Vgl. ebd., S. 173.
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dass es keinen realen Effekt im »mind« des Leidenden hätte. Dies zumindest dann, wenn es sich um einen in der Gesellschaft real vollzogenen sittlichen Akt handelt und nicht nur um eine fiktive Einbildung, wie es die imaginäre Identifikation mit einem »tragischen Helden« der Literatur ist, die, wie die unzähligen literarischen Beispiele dafür zeigen, bei den damaligen Tugendbürgern recht beliebt war. Die teilweise extremen Beispiele, die Smith wählt, sollen seinem Leser verdeutlichen, dass die Grenze zwischen Realität und Fiktion in der »sympathy« oftmals eine fließende ist. Dies zeigen besonders gut zwei weitere Beispiele aus dem ersten Teil seiner Theorie der ethischen Gefühle, mit denen er seine ersten Erläuterungen zur »sympathy« abschließt. So stellt man sich etwa vor, wie es sein wird, tot zu sein, während ein Toter gar nichts mehr fühlt: »Eben von dieser Täuschung unserer Phantasie kommt es, dass der Gedanke an unsere eigene künftige Auflösung uns so schrecklich ist, und dass die Vorstellung jener Umstände, die uns zweifellos keinen Schmerz bereiten werden, wenn wir einmal tot sind, uns elend macht, solange wir noch am Leben sind« (TMS 1.1.1, S. 13). Die Vorstellung, wie es wäre, tot zu sein, ist ein Hirngespinst. Philosophiegeschichtlich interessant ist, dass Smith sie als eine Art »sympathy« mit den Toten versteht. Man muss hier mitbedenken, dass wie schon für Hume auch für Smith der Begriff »sympathy« kein immer nur freiwilliges Verhältnis – im Sinn eines bewusst vollzogenen Sich-in-Beziehung-Setzens – bezeichnet. Im Gegenteil wird man permanent in Nachempfindungsprozesse gleichsam hineingezogen, etwa wenn einem Bettler ihre offenen Wunden zur Schau stellen und man sich voll Ekel abwendet. Ein ebenfalls aussagestarkes Beispiel dafür, dass man auf Andere mentale Zustände projiziert, die diese gar nicht haben, ist das Mitleid mit jemandem, der psychisch gestört ist, und zwar aufgrund seines ihm vorgeblich Leiden verursachenden geistigen Entrücktheitszustandes. Wie sich zeigen wird, lässt sich dieses Beispiel als Kritik an der damaligen Sitte des sonntäglichen Besuchs von Asylen zur Bemitleidung der psychisch gestörten Insassen verstehen: »Aber der arme Unglückliche, der sich in diesem Zustand befindet, lacht und singt vielleicht, und ist sich seines eigenen Elends ganz und gar nicht bewusst« (TMS 1.1.1, S. 11). Man kann diese kritische Durchdringung der Funktionsweise von »sympathy« als einer mehr oder weniger verzerrten Imagination des Innenlebens von Anderen auch als eine Reflexion auf deren Projektionscharakter verstehen. Diese findet sich in einer politisch radikaleren Variante auch bei Rousseau: So trösten nach Rousseau die Wohlhabenden ihr eigenes schlechtes Gewissen gegenüber den »working poor« mit dem Gedanken, diese arbeitenden Armen wären zu abgestumpft, um ihr Leid wirklich fühlen zu können (vgl. 1.1). Eine Argumentation, der Smith, wie wir gesehen hatten, in der Aufwertung des Bettlers zum gleichwertigen Interaktionsteilnehmer in seiner Moralphilosophie zumindest implizit widerspricht.20 Eine solche
Hier gibt es eine hintergründige Spannung mit Smiths Argumentation im Wohlstand der Nationen, wo die degenerierenden Folgen der sozialen Arbeitsteilung den Arbeiter so stark ab20
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– sich vor sich selbst – entschuldigende Imagination wird im englischsprachigen Diskurs der Zeit auch als »self-deceit« bezeichnet. Heute würde man von einer Rationalisierung im psychoanalytischen Sinn sprechen. Smith stellt sich die Frage, ob den bürgerlichen Projektionen auf Andere, die er als sympathetische Einbildungen konzeptualisiert, in der Realität überhaupt etwas entspricht. Shaftesbury und Hume hatten zwar auch den Projektionscharakter von »sympathy« gesehen, aber sie hatten ihn als viel unproblematischer gefasst. Er dient für beide sogar der Konstruktion sozialen Zusammenhalts, indem sie darin eine Anähnelung an den Anderen im Empfinden sehen – ob auch real oder bloß eingebildet, ist dafür nicht wichtig. Liest man Hume genau, lässt er im Traktat die Möglichkeit der Nation auf dem Projektionscharakter von »sympathy« beruhen. Smith interessiert sich dagegen stärker für die Verzerrungseffekte dieser Projektionen auf der zwischenmenschlichen Interaktionsebene – vielleicht auch, weil er deren reziproke Mechanik stärker durchdringt. Der Bürger zeigt sich so auf einmal wie in einem Spiegelkabinett von Projektionen befangen.21 Auf einen Tagelöhner zu projizieren, er sei zu dumpf, um seine Erschöpfung zu spüren, und diesem diese Empfindung in Abrede zu stellen oder umgekehrt dem Toten eine fortwährende Leidensempfindung zuzuschreiben und sie ihm damit zu unterstellen, sind in dieser Hinsicht nur zwei Extremfälle eines nicht hintergehbaren Imaginationscharakters von »sympathy«. Diese ist aufgrund ihres Einbildungscharakters gegenüber der ontischen Existenz ihres Gegenstandes indifferent. Weniger abstrakt ausgedrückt liegt im sympathetischen Nachfühlen keine Garantie für die Realität des Nachempfundenen, geschweige denn eine Garantie für die sittliche Angemessenheit der eigenen Nachempfindung. Dies bedeutet einen Bruch mit sentimentalistischen Grundannahmen. Wie soll auf dieser so viele Täuschungsmomente nicht ausschließenden »sympathy« eine Sittlichkeit aufbauen? Es gilt, eine von allen geteilte Bahnung der Imagination zu verinnerlichen, die allen dieselbe unparteiisch-zuschauende Richtschnur geben kann.
4.2 Die Angemessenheit von Mitleid oder Vergeltungsgefühl Was die »unsozialen« Affekte für Smith aufwertet, ist die Rechtsfunktion, die er ihnen zuschreibt. An »Wut, Zorn und Vergeltungsgefühl« hängt affekttheoretisch betrachtet die Selbstverteidigungskompetenz des Individuums.22 Zugleich hat stumpfen lassen, dass es deshalb einen öffentlichen Bildungsapparat als gesellschaftliche Kompensation geben muss; vgl. ebd. Smith 1978b, S. 645 f. 21 Neben Marshalls Analyse ist hierzu auch aufschlussreich die Perspektive von MacLean 1949, dass die TMS in der damaligen Elite als »delicate treatise of the imagination« bzw. »mans many mirroring-imagination« rezipiert wurde. 22 Dieser Gedanke findet sich schon bei Shaftesbury in UT 2.2.2, S. 95: »So wird der Zorn doch gewissermaßen notwendig. Vermöge dieser Leidenschaft wird ein Geschöpf, das einem anderen Gewalt antun will, von der Ausführung seiner Absicht abgeschreckt. Denn es bemerkt, wie
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Smith eine bestimmte Skepsis vor zu sentimental veranlagten Menschen entwickelt, denen Mitleiden offenbar Freude macht. Diese Skepsis wird insbesondere vor dem Hintergrund bestimmter damaliger Gesellschaftsrituale verständlich. Sozialgeschichtlich fällt auf, dass die frühe »civil society« recht fragwürdige Mitleidspraktiken ausbildete: Wie oben bereits erwähnt, besuchten bürgerliche Familien sonntäglich Gefängnisse und psychiatrische Anstalten, um dort die Inhaftierten zu betrachten und sich dabei am eigenen Mitleid zu erfreuen.23 Auch gegenüber Sklaven zeigten sich solche paternalistische Haltungen. Festgehalten sind sie in der bildenden Kunst der Zeit. Bürger hängten sich gerne Darstellungen schwarzer Sklaven in devoter Haltung – etwa mit nach vorn gestreckten Händen und zum Boden gewandten Blick – in ihre Esszimmer, um sich als mitleidige Gönner zu inszenieren.24 Smith war nicht der Reaktionär, zu dem er im Nachhinein häufig stilisiert wurde. Die Sklaverei lehnt er ab.25 Als Gesellschaftstheoretiker der frühen bürgerlichen Gesellschaft, die von einer Mitleidsethik geprägt ist, sollte er auch nicht als jemand verstanden werden, der sich auf die Praxis des »Mitleidens« umstandslos positiv bezieht. Der Sentimentalismus hat in dem, was Smith »extreme humanity« nennt – und Eckstein mit unausdrücklicher Referenz auf einen deutschsprachigen Begriff des 18. Jahrhunderts mit »Menschenfreundlichkeit« übersetzt –, eine Karikatur seiner der Angriff das andere erregt und entnimmt aus den Zeichen, welche diese aufsteigende Erregung begleiten, dass es nicht leicht und ungestraft davonkommen werde, wenn es den Angriff weiter treibe.« Anders als bei Hobbes führt bei Shaftesbury die Realisierung des Anderen als zorniger Angreifer nicht zum Bedürfnis, diesem zuvorkommen zu wollen, sondern zum strategischen Rückzug. 23 Die bekannteste Anstalt dafür war Bedlam in London. Ein solcher Besuch wird geschildert im Man of Feeling von MacKenzie. Diese Praxis war aber auch in anderen Anstalten üblich. Man zahlte dem Wärter ein Entgelt, der einem dann die Leidensgeschichte bestimmter Insassen erzählte, während er sie den Besuchern zeigte; vgl. MacKenzie 1967, S. 29 f. In William Hogarth’ moralistischer Bildergeschichte A rake’s progress gibt es ein entsprechendes Schlussbild The rake in Bedlam, das zeigt, wie der schließlich irre gewordene Wüstling zum Objekt dieser Kuriositätenschau wird. Dies muss für einen damaligen Bürger eine schreckliche Vorstellung gewesen sein. 24 Das Yale Center for British Art stellte solche Bilder 2014 aus: http://gsas.yale.edu/sites/ default/files/file-news/research_-_humanities_illustration_brochure_illustration-figures_of_empire.pdf. 25 Smiths Schilderung der Gründe, warum in einer Demokratie (unter gleichbleibenden sozioökonomischen Verhältnissen wie denen im Vereinigten Königreich) schwieriger mit einer Aufhebung der Sklaverei zu rechnen ist als in einer Monarchie, zeigt eindrucksvoll, wie wenig Smith an einen natürlichen moralischen Sinn glaubt: »In a democratical government it is hardly possible that it ever should, as the legislators are here persons who are each masters of slaves; they therefore will never incline to part with so valuable a part of their property; and tho as I have here shewn their real interest would lead them to set free their slaves and cultivate their lands by free servants or tenents, yet the love of domination and authority and the pleasure men take in having everything done by their express orders, rather than to condescend to bargain and treat with those whom they look upon as their inferiors and are inclined to use in a haughty way; this love of domination and tyrannizing, I say, will make it impossible for the slaves in a free country ever to recover their liberty« (Smith 1978a, S. 186).
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selbst geschaffen. Laurence Sterne hat diesen Sozialcharakter in der Figur des Onkel Toby verewigt, der buchstäblich keiner Fliege etwas zuleide tun kann. Die »Menschenfreunde« greifen jede Gelegenheit, sich als mitleidend und wohltätig inszenieren zu können, bereitwillig auf. Ihre Identifikation mit den »sozialen« Affekten ist entsprechend vorbehaltlos. Solche Ausprägungen des Sentimentalismus in der charakterologischen Sozialstruktur der Gesellschaft machen die »sozialen« Affekte aufgrund ihres für den Sentimentalisten so »angenehmen« Charakters hinsichtlich ihrer sittlichen Angemessenheit letztlich schwerer einschätzbar als die »unsozialen« Affekte. Deutlich findet bei Smith die schwärmerische Umjubelung von »pleasures of sympathy« damit ein Ende (vgl. 2.3). Dabei betrachtet Smith die »Menschenfreunde« nicht als Manipulatoren, sondern vor allem als leicht manipulierbar. Aufgrund ihrer übertrieben »sozialen« Veranlagung kann man sie leicht zu bestimmten Handlungen bewegen, ohne dass sie sich selbst getäuscht fühlen.26 Smith zeigt hier erneut sein rhetorisches Können, wenn er einen »extreme humanist« als eine selbst mitleidserregende Gestalt beschreibt: »There is a helplessness in the character of extreme humanity, which more than anything interests our pity« (TMS (o) 1.2.4.3, S. 49). Im ersten Teilabschnitt dieses zweiten Unterkapitels möchte ich zuerst zeigen, wie Smith von Shaftesburys vorbehaltloser Begeisterung für »social affection« Abstand nimmt. Dies zeigt sich zunächst anhand seiner Unterscheidung der »sozialen« und »unsozialen« Affekte. Die auf Andere konfrontativ gerichteten, d. h. »unsozialen« Affekte erfüllen bei ihm eine für die »Gerechtigkeit« bedeutendere Funktion als die »sozialen«. Zum einen als konfrontative Selbstverteidigungsimpulse des Einzelnen und zum Anderen als geteilte »resentments« der Sittlichkeitsgemeinschaft gegenüber denjenigen, die ihre »Spielregeln«27 verletzen (4.2.1). Danach wird es mir darum gehen, zu klären, wie Smith sich auf das Empfinden von »resentment« als eines Indikators von zuvor geschehener Ungerechtigkeit bezieht. Wie ich im zweiten Kapitel gezeigt hatte, ist bei Shaftesbury der positive Bezug auf das »resentment« des by-standers, der eine »injury« beobachtet, die einem Anderen geschieht, jene den »moral sense« evident machende Fundamentalregung. Zunächst ist es mir wichtig, den Bruch zwischen Shaftesbury und Smith hinsichtlich ihrer Vorstellung von »resentment« zu markieren. Auch wenn Shaftesbury das individuelle »resentment« als erster Beleg für einen »moral sense« dient, bleibt Shaftesbury die Vorstellung eines gemeinschaftlich geteilten Vergeltungsgefühls, das sich in der Zustimmung zur bzw. der imaginierten Mitwirkung an der Bestrafung befriedigt (zit. i. folg.), fremd. Zwar lässt Shaftesbury die Möglichkeit der Selbstregulation einer »civil society« auf dem unmittelbaren »moral sense« des Individuums als dessen intuitiver Abneigung (»resentment«) gegenüber einem beobachteten Auch einen solchen Manipulator hat Laurence Sterne literarisch verewigt in der Figur des Korporal Trim, der als Diener im Haus von Onkel Toby angestellt ist. Trim manipuliert Toby über dessen unterdrückten Sexus. 27 TMS 2.2.2, S. 133; im Orig. »fair play«, TMS (o) 2.2.2.1, S. 97. 26
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»wrong« beruhen. Doch Smith reformuliert die gemeinschaftsbildende Kraft dieses »resentment« so, dass er die individuelle Empfindungsdimension als in ihrer sozialen Kontrollfunktion nicht verlässlich kennzeichnet, insofern es darum gehe, nur das »resentment« zu teilen, bei dem man sicher ist, dass es auch von allen respektablen Anderen geteilt wird (4.2.2). Smiths Skepsis gegenüber der Verlässlichkeit individuellen Empfindens zeigt sich auch in einer nahezu rationalistischen Skepsis gegenüber der »Wut der Affekte« des in das konflikthafte Handlungsgeschehen zu sehr involvierten Einzelsubjekts. Der einzige Ausweg, der dem sozial-tugendhaft sein wollenden Handlungsakteur hier nach Smith noch bleibt, stellt die Internalisierung eines inneren »unparteiischen Zuschauers« dar, der als soziales Über-Ich den Möglichkeitsraum individueller Reaktionen vorab präformiert (4.2.3).
4.2.1 Das Nachempfinden von sozialen und unsozialen Affekten Wie viel Smith trotz seines ausdrücklich von Hume abweichenden Verständnisses von »sympathy« dennoch der Analyse Humes verdankt, wird sich nun noch einmal deutlicher zeigen. Zum einen geht auch er von einem wertneutralen Begriff von »sympathy« aus, die alle Formen von Affiziertheit bezeichnet. Zum anderen zeigt dabei vor allem die Art und Weise, wie Smith das Nachempfinden der »unsozialen« Affekte vorstellt, dass Smith weiterhin das Phänomen einer unmittelbaren Affektübertragung, d. h. der heute so genannten »emotionalen Ansteckung«, mit einbedenkt. Was einen an der Wut eines Anderen ärgert, ist genau dies: dass man kurz davon »angesteckt« war. Im ersten Teil der Theorie der ethischen Gefühle versucht Smith, das Phänomen der unmittelbaren Affektübertragung durch zwei Beispiele zu widerlegen, die wie unbewusste Affektübertragungen aussehen, dennoch aber im Sinn der imaginären Perspektivübernahme interpretiert werden können. Das erste Beispiel stellt eine Menge [mob] von Menschen dar, die mit dem Seiltänzer mitfühlen und unwillkürlich mit den Füßen wippen. Auch wenn die Bewegungsübertragung hier unwillkürlich wirkt, liegt ihr doch ein »changing places« zugrunde. Interessant an diesem Beispiel ist auch, dass Smith dem »Pöbel« [mob], der bei ihm wie später bei Hegel durch die nicht geschehene Verinnerlichung des Bedürfnisses nach sozialer Anerkennung definiert ist, dennoch die Befähigung zum imaginären Perspektivwechsel zutraut. Im zweiten Beispiel beobachtet jemand, wie ein Anderer einen Schlag aufs Knie bekommt und daraufhin reflexhaft sein eigenes Knie schützt.28 Auch hier wirkt aufgrund der Schnelligkeit der Reaktionsabfolge der Vorgang sehr unmittelbar. Offensichtlich hat man sich aber in den Anderen imaginär hineinversetzt, was allein die eigentlich sinnlose Handlung, das eigene Knie zu schützen, erklären kann. Im zweiten Teil der Theorie der ethischen Gefühle beschreibt Smith jedoch – im Widerspruch zu diesen beiden Beispielen, die er selbst wählt, um sein Verständ28
TMS 1.1.1, S. 7.
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nis von »sympathy« als eines immer schon sich vollziehenden Perspektivwechsels zu belegen, deutlich ein unmittelbares und dabei ungewolltes Überspringen unsozialer Affekte von einem Individuum zum anderen, das erst im Nachhinein durch eine solche imaginäre Perspektivübernahme korrigiert wird. Doch dies ist genau der Fall, den er im ersten Teil ausgeschlossen hatte. Hume hat diese Stellen aus dem zweiten Teil erstaunlicherweise in seiner Smith gegenüber geäußerten Kritik an der von Smith beschriebenen, ausschließlich auf Perspektivwechsel beruhenden Funktionsweise von »sympathy« nicht angemerkt, obwohl sie einen weiteren Beleg seiner Kritik bedeutet hätten. Humes Kritik an Smiths Vorstellung von »sympathy« ist, dass Smith dadurch, dass er »sympathy« bereits zum ersten Schritt der »Billigung« des Gefühls eines Anderen macht, so nicht erläutern könne, wie es zur Übertragung von für einen selbst »unangenehmen« [disapproving] Affekten kommen kann. Denn solche Affekte, wie die übertriebene Wut eines Anderen, vollzieht man in der Regel durch »changing places« ja gerade nicht nach, sondern kann sie, nachdem man sich in den Anderen hineinversetzt hat, nicht nachvollziehen. Dadurch, dass Smith aber »sympathy« bereits als ersten Schritt zur »Billigung« des beobachteten Gefühls auffassen würde, die man nur empfindet, wenn man sich zuvor imaginär in die Lage eines Anderen hineinversetzen konnte, kann es für ihn strenggenommen keine »sympathy« mit Affekten geben, die einem »unangenehm« sind, weil hier schon die imaginäre Perspektivübernahme – und damit der automatisiertritualisierte Ablauf von »sympathy« – grundlegend scheitert. Smith antwortet geschickt, es gehe darum, am Begriff »sympathy« zwei Momente zu unterschieden, nämlich einerseits das übertragene Gefühl selbst und andererseits das Gefühl, das aus der reflexiv wahrgenommenen Übereinstimmung zwischen mir und einem Anderen erst erwächst. Nur dieses zweite Meta-Gefühl meiner wahrgenommenen Übereinstimmung mit einem Anderen wäre in diesem Sinn grundsätzlich »agreeable«, während der ursprünglich übertragene Affekt auch »unangenehm« sein könne. So könne man den Zorn oder die Wut eines Anderen nachfühlen, wenn man sie im »changing places« nachvollziehen kann. Dies mache diese Wut zwar nicht zu einem angenehmen Affekt, aber die so realisierte Übereinstimmung mit einem Anderen sei »angenehm«.29 Smith wendet also wie Hume den Begriff »sympathy« auf alle Arten von realer Affektübertragung an.30 Was Smith aber an der Kritik von Hume geschickt übergeht, ist, dass auch Smiths Schilderung von »sympathy« ein Moment der »emotionalen Ansteckung« an sich behält, d. h. man zuweilen etwas nachempfindet, das man in einem Akt der nochHumes Kritik in Corr. Brief 36, S. 43, die Antwort von Smith in Corr. Brief 40, S. 51; Smith verwendet diese Antwort ab der zweiten Edition der TMS an entsprechender Stelle als Fußnote; vgl. TMS (o) 1.3.1.9 (Fn.), S. 56. 30 »Erbarmen und Mitleid sind Wörter, die dazu bestimmt sind, unser Mitgefühl mit dem Kummer Anderer zu bezeichnen. Das Wort Sympathie kann dagegen, obgleich seine Bedeutung vielleicht ursprünglich die gleiche war, jetzt doch ohne Verstoß gegen den Sprachgebrauch dazu verwendet werden, um unser Mitgefühl mit jeder Art von Affekten zu bezeichnen.« TMS 1.1.1, S. 8. 29
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maligen Reflexion dann wieder aus sich emotional verbannt. Besonders an seiner Vorstellung davon, wie man mit Affekten sympathisiert, die »unsozial« sind, zeigt sich, dass er Humes Idee von »sympathy« als »emotionaler Ansteckung« stillschweigend weiter mitbedenkt. Smith beschreibt hier wiederholt das Phänomen, dass man sich einer basalen Affiziertheit durch einen »wütenden« oder »zornigen« Anderen zumindest zunächst nicht entziehen kann. Und zwar auch dann, wenn die imaginäre Perspektivübernahme im Nachhinein ergibt, dass die am Anderen beobachtete Wut gar nicht berechtigt war. D. h. entziehen kann man sich dieser »sympathy« für Smith erst dann, wenn die imaginäre Nachfühlung der Situation des Anderen ergeben hat, dass dieser keinen legitimen Anlass hat, gegenüber einem Dritten, d. h. dem mutmaßlichen Täter, wütend zu sein. Doch dies bedeutet, dass es auch für Smith sehr wohl eine Affiziertheit vor der imaginären Perspektivübernahme gibt. Warum Smith die »unsozialen« Affekte gegenüber den »sozialen« Affekten wieder aufwertet, mag auch damit zu tun haben, dass im Fall der »unsozialen« Affekte erst die imaginäre Perspektivübernahme eine Nachfühlung ermöglicht, die von relativer Dauer sein kann, weil diese »unsozialen« Affekte dem Nachfühlenden dafür als berechtigt erscheinen müssen. Dass sich diese innere Korrektur des gezeigten Empfindens im sympathetischen Umgang nach Smith in der Regel beobachten lässt, indem z. B. ein Zorniger etwaige Umstehende zwar kurz aufbringen kann, diese sich aber dann von dessen Zorn abwenden, wenn sie diesen qua »changing places« nicht nachfühlen können, ist für Smith ein weiterer Beleg für die »natürliche« Funktionsweise von »sympathy« als dieser imaginären Perspektivübernahme. Das ist rhetorisch geschickt dargelegt, denn es ließe sich auch so argumentieren, dass »sympathy« nicht zwingend schon eine imaginäre Perspektivübernahme impliziert. Smith beschreibt deutlich zwei Stufen, wobei erst die zweite die Übernahme der Perspektive des »Opfers« durch den »Beobachter« faktisch impliziert. D. h. wie für Hume schafft zunächst der bloße »Anblick« [view] des Anderen es, zumindest ein Nachempfinden auszulösen. Erst dann setzt ein, was Smith den »Anblick der Situation« [view of his situation] nennt.31 Sich innerlich vorzustellen, in der »Situation« des Anderen zu sein und vermittelt durch dieses »changing places« den »Zorn« oder die »Wut« dieses Anderen nachzufühlen, ermöglicht dann die über den mimetischen Reflex hinausgehende »sympathy«. Man ist berechtigterweise aufgebracht (worden). Dies gilt besonders für solche Situationen, in denen diese Berechtigung offenkundig ist, d. h. man wie in Shaftesburys Modellszene des »moral sense« die Missetat des Täters am Opfer selbst beobachtet hat. Schwieriger liegt hingegen der empirische Regelfall, wenn dem sympathisierenden Beobachter unklar ist, ob der beobachtete »unsoziale« Affekt berechtigt ist, d. h. dieser kein faktischer »Zeuge des Vorfalls«32 gewesen ist. Hier mag man dazu tendieren, einem
31 32
TMS 1.1.1, S. 10. TMS 2.1.5, S. 120 (Fn.).
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Freund eher zu glauben, dass sein »Zorn« auf einen abwesenden Dritten legitim sei, als einem Fremden. Aber wie soll man das sicher wissen? Anders ausgedrückt ist Smith deutlich skeptischer gegenüber der Angemessenheit des unmittelbaren sympathetischen Mit- und Nachfühlens als seine sentimentalistischen Vorgänger. Dies zeigt sich besonders deutlich an der Differenz, die er zwischen den »sozialen« und den »unsozialen« Affekten hinsichtlich der Möglichkeit ihrer unmittelbaren Nachfühlung macht. An dieser Stelle bedarf es noch einer Klärung der Smith’schen Verwendung des Begriffs »social«: Obwohl Smith und Hume mit der Aussage, der Mensch sei »social by nature«, mehr meinen, als dass dieser gütig sei, reservieren beide in der kategorialen Aufteilung der Affekte den Begriff »social« dennoch für wohlwollende Regungen im Besonderen. Die Doppelbedeutung von »social« als wohlwollend und als intersubjektiv wird vermieden durch den zum Zentralbegriff erhobenen Begriff »sympathy«. Es ist zur Vermeidung begrifflicher Verwirrung an dieser Stelle wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass der Begriff »sympathy« bei Smith für den späteren Begriff der »sozialen Interaktion« steht.33 Mit der Unterscheidung »sozialer« und »unsozialer« Affekte will Smith trotzdem nicht zum Ausdruck bringen, die »sozialen« Affekte seien die grundweg positiven Affekte und die »unsozialen« Affekte seien die grundweg negativen Affekte. Dies sind sie für Smith nur in der einen Hinsicht ihrer unmittelbar wahrgenommenen Empfindungsqualität. Mit »Wohlwollen« sympathisiert man gerne, bei »Vergeltungsgefühl« ist dies schwieriger. Dennoch ist der tugendhafte Bürger nahezu verpflichtet dazu, mit dem legitimen »Vergeltungsgefühl« [resentment34] Anderer zu sympathisieren. Sowohl die »sozialen« Affekte als auch die »unsozialen« Affekte sind sympathetisch vermittelt und differieren lediglich im Grad und in der Art und Weise ihrer Nachempfindbarkeit. Auch hier dient Smith die normative Uneindeutigkeit der sozialen Natur dazu, unvermerkt eine Sollens-Ebene einzuziehen, ohne dies eigens herauszustellen. Doch anders als bei Shaftesburys »enthusiasm« in Bezug auf »social affection« geht es nun nicht mehr einfach um eine normative Aufladung dessen, was »social« ist. Die weite Begriffsbedeutung von »sympathy« wird bei Smith vor allem darin deutlich, dass jene Affekte, die er »unsocial« nennt, wie z. B. »anger« oder »resentment«, nach Smith ihre effektive Wirkungsmacht in ihrer zwischenmenschlichen Übertragbarkeit entfalten. Die oben bereits erwähnte effektive Bringschuld dessen, dem Unrecht getan wurde, d. h. des Opfers, die Äußerung seines subjektiven Empfindens gegenüber einem Beobachter im Ausdruck so weit herunterstimmen zu können, bis die vom Opfer etwa geäußerte »Wut« für diesen Beobachter ein sympathetisch erträgliches Ausmaß annimmt, zeigt sich am Vgl. Luhmann 1989, S. 411. »Resentment« sollte nicht gleichgesetzt werden mit dem »Ressentiment« bei Nietzsche. Auch wenn beide mentale Zustände ein Moment des Grolls enthalten, ist dieser im »resentment« doch gerichtet auf einen bestimmten Täter und ausgelöst durch eine bestimmte Straftat. Dieser Affekt ist daher keineswegs dumpf und wird auch nicht wie bei Nietzsche bereits ausgelöst durch eine Art reaktives Folgenmüssen an sich; vgl. Deleuze 1962, S. 44 f. 33 34
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eindeutigsten an diesen »unsozialen« Affekten. Denn aufgrund ihres »unangenehmen« Charakters fällt dem Beobachter hier »sympathy« schwerer als bei den »sozialen« Affekten. Ein Individuum, das als Opfer eines »wrong« daher Mitleid erhalten will, muss sich dessen bewusst sein, dass der Beobachter sich nur auf ein bestimmtes Ausmaß der Äußerung seiner Wut oder seines Zornes einlassen kann. Es wird daher bemüht sein, diese Äußerung entsprechend in ihrer Intensität herabzustimmen. Auch in dieser interpersonalen Mechanik drückt sich bereits ein grundlegender Respekt vor dem Anderen als Freiem und Gleichem aus, auf den man hier gleichwohl für das Erhalten von Mitleid angewiesen ist, ohne dass die Sphäre der bewussten Aushandlung damit schon berührt ist. Diese Befähigung zur antizipativen Verhaltensmodifikation liegt vielmehr in der allen gemeinsamen sozialen Natur, und ein Individuum, das diese Sozialkompetenz nicht beherrscht, wirkt dementsprechend pathologisch. Die »unsozialen« Affekte haben damit sogar einen Vorteil gegenüber den »sozialen«. Denn letztere laden zum Mitfühlen förmlich ein, da sie als »angenehm« empfunden werden. Gegenüber einem »Vergeltungsgefühl« aber »fellowfeeling« auszudrücken, will wohlüberlegt sein: Bedarf dieses »Opfer« meines Mitleids? Diesbezüglich wird sich im nächsten Teilabschnitt, in dem ich mir »resentment« noch einmal gesondert anschaue, aber erneut eine Uneindeutigkeit zeigen, die darin zu sehen ist, dass man unter bestimmten Umständen gerne mit einem »resentment« Anderer sympathisiert, weil man auch danach begehrt, dass der in Rede stehende Täter bestraft wird. Dennoch ist es für das Verständnis des Smith’schen Arguments wichtig zu sehen, dass er davon ausgeht, dass sich »soziale« und »unsoziale« Affekte unterschiedlich gut zur Nachfühlung eignen. Das Mitempfinden »sozialer« Affekte fällt einem in der Regel leichter, was besonders für das sentimental veranlagte Individuum gilt, weil es gerne am Wohlwollen Anderer partizipiert. Die »unsozialen« Affekte haben dadurch für ein rationales Mitfühlen den Vorteil, dass ein Subjekt sie in der Regel nicht gerne empfindet. Der Wutausbruch einer Person, die neben mir steht, ist mir unangenehm. Leichter fällt schon die Sympathie mit der Wut eines Freundes,35 weil man dem Urteil eines Freundes meist vertraut. Doch auch hier gilt, dass der allgemeine Respekt vor dem Anderen, der gebietet, das man ihm keine Expression von Gefühlen aufbürdet, die ihn in seiner Sympathiekapazität überfordert, auch in der Freundschaft beachtet werden muss. Eine »civil society« ist an keinem Punkt ein Zusammenhang unbedingten Mitgefühls. Die bürgerliche Zurückhaltung vor der zu intensiven Gefühlsexpression des Anderen wird dabei projiziert in die Eigenschaft der menschlichen Natur, mit allen »unsozialen« Regungen zunächst schwerer mitfühlen zu können. Die ideologische Qualität dieses Begriffs der sozialen Natur zeigt sich hierbei darin, dass der »Pöbel« [mob] sich für Smith dadurch auszeichnet, dass er bereitwillig mit jedem an ihn
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TMS 1.2.2, S. 45.
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herangetragenen »Groll« sympathisiert.36 Der Bürger prüft dagegen erst gewissenhaft dessen Berechtigung, bevor er sich dem an ihn herangetragenen »Vergeltungsgefühl« mitfühlend anschließen kann. Fällt diese Prüfung allerdings positiv aus, gibt es kein Halten mehr.
4.2.2 Vergeltungsgefühl als gemeinschaftsbildender Affekt und Mitleid zweiter Ordnung Smith erläutert anhand der »unsozialen« Affekte, d. h. an »Zorn, Wut und Vergeltungsgefühl«, die seit Shaftesbury bekannte Dreiersituation für den Beleg eines »moral sense« aus Beobachter, Opfer und Täter. Die Sympathie mit dem »resentment« eines Anderen zielt auf die Sanktion des Täters. Dieser wird dabei allerdings bei Smith meist als nicht anwesend vorgestellt, wobei er dieses Problem an signifikanter Stelle umgeht, indem er den Beobachter zum faktischen »Zeugen des Vorfalls« macht.37 Im Regelfall verhält es sich so, dass Opfer und Beobachter ihr Leid/ Mitleid aufeinander abstimmen, ohne dass der Täter anwesend ist. Dies ist sicher realistischer als die entsprechende Modellszene Shaftesburys, in der alle drei Parteien als anwesend vorgestellt werden. Auch bei Shaftesbury ist die gesellschaftskonstituierende Bedeutung der »sozialen« Affekte erst in zweiter Instanz gegeben, wie ich gezeigt hatte (2.1). Der »moral sense« wird belegt durch das intuitive »resentment« des Beobachters in der Ansehung des Opfers, dem in diesem Moment durch den Täter Unrecht geschieht. Die selbstregulative Gerechtigkeit einer Gesellschaft freier Individuen ist weniger bedingt durch soziale Affekte, sondern stärker durch die Abneigung gegen Unrecht. Auch für Shaftesbury beweist sich der moralische Sinn nicht in erster Instanz durch »social affection«, sondern dadurch, im »Herzen« den Anblick von »Unrecht« [injury/wrong] nicht ertragen zu können. Bei Smith wird aber nun in der unausdrücklichen Anknüpfung an Joseph Butler38 das »resentment« zu dem gemeinschaftsbildenden Affekt, dem auf einer von allen geteilten Empfindungsebene zudem ein »höheres Mitleid, welches alle Menschen umfasst«, entspricht.39 Dieses »höhere Mitleid« soll dann ins unmittelbare Empfinden durchgreifen, wenn das einzelne Individuum persönlich zu mitleidig gegenüber jemandem ist, der dieses Mitleid nicht verdient hat. Smith flankiert in diesem Sinn die Unterdrückung des persönlichen Mitleidsimpulses mit der Aufforderung, mit der Gesellschaft als Gesamtkörper »Mitleid« zu empfinden. Unklar bleibt dabei, wie ein solches »Mitleid« zweiter Ordnung intrapsychisch Gestalt annimmt, doch spricht aufgrund des Aufbaus der Theorie der Ebd., S. 51. TMS 2.1.5, Fn. 1, S. 120. 38 Joseph Butler (1692 – 1752), anglikanischer Geistlicher, dessen in Buchform verlegte Predigten alle britischen Moralisten studiert hatten. 39 TMS 2.2.3, S. 142. 36 37
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ethischen Gefühle einiges dafür, es als ein »fellow-feeling« mit dem inneren »unparteiischen Zuschauer« als der intrapsychisch abgespaltenen Instanz der »Gesellschaft« im Subjekt zu begreifen. Doch auch wenn man dieses »höhere Mitleid« zweiter Ordnung als Mitleid mit einem psychischen Imago versteht, bleibt diese Vorstellung auf eine äußerst problematische Art und Weise verdinglichend: Man kann nicht »Mitleid mit einem Ganzen« haben. Lessing nennt diese Form des Mitleids zweiter Ordnung polemisch und m. E. treffend »Sympathie« mit dem »Staat«.40 Rigoros wirken die Ausführungen Smiths nicht zuletzt deswegen, weil sich diese Art eines Mitleids mit der Gemeinschaft/Allgemeinheit selbst in der beobachteten Hinrichtung von Straftätern manifestieren soll. Hobbes hatte hier noch lediglich betont, dass ein rechtschaffener Bürger in diesem Fall kein Mitleid empfinden wird, weil ihn ein ähnliches Schicksal durch seine Rechtschaffenheit nicht ereilen kann.41 Hobbes geht von der Voraussetzung der subjektiven Furcht vor einem ähnlichen Schicksal für das Empfinden von Mitleid aus, was sein aristotelisches Mitleidsverständnis zeigt. Mitleid ist demnach die Furcht davor, es könne einen selbst ein ähnliches Schicksal treffen. Ich hatte im vorherigen Kapitel gezeigt, dass sich auch Hume auf diese Art und Weise verstehen lässt. Es ist interessant an Humes Position im Traktat, dass er den Sentimentalimus mit der aristotelischen Position als vereinbar ansieht. Denn eine solche imaginäre Einfühlung in Andere bestärkt habituell die soziale Veranlagung des Individuums, auch wenn sie ursprünglich auf dessen Furcht beruhte.
Detailanalyse: Vom persönlichen Vergeltungsgefühl zum Mitleid zweiter Ordnung Zum ersten Mal taucht das Thema »resentment« im ersten Teil zur sozialen Funktionsweise von »sympathy« auf, nämlich als »sympathy« mit »unsozialen« Affekten. Lessings Analyse der Tragödientheorie des Aristoteles ist höchst aufschlussreich, wenn man die sentimentalistische Mitleidsethik verstehen will. Nach Lessings Analyse sind für Aristoteles Mitleid und Furcht beim Zuschauer nur als miteinander vermittelte möglich: Die Furcht vor dem Schicksal der tragischen Figur erweckt Mitleid. Umgekehrt ist diese Furcht nur eine Art, sich selbst zu bemitleiden. Lessing ist mit den Schriften von Shaftesbury und Smith vertraut, und in seiner Mitleidsdiskussion verbirgt sich eine Auseinandersetzung mit dem Sentimentalismus. Er versteht Aristoteles so, dass dieser zwischen einer voraussetzungslosen Sympathie mit Anderen, die dieser Rückbeziehung auf sich selbst nicht bedarf, und Mitleid als der Furcht davor, ein ähnliches Schicksal wie der Bemitleidete zu erleiden, unterscheidet. Doch sowohl diese Sympathie als Basis der Philanthropie als auch das Mitleid als verschlüsselte Furcht um sich selbst – und darin äußert sich eine Kritik an Smiths Idee eines »höheren Mitleids« – könne nur ein konkreter, anderer Mensch auslösen, wohingegen die Idee eines »höheren Mitleids« mit dem gesellschaftlichen Ganzen, d. h. ein Mitleid zweiter Ordnung, psychosozial nicht vorstellbar ist: »Unsere Sympathie erfordert einen einzelnen Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen« (Hamburgische Dramaturgie, 14. Stück). Die Diskussion des Zusammenhangs von Mitleid und Furcht bei Aristoteles reicht vom 74. bis zum 83. Stück; Aristoteles, Poetik, Kap. 6, sowie Rhetorik 2.5 u. 2.8. 41 E 1.9.10, S. 70. 40
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Hier klingt es noch zunächst so, dass ein Beobachter solcher konfrontativ-aggressiven Affekte von diesen meist nicht unmittelbar sympathetisch affiziert wird. In den späteren, den »unsozialen« Affekten gesondert gewidmeten Analysen wird Smith dagegen so argumentieren, dass das, was einen am »wütenden Benehmen eines Zornigen« aufbringt, mit der Ohnmacht zusammenhängt, mit der man dessen Gefühlsausbruch ausgeliefert ist, insofern man nicht umhin kann, dessen »Wut« bis zu einem gewissen Grad in sich aufzunehmen. Ein solch »wütender« Mensch verdirbt einem gewissermaßen die Stimmung. Ich zitiere zunächst aber die Stelle aus dem ersten Teil zur »sympathy«, weil sich hier noch die Nähe von Smith zu Shaftesbury darin zeigt, dass beide davon ausgehen, dass die intuitive Abneigung gegenüber einer geäußerten Konfrontationshaltung einen für den Anderen Partei ergreifen lässt, der davon als »Opfer« betroffen ist. Nur verändert Smith die Szene derart, dass der subjektive Beobachter nur dem übertriebenen Zorn eines mutmaßlichen Täters beiwohnt, während das Opfer dieses Zorns nur imaginär in der Rede des Täters – aber damit auch in der Einbildung des Beobachters – »anwesend« ist: »Das wütende Benehmen eines Zornigen wird uns wohl eher gegen ihn selbst aufbringen als gegen seine Feinde. Da wir nicht wissen, was seinen Zorn herausgefordert hat, können wir uns in seinen Fall nicht hineindenken und darum auch keinerlei Gefühle empfinden, die den Affekten gleichen würden, welche diese Herausforderung in ihm auslöste. Wir sehen dagegen ganz klar die Lage derjenigen Personen vor uns, gegen welche sein Zorn sich richtet, und können uns vorstellen, welche Gewalttätigkeiten sie wohl von einem so erzürnten Gegner gewärtigen müssen. Darum sympathisieren wir mit ihrer Furcht und ihrem Vergeltungsgefühl [resentment] und sind sofort bereit, gegen den Mann Partei zu ergreifen, von dessen Seite ihnen eine so große Gefahr zu drohen scheint« (TMS 1.1.1, S. 9, Hervorh. i. Orig.).
Durch die Beobachtung des illegitimen Zorns eines mutmaßlichen Täters wird für Smith Sympathie mit dem »Vergeltungsgefühl« [resentment] gegen diesen Täter des abwesenden, potentiellen Opfers (dieses Zornes) möglich. Man fürchtet mit dem zukünftigen Opfer des Zorns mit. Dies ist eine sophistizierte Variante der einfachen Modellszene von Täter, Opfer und Beobachter bei Shaftesbury. Bei beiden, Smith und Shaftesbury, wird der Beobachter in seinem »Herzen« immer mit dem Opfer und nicht mit dem Täter sympathisieren, und dies zeigt sein Bedürfnis nach friedlichen und zivilen Zuständen an. Dieses Bedürfnis nach Frieden, das Hobbes als Hauptmotivation beim Eingehen des Gesellschaftsvertrags versteht, bleibt bei Smith vom moralischen Sinn übrig. Wie sich aber zeigen wird, stellt für Smith dieses »resentment« gegen denjenigen, der den sozialen Frieden stört, keinen Rechts-/Unrechtsindikator mehr dar. Dennoch ähneln sich die sozialen Dreier-Szenen bei Smith und bei Shaftesbury. Auch bei Shaftesbury beweist sich der »moral sense« anhand der sensiblen Reaktion des nicht-involvierten Beobachters, der trotz dieser Nicht-Involviertheit nicht gleichgültig bleibt.42 Allerdings aufgrund einer von ihm real beobachteten »injury« (vgl. 2.1). 42
Vgl. Forman-Barzilai, S. 67.
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Bei Smith liegt der Fall nun komplizierter, insofern er szenisch von der Abneigung des Beobachters gegenüber dem von ihm miterlebten Zorn des Täters ausgeht, was daraufhin bei diesem Beobachter dazu führt, sich innerlich-imaginär die Situation desjenigen auszumalen, der von diesem »Zorn« betroffen sein wird. Da Smith in der Theorie der ethischen Gefühle rhetorisch ausgesprochen geschickt verfährt, lässt sich dies schon als eine Hinleitung auf seine im zweiten Teil darauf folgende, spätere Argumentation verstehen, nach der man einem beobachteten »resentment« nur dann Vertrauen schenken sollte, wenn es von einer einem bekannten und als vertrauenswürdig geltenden anderen Person geäußert bzw. geteilt wird. Der oben zitierten Szene entgegen steht damit dieses spätere Beispiel der »Wut« eines »Freundes«.43 Auch hier ist die dritte Partei nicht anwesend, doch dadurch, dass es sich bei demjenigen, der seinen in seiner Berechtigung nicht einschätzbaren Zorn äußert, um einen persönlichen Freund handelt, hat dieser den Vertrauensvorschuss, dass seine Wut als legitim angesehen wird. Hinzu kommt im Beispielfall, dass dieser Freund seine Wut mit dem nötigen Bedacht geäußert hat. In diesem Fall liegt es insofern nahe, mit einem solchen Zorn auch auf der Grundlage gegebener »Schicklichkeit« [propriety] zu sympathisieren. Dadurch, dass man mit der Wut des Freundes sympathisiert, macht man diese aber nun zum legitimen »resentment«. Meinem Freund ist ein Unrecht geschehen, das nach »Vergeltung« verlangt. Die von Smith zuvor getroffene Unterscheidung zwischen sozialen und unsozialen Affekten wird durch diese gemeinschaftsbildende Funktion des »resentment« konterkariert. Denn die diesbezügliche Pointe von Smith ist, dass man mit dem als berechtigt erkannten »resentment« sympathisieren muss. Allerdings muss der sozialtugendhafte Bürger sicherstellen, dass alle diesbezüglichen Bedenken aus dem Weg geräumt sind, während ein »mob« dagegen bereitwillig mit jedem »resentment« sympathisiert, woran man dessen sittliche Unfähigkeit (präziser: Unfähigkeit zur Sittlichkeit) erkennt.44 Doch es gibt bei Smith sehr wohl auch eine bürgerlich-sittlich geteilte Lust an der Bestrafung des Täters. Nur muss die »Schuld« zuvor in vollem Ausmaß erwiesen sein: »Wenn sich jedoch mit der Schädlichkeit der Handlung die Unschicklichkeit der Neigung verbindet, aus der die Handlung hervorgeht, wenn unser Herz, von Abscheu erfüllt, alles Mitgefühl mit den Beweggründen des Handelnden von sich weist, dann sympathisieren wir gänzlich und von Herzem mit dem Vergeltungsgefühl des durch die Handlung Betroffenen. Solche Handlungen scheinen dann eine entsprechende Bestrafung zu fordern, und, wenn ich so sagen darf, gleichsam laut nach ihr zu rufen; und wir teilen durchaus jenes Vergeltungsgefühl und billigen jene Empfindung des Beleidigten, die ihn dazu antreibt, den Täter zu bestrafen. Der Beleidiger erscheint uns also dann notwendig wert, bestraft zu werden, wenn wir so völlig mit jenem Gefühl sympathisieren können, das den Beleidigten zum Strafen antreibt, und wenn wir dieses Gefühl durchaus billigen. Auch in diesem Falle müssen wir, sobald wir die Neigun-
43 44
TMS 1.2.2, S. 45. TMS 1.2.3, S. 51.
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gen billigen und nachfühlen, aus der die Handlung hervorgeht, die Handlung selbst notwendigerweise ebenfalls billigen, und die Person, gegen welche sie sich richtet, als ihren schicklichen und passenden Gegenstand betrachten.«45
Wenn klar ist, dass eine böse Absicht vorlag, und die Folgen entsprechend schlimm waren, ist der Grenzfall erreicht, der es möglich macht, mit dem Strafbegehren Anderer übereinzustimmen, und die öffentliche Sympathie mit dem Vergeltungsgefühl – und auch dem Ereignis der Bestrafung46 – ist legitim. Dabei stellt sich die Bereitwilligkeit der »völlig[en]« Sympathie mit dem Opfer, das den Täter bestraft sehen will, beim Beobachter erst dadurch ein, dass die schlechte »Neigung« des Täters als erkannt vorausgesetzt wird. Es sind diesbezüglich bei Smith immer zwei Momente, die im sittlichen Urteil, das er deshalb auch als »gemischte Empfindung«47 bezeichnet, zusammentreten, nämlich die Ansehung der Motive des Handelnden, die er aus bestimmten Gesten für erkenntlich hält, und die Ansehung der guten/schlechten Folgen dieses Handelns in der Welt. Da sich im berechtigten »resentment« die »Tadelnswürdigkeit«48 einer Handlung affektiv Ausdruck verschafft, möchte Smith hier wie Butler die Konsequenz ziehen, dass es in diesem Fall sittlich ist, diesem »resentment« auch eine Bestrafung folgen zu lassen und dies insofern auch sittlich bejahen zu können. Smith fügt dem die Relativierung hinzu, man solle sich hier nur von dem »resentment« leiten lassen, das man als ein nicht-involvierter Beobachter nachempfinden kann. Allerdings klingt dies deutlich anders bei ihm als bei Shaftesbury. Während es bei Shaftesbury so klingt, dass man gar nicht umhin kann, im »Herzen« ein »resentment« gegenüber der beobachteten »injury« zu fühlen, erscheint es bei Smith nun so, als würde man dieses »resentment« nur deshalb fühlen, weil man weiß, dass es sich um eine Situation handelt, in der es angemessen ist, es als Beobachter zu fühlen. Dies grenzt Smith nun entschieden von dem Fall ab, in dem man ein »resentment« fühlen würde, weil man selbst von der »injury« betroffen wäre. Eine Situation, die Shaftesbury, wie vorher gezeigt, ganz übergeht. Smith ist hier darauf bedacht, deutlich zu machen, dass in diesem Fall das »resentment« kein zuverlässiger Verhaltensindikator ist. Zwar wäre dies auch bei Shaftesbury vom Fallprinzip her nicht anders, doch klingt es bei Smith anders, indem Smith ausdrücklich nicht auf dem subjektiven Gefühl eine sittliche Ordnung errichten will, sondern dieses in Frage stellt, indem er es mit dem betreffenden Fall des Selbst-wütend-Seins aufgrund der selbst erfahrenen Verletzung assoziiert: »Wir sollten eher darum Vergeltungsgefühl empfinden, weil wir uns dessen bewusst sind, dass es sittlich richtig wäre, es zu
TMS 2.1.5, S. 115 f., Hervorh. hinzugef. Dies widerlegt eigentlich Foucaults Eingangsthese über die Genealogie bürgerlichen Rechtsempfindens in Überwachen und Strafen, nach der das bürgerliche Recht auf der Bannung dieser öffentlichen Lust an der Bestrafung beruht; vgl. Foucault 1976, S. 93 f. 47 TMS 2.1.5, S. 116 f.; im englischen Original: compounded sentiment, vgl. TMS (o) 2.1.5.2, S. 87. 48 TMS 3.2, S. 182 f. 45 46
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empfinden, und dass jedermann es von uns erwartet und fordert, als weil wir wirklich in uns die Furien jenes unangenehmen Affekts fühlen« (TMS 1.2.3, S. 57). Worauf Smith hier hinaus möchte, ist dem, was Shaftesbury als Beleg für einen »moral sense« ins Feld führt, zunächst noch recht ähnlich. Als selbst involvierte Person ist das eigene »resentment« nicht verlässlich, weil es vom Eigeninteresse verzerrt sein kann: Hier sollte ich eher vorsichtig sein, und etwa selbst auf den Rat von Freunden hören. Als nicht-involvierter Beobachter einer »injury« an einem Anderen bin ich allerdings im Kontrast dazu sympathetisch verpflichtet, es zu empfinden. Eine schwierige Frage ist, ob Smith hier über die Argumentation von Joseph Butler hinausgeht, indem er stärker auf ein sich im sympathetischen Kollektiv erst generierendes »resentment« rekurriert. Dies ist letztlich eine Auslegungsfrage, wie mir scheint: Butler stellt dem »resentment« als einem subjektiven »impulse« die »cool consideration of reason« als höherwertig gegenüber.49 Butlers Argumentation besagt, dass eben weil die reflexive Abgeklärtheit der Vernunft nicht immer dem impulsiven Nachdruck eines sittlichen Urteils genügen kann, das »resentment« als Einpflanzung Gottes in den Menschen einen sittlichkeitsbildenden Wert hat: »[I]t is resentment against vice and wickedness: it is one of the common bonds, by which society is held together; a fellow feeling, which each individual has in behalf of the species, as well as of himself.«50 Butler unterscheidet aber auch zwischen einem »resentment« als impulshaftem »sudden anger« darüber, dass einem selbst »wrong« geschah, und dem »deliberate anger or resentment«, das man stellvertretend für einen Anderen fühlt, wenn man dessen Situation beobachtet. Die Differenz zu Smith besteht letztlich darin, dass Smith ein individuelles »resentment«, das man als selbst Involvierter fühlt, anders als Butler gänzlich entwertet. Bei Butler kann auch ein »resentment« in eigener Sache als subjektives Gefühl legitim sein (»as well as [in behalf ] of himself«), während bei Smith nur das von den Anderen sympathetisch erwartete »resentment« sittliche Legitimität genießt. Hier deutet sich bereits die Rigorosität an, mit der intrapsychisch alle Evidenz des Gefühls in Fragen der Gerechtigkeit an den »unparteiischen Zuschauer« delegiert wird. Deshalb weil »jedermann es von uns erwartet und fordert« – d. h. weil es die Allgemeinheit von uns mit unsichtbarem Zwang verlangt – und genau nicht »weil wir wirklich in uns die Furien jenes unangenehmen Affekts fühlen«, sollten wir ein »resentment« für legitim halten. Shaftesburys natürlich-religiöses Glaubensbekenntnis ermächtigt das einzelne Individuum gerade, auf das eigene Gefühl zu vertrauen. Das Credo von Smith entrechtet es in dieser Hinsicht nahezu, indem Smith explizit fordert, dem Affekt genau dann, wenn man ihn »wirklich fühlt« (op. cit.), nicht zu folgen. Man muss aber anmerken, dass Shaftesbury das Problem der Selbst-Involviertheit, wie bereits ausgeführt, als Fall gerade umgeht, indem er zur Evidentmachung des moralischen Sinns nur das »resentment« des »by-standers« betrachtet. Seine Ar49 50
Butler 2006, S. 90 f. Ebd. S. 92, Hervorh. hinzugef.
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gumentation ist trotzdem der von Butler viel ähnlicher als der von Smith, insofern sie das individuell-idiosynkratische »resentment« in seinem Sittlichkeitswert dennoch positiv einschätzt. Er begründet dies zwar mit der sozialen Natur und nicht wie Butler als direkte Einpflanzung Gottes. Doch dies ist ja die Brücke, die der Deismus schlägt. Inhaltlich argumentieren Shaftesbury und Butler auf einer Linie hinsichtlich des sittlichkeitsbildenden Werts der idiosynkratischen Abneigung gegenüber einer beobachteten »injury« oder einem »wrong«. Beide beziehen sich im Gegensatz zu Smith positiv auf die menschlich-impulsive Beschaffenheit des individuell gefühlten »resentment« als eines right/wrong-Indikators. Dies begründet aber die Selbstregulationsfähigkeit einer »civil society« erst (s. Kap. 2). Insofern Smith das subjektive Empfinden wiederholt als trügerisch charakterisiert und umgekehrt betont, dass es wichtiger sei, auf die Meinung der Anderen zu hören, kann bei ihm von der Abstandnahme von einer positiven Rückwendung auf das Empfinden des Individuums gesprochen werden. Vor dem sich erst gemeinschaftlich als legitim erweisenden »resentment« erscheint das individuelle »resentment« eher als ein schwächlicher Impuls des Einzelnen.51 Eine verdinglichende Dimension bekommen die Smith’schen Ausführungen aber erst dann, wenn die Aversion gegen den Straftäter sich als ein positives Mitgefühl mit der Sittengemeinschaft selbst generiert: das, was Smith das »höhere Mitleid, welches alle Menschen umfasst« [a more enlarged compassion which they feel for mankind52], nennt und ich als Mitleid zweiter Ordnung bezeichnet habe. Im Mitgefühl mit »mankind« identifiziert sich der Einzelne dabei nicht wie bei Rousseau mit allen »natürlichen Menschen« jenseits von deren Orten/Rollen/Funktionen in der gesellschaftlichen Hierarchie, sondern es geht genau umgekehrt um das »Mitgefühl« mit dem fiktiven gesellschaftlichen Gesamtsubjekt aller »gerechten« Menschen. Smith beginnt seine Diskussion von »resentment« in der Theorie der ethischen Gefühle mit der Frage nach dem persönlichen Vergeltungsgefühl und kommt zum Ende dieser Diskussion dann auf seine Konstruktion eines »höheren Mitleids, welches alle Menschen umfasst«, d. h. ein Mitleid zweiter Ordnung, das über dem unmittelbaren Mitleid mit einem konkreten Anderen, d. h. einem Mitleid erster Ordnung, steht. Das kollektiv geteilte »resentment« der Sittengemeinschaft gegenüber demjenigen, der ihre Regeln verletzt, äußert sich positiv in diesem »höheren MitAlice MacLachlan kommt in ihrer Analyse des Unterschieds in der Verwendung des Begriffs »resentment« im ersten Teil der TMS zur »sympathy« und im zweiten Teil zur Messbarkeit von »Verdienst und Schuld« zu dem Schluss, Smith verwende den Begriff im ersten Teil in einer »instinctive, amoral version« und im zweiten Teil im Sinn einer »rich, rationally appraising attitude«, die dafür des Zuspruchs Anderer bedarf. Insofern zeigt auch die Analyse von MacLachlan die Entwertung des individuell gefühlten »resentment« als Gerechtigkeitsindikator. Doch indem sie das Smith’sche »resentment« mit Nietzsches »Ressentiment« parallelisiert, verwischt MacLachlan den Unterschied zwischen dem »resentment« als einer sich kollektiv erst generierenden Empfindung und dem individuellen »resentment« als Gerechtigkeitsindikator, um dessen Rekonstruktion es mir geht; ebd. S. 162 u. 171 Fn. 11 (S. 176). 52 TMS (o) 2.2.3.7, S. 104. 51
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leid« mit dem Zusammenschluss der sittlichen Menschen in der bürgerlichen Gesellschaft als solcher. Dass Smith dieses »höhere Mitleid« als ein »alle Menschen umfassendes« – als »compassion for mankind« – bezeichnet, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass es um genau die »Menschen« geht, welche den »unparteiischen Zuschauer« verinnerlicht haben, und insofern nicht um den »natürlichen Menschen« in einem Rousseau’schen Naturzustand vor jeder Gesellschaftlichkeit, sondern umgekehrt um die Rechtsgemeinschaft derjenigen, die durch die Verinnerlichung ihrer sozialen Natur zur bürgerlich-sittlichen Öffentlichkeit gehören. Der Moment, in welchem diese Anrufung eines »höheren Mitleids« notwendig wird, markiert dabei den umgekehrten Grenzfall zur obig zitierten »völlig[en]« Sympathie mit dem Strafgebahren gegenüber einem sich als schuldig erwiesen habenden und seiner Bösartigkeit überführten Täters, den man deshalb gern bestraft sieht. Es soll im Gegenteil vor allem dann in Kraft treten, wenn das persönliche Mitleid mit jemandem, der bestraft wird, sehr groß ist, d. h. man persönlich nicht vollkommen überzeugt davon ist, dass dessen Bestrafung angemessen sei. Smith wählt dafür in der Theorie der ethischen Gefühle das von Hobbes bekannte Beispiel der Beobachtung einer Hinrichtung eines Mitleid erregenden Täters. Hobbes beharrt hier in seinem trocken-apodiktischen Stil darauf, dass man in diesem Moment als Bürger deshalb kein Mitleid empfindet, weil einen ein vergleichbares Schicksal als rechtschaffener Bürger nicht treffen kann. Lediglich Frauen könnten sich einer gewissen Sympathie mit einem »schmucken Kerl auf dem Weg zum Galgen« aufgrund ihrer schwächlich-sentimentalen Veranlagung nicht völlig erwehren.53 Da für Smith aber im Gegensatz zu Hobbes der Tendenz nach alle Menschen sentimental veranlagt sind, beschreibt er eine sentimentalistisch tragfähige Lösung, diese »sympathy« mit dem Verbrecher zu überwinden: Man soll hier an ein Gemeinschaftsgefühl appellieren, das die notwendige Bestrafung im Namen der Gesellschaft selbst einfordert. Rhetorisch untypisch für Smith in der Theorie der ethischen Gefühle spricht er dabei den Leser in der entpersonalisiert klingenden dritten Person Plural an, was seinen Ausführungen einen umso befremdenderen Beiklang gibt:54 »Hier müssen sie darum erst jene Überlegungen über das allgemeine Gesellschaftsinteresse zu Hilfe rufen. Sie setzen den Antrieben einer schwächlichen und parteiischen Humanität die Gebote einer anderen Humanität als Gegengewicht entgegen, die weit edler und umfassender ist. Sie erwägen, dass Barmherzigkeit gegen den Schuldigen Grausamkeit gegen den Unschuldigen ist, und stellen den Gefühlen des Mitleids, die sie für einen Einzelnen hegen, ein höheres Mitleid entgegen, welches alle Menschen umfasst.«55
E 1.9.10, S. 70. Die Grundanrede in der Theorie ist das »protreptic we«, wie Griswold es nennt, das den Leser in eine rhetorische Gemeinschaft mit dem Autor bringt. Der Sprung ins »sie« mag eine Unsicherheit der Überzeugungskraft seines Arguments auf der Seite von Smith rhetorisch anzeigen in dem Sinn, dass es seiner Darlegung an dieser Stelle einen autoritär-imperativen Beiklang gibt, den das – stärker vereinnahmende – »we« nicht hat; vgl. Griswold 1999, S. 48. 55 TMS 2.2.3, S. 142. 53
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Das an dieser Stelle voranstehende Beispiel, dafür, wie dieses Kollektivgefühl dabei helfen soll, das »schwächliche« Mitleid mit dem zum Tode verurteilten Delinquenten intrapsychisch auszukontern, weil Letzteres »parteiisch« sei, zeigt die zentrale Differenz im Mitleidsbegriff zwischen Hobbes und Smith. Hobbes kann im Anschluss an Aristoteles so argumentieren, dass Mitleid sich immer aus der eigenen »Furcht« gegenüber einem ähnlichen Schicksal speist.56 Deshalb hat der rechtschaffene Bürger mit dem Delinquenten kein Mitleid, wobei diese Darlegung der Mitleidlosigkeit gegenüber dem Straftäter auch bei Hobbes durchaus den Charakter einer zurechtweisenden Mahnung hat. Wer hier Mitleid zeigt, hat u. U. selbst etwas zu verbergen. Smith gesteht als Apologet der sozialen Natur ein grundsätzliches Mitleid mit dem anderen Menschen zu, aber dies bringt ihn in die Verlegenheit, ein stärkeres Gefühl mobilisieren zu müssen, das diese »schwächliche und parteiische Humanität« auskontern kann. Man kann die Anrufung dieses »höheren Mitleids« als einen Versuch werten, die vorab kritisierte »Menschenfreundlichkeit«, d. h. ein Übermaß an Mitleid, auf eine wiederum emotionale Art und Weise im Zaum zu halten, indem ein stärkeres Gefühl mit der Gemeinschaft angerufen wird, d. h. ein Mitleid zweiter Ordnung, das ein soziales Gemeinschaftsgefühl mobilisiert gegen das unmittelbar gefühlte Mitleid erster Ordnung, das zunächst am Schicksal des Mitleid erregenden Täters Anteil nimmt. Der Projektionscharakter der Sympathie kann einen zu dem Argument verleiten, dass man auch bei der Betrachtung der Vollstreckung von Todesurteilen nicht sicher sein kann, was der Verurteilte selbst fühlt. Smith macht an anderer Stelle geltend, dass für einen Mörder das öffentliche Eingeständnis seiner Schuld psychisch so erleichternd sein kann, dass dieser den eigenen Tod dafür in Kauf nimmt.57 Auf den mehrfach bei Smith auftauchenden Gedanken, dass im Falle schwerer Schuld der eigene Tod als Befreiung empfunden werden kann, werde ich im Schlusskapitel noch kritisch Bezug nehmen. Anders liegt der Fall, wenn die Bestrafung im Verhältnis zur Tat sehr hart erscheint. In Smiths Vorlesungen zum Naturrecht lassen sich zwei Beispiele dafür finden, zum einen die Todesstrafe für die Einfuhr bestimmter Güter, deren Einfuhr untersagt ist. Zum anderen die Situation, in der eine Nachtwache, die ein Lager oder eine Stadt bewacht, einschläft, und Smith zeigt in der TMS Fälle auf, in denen dies unmöglich sein soll, wie z. B. »sympathy« eines Mannes mit einer »woman in child-bed«. Die Frage wäre allerdings, ob die eigentliche Differenz hier in dem liegt, was unter »Mitleid« verstanden wird: Hobbes spricht erst dann von Mitleid, wenn ich jemanden in seinem Schicksal bedauere, während das, was Smith in dem genannten Beispiel meint, (nach Lessings Interpretation) aristotelisch gefasst »Philanthropie« wäre. Für eine Verteidigung des aristotelischen Mitleidsverständnisses in diesem Zusammenhang s. Griswold 2010, S.61 f., und für eine Verteidigung der Position von Smith s. O’Neill 2011, S. 146. 57 TMS 3.2, S. 191: »In solchen Fällen scheint der Abscheu vor der Tadelnswürdigkeit selbst bei Personen, an denen man kein außergewöhnliches Zartgefühl und keine besondere Empfindsamkeit des Charakters vermuten könnte, vollständig die Furcht vor dem Tadel selbst zu überwinden. Um diesen Abscheu zu besänftigen, um einigermaßen die Vorwürfe ihres eigenen Gewissens zu lindern, unterwarfen sie sich freiwillig der Schande und der Bestrafung, die, wie sie wussten, ihren Verbrechen gebührten, denen sie aber doch leicht hätten entgehen können.« 56
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dafür mit dem Tod bestraft wird. Beide Bestrafungen rechtfertigen sich für Smith durch die Konsequenzen, d. h. die Gefährdung der Gemeinschaft, die sie zur Folge haben (Smith 1978a, S. 352 – 3, vi. 59 – 60). Dies sind paradigmatische Fälle, in denen das »Mitleid mit dieser Gemeinschaft selbst« zum Tragen kommen soll, und sich gegen das Mitgefühl mit der konkreten Person stellt.
4.2.3 Die Notwendigkeit des unparteiischen Zuschauers angesichts der Wut der Affekte Obzwar »Wut« und »Zorn« eines Einzelnen »unsoziale« Affekte darstellen, werden sie von Smith wie von Shaftesbury als Affekte angesehen, die gesellschaftlich notwendig sind, damit dieser Einzelne sich gegenüber »Unrecht« [wrong] verteidigen kann. Ein Individuum, das jede Beleidigung geduldig erträgt, wird einem dadurch »verächtlich«.58 Doch das Problem an diesen »heftigen Gemütsbewegungen« (zit. i. folg.) besteht für Smith darin, dass sie die rationale Urteilskraft stark beeinträchtigen oder anders ausgedrückt: Diese Affekte sind im Moment ihrer Empfindung so intensiv, dass der Einzelne oftmals dazu geneigt ist, sich über deren fehlende Legitimität hinwegzutäuschen. Ja, aufgrund der Heftigkeit dieser Affekte vollzieht sich eine solche Täuschung nahezu mit Notwendigkeit. Der Einzelne bedarf seiner Wut oder seines Zorns, um im Interessenkonflikt der Gesellschaft bestehen zu können. Doch steht er damit als notwendiger Fürsprecher seiner eigenen Perspektive prinzipiell vor dem Problem, als ein in ein spezifisches Handlungsgeschehen involviertes Individuum gerade nicht »unparteiisch« zu sein. Shaftesbury hatte in seiner Darlegung einer Evidenz für einen »moral sense« genau dieses Problem darstellerisch umgangen. Ob derjenige, der ein »resentment« fühlt, im Moment dieser »heftigen« Empfindung klar denken kann, steht in Shaftesburys Belegszene des moralischen Sinns deshalb nicht in Frage, weil er dieses »resentment« dem Beobachter zuspricht, der es qua »sympathy« stellvertretend für das beobachtete Opfer in seinem »Herzen« empfindet. Als Beobachter ist ein »bystander« nicht gleichgültig gegenüber einer beobachteten »injury«, die einem Anderen geschieht, und dies beweist die Existenz eines »moral sense« (vgl. die Zitate in 2.1/4.2.2). Ich hatte gezeigt, dass Smith hier von Beginn an von einer vielleicht realistischeren Modellszene ausgeht, die das Problem der sittlichen Angemessenheit der eigenen sympathetischen Reaktion auf beobachtetes »Leid« aber deutlich verkompliziert. Der Täter wird hier als nicht mehr anwesend vorgestellt und das Unrecht in der Vergangenheit verortet: Wie kann man als Beobachter sich dann sicher sein, dass die »Wut« eines Anderen als dem mutmaßlichen Opfer eines Unrechts legitim ist? Hierfür gibt es eine Reihe von »schicklichen« Anzeichen, die einerseits damit zu tun haben, wie das mutmaßliche Opfer seinen »Zorn« äußert, und andererseits 58
TMS 1.2.3, S. 51.
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damit, ob das in Rede stehende Individuum einem schon vorher bekannt ist. Dem mutmaßlichen Opfer zu glauben wird also zur rationalen Abwägungssache. Bemerkenswert ist hieran auch, wie schnell sich dabei die Positionen von Opfer und Täter vertauschen können. Halte ich die »Wut« des vermeintlichen Opfers nicht mehr für berechtigt, erscheint dieses auf einmal schnell als mutmaßlicher Täter. Die Frage, ob ich einem Anderen Glauben schenke, entscheidet sich meist an der »Schicklichkeit« [propriety] seines Verhaltens, deren sympathetische Mechanik ich versucht habe, ansatzweise darzulegen.59 Was Smith aber zum Schluss der unhintergehbaren Notwendigkeit der Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« bringt, ist das Problem der angemessenen Einschätzung des eigenen Verhaltens: Was garantiert die Legitimität meines »resentment«, wenn ich doch offenbar ein Interesse daran habe, es selbst für legitim zu halten? Die Radikalität von Smiths Position an dieser Stelle, die inhaltlich eine Rückwendung zum rationalistischen Diskurs um die Selbsttäuschung darstellt, besteht darin, zu sagen: nichts. Denn – und das ist die entscheidende Abstandnahme von der Verlässlichkeit von »sympathy« – in dieser Situation wird sich man auch die Position von Anderen immer im eigenen Sinn vorstellen. D. h. man wird auf Andere genau die Absichten und Beweggründe projizieren, die der Legitimierung des eigenen Interesses dienlich ist. Der Rekurs auf die beruhigende Kraft der imaginären Perspektivübernahme bei Hobbes stellt sich entsprechend für Smith als naiv dar, und zwar vor allem dann, wenn man sie (wie Hobbes) als Ausweg aus der eigenen Verwickeltheit in ein konflikthaftes Handlungsgeschehen begreift. Die »Wut der Affekte« ist in diesem Moment zu intensiv und »verfärb[t]« für Smith »unser Bild von den wirklichen Verhältnissen sogar dann, wenn wir bemüht sind, uns in die Lage eines Anderen zu versetzen« (zit. i. folg.). Aber »in die Lage eines Anderen zu versetzen« ist das, was für Smith die elementare Funktionsweise von »sympathy« ist! D. h. man kann mit Smith so weit gehen zu sagen, dass »sympathy« aufgrund ihres mit den subjektiven Selbsterhaltungsinteressen verwobenen Imaginationscharakters das subjektive Bewusstsein im (alltäglichen60) Fall der eigenen Handlungsinvolviertheit nahezu notwendig täuscht:
Wobei Smith letztlich auf der Unsicherheit der Beurteilung durch »Schicklichkeit« beharrt: »Denn obgleich Unschicklichkeit in gleicher Weise ein wesentliches Merkmal jeder lasterhaften Handlung bildet, so ist sie doch nicht immer das einzige Merkmal derselben; und es liegt oft die größte Ungereimtheit und Unschicklichkeit in ganz unschädlichen und bedeutungslosen Handlungen. Vorbedachte, für unsere Umgebung verderbliche Handlungen haben neben ihrer Unschicklichkeit eine besondere, ihnen eigentümliche Eigenschaft, auf Grund deren sie offenbar nicht nur Missbilligung, sondern Bestrafung verdienen; eine Eigenschaft, durch die sie nicht nur die Abneigung, sondern das Vergeltungsgefühl und den Ahndungstrieb der Menschen auf sich ziehen […]« (TMS 7.2.1, S. 480). 60 In TMS 3.4 bespricht Smith zwei Fälle der Selbsttäuschung: die im Moment der Handlung und die nachträgliche. Beide sind vermutlich kaum abgelöst voneinander vorstellbar, doch ist die erste wohl die alltäglichere. Ich weiche hier von meinem üblichen Vorgehen ab, dem Quelltext genau zu folgen, um zu zeigen, wie stark die in TMS 3.1 – 2 diskutierte Verinnerli59
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»Wenn wir im Begriffe stehen, zu handeln, wird die Heftigkeit des Affekts uns selten das, was wir zu tun willens sind, mit der Unparteilichkeit eines unvoreingenommenen und gleichgültigen Menschen überlegen lassen. Die heftigen Gemütsbewegungen, die uns in diesem Augenblick durchströmen, verfärben unser Bild von den wirklichen Verhältnissen sogar dann, wenn wir bemüht sind, uns in die Lage eines Anderen zu versetzen und die Gegenstände, die uns angehen, in dem Lichte zu betrachten, in welchem sie ihm natürlicherweise sich darstellen müssen. Die Wut unserer Affekte ruft uns immer wieder auf unseren eigenen Standort zurück, von dem aus alles durch die Selbstliebe vergrößert und verzerrt erscheint. Von der Art und Weise, in welcher diese Gegenstände einem Anderen erscheinen würden, von dem Bilde, das er von ihnen gewinnen würde, vermögen wir, wenn ich so sagen darf, immer nur einen momentanen Schimmer aufzufangen, der in einem Augenblick wieder verschwindet, und der auch, solange er anhält, nicht ganz richtig ist. Wir vermögen nicht einmal für diesen Augenblick gänzlich die Hitze und den Eifer abzulegen, den uns eben gerade unsere Situation einflößt, noch vermögen wir das, was wir eben zu tun im Begriffe stehen, mit der vollen Unparteilichkeit des gerechten Richters zu betrachten. Aus diesem Grunde tragen, wie Pater Malebranche sagt, alle Affekte in sich selbst ihre Rechtfertigung und erscheinen uns als vernünftig und ihren Gegenständen angemessen, solange wir sie eben noch fühlen« (TMS 3.4, S. 248 f., Hervorh. i. Orig.).
Dies ist ein kritischer Kommentar zur Berufung auf den Perspektivwechsel als sozialer Aushandlungsmodus, wie er etwa in der Verwendung der »Goldenen Regel« bei Hobbes vorkommt: Dass im Zustand der eigenen Involviertheit ins konflikthafte Handlungsgeschehen die dafür notwendige »Wut der Affekte« dadurch schon ausgekontert werden kann, dass man sich in Andere hineinversetzt, ist deshalb nicht wahrscheinlich, weil das »Bild« der »Lage« der Anderen von den eigenen Affekten »verfärbt« wird. Der positive Rückbezug auf Malebranche zeigt dabei auch ideengeschichtlich die Smith’sche Distanzierung von einer sentimentalistischen Argumentationslinie an: Da es die Eigenart von Affekten ist, »in sich selbst ihre Rechtfertigung« zu »tragen«, bleibt auch die imaginäre Perspektivübernahme, d. h. die gedankliche Vergegenwärtigung der Situation des Anderen, von »unserer Situation« affiziert (ebd.). D. D. Raphael sieht den spezifischen Beitrag von Smith zur britischen Moralphilosophie darin, die »spectator theory« eines sich im Empfinden des nicht-involvierten Beobachters als »dritter Person« zeigenden »moral sense« zu überwinden. Denn, wie Raphael deutlich macht, kann diese Theorie schwerlich auf die Situation der eigenen Verwickeltheit in das bürgerliche Handlungsgeschehen als handelnder »erster Person« angewandt werden: »What is orginal in Adam Smith is the development of the concept to explain the judgements of conscience made by an agent about his own actions.«61 Doch wie entwickelt Smith ein solches Modell? Offenbar bietet für ihn »sympathy« hier keine Lösung mehr. Denn wie oben zitiert ermöglicht die imaginäre Perchung des »unparteiischen Zuschauers« bei Smith vom Problem des »self-deceit« aus gedacht wird, d. h. dazu dient, die Selbsttäuschung zu erschweren; vgl. Fleischacker 2011, S. 78. 61 Raphael 1975, S. 87, Hervorh. hinzugef.; dazu passt auch, dass »impartial spectator« eine sprachliche Wendung für das soziale Gewissen ist, die auf Smith initiativ zurückgeht; vgl. Fleischacker 1991, S. 252 (Fn. 18).
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spektivübernahme, d. h. bei Smith »sympathy« in ihrer elementaren Funktionsweise, keinen Ausweg aus der Situation eines im Moment ablaufenden, konflikthaften Handlungsgeschehens. Zu sehr bleibt Egos Vorstellung der Perspektive von Alter hier von den eigenen Interessen »verfärbt«. »Sympathy« zeigt sich damit hinsichtlich der Akkuratheit ihres Vorstellungsbildes im Moment der Interaktion dann als täuschend, wenn ein Interessenkonflikt tatsächlich gegeben ist: Die eigene »Wut der Affekte« bewirkt, dass man nur ein inadäquates, weil selbstinteressiertes Bild der Situation von Anderen haben kann. Es bedarf einer verlässlichen Vermittlungsinstanz im konflikthaften Handlungsgeschehen, d. h. es bedarf eines »gerechten Richters« (op. cit.), der »unvoreingenommen« und »gleichgültig« bleiben kann. Bei Shaftesbury war dieser Richter noch der äußere Beobachter, dessen Unrechtsempfinden aktiviert wird in der Beobachtung von Unrecht.62 Für Smith lassen sich Gründe finden, warum dies zuweilen schon als recht naiv erscheint. Denn zunächst kann man von der realen Anwesenheit eines solchen Beobachters realistisch betrachtet oft nicht ausgehen (s. 4.2.2). Außerdem lässt diese idealisierte Modellszene das freundschaftliche oder feindschaftliche Verhältnis zwischen Opfer und Beobachter in seiner Spezifik unreflektiert (s. 4.2.1). Aber was die Notwendigkeit der Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« bei Smith unhintergehbar macht, ist erst der Fall, wenn man selbst in einen Konflikt interessenhaft involviert ist: Sich hier zur Beruhigung des eigenen Gemüts einfach »an Stelle« des Anderen zu setzen – das ist der Sinn der »Goldenen Regel« bei Hobbes –, erscheint für Smith als ein Ratschlag, der die imaginäre Verzerrung eines in dieser Konfliktsituation stets »verfärbten« Perspektivwechsels außer Acht lässt.
4.3 Das Modell des unparteiischen Zuschauers als Transzendierung des moralischen Sinns Michael Frazer hat Smiths Vorstellung von Gerechtigkeit in der Theorie der ethischen Gefühle als interaktiven Aushandlungsprozess gegen den Vorwurf verteidigt, dass dieser in der gesellschaftlichen Realität zu politischer Instabilität führe. Das Argument der rationalistischen Kritik besagt, dass ein sozialer Aushandlungsprozess von Normativität keiner sein kann, der sich über den unmittelbaren Sympathie-Austausch der spontanen Gefühlsäußerungen freier Individuen vollzieht. Frazer stellt meines Erachtens zu Recht fest, dass dies nicht Smiths Vorstellung ist.63 Meiner Auffassung nach lässt sich aber noch schärfer argumentieren, dass Smith eine ähnliche Kritik am ursprünglichen Sentimentalismus – und an dessen ZentEs ist mir daher nicht einsichtig, warum Raphael Shaftesbury nicht einer »spectator theory« zurechnen will, die er mit Hutcheson beginnen lässt. Zumal wenn man bedenkt, dass »social affection« bei Shaftesbury erst über das Gattungsinteresse wieder als selbstinteressiert gelten kann; vgl. Raphael ebd. S. 85, ders. 2007, S. 27 f. 63 Frazer 2010, S. 89 f. 62
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ralbegriff des moralischen Sinns – hat. Wenn Smith von »moral sentiments« spricht, dann meint er damit Gefühle, deren Empfindung sich in einer »civil society« sozialisierte Individuen genau deshalb nicht erwehren können, weil sie diese zuvor internalisiert haben. Smith glaubt keineswegs an einen moralischen Sinn als eine unmittelbare Unrechtsidiosynkrasie erster Natur. Eine anarchische Aushandlung von Sittlichkeit als unmittelbarer Austausch der spontanen Gefühlsregungen von Individuen hält er für genauso instabil wie seine vermeintlichen Kritiker. Weil er aber dennoch an der frühliberalen Vorstellung der bürgerlichen Freiheit insofern festhält, als er von einer Idee von »civil society« ausgeht, deren Selbstregulationspotential auf »moral sentiments« beruht, beschreibt er einen Weg, wie die Gefühlsreaktionen des freien Individuums auf Andere bis ins Detail sozial geformt werden können, und dieser Weg ist die Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers«. Er überschreitet damit genau die Grenze, die Hobbes im Kapitel zur bürgerlichen Freiheit in De Cive dem Individuum belässt, nämlich dass der »innere Gerichtshof des Ichs«, vor dem nur die »Naturgesetze« gelten, und die staatliche Ordnung, die durch positive Gesetze aufrechterhalten wird, zwei Welten bilden.64 Auch wenn der Staat es gerne wollte, reicht er bei Hobbes nicht an die Gedankenkontrolle heran. Genau deshalb, weil Smith die konkret-sympathetischen Verbindungen der Einzelnen zueinander für instabil hält, möchte er einen »unparteiischen Zuschauer« als verinnerlichtes soziales Über-Ich in diese Beziehungen als Vermittlungsinstanz sittlicher Angemessenheit einschalten. Erst der »unparteiische Zuschauer« ermöglicht es dem Individuum, dessen Sensibilität für Andere in einem gesellschaftlich-allgemeingültigen Spiegel der Fairness innerlich abzugleichen, und bietet damit den benötigten intrapsychischen Ausgleich gegenüber den ansonsten zu starken, situationsbedingten Gefühlsschwankungen, die Smith zuvor empirisch betrachtet hat. Die kontrolltechnologische Ironie liegt dabei darin, dass Smith den sentimentalistischen Ansatz zu retten versucht, indem der Einzelne nach seinem Modell eine Reflexionsinstanz in sich aufrichten soll, die dann sein unmittelbares Empfinden präformiert. Durch diese innere Aufrichtung des »unparteiischen Zuschauers« wird das, was man den sentimentalistischen Glauben an das unmittelbar-individuelle Empfinden nennen kann und von dem Shaftesburys deistische Argumentation so stark getragen ist, fallengelassen. Weder glaubt Smith an ein unmittelbares Gefühl dafür, was recht/unrecht ist, noch glaubt er daran, dass die spontane Zuneigungsbekundung Anderer im anerkennenden »Lob« [praise] für das Verhalten des Einzelnen die orientierende Weisungskraft haben soll, die Shaftesbury, Hume und Locke diesem »Lob« zusprechen. Weil Smith aber weiter eine soziale Verankerung des Individuums in »moral sentiments« anstrebt, bedürfen die konkreten Sympathien des Einzelnen bei ihm der innerlich-imaginären Ansehung seiner selbst und Anderer aus der Perspektive des »unparteiischen Zuschauers«. Diese Reflexion soll den gezeigten Ausdruck von »sympathy« entsprechend verändern. Humes »rays of passion« brechen sich im 64
Hobbes: »in foro interno«, E 17.10, S. 118; vgl. DC 3.27, s. Konklusion.
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»looking-glass« eines »impartial spectator«, der als »demi-god within the breast« dem handelnden Ich, d. h. der »person whom I properly call myself«, unendlich überlegen erscheint. Die Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« hat eine prinzipielle Transformation des unmittelbar-individuellen Empfindens zum Ziel, die über einen psychischen Spaltungsprozess verläuft, dessen intrapsychischer Effekt ist, die unmittelbare Gefühlsreaktion des Individuums zu bestimmen, und d. h. nichts anderes als: auf das Niveau einer zweiten »sozialen Natur« zu heben. Da es mir darum ging, diese dialektische Bewegung in der Genealogie der Philosophie des moralischen Sinns deutlich zu machen, habe ich sehr stark auf Shaftesburys ursprüngliche Idee des moralischen Sinns als unmittelbarer Unrechtsidiosynkrasie abgehoben. Zugleich hatte sich aber gezeigt, dass Shaftesbury das Problem der wirklichen Verinnerlichung sozialer Tugenden stärker beschäftigt (s. 2.3.2), als dies bei Locke und Hume der Fall ist, die beide den oberflächlichen Habitus selbst aufwerten, indem sie bestreiten, dass das dahinterliegende Motiv immer tugendhaft sein muss, um einen sittlich positiven Effekt in der Gesellschaft zu zeitigen (s. 1.5/3.5). In seiner Untersuchung über Tugend und Verdienst schließt sich Shaftesbury am Ende auch dieser Auffassung an, die der aristokratischen Verhaltenslehre der »honnêteté« entstammt, wenn er darauf besteht, dass das Innovative an seinem Modell von »civil society« genau ist, dass auch »the most selfish ones« in das soziale Tugendregime integriert werden, weil deren »selfishness« auf das Begehren der Anerkennung Anderer umgelenkt wird. Betrachtet man aber den Shaftesbury’schen Werkzusammenhang, muss man zugestehen, dass er hier eine Entwicklung durchmacht, die ihn immer mehr auf den Fluchtpunkt einer größtmöglichen Verinnerlichung von Moral zutreibt, bis er schließlich in seiner letzten Abhandlung Soliloquy, or: Advice to an Author – einem geistigen Selbstgespräch, das den inneren Dialog mit dem Gewissen nachahmen soll – die antike Essenz moralischer Selbsterkenntnis im Motto des Delphischen Orakels, übersetzt als Formel des »Erkenne dich selbst!« bzw. »Recognise yourself!«, interpretiert als: »Divide yourself or be two!«65 Diese Anrufung einer Ich-/Überich-Spaltung bedeutet aber genau das Eingeständnis, dass es keine erste »soziale Natur« gibt bzw. Menschen keineswegs »social by nature« sind, sondern ihre soziale Tugendhaftigkeit der verinnerlichten Unterwerfung triebhafter Antriebe bedarf. Das Eingeständnis Shaftesburys der Notwendigkeit selbstbeherrschter Triebdomestizierung folgt an besagter Stelle denn auch auf dem Fuße: »One of these [two partys of the soul, DS] as they [the ancients] supposed, would immediately approve himself a venerable sage; and with an air of authority erect himself our counsellor and governor; whilst the other party, who had nothing in him besides what was base and servile, would be contented to follow and obey« (Characteristics Bd. 1, S. 106). In der Theorie der ethischen Gefühle spielt die Notwendigkeit von Triebdomestizierung trotz der beschriebenen Ich-Spaltung eine erstaunlich geringe Rolle. Ag65
Characteristics, Bd. 1, S. 107.
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gressive Impulse gegenüber Anderen erklärt Smith vielmehr soziologisch aus der Latenz des gesellschaftlichen Selbsterhaltungskonflikts. Erst die Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« gewährleistet eine soziale Transformation dieser aggressiven Impulse gegen Andere, indem diese als Selbstkritik auf das Ich rückgewendet werden. Diese Rückwendung wird möglich durch die soziale Vermitteltheit von Selbstreflexion. Dadurch, dass man erst im »Spiegel« der Gesellschaft sich selbst beurteilen lernt, lassen sich dem Individuum Ideale anerziehen, die insofern wieder einem »moralischen Sinn« gleichkommen, als sie sich in das unmittelbare Selbstwertempfinden einschreiben (4.3.1). Diese Argumentation Smiths zielt auf die Widerlegung Rousseaus, dass das Leben in der »Meinung der Anderen« (s. u.) den modernen Menschen unfrei macht. Dennoch eröffnet sich durch den argumentativen Schritt, die bürgerliche Sittlichkeit tatsächlich als zweite Natur zu verstehen – postmodern ausgedrückt: ihre Natürlichkeit zu dekonstruieren –, den Smith im dritten Teil seiner Theorie der ethischen Gefühle vollzieht, der Blick in den normativen Abgrund der Moderne. Die Legitimität der Perspektive des »unparteiischen Zuschauers« wird selbstreferentiell (4.3.2). Die Rousseau’sche Kritik, dass das Individuum in der bürgerlichen Gesellschaft so abhängig wird vom Zuspruch Anderer, dass dies einer erweiterten Stufe von Zwang gleichkommt, projiziert Smith in seine Kritik der sentimentalen Veranlagung des weiblichen Charakters. An seiner Kritik an der Gefühlsabhängigkeit der Frau, der er eine männliche Charakterdisposition gegenüberstellt, die sich durch »großmütige« Selbstüberwindung auszeichnet, lässt sich daher seine eigentliche Kritik an der Einfühlungsphilosophie des Sentimentalismus ablesen. Das moralische Leitgefühl von Frauen ist Mitleid erster Ordnung, das im Mitgefühl keine Selbstberrschung kennt (4.3.3).
4.3.1 Genese der Selbst- aus der Fremdbeurteilung Wie bei Smith die Vorstellung sozialen Interagierens auf das faktische Niveau einer Interaktion zwischen mindestens zwei sich wechselseitig aneinander anpassenden Subjekten kommt, hatte ich zu Beginn des Kapitels gezeigt. Ich hatte dabei auch behauptet, dass Smith Selbstreflexion als soziales Produkt versteht, aber war den Beleg dafür noch schuldig geblieben. Ihn liefere ich nun nach. Die Verschiebung hin zur sozialen Interaktionstheorie geht einher mit einer Veränderung der Auffassung, wie das Individuum eine Kapazität zur Selbstreflexion entwickelt: »Wäre es möglich, dass ein menschliches Wesen an einem einsamen Ort bis zum Mannesalter heranwachsen könnte, ohne jede Gemeinschaft und Verbindung mit Angehörigen seiner Gattung, dann könnte es sich ebensowenig über seinen Charakter, über die Schicklichkeit oder Verwerflichkeit seiner Empfindungen und seines Verhaltens Gedanken machen, als über die Schönheit oder Hässlichkeit seines eigenen Gesichts. All das sind Gegenstände, die es nicht leicht erblicken kann, auf die es natürlicherweise nicht achtet, und für die es auch nicht mit einem Spiegel ausgerüstet ist, der sie seinem Blicke darbieten könnte. Bringe jenen Menschen in Gesellschaft Anderer und er ist sogleich mit dem Spiegel ausgerüstet, dessen er vorher entbehrte. Dieser Spiegel liegt in den Mienen und in dem Betragen derjenigen, mit denen er
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zusammenlebt, die es ihm stets zu erkennen geben, wenn sie seine Empfindungen teilen, und wenn sie sie missbilligen; hier erst erblickt er zum erstenmal die Schicklichkeit und Unschicklichkeit seiner eigenen Affekte, die Schönheit und Hässlichkeit seines eigenen Herzens« (TMS 3.1, S. S. 178 f.; Hervorh. hinzugef.).
Es ist verlockend, diese Passage der Theorie der ethischen Gefühle so zu interpretieren, dass Smith hier dem Menschen eine soziale Natur zuschreibt. Denn er behauptet an dieser Stelle, dass – ohne die Gesellschaft als reflexiven Raum, ausgedrückt in der Metapher des »Spiegels« – ein Individuum nicht, oder zumindest nicht adäquat, in der Lage ist, auf sich selbst zu reflektieren. Ein kleiner Halbsatz darf aber nicht übersehen werden, den ich deshalb hervorgehoben habe und der die Frage nach der Natürlichkeit des gesellschaftlichen Menschen en passant negiert.66 Die sozialen Bezugspunkte und Parameter dieser Selbstreflexion, d. h. die Art und Weise, wie sie sich überhaupt vollzieht, sind etwas, auf das man »natürlicherweise nicht achtet« und wofür man »nicht mit einem Spiegel ausgerüstet« ist (ebd.). Was in der Rezeption der Theorie der ethischen Gefühle oft übersehen wird, aber für den argumentativen Aufbau zentral ist, ist, dass Smith Rousseaus Feststellung, dass die Selbstreflexion des freiheitlich-bürgerlichen Menschen als einer Person, die sich im »Spiegel« der Auffassung Anderer selbst betrachtet, erst in dieser Form von moderner Gesellschaft entstehen kann und insofern zweite Natur ist, akzeptiert. Was Smith aber zu widerlegen versucht, ist die in Rousseaus Abhandlung über den Ursprung und die Grundlagen der Ungleichheit unter den Menschen damit verbundene Behauptung, dass dies den bürgerlich-gesellschaftlichen Menschen untugendhaft mache. Im Gegenteil zielt Smiths gesamte Argumentation im dritten Teil seiner Theorie der ethischen Gefühle auf den Beweis des Gegenteils. Nur weil es diesen »Spiegel« der Anderen gibt, kann der moderne Mensch überhaupt eine soziale Handlungsmoral entwickeln. Als Prämisse der späteren soziologischen Tradition der Theorie sozialer Interaktion und der Theorie der Intersubjektivität hat sich Smiths Position faktisch durchgesetzt. Zugleich gibt diese ideengeschichtliche Entwicklung Rousseaus Kritik am außer sich stehenden Sozialcharakter, der nur in der »Meinung der Anderen« lebt, eine herausragende Bedeutung für die Beschreibung von Pathologien freiheitlich-bürgerlicher Vergesellschaftung: »[D]er gesellschaftliche Mensch ist immer außerhalb seiner selbst und weiß nur in der Meinung der Anderen zu leben; und er bezieht sozusagen allein aus ihrem Urteil das Gefühl seiner eigenen Existenz.«67 Die Radikalität von Smiths Gegenargument in der Theorie der ethischen Gefühle scheint mir zu sein, dass er dies gar nicht bestreitet. Im Gegenteil legt er dar, inwiefern die Abhängigkeit der subjektiven Gestaltung des Selbstbezugs von der Ansehung durch Andere notwendig ist, um ein freiheitlich-soziales Tugendregime Griswold 2010 streicht dies mit aller Radikalität heraus, nimmt hierzu aber eine deutlich abgemilderte Position ein in Griswold 2018; vgl. ebd. S. 115 – 130. 67 Rousseau 1992 (1754), S. 112. 66
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»moralischer Gefühle« aufzubauen. Dies zeigt eindrucksvoll Smiths bestimmte Negation des moralischen Sinns, der durch die Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers« als einer zweiten »moralischen Natur« ersetzt wird.
Detailanalyse: Smiths Abstandnahme von der Vorstellung des moralischen Sinns Auch Shaftesbury begreift die Befähigung zur Sittlichkeit als Alleinstellungsmerkmal des Menschen, indem er den »moralischen Sinn« als menschliche Befähigung dazu versteht, auf den subjektiv-impulsiven Wunsch nach gerechten Gesellschaftszuständen zu reflektieren. Ein Tier mag in der Sorge um die andere Kreatur einem Artgenossen zur Hilfe eilen, doch kann ein Tier darauf nicht reflektieren und im Nachhinein beschließen, ein solch wohlwollendes Verhalten solle zur gesellschaftlichen Konvention werden. In der menschlichen Gesellschaft verhält es sich dagegen so, dass das Ziel der gesellschaftlichen Verfestigung von »social affection« auf der subjektiv-reflexiven Vergewisserung des geteilten Wunsches nach gerechten Zuständen aufbauen kann, weshalb Shaftesbury bei diesen »Gefühlen« auch von »reflexiven Affekten« spricht (UT 1.2.3, S. 16). Ich hatte dies im Kapitel zu Shaftesbury aus zwei Gründen betont. Zum einen, um zu zeigen, dass Shaftesbury nicht so vernunftfeindlich denkt, wie ihm zuweilen unterstellt wird. Ich wollte deutlich machen, wie bei Shaftesbury die Unmittelbarkeitsdimension eines natürlichen Gerechtigkeitsempfindens mit der bewussten Reflexionsfähigkeit als vermittelt gedacht wird. Shaftesburys Evidentmachung eines »moral sense« geht allerdings von einem negativen Gefühl aus: Jedes Individuum empfindet als »bystander« im Moment einer beobachteten »injury« (an einem Opfer, das nicht ich selbst bin) gegenüber dem Missetäter ein »resentment«. Und es ist dieses »resentment«, wie ich im zweiten Kapitel gezeigt hatte, das den »moralischen Sinn« in seiner Grundform als einer Art Unrechtsidiosynkrasie auszeichnet (vgl. 2.1). Zum anderen liegt in Shaftesburys Argumentation eine Ambivalenz, welche die Philosophie des moralischen Sinns stets begleitet: Obwohl der moralische Sinn die Reflexion auf ein menschliches Wohlwollen erster Natur sein soll, bedarf dessen Entfaltung doch der Umlenkung von »selfishness« (vgl. 2.4). Smith geht in seiner Argumentation nahezu umgekehrt zu Shaftesbury vor und transzendiert die Annahme eines moralischen Sinns auf eine dialektische Art und Weise, indem er einen sozialisatorischen Weg beschreibt, durch den die Selbstregulationsfähigkeit einer »civil society« auch dann bestehen bleibt, wenn das Individuum keine natürliche Rechts-/Unrechtsintuition hat. Dadurch, dass Smith an der Idee moralischer Leitgefühle in einer freiheitlich-bürgerlichen Gesellschaft festhält, ist oft übersehen worden, dass er die Annahme eines moralischen Sinns erster Natur dennoch verabschiedet.68 Mir geht es darum zu zeigen, dass die dialektische
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Die folgenden Interpretationen betonen Smiths Abstandnahme von der Annahme des mo-
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Transzendierung des moralischen Sinns weitreichende Folgen dafür hat, wie viel »innere Freiheit« er dem Individuum zuspricht. Smith beschreibt eine Soziogenese der moralischen Urteilskraft, die zunächst nicht von einer verlässlichen Rechts-/ Unrechtsintuition des Individuums ausgeht, daraufhin aber einen Weg beschreibt, wie das Individuum ein solches Rechts-/Unrechtsempfinden – durch seine Abhängigkeit vom »Spiegel« der ihn sympathetisch umgebenden Anderen – entwickelt. Genau das, was Rousseau als Skandalon freiheitlich-bürgerlicher Vergesellschaftung gilt – das Gefühl eigener Existenz erst aus dem Urteil Anderer zu beziehen –, wird bei Smith zur sozialen Grundachse der Internalisierung von Sittlichkeit. Smith akzeptiert nicht, dass die realistische Rückkehr zur Annahme einer Anderen gegenüber konfrontativen ersten Natur die Rückkehr zu einem autoritären Führungsstil bedeutet. Wie entstehen »moralische Gefühle« bei Smith? In seiner Beschreibung, wie »Selbstbilligung« [self-approbation] entsteht, verwendet Smith das Bild des »Spiegels« zunächst wörtlich, indem er auf die Situation rekurriert, in der man die Schönheit der eigenen Körperproportionen kritisch im Spiegel begutachtet: »Wir prüfen unsere Gestalt Glied um Glied und bemühen uns – indem wir vor einen Spiegel treten oder ein anderes Auskunftsmittel anwenden – so sehr als möglich, uns aus der Entfernung und mit den Augen anderer Menschen zu betrachten.«69 Im Fall dieses wörtlich genommenen Spiegels ist allerdings die vorherige Existenz des angesehenen Körpers, d. h. vor dessen Spiegelung, offenbar, während es Smith bei der metaphorischen Verwendung des »Spiegels« der Zuspruch oder Ablehnung zeigenden Anderen für die eigene Selbstreflexionskapazität ja darum geht, auszudrücken, dass es keine Selbstreflexion vor dieser Spiegelung gibt.70 Man kann das Phänomen sinngemäß auch so fassen, dass das Schönheitsideal, nach dem der Körper bemessen wird, sich erst in seiner Spiegelung in diesen Körper einschreibt, was Smiths Argumentation hier in die Nähe strukturalistischer Ansätze rücken würde. Dieses Ideal, und das ist der Punkt, um den es Smith hierbei geht, ergibt sich erst aus dem sozial vermittelten Blick auf sich selbst, der aus zuvor gemachten Erfahrungen das zukünftige Urteil Anderer antizipiert. Man betrachtet sich selbst unter der »ängstlich[en]« Maßgabe, den prüfenden Blick Anderer auf einen selbst zu imaginieren. Angenommen wird damit eine Genese der Selbstbeurteilung aus der Fremdbeurteilung. Sich selbst derart im Spiegel zu betrachten, bedeutet die Fremdbeurteilung Anderer zu antizipieren, und zwar auf Grundlage der vorher gemachten Erfahrungen mit Anderen. Wie Smith an späterer Stelle bemerkt, spräche die Annahme eines moralischen Sinns erster Natur umgekehrt dafür, dass man sich selbst von Natur aus gut beurteilen kann, aber dies
ralischen Sinns ähnlich stark: Raphael 1975, Rendall 1987, Griswold 1999, Campbell 2010 (1971). 69 TMS 3.1, S. 180. 70 Vgl. Fleischacker 2011, S. 82.
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einem bei dem Verhalten Anderer nicht so leicht fällt, weil man keinen Einblick in deren Psyche hat: »So parteiisch ist die Art, wie die Menschen, nicht nur im Zeitpunkt der Handlung, sondern auch nachher nicht die Schicklichkeit ihres Betragens beurteilen; und so schwer fällt es Ihnen, dieses Verhalten in dem Lichte zu sehen, in welchem ein unbeteiligter Zuschauer es betrachten würde. Gäbe es aber tatsächlich ein besonderes Seelenvermögen, mittels dessen die Menschen ihr eigenes Verhalten beurteilen würden – wie man es von dem »moralischen Sinn« annimmt –, wären sie wirklich mit einer eigentümlichen Wahrnehmungskraft begabt, welche die Schönheit oder Hässlichkeit von Affekten und Neigungen zu unterscheiden vermöchte, dann wären diesem Seelenvermögen die eigenen Affekte des Menschen in unmittelbarer Weise gegeben und dasselbe würde daher mit größerer Pünktlichkeit über sie urteilen als über die Affekte anderer Menschen, die es nur gleichsam aus größerer Entfernung betrachten könnte.«71
Diese spätere Stelle im dritten Teil der Theorie der ethischen Gefühle ist eine von zwei Stellen, an denen sich Smith explizit gegen die Annahme des moralischen Sinns wendet.72 Was hier aber ausgesagt ist, trägt seine Argumentation im dritten Teil, in dem es um die Entstehung der Selbstbeurteilung aus der Beurteilung Anderer geht, von Beginn an. Der dritte Teil ist das Herzstück der Theorie der ethischen Gefühle, weil er von der Genese des »unparteiischen Zuschauers« handelt. Und diese Genese – dies allein ist schon eine Widerlegung der Annahme eines moralischen Sinns – ist eine, bei der aus der Erfahrung der Beurteilung durch Andere allmählich die Beurteilung seiner selbst erwächst. Am Anfang trifft das Individuum aktiv negative Urteile über Andere. Wie die Hegel’sche Genese des »unglücklichen Bewusstseins« beginnt bei Smith die Genese des Selbst mit dem ersten Schritt einer übermäßig kritischen Beurteilung Anderer, die sich latent aus der Konfliktsituation der Selbsterhaltung ergibt.73 In der Tätigkeit der Beurteilung Anderer wird das Individuum seines eigenen Tuns gewahr und bemerkt daraufhin, dass Andere es selbst ebenso kritsch beäugen. Dieses initiale TMS 3.4, S. 250 f.; vgl. TMS (o) 3.4.5, S. 184. Die andere Stelle findet sich im historischen Exkurs im letzten Teil VII, der eine systematische Geschichte der abendländischen Moralphilosophie darstellt und dem ein Vorlesungsmanuskript von Smiths »lectures on ethics« zugrunde liegt (dazu TMS (GE), I-4). Hier findet sich eine Ablehnung der Theorie eines »moralischen Sinns«, was zeigt, dass Smith schon zu der Zeit, als er diese Vorlesungen Anfang der 1750er Jahre zum ersten Mal hält, kein Anhänger dieser Theorie mehr war: »Wenn Liebe, Hass, Freude, Kummer, Dankbarkeit, Vergeltungsgefühl, nebst so vielen anderen Affekten, die alle für die Untertanen dieses Prinzips gehalten werden, sich genügend bemerkbar gemacht haben, um Bezeichnungen zu erhalten, unter denen sie bekannt sind, ist es dann nicht überraschend, dass der Beherrscher von ihnen allen bisher so wenig beachtet wurde, dass mit Ausnahme von ein paar Philosophen es noch kein Mensch der Mühe für wert gehalten hat, ihm einen Namen zu verleihen? […] Wenn wir in irgendeinem einzelnen Falle alles abziehen, wovon man anerkennen muss, dass es aus [den sympathetischen Interrelationen selbst, DS] hervorgeht, so würde ich sehr gerne wissen, was dann noch übrig bleibt, und würde bereitwillig zustimmen, dass dieses Mehr dem moralischen Sinn zugeschrieben wird oder irgendeinem Anderen besonderen Vermögen, vorausgesetzt, dass irgend jemand genau feststellt, was dieses Mehr ist«; (TMS 7.3.3, S. 535 f.). 73 Vgl. Butler 2001, S. 46. 71 72
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Gewahrwerden der eigenen Aktivität bleibt als Restbestand einer vor der gesellschaftlichen Vermittlung bereits irgendwie vorhandenen Selbstreflexion bestehen. Da dieses Gewahrwerden aber nun erst – wie im Hegel’schen Modell in der Phänomenologie des Geistes – zum entscheidenden dritten Schritt des Erlernens der Selbstbeurteilung aus dem Blick Anderer führt, bleibt von dem der sozialen Vermittlung vorgängigen Selbstbezug zumindest dann nichts zurück, wenn die Verinnerlichung der inneren Ansehung aus dem Blick Anderer gelingt: »[U]nsere moralische Beurteilung [richtet sich] zunächst auf Charakter und Verhalten anderer Leute und wir alle sind nur allzusehr geneigt, unser Augenmerk darauf zu richten, wie jeder von ihnen uns berührt [d. h. im Weg des eigenen Interesses steht, DS]. Aber wir erfahren bald, dass andere Leute mit ihren Urteilen über unseren Charakter und unser Verhalten ebenso freigiebig sind. Wir werden nun ängstlich darauf bedacht sein, in Erfahrung zu bringen, inwiefern wir ihren Tadel oder ihren Beifall verdienen, und ob wir ihnen wirklich als so angenehme und unangenehme Geschöpfe erscheinen mussten, als welche sie uns hinstellen. Wir fangen deshalb an, unsere Affekte und unser Betragen zu prüfen und Betrachtungen darüber anzustellen, wie diese ihnen erscheinen müssen, indem wir bedenken, wie sie uns wohl erscheinen würden, wenn wir uns an ihrer Stelle befänden« (TMS 3.1, S. 180).
Wenn Smith von einem im unmittelbaren Empfinden des Individuums sich äußernden »moralischen Sinn« ausgehen würde, müsste dieser Ablauf anders sein. Im genauen Gegensatz zur Annahme einer unmittelbar richtungsweisenden Intuition des Einzelnen dafür, was recht und was unrecht ist, versteht er die erste Stufe der Selbstgenese, die in dieser Hinsicht in die Genese des sozialen Gewissens des »unparteiischen Zuschauers« einmündet, als den initialen Moment, in dem man noch unbekümmert und daher übermäßig über das Verhalten Anderer urteilt. Auf dieser noch als sozial unvermittelt vorgestellten Unmittelbarkeitsebene zeigt das Individuum keine idiosynkratische Aversion gegen Unrecht, das Dritten geschieht, d. h. die Urszene des moralischen Sinns wird in Smiths Modellszene der Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« nicht im mindesten in Betracht gezogen. Sittlichkeitsfördernd an dieser aktiven Beurteilung Anderer scheint für Smith aber wie für Hegel zu sein, dass sie mit dem Gewahrwerden einhergeht, dass Andere mit einem ebenso verfahren. Dies führt nun zu einer angstinduzierten Veränderung des eigenen Verhaltens, d. h. zur Ausbildung eines die Beurteilung dieser Anderen schon vorab beachtenden Reaktionsvermögens. Die Motivation zur Beachtung der sozialen Tugenden folgt unmittelbar aus der Furcht vor den Folgen von Nicht-Anpassung. Nicht nur ist hier von einem im einzelnen Individuum gelegenen positiven Impuls zur Benevolenz keine Rede, sondern in dieser entscheidenden Passage im dritten Teil auch nicht von einem negativen Impuls zum »resentment« gegenüber einer beobachteten »injury« an einem Dritten. Anders gefasst bekommt die im zweiten Teil von Smith getroffene Aussage, man solle ein »resentment« nur dann fühlen, wenn es »von einem erwartet« wird (s. 4.2.2), hier noch einmal eine schärfere Bedeutung: Nur weil es von einem erwartet wird, internalisiert man es nach diesem Habitualisierungsmuster auch. Der »moralische Sinn« bildet sich aus der reflexiv nach Innen gewendeten »Meinung der Anderen« (op.
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cit.), die man lernt, in die eigene Reaktion antizipativ einzubeziehen. Fremd- und Selbstbeurteilung lösen sich positiv ineinander auf. Das sittliche Handeln speist sich bei Smith aus der Furcht vor den Folgen des negativen Urteils Anderer.74 Es bedarf der bürgerlichen Freiheit dafür nur in dem Sinn, dass das zusammengefasste Urteil »der Anderen« etwas zählen muss, d. h. die »Meinung der Anderen« muss öffentlich ermächtigt sein. Wenn »die Anderen« als Öffentlichkeit gar keine Macht über die Beurteilung eines Individuums haben, die etwa von einer souverän entscheidenden Herrschaftsinstanz abhängt, die diesbezüglich gar keine Mitsprache zulässt, hätte dieses Individuum auch keinen Grund, die Erwartungen dieser Öffentlichkeit im inneren »unparteiischen Zuschauer« zu beachten. Smith geht dennoch nicht von einer im individuellen Empfinden vorhandenen Rechts-/Unrechtsintuition aus. Zugleich lässt sich die kritische Pointe seines Verinnerlichungskonstruktes des »unparteiischen Zuschauers« genau so verstehen, dass durch die erreichte intrapsychische Abgleichung der eigenen Reaktion auf den konkreten Anderen im inneren »Spiegel« der Objektivierung des eingebildeten »unparteiischen Zuschauers« ein »moralischer Sinn« – als »Spiegel« gesellschaftlicher Gerechtigkeit und Fairness – verinnerlicht wird. Aber dieser sittliche »Spiegel« ist kein Bestandteil einer ersten Natur. Er ist auch insofern nicht in dieser Natur angelegt, als eine feindselige Grundhaltung des Individuums gegenüber Anderen im Verlauf dieses Internalisierungsprozesses erst überwunden wird. Dieser Anti-Naturalismus scheint mir eine hintergründige Pointe von Smiths Theorie der ethischen Gefühle zu sein. Die im Nachhinein selten eingeholte Radikalität seiner Argumentation scheint mir darin zu liegen, das moderne Selbst als künstlich bzw. anders ausgedrückt: die freiheitliche Form der Selbstreflexion auf der Basis der eigenen Ansehung durch Andere als gesellschaftlich geworden und insofern nicht als Teil einer ersten menschlichen Natur zu verstehen. Im krassen Kontrast dazu versteht Shaftesbury in The Moralists die Entität des »Selbst« [self ] als repräsentative Natureinheit eines »Great-one of the world«, d. h. als göttliche Ordnung mit ewigen Sittengesetzen, an denen der Mensch nur teilhat (Characteristics Bd. 2, S. 201). Diese monadologisch-kosmologische Anschauungsweise lässt den verzückten Leibniz in Beifallsstürme ausbrechen.75 Smith denkt im Gegensatz dazu radikal modern: Alle sittliche Ordnung ist menschengemacht, insofern sie auf der Verinnerlichung einer zweiten Natur beruht.
Vgl. Fach 2003, S. 44; vgl. Rendall 1987, S. 57. Zit. nach Ziertmann (in: Shaftesbury 1905, Einl. XIV): »J’y ai trouvé d’abord presque toute ma Theodicee, mais plus agréablement tournée, avant qu’elle eut vu le jour.« 74 75
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4.3.2 Der Konventionalismus des unparteiischen Zuschauers Smiths zweite Widerlegung Rousseaus zielt darauf zu bestreiten, dass die Form von sozial vermittelter Selbstliebe, die sich initial aus der Abhängigkeit von der Anerkennung durch Andere speist – und die Rousseau in der Tradition des älteren französischen Moralismus »amour-propre« nennt –, einen keineswegs in Permanenz von diesem Zuspruch Anderer abhängig sein lässt, sondern dies vielmehr eine normative Frage der angemessenen Einrichtung interpersonaler Verhältnisse ist. Dieser Widerlegungsversuch verläuft entlang von Smiths Unterscheidung von »praise« als dem konkreten Lob Anderer und der Verinnerlichung eines Bedürfnisses nach »praiseworthiness« als der Orientierung des sittlich reifen Individuums an der »Lobenswürdigkeit« einer Handlung. Die Entwicklung der Gewissensgenese ist abgeschlossen, wenn die Selbstbeurteilung aus der antizipierten Perspektive Anderer bereits innerlich vollzogen wird, d. h. die Energie, die vorher in die aktive Beurteilung Anderer floß, reaktiv nach innen gewendet und damit die intrapsychische Basis der Ansehung seiner selbst im »Spiegel« des »unparteiischen Zuschauers« ausgebildet ist. Je nachdem, wie stark man noch einmal zwischen den verschiedenen Metaphern, die Smith für diesen inneren »Spiegel« wählt, differenziert, kann man innerhalb dieses inneren Selbstgesprächs noch einmal verschiedene Sprecherpositionen unterscheiden. So beharrt Vivienne Brown darauf, dass Smith den Begriff des »unparteiischen Zuschauers« für eine nochmal spezifische Ansehung seiner selbst aus der sozialen Außenperspektive reserviert, die nicht mit jeder Ansehung seiner selbst aus der Perspektive Anderer identisch ist.76 In der Sekundärliteratur zum »unparteiischen Zuschauer« hat sich jedoch die Position durchgesetzt, diesen Begriff als Smiths Allgemeinbegriff für die nach innen gewendete Selbstbeurteilung aus dem Blick Anderer zu verstehen. Der »unparteiische Zuschauer« repräsentiert eine nicht selbst in den Konflikt, um den es geht, interessenhaft involvierte Perspektive [disinterested], die nach den in der Gesellschaft gegebenen ethischen Maßstäben urteilt. Dazu gehört, dass das in Betracht genommene Individuum durch den »unparteiischen Zuschauer« innerlich als eines von vielen angesehen und so die natürliche Selbstüberschätzung, die mit der Einnahme der Ich-Perspektive einhergeht, schon intrapsychisch korrigiert wird. Als verinnerlichte Gewissensinstanz versucht der »unparteiische Zuschauer« im inneren Dialog mit dem handelnden Ich, das sich im Prozess der moralischen Selbstbeurteilung befindet, diesem seine narzisstische Energie, sich Anderen prinzipiell für überlegen zu halten, gerade abzuziehen und diese Selbsttäuschung intrapsychisch zu korrigieren. Bedenkt man, wie sehr für Hume dieses Überlegenheitsgefühl das subjektive Handeln zunächst bedingt, stellt sich auch aus dieser motivationspsychologischen Perspektive dieser Schachzug Smiths als schwierig dar. Auf dieses Problem, dass Smith im Konstrukt des »unparteiischen Zuschauers« die 76
Vgl. Brown 1994, S. 60 f.
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konstitutive Funktion narzisstischer Überlegenheitsgefühle für die Durchsetzungskraft subjektiven Handelns verkannt hat, werde ich im Schlusskapitel noch eingehen. An der intensiven Kritik, die Smiths Theorie der ethischen Gefühle in der schottischen Aufklärung auslöst, sieht man, dass vielen Zeitgenossen jene den Diskurs um den moralischen Sinn transzendierende Kraft des Smith’schen Entwurfs bewusst ist.77 Die über die Zuschreibung von »Unparteilichkeit« geschehende Behauptung der unbedingten inneren Weisungskraft des »unparteiischen Zuschauers« steht im Missverhältnis dazu, dass eigentlich unklar bleibt, woher dieser innere Zuschauer diese »Unparteilichkeit« sicher bezieht. Ein moralischer Sinn erster Natur scheidet dafür ja aus. Wieso darf der innere »unparteiische Zuschauer« als Fürsprecher angemessener Verhaltensmaßstäbe gelten? Zumindest wenn man sich das konkrete soziale Umfeld des Individuums als »ungerecht« vorstellt, bleibt vollends unklar, woher dieser soziogenetisch entstandene innere Zuschauer »gerechte« Verhaltensmaßstäbe bezogen haben soll. Dennoch schreibt Smith dem »unparteiischen Zuschauer« eine unbedingte Macht über das Handeln des Ichs zu. Im Inneren des Subjekts wird das Handeln des Ichs zur »Wirkung« [effect] der Urteile des unparteiischen Zuschauers, der als intrapsychische »Ursache« [cause] – als alleiniger Ausgangspunkt und Motivationsquelle – zumindest des »gerechten« Handelns auftritt. Was Smith beschreibt, ist eigentlich kein inneres Zwiegespräch, denn das »Ich« hat darin gar nichts zu sagen. Es ist nicht aktiver Teil dieser inneren Deliberation, sondern fungiert im Gegenteil als Objekt, dessen »Verhalten geprüft und beurteilt wird« aus der reaktiven Position des »Richters« heraus, der »den Handelnden« durchgängig im Inneren wie von Außen betrachtet und sein Verhalten lenkt: »Wenn ich mich bemühe, mein eigenes Verhalten zu prüfen, wenn ich mich bemühe, über dasselbe ein Urteil zu fällen und es entweder zu billigen oder zu verurteilen, dann teile ich mich offenbar in allen diesen Fällen gleichsam in zwei Personen. Es ist einleuchtend, dass ich, der Prüfer und Richter, eine Rolle spiele, die verschieden ist von jenem anderen Ich, nämlich von der Person, deren Verhalten geprüft und beurteilt wird. Die erste Person ist der Zuschauer, dessen Empfindungen in bezug auf mein Verhalten ich nachzufühlen trachte, indem ich mich an seine Stelle versetze und überlege, wie dieses Verhalten mir wohl erscheinen würde, wenn ich es von diesem eigentümlichen Gesichtspunkt aus betrachte. Die zweite Person ist der Handelnde, die Person, die ich im eigentlichen Sinne mein Ich nennen kann, und über deren Verhalten ich mir – in der Rolle des Zuschauers – eine Meinung zu bilden suche. Die erste ist der Richter, die zweite die Person, über die gerichtet wird. Dass jedoch der Richter in jeder Beziehung mit demjenigen, über den gerichtet wird, identisch sein sollte, das ist ebenso unmöglich, wie dass die Ursache in jeder Beziehung mit der Wirkung identisch wäre« (TMS 3.1, S. 181 f., Hervorh. i. Orig.).
Dieses eindeutige Verhältnis zwischen den beiden Positionen des inneren »Dialogs«, zwischen dem allwissenden »Richter«, der aus der Außenperspektive der Gesellschaft spricht, und »der Person, die ich im eigentlichen Sinne mein Ich nennen kann« [person whom I can properly call myself ], steht in einem krassen Missver77
Vgl. Reeder 1997, s. Fn. 2.
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hältnis zum Konventionalismus dieser »richterlichen« Perspektive, die ihre Legitimität allein daraus zieht, diese Außenperspektive der Gesellschaft zu sein. Obwohl Smith im logischen Aufbau seines Arguments dem »unparteiischen Zuschauer« deshalb unbedingte Weisungsmacht über das Handeln des Ichs zuspricht, weil er zuvor gezeigt hat, dass sich dieses Ich über den sittlichen Wert seines eigenen Handelns permanent täuscht, scheint er dennoch der bürgerlichen Öffentlichkeit als im »unparteiischen Zuschauer« zusammengefasster Perspektive »der Anderen« ein vor diesem Hintergrund der Unverlässlichkeit subjektiver Kritik naiv erscheinendes Vertrauen entgegen zu bringen. Vollkommen zu Recht verfällt sein Modell des »unparteiischen Zuschauers« in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts in England und Schottland daher einer scharfen Konventionalismuskritik.78 Der »unparteiische Zuschauer« ist, so wie er von Smith konstruiert wird, die Durchschnittsperspektive in einer nach sozialen Tugenden organisierten Gesellschaft. Als soziale Gewissensinstanz ist »er« der innere Repräsentant gesellschaftlicher Werte – das Imago eines Menschen mit »common sense« oder »gesundem Menschenverstand« – dem Smith stellvertretend öffentlich-sittliche Urteilskraft zuspricht. Die Konstruktion eines sozialen ÜberIchs, das seine moralische Urteilskraft allein aus der Sittlichkeit des jeweils kontingenten sozialen Umfelds des Ichs bezieht, ist auch ein Anstoßpunkt der rationalistischen Auseinandersetzung mit Smith. Frazer zeigt etwa anschaulich, wie John Rawls den »unparteiischen Zuschauer« fälschlich im Sinn eines allwissenden »ideal observer« interpretiert und damit genau das Problem, das die soziale Genese des »unparteiischen Zuschauers« darstellt – nämlich wo die verlässliche Objektivität seiner Urteilskraft »sozial« herrühren soll –, ausblendet.79 Versteht man die Verinnerlichung der sozialen Außenperspektive auf sich selbst auf die Art und Weise, in der sich Smith diese vorstellt, internalisiert man nicht die Außenperspektive eines beliebigen Anderen, sondern eine objektivierte Außenperspektive seiner zusammengefassten Erfahrungen mit »den Anderen«. Ein spezifisches Problem dieser Vorstellung von Ich-Ideal-Bildung ist, dass sie sich damit schon am gesellschaftlichen Durchschnitt bemisst. Darin, dass er keine über die verinnerlichte Norm hinausgehende Normativität mehr denken kann, zeigt sich bei Smith in einer frühen und aufschlussreichen Variante das spezifische Problem der modernen Sittlichkeitsvorstellung, die ihrer metaphysischen Verankerung be-
Den Beginn dieser Kritik bildet der verloren gegangene Brief von Gilbert Elliot vom September 1759, dessen Inhalt aber aus Smiths Antwort rekonstruierbar ist; vgl. Corr. 40, S. 48 – 57, s. auch die dortige Fußnote von Raphael; s. Fn. 2. 79 »The impossible being that Rawls describes actually bears much more resemblance to Firth’s ›ideal observer‹ than to Smith’s ›impartial spectator.‹ Like Firth’s ideal observer, Rawls’s impartial spectator is omniscient (with full knowledge of both all things past and all things future), ›omnipercipient‹ (with perfect powers of imagination), perfectly disinterested, perfectly rational, and (now for the punch line) ›in other respects . . . normal.‹«; Frazer, S. 95. 78
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raubt ist.80 Das starke Interesse, das Smith an der Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers« nimmt, ist selbst Ausdruck dieses Problems. Im »unparteiischen Zuschauer« sollen sich Ideal und Norm auf eine Art und Weise verbinden, die die Tugendhaftigkeit des Individuums sichert. Doch wie soll das möglich sein, wenn dieser innere Beobachter nur das verinnerlichte Werturteil Anderer ist? Man denke hier noch einmal an das im ersten Teil des Kapitels erläuterte Beispiel des bewusst Mitleid provozierenden Bettlers: Darin, dass er bewusst die bürgerliche Mitfühlsamkeit ausnutzt, zeigt dieser halb der Gesellschaft Außenstehende, dass er sich deren Interaktionsregeln zwar äußerlich angeeignet hat, doch innerlich nicht nach diesen Regeln agiert, d. h. die bürgerlichen Sitten nur scheinbar befolgt. Denn sein Wissen darum, dass Andere sich permanent in ihn hineinversetzen, sollte seine Selbstbeherrschung ja auf eine Art und Weise tragen, die stoische Zurückhaltung lehrt. Die Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers« dient genau dazu, die bürgerlichen Sitten so abzusichern, dass eine bloß äußere Befolgung dieser Sitten, ohne an deren Richtigkeit innerlich auch zu glauben, verunmöglicht werden soll. Man könnte sagen, dass die oben beschriebenen Bettler die Gesetzmäßigkeiten bürgerlicher Interaktion habituell zwar beherrschen, doch sie gezielt zur sozialen Manipulation verwenden. Dies wäre unmöglich, wenn sie einen »unparteiischen Zuschauer« internalisiert hätten, der ihnen dafür ein zu schlechtes Gewissen machen würde. Was der Bettler demnach hier symbolisiert, ist der vor dem Hintergrund der Modellierung eines Systems sozialer Kontrolle äußerst beunruhigende Zwischenzustand, halb in den Umgangsformen der Gesellschaft verankert zu sein und halb außerhalb dieser zu stehen. Smith argumentiert so, dass der wahrhaft tugendhafte Bürger keine »love of praise« verinnerlicht, sondern eine »love of praiseworthiness«, indem er das Urteil des inneren »unparteiischen Zuschauers« über das Urteil des konkreten Anderen zu stellen in der Lage ist. Dieses erweiterte Verinnerlichungsniveau verschafft den »moralischen Gefühlen« ihre bis dahin fehlende Stabilität. Gegenüber Rousseau kann Smith nun einwenden, dass der idealtypische Bürger keineswegs permanent im Urteilsbildungsprozess durch seine Abhängigkeit von der Reaktion Anderer außer sich steht, sondern im Gegenteil durch seinen »unparteiischen Zuschauer« feDen langen diesbezüglichen Streit in der Smith-Exegese übergehe ich an dieser Stelle. Viner 1962 argumentiert brillant dafür, bei Smith bleibe Gott notwendiger Bezugspunkt sozialer Ordnung. Dagegen steht als wohl einflussreichste Interpretation diejenige von Dunn 1983. Fleischacker 2005, S. 104 (Fn.) stellt Smith diesbezüglich noch in die Tradition des Deismus: »Die Tatsache, dass wir diese Regeln selbst festlegen, dass wir sie uns selbst vorschreiben, hindert uns nicht daran, sie als göttliche Gesetze anzusehen: wenn unsere moralischen Gefühle Gottes Stellvertreter in uns sind, dann ist es durchaus vernünftig, die Regeln, zu denen sie uns hinleiten, ganz einfach als eine Weise zu begreifen, in der sich Gott uns offenbart.«; meine Argumentation in 4.3.1 widerspricht dieser Einschätzung insofern, als mir die Pointe der Smith’schen Internalisierung des unparteiischen Zuschauers zu sein scheint, dass sich in der menschlichen Natur von sich aus gerade kein angemessener Sittlichkeitsmaßstab finden lässt. Wie dem auch sei, wird Gott hier primär zu einem Stabilisierungsfaktor sozialer Ordnung, wie auch D. Den Uyl in seiner Rezension von Fonna Formans Circles of Sympathy herausstreicht; vgl. Den Uyl 2014, S. 281. 80
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sten inneren Halt findet. Denn als innerer Betrachter kann dieser zwischen »Lob« und »Lobenswürdigkeit« unterscheiden und billigt nur Letztere. Smith zielt auf die Aussage, dass das einzelne Individuum in der Verinnerlichung der zusammengefassten Erwartungen Anderer verlässliche Verhaltensmaßstäbe verinnerlicht, die ihn in der jeweiligen Situation vom Negativurteil bestimmter Anderer unabhängig machen. Dies verschafft ihm daher vor dem unbegründeten »Tadel« auch Schutz. In der zuvor bereits zitierten Schlüsselpassage zu Beginn des dritten Teils, in der Smith, vom Beispiel der Betrachtung des eigenen Körpers im Wandspiegel ausgehend, dann erläutert, wie sich die antizipierte Kritik der Anderen allmählich in eine innere Stimme der Selbstkritik verwandelt, fährt er wie folgt fort: »Wir stellen uns uns selbst als die Zuschauer unseres eigenen Verhaltens vor und trachten nun, uns auszudenken, welche Wirkung es in diesem Lichte auf uns machen würde. Dies ist der einzige Spiegel, der es uns ermöglicht, die Schicklichkeit unseres eigenen Verhaltens einigermaßen mit den Augen anderer Leute zu untersuchen. Wenn es uns bei dieser Untersuchung gefällt, dann sind wir leidlich zufriedengestellt. Wir können dann dem Beifall gegenüber gleichgültiger sein und bis zu einem gewissen Grad auch den Tadel der Welt gering schätzen; denn wir sind sicher, dass wir – mag man uns noch so sehr missverstehen und unser Verhalten missdeuten – von Rechts wegen Billigung verdienen. Umgekehrt sind wir, wenn wir an der Richtigkeit unseres Verhaltens zweifeln, gerade ängstlicher darauf bedacht, ihre Billigung zu gewinnen, und, vorausgesetzt, dass wir noch nicht mit der Schande auf du und du sind, wie man sich auszudrücken pflegt, so quält uns dann besonders der Gedanke an den Tadel der Welt, der uns nun mit doppelter Strenge trifft« (TMS 3.1, S. 180 f., Hervorh. hinzugef.).
Bereits zuvor in Bezug auf sein Beispiel der körperlichen Selbstbetrachtung im Wandspiegel trifft Smith eine weitere Unterscheidung: eine Person, die selbst relativ zufrieden mit ihrem eigenen Äußeren ist, wird die Selbstbetrachtung im Spiegel mehr befriedigen und daher vor dem Urteil Anderer antizipativ auch schützen. Denn da man sich aufgrund der eigenen Erfahrungen sicher ist, vergleichsweise »schön« zu sein, wird ein diesbezügliches Negativurteil Anderer einen nicht zwingend so stark schwächen, wie es zu erwarten wäre, wenn man von jeder einem begegnenden Beurteilung gleich abhängig wäre. Schwieriger liegt dieser Fall allerdings dann, wenn man sich selbst aufgrund der vorherig gemachten Außenwelterfahrungen »hässlich« findet. Wie Smith dabei anmerkt, wird in diesem Fall die entsprechende Äußerung Anderer auch von einem selbst als verletzender empfunden werden, als wenn man sich selbst für »schön« hält. Dies lässt sich nun wiederum auf das moralische Selbsturteil projizieren. Ist man sich selbst sicher, angemessen gehandelt zu haben, wird einem das negative Urteil Anderer selbst unberechtigt erscheinen und einen daher auch nicht zwingend innerlich treffen. Wenn man andererseits bereits vor diesem realen Urteil selbst an der Sittsamkeit seines Verhaltens zweifelt, wird man gegenüber Anderen viel bemühter darum sein, ein entsprechend positives Urteil zu erlangen, weil man auf dieses Urteil für das eigene Selbstwertempfinden auch stärker angewiesen ist. Hier zeigt sich erneut die Verflachung der Verhaltensanalyse in der britischen Moralphilosophie im Verhältnis zum älteren französischen Moralismus der »honnêteté«. Bei
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Larochefoucauld wäre es genau umgekehrt so, dass derjenige, der betont gleichgültig gegenüber dem Urteil der Anderen über die Sittlichkeit seines Verhaltens auftritt, dadurch seine Unsicherheit verbergen möchte, insofern er auf den von Smith beschriebenen psychosozialen Effekt, selbstsicher zu erscheinen, spekuliert. Der psychologisch gewandte Aristokrat der alten französischen Schule hat dem mittelständisch-bürgerlichen Adressaten der Theorie der ethischen Gefühle doch noch ein paar habituelle Kniffs voraus. Was ein Bettler, der in eine vorbeifahrende Kutsche flehend »My Lord!« hineinruft, sich zunutze macht, ist die Fixiertheit des Selbstwertgefühls des Bürgers darauf, wie er Anderen erscheint: Es wird demjenigen, der in der Kutsche sitzt, u. U. gefallen, fälschlich für einen »Lord« gehalten zu werden, und zur Aufrechterhaltung der Illusion wird diese Person dann ein Geldstück aus der Kutsche hinauswerfen. Ein Bürger, der sich seines eigenen Selbstwertes innerlich sicher ist, wird auf eine solche schmeichlerische Verhaltensmanipulation in diesem Sinn weniger bereitwillig eingehen. Andererseits wird derjenige, der nicht anders kann, als auf diese Schmeichelei einzugehen, dadurch indirekt gedemütigt, dass er vorgeführt bekommt, dass das eigene Selbstwertgefühl auf solche Heucheleien verwiesen bleibt. Gerade die Anrufung als »Lord« offenbart daher dem Narzissten, der auf sie anspringt, seine eigentliche soziale Abhängigkeit und kränkt ihn im Nachhinein, insofern sie nur für den Moment funktioniert. Was Smith zeigen möchte, ist, dass der »unparteiische Zuschauer« den Bürger vom realen Lob Anderer oft unabhängig macht, weil dieser innerlich die gerechte Beurteilung des Individuums repräsentiert. Das äußere Lob befriedigt schließlich nur dann, wenn es mit diesem inneren Urteil übereinstimmt. Es ist aber unbedingt zu unterstreichen – und damit der Konventionalismuskritik am »unparteiischen Zuschauer« recht zu geben –, dass dieses innere Urteil als solches für Smith nur wirksam ist, wenn es die gesamtgesellschaftlich »wahrscheinliche« (sic!) Perspektivnahme auf das Verhalten des Ichs repräsentiert: »Wir müssen uns bemühen, [unseren Charakter und unsere Verhaltensweisen] mit den Augen anderer Leute zu betrachten, das heißt, so, wie andere Leute sie wahrscheinlich betrachten würden. Wenn sie, in diesem Lichte gesehen, uns noch so erscheinen, wie wir es wünschen, dann sind wir glücklich und zufrieden. Aber es stärkt unsere Glückseligkeit und Zufriedenheit noch ungemein, wenn wir finden, dass andere Leute, die unseren Charakter und unser Verhalten doch wirklich mit den Augen sehen, mit denen wir nur in der Phantasie sie zu sehen trachten, sie nun genau in dem gleichen Licht erblicken, in dem auch wir sie erblickt hatten« (TMS 3.2.2, S. 183, Hervorh. hinzugef.).
Es tritt zu dem inneren Urteil aus der ideal-imaginären Perspektive der Anderen das konkret-reale Lob Anderer in Smiths Vorstellung nur noch hinzu, und der Einzelne fühlt durch dieses Hinzutreten dann noch einmal eine andere Qualität von Glücksempfindung, die darin liegt, dass Andere ihn »genau in dem gleichen Licht erblicken«. Wenn man umgekehrt von der Illegitimität eines Lobs weiß, verschafft einem das reale Lob dann keine Befriedigung mehr: »Das aufrichtige Lob kann uns
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nur wenig Freude bereiten, wenn es nicht als irgendeine Art von Beweis für unsere Lobenswürdigkeit betrachtet werden kann.«81 Doch muss festgehalten werden, dass die Erwartung des Bürgers empirisch verifizierbar sein muss, d. h. weil er die gerechte Beurteilung seines Verhaltens für faktisch »wahrscheinlich« hält, kann er mit einer temporär ungerechten Beurteilung umgehen. Würde dagegen diese Einschätzung einer in der Gesellschaft real zu erwartenden Gerechtigkeit, wie bei Rousseau der Fall, schwinden, würde auch der Smith’sche Bürger sie qua »unparteiischem Zuschauer« nicht mehr erwarten können. Die reale »Hoffnung« auf ein gerechtes Urteil bleibt auch hier motivationsbestimmend. Sie hat nur einen größeren Erwartungsspielraum. Dennoch ist das Argument von Smith interessant, und es ist genuin liberal, indem es mit einer Art von Spielraum argumentiert: Es wird zugestanden, dass nicht immer alles gerecht zugeht, aber die Ungerechtigkeit lässt sich in ein Spannungsfeld übersetzen, innerhalb dessen der Zuversichtsverlust und der Groll über deren Erleiden nicht zu groß werden darf. Der Bürger muss Gerechtigkeit erwarten dürfen, und dieses Versprechen repräsentiert im Inneren der »unparteiische Zuschauer«.
4.3.3 Feministischer Exkurs: Das Bild der Frau als männliche Projektion Smith verschiebt Rousseaus Kritik am außer sich stehenden Sozialcharakter, der sich nur im Beifall der Anderen selbst gefällt, in der Theorie der ethischen Gefühle auf das Negativbeispiel der Frau. Deren Sozialverhalten ist gekennzeichnet durch die ununterbrochene reaktive Anpassung an die Erwartungen Anderer. Sie ist stets in »anxiety« um das Urteil der Anderen bemüht. Vom Urteil der Anderen sind Frauen damals tatsächlich noch stärker abhängig als Männer: Ist ihr »guter Ruf« einmal verloren, ist diese »Schande« [disgrace] nicht wieder ablegbar. Nicht nötig zu erwähnen, wie diese Reputation verloren wird. Wollstonecraft kritisiert, dass Männer sie anders als Frauen durch tugendhaftes Verhalten in der Zukunft zurückgewinnen können und ohnehin nicht so sehr unter dem Verlust ihrer »Keuschheit« [chastity] zu leiden haben, während dies für eine Frau das Ende ihrer gesellschaftlichen Existenz im Sinne des Auftretenkönnens in der bürgerlichen Öffentlichkeit bedeutet. Die von Wollstonecraft in ihrer Vindication of the Rights of Woman gestellte Forderung, auch Frauen sollten dazu in der Lage sein, wie Männer ihre gesellschaftliche Reputation zurückgewinnen zu können, ist ein gutes Beispiel für eine radikalreformerische Forderung, deren vorgestellte Verwirklichung das diskursive Bezugssystem, in dem sie gestellt wird, sprengt. Durch die feministische Drehung, die Wollstonecraft der Interaktionstheorie von Smith gibt, wird deutlich, wie die Vorurteile bezüglich einer minderwertigen Natur der Frau Produkt männlicher Projektion sind. Frauen sollen angeblich von Natur aus oberflächlicher als Männer sein und mehr Wert auf ihr äußeres Erschei81
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nen legen, aber ihre bürgerlich-gesellschaftliche Existenz ist auch auf einen solchen ornamentalen Charakter des hübschen Beiwerks eines Mannes beschränkt. Anders ausgedrückt wird der Frau ein Hang zur verstärkten Achtung auf ihr äußeres Erscheinungsbild zugeschrieben, worin ihre soziale Rolle eine naturalisierende Bestätigung erfährt. Umgekehrt wird die mannhafte Frau stigmatisiert.82 Auf ihr Erscheinen zu achten ist es, was sich für die Frau aufgrund ihres festen Platzes in einer natürlichen Ordnung schickt. Wollstonecraft muss Smiths Interaktionstheorie nur konsequenter verwenden als dieser selbst, um die ideologische Verkehrung in dieser Argumentation sichtbar zu machen: Die Frau unterwirft sich der männlichen Erwartung an sie selbst, um sich in dieser Gesellschaftsformation selbst erhalten zu können. Auch wenn Smiths Argumentation in der Theorie der ethischen Gefühle misogyne Züge erkennen lässt, insofern er das Geschlechterverhältnis dazu nutzt, dem weiblichen Charakter die prekären Eigenschaften zuzuschreiben, die das Produkt einer zu starken Abhängigkeit von der Bestätigung Anderer darstellen, ist ihm doch klar, dass die gesellschaftliche Ordnung, die er beschreibt, aus der Unterdrückung von Frauen durch Männer hervorgegangen ist, wie folgende glasklare Feststellung in seinen Lectures on jurisprudence zeigt: »The laws of most countries being made by men generally are very severe on the women, who can have no remedy for this oppression.«83 Wie auch bei anderen über die Gesellschaft schreibenden Autoren der Zeit sichtbar, lassen bei Smith seine ambivalent bleibenden Aussagen über die Natürlichkeit des Geschlechterverhältnisses bestimmte strukturelle Herrschaftskritiken erkennen, die über den offiziellen ideologischen Rahmen hinausweisen, innerhalb dessen die Gesamttheorie – als Evidentmachung einer bestimmten menschlichen Natur – operiert. Gemeint ist damit, dass das Geschlechterverhältnis ein anschauliches Beispiel für die Verinnerlichungspotentiale einer zweiten Natur liefert, wenn man es nicht mehr unproblematisch als erste Natur versteht. Dies mag ein ideologietheoretischer Grund dafür sein, warum sich Soziologien des Geschlechterverhältnisses in dieser Zeit zunehmender Beliebtheit erfreuen.84 Was Smith angeht, könnte man aber fast so weit gehen, zu behaupten, dass gerade weil Smith kaum mehr verdeckt die soziale Natur als zweite Natur versteht, er stärker als andere Autoren der Zeit, die im Hinblick auf die Natürlichkeit des Geschlechterverhältnisses kritischer sind als in Bezug auf die unproblematische Voraussetzung einer menschlichen Natur an sich, es sich bei Smith nahezu umgekehrt verhält und man zuweilen den Eindruck gewinnt, dass er zumindest noch, was das Verhältnis der beiden Geschlechter angeht, einem Naturalisierungsdrang nachgibt. Die frühliberale Entdämonisierung und Profanisierung von »love of praise« hat bei Locke und Hume (allerdings nicht bei Shaftesbury85) auch ein positiveres Frau82 83 84 85
Vgl. Barker-Benfield 1992, S. 351 – 359. Smith 1978a, S. 146; vgl. Rendall, S. 64. Vgl. Barker-Benfield, ebd. Vgl. Billig 2008, S. 75.
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enbild der beiden Philosophen zur Folge. Sieht man von vereinzelten jovialen Äußerungen Humes einmal ab, lässt sich dessen Sentimentalismus mit einiger Berechtigung ein feministisches Potential zuschreiben.86 Und anhand der drei Kriterien, die Benhabib für eine typisch »männliche« Philosophie der Moderne identifiziert, nämlich erstens ein rationalistischer Universalismus in der ethischen Regelfindung, zweitens die damit zusammenhängende Abstraktion von spezifischen Lebensweltkontexten und drittens die Reduktion des Subjekts auf ein Verstandeswesen, gilt diese Aufwertung der »weiblichen« Perspektive auch noch für die Theorie der ethischen Gefühle von Smith. Wie inzwischen ersichtlich geworden ist, scheut Smith zu schnelle abstrakte Verallgemeinerungen zugunsten ausgedehnter empirischer Einzelfallbetrachtungen; zudem betrachtet er das Individuum als immer schon eingebettet in einen sozialen/sympathetischen Kontext und nicht zuletzt als ein körperliches und fühlendes Wesen, das durch seine »Gefühle« [sentiments] geleitet ist.87 Aber diese »unmännlichen« Züge seiner Moralphilosophie sind bei ihm gepaart mit einer auffällig platten Misogynie. Es ist, als würde er im Zerrbild »der Frau« – in der Besprechung eines typisch weiblichen Charakters – alle Negativpunkte, die er am sentimentalistischen Subjektverständnis hat, besonders deutlich machen wollen. Aufgrund bestimmter Schwächen ihrer Charakterstruktur können Frauen schwieriger sittlich handeln. Da Frauen zu stark affiziert sind vom realen Lob, bilden sie die Selbstgenügsamkeit, die der »unparteiische Zuschauer« verbürgt, gar nicht oder nur fehlerhaft aus. Denn sie fragen sich nicht, wie ihr Verhalten Anderen erscheinen müsste, wenn diese Anderen über ihre Situation angemessen informiert wären, sondern beruhigen sich vermeintlich damit, wie es diesen Anderen tatsächlich erscheint, unabhängig davon, wie es ein »unparteiischer Zuschauer« – im Inneren – sehen würde (vgl. TMS 3.2, S. 184 f.). Auch hier wählt Smith ein bemerkenswert naives Beispiel aus dem Bereich der Körperlichkeit. Frauen vermeiden das Zeigen ihrer echten Hautfarbe, indem ihr Hang zur »Oberflächlichkeit« sie dazu bringt, sich gerne zu »schminken« (ebd.). Frauen freuen sich nach Smith damit für das Lob einer Hautfarbe, von der sie eigentlich wissen, sie nicht zu besitzen. Man sollte auf diese spürbar selbst oberflächlichen Invektiven gegen Frauen, die zu sehr auf Äußeres achten, bei Smith nicht zu viel geben. Hier mag verletzte Eitelkeit im Spiel sein. Aus dem einleitend zitierten Brief von Marie-Jeanne Riccoboni wissen wir ja, dass Smith selbst nach gängigem Schönheitsideal schlecht ausgesehen hat. Was Riccoboni allerdings nicht davon abhielt, einen – wie Neven Leddy es ausdrückt – »schoolgirl crush« auf Smith gehabt zu haben.88 Doch die spürbare Bewunderung für weibliche Eleganz und Anmut, die den Charakterisierungen von Frauen bei Locke und Hume oft eignet, wird hier wieder in ihr Gegenteil verkehrt: Frauen sind »superficial«. Faktisch äußern Hume und 86 87 88
Vgl. Baier 1993, S. 105 f. Vgl. Benhabib 1986, S. 405. Vgl. Leddy 2014, S. 11.
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Locke zumindest in Bezug auf deren Gewandtheit häufig ähnliche Vorurteile gegenüber Frauen, aber sie werten diese moralphilosophisch anders, weil sie dem Habitus eine die Sittlichkeit fördernde Bedeutung zusprechen. Bei Smith dagegen kehrt sich die vorherige sentimentalistische Aufwertung des Äußeren wieder um: Indem Frauen reale »praise« zu stark begehren, vergeben sie sich das wahre Streben nach »praiseworthiness«. Sie heften ihr Selbstwertgefühl zu stark an den realen Zuspruch Anderer, von dem sie so vollkommen abhängig werden. Dies ist genau das, was bei Rousseau der Tendenz nach alle Bürger tun, worin sie ihre Befähigung zu einem selbstbestimmten Handeln preisgeben. Auch bei Männern hängt dies für Rousseau mit einem übermäßigen Achten auf die eigene sexuelle Anziehungskraft zusammen. Der eigentliche Buhmann ist hier insofern der Sexus.89 Smiths Interaktionstheorie hat mehr Kritikpotential, als er selbst aus ihr herausholt: Die Ambivalenz, die in der Schilderung des natürlichen Charakters der Frau bei Smith und Rousseau liegt, besteht darin, dass dieser Charakter auch schon in den Schilderungen dieser beiden Autoren aus der sozialen Funktion erwächst, welche die Gesellschaft den Frauen zuschreibt. Es geht hier in diesem Sinn um die naturgeschichtliche Frage, ob diese gesellschaftliche Position eine Folge der ersten Natur von Frauen ist oder deren zweite Natur erst geprägt hat. Man kommt in den evolutionstheoretischen Bereich der Spekulation darüber, ob ihre Gebärfähigkeit Frauen zum naturgeschichtlichen Verhängnis wird, weil sie diese in der geschlechtlichen Arbeitsteilung in eine Reproduktionsfunktion hineindrängt.90 Außerdem lässt sich an Smiths Kritik am »Sentimentalismus der Frau« ablesen, was er am sentimentalistischen Tugendverständnis generell kritisiert. Anhand seiner Gegenüberstellung einer sentimentalen weiblichen Veranlagung einer selbstbeherrschten männlichen Veranlagung im vierten Teil der Theorie der ethischen Gefühle (zit. i. folg.), wird deutlich, dass er vor allem das unmittelbare Mitgefühl mit Anderen – Shaftesburys »social affection« und Humes »direct compassion« – als moralisches Leitgefühl ablehnt. Dass Smith im Spiegel des Geschlechterverhältnis dem unmittelbar-konkreten Mitgefühl mit dem beobachteten Leid Anderer dabei nicht wie im zweiten Teil der Theorie der ethischen Gefühle ein »höheres Mitleid, welches alle Menschen umfasst«, die rechtschaffen sind, d. h. ein Mitleid zweiter Ordnung mit dem sozialen Gesamtkörper als Zusammenschluss der Gerechten gegenüberstellt, sondern die (mannhafte) subjektive Selbstüberwindung in ihrer schwierigsten Form als Gleichgültigkeit gegen die eigene Wünsche, zeigt m. E. auch, dass das Mitleid zweiter Ordnung von Smith als surrogatives Gegengefühl – countervailing passion – für sentimentale Charaktertypen konzipiert ist, die zu schnell zu Mitleid neigen. In der Tugendhierachie höher steht aber die Beherrschung des Affekts als dessen für Andere nicht mehr sichtbare Unterdrückung: »edelmütige« Selbstüberwindung als bewusste Gleichgültigkeit gegen sich selbst. Aber dies bedeutet eigentlich, dass ein mannhafter Charakter, der zu diesem »Edelmut« [generositiy/magn89 90
Vgl. Dent u. O’Hagan 1999, S. 94. Rousseaus Frauenbild diskutiert neben Wollstonecraft ausführlich Lange 2002.
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animity] fähig ist (zit. i. folg.), auch kein Mitleid zweiter Ordnung benötigt, um gleichgültig gegenüber dem Missetäter zu bleiben. Dies müsste für einen so selbstbeherrschten Charaktertyp im Gegenteil eine leichte Übung sein. Den Beginn unser Untersuchung markiert Lockes Einsicht in eine weitgehende Formbarkeit des Sozialcharakters: Das Individuum wird von Locke verstanden als tabula rasa (vgl. 1.1). Mit dieser sozialwissenschaftlichen Annahme ist die Hoffnung auf eine habituelle Verfestigung von »social virtues« verknüpft: Obwohl für Locke durch seine ursprüngliche Veranlagung zu bösartigen Handlungen neigend, ist dem »Menschen« die Disposition zu Friedfertigkeit und Güte »sozial« anerziehbar. Wollstonecraft nimmt in dieser Hinsicht das sozialwissenschaftliche Denkmoment an diesem Menschenbild einfach nur ernst. Sie nimmt es ernster als es die frühen Liberalen selbst nehmen, und wendet es konsequent auf das Geschlechterverhältnis an: Auch wenn Frauen aufgrund ihrer gesellschaftlichen Position, so wie sie derzeit ist (bzw. damals war), häufig tatsächlich in eine bestimmte Verhaltensform heuchlerischer Verlogenheit gedrängt werden, insofern dies die einzige Art und Weise ist, wie sie sozial machtvoll agieren können, sagt das nichts über ihre natürliche Charakteranlage aus. Im Gegenteil zeigt genau die Abhängigkeit der Charaktergenese von der sozialen Lebenslage das genauso tugendhafte Potential von Frauen gegenüber Männern. Als dem Mann gleichgestellte, wäre die Frau auch zur gleichen Aneignung von Tugendhaftigkeit fähig.91 Auch wenn Wollstonecraft auf der sozialwissenschaftlichen Linie dabei ganz im Sinne von Locke argumentiert, ändert sie doch unter der Hand dessen soziales Tugendideal durch die scharfe Kritik an der (sozial angeeigneten) Disposition des geselligen Charakters zu Heuchelei und Verlogenheit im Namen von Höflichkeit. Wie zuvor bereits angemerkt, setzt Lockes Apologie der Heuchelei ihn in scharfen Gegensatz zum republikanischen Tugendideal des redlichen, d. h. sittenhaft und trotzdem autonom denkenden Bürgers. Smiths »love of praiseworthiness« geht stärker in die Richtung dieser Redlichkeit, wobei der »unparteiische Zuschauer« m. E. aber das Kriterium der Unabhängigkeit von der gesellschaftlichen Konvention, das zur republikanischen Freiheitsidee gehört, nicht erfüllt. Wollstonecraft argumentiert dennoch zunächst auf der Linie von Smith, dass die Verbreitung sozialer Tugenden für die Stabilität einer Gesellschaft, in der Freiheit herrscht, notwendig ist. Sie zitiert Smith in Bezug auf diese Bedeutung sozialer Tugendhaftigkeit für die Stabilität der Gesellschaft zustimmend. Auch für Wollstonecraft sind Frauen empirisch anfälliger dafür, sich zu sehr vom Lob Anderer abhängig zu machen. Doch dieses Charakterdefizit erscheint nur als natürlich. Welche erste Natur der Frau soll darin noch zum Ausdruck kommen, wenn einmal der Vgl. ex. Wollstonecraft 1995 (1792), S. 135 f.: »In fact, from the education, which they receive from society, the love of pleasure must be said to govern them all; but does this prove that there is a sex in souls? It would be just as rational to declare that the courtiers in France, when a destructive system of despotism had formed their character, were not man, because liberty, virtue and humanity, were sacrificed to pleasure and vanity.« 91
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soziale Zusammenhang von äußerer Prägung und innerlicher Anpassung analytisch durchdrungen ist? Anders ausgedrückt treibt Wollstonecraft Smiths »Bild der Frau« über sich selbst hinaus. Sie geht dabei ähnlich rhetorisch geschickt vor wie Smith, indem sie zeigt, wie dieser den identischen Sozialcharakter einem zu behüteten Adligen, der nie ins bürgerliche Handgemenge wirklich eingreifen muss, zuschreibt, wie Smith ihn auch »der Frau« zuschreibt. Beide leiden als Sozialcharaktere darunter, sich zu stark in ihrer Passivität zu gefallen, wodurch sowohl das Selbstwertempfinden des typischen Adligen als auch das der Frau sich zu sehr von der – heuchlerischen und verlogenen – Bewunderung Anderer abhängig macht. Wollstonecraft zitiert an zentraler Stelle, wo es ihr zuvor um die gesellschaftliche Prägung des vorgeblich natürlichen Charakters der Frau geht, eine Stelle von Smith, an der dieser eine Charakterisierung der verderblichen charakterlichen Folgen des »Reichtums« vornimmt. Wollstonecraft lässt den Leser einen kurzen Moment lang in dem Glauben, es ginge hier um eine Charakterisierung der Frau, um dann auf ihren Punkt zu kommen, dass dieser Charakter aus der sozialen Lage des Trägers erwächst: »Beachtet, bedient und mit Sympathie, Gefälligkeit und Lob bemerkt zu werden, das sind alle Vorteile, die sie suchen.« Richtig! Werden meine männlichen Leser wahrscheinlich rufen; aber bevor sie irgendwelche Schlussfolgerungen ziehen, lasst sie sich daran erinnern, dass das ursprünglich nicht als Beschreibung der Frauen, sondern der Reichen niedergeschrieben wurde. In Dr. Smiths Theorie der moralischen Gefühle habe ich eine allgemeine Wesensbeschreibung von Menschen mit Rang und Vermögen gefunden, die man meiner Meinung nach auch höchst passend auf das weibliche Geschlecht anwenden könnte. […] Um ein Argument zu bekräftigen, auf dem ich meine bestehen zu müssen, weil es am schlüssigsten gegen einen geschlechtsspezifischen Charakter spricht, muss man mir hier erlauben, einen Abschnitt zu zitieren. Denn wenn aus dem Adel, außer Kriegern, niemals große Männer irgendwelcher Art hervorgegangen sind, darf man dann nicht fairerweise schließen, dass ihre Ortsgebundenheit den Mann verschwinden ließ und einen Charakter produzierte, der dem der Frauen ähnlich ist; der Frauen, die ebenfalls ortsgebunden [localized] sind, wenn mir das Wort erlaubt ist, durch den Rang, in den sie durch die Höflichkeit gestellt sind? Frauen, gemeinhin als Damen bezeichnet, soll man in Gesellschaft nicht widersprechen, dürfen keine körperliche Stärke zeigen. Und wenn irgendwelche Tugenden erwartet werden, erwartet man von ihnen nur negative: Geduld, Sanftmut, Fröhlichkeit und Flexibilität, Tugenden, die mit irgendeiner kraftvollen geistigen Anstrengung nicht vereinbar sind.92
Indem Wollstonecraft das männliche Vorurteil gegenüber der Frau zunächst bestätigt, überführt sie es zugleich seiner Falschheit. Denn wie kann es sein, dass der weltfremde Adlige einen ähnlichen Sozialcharakter ausbildet, wie er auch eine Schilderung der Frau sein könnte – was Wollstonecraft ja bejaht? Diese Ähnlichkeit des beschriebenen Sozialcharakters eines bewunderungssüchtigen Menschen passt ihrer Darlegung nach deshalb auch auf die Frau, weil beide in bestimmter Hinsicht in einer sich ähnelnden gesellschaftlichen Position sind. Diese Ausführungen lassen sich auch als sozialwissenschaftliche Erweiterung des Einfühlungsmodus verstehen, insofern die Hauptmetapher für Einfühlung zumindest bei Smith Wollstonecraft 2008, S. 89; vgl. Wollstonecraft 1978, Bd. 1, S. 141 f.; Wollstonecraft (Hg. Tomaselli) 1995, S. 133. 92
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»changing places« ist, d. h. sich in die soziale Lage oder gesellschaftliche Situation des Anderen [view of his situation] hineinzuversetzen. Bei Wollstonecraft erscheint die soziale Sonderstellung der Frau als gesellschaftlich aufoktroyierter Zwang, dem sich Frauen gleichwohl genau darin anpassen, ihre Subjektivität danach auszubilden. Diese Kritik beruht auf einer kritischen Aneignung des Interaktionskonzeptes von Smith. Denn indem die Ehefrau die ihr zugedachte Rolle erfüllt, folgt sie der Erwartungen ihres Ehemanns, der diese Erwartung zugleich als weibliche Natur auf seine Frau projiziert. Das Selbstbild hängt von seiner sozialen Rückspiegelung im Anderen ab. Obwohl Wollstonecraft in ihrer Verteidigung der Rechte der Frau Smith immer nur zustimmend zitiert (im Gegensatz zu Rousseau), lässt ihre Schilderung der gleichen menschlichen Natur von Mann und Frau deutliche Kritikpunkte an den geselligen Tugenden erkennen. Besonders Formen subjektiver Verstellung, die alle frühen Liberalen im Namen von »civility« ethisch gutheißen, stellt Wollstonecraft Werte wie Wahrheitsliebe, Redlichkeit und moralische Autonomie entgegen. Ihre Soziogenese des weiblichen Charakters betrachtet die Einübung subjektiver Verstellung nur als ersten Schritt, das zunächst noch innerlich nicht geglaubte, prekäre Selbstbild, heuchlerisch veranlagt zu sein, anzunehmen. Was sich im Spiegel der Analyse von Wollstonecraft als immer problematischer zeigt, ist Smiths Gleichsetzung eines unkontrollierten, aber humanen Impulses zum unmittelbarem Mitfühlen mit Anderen und dem unkontrolliert-enthusiastischen Schwelgen in den »Freuden der Sympathie«, die einen leicht sozial manipulierbar machen. Auch wenn sich diese beiden Impulse in Hinsicht auf die in ihnen zurückgestellte, selbstbeherrschte Affektkontrolle ähneln, zielen sie doch auf etwas nahezu entgegengesetztes. Im einen Fall ist es das (fehlende) Wohl bzw. Leid des Anderen, das den Impuls zur »Menschlichkeit« [humanity] auslöst, während es im anderen Fall die narzisstische Lust an der Bewunderung Anderer ist. Sophie de Grouchy verteidigt in ihren Lettres sur la sympathie gegen Smith die »humanité« als einen mit angemessener Selbstkontrolle nicht nur vereinbaren, sondern von einer wohlverstanden-rationalen Selbstbeherrschung sogar abhängigen Affekt. Der Sympathiebegriff Sophie de Grouchys ist häufig als mangelhaftes Verständnis von Smiths Theorie der ethischen Gefühle interpretiert worden, scheint meines Erachtens aber eine dezidierte mitleidsethische Gegenposition zu sein.93
Die damals übliche Praxis, dass man Texte bei der Übersetzung im eigenen Sinn variierte, hat zu diesem Missverständnis beigetragen. Vor allem für Frauen war dies ein probater Weg, in Diskurse intervenieren zu können. Die von Bréban und Dellemotte vollzogene Analyse der von De Grouchy vorgenommenen Änderungen in ihrer Übersetzung der Theorie der ethischen Gefühle scheinen mir ihren Sinn vor diesem Hintergrund anzunehmen; vgl. Bréban und Dellemotte 2017. 93
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Detailanalyse: Weibliche Menschlichkeit und männlicher Edelmut Etwas positiver charakterisiert Smith »die Frau« im Fortgang seiner Darlegung der sittlich angemessenen Verhaltensweisen im vierten Teil seiner Theorie. In diesem heute kaum beachteten Teil stehen erneut explizit sentimentalistische Grundprämissen zur Disposition. Es handelt sich um Teil 4.2 mit dem sperrigen Titel: Von der Schönheit, welche der Anschein der Nützlichkeit den Charakteren und Handlungen der Menschen verleiht, und inwiefern die Wahrnehmung dieser Schönheit als eines der ursprünglichen Prinzipien der Billigung betrachtet werden kann. Was durch die ausgedehnte Diskussion dieser Frage hier erneut etwas untergeht, ist, dass Smith dies letztlich verneint, wofür er wie im dritten Teil das zuvor zitierte Bild der Robinsonade bemüht. Ein außerhalb der Gesellschaft irgendwie aufgewachsener Mensch würde »in dieser einsamen und elenden Lage«94 demnach weder ein Gefühl für die ästhetische Angemessenheit von etwas noch dafür, was soziale Nützlichkeit ist, haben können: »Ja, auch wenn sie sich ihm aufdrängen sollten, würden sie doch keineswegs – bevor er in Verbindung mit der Gesellschaft getreten ist – den gleichen Einfluss auf ihn ausüben, den sie infolge jener Verbindung haben würden« (ebd.). Auch dass man erst lernen muss, was schön und nützlich ist, spricht erneut gegen die Annahme eines moralischen Sinns, wie das 18. Jahrhundert diese Annahme versteht. Stärker auf die inneren Widersprüche der Theorie der ethischen Gefühle bezogen, handelt es sich um eine weitere Stelle, die zeigt, dass Smith systematisch zwischen erster und zweiter Natur unterscheidet, freilich ohne diese Begriffe zu verwenden, wofür ich, wie einleitend angemerkt, ideologische Gründe vermute. Parallel zu der begrifflich unsichtbaren Unterscheidung zwischen erster und zweiter Natur läuft diejenige des Mitleids erster und zweiter Ordnung. Die Verinnerlichung der zweiten Natur der Ansehung seiner selbst und der Andern mit den Augen des »unparteiischen Zuschauers« dient dazu, dem Mitleid erster Ordnung, das sich von jedem Mitleidensimpuls ungehemmt leiten lässt, intrapsychisch ein Mitleid zweiter Ordnung entgegenzusetzen, das die sentimentalen Auswüchse eines »extreme humanism« innerlich beherrschen kann.95 Im vierten Teil seiner Theorie der ethischen Gefühle konnotiert Smith diese nieder- und höherstufige Art und Weise des Mitgefühls nun geschlechtlich. Die zuvor von ihm schon leitfadenhaft kritisierte Ausrichtung an der konkret-unmittelbaren Sympathie mit Anderen und das unmittelbare Mitleiden schreibt er nun der Frau zu. Die Befähigung, sich über
TMS 4.2, S. 310. Auch Christel Fricke parallelisiert die Ausbildung dessen was, was sie »second order sympathy« nennt, mit der Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers«. Auf der durch den »unparteiischen Zuschauer« ermöglichten, reflexiven, aber dennoch gefühlten Metaebene kann sich »second order sympathy« auch als »antipathy« äußern. Fricke verteidigt aber nachdrücklich den autonomen Entscheidunganteil an der inneren Kontrolle über diese Empfindung bei Smith; vgl. Fricke 2013, S. 182. 94 95
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die Ebene unmittelbarer Impulse von Mitgefühl selbstkontrolliert zu erheben, wird dagegen nun explizit männlich konnotiert. »Edelmut« [generosity96] als Tugend des Mannes wird gegenüber der »Menschlichkeit« [humanity] als Tugend der Frau deshalb als überlegen angesehen, weil das »edelmütige« Individuum dazu in der Lage ist, seine eigenen inneren Impulse zu überkommen und sich selbst zu überwinden. Es ist in der Lage dazu, seine eigentlichen Gefühle zu ignorieren und nur danach zu handeln, was es für das Beste für die Gesellschaft hält, und dies verschafft ihm die psychische Kraft zu wirklicher Tugendhaftigkeit. Dieser Geist der Selbstüberwindung ist als bewusste Aufopferung Ausdruck der höchsten Form von »Gemeinsinn« [public spirit] (ebd.). Dagegen bedarf unmittelbare »Menschlichkeit« [humanity] als sensible Reaktion auf ein konkret beobachtetes Leid, das einen dazu anhält, direkt helfen zu wollen, eines solchen Moments der »großmütigen« Selbstüberwindung nicht: »Edelmut [generosity] ist verschieden von Menschlichkeit [humanity]. Diese zwei Eigenschaften, die auf den ersten Blick so nahe miteinander verwandt zu sein scheinen, sind keineswegs immer in einem Menschen vereinigt. Menschlichkeit ist die Tugend der Frau, Edelmut die des Mannes. Das schöne Geschlecht, das gemeinhein weit mehr Zärtlichkeit besitzt als das unsere, hat selten ebensoviel Edelmut wie dieses. […] Menschlichkeit besteht in dem äußerst feinen Mitgefühl, welches der Zuschauer gegenüber den Empfindungen der zunächst Betroffenen hegt, so dass er wegen ihrer Leiden bekümmert ist, wegen der ihnen angetanenen Beleidigungen Vergeltungsgefühl empfindet und wegen ihres Glücks von Freude erfüllt ist. Handlungen, die von höchster Menschlichkeit getragen sind, erfordern doch keine Selbstverleugnung, keine Selbstbeherrschung, keine große Anstrengung des Gefühls für sittliche Richtigkeit. Ihr Wesen liegt nur darin, dass wir das tun, was dieses äußerst feine Sympathiegefühl uns von selbst zu tun antreiben würde. Anders aber verhält es sich mit dem Edelmut. Wir sind niemals edelmütig oder großherzig, außer wenn wir in irgendeiner Hinsicht einem anderen Menschen vor uns selbst den Vorzug geben und irgendein großes und wichtiges eigenes Interesse einem gleichen Interesse eines Freundes oder eines Höherstehenden opfern« (TMS 4.2, S. 307, Hervorh. hinzugef.).
In »humanity« als weiblicher Tugend zeigt sich die Befähigung der Frau zum unmittelbaren Mitgefühl mit Anderen, d. h. zum Mitleid erster Ordnung. Da Frauen hier aber einfach nur einem Impuls ihrer ersten Natur folgen, kommt in ihrer »humanity« keine Selbstaufopferung und auch »keine große Anstrengung des Gefühls für sittliche Richtigkeit«97 zum Ausdruck. Als konkretes Mitleid erster Ordnung erfüllt diese Form von »Menschlichkeit« zwar die soziale Funktion, den »zunächst Betroffenen« Trost zu spenden. Aber diese »Menschlichkeit« kennt als »äußerst feines Sympathiegefühl« – d. h. als Sensibilität erster Natur – keinen reflexiven Spiegel der Gerechtigkeit. Mitleid erster Ordnung fragt nicht danach, ob das Mitleid gerechtfertigt ist. Was für Hume wahrhaftes Mitleid auszeichnet: dass es unabhänDie Benennung der von Smith dargelegten Tugend als »generosity« ist heute sprachlich veraltet. »Generosity« wird erst in der »civil society« allmählich zum Synonym von »liberality«. Smith rekurriert hier auf die ältere Bedeutung, die laut dem Historical Thesaurus der Universität Glasgow assoziiert ist mit »courage« und »high-spiritedness«. Eckstein übersetzt hier erneut sachgemäß treffend, aber heute auch im Deutschen veraltet mit »Edelmut«. 97 Im Orig.: »no great exertion of the sense of propriety«; vgl. TMS (o) 3.4.10, S. 223. 96
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gig von der Überlegung erfolgt, ob es gerechtfertigt ist, bezeichnet für Smith die Minderwertigkeit von »humanity« als eines nicht-selbstbeherrschten, unkontrollierten Mitgefühls mit Leid als solchem. Auch die unmittelbare Affiziertheit durch das »Vergeltungsgefühl« des Anderen taucht hier noch einmal auf, und wird mit dem gleichen Stigma der Unkontrolliertheit versehen. Erinnern wir uns daran, dass Smith im zweiten Teil Leute, die ihre »sympathy« für »resentment« nicht unterdrücken können, als »Pöbel« [mob] bezeichnet (s. 4.2.2). Vom Niveau ihrer Affektkontrolle her sind Frauen damit auf der gleichen Stufe verortet wie die den unmittelbaren Impulsen stets folgende Menge, die sich in ihren Gefühlen gegenseitig ansteckt. »Generosity« zeichnet sich umgekehrt dadurch aus, dass man dem inneren Drängen der Impulse, d. h. der ersten Natur, widerstehen kann. Erst dieser »selfdenial« versetzt einen intrapsychisch in die Lage, dem allgemeinen Interesse zu folgen, das insofern ein Moment der Selbstaufopferung an sich hat. Es ist diese bewusste Gleichgültigkeit gegen die eigenen Interessen, zu der einen die Selbstbetrachtung durch seinen inneren »unparteiischen Zuschauer« fähig macht. Zu dieser psychischen Anstrengung sind Frauen aufgrund ihrer sensiblen Natur nicht in der Lage. Die Art und Weise, wie Smith diese Befähigung zur Selbstüberwindung zur Voraussetzung des Funktionierens in der sozialen Hierarchie macht, zeigt invers noch einmal den diese Hierarchie unterwandernden Charakter des damit wieder abgewerteten Mitleids erster Ordnung. Die Aufwertung einer bestimmten Selbstaufopferung, die dabei dem unbedingten Mitleid mit Allen gegenübergestellt wird, lässt sich insofern auch als moralphilosophisches Zugeständnis an gesellschaftliche Realitäten interpretieren. Man bedenke noch einmal, dass schon Shaftesbury der Enthusiasmus seiner egalitären Anhänger, die seine Philosophie des moralischen Sinns im Sinn eines sozialen »Gleichgefühls« interpretierten, entschieden zu weit ging. Der »unparteiische Zuschauer« bringt mit der aus der »unparteiischen« Perspektive geleisteten Einordnung der subjektiven Wünsche ins gesellschaftliche Ganze auch die respektvolle Unterordnung unter dessen soziale Hierarchie zurück: »Derjenige, der seine Ansprüche auf ein Amt, dass das höchste Ziel seines Ehrgeizes bildete, deshalb aufgibt, weil er der Meinung ist, dass die Dienste, die ein Anderer geleistet hat, diesem ein größeres Anrecht darauf geben; derjenige, der sein Leben wagt, um das Leben seines Freundes zu verteidigen, das, wie er glaubt, von größerer Wichtigkeit ist, sie beide handeln nicht aus Menschlichkeit, und auch nicht, weil sie ein feineres Gefühl für das hätten, was den Anderen betrifft, als für das, was sie selbst angeht. Beide betrachten vielmehr die entgegengesetzten Interessen nicht in dem Licht, in welchem sie ihnen selbst naturgemäß erscheinen, sondern in jenem, in welchem sie sich Anderen darstellen. Jedem Zuschauer mag das Glück oder die Erhaltung des Lebens dieses Anderen mit Recht wichtiger sein als ihr Glück und ihr Leben, aber ihnen selbst kann es nicht wichtiger sein. Wenn sie also dem Interesse dieses Anderen ihr eigenes opfern, dann passen sie sich den Empfindungen des Zuschauers an und handeln in großmütiger Selbstüberwindung so, wie es eben jener Ansicht der Dinge entspricht, welche sich ihrem eigenen Gefühl nach jedem Dritten naturgemäß aufdrängen muss« (TMS 4.2, S. 308).
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»Naturgemäß erscheint« einem das eigene Interesse höher als das aller Anderen, aber der innerlich-distanzierte Blick eines »unparteiischen Zuschauers« befähigt einen (Mann) dazu, von diesem Egoismus Abstand zu nehmen, wenn er in den Augen eines »unparteiischen Zuschauers« nicht angemessen erscheint. Zu dieser »großmütigen Selbstüberwindung«98 sind Frauen nicht in der Lage, weil ihre Handlungen zu stark durch ihre unmittelbaren Affekte bestimmt werden. Nicht deshalb, weil sie keinen »unparteiischen Zuschauer« verinnerlicht haben, sind Frauen zur Gleichgültigkeit gegenüber sich selbst und Anderen nicht in der Lage, sondern umgekehrt: Weil sie nicht die Befähigung besitzen, die unmittelbaren Impulse ihrer ersten Natur zu überkommen, ist es ihnen nicht möglich, die zweite Natur des »unparteiischen Zuschauers« zu verinnerlichen. Nimmt man diese Darstellung des Geschlechterverhältnisses und ergänzt sie um die Anrufung eines »höheren Mitleids, welches alle Menschen umfasst«, die rechtschaffen sind, d. h. dem Mitleid zweiter Ordnung, das als surrogatives Gegengefühl in der Lage ist, das Mitleid erster Ordnung im internen Gefühlshaushalt zu übertrumpfen, scheint es sich mir so zu verhalten, dass vor allem besonders sensible Naturen – Frauen und enthusiastische Sentimentalisten – der imaginären Kultivierung des Mitleids zweiter Ordnung bedürfen – genau weil sie eines anderen »Gegenstands« bedürfen, mit dem sie anstatt des »schmucken Kerls auf dem Weg zum Galgen« (Hobbes) Mitleid haben können. Der selbstbeherrscht-starke, männliche Charakter müsste in diesem Moment dagegen einfach bewusste Gleichgültigkeit zeigen können, insofern er auch gleichgültig gegen sich selbst sein kann, was in der Logik der Argumentation von Smith deutlich schwerer ist. Mit der Aufopferung für den Gemeinsinn greift Smith, was außergewöhnlich ist, explizit ein Moment des republikanischen Diskurses um die fehlende Tugendhaftigkeit und Dekadenz der entstehenden »commercial society« auf, aber es ist das extrem rechtslastige Element der Aufopferung für das Ganze, das ja auch im »höheren Mitleid« zweiter Ordnung durchscheint. Das andere große neoromanische Ideal des republikanischen Diskurses seiner Zeit besteht in der Forderung nach individueller Freiheit von Willkür und persönlicher Abhängigkeit und spielt eine gewichtige Rolle in Wollstonecrafts antipatriarchaler Argumentation. Dieses spricht Smith in der Theorie der ethischen Gefühle nicht explizit an.99 Dies mag damit zusammenhängen, dass es sich mit der wenigen inneren Freiheit, die der »unparteiische Zuschauer« einem lässt, nicht gut verträgt. Sich innerlich »frei« zu fühlen, wenn damit keine bloß ideologische Form der Identifikation mit einem Gemeinwillen gemeint ist, stellt, wie Pettit und Skinner zeigen, eine subjektive Vorbedingung autonomer Entscheidungsfindung dar (vgl. Montesquieu GdG 2.11.6). Das Einzige, was sich für Smiths »unparteiischen Zuschauer« m. E. in dieser Hinsicht geltend machen lässt, ist, dass er den verinnerIm Orig.: »effort of magnanimity«; TMS (o) 3.4.5, S. 223. Siehe aber Smith 1978b, 3.4, S. 335: »Früher lebte man fast immer in dauerndem Kriegszustand mit den Nachbarn und in sklavischer Abhängigkeit vom Grund- oder Dienstherrn.« 98 99
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lichten Moment sozialer Verhaltenskontrolle, den er dem Subjekt wie unsichtbar auferlegt, nicht erneut als eine totalitäre »Freiheit zweiter Ordnung« ausgibt. Stattdessen bleibt das Moment der internalisierten Unterwerfung unter ein psychosoziales Verhaltensregime bei Smith offensichtlich und kritisierbar. Die Schwelle zur totalitären Vereinnahmung läge erst darin, einem dies wieder als »Freiheit« anzudrehen.
KO N K LU S I O N : AU F S T I E G U N D FA L L D E S S E N T I M E N TA L I S MU S
Lady Louisa Stuart, Mitglied des schottischen Hochadels und heimliche Schriftstellerin, berichtet Sir Walter Scott, einem vielgelesenen Dichter seiner Zeit, 1826 in einem Brief von einem für sie irritierenden Erlebnis. Bei Gelegenheit einer Abendgesellschaft hatte Stuart die Novelle Man of Feeling von Henry MacKenzie vorgelesen. Zuerst 1751 erschienen, erzählt der Man of Feeling von einem gefühlvollen Mann, der immer wieder in Situationen hineingerät, in denen er mit vorgeblich bemitleidenswerten Personen in Kontakt kommt. In den verschiedenen Episoden versucht der »Man of Feeling« stets, sich vorbildlich zu verhalten, ist aber gegenüber dem realen Leid, das ihm begegnet, oft hilflos. Gelegentlich wird ihm auch Leid vorgetäuscht, um an sein Geld heranzukommen. In einer der Episoden der Novelle besucht der »Man of Feeling« Bedlam und weidet sich am mitleidserregenden Anblick der Insassen, wie im letzten Kapitel beschrieben. Da seine sentimentale Ader auffällig ist, wird der »Man of Feeling« oft zum Opfer sozialer Manipulation und seine Großzügigkeit wird von einigen Personen im Verlauf der Geschichte ausgenutzt. Wie in der Theorie der ethischen Gefühle beschrieben, stellt der »Man of Feeling« einen sentimentalen Charaktertyp dar, der Mitleid empfindet unabhängig davon, ob sein erwähltes Objekt tatsächlich Leid fühlt, weil er völlig in seiner sentimentalen Lebenswelt befangen ist. Louisa Stuart, die sich daran erinnert, wie ihre Mutter und deren Freundinnen einst den Man of Feeling in Gesellschaft lasen und dabei weinten, irritiert die Reaktion ihrer eigenen Gäste, denn diese können nicht an sich halten vor Lachen. Walter Scott gibt zu bedenken, dass er schon immer daran gezweifelt hat, ob der Charakter des »Man of Feeling« überhaupt ernst gemeint war, obwohl MacKenzies Buch zuweilen so aufgenommen worden sein mag. Denn MacKenzie selbst, bemerkt Scott, entspricht so gar nicht den Zügen seines literarischen Helden: »No man is less well known from his writings. We would suppose a retired, modest, somewhat affected man, with a white handkerchief and a sigh ready for every sentiment. No such thing. H. M. is as alert as a contracting tailor’s needle in every sort of business – shoots and fishes in a sort even to this day – and is the life of the company in anecdote and fun.«1 In der Tat kann man sich heute bei der Lektüre des Man of Feeling kaum noch vorstellen, dass der Titelheld einmal als eine Figur gedacht war, die man ernst nehmen soll. Zu grotesk wirken die Situationen intensiven Mitleidens, in die der »Man of Feeling« so bereitwillig hineinstolpert. Nimmt man MacKenzies Novelle dagegen als spöttischen Abgesang auf ein gescheitertes Ich-Ideal – den immer gefühlvollen und mitleidigen Sentimentalisten –, funktio1
Zit. nach Vickers 1967, S. 8 (Fn. 2).
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Konklusion
niert sie als literarischer Text auch heute noch erstaunlich gut. Ob in MacKenzies Charakterisierung des stets gefühlvollen »Man of Feeling« bereits Ironie mitschwingt, mag man für sich selbst entscheiden. Zeitdiagnostisch unstrittig dagegen ist, was Louisa Stuart mit dem Bericht von dem missglückten besinnlichen Vortragsabend Walter Scott anekdotenhaft mitteilt: So schnell das Zeitalter der sentimentalen Gefühlsbegeisterung begonnen hatte, so schnell war es auch wieder vorbei. Es ist nicht schwer, Widersprüche in der Idee der »sozialen Natur« des Sentimentalismus zu finden. Allen voran der einfachste, dass es, wie Locke sich ausdrückt, in der Erziehung des Bürgers darum geht, dass »Gewohnheiten […] in den Grund seiner Natur selbst hineinverwoben werden« und diese zweite Natur dennoch weiterhin als Natur erscheint. Die »soziale Natur« bedeutet immer auch die wandelbare Natur in dem Sinn, dass in ihrem Sozial-Sein ihre Beinflussbarkeit liegt. Letztlich macht dies vielleicht den intersubjektivistischen Kern der Kritik von Shaftesbury an Hobbes aus: Während Hobbes noch wie Bacon den Menschen für von Natur aus unwandelbar schlecht – und vor allem gefährlich – hält, zeigt die Entdeckung seiner »sozialen Natur« seine Erziehbarkeit an. Aber worin besteht diese Erziehbarkeit? Vordergründig darin, dass der »Mensch« zur »sympathy« fähig ist. Damit ist zunächst einmal gemeint, dass man sensibel auf Andere reagiert, im Guten wie im Schlechten. Das, was Shaftesbury dabei als »schlechte Seite« der menschlichen Natur versteht – »selfishness« –, spielt in seinem System von »sympathy« eine weitaus größere Rolle, als es die markanten Formeln von der natürlichen Güte der sozialen Natur auf der Oberfläche zu erkennen geben. Worin die »soziale Natur« für Shaftesbury tatsächlich zum Ausdruck kommt, ist die soziale Vermittlung des Selbstverhältnisses. Selbstreflexion und Selbstkritik einer Person, die in Gesellschaft lebt, vollziehen sich so, dass diese Person sich selbst durch die Augen Anderer ansieht, und es ist dieser psychosoziale Mechanismus, dem Shaftesbury die eigentlich sittlichkeitsfördernde Wirkung zuspricht (vgl. 2.4). Smith begreift diese Ansehung seiner selbst aus der Perspektive Anderer als Grundachse der Verinnerlichung moralischer Gefühle. Dadurch, dass man lernt, das Urteil Anderer über einen selbst vorauszusehen, beginnt man damit, es vorwegzunehmen, und entwickelt ein »soziales Gewissen«. Der eine, methodische und intersubjektivistische Punkt ist, dass es sich um eine Form von Gewissen handelt, die sich erst in und durch die soziale Interaktion formt. Der andere, moralphilosophische und konventionalistische Punkt ist, dass die durch das soziale Gewissen repräsentierte Normativität damit radikal kontingent wird. Dies ist eine innere Konsequenz der Smith’schen Argumentation, die schon damals erstaunlich viel Kritik auf sich zieht. Die Frage ist, wie sich die soziale Gewissensgenese entwickelt, wenn der reale Zuschauer meiner Handlungen aus Fleisch und Blut, der sich allmählich in den innerlich eingebildeten »Zuschauer« in meinem Kopf verwandelt, ein Zuschauer in einem moralisch desintegrierten Sozialzusammenhang ist. Strebt mein innerer Zuschauer dann immer noch nach Fairness und einer gerechten Gleichbe-
Aufstieg und Fall des Sentimentalismus
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handlung Aller? Offensichtlich nicht, wie Smith selbst zugesteht, wenn er Sitten der Vergangenheit wie die spartanische Kindstötung betrachtet, die jedoch, weil sie soziale Konvention war, kein gesellschaftliches Empören auslöste.2 Auf welche Art und Weise man die radikale Kontingenz der von Soziogenese abhängigen Sittlichkeit als zweiter Natur problematisiert, scheint mir hier entscheidend zu sein. Die rationalistische Erwiderung, dass Moral dann einer neuen universalen Verankerung bedarf, mag zwar in bestimmter Hinsicht zutreffend sein.3 Verharrt dieser Rationalismus aber in einer normativen Dimension seiner eigenen Selbstbehauptung, bleibt er notwendig abstrakt, und kann sich nicht mehr hinreichend mit dem historischen Prozess fortwährender gesellschaftlicher Veränderung vermitteln. Ich befürchte, dass es eine dialektische Dimension des Problems gibt, die tiefer reicht und die man erst dadurch in den Blick bekommt, dass man sich vor Augen stellt, dass die gesellschaftliche Vermittlung des Selbstverhältnisses, die Smith beschreibt, auch für Gesellschaften gilt, die das aufklärerische Ziel menschlicher Emanzipation aus dem Blick verlieren. Die beängstigende Übermacht, die der »unparteiische Zuschauer« bei Smith intrapsychisch über das handelnde Ich ausübt, ist eine ihrem Autor selbst unbewusste Verdeutlichung eines sozialen Missverhältnisses, das Smith dennoch auf diese Art und Weise beschreibt: Eine bestimmte Form der gesellschaftlichen Vermittlung zwischenmenschlicher Interaktion verselbständigt sich von der Eingriffsmöglichkeit ihrer individuellen gesellschaftlichen Träger und prägt als System von Projektion und Gegenprojektion deren Selbst- und Weltwahrnehmung. Die gesellschaftlichen Vermittlungsformen zwischenmenschlicher Interaktion funktionieren nach dem psychosozialen Modell von Projektion und Gegenprojektion unabhängig davon, wie die »gerechte« Gleichbehandlung aller – Smith’sche »Unparteilichkeit« – genau ausgestaltet ist. Wie diese »Gerechtigkeit« sich als sozialer Wahrnehmungsfilter präsentiert, ist von allergrößter Bedeutung dafür, ob sich »Freiheit« real erhält oder nicht. Umgekehrt aber reicht es nicht aus, eine bestimmte Idee von Gerechtigkeit zu artikulieren, ohne zu fragen, wie und ob diese sich sozial herstellt. Wenn man aber danach fragt, lässt sich zuweilen sogar festellen, dass bestimmte Ideen von Freiheit, wenn sie abstrakt bleiben, mit dem realen Gegenteil ihrer selbst, d. h. einer zunehmenden gesellschaftlichen Unfreiheit, auf verhängnisvolle Art und Weise korrelieren können. Herauszustellen an der Philosophie des moralischen Sinns ist, dass sie systematisch mit dem Anliegen ihrer eigenen sozialen Verwirklichung verbunden ist. Durch diesen empirischen Fokus auf die gesellschaftliche Realität, d. h. darauf, wie Menschen in bestimmten Situationen (sich) wirklich fühlen, kommt allerdings auch eine Verselbständigungsdimension dieser Realität in den Blick. Was Smith in der Theorie der ethischen Gefühle und auch Hume in seiner Analyse von »sympathy« als emotionaler Ansteckung beschreibt, ist in bestimmter Hinsicht eine frühe Form der vermittelnden Vereinnahmung der Form von Subjektivität durch einen 2 3
Vgl. TMS (o) 5.2.15, S. 245 – 247, TMS 5.2, S. 340 – 342. Vgl. Habermas 1989.
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sich verselbständigenden gesellschaftlichen Prozess. Was sich mit Hilfe dieser Texte rekonstruieren lässt, und dies gilt in einem besonderem Ausmaß für Humes Traktat über die menschliche Natur, sind die damaligen psychosozialen Grenzen dieser ursprünglichen Vereinnahmung.4 Wir alle schlüpfen, wie Hume sagt, eben nicht nur in die Rolle eines »spectator«, sondern sind für alle Anderen auch ein »spectacle« – und dies ist mit Hinblick auf das eigene Selbstwertempfinden eine zutiefst ambivalente Tatsache. Aber was ist dann das »ursprünglichere Gefühl«: meine positive Sympathie mit dem bestimmten Verhalten Anderer oder meine negative Angst vor der negativen Beurteilung durch diese Anderen? Die sich gegenwärtig entwickelnden digitalen interaktiven Kontrollsysteme, deren Sanktionsmechanismen über negative und positive Beurteilungen funktionieren, sind vor diesem Hintergrund als Systeme »moralischer Gefühle« zu analysieren. Das System moralischer Gefühle, wie Smith es beschreibt, möchte die soziale Gleichbehandlung Aller dadurch absichern, dass es einen inneren »unparteiischen Zuschauer« in das Selbstverhältnis des Einzelnen einschaltet, der nicht nur das Sozialverhalten dieses Individuums anleiten soll, sondern sich auch in dessen Selbstreflexionsweise selbst einprägt. Dies begründet Smith damit, dass von diesem Selbstverhältnis auch das größte Täuschungspotential ausgeht, das die gerechte Gleichbehandlung aller verhindern kann. Aber wer garantiert umgekehrt, dass diese durch den inneren »Zuschauer« gewährleistete Gleichbehandlung »gerecht« ist? Betrachtet man die Theorie der ethischen Gefühle auf diese Art und Weise, öffnet sich ein Abgrund dazwischen, dass das Smith’sche Modell nicht garantieren kann, dass der innere »Zuschauer« universell zustimmungsfähige Werte in seinem »unparteiischen« Blick repräsentiert, und dem psychopolitischen Anspruch, das Selbstverhältnis des Individuums psychosozial zu vereinnahmen. Wenn die Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers« gelingt, soll der Einzelne in Ansehung seiner selbst und Anderer innerlich bereits so fühlen, wie dieser »Zuschauer«. Dennoch habe ich im vorherigen Kapitel abschließend herausgestellt, dass Smith – indem er das Moment verinnerlichten Zwangs daran sichtbar bleiben lässt – dieses als Gewaltmoment auch kritisierbar macht. Die Unterscheidung zwischen einem sichtbar bleibenden, partiellen gesellschaftlichen Zwang und einem verharmlosten und überspielten Zwang, der sich auf diese Art unangreifbar macht, und der Tendenz nach totalitär absolut setzt, scheint mir daher abschließend die entscheidende Differenzierung zu sein, die Isaiah Berlin in seiner Gegenüberstellung positiv-totalitärer und negativ-libertärer Freiheit übersieht. Weshalb es sich bei dem hier diskutierten Modell einer Freiheit ermöglichenden Verinnerlichung »sozialer Natur« zwar um ein positives, jedoch nicht um Wie Albert O. Hirschman gezeigt hat, ist Montesquieu der Philosoph des 18. Jahrhunderts, dem als erster gelingt, die ökonomisch induzierte Verselbständigung der modernen Gesellschaftsstruktur als eine in sich konsistente Theorie des »sanften Handels« [doux commerce] zu formulieren. Die enorme Bedeutung dieser Theorie für die Entstehung einer modernen, zugleich politökonomischen und sozialen Denkweise arbeitet Céline Spector heraus; vgl. Spector 2006; Hirschman 1997 (1977). 4
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ein totalitäres Modell von »Freiheit« handelt, liegt daran, dass es prozessual für Selbstkritik offen bleibt, indem es die »soziale Natur« selbst als einen ergebnisoffenen gesellschaftlichen Aushandlungsprozess begreift. Gegenüberstellen lassen sich dabei systematisch zwei Modelle, von denen mir das eine auf Hume zurückführbar scheint, und das andere Modell auf Smith. Das Humesche Modell versteht die »soziale Natur« als kontextuelle Einrahmung des Individuums durch die Gesellschaft. Innerhalb dieses Rahmens dürfen bestimmte Grenzen nicht überschritten werden, um die Reproduktion der bürgerlichen Freiheit nicht zu unterminieren. Diese Grenzen ergeben sich aus den dynamischen Bewegungsabläufen der menschlichen Psyche und den systematischen Erfordernissen einer lebensweltlichen Stabilität für die Ausbildung des Selbstverhältnisses. Mit Rekurs auf einen Begriff von Claus Offe aus den 1970er Jahren lässt sich hierhin auch die Genealogie sozialer »Kontextsteuerung« sehen. In diese Richtung argumentiert im 18. Jahrhundert etwa auch Sophie de Grouchy, sowie ihr Ehemann Condorcet, Wollstonecraft und viele andere.5 Es verhält sich nicht einmal so, dass Adam Smith dieses Modell der sozialen Kontextsteuerung in seinen Überlegungen völlig außer acht lässt. Besonders im – von den heutigen Wirtschaftswissenschaften allerdings weitgehend ignorierten – fünften Buch des Wohlstands der Nationen findet sich sogar eine weitergehende sozialstaatliche Ausarbeitung einiger dieser Überlegungen. In seiner Theorie der ethischen Gefühle entwickelt Smith ein anders gelagertes Modell, das ich einleitend »sozialen Intersubjektivismus« genannt hatte. Dieser sperrige Begriff soll hier den Aufbau einer »civil society« auf der sozialen Abhängigkeit der Selbst- von der Fremdbeurteilung bezeichnen. Es ist in diesem Sinn seit Shaftesburys ursprünglicher Einsicht in die sittlichkeitsfördernde Kraft dieser Abhängigkeit latent.6 Die vorliegende Untersuchung muss ergänzt werden um eine genealogische Analyse, die betrachtet, inwiefern das Modell des »unparteiischen Zuschauers« von Smith, d. h. Smiths spezifische Fassung des sozialen Intersubjektivismus, in der Folge entscheidende Liberalisierungen erfährt. Dies gilt sicher nicht für Hegel, der die vereinnahmende Dimension objektiven Geists weiter ausbaut. Der auf George Herbert Meads Chicagoer Vorlesungen zurückgehende symbolische Interaktionismus entwickelt dagegen Formen von Intersubjektivität, die mit weit weniger idenJonathan Israel rechnet Smith und Hume aufgrund ihrer konservativen Affiliationen explizit nicht der Gruppe der »radikalen Aufklärung« zu, während er De Grouchy, Condorcet und Wollstonecraft dazu rechnet. Trotzdem lässt sich festhalten, dass beide von diesen begeistert rezipiert wurden; vgl. Israel 2010, S. 121. 6 Ideengeschichtlich lässt sich eine genuine Einsicht m. E. immer weiter zurückverfolgen bzw. dekonstruieren. Shaftesbury hat das rhetorische Moment auf seiner Seite, dass die innovative Dimension seiner Ausführungen für den Adressaten spürbar wird. Trotzdem enthält Pierre Nicoles Aufsatz Comment l’armour-propre produit la civilité m. E. schon Elemente eines sozial-zivilgesellschaftlichen Steuerungsmodells, die zwischen den Zeilen durchscheinen. Auch Schrader betont den französischen Einfluss auf Shaftesbury (sowie Rahe den auf Locke). Mit Christopher Berry ist allerdings einer der wichtigsten lebenden Historiker der schottischen Aufklärung sehr kritisch gegenüber dieser Argumentationslinie; vgl. Berry 1997, ders. 2013, S. 147 – 148. 5
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tifikatorischer Rigorosität auskommen. Verbleibt man hier aber wieder auf der ideengeschichtlichen Ebene, ergibt sich erneut das bereits benannte Problem, dass solche Analysen in ihrer Abstraktheit meist zu wenig Anknüpfungspunkte für emanzipatorische Diskursinterventionen liefern. Diese aber sind dringend geboten. Mein Anliegen war, einen solchen Anknüpfungspunkt freizulegen. Smiths Kritik am Sentimentalismus lässt sich vor dem Hintergrund der Unterscheidung eines Mitleids erster und zweiter Ordnung rekonstruieren. In Smiths Intention liegt es, mit dem vom Spiegel des »unparteiischen Zuschauers« ausgehenden Mitleid zweiter Ordnung dem Einzelnen eine erweiterte Stufe seiner Affektkontrolle zu ermöglichen, die diesem die Selbstbeherrschung der eigenen sympathetisch-mimetischen Impulse ermöglicht. Dabei setzt Smith auf verhängnisvolle Art und Weise den unmittelbar-mimetischen Impuls der Teilhabe am Leid Anderer, d. h. Mitleid erster Ordnung, mit der mimetischen Anfälligkeit für soziale Manipulation gleich, die Rousseau als »amour-propre« beschreibt. Smith schießt übers Ziel hinaus, und entwickelt ein frühes Modell einer identifikatorischen Vereinnahmung des Selbstverhältnisses. In der Tat klingen einige Ausführungen Smiths aus heutiger Sicht bedenklich: Dass man sich vom unmittelbaren Leid einer Person, die kein Mitleid verdient hat, im Namen eines »höheren Mitleids« zweiter Ordnung mit der »Menschheit« [mankind] als des gesellschaftlichen Zusammenschlusses der Gerechten abwenden soll, kann einem Bauchschmerzen bereiten, wenn man sich faschistische Rhetoriken von der »gerechten« Volksgemeinschaft anschaut, die sich ja nicht nur gegen äußere, sondern vor allem auch gegen innere Feinde ihres Sozialkörpers schützen will. Auch Smiths Ausführungen zum die eigene Tat selbst einbekennenden Mörder, der aufgrund der Einsicht seines inneren »unparteiischen Zuschauers« zur Erleichterung seines Gewissens für seine Schuld freiwillig sein Leben geben will, erinnert auf beklemmende Art und Weise an den genauen Ablauf der Rhetorik stalinistischer Schauprozesse.7 Hat Berlin also doch recht, alle »positiven« Freiheitsvorstellungen prinzipiell unter Totalitarismusverdacht zu stellen? Mir ging es darum, den Diskurs des frühen Liberalismus um die »soziale Natur« auf eine Art und Weise zu rekonstruieren, die sichtbar macht, dass man trotz der erkennbaren Defizite des Modells des »unparteiischen Zuschauers« das Kind mit dem Bade ausschüttet, wenn man alle positive Ausmalung »freien« gesellschaftlichen Zusammenlebens schon für verfehlt erklärt. Im Gegenteil zeigt der frühliberale Diskurs um »love of »Indem sie ihre Schuld bekannten, indem sie sich selbst dem Vergeltungsgefühl ihrer beleidigten Mitbürger unterwarfen, und indem sie so jene Rache sättigten, die sie, ihrem eigenen Gefühl nach, völlig verdient hatten, hofften sie, durch ihren Tod sich mit den natürlichen Gefühlen der Menschen wenigstens in ihrer Phantasie wieder auszusöhnen, sich als Menschen betrachten zu können, die des Hasses und des Vergeltungsgefühls weniger wert sind, ihr Verbrechen einigermaßen zu sühnen, und, indem sie nun eher zum Zielpunkt des Mitleids als des Abscheus würden, womöglich in Frieden und mit der Verzeihung all ihrer Mitmenschen zu sterben. Verglichen mit dem, was sie vor der Enthüllung ihrer Taten gefühlt hatten, war, wie es scheint, der Gedanke an all das schon Glückseligkeit«; (TMS 3.2, S. 191). 7
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praise« – das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung – eindrucksvoll, dass es keineswegs schon ausgemacht ist, wofür ein Individuum diese gesellschaftliche Anerkennung erfährt. Die Deformation, die der Liberalismus in der Folge erfahren hat, lässt sich vielleicht sinnvoller nicht als Verzicht auf den Mechanismus sozialer Anerkennung verstehen, sondern als dessen Degeneration. Die Gefahr dessen hat schon Locke klar gesehen, als er in seinem Versuch über den menschlichen Verstand bedauernd feststellt, dass »greater good« für viele einfach die Anhäufung von mehr Reichtum bedeutet.8 John O’Neill findet für dieses Phänomen die passende Formel einer »divorce of recognition from its proper object«.9 Dieses klassische Thema republikanischer Gesellschaftskritik nimmt im frühen Liberalismus aber eine spezifisch moderne, um nicht zu sagen, kapitalismuskritische Form an, indem die nicht endende Akkumulation abstrakten Werts in den Fokus rückt bzw. das Phänomen, dass man in einer »commercial society« durch deren systemische Form dazu gezwungen scheint, nach immer noch mehr »Reichtum« zu streben, obwohl unklar bleibt, was ab einem bestimmten Prosperitätsniveau daran noch befriedigen kann: »It is this deception which rouses and keeps in continual motion the industry of mankind.«10 Die determinierende Kraft der verselbständigten Strukturen, gegen welche die sozialen Regungen als eine Art sphärisches Gegengewicht von »civil society« mobilisiert werden,11 sieht man eindrucksvoll am Scheitern des genuinen Sentimentalismus und seinem Zentralkonzept der Einfühlung. Der zwischenmenschliche Selbsterhaltungskonflikt als »Krieg aller gegen alle« schreibt sich in der und durch die Einfühlung fort. Eine gesellschaftliche Transzendierung durch die »soziale Natur« erfährt dieser Konflikt keineswegs. Dennoch ist ein Gegengewicht sicherlich besser als der »freie« Fall in die nackte Konkurrenz, die keine zivile Ordnung – so lassen sich Shaftesbury, Hume und Smith verstehen – lange aushalten wird. Der Sentimentalismus scheitert als freiheitlich-bürgerliche Ordnungstheorie zudem, weil er nicht dazu in der Lage ist, stabile Subjekte hervorzubringen. Das sentimentalistische Persönlichkeitsideal des immer mitfühlenden Tugendbürgers erfährt seine ironische Spiegelung in der Populärliteratur der Zeit, welche die IchSchwäche des sentimentalen Charakters hervortreten lässt. Laurence Sternes Figur des Onkel Toby, auf den das Sprichwort, keiner Fliege etwas zuleide tun zu können, zurückgeht, zeigt sinnbildhaft die deformierte Triebkontrolle des Sentimentalisten. Onkel Toby hat seit seinem Einsatz im Krieg keine Geschlechtsteile mehr, und dieser Unfall hat seine sentimentale Charakterdisposition des nie misstrauischen und stets freundlichen Wohltäters erst hervorgebracht.12 Die Kritik an der Effeminiertheit des sentimentalistischen Subjektideals führt bei Smith zu einer 8 9 10 11 12
Versuch 2.21.55. Vgl. O’Neill 2011. TMS (o) 4.1.10, S. 214; vgl. auch TMS (o) 1.3.1, S. 72. Vgl. Ronge 2015, S. 233. Vgl. Gassenmeier 1972, S. 62 f.
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Wiederaufwertung stoischer Selbstbeherrschung und einer durchgängig präsent bleibenden Affektkontrolle in jedem Moment der sozialen Interaktion. Eine Vorform dessen lässt sich in Shaftesburys Theorem der angemessenen Verteilung »sozialer Liebe« erblicken (vgl. 2.3.2), wird hier aber durch die schwärmerische Anrufung der »Freuden der Sympathie« konterkariert. Bemerkenswert ist, dass das Thema einer schwärmerischen Effeminiertheit des sentimentalistischen Mannes durch den frühen Feminismus von Wollstonecraft und De Grouchy kritisch aufgegriffen wird, aber bei diesen dennoch nicht zu einer Wiederanrufung rigoros-überlagernder Formen von Selbstbeherrschung führt. Im Gegenteil zeigen beide – wenn auch auf unterschiedlichen Wegen – dass »Humanität« als Impuls nicht gleichsetzbar ist mit dem schwärmerischen Sich-Verlieren in der Bewunderung anderer. Eine daraus resultierende Konsequenz ist, dass jenes von Smith ins Spiel gebrachte Mitleid zweiter Ordnung mit der Rechtsgemeinschaft als solcher einer mitleidsethischen Kritik verfällt, die sich an der gesellschaftlichen Rationalität unbedingten, unmittelbaren Mitleids für die soziale Stabilität freiheitlicher Gesellschaften orientiert.13 Die Kritik am sentimentalistischen Subjekt und einer Moral, die primär auf Einfühlung beruht, lässt drei sich durchhaltende Themen erkennen. Einmal ist Empathie als sozialer Interaktionsmodus in der Intention uneindeutig: Man kann sich in Andere auch einfühlen, um sie daraufhin als Konkurrenten besser bekämpfen zu können (1). Zweitens ist der wohlwollende Tugendbürger leicht sozial manipulierbar: Da ihm Mitleid zum Genuss wird, tritt die Frage nach der Angebrachtheit dieses Mitleids und was durch dessen Erregung vom Gegenüber bezweckt wird in den Hintergrund (2). Zudem gewährleistet die imaginäre Übernahme der Perspektive des sozialen Gegenübers nicht, dass diese Imagination korrekt ist: Da man sich auch die Perspektive eines Anderen so vorstellen kann, wie es einem beliebt, hat man es hier, wie Adam Smith mit dem Beiklang leichter Frustration feststellt, nur mit einer umso raffinierteren Form der Selbsttäuschung [selfdeceit] zu tun (3). (1) Der erste Punkt ist das große Thema von Humes Kritik am Sentimentalismus. Der böse Schatten der Einfühlung ist »Schadenfreude«. Auch das schadenfrohe Subjekt drängt darauf, sich in Andere hineinzuversetzen. Aber dies geschieht mit der Absicht, sich an deren Leid zu erfreuen. Unterschieden werden kann dabei noch einmal zwischen der Freude am Leid Anderer um ihrer selbst willen und der quasi-strategischen Ausspionierung Anderer, die wirklich ihrer späteren Bekämpfung als Konkurrenten dient. Trotz der Schärfe, mit der Hume den Gegensatz der Möglichkeit des Fühlens von Mitgefühl und einem Bedürfnis nach kompetitiver Vergleichung in den Blick nimmt, tendiert er dazu, das psychische Phänomen, das Siehe dazu auch Karin Browns Einleitungsessay in De Grouchy 2008. Ich beziehe mich hier vor allem auf Sophie De Grouchys zweiten Brief über die Sympathie, ebd. S.115 – 122, vgl. De Grouchy 2010, S. 38 – 46; vgl. dazu auch Seyla Benhabibs Analyse der Kohlberg-GilliganKontroverse; dies 1986, S. 402 – 424. 13
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Freud »sekundären Narzissmus« nennt – einen Sozialcharakter, der für sein eigenes Wohlbefinden der Ansehung seiner selbst aus der innerlich eingebildeten Perspektive des einem selbst unterlegenen Anderen bedarf – zu naturalisieren. Dies tut er, wenn er diesen Effekt assoziationspsychologisch auf die Wahrnehmung des bloßen Empfindungskontrasts zurückführt, der das eigene Wohlgefühl verstärkt. Humes Ausführungen zur »Schadenfreude« lassen sich durch Rousseaus Überlegung ergänzen, dass das Begehren, selbst Genuss aus dem vermeintlich größeren Leid Anderer zu ziehen, sich – unabhängig von der Verfolgung eines bestimmten Handlungszwecks des jeweiligen Einfühlungsakts – verselbständigen kann; einfach nur, weil man als Individuum entsprechenden Sozialstrukturen, die dieses Begehren befeuern, ausgesetzt ist. (2) Das zweite Thema hat größte Bedeutung für Adam Smith. Es ist außerdem literarisch ausgiebig bearbeitet worden. Am augenfälligsten wird es für den Bürger anhand der Figur des Bettlers. Warum stellen Bettler zuweilen ihr Leiden zur Schau? Liegt in dieser Ostentation nicht eine soziale Manipulation, die mit dem Vorgang der imaginären Perspektivübernahme arbeitet – etwa wenn Wunden bewusst vorgezeigt werden? Der wohlwollende Tugendbürger kann diesen Anblick aus zwei Gründen nicht ertragen: Zum einen versetzt er sich in den Bettler hinein und ekelt sich und zum anderen erträgt er nicht, vor Anderen als »hartherzig« dazustehen. Daher wird er dem Bettler Geld spenden. In der 1728 uraufgeführten Beggar’s Opera von John Gay gibt es eine Szene, die auch Bertolt Brecht in die Dreigroschenoper übernimmt, in der junge Bettler von den Alten im guten Betteln angelernt werden. Man soll etwa immer den Fuß nachziehen, auch wenn man normal laufen kann. John Gay verfolgte mit seiner Beggar’s Opera die Absicht, den Londoner Philanthropen vorzuführen, wie gründlich sie von den ach so bedauernswerten Dieben und Bettlern der Londoner Unterwelt an der Nase herumgeführt wurden.14 (3) Das Thema der Selbsttäuschung hat eine zentrale Bedeutung für Smiths Distanzierung vom Sentimentalismus und von der Lehre des moralischen Sinns (vgl. 4.2). Selbsttäuschung spielt aber im Hintergrund auch bei Hume eine bedeutende Rolle (vgl. 3.5). Man kann sagen, dass Smith und Hume in ihrer Selbsttäuschungsdiagnose weitgehend übereinstimmen, aber die Schlüsse, die sie daraus ziehen, entgegengesetzte sind. Für Hume täuscht sich das bürgerliche Individuum notgedrungen über seine eigene Stärke und Unabhängigkeit von Anderen – die eigentlich in einem weitaus geringeren Ausmaß gegeben ist – selbst. Aber das ist für die Art und Weise, in der die bürgerliche Gesellschaft als ein Zusammenhang der sozialen Arbeitsteilung freier Individuen existiert, notwendig. Ähnlich täuschen Die Figuren der Beggar’s Opera haben nichts »Opferhaftes« an sich und dafür wurden diese Figuren von der Londoner Unterwelt geliebt und Gay verehrt. Gay benutzte die Handlung im kriminellen Milieu aber auch, um sich über gängige Korruptionspraktiken in der Politik lustig zu machen, und zwar vor allem über den damaligen Lordkanzler Robert Walpole, den viele Interpretatoren in der Figur des Macheath dargestellt sehen; über das bewegte Leben von John Gay siehe Regina Barnes 1961. 14
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wir uns für Hume darüber, dass bestimmte Dinge mit Notwendigkeit geschehen, weil wir daran so gewöhnt sind. Aber diese Selbsttäuschungen dienen der Praxis: Ohne sie könnte niemand handeln, sowohl, was die eigene subjektive Zuversicht angeht, als auch, was die objektiven Zusammenhänge betrifft, die man als existent für das Gelingen des eigenen Tuns voraussetzt. Man kann sagen, dass Hume das aus dem 17. Jahrhundert überkommene skeptizistische Topos der permanenten Selbsttäuschung aufgreift und es auf bemerkenswerte Weise bricht. Damit meine ich, dass er der Selbsttäuschung einen praktisch-positiven Wert zuschreibt. Smith greift viel orthodoxer auf diesen Diskurs zurück, und man kann sagen, dass er das Problem eigentlich im Stil eines klassischen Philosophen der Selbsttäuschung bearbeitet. Seine Diagnose ist verheerend: Selbst wenn man darum bemüht ist, sich vorzustellen, wie eine Situation aus der Perspektive eines Anderen aussieht – d. h. man bemüht sich hier schon darum, den eigenen subjektiven Standpunkt zu relativieren – wird man sich dessen Perspektive häufig so ausmalen, wie es den eigenen Absichten in die Hände spielt. Auf die Adäquatheit der durch Einfühlung sich vollziehenden Einbildung ist für Smith absolut kein Verlass. Das ist Smiths Argument für die Internalisierung des »unparteiischen Zuschauers«: Man kann sich qua Einfühlung die Situation eines Anderen immer nur auf der Grundlage der eigenen gemachten Erfahrungen vorstellen und hat keinen Zugang zu dessen wirklichen Empfindungen. Aber das bedeutet, dass – sobald ein Interessenkonflikt zwischen einem selbst und diesem Anderen gegeben ist – man immer dazu tendieren wird, sich dessen Situation so vorzustellen, wie es einem günstig erscheint. Der Narzissmus des bürgerlichen Subjekts wird durch den Einfühlungsvorgang nicht überwunden, sondern im Gegenteil noch mit moralischen Würden versehen. Daher drängt Smith darauf, die imaginierte Perspektive des konkreten Anderen möglichst immer schon durch die innere Ansehung seiner selbst mit den Augen eines »unparteiischen Zuschauers« zu ersetzen. Dieses soziogenetisch entstandene Ich-Ideal bildet als Zusammenziehung aller relevanten Perspektiven der bürgerlichen Öffentlichkeit so eine größere Garantie der Adäquatheit subjektiver Perspektivnahme. Die Verinnerlichung des »unparteiischen Zuschauers« hat aber nicht nur ein neues Verhältnis zum Anderen zur Folge, sondern auch zu sich selbst. Beide Verhältnisse spiegeln sich im »unparteiischen Zuschauer«. Das Verhältnis zum Anderen verliert seine Unmittelbarkeit und seinen sentimentalen Überschwang, was Smith wollte, aber das Verhältnis zu sich selbst verliert diese Unmittelbarkeit auch, indem es durch den inneren Spiegel des »unparteiischen Zuschauers« vermittelt ist. Wenn ein konkreter Anderer um Mitleid bittet, kann der »gerechte« intrapsychische Spiegel des »unparteiischen Zuschauers« ihm nun dieses Mitleid erster Ordnung verweigern. Aber genauso kann der Spiegel des »unparteiischen Zuschauers« einem selbst das Mitleid verweigern oder zugestehen. Diese neue Selbstbeurteilung mit den Augen des »unparteiischen Zuschauers« nennt Smith auch »love of praiseworthiness«: Auch wenn einem in der Realität keiner Beifall entgegenbringt, weiß man doch innerlich, dass das eigene Verhalten »praiseworthy« war. Gleiches gilt
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aber auch für den Fall, dass es »blameworthy« war: Dann kann man den Augen des »unparteiischen Zuschauers« innerlich nicht entgehen, und erst dies garantiert für Smith die Sittlichkeit einer »civil society«. In Retrospekt fühlt sich die lapidare Feststellung von Hobbes, dass die staatliche Ordnung an den »inneren Gerichtshof« des Ichs nicht heranreicht, im Kontrast zum alles sehen könnenden »inneren Zuschauer« irritierend frei an.15
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E 17.10, S. 118; DC 3.27, S. 110 f.; L 1.15, S. 141.
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Personenregister
Leibniz, Gottfried Wilhelm 56, 172. Lipps, Theodor 89 (Fn.), 95 (Fn.), 102 (Fn.), 113 (Fn.). Liston, Robert 5. Locke, John 7, 11 – 2, 13 (Fn.), 16, 19, 21 – 52, 53 – 6, 59, 61 – 2, 65 – 6, 69, 70, 72, 74 (Fn.), 79, 81, 82 (Fn.), 84, 98 – 100, 104, 108, 115, 124 – 127, 133, 137 (Fn.), 139, 165, 180 – 3, 192, 195 (Fn.), 197. Loeb, Louis 104 (Fn.). Lovejoy, Arthur O. 32, 77. MacKenzie, Henry 144 (Fn.), 191 – 2. Mackie, John Leslie 26 (Fn.), 113 (Fn.), 121 (Fn.). MacLachlan, Alice 157 (Fn.). MacPherson, Crawford Brough 11, 91. Malebranche, Nicolas 92 (Fn.), 162. Mandeville, Bernard de 82 (Fn.), 122 – 3. Marshall, David 141 (Fn.), 143 (Fn.). Marx, Karl 65. Mead, George Herbert 195. Mill, John Stuart 73. Montesquieu, Baron de, Charles de Secondat, 11, 81 (Fn.), 189, 194 (Fn.).
Riccoboni, Marie–Jeanne 5 – 6, 181. Rousseau, Jean–Jacques 8 (Fn.), 24, 33 – 9, 42 – 3, 47, 70, 78, 83, 119 – 20, 142, 158, 166 – 9, 173, 176, 179, 182, 185, 196, 199. Russell, Bertrand 45. Scott, Walter 191 – 2. Shaftesbury, First Earl of, Anthony Ashley Cooper, 53. Shaftesbury, Third Earl of, Anthony Ashley Cooper, 6 – 7, 9 – 11, 15, 18, 22 – 3, 31, 33, 43, 45, 53 – 79, 81 – 5, 87, 89, 96 – 7, 116, 119, 121, 124 – 7, 130, 132 – 4, 143 – 46, 149, 151 – 7, 160, 163 – 5, 168, 172, 180, 182, 188, 192, 195, 197 – 8. Skinner, Quentin 9, 12, 189. Smith, Adam 5 – 6, 7 (Fn.), 9, 11, 18, 21, 33, 48, 50, 56 (Fn.), 68 – 72, 77 – 9, 83, 87, 92 – 3, 97 – 8, 110 – 1, 114, 119, 125, 127, 129 – 190, 192 – 201. Spector, Céline 194 (Fn.). Sterne, Laurence 99, 109, 145, 145 (Fn.), 197. Strauss, Leo 11, 14. Stuart, Lady Louisa 191 – 2.
Nicole, Pierre 23 (Fn.), 71, 195 (Fn.). Offe, Claus 195. O’Neill, John 97, 159 (Fn.), 197. Otteson, James 130 (Fn.). Pettit, Phillip 9, 11, 12 – 3, 41, 189. Pufendorf, Samuel 16 (Fn.), 64 – 5 (Fn.) Rahe, Paul 47 (Fn.), 195 (Fn.). Raphael, David Daiches 162, 163 (Fn.), 175 (Fn.). Rawls, John 175.
Tarcov, Nathan 21 (Fn.), 28, 36, 37 (Fn.), 41, 43. Target, Mary 37 (Fn.). Tomasello, Michael 75 (Fn.). Tully, James 23. Viner, Jacob 176 (Fn.). Voltaire, François Marie Arouet de 5. Wollstonecraft, Mary 195, 198.
19 (Fn.), 179 – 90,
S AC H R E G I S TE R
Anerkennung 7, 7 (Fn.), 12, 14, 18, 22 – 4, 31 – 3, 39 – 45, 55 – 6, 60, 65 – 6, 69, 70 – 4, 76 – 9, 82, 84 – 5, 94 – 5, 97, 123 – 5, 129, 136 (Fn.), 146, 164 – 5, 170, 173, 179, 196 – 7. Antisemitismus 73. Beobachter, Beobachtung 7 (Fn.), 36 – 7, 54 – 5, 55 (Fn.), 56 – 60, 83, 93, 113, 130, 134 – 5, 139, 145 – 63, 168, 171, 182, 187. Bettler, Betteln 97, 112 – 3, 132, 134 – 7, 142, 176 – 8, 199. Cartesianismus 88, 92, 92 (Fn.), 94. Containment 115, 119. Disziplinierung, soziale 56, 72, 132, 137 (Fn.), 138 – 40. Einfühlung 9 – 10, 17 – 8, 46 – 51, 71, 86, 92, 97, 112 – 4, 114 – 8, 120, 122, 130, 132, 136, 141, 141 (Fn.), 153, 166, 184, 197 – 200. Empathie siehe Einfühlung, Sympathie. Empirie, Empirismus 9, 45, 81 – 2, 96, 100, 104 (Fn.), 105 – 6, 110, 112 – 3, 123, 140, 149, 164, 179, 181, 183, 193. Enthusiasmus siehe Sentimentalismus. Frauen siehe Weiblichkeit. Freiheit 5 – 18, 23 – 4, 30, 31, 34, 36, 54 – 5, 57, 61 – 2, 65, 68, 75 – 6, 78, 82, 82 – 3 (Fn.), 84, 95, 99 – 100, 105 – 6, 108, 110, 123, 126, 131, 164, 167 – 9, 172, 183, 189, 190, 193 – 8.
Gerechtigkeit 33, 54 – 60, 66, 69 – 77, 98, 100, 110, 114, 121 (Fn.), 129 – 31, 135, 145, 151, 156 – 7, 157 (Fn.), 163, 168, 172, 174, 178 – 9, 182, 187 – 8, 192 – 4, 196, 200. Geselligkeit 7, 16 (Fn.), 21, 22, 24, 45 – 51, 55, 62, 64 (Fn.), 65, 67, 70, 72 – 3, 77, 97, 127, 183, 185. Gesellschaft, bürgerliche 6 – 19, 21 – 4, 32, 35 (Fn.), 50 – 1, 54, 59 – 60, 62, 64 – 74, 76 – 79, 84, 94, 99, 107, 111, 118 – 21, 123 – 4, 127, 144 – 5, 151 – 4, 158, 166 – 7, 169, 176, 179 – 82, 193, 194 (Fn.), 198 – 201. Gesellschaft, Spiegel der 6, 21, 50, 56, 75, 78, 89, 92 – 7, 124, 131, 143, 164 – 73, 177, 182, 185, 187, 196 – 201. Gesellschaft, Vergesellschaftung 14, 32, 35, 65, 74 (Fn.), 110, 127, 167, 169. Gewissen, soziales 6, 129, 130 (Fn.), 133, 138, 142, 151, 159 (Fn.), 163 (Fn.), 165 – 79, 192, 196. Herrschsucht, natürlich/unnatürlich 28, 48, 55, 144 – 5, (Fn.), 183 (Fn.). Heuchelei 18, 46 – 8, 69, 71, 73, 127, 178, 183 – 5. Humanismus siehe Moral. Identifikation, psychische 13, 74, 83 – 4, 98, 120, 120 (Fn.), 124, 129, 131, 141 – 2, 145, 157, 189, 195 – 6. Ideologie 6 – 8, 14, 16 – 7, 23, 62 – 3, 66, 72, 91, 100, 116, 151, 180, 186, 189. Internalisierung siehe Verinnerlichung.
216
Sachregister
Kapitalismus 6, 10 – 12, 22, 28, 65, 72 – 3, 75, 135, 144 (Fn.), 194 (Fn.), 197. Kosmopolitismus 120 – 1. Liberalismus 5 – 19, 27, 76, 82, 91, 100, 106, 196 – 7. Mitgefühl, als Übersetzung für »sympathy“ 92, 113 (Fn.), 148 (Fn.), siehe auch Mitleid. Mitleid, als hergeleitet aus der Selbstliebe 8, 10, 83, 159 (Fn.). Mitleid, erster und zweiter Ordnung 83, 98, 110, 125, 131, 151 – 60, 166, 182 – 3, 185, 186 – 9, 196. 200. Mitleid, im Gegensatz zu Konkurrenz/Vergleichsbedürfnis 17, 83 – 4, 110 – 21. Mitleid, im Verhältnis zur Projektion 83, 132, 133 – 4, 140 – 3, 144 – 5, 176, 185, 191, 198. Mitleid, unmittelbares 70, 83, 97, 110, 113, 120 (Fn.), 128, 159, 185, 188, 198. Mitleid, Verweigerung von 66, 70, 97, 110, 121, 135, 137, 139, 150, 189, 200. Moral, allgemein 6 – 7, 16, 21, 46 – 8, 54, 60 – 3, 66, 77 – 9, 81, 84 – 88, 104, 111, 121 – 4, 132, 138, 143, 162, 167, 173, 175, 177, 181 – 2, 185, 188, 192 – 4, 198 – 201. Moral, moralische Gefühle 6, 9, 72, 131, 136 (Fn.), 139, 164 – 6, 168 – 9, 176, 182, 192 – 4. Moral, humanistische Elitenlegitimation durch 6 – 7, 27 – 8, 38 – 9, 71 – 4, 97. Moral, moralischer Sinn 6 – 7, 7 (Fn.), 9 – 10, 15 – 9, 21, 40, 44 – 5, 55, 55 (Fn.), 56 – 60, 70, 74, 77, 84 – 8, 96, 126, 129 – 30, 144 (Fn.), 145 – 6, 149, 151 – 4, 156 – 7, 160, 162, 164 – 6, 168 – 72, 174, 186, 188, 193, 199. Moral, Moralismus 18 – 9, 19 (Fn.), 47, 71, 75, 77 – 8, 122, 144 (Fn.), 173, 177.
Narzissmus 69, 71, 84, 113, 114, 126 – 8, 173 – 4, 178, 185, 198, 200. Natur, erste und zweite 6 – 8, 13, 15 – 6, 18, 40, 82 – 4, 86, 110 – 1, 136, 138, 140, 164 – 72, 174, 180, 182 – 3, 186 – 9, 192 – 3. Natur, menschliche 8 (Fn.), 10, 14, 17, 22 – 3, 25 – 8, 30, 35, 48, 54 – 6, 58, 61, 64 – 5, 70, 74 – 5, 81 – 4, 88, 90, 98, 101 – 10, 120, 150, 158, 176 (Fn.), 179 – 80, 185, 192. Natur, Naturgeschichte 82, 95, 103, 109, 182. Natur, Naturrecht 16 (Fn.), 17, 21 (Fn.), 28, 55, 56 – 7, 62, 64 (Fn.), 73 – 4, 160. Natur, Naturreligion 45, 63, 66, 156. Natur, Naturwüchsigkeit 14, 111, 119, 132 – 3. Natur, soziale 5 – 19, 23, 43, 48, 54 – 6, 58, 60, 62 – 5, 68 – 70, 73, 73 (Fn.), 74 – 5, 75 (Fn.), 78 – 9, 96, 123 – 4, 132, 136, 140, 149 – 51, 157 – 9, 165 – 7, 180, 192, 194 – 7. Ökonomie siehe Kapitalismus. Ordnung, spontane 15, 73, (Fn.), 76, 164. Perspektivwechsel siehe Einfühlung, Sympathie. Pöbel 7, 33, 123, 146, 151, 154, 188. Projektion 10, 13, 18, 37, 51, 112, siehe auch Mitleid. Rationalisierung, psychische 58, 143. Rationalismus 5, 14, 56 – 9, 77, 88, 146, 161, 163 – 6, 175, 181, 193. Republikanismus 8 – 18, 41, 48, 61, 62 (Fn.), 95, 183, 189, 197. Reputation siehe Anerkennung. Sadismus 86, 116. Schadenfreude 18, 112, 114 – 20, 122, 124, 136 – 7, 198 – 9.
Sachregister
Scham 24, 39 – 45, 70, 89 – 90, 94, 97, 132, 135 – 7. Schuld 135, 154, 158 – 60, 196. Selbstbehauptung siehe Selbsterhaltung. Selbstbeherrschung 6, 29 – 33, 56, 58, 62, 66, 93, 95, 100, 105, 130, 132 – 40, 165 – 6, 176, 182 – 5, 186 – 90, 196 – 8. Selbstdisziplinierung siehe Selbstbeherrschung. Selbsterhaltung 22, 24 – 5, 28, 32, 39, 44, 47, 56, 58, 61 – 2, 75, 84, 98 – 100, 107, 118, 128, 161, 165 – 6, 171, 193, 197. Selbsttäuschung siehe Narzissmus, Rationalisierung, Täuschung. Sentimentalismus 7 – 11, 18, 21, 23, 40, 46, 55, 57 – 9, 70, 74, 82 – 3, 96, 111, 117, 120, 129, 131, 136, 141 (Fn.), 143, 144 – 5, 149 – 53, 158, 162, 164, 166, 181 – 2, 185 – 189, 191 – 201. Sicherheit siehe Stabilität. Sklavisch, Sklaverei 62 (Fn.), 144, 144 – 5 (Fn.). Sklavisch, sklavischer Charakter 9, 11 – 3, 16, 41, 60 – 4, 189 (Fn.). Sozial, soziale Abhängigkeit 7 (Fn.), 9, 11 – 2, 13, 13 (Fn.), 26, 35, 37, 40 – 5, 50, 54, 66, 68 – 9, 75 – 9, 81, 84, 91 – 8, 111, 119, 123 – 4, 126, 166 – 85, 193, 195. Sozial, soziale Anbindung/Verbindung 8, 12, 47, 64 – 79, 88, 91 – 98, 120, 126, 136, 164, 186. Sozial, soziale Interaktion 6, 9, 15, 19, 21 – 2, 21 (Fn.), 24, 35, 37, 40, 46 – 51, 55, 55 (Fn.), 57 – 8, 65, 67, 70, 76, 79, 92, 111, 127, 130, 132 – 43, 149, 163, 166 – 7, 176, 179 – 85, 192 – 5, 198. Sozial, soziale Natur siehe Natur. Sozial, Sozialwissenschaften 10, 14, 16, 26, 32, 67, 81, 96, 183 – 4. Spiegel, als Metapher siehe Gesellschaft. Spiegel, Spiegelneuronen 92, 116.
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Staat 6 – 7, 9, 11, 15 – 7, 22, 27 (Fn.), 63 – 5, 76, 98, 118, 131, 152, 152 (Fn.), 164, 195, 201. Stabilität, politische und soziale 11, 15, 54, 163 – 4, 176, 183, 198. Stabilität, psychische 56, 68 – 9, 95, 98 – 110, 126, 164, 176, 195, 197. Stolz siehe Anerkennung, Narzissmus. Subjektivität, allgemein 6, 11 – 2, 14, 17 – 9, 23, 25, 29 – 33, 37, 48, 54, 58, 82 – 3 (Fn.), 86 – 8, 93 – 4, 96 – 7, 99 – 100, 104 (Fn.), 105, 106 – 7, 109 – 10, 131, 133, 139, 141, 152, 166 – 8, 181, 185, 189, 193 – 4, 197 – 8, 200. Subjektivität, Intersubjektivität 6, 18, 91, 133, 138, 141, 149, 167, 192, 195. Subjektivität, Subjekt–Objekt 62, 66, 88 – 91, 109 – 12, 115, 117, 134, 191. Sympathie, als emotionale Ansteckung 67 – 8, 89, 92 – 3, 113, 146 – 8, 159, 193. Sympathie, als Perspektivwechsel 46, 51, 97, 132 – 40, 146 – 8, 161 – 3, 173, 178, 192, 198 – 200. Tausch, ökonomischer 22, 38, 46, 72, 121, 133 (Fn.). Täuschung, der Anderen 19, 47, 71, 122, 127, 145, 191. Täuschung, des Selbst 58 – 60, 84, 121 – 8, 130 – 2, 142 – 3, 145, 160 – 3, 173, 175, 194, 198 – 200. Tugend 7 (Fn.), 8, 12 – 4, 21 – 4, 26, 29, 34, 38, 43, 45, 47, 54, 60 – 3, 65, 67, 69, 71 – 4, 76 – 9, 83 – 7, 92, 95, 97, 98, 116, 121 (Fn.), 122, 123 (Fn.), 124 – 7, 132, 136, 142, 146, 148, 154, 165, 167 – 8, 171, 175 – 6, 179, 182 – 5, 187, 189, 197 – 9. Uneasiness, Lockes Begriff von 31 – 2, 39, 47 (Fn.), 99, 108. Ungewissheit siehe psychische Stabilität.
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Sachregister
Vereinnahmung 9, 59, 67, 74, 158, 190, 193 – 6. Verinnerlichung 6 – 9, 15 – 9, 22, 28 – 9, 31 – 3, 38 – 45, 56, 61, 69, 76 – 8, 95, 111, 127, 129 – 33, 136, 138, 140, 143, 146, 158, 161 – 80, 186, 189 – 90, 192 – 4, 200 – 1. Verselbständigung 10, 65, 110, 117, 193, 194 (Fn.), 197, 199.
Verstellung siehe Heuchelei, Täuschung. Vortäuschung siehe Täuschung. Weiblichkeit 90. Zuschauer wissen.
5, 18, 26, 158, 166, 179 –
siehe Beobachter, soziales Ge-