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German Pages 406 [408] Year 1987
Carl Heinz Ratschow Von der Gestaltwerdung des Menschen
Carl Heinz Ratschow
Von der Gestaltwerdung des Menschen Beiträge zu Anthropologie und Ethik Herausgegeben von Christel Keller-Wentorf und Martin Repp
w DE
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Walter de Gruyter · Berlin · New York 1987
CIP-Kur^titelaufnahme
der Deutschen
Bibliothek
Ratschow, Carl Heinz: Von der Gestaltwerdung des Menschen : Beitr. zu Anthropologie u. Ethik / Carl Heinz Ratschow. Hrsg. von Christel Keller-Wentorf u. Martin Repp. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1987. ISBN 3-11-010912-3
© Copyright 1987 by Walter de Gruyter & Co., Berlin 30. Printed in Germany — Alle Rechte des Nachdrucks, einschließlich des Rechts der Herstellung von Photokopien — auch auszugsweise — vorbehalten. Satz und Druck: Arthur Collignon GmbH, Berlin 30 Bindearbeiten: Lüderitz & Bauer, Berlin 61
Vorwort Von Carl Heinz Ratschow liegen bisher zahlreiche Veröffentlichungen vor. Doch richtet sich sein Interesse nicht primär auf die Edition seiner Studien. Vielmehr gilt ihm die Vermittlung seines Denkens in der lebendigen Beziehung zu seinen Hörern als wichtigste Aufgabe seines Lehramtes. Um sich aber eingehender mit den Vorlesungen und Vorträgen Ratschows befassen zu können und sie in die theologische Diskussion stärker einbezogen zu sehen, entstand in uns — gemeinsam mit vielen Hörern — der Wunsch nach ihrer Veröffentlichung. Demgegenüber hatte Herr Ratschow das Bedenken, er selbst könne die Wichtigkeit seiner Vorträge über ihre jeweilige Situationsbezogenheit hinaus nicht beurteilen. Doch dem Worte Luthers folgend: „Nun ich dem aber ja nicht wehren kann, und man gegen meinen Willen meine Bücher jetzt im Druck sammeln will ..., muß ich sie die Kosten und Mühe daran wagen lassen" (WA 50, 657f.), willigte er schließlich in unseren Plan einer Publikation ein und vertraute uns die Auswahl aus seinen unveröffentlichten wie veröffentlichten Studien zur Herausgabe an. In der Sichtung des umfangreichen Materials bildeten sich zwei thematische Schwerpunkte. Während der Titel „Von den Wandlungen Gottes" den zentralen Gedanken der dogmatischen Beiträge ausdrückt, charakterisiert die Bezeichnung des zweiten Bandes „Von der Gestaltwerdung des Menschen" die Mitte der anthropologischen und ethischen Studien Ratschows. Beim Lesen der beiden Bände wird man rasch erkennen, wie sehr die „Wandlungen Gottes" und die „Gestaltwerdung des Menschen" miteinander korrespondieren. Da das unveröffentlichte Material nur in der Form vorlag, wie es der Zweck des Anlasses erforderte, d. h. in Stichworten und ohne Belegangaben, mußten die ausgewählten Manuskripte in enger Zusammenarbeit mit Herrn Ratschow für den Druck überarbeitet werden. Dabei kam es uns darauf an, den Stil des mündlichen Vortrags zu erhalten. Unser Dank gilt den Verlegern der Originaldrucke von Ratschows Aufsätzen für die bereitwillige Abdruckerlaubnis, besonders aber dem Verlag Walter de Gruyter für die Ermöglichung dieser Edition.
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Vorwort
Mit der Veröffentlichung dieser Arbeiten danken wir Herrn Professor D. Dr. Carl Heinz Ratschow für die langjährigen Gespräche, für wesentliche Anregungen und für die Herausforderung unseres theologischen Denkens. Christel Keller-Wentorf und Martin Repp
Inhalt Vorwort
V
ZUR GRUNDLEGUNG DER ETHIK
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart 3 Ethische Studien 17 Hat das Naturrecht einen Ort in der Evangelischen Systematischen Theologie? 119
ZUR ANTHROPOLOGIE
Das Verständnis des Menschen in den Religionen und im Christentum 133 Von der Würde des Menschen 177 Der ganze Mensch 196
ZU ETHISCHEN EINZELPROBLEMEN
Agape. Nächstenliebe und Bruderliebe 210 Die Freiheit des Christen in biblischer und ökumenischer Sicht . . . 235 Christliche Ethik und die sogenannten Menschenmacher 273 Anmerkungen zur theologischen Auffassung des Zeitproblems . . . 290 Erwarten wir noch etwas jenseits des Todes? 319 Vom Sinn des Lebens 342
VIII
Inhalt
REGISTER
Bibelstellen Personen Begriffe
369 371 374
BIBLIOGRAPHIE
Bibliographie
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Zur Grundlegung der Ethik
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart* Das Thema, das mir für die Überlegungen dieser Seiten gestellt wurde, ist unendlich weit. Jede ethische Überlegung reicht ja auch an das theologische Problem heran. Wir können also gar nicht versuchen, das Thema in diesem weiten Sinne erörtern zu wollen. Aber es gibt nun allerdings ein ethisches Problem, das als »das« theologische Problem der Ethik in der Gegenwart angesprochen werden kann und das die ethische Diskussion der letzten Jahrzehnte wie ein roter Faden durchzieht. E s taucht immer wieder auf, aber man kann es in seiner wahren Gestalt doch nur schwer fassen. Dieses Problem versteht sich selbst meist falsch. E s wird in seiner Selbstverkennung hart angefochten. Gleichwohl ist dies Problem in vielerlei verschiedenen Gestalten in jeder ethischen Diskussion da. Wir wollen ihm nachgehen und, soweit es der beschränkte Raum zuläßt, auf die Spur zu kommen suchen, indem wir es an einigen Beispielen erläutern. Lassen wir uns den Zugang zu unserem Problem durch die Gründungsversammlung der Societas Ethica geben. Im Oktober 1964 wurde nämlich in Basel die Societas Ethica gegründet, in der evangelische und katholische Ethiker gemeinsam an ethischen Problemen arbeiten wollen. »Über den Zweck einer Societas Ethica« hat der Baseler Ethiker, Professor Dr. Hendrik van Oyen eine Rede gehalten 1 , in der unser Problem als die entscheidende Frage ethischer Überlegungen in der Gegenwart vorgestellt wird. Van Oyen meint, die Ethik sei in der Gegenwart »von einer Säkularisierungs-Neurose« erfaßt. Was van Oyen mit dieser Neurose meint, darin steckt unser Problem. Der Redner macht die theologischen Folgen dieses Vorganges klar. Er meint nämlich feststellen zu können, dieser Hang zum Säkularen werfe „alle präskriptive Normativität als jüdisch-christliches Erbgut zum alten Eisen«. Der Redner führt das Bestreben »legitim säkularisiert und fortschrittlich zu erscheinen« zum Beispiel auch als Grund für * Zuerst veröffentlicht in: Der Evangelische Erzieher, 18. J g . , 1966, S. 1 2 9 - 1 3 7 . 1
Z E E I X , 1965, S. l l O f f .
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Zur Grundlegung der Ethik
die »totale Anthropologisierung des Ethos« in der Gegenwart an. Aber er meint, dieser ganze Vorgang sei weit genug getrieben. Wenn Ethik wieder Ethik sein wolle: »da braucht es nicht Säkularisierung, sondern eher eine Evangelisierung der Methode«. In dieser Richtung, meinte der Redner, solle die Arbeit einer Societas Ethica gehen. Mit dieser Rede hat van Oyen das Problem angesprochen, das uns auf diesen Seiten beschäftigen soll. Er tut dies polemisch. Die beiden Hauptreferate, die in Basel gehalten wurden, präzisieren die Thematik auf die Theologie hin. Beide Referate — das eine hielt Roger Mehl aus Straßburg, das andere hielt Werner Schöllgen aus Bonn — stellen unser Problem unter die Devise der New Morality. Roger Mehl sprach über das Thema: »Das theologische Grundlage der Ethik und die modernen Ansprüche der >New Moralityreinen< Grundsatz: das Liebesgebot» 12 . Dieses Liebesgebot heißt, auf alte liebgewordene Inhalte verzichten, um sich an die eigene Welt zu wagen. Den Einsatz der sogenannten New Morality kann man an Robinson gut sehen. Aber Robinson führt nicht weit genug 13 . So zum Beispiel meint er, dieser Ansatz bedeute »die Relativität aller Ethik« 14 . Das ist zu kurz geschlossen. K. E. Logstrup hat sehr eindeutig gezeigt, daß diese Meinung falsch ist: »Im Leben des anderen Menschen sowie in meinem eigenen sind nämlich die historisch gesehen relativen Normen in dem Sinne absolut, als wir sie nicht auswechseln können. Aus unserer geschichtlichen Einsicht, daß das Gute von heute vor zweihundert Jahren schlecht war, folgt nicht, daß das Gute von heute darum weniger verpflichtend für uns ist« 15 . Logstrup hat in seinem Werk von der ethischen Forderung die Positionen des modernen ethischen Denkens, wie sie sich aus dem Denkansatz der von Kierkegaard, dem Vitalismus und dem Existenz-Denken bestimmten Theologie ergibt, sehr viel weiter verfolgt und tiefer erfaßt als Robinson. Wir müssen von diesem Ansatz unser Problem uns nochmals stellen lassen. Wir kommen mit Logstrup noch etwas näher an die Sache heran. Logstrup stellt die Frage, ob sich das Liebesgebot Jesu, auf das er — ähnlich wie Robinson u. a. — den ethischen Impuls des Christentums zusammengezogen sieht, »human« darstellen lasse. Diese humane Darstellung hält Logstrup für notwendig, da sich in ihr das »Verstehen« der 11
S. 21.
12
S. 18.
13
Wir verzichten darauf, dies im einzelnen zu zeigen, weisen nur darauf hin, wie unzureichend z. B. Robinson's Überlegungen zu dem Problem »Gesetz und Liebe«, d. h. Gesetz und Evangelium im Verhältnis zu dem sind, was Fr. Gogarten in seinem großen Werk: »Der Mensch zwischen Gott und Welt« (Heidelberg 1952) von der gleichen Intention bewegt ausmachte.
14
S. 16, 21, 22.
15
»Die ethische Forderung«, Tübingen 1959, S. 113.
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart
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Forderung Jesu und ihre Aneignung vollzieht. Anderenfalls wäre die Befolgung des Liebesgebotes ja »blinde Unterwerfung« 1 6 , und das wäre nicht sittlich. Diese Übersetzung des Liebesgebotes Jesu in das Humane bringt vor die »radikale« Forderung, das Leben des anderen in seine Obhut zu nehmen! Diese Forderung wird von Logstrup aus dem zwischenmenschlichen Verhalten als vertrauendes einander Ausgeliefertsein entfaltet: »So gewiß wie ein Mensch mit dem Vertrauen, das er erweist und verlangt, mehr oder weniger von seinem Leben in die Hand des anderen legt, so gewiß gehört auch die Forderung an uns, dieses sein Leben in unsere Obhut zu nehmen, mit zu unserem Dasein, wie es nun einmal ist« 1 7 . Diese Forderung ist radikal, das heißt, sie transzendiert alle möglichen sachlichen Inhalte und Situationen. Keine einzelne ethische Anforderung kann mit dieser radikalen Forderung gleichgesetzt werden, und keine ist ihre Erfüllung. Darum kann Logstrup von der »Stummheit« dieser Forderung sprechen. Ihr Schweigen ist ihre Unerfüllbarkeit und Sachunbeziehbarkeit, denn sie ist stets unendlich mehr als getan und gewollt werden kann. Kein Mensch kann diese unendliche radikale Forderung erfüllen! Von dieser Forderung aus, das Leben des anderen in seine Obhut zu nehmen, stellt sich nun die Frage nach einer christlichen Sittlichkeit. Die Voraussetzung ist: die unendliche Forderung kann als solche niemals zur Begründung einer Handlung werden. »Das einzige, worauf der einzelne sich daher berufen kann, ist das sachliche Ziel und die sachliche Begründung der Handlung. Behauptet er dagegen in einer bestimmten Weise gehandelt zu haben, weil ihn die radikale Forderung dazu veranlaßt habe, so ist das höchst verdächtig.« 1 8 Die Forderung ist daher stets in dreifacher Gebrochenheit da: Erstens ist sie durch die seelischen Inhalte der Beziehungen von Eltern zu Kindern, von Eheleuten zueinander, von Lehrer und Schüler zueinander etc. gebrochen. Zweitens ist sie durch das Verständnis der aktuellen Situation des anderen gebrochen. Drittens ist sie in ihrer Radikalität durch die Natur des einzelnen gebrochen 1 9 . Diese Brechungen kennzeichnen die Hemmungen, die der radikalen Forderung entgegenstehen. Von diesen Voraussetzungen aus stellt Logstrup die Frage: »Gibt es eine christliche Ethik?« Wenn man die Stummheit und grundsätzliche 16
17 18 19
S. 2. Wir führen für die »humane Darstellung« nur diesen ersten Grund Logstrups an. Zu dem zweiten Grunde s. d. S. 3. S. 17. S. 117. S. 119.
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Zur Grundlegung der Ethik
Unerfüllbarkeit der Forderung bedenkt, so muß man diese Frage in dem Sinne, daß es für Christen sachbeziehbare Handlungsanweisungen geben könne, verneinen. Dies muß man zumal tun, wenn man bedenkt, daß diese radikale Forderung ja nichts anderes ist als die humane Aussage der Forderung Jesu. Die Forderung Jesu aber hat das Eigentümliche an sich, »daß alles, was Jesus gesagt hat und was uns überliefert worden ist, ... die Verkündigung einer Forderung ist, die in sich selbst schweigt« 20 . Die Forderung Jesu schweigt insofern, als sie in keiner sachlichen Anweisung aufgeht. Sie übersteigt alle Handlungsanweisungen unendlich. Das heißt: Sie ist Gottes Forderung. Gott ist der alle Situationen unendlich Übersteigende. Insofern kann hier niemals diese oder jene gute oder fromme Tat als »Erfüllung« dieser Forderung oder auch nur als ihre »Darstellung« angesprochen werden. Die einzelnen Anforderungen aber, die da sind, auch am Sabbath einen Kranken zu heilen oder anderes, sind aus sich selbst »sachlich« zu erfüllen 21 — vor der Folie der unendlichen Forderung. Man muß also sagen: »Ein Mensch, für den die christliche Botschaft die entscheidende Wahrheit über seine Existenz ist, kann aus dieser Botschaft nicht besondere christliche Argumente etwa für die oder die Auffassung der Ehe, der Erziehung, der Strafmotivierung, der politisch-wirtschaftlichen Gesellschaftsordnung u. ä. holen, sondern muß für seine Ansichten auf dem oder jenem Gebiet wie jeder andere argumentieren — und zwar mit Argumenten, die vom Nicht-Christen ebenso gut wie vom Christen gebilligt werden können.« 22 Das Christentum erstarrt zur Ideologie 23 , wenn man es zur Garantin inhaltlich bestimmter Handlungsanweisungen macht, die als solche das darstellen oder deren Erfüllung das sein soll, was die Liebesforderung Jesu, »meint«. Die radikale Forderung läßt sich niemals zu »einem äußerlichen hantierbaren Prinzip« machen. Daher ist die Frage, ob es eine christliche Ethik gibt, in dem Sinne zu verneinen, daß die Liebesforderung Jesu kein Handeln als gut oder böse definieren kann, daß sie alle Handlungen aber »richtet« 24 . 20
S. 120.
21
Das meint P. Althaus mit seinem Begriff von der »Befreiung des Christen zur Sachlichkeit« in »Grundriß der Ethik«, 2. A u f l . Gütersloh 1953, S. 49.
22
S. 123.
23
S. 124.
24
Wir haben in dieser Darstellung L0gstrups ein für sein Denken zentrales Moment unbesprochen gelassen. Das ist die Bedeutung, daß der Mensch in der Anerkenntnis des Geschenkcharakters seines Daseins v o r Gott da ist. In diesem Moment liegt der tiefste
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart
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In den Überlegungen, die wir uns an Robinson und Logstrup deutlich gemacht haben, liegt das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart. Dieses Problem ist hervorgerufen also durch den vitalistischen Protest gegen alle Gesetzlichkeit als grundsätzliche Lebensvernichtung und Wahrheitsversklavung. Die theologische Ethik, die mit Gesetzen als dem Willen Gottes arbeitete, war damit gezeichnet. Das Gesetz als Gesetz fixiert. Es soll Generationen überdauern. Es soll auch in der Welt der UrUr-Enkel noch Anwendung finden. Das geht nicht, denn die ethische Situation als sich stetig wandelndes Lebendigsein verbietet diese Vorstellung schon! Dieser Widerspruch gegen die Ethik setzte sich in der Phänomenologie und dem Existenz-Denken um in den Widerspruch gegen Gegenständlichkeit und Vorfindlichkeit als Inhaltlichkeit. Die Gebote Jesu wurden hinterfragt auf den Entscheidungsruf dahinter. Gogarten zum Beispiel führte die »Wortlichkeit« des Wortes Gottes gegen alle mögliche Inhaltlichkeit ins Feld 25 . Das mußte zu den Positionen führen, wie wir sie zum Beispiel an Robinson und auch bei Logstrup sahen, daß die ethische Überlegung auf die »Entscheidung« vor einem letzten nicht mehr inhaltlich Beschreibbaren, das aller »Entscheidung« zugrunde liegt und jeder »Entscheidung« transzendent bleibt, zentriert wird. Wir sehen von hier aus unser Problem also verhältnismäßig klar in seiner Veranlassung in der Geistesgeschichte der letzten hundert Jahre gegeben. Aber nun verband sich mit diesen Momenten für die theologische Ethik noch ein ganz anderes Geschehen. Die theologische Ethik war ja in ihrem Selbstveständnis stets durch eine sehr eingehende Verbindung ihres Denkens mit der zeitgenössischen philosophischen Ethik bestimmt gewesen. Es war daher nicht erstaunlich, daß zum Beispiel Kants mächtiger ethischer Impuls sich in der evangelischen Theologie bis W. Herrmann hin bestimmend durchsetzte. In dieser »Selbstverständlichkeit« des Arbeitens der theologischen Ethik war das Wissen darum angelegt, daß die theologische Ethik zwar den ganzen Menschen vor sich habe, der als Christ in allen Belangen von seinem Christsein bestimmt ist, daß dieser ganze Mensch aber eben als natürlicher Mensch sich selbst sittliches Objekt ist, wie das bei Mohammedanern, Freigeistern und beim Menschen überhaupt der Fall ist. Im Gespräch mit der philosophischen Ethik blieb Grund der Verbindlichkeit der radikalen Forderung. Für unseren Gedankengang können wir auf dies wesentliche Moment verzichten. 25
»Der Mensch zwischen G o t t und Welt«, Heidelberg 1952, S. 244.
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Zur Grundlegung der Ethik
es der theologischen Ethik sehr deutlich, daß das ethische Phänomen — wie Kant zum Beispiel ebenso erwies wie Fichte — nicht ohne das Telos des Glaubens oder Gottes oder der Unsterblichkeit sein könne, daß der ethische Akt selbst aber ein der »praktischen Vernunft« bzw. der »Sachlichkeit« zugänglicher und bedürftiger sei. Man bewahrte die Einsicht, daß die lex specialis der theologischen Ethik — also zum Beispiel der Dekalog u. ä. — einer lex universalis korrespondiere, die wie in allen rebus civilibus der sogenannten natürlichen Vernunft nicht nur zugänglich, sondern auch bedürftig sei! Man hat niemals geleugnet, daß der primus usus legis der usus politicus sei, der das ethische Phänomen aus seiner Situation mit der Verantwortlichkeit, in der der Mensch da ist, auf Grund von strenger Sachlichkeit und klarer Vernunft zu bewältigen hat! Luther hat mit aller erforderlichen Klarheit immer erneut gefordert, daß die Bibel nicht aufs Rathaus gehöre, daß die ratio ihre ebenso wichtige wie unentbehrliche Rolle in rebus civilibus zu spielen habe, daß man da nichts durch fromme Sprüche oder Werke getan sein lassen dürfe — kurz, daß der ethische Akt ein Vorgang sei, der mit vernünftigem Nachdenken, sachlichem Eingehen auf die Situation und einfacher warmer Menschlichkeit angefaßt sein wolle. Mit dem Aufkommen der vitalistischen Strömung verband sich nun in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die seit der Aufklärung virulente, im Zerfall des Idealismus aufschießende Religionskritik und der durch die anhebende Industrialisierung gegebene Traditionsabbruch familiär und gemeindlich gebundener Frömmigkeit. In eruptiver Weise schoß dieser Ausbruch, von allen Emotionen politischer und sozialer Unterdrükkung getragen, empor. Genau in diesen Moment fällt eine theologische Wende von größtem Gewicht: die Theologie Albrecht Ritschis. Wie wenn Ritsehl den sich vollziehenden Prozeß erkannt hätte, reißt er die Ethik aus ihrer relativen »Selbständigkeit« heraus und birgt sie im Kern seiner dogmatischen Festung: Das Zentrum gläubigen Daseins — das Ringen um das Reich Gottes — wird ethisch definiert! In dem harten Licht dieser Dogmatisierung der Ethik und in der Flamme des dazugehörigen Scheiterhaufens, auf dem Ritsehl alle sogenannte natürliche Theologie verbrennen wollte, trat der Prozeß der sogenannten Säkularisierung grell hervor. Jetzt standen sich gegenüber: theologische, das heißt nun zentral dogmatisch und christologisch definierte Ethik und Säkularisation. Die dialektische Theologie hat diesen Prozeß weitergeführt. Theologische Ethik, das ist biblisch theologische und dogmatische Definierbarkeit aller ethischen Phänomene. Je tiefer man die theologische Ethik in die spezifisch
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart
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dogmatische Mechanik einfügte, um so höher schien die Flut der Säkularisierung zu steigen. War das nur Schein, weil der eigene Pegel der Welthaftigkeit der theologischen Ethik sank? Wir haben damit zwei Momente unseres Problems vor uns. Das erste ist die vom Vitalismus ausgegangene Tendenz zur ethischen Situation selbst. Gegenüber allen gesetzlichen und damit zeitentzogenen Vorentscheidungen will man das unbedingte Eingehen auf die lebensvolle »Entscheidung«, um so an der Sache selbst zu bleiben. Gegenüber allen inhaltlich fixierten Gegenständlichkeiten der Gebote und ihrer Anwendung will man die immer neu zu wagende Ausgesetztheit an die »Entscheidungs«Situation. Das zweite ist die inzwischen vollzogene Dogmatisierung und Christologisierung der Ethik, die scheinbar in hartem Gegensatz zum sogenannten Säkularismus steht. Obwohl das Phänomen der Entkirchlichung des öffentlichen Lebens nicht bestritten werden kann und obwohl der Zerfall der kirchlichen Sitte offen zutage liegt, so ist das Phänomen der sogenannten Säkularisierung der Ethik in der theologischen Debatte doch wohl nichts anderes als der Versuch, die früheren Generationen selbstverständliche Sicht auf das ethische Phänomen als solches wieder zu gewinnen. Das ethische Phänomen bedarf zu seiner Bewältigung des sachlichen Verstandes und der menschlichen Vernunft. Das war der evangelischen Theologie, wie die Lehre von den usus legis zeigt, früher sehr klar. Dies gilt auch völlig unbeschadet dessen, daß der Christ als Christ sehr bestimmte Einsichten und Folgerungen in diese Situation einbringt. Diese beiden Momente haben sich nun in der modernen Diskussion zur theologischen Ethik verbunden. Fr. Gogarten zum Beispiel wollte 26 jenen Intentionen in der Richtung auf die ethische Situation folgen und meinte, den Kampf gegen die Gesetzlichkeit antreten zu sollen. Diese aus dem existentialen Ansatz seines Denkens folgende Tendenz gegen das Gesetz verband sich ihm mit der reformatorischen Entgegensetzung von Gesetz und Evangelium 27 . Gogarten mußte mit seinem Drängen auf die der Vernunft zugehörige ethische Situation scheinbar den Weg in die Säkularität antreten. Dies ging angesichts des tiefen Abstandes offenbar nur so, daß er versuchte, die Säkularisation als legitime Folge des Christen-
26
»Der Mensch zwischen Gott und Welt«, Heidelberg 1952.
27
Der Gegensatz der Reformation gegen das Gesetz war aber nicht der Gegensatz gegen Inhaltlichkeit und Zeitentzogenheit.
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Zur Grundlegung der Ethik
turns28 anzupreisen. Das ist zwar ein in der verstellten Situation angelegtes fatales Scheinproblem, aber der Weg zu der vernunftoffenen Sachlichkeit des ethischen Aktes stellte sich zunächst nur so dar. An dem Beispiele Gogartens kann man zeigen, wie sich die beiden in der Gegenwart wirksamen Seiten unseres Problems in ihrer Verbindung auswirken. Zu unserem Problem ist nun aber noch eine Bemerkung zu machen. Ungefähr gleichzeitig mit Wilhelm Herrmann, der ja die Berechtigung des vitalistischen Ansatzes erkannt hatte, vollzog Albert Schweitzer 29 die Aufnahme und zugleich eine seither so nicht wiederholte Umbildung des vitalistischen ethischen Denkens. Albert Schweitzer hat in seiner Kulturethik, in der er methodisch wie inhaltlich die ganze Kulturkritik der fünfziger Jahre vorwegnahm, bei der Einsicht angesetzt, daß alles Weltverstehen und alles Deuten eines Weltsinnes durch den modernen naturwissenschaftlichen Pluralismus verwehrt sei 30 . Damit ist das ethische Problem gestellt. Es wird zur Lösung angesetzt mit einem vitalistischen Zentralbegriff, dem »Willen zum Leben«. Mit diesem »Willen zum Leben« sind wir auch bei Schweitzer aller sachbeziehbaren Inhaltlichkeit entwichen und in den Bereich eines alles transzendierenden absoluten Impulses — vergleichbar der »Liebesforderung« Robinsons und, der »radikalen« Forderung Logstrups — gelangt. Aber Schweitzer hat die eminente Gefahr des Vitalismus, nicht mehr denkerisch verantwortet zu sein, klar erkannt 31 . Er bringt darum den »Willen zum Leben« ins Denken! Das geschieht dadurch, daß dieser »Wille zum Leben« in dem Bestreben, mit sich selbst identisch zu bleiben, sich selbst konsequent und treu zu bleiben, sich von dem Wandelcharakter des Lebens entfremdet! Er nimmt »Lebensverneinung« in sich auf, indem er denkend wird. Aber Schweitzer baut dies Denken (!) in den positiven Gang des ethischen Phänomens ein. Indem der »Wille zum Leben« denkend wird und indem er so »Lebensverneinung« in sich aufnimmt, tut sich ihm das Tor zur »Ehrfurcht vor dem Leben« auf. Diese »Ehrfurcht vor dem Leben« ist die Kennzeichnung des sittlichen Verhaltens 32 ! In ihr liegt ein inhaltlich nicht fixierbares Grundmoment vor, das allem sittlichen Handeln zugrunde liegt, ohne der »Sachlichkeit«
28
S. 118.
29
»Kultur und Ethik«, München 1960.
30
S. 84.
31
S. 89, 298, 301, 305.
32
S. 328 ff.
Das theologische Problem der Ethik in der Gegenwart
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des einzelnen Handelns den Weg zu verstellen. In dieser »Ehrfurcht vor dem Leben« kehrt der denkende Wille zum Leben »ins Erleben« zurück 33 . Aber er ist ein neuer! Er ist durch die »Lebensverneinung« hindurchgegangen, und so ist aus dem »Willen« die »Ehrfurcht« geworden. Es unterliegt keinem Zweifel, daß Albert Schweitzers Entwurf in die Linie der hier zu nennenden Problemgestalten gehört. Schweitzer macht uns auf etwas aufmerksam, was von größter Wichtigkeit ist. Wenn die theologische Ethik nämlich unter dem genannten Anstoß vitalistischer oder existenzphilosophischer Art den Weg auf das unverstellte — auch christologisch nicht präformierte — sittliche Phänomen wieder antritt, dann hängt alles daran, ob es ihr gelingt, die so wahrgenommene ethische Situation und Entscheidung ins Denken zu bringen und ihr so Ständigkeit und Kontinuität zu geben. Dies versteht sich keineswegs von selbst. Was daran hängt, das zeigt sich zum Beispiel bei Logstrup. Für ihn ist die radikale Forderung nämlich nicht lehrbar, ja sie kann weder zugesprochen noch verlangt werden. Für die Ethik hängt an der Frage der Kontinuität oder des Denkens ihre Lehrbarkeit und Mitteilbarkeit. Mit dem Problem der Weitergabe aber steht und fällt die Ethik. Für die theologische Ethik ist diese Seite der Sache heute bedrängend, da weder der Vitalismus noch der Existentialismus zu einer »gedachten« Ethik meint ansetzen zu können. Wenn wir auf unsere Problemskizze zurücksehen, so sagen wir also: Das theologische Problem der Ethik der Gegenwart besteht darin, daß die evangelische Theologie in vielfacher Weise den Weg wieder antritt, um des ethischen Aktes, wie er in seiner Sachverstand und vernünftiges Denken erfordernden Gestelltheit da ist, wieder ansichtig zu werden. Dabei muß beachtet sein, daß die Reduktion des ethischen Aktes auf die reine »Entscheidung« zwar dem vitalistischen Ansätze entspricht, aber die darin liegende Gefahrdung als Frage nach der Ständigkeit im Denken deutlich gesehen und bedacht sein muß. Wenn H. v. Oyen meinte, daß auf diesem Wege »alle präskriptive Normativität als jüdisch-christliches Erbgut zum alten Eisen« (s. o.) werde, so hat er damit gewiß recht. Die Aussetzung des Christen an die nicht vorauszuberechnende Situation, die ihn als Fachmann wie als vernünftigen Menschen für sich fordert, ist die ethische »Materie«. Diese Materie lebt aus der Gegenseitigkeit. In ihr gilt das Gesetz von Schuld und Strafe, von Druck und Gegendruck, und alles das, was im Umkreis der Gerechtigkeit gilt, die jedem das Seine zuteilt. 33
S. 329.
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Zur Grundlegung der Ethik
Mit diesem theologischen Problem der Ethik in der Gegenwart ist auch die Frage gegeben, wie der Christ denn in diesem ethischen Akt als Christ da ist. Dazu ist vor allem deutlich zu halten, daß er als Christ da ist, wenn er besonders redlich seinen Sachverstand ausbildet und braucht und besonders nüchtern seine Vernunft in Anschlag bringt. Dann aber ist es so, daß er in all diesem Tun als einer da ist, der für seine Person nicht auf die Gegenseitigkeit angewiesen ist. Er grüßt den anderen nicht, weil er wieder gegrüßt wird. Gott hat ihm vergeben und damit die Kategorie der Gegenseitigkeit zerbrochen. Darum kann der Christ nicht anders, als diese große Welt-Kategorie von Gegenseitigkeit zu zerbrechen, und das heißt, Agape üben. Agape bedeutet nicht nur Liebe, und man sollte es nicht so übersetzen. Agape ist bedingungslose Hingabe, um selbst Selbst »sein« zu können — ist also auch als Hingabe nicht einfacher Altruismus. Agape heißt, dem ethischen Akt mit den Mitteln dienen, die er erfordert, ohne Lohn oder sittliche Qualifikation zu erwarten — wir sind ja alle unnütze Knechte. Dabei ist der Christ in diesem seinem Ausbrechen aus der Gegenseitigkeit der ethischen Anfrage ebenso ratlos und wehrlos wie jeder andere Mensch. Er weiß nicht mehr vom Staat oder von der Ehe als andere. Aber er weiß das, was er wie andere weiß, anders — nämlich ohne dem Zwang der Gegenseitigkeit für sich zu unterliegen. Diese Andersartigkeit verändert sein In-der-Welt-Sein vom Grunde her. Der Grund aber ist Gottes Agape.
Ethische Studien* Α. Das sittliche Geschehen in seiner Materialität Wir haben als erstes zu versuchen, das sittliche Geschehen in seiner Sittlichkeit zu beschreiben. Dabei erfassen wir seine materia, d. h., »was« das sittliche Geschehen oder Handeln zum Sittlichen macht. Die einfache Beschreibung der Materie des Sittlichen gibt uns schon einige Auskunft darüber, was das sittliche Handeln oder Geschehen sei.
I. Beschreibung des sittlichen Geschehens Die Totalität und Universalität des Sittlichen lassen sich in einer Deskription nicht erfassen. Wir müssen sehr viel vordergründiger versuchen, das sittliche Handeln und Geschehen in seiner Sittlichkeit zu bestimmen. Dieser Schritt versteht sich nicht von selbst. Die Besprechung einzelner weitbeliebter Versuche, das Sittliche zu bestimmen, führt uns zu den Grenzbestimmungen von Totalität und Universalität des Sittlichen.
/. Drei Fehlansät^e Es versteht sich nicht von selbst, und es liegt nicht auf der Hand, »was« an einer Handlung oder an einem Geschehen, das man sittlich nennt, dieses Sittliche sei. Das Urteil, dieses Tun oder jenes Geschehen sei sittlich, betrifft offenbar ein in der Handlung oder in dem Geschehen verborgenes Charakteristikum. Wenn ein Mensch einem Kranken eine Suppe kocht und bringt, so ist das offenbar eine sittliche Handlung. Aber was ist an diesem Geschehen eigentlich sittlich? Liegt es darin, daß da ein hilfloser Kranker eine Hilfe erfährt? Oder ist der caritative Impuls dessen, der die Suppe kocht und bringt, das Sittliche daran? E. Brunner meint in der * Aus dem Kolleg: »Ethik«, Teil 1, Wintersemester 1979/80.
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Zur Grundlegung der Ethik
Einleitung seiner Ethik, an dieser Handlung selbst sei nichts sittlich. Was diese Handlung sittlich mache, das sei ihre Motivation. Das ZutatenBesorgen, Kochen und Bringen der Suppe sei rein technisches Handeln. Dieses technische Handeln sei stets nur sachlich richtig oder falsch. Man kann die Suppe für den kranken Mann aus Versehen oder Nichtkönnen auch versalzen. Das ist dann unsachgemäß, aber nicht unsittlich gehandelt. Brunner meint also, das Motiv zum technischen Handeln mache dies allererst sittlich. Diese Motivation aber sei »die Einordnung dieses Handelns in den Gesamtverlauf des Lebens« 1 . Dieses Beispiel leuchtet zunächst ein. Wir können es hier dahingestellt sein lassen, was die Einordnung in den Lebensverlauf sei. Die Grundunterscheidung, die Brunner zwischen einem nur technischen Handeln und seiner Motivation fallt, ist das Entscheidende. Das Sittliche an dieser wie an anderen Handlungen ist danach nicht an der Handlung selbst zu suchen, sondern steckt in ihrer Motivation, z. B. einem Kranken zu helfen. Aber ist diese Unterscheidung eigentlich richtig, d. h. wird sie dem gerecht, was eine sittliche Handlung auszeichnet? Kann man eigentlich rein technisches Handeln von sittlichen Motivationen unterscheiden? Ist der Handlungsablauf und auch sein »Erfolg« nicht so tief von dem sittlichen Willen des Handelnden mit bestimmt, daß die Handlung selbst sittlich oder unsittlich genannt werden muß? Beispiele medizinischer Ethik können das vielleicht zeigen. Technisches, medizinisches Können und Tun bedarf als solches nämlich der ärztlichen Zuwendung, um zu einem sittlichen Geschehen und auch zu einem Heilungserfolg zu werden. Das gilt aber auch von handwerklichem Können. Man merkt sehr genau, ob ein Fliesenleger seine hohe Kunst nur um des hohen Verdienstes willen übt oder ob er seine Arbeit mit seinem »Arbeitsethos« füllt. Dieses sogenannte Arbeitsethos umfaßt seine eigene Würde als Handwerksmeister, seine Freude am gelingenden Werk wie sein Bestreben, dem Bauherrn eine besonders schöne und lang haltende Fliesenwand gemacht zu haben. Wir müssen uns also fragen, ob die Scheidung von rein technischem Handeln und Motivation, die sittlich oder unsittlich sein kann, dem gerecht wird, was sittliches Geschehen tatsächlich ist. Diese Scheidung läßt etwas zu oder hält etwas für wirklich, was es so wohl nicht gibt, nämlich ein rein technisches Handeln. Es scheint freilich völlig richtig zu sein, daß auch noch so hohes »Arbeitsethos« nicht zu guten Erfolgen führt, wenn 1
E. Brunner, Das Gebot und die Ordnungen, Tübingen 1933, S. 5.
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einer sein Handwerk nicht vesteht. Also, die These ist nicht zu bezweifeln, daß kein sittlicher Impuls fehlendes Können ersetzen kann. Aber wenn wir uns fragen, worin die Unterscheidung von der Motivation und der technischen Durchführung begründet ist, so bemerken wir den Haken in der Sache. Man kann ja wohl eine sittliche Handlung erst dort von ihrem Motiv trennen, wo der Handelnde die Suppe kocht, um sich z. B. als sozial auszuweisen oder um sich Verdienste zu sammeln, die sich dann auszahlen. Die unsittliche Motivation trennt diese Motive von der Handlung, die nach wie vor sittlich aussieht, aber nun zu einem nur technischen Vollzug wird. Motiv und Vollzug einer Handlung sind da scheidbar, wo sich eine unsittliche Motivation einer an sich sittlichen Handlung bemächtigt. Wo der Arzt nur um persönlicher Vorteile willen seine Kranken behandelt, da ist sein Handeln nur noch technisch. Damit aber scheint das Handeln selbst versehrt zu sein, und das zeigt sich meist rasch an seinen Folgen. Vom Mißbrauch aus also legt sich die Trennung von Handlung und Motivation nahe. Nur vom Mißbrauch aus leuchtet diese Unterscheidung ein. Wenn man also eine rein technische Handlungsseite und ihre mögliche sittliche Motivation unterscheidet, so spricht man offenbar das Phänomen des Sittlichen von seinem Zerfall aus an. Dieses Vorgehen ist verständlich. Der sittliche Charakter einer Handlung ist ja nicht auf der Hand liegend. Man sieht es der Suppe nicht an, warum der Mann sie kochte und brachte. Trübe Alltagserfahrungen schlagen sich in ethischen Urteilen nieder: Man sollte erst das Motiv untersuchen, ehe man da von »sittlich« redet. Aber man vergißt, daß man mit der Unterscheidung von Motiv und rein technischem Handeln den usus der Handlung von ihrem abusus aus beurteilt. Sittliches Handeln kann mit unsittlichen Zielen oder Motivationen verbunden werden. Wo das der Fall ist, da ist das Handeln nur noch technischer Verlauf. Das Handeln ist nicht mehr von dem ihm angemessenen sittlichen Bestreben »unterfangen« oder erfüllt. Das heißt aber, daß die Unterscheidung von technischem Handeln und Motiv sich aus dem Bereich des Unsittlichen nahelegt. Es gibt tatsächlich den Fall, daß eine Handlung Güte und Hilfsbereitschaft vortäuscht, daß aber Eigensucht und Geltungsbedürfnis dahinter stehen. In diesem Falle ist das Handeln nur technisch. Diese Überlegungen lassen uns die Versuche, das Sittliche an einer Handlung durch die Unterscheidung von Motivation und technischer Durchführung zu erfassen, abweisen. Man kann den Charakter des Sittlichen nicht aus seinem Mißbrauch heraus ergreifen wollen. Wir re-duzieren
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also die Motivation in die Handlung selbst. Das Sittliche muß in ihr selbst liegen. Es gibt noch eine andere — wie die erste, nahezu selbstverständliche — Bestimmung des Sittlichen. Man wertet ja privates oder öffentliches Handeln ebenso wie politisches oder wissenschaftliches Handeln sittlich. Das geschieht nach Gesichtspunkten, die wiederum nicht unmittelbar mit der Handlung gegeben sind. Man fragt nämlich nach den Werten, die diese Handlung ausdrückt, oder nach ihren Unwerten. Da hat ein Soldat ein im Eis eingebrochenes Kind gerettet, und das war tapfer. Die Tapferkeit aber ist ein Wert, der diese Tat sittlich qualifiziert. Da hat Nixon in der Watergate-Affare Tonbänder vorenthalten und widersprüchliche Aussagen gemacht. Das ist nicht ehrlich und wahrhaftig. In dieser Handlung sind sittliche Werte verletzt, und damit ist dieser Präsident abqualifiziert. Nun, alle menschlichen Handlungen können solchen Wertfragen unterworfen werden. Vielleicht muß das in der ethischen Reflektion auch so sein. Die allgemeinste, fast schon nichtssagende Wertung dieser Art ist gut und böse. Nach dieser Auffassung wäre das Sittliche oder Unsittliche an den Werten oder Unwerten ablesbar und meßbar, die in einer Handlung realisiert werden. Das sittliche Geschehen kann danach dann so betrachtet werden, daß jeder Mensch unter bestimmten Wertanforderungen steht, deren Realisierung über den sittlichen Charakter seines Daseins entscheidet. Diese Wertanforderung wird im landläufigen Urteilen nicht so metaphysisch gesehen wie z. B. bei Scheler oder Hartmann. Ein An-sich-Sein der Werte ist ja auch — wie beide Ethiker zeigen — nur schwer durchführbar. Aber daß gut und böse, wahr und lügnerisch, ehrlich und betrügerisch Wertungen darstellen, die mit anderen einen Wertkanon bilden, der im allgemeinen Bewußtsein Grundlage sittlicher Beurteilungen ist, ist nicht zu bezweifeln. Jedoch, wir müssen, wie bei der Frage nach dem Motiv, fragen, ob diese Wertmaßstäbe eigentlich und wirklich das sittliche Geschehen bestimmen oder gar auszumachen in der Lage sind. Gewiß, eine ethische Reflektion kann die einzelnen sittlichen Vollzüge mit diesen Wertungen kennzeichnen. Das heißt, diese Werte sind als ethische, d. h. theoretisch abstrakte Einordnungs- und Klassifizierungs-Prinzipien für die Reflektion vielleicht praktisch. Aber das sittliche Geschehen selbst verläuft als sittliches Geschehen anders. Der Soldat springt nicht ins Eiswasser, weil er Tapferkeit für einen Wert hält, sondern weil der kleine Junge nicht ertrinken soll. Diese Handlung ist nicht darum sittlich, weil irgendwelche
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Werte darin realisiert sind, sondern weil ein Mensch für einen anderen sein eigenes Dasein für gering achten konnte. Gerade die formale Abstraktheit solcher Wertungen wie gut, wahrhaftig oder edel u. a. zeigt, daß mit diesen Wertungen im Zusammenhang metaethischer Theoriebildung vielleicht etwas anzufangen ist 2 , daß aber das sittliche Geschehen als dieses Geschehen von diesen Wertungen nicht getragen und bestimmt ist. Die sittliche Handlung wird nicht erst dadurch sittlich, daß sie — meist post festum — als gut oder tapfer eingeordnet wird. Ist die Handlung nicht vielleicht selbst sittlich? Mit der Beachtung dieser zweiten Charakterisierung des Sittlichen durch Wertmaßstäbe ist ein weites Gebiet ethischer Besinnung wiedergegeben. Angefangen von den hochabstrakten »Wertsatz«-Überlegungen der analytischen Ethik und den ebenso abstrakten Theorien der Wert-Ethiken geht es hinunter bis zu den ganz unreflektierten ethischen Urteilen im allgemeinen Sprachgebrauch. Das Sittliche an einer Handlung läßt sich offenbar »werten« oder in sittlichen Werten angeben. Ja, das Sittliche ist das Gute, und das Unsittliche ist das Böse. Man kann nicht bestreiten, daß dieses Wertdenken viel für sich hat. Mit den Werten läßt sich in abgekürzter Form arbeiten. Man wird gegenwärtig dabei das Gute nicht gerne gebrauchen. Das klingt den Meisten wie die Gute Fee aus dem Weihnachtsmärchen. Aber wenn man Freiheit sagt, so meint heute jeder zu wissen, daß das ein sittlicher Grundwert ist und daß eine sittliche Handlung jedenfalls eine frei geübte Handlung sein müsse. Jedoch wir meinen, daß wir mit diesen Wertcharakterisierungen dem Sittlichen in einer Handlung nicht nahekommen. Dies liegt für unsere heutige ethische Besinnung daran, daß wir das Gute oder andere Wertungen nicht mehr wie Aristoteles ontologisch mit der Handlung selbst in eins zu setzen vermögen 3 . Die ethischen Wertungen stehen der Handlung gegenüber als 2
Vgl. A. Jeffner, Die Rechtfertigung ethischer Urteile. In: ZEE, 19. Jahrgang, Gütersloh 1975, S. 236. Wir stimmen Jeffner also völlig zu, daß in der ethischen Theoriebildung »Wertsatztheorien« ihren guten Platz haben.
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Dazu ist v o r allem das II. Buch der Nikomachischen Ethik zu vergleichen. Die Tugendund Wert-Lehre des Aristoteles sieht die Werte unmittelbar auf die ουσία wie auf ihr Form-Prinzip (Nikom. Eth. II, 6; 1 1 0 7 a, 5 — 8) bezogen. Darin drückt sich die ontologische Einheit des sittlichen Wertes und der sittlichen Handlung aus. Als diese Einheit aber ist der Wert eine Mitte (!) zwischen zwei Unwerten. In diesem Sinne ist der sittliche Wert aber e negativo erschlossen! Dies ist f ü r Aristoteles nicht gefährlich, da die Handlung in ihrer Realität den Wert handelt und der Wert nicht — wie für uns heute — ein Urteil über die Handlung darstellt.
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Charakterisierungen, die unser Deuten ausdrücken, aber die Sache nicht selbst zu Worte kommen lassen. Wir meinen daher, die Scheidung von sittlicher Handlung und Werten sage darüber nichts, was denn nun an einer Handlung ihr sittlicher Charakter sei. Wir erreichen mit den ethischen Werten das Sittliche an der Handlung gar nicht. Wir müssen noch eine dritte Überlegung hinzufügen. Auf die Frage nach dem Sittlichen einer sittlichen Handlung oder eines sittlichen Geschehens wird ja neben Motiv und Wert noch ein dritter Deutungstyp verwendet. Das Sittliche soll in dem Gehorsam gegenüber Normanforderungen bestehen. Danach also vollzöge sich sittliches Geschehen als bewußtes oder vielleicht auch unbewußtes Annehmen von Anforderungen. Die Ethik also hätte diese Normen festzustellen. Sie hätte sie vielleicht auch zu überprüfen oder zu systematisieren. Nun, sittliches Handeln sieht ja tatsächlich so aus, als könne man es so interpretieren. Jede Handlung kann man auf eine Norm zurückführen, nach der diese Handlung sich vollzog. Dabei bleibt es sich gleich, ob man diese Normen zur Autonomie zu vertiefen sucht oder ob man ihre Heteronomie hinnimmt. Wenn man die Norm des sittlichen Handelns, wie K. E. Logstrup das tut, in einem so allgemein menschlichen Tatbestand wie dem Vertrauen gründen läßt, dann trägt diese Norm da, wo sie eine Handlung bestimmt, also im sittlichen Gelingen, den Charakter des absoluten Schweigens. Erst wo das Vertrauen verweigert oder enttäuscht wird, da tritt die Norm aus ihrem Schweigen heraus. Das heißt aber, daß die Norm als Norm erst im Mißbrauch hervorkommt. Das »du sollst« der Norm wird erst im Zerfall des Sittlichen wirksam. Ja, die Norm wird erst im Zerfall des Sittlichen überhaupt als Norm sichtbar. Als Norm setzt sie das Unsittliche voraus. Das heißt, es kann nicht bestritten werden, daß es menschliches Handeln gibt, das sich Normen gegenübersieht. Diese Normen tauchen als Normen aber nur dort auf, wo der Mensch an die Grenze des sittlich Vertretbaren kommt. Solange eine Ehe von zwei Menschen glücklich und in Liebe gelebt wird, taucht die Norm »Du sollst nicht ehebrechen« gar nicht auf. Zumal — diese beiden Menschen leben ihre Liebe als Ehe nicht etwa deswegen miteinander, weil es die Norm gibt: »Du sollst nicht ehebrechen«. Sie leben ihre Ehe monogam, weil ihre Liebe, ihre Achtung, ihre Ehrfurcht — oder wie man das sehr komplexe Zueinander umschreiben soll — sie einander zuwendet und in der Zuwendung festhält. Schon der Gedanke, hier herrsche »Pflicht« im Sinne Kant's, d. h. die Notwendigkeit dieser
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Ehe als Einehe basiere auf der »Achtung fürs Gesetz«, verbietet sich. Die Notwendigkeit dieser lebenslangen Zuwendung geht aus der ganz eigenständigen Fülle dessen hervor, was man eheliche Liebe nennt. Freilich ist diese eheliche Liebe nicht rein vital. Als Treue ist sie rational geprägt. Das hilft ihrer vitalen Rhythmik immer wieder zurecht. Aber die ethische Norm kommt erst da — aber dort auch sofort — in Sicht, wo die eheliche Zuwendung getrübt, durch das Eintreten eines Dritten gestört oder durch gesundheitliche Schäden erkaltet ist. An der Grenze des Mißbrauches von Ehe, da ist die N o r m sofort präsent. Wir charakterisieren diesen Sachverhalt in dieser Überlegung auch terminologisch. Wir wollen den Bereich der Normherrschaft Moral nennen. Die intakte Einehe ist also nicht von der N o r m basiert oder gehalten oder auch nur berührt. Das sittliche Geschehen der Ehe ruht in seinem sittlichen Gelingen nicht auf der Norm. Ihr ist die Norm stumm, würde Logstrup sagen. Wir sagen lieber, dieser Bereich des Sittlichen geschieht aus »Impulsen« oder »Kräften«, die gar nichts mit N o r m zu tun haben. Jedenfalls meinen wir, die Norm könne als N o r m nicht zur ethischen Erklärung gelingender Einehe bzw. als sittliche Basierung derselben angenommen werden. Was für uns hier wichtig ist: Wenn man das Sittliche einer sittlichen Handlung von der N o r m aus zu bestimmen wünscht, dann tut man jedenfalls das, was uns die ethische Motiv-Bewertung bereits zeigte, man erklärt nämlich das Sittliche von seinem Mißbrauch aus. Da erst wird die N o r m akut. Gelingende Ehe ist als sittliches Geschehen nicht auf Normen der Monogamie oder ähnliches gebaut, sondern sie ist auf durch und durch »positive«, im Geschehen zwischen den beiden Menschen selbst liegende »Impulse«, »Kräfte«, oder wie man das nennen soll, gegründet. In diesen »Impulsen« oder »Kräften« ist das sittliche Geschehen Ehe angelegt. Lassen wir die Frage hier noch beiseite, ob die Ehe als Institution nicht stets die Präsenz des Normativen zeige. An diesem Einwurf ist »etwas« dran. Das, worauf es uns ankommt, ist deutlich: Das Sittliche an einer Handlung kann schwerlich als Normerfüllung beschrieben werden. Die Norm ist im sittlichen Geschehen stumm, bzw. sie ist als N o r m nicht präsent. An dieser Überlegung zur N o r m bemerken wir wie zum Motiv und zum Wert: Das Sittliche eines Geschehens kann offenbar nicht angemessen bestimmt werden, wenn wir es getrennt von der Handlung als Motiv, Wert oder N o r m ansetzen. In allen drei Fällen wird dadurch das sittliche Geschehen um den ihm eigenen Charakter gebracht. Für die ethische
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Reflektion mag an der Erörterung der Motivation, Werthaftigkeit und Normhörigkeit sittlichen Geschehens die Möglichkeit von Vereinfachung der Urteile und damit auch der Zugang zur Systematisierbarkeit sittlicher Abläufe liegen. Für unsere Frage nach dem Sittlichen in einem Geschehen sind diese drei Meinungen nicht annehmbar.
2. Totalität des
Sittlichen
Wir haben bislang von sittlichen Handlungen gesprochen und auch vom sittlichen Geschehen. Wir haben nach dem Sittlichen in Handlung oder Geschehen gefragt. Wir müssen an dieser Stelle kurz erläutern, was es mit dem sittlichen Geschehen auf sich hat. Wenn wir gegenüber oder neben einer sittlichen Handlung vom sittlichen Geschehen sprechen, so tun wir das, um deutlich zu halten, daß die Sittlichkeit ein menschliches Verhalten darstellt, das nicht auf bewußtes Handeln beschränkt ist. Dies ist nach zwei Richtungen wichtig: Sittlich ist nicht nur ein Handeln, sondern dazu gehört in engster Verbundenheit eine »Haltung«. Ja, die Haltung eines Menschen, sein geistig erschlossenes Bei-sich-Sein ist von hohem sittlichen Belang. Sittlichkeit ist also weitreichender als Handlungen. Sittlichkeit ist ein Dasein, und es kann von hohem sittlichen Belang sein, ob in einer Familie »einfach« einer da ist, an dem sich das wirre Planen und Drängen der anderen sittlich ausgerichtet findet. Gegenüber dem ewigen Handeln muß also deutlich bleiben, daß sittliches Geschehen sich auch ganz abgesehen vom Handeln im Dasein oder in Haltungen vollzieht. Auf der anderen Seite und dazu gehörig ist die Bemerkung, daß Sittlichkeit nicht etwa nur im bewußten und rational erfaßbaren Handlungsbereich geschieht. Sittlich ist auch unser unbewußtes oder unterbewußtes Dasein und Kommunizieren mit Menschen, Tieren und Pflanzen. Es war früheren Geschlechtern voll einsichtig, daß es eine sittliche Bindung an und sittliche Verbindung mit Pflanzen, Tieren und Menschen der näheren und weiteren Umwelt des Menschen gibt, der sich der Mensch nicht, ohne schwere psychische Störungen zu riskieren, entziehen darf. Es war auch einsichtig, daß das für die verschiedenen Menschen ganz verschiedenartige sittliche Verantwortungen begründete. Nicht jeder Mensch hat z. B. eine »glückliche Hand« für Pflanzen. Heute müssen wir uns diese »Selbst-Verständlichkeiten« aus den biologischen Forschungen
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mühsam zurückholen 4 . Aber wir können dies glücklicherweise. Viele sittliche Fragen, um die wir im Anschluß an ethnologische und vitalistische Impulse in den 30er wie 50er Jahren vergeblich kämpften, wie z. B. der Umweltschutz, beginnen im Bewußtsein der 70er Jahre zu »dämmern«. Das ist eine sehr wesentliche Sache. Das sittliche Geschehen nämlich reicht für jeden Menschen tiefer und weiter als sein rationales Einsehen ihm im Umgang mit anderen Menschen erschließt. Wenn wir also vom sittlichen Geschehen oder auch vom sittlichen Handeln sprechen, so meinen wir damit stets das Ganze des Daseins; einerseits, was Dasein, Haltung wie Handlungsfähigkeit des Menschen, und andererseits, was sein Verhältnis zu seiner Umwelt insgesamt angeht. In beiden Hinsichten, so müssen wir sagen, reicht die sittliche Veranwortung des Menschen weiter als sein bewußtes Agieren erfaßt. Das Sittliche ist also nicht nur ein bewußtes Sich-Entscheiden für dies oder gegen das. Das Sittliche geschieht als solches an und mit dem Menschen, wie wir z. B. an jedem Lebensstil oder Zeitgeschmack sehen werden. Wir müssen hierzu noch eine Seite des Ganzen betonen. Die verborgene Welt der Gedanken eines Menschen, die sich nicht in Handlungen sichtbar macht, hat ja eine sehr besondere sittliche Relevanz. Dies gilt einmal in der Richtung, daß die Gedanken eines Menschen — wenn er denn wirklich welche denkt — seine Umwelt auch im Dinglichen prägen und verändern. In Europa hat man sich seit der glorreichen Aufklärung des 18. Jahrhunderts daran gewöhnt, zu meinen, Gedanken seien »zollfrei«, wie man sagt. Das heißt ja wohl, daß mein schmutziges oder sauberes Denken, meine ehrlichen oder hinterlistigen Gedanken sittlich nichts bedeuten, wenn sie keine Taten heraufführen. Die westeuropäisch-amerikani-
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Dazu vgl. das Buch von Peter Tompkins, Christopher Bird, Das geheime Leben der Pflanzen. Pflanzen als Lebewesen mit Charakter und Seele und ihre Reaktionen in den physischen und emotionalen Beziehungen zum Menschen. 1. Auflage, Bern, München 1974, in dem die Forschungen auf diesem Gebiet in Sowjet-Rußland, Nord-Amerika und Indien zusammengestellt sind. Das, worauf es ankommt, ist die Tatsache, daß es Wirkungen des Menschen auf seine Umwelt gibt, die jenseits des Tagbewußtseins liegen, die aber zur sittlichen Verantwortlichkeit des Menschen gehören. A u s ähnlichen Überlegungen heraus hat Albert Schweitzer in seiner Kulturethik die sittliche Verantwortung des Menschen für seine pflanzliche und tierische Umwelt neu zu begründen versucht. Merkwürdig — in den Debatten der Ethiker kommen stets nur Menschen vor, und das sittliche Geschehen hat den Charakter eines einzigen großen Managements und Stresses, das Menschen verursachen und das Menschen betrifft.
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sehe Zivilisation leistet sich solche kurzschlüssigen Torheiten und bezahlt sie mit psychotherapeutischen Behandlungen oder Yoga-Kursen. Ein Mensch, der sein Denken frei wuchern läßt — vielleicht noch durch Krimis oder Pornographie stimuliert —, setzt erstens zerstörerische Kräfte in seiner Umwelt frei, zersetzt aber zweitens sich selbst, denn sein Handeln verläuft ganz bürgerlich und rechtschaffen langweilig. Der tiefe Hiatus bzw. die sittliche Schizophrenie, die viele Menschen sich darin »leisten«, daß sie in einer Scheinwelt — vielleicht von Kino oder Fernseh-Vorstellungen beeinflußt — ihre Gedanken grassieren lassen und in ihrer Existenz völlig anders strukturierten Maßstäben folgen, bedroht Handlungsinteresse und Handlungsfähigkeit des Menschen in der heutigen Welt. Was in früheren Zeiten das Schicksal einzelner war 5 , betrifft heute die Menge der Menschen: Wo Gedanken und Tat nicht miteinander gehen, da zerfällt die sittliche Integrität der Person. Die Überlegungen dieses Abschnittes zeigen an, daß das Sittliche über das rational einsehbare Handeln hinaus den Gesamtzusammenhang des Menschen mit seiner Umwelt angeht. Die Ganzheit des Menschen, die unteilbar nach Bewußtsein, Leibhaftigkeit und Empfindung und auch unteilbar nach Tagesbewußtsein und Unterbewußtsein in ihrer Umwelt — ebenso der Pflanzen wie der Tiere und Menschen — empfangend und gebend lebt, Kommunikation erfahrt und übt, diese Ganzheit trägt und erfahrt sittliches Geschehen — in ihrem Dasein, in ihrem Tun wie in ihrem Lassen. Diese Ganzheit menschlichen In-der-Welt-Seins ist der Ort sittlichen Geschehens. Dabei scheint es wichtig zu sein, deutlich zu halten, daß diese Ganzheit menschlichen In-der-Welt-Seins sich vernunft-erfüllt vollzieht 6 . 5
Ein besonders eklatantes Beispiel ist der in der Erziehung des Kapuziner-Ordens aufgewachsene Ignatius Aurelius Fessler, den P. F. Barton in hervorragender Weise dastellte. Fessler hat sich während seines mönchischen Daseins ständig mit aufklärerischen Gedankengängen befaßt. Barton kann nun zeigen, daß Fessler aus dieser Zeit der Gespaltenheit von Gedanken und Handeln eine sich tragisch auswirkende Unfähigkeit zur unmittelbaren Kommunikation sein ganzes Leben behielt. Gerade in sittlicher Hinsicht trug Fessler tief bedenkliche sittliche Schäden — zum Teil ganz bewußt — bis ins Greisenalter an sich, vgl. P. F. Barton, Ignatius Aurelius Fessler. Vom Barockkatholizismus zur Erweckungsbewegung, Wien 1969, passim.
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Damit nehmen wir die Unterscheidung v o n Vernunft und Verstand auf, wie sie z. B. Friedrich Heinrich Jacobi beschäftigte. Jacobi hat Kant darin angegriffen, daß er »die Vernunft zu Verstände« bringen wollte, wie seine Schrift gegen Kant von 1801 hieß (F. H. Jacobi, Ueber das Unternehmen des Kritizismus die Vernunft zu Verstände zu bringen
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Wie immer man diese Tatsache im Einzelnen erläutert, so ist das Wesentliche daran, daß das sittliche Geschehen offenbar in Bereiche gehört, die den Menschen seiner Welt umfassender verbinden als das eine rational sachbeziehbare Verständigkeit einzusehen vermag. Die Verbundenheit ist in ihrer Verbindlichkeit aber der Logos-Struktur der Welt erschlossen.
3. Universalität des Sittlichen Das Sittliche in einem Geschehen oder an einer Handlung hat eine Eigenart, die für uns wichtig ist. Wenn wir erwägen, wie weit das Sittliche eigentlich reicht, so bemerken wir rasch, daß offenbar alles Geschehen sittlich relevant ist. Das kann man sich an zwei Phänomenen deutlich machen. Am augenfälligsten wird dies in den Reaktionen von Presse und öffentlicher Meinung. O b es sich um das Verhalten der »Ölscheichs« oder den Eintritt Amerikas in den Vietnam-Krieg handelt, ob es sich um TarifVerhandlungen oder Zulassung von Studenten zum Studium handelt, alle diese Ereignisse werden nach sittlichen Maßstäben eingeordnet und anhand dieser Wertung begrüßt oder abgelehnt. Es ist auffallend, daß dagegen die Tendenz zu bestehen scheint, speziell sittliche Ereignisse, einen Mord oder eine Vergewaltigung, aus sittlichen Bewertungen herauszunehmen und dem Psychiater zuzuweisen. Zu diesen Merkwürdigkeiten gehört wohl auch, daß in den sittlich bzw. moralisch wertenden Berichten Vorstellungen von Moralität als Treue oder Ehrlichkeit, Verläßlichkeit und anderen bürgerlichen Tugenden auftauchen, die im Ganzen sonst als veraltet gelten. So haben England und Amerika immer einmal wieder einen Riesenskandal, weil irgendein Minister mit einem hübschen Mädchen schlafen ging. Nun,
und der Philosophie ueberhaupt eine neue Absicht zu geben. In: Werke. 3. Band, Leipzig 1816 ( = Darmstadt 1968), S: 49—195). Es kommt bei diesem Unterschied darauf an, daß die Vernunft die unmittelbare Erfahrung charakterisiert, die der Mensch mit seiner Welt macht. Diese unmittelbare Erfahrung ist nicht ohne Bewußtheit, aber sie ist ohne Verstand. Dieser Unterschied v o n Vernunft und Verstand ist in der Neuzeit am klarsten durch Paul Tillich erklärt in seiner Unterscheidung von ontologischer und technischer Vernunft. Dieser Unterschied ist sinnvoll nur auf dem Hintergrund der Tatsache, daß Wirklichkeit und Mensch, beide, Vernunft-Struktur an sich tragen. Die Tatsache, daß die ontologische Vernunft in der Lage ist, Realität zu erfassen und an ihr teilzuhaben, gründet in der »Vernünftigkeit« der Realität! (Dazu z. B. die Darlegungen Paul Tillichs in: Ders., Systematische Theologie, Band I, Stuttgart 1956, S. 8 7 - 9 8 ) .
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im allgemeinen nehmen zumal Jugendliche zwischen 14 und 20 Jahren es als ihr emanzipatives Recht in Anspruch, ihre Partner oft zu wechseln und allerdings nicht »moralisch schüchtern« zu verfahren. Aber bei so einem anglikanischen Minister ist dann sogleich »die« Öffentlichkeit empört. Man hat noch nicht einmal den Eindruck, daß diese Empörung stets nur Farce sei, um das politische Hintergrundgeschehen abzudecken. Offenbar — und darauf kommt es an — ist alles Geschehen Gegenstand sittlicher Wertung. Das gilt für eine Dokumenta in Kassel wie für politische oder wirtschaftliche Ereignisse. Die andere Tatsache, die uns die Universalität des Sittlichen zeigt, ist der Themenbereich der ethischen Forschung. Die ethische Forschung zieht alles vor ihr Forum. Eine Wirtschaftsethik und eine politische Ethik sind ebenso selbstverständlich wie eine Kulturethik oder eine Wissenschaftsethik. Dabei versteht es sich von selbst, daß Ehe und Sexualethik, Familienethik oder die ganzen Probleme von Sport und Spiel ethisch behandelt werden. Die beiden Beobachtungen zeigen also, daß das Sittliche als ein spezifisches Moment an allen Lebensäußerungen wahrgenommen werden kann. Wenn wir an die ganzen Überlegungen zur Berufs- und ArbeitsEthik denken oder an die gewiß dazugehörige Rede von der sittlichen Aufgegebenheit der Freizeitgestalt, so ist die Universalität des Sittlichen bzw. Moralischen in und an allen Lebensvollzügen deutlich. Die Beobachtung an den Berichterstattungen und öffentlichen Kommentaren zeigt, wie wir bemerkten, daß es auch heute offenbar sehr beliebt, ja wohl gar unvermeidbar ist, öffentlich Ereignisse sittlich oder moralisch zu beurteilen. Die öffentliche Meinung ist, zumal in angelsächsischen Ländern, von solchen Beurteilungen auch sehr abhängig — und dies zu einer Zeit, wo sittliche und moralische Vorbehalte aus dem persönlichen Lebensumkreis scheinbar mehr und mehr verschwinden. Oder sollen wir besser sagen, wo scheinbar andersartige und neuartige (?) sittliche oder moralische Überzeugungen, bei denen z. B. Freizügigkeit und Selbstentscheidung gerade bei Jugendlichen oder tiefes »Verständnis« für alles Verbrecherische wesentlich sind, an Überzeugungskraft zunehmen? Die eminent universale Reichweite ethischer Fragestellungen und Urteile hat dazu geführt zu sagen: Das Sittliche und Moralische sei das Menschliche 7 . Oder das Menschliche am Menschen sei seine sittliche 7
Dazu vgl. z. B. Chr. Luthardt, Kompendium der theologischen Ethik, 2. Auflage, Leipzig 1898, S. 4: »Das Sittliche ist das durch die immanente Zweckbeziehung und Zweckbestim-
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Verantwortung. Dieses Urteil beruft sich gern auf das Ende der Nikomachischen Ethik, wo Aristoteles die Ethik als die »Wissenschaft des Menschlichen« 8 kennzeichnet. Nun, es ist offenbar so, daß alles, was mit dem Menschen, mit seinem Dasein, mit seinem vernunftvollen Umgang mit seiner Umwelt, mit seinen Handlungen und Schicksalen zu tun hat, stets auch sittliche oder moralische Aspekte aufweist. Oder sagen wir es anders: Was immer der Mensch in seiner Familie oder in seinem Beruf in bezug auf andere Menschen oder in bezug auf seine tierische, pflanzliche oder Wüsten-Umwelt denkt oder tut oder auch nicht tut, was er als Einzelner oder als Glied einer Körperschaft entscheidet und ins Werk setzt oder läßt, alles dies hat »in, mit und unter« seinem sachlichen So-Geschehen auch noch den Aspekt des Sittlichen und Moralischen. Dieser Aspekt bedeutet dabei nicht nur etwas Nebensächliches. Der sittliche oder unsittliche Charakter eines Geschehens entscheidet vielmehr über den menschlichen Grundaspekt desselben. Jedoch, wenn wir das Sittliche an einem Geschehen das Menschliche nennen, so haben wir damit zwar einen neuen Begtriff eingeführt, aber was dieses Menschliche am menschlichen Handeln sei, das ist genau so wenig evident wie die Bedeutung des Sittlichen. Auch beim Menschlichen scheint es so zu sein, daß man es am ehesten aus seinem Gegensatz heraus meint bestimmen zu können. Was unmenschlich ist, meint man rasch sagen zu können. Aber dies wird uns zur Bestimmung des Menschlichen ebenso wenig helfen wie der Versuch, das Sittliche vom Unsittlichen aus zu definieren. Es ist daher ganz zutreffend, wenn A. Rieh, der auch durchaus der Meinung ist, daß »im Menschlichen die Grundlage der Ethik zu sehen« ist, zugleich damit betont, daß das Menschliche »tatsächlich alles andere als selbstverständlich« 9 ist. Die Menschlichkeit des Menschen übersteigt mung des Menschen geforderte und ihr entsprechende frei persönliche Sein und Verhalten, daher Gegenstand der Selbstbeurtheilung desselben«. Vgl. ebenso R. Seeberg, Christliche Ethik, Stuttgart 1936, S. 3 f.: »Die Ethik als Wissenschaft hat zum Gegenstand das sittliche Leben. Das sittliche Leben ist zwar verschieden von den sonstigen Lebensäußerungen des Menschen, aber es steht in einem engen Zusammenhang zu seinem Gesamtleben«. Vgl. auch W. Weischedel, Skeptische Ethik, Frankfurt/M. 1976, S. 22: »In der Philosophischen Ethik geht es um den Menschen. Zum Thema werden dessen Verhalten und dessen Haltung«. 8
Aristoteles, Nikomachische Ethik X , 10, 22; 1 1 8 1 b , 15 f.
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A. Rieh, Das »Humanum« als Leitbegriff der Sozialethik. In: Humane Gesellschaft. Beiträge zu ihrer sozialen Gestaltung. Zum 70. Geburtstag von Prof. D. Hans-Dietrich Wendland. Hrsg. Trutz Rendtorff und Arthur Rieh, Hamburg, Zürich 1970, S. 14.
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den empirischen Befund des Humanuni und die Faktizität Mensch bei weitem. Die beliebte Rede, daß der Mensch ganz und gar ins Offene dessen gestellt sei 10 , wohin er sich überschreiten müsse, ist wohl so zu plerophor und vage gesagt. Aber in dieser Tendenz, das Menschliche des Menschen nicht in Vorfindlichkeiten zu bestimmen, sondern in Möglichkeiten und Zielen, die dem Menschen vorausliegen, zu sehen, macht sich etwas von dem geltend, wie wir heute zu denken pflegen, nämlich im Modell von Prozessen. Darin liegt für uns das Uberzeugende an diesen auf die Kategorie der Möglichkeit oder auf das Bild des Offenen gestellten Definitionen. Pascal's bekannte These, daß der Mensch den Menschen unendlich überschreite, sagt diesen Sachverhalt sehr klar aus. Wenn wir das Sittliche in allem sittlichen Handeln und Geschehen als das Menschliche bezeichnen, dann haben wir damit nicht mehr getan, als hinweisend den lebensvollen Bereich angegeben zu haben, in dem das sittliche Geschehen seinen Ort hat. Die Grenzen dieses Bereiches sind das Tierische — als das voll in seine Gegenwartszwänge eingebundene Verhalten — und das Unmenschliche — als das jenseits von Lebensermöglichung drohende Chaos. Innerhalb dieser Grenzen bewegt sich das Menschliche des Menschen oder sein Menschlichwerden, in dessen Ereignungen — wo auch immer — das Sittliche erkennbar wird. Dies gilt sowohl von der Breite menschlichen Verhaltens als politisches, wirtschaftliches, kulturelles und wissenschaftliches Tun, als das ganz persönliche Leben und das öffentliche Dasein in den Institutionen, als auch von der Tiefe menschlichen Verhaltens als rationales wie transrationales Dasein und Kommunizieren mit den Menschen wie mit allen Wesenheiten dieser bestimmten Umwelt. In der Universalität der Lebensäußerungen wie in der Totalität humanen Daseins und Umgehens vollzieht sich das Sittliche. Sein Bereich deckt sich mit dem Menschlichen. Und die Frage ist: als was?
II. Bedürfniszwang und Gestaltfreiheit Eine Beschreibung des sittlichen Handelns oder Geschehens soll uns die Materialität des Sittlichen liefern. Wir erhoffen uns von einer solchen 10
Vgl. W. Pannenberg, Was ist der Mensch? Die Anthropologie der Gegenwart im Lichte der Theologie, Göttingen 1962, S. 9f., vgl. dazu die viel einsichtigere Replizierung von D. v. Oppen, Moral. Wie können wir heute miteinander leben? Stuttgart 1973, S. 15 f. und S. 32 ff.
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Beschreibung die Möglichkeit, der Eigenart dessen, was das Sittliche zum Sittlichen macht, näher zu kommen. Wir werden aus der materia des Sittlichen gewiß nicht seine ganze Eigenart zu erfassen vermögen, denn wenigstens die Erörterung seiner forma, also der es formenden Kräfte, gehört dazu.
1. Der Tatbestand des humanen Sittlichen
Der Mensch hat seinen Grundkontakt zu seiner Umwelt, wie auch Pflanze und Tier, darin, daß der Zwang, seine Bedürfnisse zu befriedigen, ihn dieser seiner Umwelt anweist. Er muß essen, und damit ist er seiner Umwelt in bestimmter Weise zugewendet. Er muß trinken. Er braucht die Höhle als Unterschlupf oder die künstliche Blätterwand als Dach oder Windschirm. Der Mensch bedarf seiner Umwelt. Eng ist er ihr verflochten, und dennoch — er als Mensch steht ihr gegenüber. Seine Angewiesenheit auf die Umwelt teilt der Mensch mit Pflanze und Tier. Seine Entfremdung von dieser Umwelt und seine Instinktunsicherheit aber scheiden ihn in seinem Umweltverhalten von den Pflanzen wie von den Tieren. Der Brückenschlag zu seiner Umwelt ist das zentrale Lebens- und Denkproblem des Menschen. Die Sicherung dieses Brückenschlages stachelt den Menschen zu seinen großen Leistungen in der Daseinsbewältigung an. Seine Instinktunsicherheit und Entfremdung von seiner Umwelt verdankt er seiner Vernunft, die ihn von Pflanze und Tier scheidet und die ihn zugleich aus ihrer Umweltverwobenheit zu ihm eigenen neuen DaseinsBewältigungen frei-stellt. Der Mensch ist auf die Nutzung seiner Umwelt angewiesen. Seine Bedürftigkeit treibt ihn unentwegt an, sich Nahrung und Kleidung, Wohnung und eine Frau zu rauben oder zu kaufen oder zu erarbeiten. Seine Familie aber weitet sich zur Sippe oder zum Clan, und die Sippe bedarf einer Ordnung, und der Stamm, die Stadt und der Staat machen sich im Zusammenschluß um der Sicherheit und Wohlfahrt willen unentbehrlich. Der Mensch lebt seine Bedürftigkeiten in den genannten Richtungen. Diese Antriebswelt heißt man Erotik. Es gibt sehr verschiedenartige ErosWeisen, wie es verschiedene Bedürftigkeiten gibt. Wenn man sich die Eroslehre Ludwig Klages' z. B. ansieht, dann leuchtet es ein, daß z. B. nicht nur ein Eros lebt, der dem Trinken überhaupt gilt, weil man Durst hat, sondern daß sich die Weisen des Eros — auf Rotwein z. B. — noch
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spezialisieren. Der Mensch ist aus seiner Antriebswelt auf Grund seiner verschiedenen Bedürftigkeiten seiner Umwelt »erotisch« aufgetan. Aber, wir müssen uns fragen, wieso denn aus dem Antrieb des Durstes ein Eros oder erotisches Schema wird, das sich auch meldet, wenn kein eigentlicher Durst antreibt. Offenbar ist das beim Tier anders. Das Tier hat Durst, säuft sich satt, und die Sache ist erledigt. Der Mensch macht das im allgemeinen nicht so. Er hat auch Durst. Aber wie die Sprache deutlich macht, trinkt er und säuft nicht. Wenn er Hunger hat, ißt er und frißt nicht wie ein Tier. Auf diese Unterschiede kommt es offenbar an, denn in ihnen ist das markiert, was das Sittliche ausmacht. In ihnen ist auch das markiert, was den vitalen Antrieb zum Eros werden läßt. Gehen wir die Grund-Bedürftigkeiten des Menschen einmal durch: Das tiefste und stärkste Antriebsmoment des Menschen gründet wohl in seiner Bedürftigkeit nach dem anderen Geschlecht. Dies ist ein sehr komplexer Bereich, in dem Sexus, Eros und Philia in sehr variablen Formen sich treffen. Zweitens stellen wir daneben jene besondere Antriebszone, die Eltern und Kinder verbindet bzw. die Kinder an ihre Eltern bindet. Drittens sind es die vitalen Bedürftigkeiten von Essen und Trinken, viertens die sich zu kleiden, fünftens die zu schlafen bzw. zu wohnen. Sechstens ist der Antriebsbereich zu nennen, der dem Menschen Sicherheit und Ordnung zum dringenden Bedürfnis macht und der zu den politischen Zusammenschlüssen führt. Was geschieht nun eigentlich in diesen Antriebsbereichen oder mit diesen Bedürftigkeiten? Was ist es, so können wir auch fragen, was an ihren Befriedigungen charakteristisch menschlich ist? Das wird vermutlich in den verschiedenen Bereichen auch noch wieder verschieden sein. Sehen wir die sechs Bereiche daraufhin an: Der Antrieb des Mannes zur Frau oder der Frau zum Manne in seiner ganzen komplexen Struktur wird unter Menschen, solange wir sie beobachten können, so gelebt, daß ein Mann mit einer oder mehreren Frauen, oder auch eine Frau mit einem oder mehreren Männern, eine Ehe begründen und führen. Diese Ehe hat sich nicht aus anfänglichen Formen der Promiskuität erhoben. Sie ist auch nicht aus anfänglicher Monogamie depraviert. Sie ist, soweit wir das beobachten können, als Ein- oder MehrEhe mit all den Querelen und all den hohen Möglichkeiten, die eine Ehe mit sich bringt, mit dem Menschen als typisch menschliche Weise, mit den tiefen Antrieben in der Verbindung von Sexus, Eros und Philia fertig zu
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werden, dagewesen. Was ist denn nun das Besondere an dieser offenbar spezifisch menschlichen Lösung des Problems? Das Besondere an der Ehe ist, daß der schweifende Trieb des Mannes an einer Frau festgehalten wird, und dies gilt auch umgekehrt. Es ist dabei nicht so, daß dieses Festhalten von außen käme. Zur Liebeserfahrung zweier Menschen gehört der Impuls: auf ewig! Dieser Impuls, der zur Menschenliebe gehört, schafft sich die Lebenslänglichkeit ehelicher Bindungen. Das spezifisch Menschliche an der Lösung oder Befriedigung dieser Bedürftigkeit wäre also: Wenn es denn so ist mit Männern, dann laufen sie nicht zur ersten besten, um mit ihr zu schlafen. Dann suchen sie erst einmal »ihre« Partnerin. Und dann rennen sie auch nicht wie wild zusammen. Dann feiern sie erst einmal ein rauschendes Fest, und dabei geloben sie einander Treue, und das gehört »zur Sache«. Und dann, nachher können sie ungerügt, wichtiger ist ungefährdet, einander liebhaben. Was als Ehe oder in einer Ehe geschieht, ist also dies: Die Befriedigung der sexuell-erotischen Bedürftigkeit zweier Menschen wird aus ihrer Augenblickshörigkeit, die sie zum quälenden Partnerwechsel verdammt, befreit und auf Dauer oder Ständigkeit transzendiert. Dies geschieht durch Gestaltgebung: Die Liebe überschreitet ihre Zeitanfälligkeit zur Gestalt der Ehe. Diese Gestalt erhebt sich als Fest oder aus einem Fest, in dem und durch das sich die Transzendierung der Bedürftigkeit zu ihrer Befriedigung in Gestalt vollzieht. Dieser Vorgang also: »Die Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung zur Gestalt« ist das spezifisch Menschliche an diesem vitalen Geschehen. Dieser Vorgang »gestaltet« es, und diesen Vorgang nennen wir das Sittliche an diesem Geschehen. Gehen wir zum zweiten Bereich, der Familie. Es ist lange Zeit die Meinung der Ethiker gewesen — auch heute ist diese Gewohnheit nicht ausgestorben —, sich um die Familie nur als Anhang zur Ehe kümmern zu sollen. Dies ist ein bedauerlicher Fehlansatz, der die ethische Behandlung der Ehe ebenso hemmte, wie er die Erkenntnis des sittlichen Belanges der Familie hinderte. Dieser Sachverhalt ist aber verständlich, denn die Familie, wie sie als spezifischer Eros von Vätern und Müttern zu ihren Kindern und als ebenso spezifischer Eros der Kinder zu ihren Eltern lebt, ist als diese sogenannte Kleinfamilie einerseits lange unter der Großfamilie verborgen geblieben. Oder sagen wir besser, daß sich die Kleinfamilie immer wieder in die Großfamilie aufhob bzw. über sie als tragender wirtschaftlicher oder politischer Faktor von Belang war und beachtet wurde. Andererseits meinte man, die Familie in die Ehe aufheben zu
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sollen, da die Ehe den Sinn haben sollte, Kinder hervorzubringen. Beide Aufhebungen von Familie haben wir hinter uns, und wir vermögen die Familie in der Eigenständigkeit ihrer erotischen Bindungen zu erfassen. Diese Bindungen sind ja auch hier hochkomplex. Da ist die mütterliche Bindung an die Kinder andersartig als die väterliche. Die mütterliche Bindung an die Jungen ist wieder andersartig als die an die Mädchen. Und so ist das auch beim Vater. Auch die Bedürftigkeit der Kinder zu den Eltern hat sehr verschiedene Ausprägungen bei Jungen und bei Mädchen jeweils zu den Müttern anders als zu den Vätern. Die Familie ist an den spezifischen Antrieben und Bedürftigkeiten, die Eltern und Kinder einander anweisen, als spezifisches Geschehen ausgewiesen. Die Familie konsolidiert sich nicht institutionell. Sie ist von der Ehe als Institution getragen. Um so kräftiger aber drückt sich die Familie in einem eigenen Brauchtum aus. Es ist bekannt, daß jede Familie eine ihr eigene und nur ihr voll verständliche Binnensprache ausbildet, die sich aus vielen Bezüglichkeiten auf familiäre Ereignisse anreichert. Das Brauchtum einer Familie umspannt den gesamten Lebensbereich und besitzt eine hohe Prägekraft für das ganze Leben des Menschen. Aufgeschlossenheiten für ganze Lebensbereiche wie Musik oder Handfertigkeiten werden in diesem Brauchtum der Familie ebenso grundgelegt wie Sicherheit im Auftreten und Offenheit. Das Familienbrauchtum ist eine ganze große Lebensgestalt, die sich in den Familienfesten zusammenfaßt. Diese Feste, in denen »sich« die Familie in Geburtstagen, Tauftagen, Weihnachtsfesten und vielen anderen feiert, sind der meist ganz festgelegte, immer »gleich« verlaufende Gestaltkanon der Familie. Schon kleine Kinder — gerade sie —achten auf die Einhaltung der gleichen Abläufe. Dabei geht es nicht um große Aufwendungen, sondern um die wiederkehrende Markierung von Tagen als Ausdruck und Befriedigung der Antriebe, die die Familie binden. Das vielfaltig spezifische Brauchtum der Familie schafft den Kindern das »zu Hause«. Seine Stabilität bringt die »Nestwärme«. Ihrer bedürfen Kinder zur gesunden Reifung. Von ihr gewinnt der Mensch sein Leben lang eine ganz bestimmte frohe Sicherheit. Man kann den Einfluß dieser Familie als sittliche Gestalt, in der sich die sehr vielartigen Antriebe zwischen Eltern und Kindern zu einem geschlossenen Lebenszyklus im Kreise des Jahres als Familie transzendierend Ausdruck geben, auf die Bildung des Menschen kaum zu hoch werten. Die sittliche Kraft dieser Gestaltung basiert ein Menschenleben.
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Der dritte Antriebsbereich geht aus der vitalen Bedürftigkeit des Menschen, Hunger und Durst zu haben, hervor. Dieser Bereich verbindet den Menschen aufs engste seiner Umwelt. Er ist zur Befriedigung dieser Bedürftigkeit an ihre Pflanzen und Tiere gebunden. In zwei großen Komplexen tritt uns der Mensch hier handelnd entgegen. Einmal das gewaltige Feld der Gewinnung von Essen und Trinken. Dazu gehört die Sammlung, der Fang wie die Kultivierung von Pflanzen und Tieren. Und sodann der Bereich der Gestaltung des Essens und Trinkens selbst. Wenn wir hier nur bei dem zweiten Komplex bleiben. Soweit wir den Menschen bis in die Frühzeiten seines Daseins beobachten können, sehen wir ihn damit befaßt, seine Ernährung über das bloße Hunger- und Durst-Stillen hinaus als Eßund Trink-Sitte gestalthaft zu kultivieren. Diese Gestaltung wendet sich einerseits dem Koch-, Eß- und Trink-Gerät zu. Die Schmuckkerben am Bambusrohr, die Schmuckornamentik am Tontopf zeigt die frühe Überschreitung der bloßen Brauchbarkeit. Andererseits gilt sie dem Vorgang von Essen und Trinken selbst. Das Essen und Trinken geschieht in Formen und Gestalten, die diesen Vorgang selbst zur »frohen« Gemeinsamkeit und zur Achtsamkeit auf den anderen ausprägen, daß das bloße Sättigen überschritten wird. Das Essen wird zur zentralen Ausdrücklichkeit menschlicher Vollzüge. Wer mit dem Hausherrn aß, trat in seinen Schutz. Das Mahl nimmt eine gewichtige Stellung im Stammes- und Familienleben ein. Zusammen essen, das ist über die Sättigung hinaus die Stiftung von befreiender Gemeinsamkeit. Die Tischsitte transzendiert die Befriedigung der Bedürftigkeit. Sie erhebt die bloße Nützlichkeit von Essen und Trinken in der Schönheit des Bechers und der Krüge wie im geordneten »Verlauf« des Mahles zur Gestalt. Diesen Vorgang nennen wir das Sittliche. In diesem Vorgang verwirklicht sich das Menschliche des Menschen. Die bloße Funktion der Befriedigung vitaler Antriebe wird zur gesitteten, d. i. auch zur maßvoll geregelten, Gestaltung überschritten. Wie tief dieser Vorgang der Gestaltung reicht, zeigt die merkwürdige Tatsache, daß man Festmahle halten kann, wo nur die Sitte zelebriert wird. Aber die Gäste stehen hungrig auf. Das Essen als Sättigung tritt völlig zurück. Und man kann auch dies zeigen: Bescheidenheit wird als sittlicher »Wert« sichtbar. Die sittliche Gestalt des Mahles impliziert offenbar die Möglichkeit des Verzichtes auf volle Sättigung. Das alles sind Hinweise darauf, daß die sittliche Gestalt des Mahles sich gegenüber der vitalen Bedürfnisbefriedigung so viel verselbständigen kann, daß sie sich stärker als der Antrieb erweist!
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Neben Essen und Trinken steht die Notwendigkeit des Menschen, sich zu kleiden. Der Mensch hat diese Notwendigkeit in seinen Mythen immer wieder mit der Frage umkreist, warum er als einziges Wesen nicht von Natur dem Klima und seinen Wirkungen angepaßt ist. Er ist offenbar unfertig? Es hat den Menschen stets beschäftigt, wie er mit der Kälte und Nässe durch Bekleidung fertig wird und wo das im tropischen Regenwald nicht so wichtig ist, da ist es der Schutz der Genitalien vor Verletzungen oder auch das Tabu der Genitalien, das ihn auf Bekleidung sinnen läßt. Es liegt auf der Hand, wie früh und wie total der Mensch die Befriedigung dieses Bedürfnisses transzendierte. Die Probleme der Mode sind sehr alt und offenbar »allzu menschlich«. Die Probleme der Mode sind rasch sie selbst. Die Befriedigung der Bedürfnisse des Menschen, sich vor Kälte zu schützen oder mit seiner Scham fertig zu werden, steht in ihrer transzendierten Gestalt der Mode kaum noch zur Debatte. Das sittliche Geschehen der Mode ist zu weiten Teilen ganz es selbst geworden. Seine Probleme von Schönheit und Ethik sind allerdings spezifisch sittliche Probleme, die sich freilich von ihrer Existenzgrundlage in der Bedürfnisbefriedigung immer wieder einmal lösen, um nach einigen Mini-Eskapaden dorthin zurückzukehren. Nahe bei dem sittlichen Geschehen von Ehe wie von Tisch-Sitte und Mode liegt das Bedürfnis des Menschen, »behaust« zu sein. Dieses Bedürfnis hat es zunächst einmal mit der Notwendigkeit zu tun, zum Schlafen eine vor Sturm und Regen wie vor Tiger und Wolf geschützte Stelle zu haben. Dieser Ort verleiht die Freiheit von Sorge und Furcht, bannt mit seiner Feuerstelle auch die Angst vor dem Dunkel und seinem Ungefähr, die der Mensch braucht, um schlafen zu können. Der Schlaf ist mehr als die Erfrischung von Kräften und Bewältigung von Müdigkeiten. Der Schlaf repräsentiert für das seiner Welt entfremdete Wesen Mensch eine Phase von Geborgenheit und für das auf Zukunft und Sorge angewiesene Wesen Mensch eine Phase von bloßer Gegenwärtigkeit. Der Schlaf ist der Exponent der Muße, in der der Mensch die gegenwartsoffene Geborgenheit pflegen kann. Dafür aber bedarf er eines »zu Hause«. Der Mensch hat dieses Bedürfnis befriedigt. Er hat sich Wohnungen gebaut. Und er baut sie so, daß er seinen eigenen Charakter in dem Charakter seiner Landschaft zur Gestalt erhebt. Gedrängt von äußerlichen Notwendigkeiten — nur dies oder das Baumaterial zu haben — gestaltet er seine Häuser aus der tiefen Verwobenheit mit seinem Tal oder seiner Düne. Wir wissen ja auch, wie tief dabei das sittliche Geschehen dieser Hausgestalt das
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Bedürfnis nach jener Muße und Schlafruhe transzendiert, wieviel, wie man so sagt, ganz überflüssige Schönheit in diese Gestalten eingeht und wie sittigend gerade diese Gestaltgebung ist. Wir können unsere Beobachtungen leicht auf ihre Höhe bringen und auf das Bedürfnis des Menschen, sein Leben mit anderen zusammen nur auf Dauer meistern zu können, anwenden. Die sittlichen Gestalten, zu denen der Mensch dieses sein Bedürfnis transzendiert, — der totemistische Clan, der Stamm, die Stadt, der Staat — zeigen an allererster und hervorragender Stelle die Merkmale sittlicher Gestaltung. Ihre Gestalthaftigkeit oder Institutionalität umgreift die vielen Bedürfnisse ihrer Menschen, sichert ihre Befriedigung auf Dauer hin und faßt sich in den zentralen Hoch-Festen zusammen, konsolidiert sich als dieser Stamm, diese Stadt oder dieser Staat in und aus diesen Festen und bedarf ihrer. Wir können auch hier beobachten, wie dieses sittliche Geschehen — als Transzendierung einer Bedürfnisbefriedigung zur Gestalt — sich selbst total setzt. D a ist das Zelebrieren des Staates als Staat dann plötzlich es selbst geworden, und die ihn möglich und nötig machende Bedürftigkeit des Menschen, auf Dauer in Sicherheit sein eigenes Leben meistern zu können, ist vergessen. In den sechs Ausprägungen von Ehe und Familie, Ernährung und Kleidung, Wohnung und politischer Gemeinschaft sind die Bereiche des sittlichen Handelns des Menschen charakterisiert. In diesen sechs Bereichen gestaltet der Mensch sein Leben und Sterben. In ihnen allen ist er sich als Mensch sittliche Aufgabe. Er bewältigt sein Dasein, in dem er die vitale Welt seiner Antriebe zur »gestaltenden« Erfüllung ihrer Bedürftigkeiten überschreitet. An dem, was wir in den sechs Gestaltungsbereichen sehen, können wir klären, was wir als Erfüllung des Menschlichen im sittlichen Vollzug bemerken. Der sittliche Vollzug stellt sich in allen sechs Bereichen so dar: Der Mensch ist damit befaßt, seine vitale Bedürftigkeit nicht nur als solche zu befriedigen, sondern ihre Befriedigung zu transzendieren in der Erhebung zur Gestalt. Der Mensch bewältigt sein Dasein mit Hilfe dieser Gestalten. Aber er schafft sie nicht nur zweckgerecht. Er verleiht ihnen — und das nennen wir das Sittliche — festliche Ausdrücklichkeit. Diese Festlichkeit begründet nicht nur ein Haus oder einen Stadtstaat als Initiation bis heute. Sie verziert nicht nur das Trinkgefaß und den Umhang. Sie kultiviert des Daseins Zwänge. Das heißt wohl zumal, daß sie den Menschen mitten in seiner Bedürftigkeit freisetzt, dieser Bedürftigkeit »Herr zu werden«, ihrer Befrie-
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digung aus dieser Freisetzung heraus nicht nur zweckgerechte, sondern spielerische, schöne, freudevolle Gestalt zu geben. Dieses Geschehen, das wir sittliches Geschehen nennen, umfaßt alle Lebensäußerungen des Menschen. Sie lassen sich den genannten sechs Komplexen einordnen, und die bäuerliche Arbeit hat darin ihren sittlichen Ort wie das ärztliche Tun. Dabei ist zu bemerken, daß also nicht einfach die Kultur als sittliches Geschehen anzusprechen ist. Man könnte geneigt sein, diesen etwas unscharfen Begriff auf die genannten Komplexe anzuwenden. Wir würden sagen, an der Kultur ist das sittlich, worin sie als Hausbau oder Mode den Vorgang der Transzendierung bestimmter Bedürfnisbefriedigung zur Gestalt darstellt. Hierin ist auch ein Kriterium enthalten, um die Grenzen sittlichen Geschehens zu bestimmen. Wir haben erwähnt, daß dieses sittliche Geschehen den Menschen gegenüber den Zwängen seiner Bedürfnisse freisetzt. Wir haben auch beobachtet, daß die sittlichen Gestalten wie Mode, Staat und Eß-Sitte sich so verselbständigen können, daß der Staat seine Bürger nicht mehr fördert und sichert, daß die Mode den Menschen frieren läßt und die Eß-Sitte ihn hungrig von der Tafel aufstehen läßt. In diesen Fällen ist die Freisetzung des Menschen offenbar ausgewuchert und verkehrt das Sittliche in nichtigen Unsinn bzw. völlige Lebensferne oder bloße Formalität. Der Grundsatz der fin-desiecle-Kunst um 1890 z. B., das l'art pour l'art, ist für ein Ethos der Kunst offenbar so eine Grenzbestimmung. Das sittliche Geschehen dient der Bedürfnisbefriedigung. Wo es nur sich selbst zelebriert, da ist es in der Entartung begriffen. Das gilt für die Mode wie für den Wohnungsbau, für die Ehe wie für den Staat. 2. Freisetzung und Funktion Das sittliche Geschehen trägt seine Grenze also offenbar in sich selbst, und gleichwohl ist die Bestimmung und Einhaltung dieser Grenze von großer Schwierigkeit. In dem sittlichen Geschehen vollzieht sich als gestaltende Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung ja eine Freisetzung des Menschen in bezug auf seine Bedürfnisse. Wir wollen mit dieser Feststellung hier noch nicht die Debatte über die sittliche Freiheit eröffnen. Wir wollen hier, näher am-lebendigen Vollzug, dieses Grenzphänomen selbst eingehender beschreiben. Indem der Mensch der Tischsitte gehorcht, gewinnt das Essen einen neuen Sinn. Man freut sich auf eine Mahlzeit nicht nur, vielleicht nicht
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einmal primär, weil man satt wird, sondern weil man sich auf das gemeinsame Gespräch und auf die schön anzusehende Tafel und auch auf den Verlauf der Sitte selbst freut. Oder denken wir an einen großen Festkommers, der gar nicht zum Saufen und auch nicht zum Durststillen da war. Der Festkommers bildete einen formvollendeten Rahmen für große Feste, seien es Universitätsfeste oder Reichsgründungsfeiern. Damals in den 20er Jahren, wo solch ein Rahmen noch lebendig war, konnte man noch große Feste feiern. Heute verbieten sich z. B. große Universitätsfeiern einfach wegen der Formlosigkeit des Lehrkörpers wie der Studentenschaft. Das heißt, daß dieser Gestaltungsvorgang nicht bloßer Funktionsträger ist. Die Ehe ist nicht nur eine Einrichtung, damit ein Mann und eine Frau ungerügt miteinander schlafen können. Freilich, die Liebe zwischen Mann und Frau ist sowieso viel umfassender und erstreckt sich mit ihren zentralen Belangen nicht nur auf die Sexualität. Aber gleichwohl sind die Beziehungen von Mann und Frau alle in bestimmter Weise auch stets sexuell bestimmt. Also die Ehe ist, ganz analog zur Tischsitte, sehr viel anderes als die Befriedigung der Sexualität. Die Freude, die in einer glücklichen Ehe lebt, ist ganz etwas anderes als das sexuelle Vergnügen. Diese tiefe Freude zweier Eheleute aneinander und füreinander umfaßt das geistige und seelische Dasein ebenso wie das Leibhafte. Zumal, diese beiden Menschen sind als Eheleute nicht mehr fixiert auf die sexuelle Befriedigung. Sie sind gerade in dieser Hinsicht durch die Transzendierung ihrer akuten Leidenschaft auf Dauer freigesetzt dazu, auch ganz anders für einander dazusein. So wird die Ehe zur wirtschaftlichen, geistigen und politischen Handlungsgemeinschaft, die von größtem öffentlichen Interesse ist. Dieser eminent wichtige Bereich ehelichen Daseins als öffentliches Handeln — zumal ja auf jeden Fall als wichtigster Konsum- und Wirtschaftsfaktor — ist nun aber nichts an sich. Dieses sittliche Geschehen Ehe ist solange sittlich verantwortlich, solange sie eine Gestalt der Liebe der beiden Menschen ist und bleibt. Diese sog. Liebe kann und wird sich im Laufe der Jahre sehr verändern. Sie kann eines Tages völlig auf die sexuelle Seite verzichten, denn andere tief beglückende Gemeinsamkeiten sind gewachsen, deren Verwirklichung viel wesentlicher ist als alles Sexuelle. Also die Liebe, die sich zur Ehe transzendiert, kann und wird sich im Laufe einer Ehe sehr verwandeln. Aber wo zwischen den beiden Menschen von »Liebe« nichts mehr zu spüren ist, da ist die Ehe als sittliches Geschehen zu Ende. Daran ändern auch Möbelgemeinschaft und andere Äußerlichkeiten nichts.
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Wenn die Ehe als sittliche Gestalt nicht mehr existiert, dann ist freilich, wenn Kinder da sind, die Familie noch nicht aufgehoben. Das heißt, wo eine Ehe Kinder hat, stehen die beiden Menschen, wie wir bemerkten, in einem ganz neuartigen sittlichen Geschehen — der Familie. In dieser sittlichen Gestalt Familie ist die Liebe der Eltern zueinander nicht konstitutiv, sondern das Verhältnis zu den Kindern und das Verhältnis der Kinder zu den Eltern. Das aber ist ein ganz eigener Eros. Die Frage einer als sittliche Gestalt zerfallenen Ehe muß, wenn Kinder da sind, vor ihrer Auflösung auf die sittliche Anforderung der Familie eigens befragt werden. Eine Mutter oder ein Vater allein mit Kindern ist keine Familie! Die Zerrüttung der Ehe muß nicht zur Zerstörung der Familie führen. Nun ist aber zu sagen, daß zwei Eheleute, die einander nichts mehr bedeuten, auch als »Eltern« nicht fungieren werden. Das ist wohl wahr. Aber sollte da nicht doch in den meisten Fällen ein sittlich verantwortbarer Weg sein, die Familie zu retten, wenn die Ehe nicht mehr existiert? Die Mütter wie die Väter sind für die Kinder wichtig, auch wo ihre eheliche Gemeinschaft sie untereinander nicht mehr bindet 11 . Die sittlichen Gestalten, Ehe, Familie, Tischsitte, Mode, Haus und Staat, haben ihre Sittlichkeit darin, daß sie der Bedürfnisbefriedigung ihre Möglichkeit auf Dauer eröffnen und somit Formen der Daseinsbewältigung schaffen, in denen der Mensch von den Zwängen seiner Bedürfnisse freigesetzt ist. Er ist offenbar sogar soweit freigesetzt, daß er diese Formen hypostasieren und aus ihrer sinnvollen sittlichen Aufgabe herausheben kann. Da wird die Trinksitte zur Kneipe — das Trinken um des Trinkens willen. Da wird der Staat zur Zwangsgestalt, der in seiner imperialistischen Hypertrophie mit seinen Kriegen die Bürger nicht mehr sichert. Die Mode wird zum Gesundheit gefährdenden Selbstwert. Das Haus wird als Repräsentationspalast zur Selbstdarstellung von Stand und Reichtum. In diesen Hypostasierungen der Gestalten des sittlichen Geschehens hebt sich das Sittliche auf. Es ist um seinen Sinn gebracht. Die Sittengeschichte zeigt hinreichend Beispiele für diese Vorgänge.
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Das Schwierige an diesen Problemen ist ja, daß die meisten Ehen, die geschieden werden, nicht an innerer Zerrüttung scheitern, sondern an der berühmten dritten Person. D . h . , sie scheitern an ganz simpler Untreue. Das sagt man heute so nicht mehr gerne, wahrscheinlich weil man entdeckte, daß auch Eheleute ein »Recht« auf körperliche Befriedigung haben. Im Falle der berühmten dritten Person kann man die Frage der Erhaltung der Familie nicht so einfach «lösen«.
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Das sittliche Geschehen transzendiert die reine Funktionalität der Triebbefriedigung. Es erhebt den Menschen über die Unmittelbarkeit der Zwänge des Triebhaften. Das sittliche Geschehen eröffnet dem Menschen eine bestimmte Freisetzung von der Triebhörigkeit in der Vermittlung, die durch Ehe, Familie, Tischsitte, Mode, Haus und Staat dargestellt ist. Auf das Gestalten in seiner Vermittlerrolle kommt es offenbar an. Man kann das daran sehen, daß in Zeiten starker zivilisatorischer Selbstüberschätzung der sittlichen Gestaltungen der Ruf nach Natürlichkeit und der Ruf zum einfachen Leben laut wird. Diese Parolen haben niemals viel erreicht. Ihre Richtung führt ja auch an dem vorbei, worauf es im sittlichen Geschehen ankommt. Es geht um einen Vorgang, in dem dem Menschen, der in puris naturalibus ebenso triebverfallen wie weltentfremdet ist, die Vermittlungsgestalten zukommen, die es ihm erlauben, sein Dasein zu bewältigen, ohne zwischen den beiden Polen seiner triebverfallenen Weltentfremdung hin und her zu taumeln. Diese Gestalten wachsen aus dem Fest und eröffnen in ihrer Augenblicks-Überlegenheit ein Stück Freiheit. Sie erweisen den Menschen als ein seiner Lebens-Funktionalität überlegenes Wesen. 3. Das Sittliche als gesellschaftliches
Geschehen
Wir sprechen in dieser Studie von der Materialität des sittlichen Geschehens. Zur Deskription dieser Materialität gehört das Bedenken der Tatsache, daß uns der Einzelne, der das sittliche Geschehen lebt, diese Gestalten nicht selbst, allein und für sich, erdenkt und formt. Er erscheint darin, wie er sein Haus baut und wie er sich kleidet, vielmehr als ein Exponent seiner ihm gegenwärtigen Lebenswelt. Wie der Einzelne ißt oder schläft und in welche Röcke er sich zwängt, das ist nicht seine Idee, sondern darin folgt er dem Zeitgeschmack oder dem Stil seiner Epoche. Das sittliche Geschehen ist in seiner Materialität also offenbar ein »gesellschaftliches« 12 Ereignis. Der einzelne Mensch ist nicht in der Lage, Eigen12
Dieser Begriff »gesellschaftlich« hat hier also nicht den spezifischen Fachsinn der »gesellschaftlichen Werte«, wie T. Parsons, Das System moderner Gesellschaften. Grundfragen der Soziologie, München 1972, S. 16 f., sie darlegt. »Gesellschaftlich« bezeichnet hier den Vorgang, daß ein Einzelner ein sittliches Geschehen vollzieht, daß dieser Vollzug sich aber in Formen und nach Maximen vollzieht, in denen die Zeitwelt dieses Einzelnen »sich« ausdrückt. Es ist wohl wichtig für den Leser, daran erinnert zu werden, daß dieses Problem der sozialen Bedingtheit sittlichen Geschehens auch als moralisches Problem erscheint, sich dort aber sehr anders zeigt. Der heute meist sehr befrachtete Begriff
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art und Verflochtenheit dieses seines gesellschaftlichen Geprägtseins abzuschätzen. Der Barockmensch kleidet sich barock und musiziert so. Er ißt so und schnupft so. Er hat die Leidenschaften und die Krankheiten der Barockzeit und folgt den Transzendierungsweisen eben dieser seiner Zeit. Diese Stileinheit, in die und als die sittliches Geschehen sich vollzieht, ist dem Teilhaber an ihr, ihrem Zeitgenossen also, nicht ohne weiteres einsichtig: »Was er webt, das weiß kein Weber«. Man könnte meinen: wie aus einem »kollektiven Unbewußten« geht der Einzelne auf seine Zeit ein. Er erfüllt »sich« aus und an seinem Zeitstil. Er produziert »sich« aus dem Ganzen seiner Zeit. Damit aber bringt er zugleich diese Epoche zu einer — vielleicht bedeutsamen — Gestalt. Diese beiden Seiten des sittlichen Geschehens sind unscheidbar verbunden. Der Einzelne transzendiert sein Dasein in der Befriedigung seiner Bedürfnisse auf den Stil seiner Zeit hin. Indem er das tut, bildet er den Stil und die Gestalthaftigkeit seiner Zeit. Diese beiden untrennbaren Seiten bilden das sittliche Geschehen in seiner Materialität. Wir werden in der folgenden Studie diesen Sachverhalt im einzelnen erörtern. Hier interessiert uns zumal die Tatsache, daß sittliches Geschehen damit als geschichtlich geprägtes und geschichtlich sich wandelndes Geschehen sichtbar wird. Die geschichtliche Bedingtheit des sittlichen Geschehens ist als seine Stilbestimmtheit vermittelt. Freilich gibt es, wie wir sehen werden, sittliche Kriterien, die den Stilwandel der Epochen überdauern. Diese Kriterien erweisen sich stets als dieselben. Sie gelten um 1800 vor Christi Geburt in der ägyptischen Metropole Theben wie in der Nikomachischen Ethik des Aristoteles Ende des vierten vorchristlichen und wie im achtzehnten nachchristlichen Jahrhundert in Paris. Aber die sittlichen Gestaltungen, also das Geschehen selbst, erweist sich als zeitgebunden, und das heißt stilgebunden. Die Bindung des einzelnen Handelnden an den Stil seiner Zeit ist unvermittelt und offenbar spontan. Keiner durchschaut die charakteristischen Stileigentümlichkeiten seiner Gegenwart genügend, um sich auf sie einzustellen oder nicht. Wir dürfen darüber wohl nicht von unserer Gegenwart aus urteilen wollen, deren allgemeine Stillosigkeit uns so distanziert, daß wir zur Auswahl gezwungen sind. In den Zeiten vor dem 20. Jahrhundert kann man die Stileinheiten sehr deutlich erkennen. Der Einzelne ist darauf angewiesen, das Einverständnis »Gesellschaft« ist hier also zunächst nur als Gegenbegriff zu dem Individuellen zu sehen. Der Einzelne bewältigt die sittliche Aufgegebenheit seiner selbst nicht als Einzelner.
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mit dem Stil seiner Zeit zu suchen. Er kann sein Leben nur ausdrücklich gestalten, wenn er dieses Einverständnis — um bei diesem Ausdruck Diltheys zu bleiben — erreicht. »Jeder ist so groß, wie die Woge hoch ist, die ihn trägt« sagt Bismarck. Das heißt, daß offenbar die Selbstverwirklichung eines Menschen — auch und gerade in sittlicher Hinsicht — davon abhängt, wie weit er den »Geist seiner Zeit« trifft. Bei diesem Geschehen haben wir es mit einem »unbewußten« »schauenden« Eingehen auf die rätselhafte eigene Gegenwart zu tun. Wir haben es nicht mit einem »naturhaften« Geschehen zu tun. Der Einzelne kann sich durchaus dem Stil seiner Zeit verschließen. Wir haben es auch nicht eigentlich mit einem »kollektiven Unbewußten« zu tun. Der Einzelne ringt ja um den Stil seiner Zeit, um sich in ihm auszudrücken 1 3 . Wir haben es also offenbar damit zu tun, daß jeder Mensch als Kind seiner Zeit sein Dasein bewältigt. Jeder partizipiert dabei an dem Geschmack und, kurz, eben an dem Stil seiner Zeit 1 4 . Diese Partizipation geschieht auch unbewußt. Aber diese Partizipation ist zugleich der Boden, auf dem die Helle geschichtlicher Bewußtheit erwächst. Diese Helle der geschichtlichen Bewußtheit wächst aus der zunächst unbewußten Stil-Partizipation da auf, wo die Lebens-Stile sich als wandelbar und als stetig sich wandelnd erweisen. Der Einzelne, der in seinem sittlichen Tun, z. B. sein Haus zu bauen, an dem Stil seiner Lebenswelt partizipiert, baut sein Haus dennoch nicht als Klischee. Er verändert viel oder wenig. Er hat gegenüber seinen Eltern jedenfalls neuartige Ideen etc. Da, wo diese Wandlungsfähigkeit und Wandlungsnotwendigkeit der sittlichen Gestalten bewußt wird, da 13
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Dieser Vorgang ist besonders klar an den Biographien großer Musiker wie Mozart oder Liszt zu erkennen. Sie versuchen, den Stil ihrer Zeit zu erfassen. Die Wirkung ihrer Musik hängt daran. Aber dieser Stil stellt sich ihnen nun nicht nur musikalisch dar. Das ist bei Franz Liszt besonders eindrücklich, der durch Literatur und den politischen Elan der französischen Romantik um 1830 den Stil seiner Zeit fand und ausdrückte und dem sich im Ausdruck dieser Stil verwandelte. Liszt bereitet die Musik der Wende zum 20. Jahrhundert mehr als irgendein anderer vor. Mit dem Begriff »Stil« bezeichnen wir den Tatbestand, daß die Gestalten sittlichen Geschehens in einer Zeit und an einem Ort ganz bestimmte verbindende Eigenarten zeigen. Die Bauwerke, Spitzen, Tabaksdosen, Bilder, theologischen Systeme, Leichenbegängnisse, Staatsverfassungen und Ehekonsense des Barock tragen alle untrügliche Kennzeichen des Barock an sich. Diese verbindenden Eigenarten, die den einzelnen Menschen in seinem sittlichen Tun prägen und die er zugleich in seinem sittlichen Tun hervorbringt, nennen wir den Stil: Das zeithaft Verbindende in der gestalthaften Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung.
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bricht die Helle geschichtlicher Bewußtheit als sittliches Phänomen auf. Diese geschichtliche Bewußtheit ist für den Nordgermanen um 1000 p. Chr. freilich andersartig als für den mitteleuropäischen Christen des 16. Jahrhunderts p. Chr. Das heißt, sie unterliegt selbst der Stilgebundenheit des sittlichen Geschehens15. Das heißt also, daß das sittliche Handeln sich als gesellschaftlich oder geschichtlich bedingt erweist. Das sittliche Handeln des Einzelnen ist stilabhängig. Aber der Stil einer Zeit ist nicht von ungefähr da, sondern er erwächst aus dem sittlichen Handeln der vielen Einzelnen, die alle ihre eigenen Vorstellungen zu verwirklichen suchen. 4. Rationalität des Sittlichen Der Mensch wird mit seinen Antrieben geboren. Das sittliche Verhalten aber muß er erlernen. Mit der Erziehung tritt das Sittliche als Sitte an den jungen Menschen heran. Die Erziehung besteht zum größten Teil aus der Vermittlung sittlichen oder anständigen Verhaltens, also dessen, wie man sich wäscht, wie man ißt, wie man anderen Menschen begegnet. Das heißt, die Erziehung vermittelt die Sitten. Diese Sitten sind das fixierte »Endprodukt« des sittlichen Geschehens. Diese Sitten verstehen sich auch nicht von selbst. Man kann sie nicht so einfach selbst produzieren. Was als sittliches Benehmen oder als anständig gilt, das ist in vielen Kulturen, auch in Westeuropa, kompliziert. Zwar ist das sittliche Verhalten im gesellschaftlichen Umgang ja heute recht simpel und ausdruckslos. Was ein Kavalier des frühen 19. Jahrhunderts oder ein Gentleman war, davon gibt es heute kaum noch Vorstellungen. So ein Kavalier war ja auch nicht nur der Mann der guten Sitten Frauen gegenüber, sondern er bewährte sich im Kriege wie im Staatsdienst und zeichnete sich durch stete Rücksicht 15
Wir erinnern an unsere Überlegung, ob eine individual- oder eine sozial-ethische Methodik dem sittlichen Geschehen angemessen sex. W i r sehen das sittliche Geschehen als den Progress von der triebhörigen Weltentfremdetheit des Einzelnen zu den sein Leben ermöglichenden Gestalten sittlichen Daseins. Jedoch dieser Einzelne ist ja niemals in der abstrakten Einzelheit vorstellbar. Jedenfalls hat er Eltern! Andererseits gibt es keine Partizipation am Stil einer Zeit, die diesen Stil nicht spezifisch prägte und individuell abwandelte! Das wird z. B. besonders klar an bäuerlicher Bauweise. Die Häuser eines norddeutschen Bauerndorfes sind zwar alle in dem gleichen Stil gebaut und weisen starke Ähnlichkeiten und Ebenmäßigkeiten auf. Aber jedes Haus ist eine unverkennbare Individualität von unverwechselbarem Charakter.
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auf den Schwachen und Fürsorge für den Notleidenden aus. Aber das Verhalten eines Kavaliers verlangte auch von seinem Träger eminent viel. Die verschiedenen Kulturen bringen solche Figuren hervor, deren Verhalten der Inbegriff des sittlich Hochstehenden ist. An diesen Figuren kann man die ganze Kompliziertheit und auch den Grad der Beanspruchung ermessen, den Sitte impliziert. Die Erziehung des Menschen vermittelt die Sitten. In ihnen ist das sittliche Geschehen gestalthaft fixiert. Tradition vererbt diese Sitten. Wenn sie sich auch stetig — oft unbemerkt — wandeln, so haben sie doch ein zähes Leben. Die Macht der traditionellen Sitte ist groß. Lernend eignet der Mensch sich die Sitten an. Die Sitten werden rational in einem Lernvorgang vermittelt und angeeignet. Sie lassen sich auf diesem Wege tradieren. Ihre Lernbarkeit ist ihre Rationalität. Das sittliche Geschehen bzw. das sittliche Handeln sind der Sitte begründende lebendige Vorgang, in dem die aktuale Antriebswelt zu daseinbewältigenden Gestaltungen transzendiert wird. Dieser Vorgang selbst ist auch rationales Geschehen. Die vitale Bedürftigkeit des Menschen und seine Antriebe, die ihn seiner Umwelt zur unmittelbaren Sättigung anweisen, werden durch die Transzendierung gleichsam gebremst. Die gestaltende Transzendierung legt sich wie ein retardierendes Element zwischen Antrieb und Sättigung, vergrößert also die Umweltentfremdung des vernünftigen Wesens und läßt die Umweltbeziehung des Antriebes nur noch vermittelt zu. Vermittlung ist die erreichte Gestalt, die sich dann als Sitte tradieren läßt. Das sittliche Geschehen bzw. Handeln zeigt sich als ein rationaler Transzendierungsprozeß an den Antrieben und Bedürftigkeiten des Menschen. Der wilde Strom der Antriebe wird darin gebändigt, geregelt und geordnet. Dieser seiner rationalen Tätigkeit korrespondiert die rationale Tradierbarkeit der Sitten. Aber das sittliche Geschehen ist nicht nur rational bedingte Entfremdung. Wir sahen im letzten Abschnitt, wie ein intuitives Element den sittlichen Akt als Eingehen auf den Stil seiner Zeit regiert. Das heißt, daß neben der Rationalität der Sittlichkeit auch andere Formkräfte am sittlichen Geschehen bzw. Handeln arbeiten. Der Tradierungsvorgang der Sitten bleibt nicht unwidersprochen 16 . Im Namen des lebendigen Sittlichen wird gegen die verstaubten Sitten 16
Fr. Nietzsche hat im ersten Buch der »Morgenröthe«, also 1891, im Aphor. 9 über den »Begriff der Sittlichkeit der Sitte« gehandelt. Dieser lange Aphorismus setzt die Sittlichkeit und die Sitte in Gegensatz. Nietzsche sagt, es sei der übliche Hauptsatz: »Sittlichkeit ist nichts Anderes ... als Gehorsam gegen Sitten ...: Sitten aber sind die herkömmliche A r t
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Zur Grundlegung der Ethik
opponiert. Diese Opposition vollzieht sich mit dem Heranwachsen jeder neuen Generation 17 . Die Jungen sind der Meinung, sich zu Anwälten der sittlichen Weiterentwicklung machen zu müssen. Wir können hier nur die Tatsache dieses Generationsproblems feststellen. Warum das so sein muß, das wird uns im Zusammenhang der Formkräfte deutlich werden. Die junge Generation faßt die Kritik der alten Sitte in den meisten Fällen emotional an. Sie macht sich zu Anwälten der Unmittelbarkeit der Antriebswelt und verabscheut die Verlogenheit der Sitten. Gegenüber der Unmittelbarkeit der Antriebe muß das rationale Retardieren des sittlichen Geschehens auch so wirken. So kommt es zu den radikalen Thesen z. B. der »Wandervogel-Bewegung« für Freiheit, Werte, Natürlichkeit und Gesundheit. Der vitalistische Zug der modernen Jugendbewegungen ist seit den Zeiten des »Sturm und Drang« erweisbar. Die Tendenzen dieser Jugendbewegung und des sittlichen Geschehens sind gegenläufig. Die Jugendbewegung sucht die Natur als Unmittelbarkeit. Das sittliche Geschehen sucht das Menschliche des Menschen gegenüber allen Unmittelbarkeiten. Von den Jugendbewegungen ist vieles in den Vitalismus übergegangen. Alle das Leben abschirmenden Vermittlungen sollen abgebaut werden. Von dieser Unmittelbarkeit aus verkündigt Ludwig Klages das Ende aller Ethik 18 . Man will Unmittelbarkeit und landet im »Dunkel des jeweils gelebten Augenblicks« 19 .
zu handeln und abzuschätzen.« Nietzsche identifiziert also als allgemeine Meinung die Sittlichkeit und die Sitte. Dem stellt er als seine Position gegenüber: »Der freie Mensch ist unsittlich, weil er in Allem v o n sich und nicht v o n einem Herkommen abhängen will«. Diese Meinung Nietzsches ist weit verbreitet. Man meint, Freiheit sei Ungebundenheit als Libertinismus. A b e r diese Auffassung von Freiheit: »Ich will so« ist mit der Freiheit eines sittlichen Phänomens unverträglich. Wenn wir demgegenüber das sittliche Geschehen zur Sitte werden sehen, weil es zur Gestalt führt, so identifizieren wir damit Sitte und Sittlichkeit nicht einfach. Das sittliche Handeln besteht auch nicht einfach im Gehorsam gegenüber Sitten. Die Sitte ist die Endgestalt sittlichen Handelns, können wir sagen. Aber Sittlichkeit ist der Prozeß, der zur Gestaltung führt, und die wandelt sich stetig. 17
Das Aufbrechen des Generationsproblems hat im »strukturellen Konservatismus« des Sittlichen sein Widerlager.
18
Vgl. Ludwig Klages, Brief über Ethik (1918). In: Ders., Mensch und Erde, Jena 1933,
19
Dieser Ausdruck stammt von Ernst Bloch. Er kennzeichnet den gegenwärtigen Status
S. 1 1 - 1 3 0 . des homo absconditus. Bloch hat mit dieser Kennzeichnung sein vitalistisches Erbe bewahrt.
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5. Ständigkeit der sittlichen
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Gestalt
Unsere Deskription des sittlichen Geschehens und seiner Materialität war von vornherein darauf aufmerksam geworden, daß die Tranzendierung der Bedürfnisbefriedigung eine Zeitrelevanz hat. Der Trieb ist aktual, d. h. er ist da, er sucht seine Befriedigung, und er ist vergangen. Die Gestalten des sittlichen Geschehens sind alle ihrem Wesen nach auf Dauer oder Ständigkeit angelegt. Die Aktualität der Trieb- und Lebens-Impulse bedingt den schweifenden Charakter dieser Impulse. Sie springen von einem zum anderen Gegenstand. Das sittliche Geschehen übersteigt diese actualitas der Triebimpulse, indem es ihnen Gestalt auf Ständigkeit hin zu geben versucht. Diese Potenz zur Ständigkeit macht das Sittliche aus. Piaton meinte, daß die Mathematik und die Ethik darin ihre Gemeinsamkeit hätten, daß in beiden Wissenschaften das Geordnete und Gestaltete den Vorrang vor dem Ungeordneten und Chaotischen habe 20 . Auch der Wort-Begriff der Ethik selbst geht mit dem griechischen ήθος auf den Bereich der zeitständigen Ordnung zurück. Die Wurzel des zugehörigen Verbs εϊωθα bedeutet »gewohnt sein, pflegen«. Das ήθος aber bezeichnet in einer Grundanwendung den Stall der Haustiere, also den den Tieren gewohnten Ort, der beständige Sicherheit gewährt 21 . Zum sittlichen Geschehen gehört offenbar von seiner Entstehung her der Versuch, die triebbedingte, stoßweise auftretende und unberechenbare Impulsivität des lebendigen menschlichen Handelns durch die Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung auf Gestalt hin in »ruhige« Bahnen zu lenken. Das wird in dem sittlichen Empfinden als Verläßlichkeit gegebenen Wortes wie übernommener Verantwortung wie charakterlicher Stärke postuliert. Gegenüber dem unablässigen Wechsel des Lebensflusses in all seinen Erstreckungen sucht der Mensch diese Ständigkeit der sittlichen Gestalt. Das aber heißt, daß im sittlichen Geschehen selbst mit dieser ursprünglichen Anlage auf Ständigkeit hin ein struktureller Konservatismus angelegt ist. Die Materialität des sittlichen Geschehens drängt auf einen konservativen Erhalt des Gestalteten. Jede Neuerung und jeder Versuch, Veränderungen im sittlichen Bereich herbeizuführen, muß daher 20
Dazu vgl. K . v. Fritz, Der Beginn universalwissenschaftlicher Bestrebungen und der
21
Vgl. P. Lehmann, Ethik als Antwort. Methodik einer Koinonia-Ethik, München 1966, S.
Primat der Griechen. In: Studium generale (14. Jahrgang), Heidelberg 1961, S. 6 1 5 ff. 18.
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als »unsittlich« empfunden werden. Dieser strukturelle Konservatismus — darauf kommt es an — gehört zur Sache des Sittlichen selbst, liegt im sittlichen Geschehen angelegt und kann nicht gewollt oder nicht nicht gewollt werden. In der Ständigkeit der sittlichen Gestalt, das liegt dabei auch auf der Hand, ist nun aber auch zugleich ein sittliches Kernproblem gegeben. Die Ständigkeit der Ehe bedingt gebieterisch Treue. Da aber sitzt gerade der Haken. Da sitzt auch der jugendliche Appell, Liebe dürfe eben nicht Gewohnheit werden wie in der sogenannten bürgerlichen Ehe. Aber diese Problematik zeigt sich nicht nur in der Ehe. Heute wird unter der abzuweisenden »Spießigkeit« gerade das strukturelle Konservative dieser Ständigkeit des Sittlichen aufs Korn genommen. Wenn man schon mit dem Ständigen als Charakter der sittlichen Gestalt anfangt, hat man nach diesen Impulsen das wahre Lebendige verfehlt. Dieses »wahre Lebendige« ist der stets neue Impuls, der alle träge Gewordenheit zerschlägt — man sagt: um des Menschen willen. Die Beschreibung der Materialität des sittlichen Geschehens besagt aber, daß diese transzendierende Gestaltgebung die Menschlichkeit des Menschen allererst freisetze! An dieser Problematik wird in unserer Gegenwart eine Kontroverse über das Menschsein des Menschen sichtbar. Der Mensch und seine Belange können heute offenbar gegen die Ständigkeit des sittlichen Geschehens ins Feld geführt werden, obwohl diese Ständigkeit in dem Selbstbewußtsein besteht, das Menschsein des Menschen nur so freisetzen zu können. 6. Vom Subjekt des sittlichen
Geschehens
Das sittliche Geschehen hebt den Lebensvollzug aus der sich unendlich verwandelnden Flut der Triebströmungen heraus. Der von seinen Bedürftigkeiten getriebene Mensch, der damit auf das Je und Je dieser Bedürfnisantriebe und ihrer Zwänge angewiesen ist, erweist sich als der zwischen vielen, auch stets neuen Zielen auf die Befriedigung seiner Bedürfnisse Angewiesene. Hin und her getrieben, vom Hunger nach diesem, zum Hunger nach jenem, taumelt er von Begierde zu Begierde. Die Beobachtung erweist, daß der Mensch darin immer unfähiger wird, einen Menschen wirklich noch zu lieben oder ein Mahl oder eine Musik wirklich noch zu genießen. Die UnZuverlässigkeit des Geschehens als solchen prägt ihn. Der Mensch erfahrt sich als dem Maelstrom Preisgegebener. Sich selbst als er selbst vermag er nicht zu erfahren, geschweige denn zu konsolidieren. Er schweift dahin, und es wird ihm unsicher, ob er denn
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als dasselbe Ich diesen rasenden Objektwechsel begleitet. Seine Identität wird notwendig zur offenen Frage. Die Identitätsfindung des Menschen oder seine Selbst-Werdung hängt offenbar an dem sittlichen Geschehen, das die unendlich wechselnde Flut von Impulsen und Eindrücken zur Ständigkeit erhebt oder zur Gestalt bringt. Der Vorgang, daß ein handelnder Mensch sich als ein Selbst konsolidiert oder sich als sich selbst in den verschiedenen Daseinsaspekten wiederfindet — was man heute Identitätsfindung nennt 22 — ist ungemein komplex. Wir beobachten an der Materialität des sittlichen Geschehens, daß sein struktureller Konservatismus diese Identitätsfindung offenbar erleichtert, wenn nicht gar ermöglicht. Wir werden in der folgenden Studie auf dieses Problem aus anderen Zusammenhängen zurückkommen. Aber schon die Deskription des Materialen des sittlichen Geschehens weist auf diesen Zusammenhang von Sittlichkeit und Identitätsfindung hin. Das sittliche Geschehen kommt auch dadurch in Bewegung, daß der Mensch sich mit sich selbst aus dem Wandelstrom seines vom Bedürfnis gesteuerten Weltverhältnisses heraushebt und in die Geborgenheit versprechende gestalthafte Dauer von Ehe oder Staat hineinstrebt. Damit ist gesagt, daß die Frage der Selbstidentität des Menschen und des Menschen Suche nach seinem Selbst ein spezifisch ethisches Problem ist. Wenn also, wie in unserer Gegenwart, dieses Problem sehr in den Vordergrund tritt, so deutet das darauf hin, daß das sittliche Geschehen in sich unsicher geworden ist. Das aber liegt mit dem Traditionsabbruch der Neuzeit auf der Hand. 7. Auf dem Wege yur
Freiheit
Wir haben im Laufe der Beschreibung der Materialität des Sittlichen mehrfach Veranlassung gehabt, von einer Freisetzung des sittlich handelnden Menschen zu sprechen. Gewiß werden wir hier im Zusammenhang erster Deskription materialer Zusammenhänge das Problem der sittlichen Freiheit nicht ergreifen können. Aber wir können die verschiedenen Beobachtungen doch nochmals zusammenfassen und präzisieren. Wir meinten beobachten zu können, daß das sittliche Geschehen den Menschen in bezug auf die Zwänge seiner Bedürfnisse freisetzt. Was kann damit gemeint sein? Soll die Ehe etwa die triebhafte Liebe der beiden Eheleute beenden? 22
Vgl. L. Krappmann, Soziologische Dimension der Identität, 2. Auflage, Stuttgart 1972, S. 84 ff.
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Natürlich ist das nicht gemeint. Auch kann nicht gemeint sein, daß die dauernde Gestalt den Antrieb durch Gewöhnung ersetzt. Diese Freisetzung hat es aber offenbar damit zu tun, daß der Mensch seinen Antrieben nicht blind gezwungen folgen muß, sondern daß er sie »beherrschen« lernt. Solche Beherrschung findet in der Ehe insofern statt, als der schweifende Trieb bei dieser einen Frau festgehalten wird. Solche Beherrschung findet in der Tischsitte statt, wo besonders gute Stücke dem Gast oder den Kindern vorbehalten sind und zumal wo als Tischsitte das primitive Sättigen so »in Form« gebracht wird, daß Bescheidenheit als Auszeichnung empfunden werden kann. Dies ist der Befund zunächst. Der Grund der Möglichkeit dieser Freisetzung liegt in der Rationalität des sittlichen Geschehens, von der wir oben (11,4) sprachen. Diese Rationalität dehnt dabei einen Grundsachverhalt menschlichen Weltverhältnisses auf den Menschen selbst aus. Der Mensch ist das einzige Wesen, das aus der Verwobenheit mit seiner Umwelt herausgehoben ist. Er steht seiner Umwelt fremd gegenüber. Er bedarf lange währender Hilfen, um lebensfähig zu werden. Er weiß ab ovo sich nicht in seiner Umwelt zurecht zu finden. Diese Entfremdung stürzt den Menschen in viele Bedenken über sich selbst und sein Wesen. Sie stützt des Menschen Selbstinterpretation als verlorenen und ausgetanen Wesens. Diese Entfremdung wird im sittlichen Geschehen Anknüpfung des Weges zur Freiheit. Sie ist der Grund der Möglichkeit dafür, daß die Freisetzung überhaupt erfolgen kann. Der Vorgang dabei ist der, daß sich die entfremdende Objektivierung, die dem Menschen seiner Umwelt gegenüber Platz hat, auf seine eigene Antriebswelt richtet. Das sittliche Geschehen transzendiert das Bedürfnis und seine Befriedigung durch die Gestaltung als Sitte und Institution so, daß es objektivierbar wird. Mit der Objektivierung der Bedürfnisse und ihrer Befriedigung wird der Mensch insofern freigesetzt, daß er die Befriedigung seiner Bedürfnisse in Zucht nehmen kann. Sittlicher Anstand läßt die Befriedigung des Bedürfnisses »anstehen«. Er folgt dem Antrieb nicht unmittelbar, sondern er folgt ihm, wo und soweit er das will. Das sittliche Geschehen also ermöglicht durch die Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung auf gestalthafte Formen hin eine Objektivierung der Antriebsbereiche menschlichen Daseins, auf Grund deren eine Beherrschung der Antriebe oder ihr In-Zucht-Nehmen möglich wird. Diese Tatsache kann soweit gehen, daß, wie wir sahen, die sittliche Gestalt eine Bedürfnisbefriedigung überhaupt nicht mehr zuläßt. Die Mode
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Ethische Studien
wird soweit Selbstwert, daß sie das Bedürfnis, Wärme zu geben oder das Schamgefühl zu schützen, nicht mehr erfüllt. Der Staat wird soweit Selbstzweck, daß er die Sicherheit seiner Bürger Krieg führend gefährdet und ihr Zusammenleben nicht mehr sicherstellt. Das Gegenteil kann auch eintreten, daß Tischsitte zur übermäßigen Nahrungsaufnahme oder zum übermäßigen Trinken führt. Es zeigt sich also ein merkwürdiger DoppelSachverhalt. Einmal kann Sittlichkeit dadurch in Frage gestellt werden, daß ein Mensch die sittliche Gestaltung zerbricht, daß er anarchisch leben will oder seine Ehe zerstört. Sodann aber kann die sittliche Gestaltung selbst entarten und den Vorgang der Transzendierung so oder so nicht mehr erfüllen. Beide Weisen sittlichen Zerfalls sind sehr verschiedene Vorgänge. Beide zeigen aber, daß das sittliche Geschehen den Menschen seinen Antrieben gegenüber so freistellt, daß diese Entartungen aufzutreten vermögen. Jenseits der Zwänge der Antriebswelt tut sich eine Lebensmöglichkeit für den Menschen auf. Er kann seine Antriebe in Zucht nehmen und beherrschen. Die sittliche Person ist aus der Hörigkeit an der biologischen Funktion herausgenommen. An der zeitständigen Gestalt der sittlichen Formen wird die sittliche Person der Augenblicks-Verfallenheit antriebsstarker Impulse überlegen. Reine Nützlichkeit, zu essen, um satt zu werden, wird durch die Freude am guten Essen, am schönen Tischzeug, an der gelösten Geistigkeit der Tischrede ersetzt. Der Funktions- und Nützlichkeitsdruck der Bedürfnisbefriedigung wird in der sittlichen Gestalt menschlich. Das heißt also, daß die Zwangsgewalt der Antriebswelt durch freie Entschlossenheit zur Gestaltung aller Lebensbereiche überschritten wird! 8. Die gegenwärtige
Herausforderung
des sittlichen
Geschehens
In unserer Gegenwart ist das sittliche Geschehen in besonderer Weise in Frage gestellt. Wir sahen, daß das Sittliche stets in mehreren Richtungen bedroht werden kann, sowohl als einfacher Mißbrauch sittlicher Gestalt wie als ihre Hypostasierung. Aber in der Moderne scheint nun eine besondere Gefährdung des Sittlichen sichtbar zu werden, und zwar in vierfacher Richtung: Erstens ist der moderne Mensch in neuartiger Weise darauf aus, sein Denken und Leben auf die Zukunft auszurichten. Hier ist nur die offen zutage liegende Tatsache zu bedenken, daß der neuzeitliche Mensch seine
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Zur Grundlegung der Ethik
Konzentration der Bewältigung der Zukunft zuwendet und daß er vor lauter Entwicklungsproblemen und Projekt-Entwürfen die Bewahrung des Gewordenen aus dem Auge verlieren muß. Damit ist der Grund für den modernen Aktualismus gelegt, der vor dauernd neue Entscheidungen zerrt und das Empfinden für die Tradition verliert. Der Traditionsabbruch der letzten 50 Jahre ist mit dem auf Zukunft gerichteten Aktualismus und seiner immer neuen Entscheidungs-Notwendigkeit unvermeidlich gegeben. Damit aber ist das sittliche Geschehen offenbar in seiner Materialität versehrt. Das sittliche Geschehen ist darauf angewiesen, in der Ständigkeit, d. h. im Her-kommen von gestaltetem Dasein zu leben. Rein äußerlich kann man sich dies an der Tatsache klarmachen, daß Sitten ihr Leben im Her-kommen haben. Im Aktualismus vergehen Sitte und Brauch. Freilich ist bei dieser Überlegung zu bedenken, daß sich das Traditionsbedürfnis sittlicher Lebensgestaltung trotz des bewußten und unbewußten Traditionsabbruchs offenbar dennoch Geltung verschafft. Dies scheint nämlich die Erklärung für die sogenannte Nostalgie zu sein. Man kleidet sich am liebsten wie im Biedermeier. Man trägt den Bart wie 1830. Man schätzt den Jugenstil und — Wagner. Es fehlt nur noch des »Knaben Wunderhorn«. Zweitens ist hiermit etwas sichtbar zu machen am neuzeitlichen Selbstverständnis, das man erwarten muß, wenn Sitte in ihrer Materialität zurücktritt. Das ist eine neueinsetzende und neuartige Re-Naturalisierung des Menschen. Der Mensch will nicht mehr Mensch in der Transzendierung der naturhaften Bedürfnisse und ihrer Befriedigung sein. Er will diese Bedürfnisbefriedigung unvermittelt und nur als Gegenwart und unverhüllt als solche betätigen. Das Menschliche als das in den vielerlei Transzendierungen stets auch in bestimmter Weise bewußt dem »Leben« Entfremdete soll in seiner ganzen schmerzvollen Selbstbezogenheit nicht mehr sein. Camus hat in seinen frühen Büchern, die er lange nicht wieder auflegen ließ, obwohl er das in ihnen Gesagte für sein Bestes hielt, diesen »Zug« des neuzeitlichen Menschen als die »Einfachheit« dargestellt 23 , die auch die Armut noch reich macht. Der Mensch nimmt »sich« zurück auf die Sonne und ihren Schein und den Duft der Kräuter im Mittag. Er läßt sich diesem Scheinen und Duften, geht darin auf und versinkt darin als 23
Dabei meinen wir hier nicht die »Einfachheit«, v o n der O. F. Bollnow, Einfache Sittlichkeit. Kleine philosophische Aufsätze, Göttingen 1947, S. 17 ff., als der »einfachen Sittlichkeit« spricht. Diese Einfachheit hier hat Albert Camus in seinen »Literarischen Essays« (Hamburg 1973), zumal in »Licht und Schatten« oder in »Sommer in Algier« gesucht.
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Liebender. Von diesem Leben heißt es dort: »Leben ist sicher so ziemlich das Gegenteil von Gestalten« 24 . Dieses Leben kann nicht und soll nicht transzendieren. Es soll die Nähe, die »ewige Gegenwart« sein. Ein »Zusammenklingen des Menschen und der Erde, was beide, den Menschen wie die Erde, in die Mitte zwischen Leiden und Liebe stellt« 25 . Die Leibhaftigkeit ist alles. Aber »der Körper weiß nichts von Hoffnung« 26 . Es geht tatsächlich um »ewige Gegenwart«. »Dieses Evangelium aus Stein, Himmel und Wasser verkündet, daß nichts aufersteht« 27 . Das ist die »grandiose Wüste«, wie Camus dies Lebensgefühl hier nennt, in der das »zweifache Bewußtsein: dauern zu wollen und sterben zu müssen« 28 miteinander im Vegetativen lebt. »Die Natur ohne Menschen« ist das Einzige, »wo >Recht haben< einen Sinn hat« 29 . Die Natur ohne den Menschen! Das ist die Wüste, die das einzig mögliche Glück birgt, das nicht vergeht, weil es reine Gegenwärtigkeit ist — actualitas pura. Der Mensch wird re-naturalisiert. Er ist mit seinen Trieben und Bedürfnissen zurückgenommen in das Da von Sonne jetzt und Meer jetzt, von Liebe in ihnen und Sättigung jetzt. Schon die Frage nach Hoffnung ist unzeitgemäß: Gestaltloses Leben als Lebendigsein in Sonne am Meer unter den strengen Düften der Kräuter am Mittag. Dies ist das eindeutige Gegenbild zur Materialität und Tatsächlichkeit sittlichen Geschehens, in dem alles Gestalt und Gestaltung bringt, in dem alles über reine Gegenwart hinaus ist. Die Eminenz der dichterischen Schönheit Camus' verhüllt, daß die Wirklichkeit dieser die moderne Welt durchflutenden Re-Naturalisierung heute in den wild wachsenden ungepflegten Haaren, in dem »Nichtmehr-Zivilisation-Wollen« der Hippies, in dem Hasch-Rausch und der Bewußtlosigkeit des Ausgeflippten realisiert ist. Dieser eigentümliche Zusammenhang begleitet die Aufklärung vom Ruf des 18. Jahrhunderts nach dem retour a la nature über die »Naturalisierung des Menschen« Mitte des 19. Jahrhunderts bei Karl Marx zur Re-naturalisierung als Schlagwort der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. »Leben ist sicher so ziemlich das Gegenteil von Gestalten«, sagt Camus. Aber, es ist nicht nur Camus, der
24
A . Camus, Die Wüste. In: Ders., Literarische Essays, Hamburg 1973, S. 107.
25
Ebd. S. 109.
26
Ebd. S. 108.
27
Ebd. S. 116.
28
Ebd.
29
Ebd. S. 119.
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Zur Grundlegung der Ethik
diese Sehnsucht in Worte gefaßt hat. Wie ein breiter Strom zieht sich der Lobpreis des Ungestaltet-Urwüchsigen durch die moderne Dichtung: Gottfried Benn sagt in »Gesänge« 30 : Ο daß wir unsere Ururahnen wären. Ein Klümpchen Schleim in einem warmen Moor. Leben und Tod, Befruchten und Gebären glitte aus unseren stummen Säften vor. Ein Algenblatt oder ein Dünenhügel, vom Wind Geformtes und nach unten schwer. Schon ein Libellenkopf, ein Möwenflügel wäre zu weit und litte schon zu sehr. Es geht um die Rückkehr in das ungeformte Geschehen aus »stummen Säften«, denn alles Geformte leidet zu sehr. Auch noch die ganz funktionsgerechte Gestalt des Mövenflügels ist zu viel Form und darum Leiden. Der reine Prozeß wird gesucht. Das Vorüberrinnen, das sich nicht zur Gestalt ballt. Es kommt auf den Prozeß an. Der reine Prozeß aber ist der Widersacher der Gestalt. Die Dichtung und die Musik haben diesen Charakter neuzeitlicher Prozeß-Sucht früh erkannt. Das Denken ist ihnen gefolgt. Und die Politik wird dem gerecht, insofern staatliches Dasein nur noch als unabschließbare Reform vorgestellt wird. Wir sagen nach der Materialität des sittlichen Geschehens demgegenüber: Menschliches Leben ist in seiner Menschlichkeit und als Menschlichkeit Gestalten, d. h. Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung. Aber diese Tatsächlichkeit geriet in den Sog der Aufklärung. Freilich, diese Aufklärung hat uns die Menschenrechte beschert und ein unendliches Reden von Tugend. Ja, diese Aufklärung erfaßte genau, daß das sittliche Geschehen im Kern rationales Geschehen ist, und meinte, daran könne sie ihr schibboleth erheben. Aber jede Aufklärung ist in sich janusartig und zwielichtig. Sie ist zweideutig. Das aber ist ein Stück der »Dialektik der Aufklärung«, daß der aufklärerische Griff nach der Mündigkeit als verantwortliche und verständige Gestaltung, der es um Statuierung und Bewahrung von Menschlichkeit — auch als Humanität und Menschenrechte — geht, zugleich Abbau des Grundes der Möglichkeit dieser Gestaltung ist — in der unstillbaren Sehnsucht nach dem Zurücksinken 30
Gottfried Benn, Gesammelte Gedichte, Wiesbaden 1956, S. 35.
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in Dämmern vegetativen Wachsens und reinen, nur noch gegenwärtigen Daseins. Drittens zeigt sich in der Richtung auf Zukunft eine neuartige Betrachtungsweise, die alles in der reinen Funktion sehen muß. Man sieht Ereignisse, Menschen und Berufe nicht daraufhin an, was sie sind, sondern wozu sie gut sind. Gut heißt dabei »funktionabel«. Das Leben wird aus seinen Funktionen begriffen. Der Mensch selbst wird nur als Funktion gewertet. Damit geht das sittliche Empfinden für die Schönheit eines Bechers abgesehen von seiner Funktion verloren. Die sogenannte »neue Sachlichkeit« tut sich von hier aus auf. Sie reduziert die Lebensziele und Inhalte auf ihre Funktion. Damit verarmt die Gestaltungsfreude und die Gestaltungskunst. Die Funktion ist am ehesten in geometrischen Figuren, surrealistischen Hindeutungen oder ganz abstrakten Kraftlinien wiederzugeben. Die Funktion ist der »unmittelbare« Zusammenhang von Bedürfnis und Befriedigung. Das Ideal des Funktionalismus ist das automatische Funktionieren. »Dialektik der Aufklärung« kündigt sich auch hier an. Die Erhabenheit der über den Zwang des Funktionierens triumphierenden Gestalt, die in ihrem So-Sein als gestaltetes Sein selbst »etwas« — nämlich Freiheit — ist, wird nicht mehr verstanden. Es geht um das Engagement für Morgen und die Ungestörtheit des Funktionierens. Was alles nimmt diese Menschheit an Unruhe, Hingabe, Eifer und Fleiß auf sich, um die unentwegte Mühle dieser Funktionen in Gang zu halten! Wir dürfen nicht gering von den Opfern denken, die diesem Funktionärs-Dasein täglich gebracht werden. Aber wir müssen uns klarhalten, daß mit dieser Funktionalität das sittliche Geschehen aufs Spiel gesetzt wird. Damit aber ist die Menschlichkeit des Menschen in Gefahr geraten. Die vierte Beobachtung bezieht sich auf folgenden Tatbestand. Der moderne Mensch ist auf Grund seines reflektierten Daseins in der Lage, sich von seinem Jetzt-so-Dasein zu lösen und seine Welt und sich selbst einmal unter den Voraussetzungen des Hegel'schen, sodann auch unter denen des Leibniz'schen Denkens zu sehen 31 . Dieses fatale Geschenk der Aufklärung läßt ihn in dem einen, zu seiner heutigen Zeitstelle gehörigen Denken nicht heimisch werden. Dauernd ist seine Reflektion im heimatlo31
Hierzu vgl. die wichtige Arbeit v o n O d o Marquard: Skeptische Methode im Blick auf Kant. Freiburg, München 1958. In dieser philosophischen Studie wird dieser unheimliche Sachverhalt, daß wir heute in verschiedensten philosophischen Systemen zugleich uns auszusagen vermögen, aufs K o r n genommen.
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sen Vagieren. Diese Tatsache bringt es mit sich, daß der heutige Mensch an früher Barockmusik ebenso viel verständnisvolle Freude haben kann wie an moderner Zwölftontechnik oder auch am gut gemachten Jazz. Dieselbe Tatsache bringt es auch mit sich, daß der heutige Mensch sich in seinem Eßzimmer, das mit flämischen Barockmöbeln eingerichtet ist, ebenso wohlfühlt wie in der sogenannten »Wohnlandschaft« seines Wohnzimmers, das er mit klobigen stahlgefaßten Polstern und einer gotischen Schrankwand möblierte. Das heißt, der Mensch der Gegenwart ist auf Grund seiner aufgeklärten Fähigkeit, sich auch seiner Gegenwart gegenüber zu entfremden, in der Lage, alle Stile zu mischen und sein tägliches Leben dem tief zerstreuenden Wirr-Warr der totalen Stilvermengung, d. h. Stillosigkeit auszusetzen. Die nervöse Heimatlosigkeit und das tiefe Unbehagen an seiner Welt, mit der der moderne junge Mensch herumgeht, und das er politisch abreagiert, hat seinen wesentlichen Grund in dieser Stillosigkeit seines Daseins. Gleichwohl setzt sich ansatzweise so etwas wie ein Stil-Empfinden durch. Die politisch-nostalgischen Gründe, die zum Vollbart führten, haben eine gepflegte Bart-Mode hervorgerufen, die ebenso wie die Blue-Jeans Ansätze zu Stilelementen aus sich heraussetzen. Freilich bleibt es »gewollt« und ist nicht gewachsen. Das heißt, in allen Neuansätzen, meist Eintagsfliegen, merkt man den Funktionszusammenhang. Schon ist die Überzeugungskraft perdu. Wir sehen also, daß die Materialität des Sittlichen mit dem Entscheidungs-Aktualismus, mit der Re-Naturalisierung wie mit dem Funktionalismus und dem Stil-Vielerlei gegenwärtig in besonderer Weise in ihr Widerspiel gerät. Wir sehen aber auch, daß sich an den Menschen, die dieser Aktualisierung, Re-naturalisierung, Funktionalisierung und der Stillosigkeit huldigen, die Materialität transzendierenden Gestaltens dennoch ungewollt und unbewußt vollzieht: Die Blue-Jeans, die schon ausgefranst und verschossen hergestellt werden, die wirren Haare, die nach eben verlassenem Bettkampf aussehen, das rüde Benehmen, z. B. im Gruß auf der Straße wie in der Anrede, kurz der ganze »Terror-Look« neuzeitlicher Jugendbewegtheit sind selbst eine Stil-Gestalt geworden und eine Mode! Was das Ende von transzendierender Gestaltung sein sollte, ist dem menschlichen Stil-Gestalten offenbar »erlegen« und ist damit selbst »sittliches« Geschehen geworden. Es zeigt die Ambivalenz dieser Materialität des Sittlichen, von der wir oben sprachen. Aber es zeigt eben auch die Durchsetzungskraft sittlichen Geschehens.
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Β. Das sittliche Geschehen in seiner formalen
Struktur
Neben der Materialität des Sittlichen der Studie Α wirkt die Form des sittlichen Geschehens. Die Form verleiht einem Geschehen seine wirklichkeitsprägende Kraft. Sie zeigt den Umkreis an, in dem ein Geschehen verläuft. Die Kräfte und Bedingungen eines Geschehens sind die Form, aus der die spezifische Rationalität des Sittlichen seine Eigenart empfängt.
I. Wechselwirkung oder »dynamische Gemeinschaft« In diesem Teil wollen wir zu beschreiben versuchen, was das formal eigentlich ist, was sich in der die Befriedigung der menschlichen Bedürfnisse überschreitenden Gestaltung vollzieht. Die Materie des Sittlichen hat sich uns als ein Transzendierungsvorgang erschlossen. Die Form des Sittlichen muß in der Umwelt-Angewiesenheit des bedürftigen Menschen liegen. In diesem I. Teil stecken wir ihren weitesten Rahmen ab. 1. Umwelt und Mensch Der Mensch ist mit seinem Leben auf seine Umwelt angewiesen. Er braucht ihre Pelze und ihr Fleisch. Er braucht ihr Holz und ihr Eisen. Der Mensch ist nicht autark, sondern er ist in allem und jedem darauf angewiesen, seine Umwelt zu gebrauchen. Von früh an erkennen wir, daß der Mensch diesen Gebrauch seiner Umwelt als ein schweres Problem empfunden hat. Wenn er die Tiere tötet und die Bäume schlägt, wer versöhnt sie? Wer füllt die Lücken, und zumal wer beseitigt das damit angetane Leid? Fragestellungen sind das, die uns aufgeklärten Leuten des 20. Jahrhunderts etwas kindisch und albern vorkommen. Wir wissen, wie sich das Wild und der Baumbestand regenerieren lassen. Und das allein lohnt scheinbar zu wissen. Die Tiere und die Pflanzen hätten noch mehr zu bedeuten als reine Verbrauchsgüter? Ihre Vernichtung hätte vielleicht noch andere Folgen, als daß sie nicht mehr da sind? Aber diese Überlegung gilt nicht nur für unsere sog. organische Umwelt. Sie gilt ja auch für Öl und Erz. Hier gilt sie vielleicht noch härter, weil ihr heute wahrscheinlich nicht fernes Ausgebeutetsein schwierige, nicht nur technische Probleme aufwirft und weil sich an dem ganzen Umwelt-Verschmutzungsproblem
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etwas von grauenvoller Endgültigkeit auftut, gegen die der Mensch vielleicht heute schon machtlos ist. Nun, diese Logik versteht man natürlich. Wenn man die Erdatmosphäre weiter mit stofflichen Partikeln anreichert, dann verändern sich die Klimate katastrophal, und das hat die und die Folgen. Auf diesem Ohr hört auch die moderne Menschheit ganz gut. Es ist anscheinend nur die Angst, die die Menschen vorsichtig zurückhaltend und freundlich macht. Aber diese ganze Logik, die mit dem Holzhammer philosophiert, führt ja zum Handeln erst, wenn das Kind in den Brunnen gefallen ist. Demgegenüber steckte hinter den Problemen der frühen Menschheit, die den Büffel versöhnte, ehe sie ihn jagte und schoß, die das Korn sorgsam feierte, wenn es geschlagen war, die das Schmiedehandwerk mit vielen Tabus umgab und die Eisenverhüttung zum großen Opferakt machte, nicht die Logik, die mit dem Holzhammer philosophiert. Die frühe Menschheit — aber auch noch jede bodenständig bäuerliche Kultur — versteht das Umweltverhältnis des homo sapiens anders. In ihrem Verständnis haben Pflanze und Tier mitzureden. Sie werden nicht »einfach« verbraucht. Und sie reden erheblich mit — das meinten z. B. die naturerschlossenen Bergbauern Tibets noch bis 1951, als das neue China dieses Volk auszurotten begann. Das Eisen der Berge und die Eichen reden ebenso mit wie die Hirsche oder die Kühe. Der Mensch hat Jahrtausende lang seine Umwelt zu sich reden lassen und hat sie gehegt und kultiviert. In diesem seinem Tun lag seine sittliche Würde. In dieser seiner Beziehung zu seiner Umwelt war er Mensch als sittliches Wesen. Wir haben mit diesen Überlegungen zu des Menschen UmweltVerhältnis mit Bedacht zunächst außer acht gelassen, daß in dieser Umwelt auch noch Menschen herumlaufen. Ja, sie sind unter anderem auch noch da. Sie drängen sich aber gerne so in den Vordergrund, und sie schreien alle ihre Menschenrechte so unablässig und laut heraus, daß man — wenn sie erst auftauchen — nichts mehr von der viel stilleren Umwelt der Steine und Wolken, der Farne und Krebse hört. Und diese stille Umwelt gilt es zu hören, denn das sittliche Geschehen vollzieht sich zum guten Teil im Umgang des Menschen mit einer nichtmenschlichen Umwelt. Es ist merkwürdig, wie total das vergessen ist — zumal in der ethischen Forschung! Der einzige, der davon immer wieder einmal sprach, war Albert Schweitzer. Er hat mit seiner »Ehrfurcht vor dem Lebendigen« als zentralem ethischen Wert diese sittliche Verantwortung vor der Welt der Pflanzen und Tiere betont. Von ihm gibt es dazu das einprägsame Bild,
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daß ein Bauer allerdings Recht daran tut, seine Wiese für sein Vieh zu mähen. Aber wenn dieser Bauer dann nach Hause fahrt und er schlägt aus lauter Übermut am Wegrand mit seiner Sense Blumen und Gräser, dann ist das sittlich gesehen tiefes Unrecht. Wir müssen von diesen Umwelt-Bezügen des Menschen nun aber noch eingehender sprechen. Was wir bislang sagten, das war — inclusive der Erwähnung Albert Schweitzers — ja alles lange her. Man nimmt diese Dinge nicht so ganz ernst. Das mag ja bei Primitiven und auch in richtigen bäuerlichen Kulturen alles so sein. Für uns ist das uninteressant. Die Sorge für die Tiere ist an die Professoren Grzimek oder Lorenz delegiert, mit den Bäumen befassen sich Pflanzenschutzamt und Forstamt, und wir leben in einem Raum, wo es nur Menschen als sittliche Verantwortung gibt. Aber wir müssen von der nichtmenschlichen Umwelt sprechen, und wir können das auch, da nun inzwischen sowohl die Sowjet-Russen wie die Nordamerikaner — freilich aus Profitsucht — sich damit befassen, die nachweisbare Kommunikation zwischen Pflanze und Mensch in anwendbare Praktiken umzusetzen, die bessere Ernten und wohl auch weniger Schädlinge versprechen. Es gibt offenbar, wie diese Forschungen 1 besagen, zwischen Pflanzen und Menschen nachweisbare Kommunikation, die sich nicht bewußt und gezielt, sondern unwillkürlich und unmittelbar vollzieht. Pflanzen reagieren danach offenbar auf bestimmte Gedanken des Menschen, wie sie auf Musik und Tanz einzugehen scheinen. Nun, diese Experimente, die zumal in Sowjet-Rußland an der Timirjasew-Akademie für Agrikultur im Großversuch durchgeführt werden, haben eine Kommunikation von Mensch und Umwelt im Auge, die sich nicht mit dem Holzhammer philosophieren läßt. Es geht um Verbindungen von Umwelt und Mensch, deren stoffliche, chemisch oder physikalisch meßbare Träger »vorerst unbekannt« sind. Im unterbewußten Verständnis jeder lebendigen Zelle vollzieht sich diese Kommunikation. Daß jede Muskelzelle so begeistet ist, wie jede Hirnzelle materiale Vorgänge vollzieht, ist keine Neuigkeit. Daß der Kosmos in 1
Eine Zusammenstellung dieser Forschungen gibt es seit 1 9 7 4 auch in deutscher Sprache: Peter Tompkins/Christopher Bird, Das geheime Leben der Pflanzen, Bern 1974. Von den Überlegungen, die in diesem Buch zur Sprache kommen, ist vieles von dem großen deutschen Biologen R. H. France vorweggenommen. France hat mit großem Scharfsinn eine Pflanzenpsychologie aus ihrer Physiologie zu folgern gesucht. Er ist bei seinen Untersuchungen immer wieder auf die unterbewußte Kommunikation von Pflanze, Tier und Mensch aufmerksam geworden.
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einer großen Kommunikation sein Leben lebt, ist eindeutig. Daß der Mensch mit seinem Verstand draußen steht, ist viel beklagt. Aber daß er tatsächlich dennoch an dieser Kommunikation ohne sprachliche Vermittlung unmittelbar teil hat — eine Kommunikation, die sich durch die Körperzellen und nicht über die Vernunft vollzieht — ist unserer aufgeklärten Welt verborgen. In den »natur«nahen Kulturen wußten dies alle Menschen, und einige besonders begnadete oder besonders ausgebildete haben diese Verbindung dann betätigt. Heute kann man manches von diesen Kommunikationen meßbar machen. Man beginnt neu zu ergreifen, was es um die Umweltangewiesenheit des Menschen ist. Die Umwelt des Menschen, deren er zur Bewältigung seines Daseins bedürftig ist, kommuniziert mit ihm jenseits von Verstand und Sprache. Dieser Kommunikationsbereich scheint für den Sektor der sprachlichen und verstandesmäßigen Interaktion von Mensch zu Mensch aber ganz entscheidend zu sein. In den asiatischen Kulturen, die diesem Verhältnis des Menschen stets besondere Aufmerksamkeit zuwandten, ist es dann auch so, daß die Interaktion zwischen Menschen stets der Kommunikation des Menschen mit seiner nichtmenschlichen Umwelt nachgeordnet ist. So ist das z. B. in dem berühmten alten Zen-Büchlein »Der Ochs und sein Hirte«. Das Büchlein handelt von der Selbst- und Weltfindung des Menschen. Uns brauchen hierbei nur die letzten Phasen der Weltfindung zu beschäftigen. Wo der Mensch nämlich sein Selbst fand, kann er »sich« soweit zurückstellen, daß er in die Leere eintritt, d. h. zugleich mit sich ganz für die Umwelt da zu sein vermag. Und nach der Leere und aus ihr taucht als erstes der blühende Baum am fließenden Bach auf. Und der Mensch kann nun den Baum blühen lassen, »wie er von selbst blüht«, und er kann den Fluß fließen lassen, »wie er von selbst fließt«. Das heißt, daß dieser Mann auf seine Umwelt einzugehen vermag, wie sie an sich selbst ist, ohne sie zu vergewaltigen und zu vernutzen. Danach erst kann er auf dem Markt und in der Weinstube die Kommunikation mit Menschen suchen. Aber jetzt kann er das eben tun, ohne sein Verhältnis zu ihnen zu versehren. Offenbar ist die Gemeinschaft von Mensch zu Mensch, die sich vorwiegend sprachlich, d. h. rationaliter zu vollziehen scheint, auf jene andere Gemeinschaft von Mensch und Welt angewiesen, die transrational und nicht sprachlich ist. Wir haben uns heute in der Philosophie — »und leider auch Theologie« — daran gewöhnt, von der Erörterung der Sprache auszugehen und sprachanalytische Modelle auf die Bewältigung des Welt-
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Verhältnisses des Menschen anzuwenden. In diesem Vorgehen ist und bleibt der Verstand des Menschen bei sich selbst. Er wird dessen, daß er auf einer breiten Basis nichtsprachlicher Kommunikation ruht, nicht mehr ansichtig. Damit ist der Verstand in der Gefahr, sich in seiner rationalen Sprachlichkeit nur noch selbst zu bespiegeln. Wir wollen damit die Wichtigkeit solch sprachanalytischer Forschungen nicht bestreiten. Sie haben für die Verständlichkeit des Verstandes viel gefördert. Aber das weite Feld der sie basierenden Verbindlichkeiten von Welt und Mensch ist ausgeblendet. Für die Gefahrdung, die damit für die Verständigkeit des Verstandes heraufzieht, ist die Analogie zwischen dem technischen Metakosmos und dem Kosmos selbst erhellend. Der technische Metakosmos bedarf der verbindlichen Rückbindung an den Kosmos selbst, da der technische Vollzug sich sonst der Basis beraubt, deren er bedarf. Wenn die Gewässer erst tot, die Luft so verschmutzt ist, daß die Klimalagen sich weiter radikalisieren, oder wenn die Rohstoffe ausgebeutet sind, dann hört der technische Metakosmos auf. Der Mensch ist in seinem sittlichen Handeln auf die Kommunikation mit seiner Welt angewiesen. Das sittliche Handeln, so zeigte uns die Beschreibung seiner Materialität, ist der immer auch rationale Vorgang, in dem und durch den die Befriedigung dessen, was der Mensch zu seiner Daseinsbewältigung bedarf, nicht in dem bloßen und unmittelbaren Sättigen der Bedürfnisse besteht, sondern in dem diese Sättigung vermittelt ist durch Gestaltungen, welche die Bedürfnisbefriedigung zu transzendieren erlauben. Es ist in der Studie Α hinreichend deutlich geworden, daß das sittliche Handeln immer auch ein rationales Tun ist. Als solches aber, dessen werden wir hier ansichtig, ist das sittliche Handeln in besonderer Weise auf die breite Basis unterbewußter, vorsprachlicher Kommunikation mit Pflanze und Tier, mit Wind und Landschaft angewiesen. 2 Es gibt ein 2
Wir haben oben die Wechselbeziehung zwischen dem Einzelnen und dem Stil seiner Lebens welt beobachtet, die auf transrationale Vermittlungen angewiesen ist. Hier beobachten wir die breite Basiszone vorbewußter und transrationaler Kommunikation mit der außermenschlichen Umwelt, deren Vollzug »maßgebend« zu sein scheint für die Verbindung des Menschen mit seiner menschlichen Umwelt. Dieses beides wird noch unterfangen von der These der Schule C. G. Jungs, daß »das Sittliche eine Kraft des menschlichen Unbewußten« ist. Diese These und ihre Beweise, die aus der Psychoanalytik und Psychotherapie in vielfacher Weise geführt sind, kann uns hier noch nicht beschäftigen (Zu diesen Beweisen vgl. z. B. E. Rotthaus, Das Sittliche eine Kraft des Unbewußten. Stuttgart 1949, S. 9 — 45.) Aber wir müssen uns gegenwärtig halten, daß das sittliche Geschehen
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norddeutsches Sprichwort, daß gesellschaftlicher Takt auf Herzenstakt angewiesen ist, wenn er überzeugend sein soll. Genau das ist es! Denn wir wissen alle, daß auch das Miteinander von Menschen auf vorsprachliche, unbewußte Kontakte und Beziehungen angewiesen ist. Ja, das Miteinander von Menschen wird von diesen unbewußten Beziehungen — wie z. B. von Sympathie und Antipathie — unerträglich gegängelt, wo man ihre Wirksamkeit übersieht und alles Zwischenmenschliche aus dem sprachlichrationalen Bereich heraus entwickeln möchte. Nicht jeder Mensch kann Rosen züchten, und nicht jedem Menschen gedeihen die Kälber. Man braucht eine »glückliche Hand«, um bestimmte Blumen, Kornarten, Bäume oder Tiere zu züchten. Das gewaltige kultivierende Tun des Menschen, das schon in den frühen Zeiten beginnenden Ackerbaus und ansetzender Viehzucht mit minutiöser Sachkenntnis auf Grund von Beobachtung betrieben wurde, ist zugleich von tief unbewußten Verbindungen des Menschen zu seiner Umwelt getragen gewesen. Diese breite Basis war weithin religiös gebunden. Mit der Lösung des Ackerbaus und der Viehzucht aus den religiösen Bindungen blieb nur die Sachkenntnis als Regulativ anerkannt. Aber wer mit Tieren und Pflanzen selbst umgeht, weiß, zum guten Gedeihen gehört eine »glückliche Hand«. Man darf die Denkbilder für diesen Sachverhalt aber nicht zu sehr einschränken. Pflanze und Tier liegen uns ja stets am nächsten. Aber gemeint muß der Gesamtumfang der Umwelt sein. Dazu gehören auch die sog. »toten« Dinge, die uns umgeben. Es ist in bezug auf diese »toten« Dinge — das sind Möbel, Kleider und auch das Gehalt — nur allzu bekannt, daß sie sich bei den verschiedenen Menschen verschieden entfalten. Und es ist ebenso bekannt, daß man sich in der Wohnung des einen Freundes von vornherein wohl, in der Wohnung des anderen aber bald schlecht fühlt. Auch ist es bekannt, daß ein Besucher den Charakter seines Gastgebers aus der »Atmosphäre« erschließen kann, die in seinem Raum herrscht. Wir verändern die Dinge unseres täglichen Umgangs, und das gilt nicht nur für ihre äußere Anordnung. Aber diese Dinge bestimmen uns auch, und man soll sehr darauf achten, mit was für Bildern, Figuren und Möbeln man sich umgibt. Dieser ganze Wechselwirkungs-Komplex ist uns noch ferner als das, was sich zu Pflanze, Tier und Landschaft erkennen läßt. Diese Dinge nennt man eben »tote« Dinge. Daher können bzw. Handeln an zwei entscheidenden Punkten sich als ein transrationales Geschehen beobachten läßt.
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heute Frauen es für unter ihrer Würde halten, diese »toten« Dinge zu pflegen. Oder man kann seine Wohnung möbliert stehen lassen und in die nächste möblierte »Wohnlandschaft« umziehen — das machen in den Staaten sehr viele Menschen jedes Jahr oder jedes zweite Jahr. Neuartige Zwänge, wie der Job für die Service-Berufe, bringen heute das mit sich, was früher die polnischen Saisonarbeiter in Mecklenburg und Pommern praktizieren mußten. Alle diese Überlegungen rühren an ethisch hoch brisante Themen. Aber uns interesssieren hier nicht diese Themen, sondern der Sachverhalt, der sich von hier aus für das sittliche Geschehen und sittliche Handeln im Ganzen zeigt. Mit unseren Überlegungen zur Umwelt-Kommunikation des Menschen wird als Form sittlichen Geschehens die Kommunikation des Menschen mit seiner Umwelt sichtbar. Diese Kommunikation ist auf Grund der Bedürftigkeit des Menschen unerläßlich. Diese Bedürftigkeit weist ihn aber gerade und wohl zuerst der nichtmenschlichen Umwelt an. Wir haben uns zumal Überlegungen zu diesem Phänomen zugewandt, da sie den Gesamtbereich sittlicher Formkräfte zu erblicken erlauben. Die Probleme der zwischenmenschlichen Interaktion stehen im Blickwinkel der ethischen Forschung. Wichtige Erkenntnisse über ihre Probleme sind heute gemacht. Aber diese Seite sittlicher Verantwortung und sittlichen Handelns steht nicht allein. Sie ruht nicht nur auf der Umwelt-Kommunikation des Menschen mit nichtmenschlichen Partnern offenbar als einer ihr unerläßlichen Basis, sondern diese Weise unbewußter vorsprachlicher Kommunikation hat an den sittlichen zwischenmenschlichen Interaktionen wesentlichen Anteil. Und eine große Reihe heutiger sittlicher Probleme, z. B. in bezug auf Speise und Trank, Bau und Einrichtung, Erotik und Mode, sind auf diese besondere Kommunikation angewiesen.
2. 1/ergwisserung bei I. Kant und J. G. Fichte: Unsere Überlegungen dazu, daß der Mensch auf Wechselwirkung mit seiner Umwelt angewiesen ist, zeigen uns, daß mit den Form-Kräften dieser umfassenden Umweltbezogenheit des Menschen dem rationalen sittlichen Geschehen ein mächtiger Bereich von Gestaltungsaufgaben nicht rational zu vermittelnder Wirkungen und Gegenwirkungen im Bereich der Bedürfnisbefriedigung zuwachsen. Offenbar bedarf das rationale Geschehen sittlicher Gestaltung auch dieser Formkräfte, um es selbst zu bleiben.
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a) Immanuel Kant Immanuel Kant hat 2. B. in der transzendentalen Analytik die Analogien der Erfahrung behandelt. Er versteht unter diesen drei Analogien die allgemeinsten Regeln empirischen Yerstandesgebrauches, durch welche die Mannigfaltigkeit der vielen Wahrnehmungen, die wir ständig machen, zu einer einheitlichen Erfahrung zusammengebracht werden können. Dies geschieht so, daß das Verhältnis der vielen Wahrnehmungen zur Zeit erläutert wird. Wahrnehmungen können mit Bezug auf Dauer, zweitens in bezug auf ein Nacheinander, drittens in bezug auf ein Zugleich gemacht werden. Sie sind in diesen Bezügen objektiv verschieden. Die drei Modi der Zeit wirken sich an den Wahrnehmungen aus und regulieren die mögliche Erfahrung. Das Zugleich nun, die dritte Analogie, besagt: »Alle Substanzen, so fern sie im Räume als zugleich wahrgenommen werden können, sind in durchgängiger Wechselwirkung.« 3 In der ersten Auflage nennt Kant diesen Satz den »Grundsatz der Gemeinschaft« und faßte ihn so: »Alle Substanzen, sofern sie zugleich sein, stehen in durchgängiger Gemeinschaft (d.i. Wechselwirkung unter einander)«. 4 Die Wechselwirkung oder die Gemeinschaft ist also eine allgemeinste synthetische Aussage in bezug auf die Wahrnehmungen, durch welche diese sich zur Erfahrung zusammenzuschließen vermögen. Die beiden anderen Analogien fassen sich mit Bedenken der Dauer zur Erfahrung der Substanz und mit Bedenken des Nacheinander zur Erfahrung der Kausalität zusammen. Substanz und Kausalität bilden also mit der Wechselwirkung zusammen die »notwendige Verknüpfung der Wahrnehmungen« zur Erfahrung. Was Substanz, Kausalität und Wechselwirkung gliedert wie verbindet, das sind also die Modi der Zeit: »Beharrlichkeit, Folge und Zugleichsein« 5 , unter denen Wahrnehmungen gemacht werden. Die Beziehungen auf die Zeit geben die Erläuterung der Gemeinschaft, um die es hier geht: »Also muß jede Substanz (...) die Causalität gewisser Bestimmungen in der andern und zugleich die Wirkungen von der Causalität der andern in sich enthalten, d.i. sie müssen in dynamischer Gemeinschaft (...) stehen, wenn das Zugleichsein in irgend einer möglichen Erfahrung erkannt 3
Kant's gesammelte Schriften. Hg. v o n der Königlich-Preußischen Akademie der Wissenschaften. Bd. III Berlin 1904, S. 180.
4
Vgl. I. Kant's Kritik der reinen Vernunft. Hg. v o n Benno Erdmann. Berlin 6. Auflage
5
Kant's gesammelte Schriften, Bd. III, S. 159.
1 9 1 9 , S. 213.
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werden soll«. 6 Diese »dynamische Gemeinschaft« meint, daß jede Substanz Wirkungen von jeder anderen Substanz empfangt, indem sie Wirkung auf andere Substanzen ausübt. Diese Wechselwirkung ist das Dynamische an der Gemeinschaft. Diese Gemeinschaft ist daher nicht communio, die nur lokal wäre, sondern commercium, »d.i. eine reale Gemeinschaft (...) der Substanzen, ohne welche also das empirische Verhältniß des Zugleichseins nicht in der Erfahrung stattfinden könnte«. 7 Dieser Begriff der realen oder dynamischen Gemeinschaft kennzeichnet die Wechselwirkung daraufhin, daß dieses zeitliche Zugleich mehr und anderes ist als bloßes Miteinander im Nebeneinander. Mit der Kategorie der Wechselwirkung geben wir also eine allgemeinste Charakterisierung des Geschehens überhaupt, wie es in unseren verschiedenen Wahrnehmungen sich zur Einheit von Erfahrung zusammenschließt. Die Wichtigkeit dieser Kategorie wird durch die regulative Wirkung derselben gut veranschaulicht. Wenn wir also das sittliche Geschehen unter dem Gesichtspunkt der Wechselwirkung ansehen, so wird damit dieses Geschehen im Rahmen der allgemeinsten Bestimmung der Wahrnehmungen und der Einheit der Erfahrung gesehen. Das sittliche Geschehen ist unter dem Gesichtspunkt von Gemeinschaft in den allgemeinsten Rahmen seiner Formkraft gestellt. b) Johann Gottlieb Fichte Johann Gottlieb Fichte hat die Kategorie der Wechselwirkung zur Grundkategorie seiner Philosophie überhaupt gemacht. Sie steht bei ihm im Kern des Nachdenkens, indem es um den Grund der Möglichkeit empirischen Lebens in der Zeit geht. Fichte setzt seine Philosophie jenseits der Objekt-Subjekt-Spaltung im Ich an, das sich als Ich setzt und das als absolutes Ich das Ganze bedeutet. In dem absoluten oder als das absolute Ich, das sich selbst setzt, ereignet sich dies: »Das Ich setzt sich selbst schlechthin, und dadurch ist es in sich selbst vollkommen, und allem äussern Eindrucke verschlossen«. 8 Das sich selbst setzende Ich ist der 6
Ebd., S. 182.
7
Ebd., S. 183.
8
Wir gehen in dieser Darstellung Fichtes von der »Grundlage der gesammten Wissenschaftslehre« von 1794/95 aus. Im III. Teil, der »Grundlage der Wissenschaft des Praktischen«, faßt sich die im ganzen Erwägungsgang dieser Wissenschaftslehre erörterte Problematik besonders klar zusammen. J. G. Fichte, Gesamtausgabe der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. I, 2. Stuttgart 1965, S. 409.
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Anfang und Grund allen Denkens. Aber das Ich setzt sich »als durch sich selbst gesetzt«. Das heißt, daß das Ich nicht unbewußt da ist, sondern seine Selbstsetzung steht vor ihm. Indem diese Selbstsetzung vor ihm steht, »öffnet es sich, daß ich so sage, der Einwirkung von außen«. 9 Indem sein Sich-Selbst-Setzen also vor dem Ich steht, kommt als Schatten dieser Tatsache die Möglichkeit, daß etwas nicht durch Selbstsetzung da sein könnte, hervor. Es sind also zwei »Arten des Setzens«: Die erste setzt das Ich als Tätigkeit, die zweite läßt die Einschränkung durch anderes möglich werden und damit auch eintreten. »So steht das Ich, als Ich, ursprünglich in Wechselwirkung mit sich selbst; und dadurch erst wird ein Einfluß von außen in dasselbe möglich.« 10 Die Wechselwirkung also geschieht im Ich selbst! Sie bedeutet, daß das Ich sich durch ein Nicht-Ich beschränkt findet. Die Möglichkeit dafür, daß ein Nicht-Ich dem Ich gegenübertritt, liegt in der Tatsache, daß das Ich in seiner Selbstsetzung sich selbst gegenübersieht. Dieser Vorgang spaltet die ursprüngliche Setzung in die Setzung und das Bewußtsein der Setzung. Diese Spaltung ermöglicht das Nicht-Ich. Der Einfluß von außen also ist die Wechselwirkung des Ich mit sich selbst. Fichte zeigt an dieser Stelle, daß dieser Vorgang der »Vereinigungspunkt zwischen dem absoluten, praktischen und intelligenten Wesen des Ich« ist. 11 Das »absolute Ich« faßt alle Realität in sich und erfüllt die Unendlichkeit. Dies ist die Idee vom Ich, wie wir sie setzen müssen, obwohl sie uns nie unmittelbar gegeben sein kann. Wir müssen sie setzen, wenn wir das ursprünglich Ganze und Einheitliche »begreifen« wollen. Das absolute Ich ist die Setzung. Das absolute Ich geht über sich hinaus, indem es darüber reflektiert, »ob es wirklich alle Realität in sich fasse«. 12 Darin wird es das »praktische Ich«: »Hierdurch entsteht die Reihe dessen, was seyn soll«. Das die Realität suchende Ich, oder besser das sich in bezug auf Realität vergewissernde Ich schafft das, was sein soll. Richtet sich dieses Ich nun aber reflektierend auf den Anstoß dazu, d. h. reflektiert das Ich seine Selbstgesetztheit als Beschränkung, so entsteht die Reihe des Wirklichen, »die noch durch etwas anderes bestimmt wird, als durch das bloße Ich«. 13 In dieser Hinsicht »ist das Ich theoretisch, oder Intelligenz.« 14 Ebd. Ebd. " Ebd. 12 Ebd. 13 Ebd., S. 410. 14 Ebd. 9
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Die abstrakten Erörterungen komprimieren die Erklärungen, denen sie dienen. Im Gegensatz zur Stoa legt Fichte an dieser Stelle dar, daß er das absolute Sein und das wirkliche Dasein sehr wohl unterscheidet und daß er das absolute Sein zugrunde legt, um das wirkliche Dasein zu erklären. Mit diesen Überlegungen zum Ich sagt er, daß die Intelligenz auf dem praktischen Vermögen ruht. Ist aber keine Intelligenz, d. h. kein Bewußtsein des praktischen Vermögens, so ist auch kein Selbstbewußtsein möglich. Die Hauptsache aber ist die Erklärung des Nicht-Ich, ohne welches das wirkliche Dasein nicht vorzustellen ist. Die Erklärung des Nicht-Ich umfaßt sowohl das praktische wie das theoretische Ich. Das absolute Ich umspannt alle Realität. Fichte faßt das Ganze nochmals zusammen und meint, damit die Wissenschaftslehre insgesamt klar machen zu können: Es ist »das Princip des Lebens und Bewußtseyns, der Grund seiner Möglichkeit, — allerdings im Ich enthalten, aber dadurch entsteht noch kein wirkliches Leben, kein empirisches Leben in der Zeit; und ein anderes ist für uns schlechterdings undenkbar. Soll ein solches wirkliches Leben möglich seyn, so bedarf es dazu noch eines besonderen Anstoßes auf das Ich durch ein Nicht-Ich. Der letzte Grund aller Wirklichkeit für das Ich ist demnach ... eine ursprüngliche Wechselwirkung zwischen dem Ich, und irgend einem Etwas außer demselben, von welchem sich weiter nichts sagen läßt, als daß es dem Ich völlig entgegengesetzt seyn muß. In dieser Wechselwirkung wird in das Ich nichts gebracht, nichts fremdartiges hineingetragen; alles was je bis in die Unendlichkeit hinaus in ihm sich entwickelt, entwickelt sich lediglich aus ihm selbst nach seinen eignen Gesetzen; das Ich wird durch jenes Entgegengesetzte bloß in Bewegung gesetzt, um zu handeln, und ohne ein solches erstes bewegendes außer ihm würde es nie gehandelt, und da seine Existenz bloß im Handeln besteht, auch nicht existirt haben.« 1 5 Dieser Satz faßt in der Tat das Grundbild der Wissenschaftslehre klar zusammen. Deutlich erkennt man den »Zirkel«, gemäß dem die Reflexion etwas Absolutes setzen muß, um zugleich anzuerkennen, daß dies Absolute nur für die Reflexion da sei. Wir werfen noch einen Blick auf die »Grundlage des Naturrechts nach den Prinzipien der Wissenschaftslehre« von 1796. In diesen Darlegungen taucht die »freie Wechselwirkung« einerseits als »der eigenthümliche Charakter der Menschheit, durch welchen allein
15
Ebd., S. 410 f.
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jede Person sich als Meeschen unwidersprechlich erhärtet« 16 , und andererseits als Grundlage für die »ganze Theorie des Rechtes« auf: »Das Verhältniß freier Wesen zu einander ist daher das Verhältniß einer Wechselwirkung durch Intelligenz und Freiheit«. 17 Dieser Hinweis genügt insofern, als er deutlich macht, wie die Wechselwirkung von ihrer zentralen Rolle in der Wissenschaftslehre ins Naturrecht und von dort in die Sittenlehre ausstrahlt. Die Wechselwirkung zeigt den innersten Kern des Verhaltens des Menschen als Person. Dabei sind die Fragen der Wissenschaftslehre nicht etwa vergessen. In der Schrift »Die Bestimmung des Menschen« von 1800 z. B. stellt Fichte wieder fest, daß »Erkenntniß und Wechselwirkung freier Wesen ... völlig unbegreiflich« seien. Er führt die Möglichkeit der Wechselwirkung hier über die Vermittlung durch »den unendlichen Willen, der alle in seiner Sphäre hält und trägt.« 18 Das heißt, daß auch in der anthropologisch-ethischen Einordnung der Wechselwirkung als Grundkategorie die ursprüngliche Setzung des absoluten Ich mit gedacht bleibt. 3. Wechselwirkung und
Bedürfnisbefriedigung
Die Kategorie der Wechselwirkung hat bei Kant und Fichte einen Stellenwert, der uns zeigt, daß wir mit diesem Begriff auf einen Grundzusammenhang alles Lebendigen verwiesen sind. Wo wir auf Grund unserer kurzfristigen Beobachtung keine Wechselwirkung feststellen zu können meinen — wie z. B. angesichts eines Felsblocks, der seit Urgroßvaterszeiten scheinbar ungerührt daliegt —, da meinen wir, könne wohl von Leben im »eigentlichen« Sinne — dies meint denn wohl organisches Leben — nicht mehr die Rede sein. Alles Leben ist lebendig als wechselseitiger Austausch von Stoffen, Energien, Reizen, oder worauf immer man das Augenmerk richten will. Es gibt schlechterdings keine Lebensmöglichkeit in diesem Kosmos, die nicht auf Anziehungen und Abstoßungen physikalischer, chemischer oder geistiger Provenienz beruht. Wenn wir das sittliche Geschehen unter dem Blickwinkel von Wechselwirkung ansehen, so sehen wir es unter einem Aspekt, der es mit dem Leben schlechthin verbindet, der es in einen Aspekt von erhabener 16
Ebd., Bd. I, 3. S. 348.
17
Ebd., S. 351.
18
J. G. Fichte's sämtliche Werke. Hg. von I. H. Fichte. Berlin 1845/46 (Fotomechanischer Nachdruck Berlin 1971). Bd. II. S. 301.
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Allgemeinheit rückt. Das sittliche Geschehen ist auch stets unter diesem Aspekt der Wechselseitigkeit gesehen worden. O b man dieses Geschehen mit dem Vertrauen, mit der Liebe, mit der Ehrlichkeit oder mit der Gerechtigkeit verbindet oder ausgedrückt sein läßt — alle diese Charakteristiken sind bestimmt gerichtete Ausdrücke wechselseitigen Geschehens. Man faßt als Ausdruck des sittlichen Geschehens die großen Werke der Hingabe eines Menschen für seine Familie oder für seinen Beruf. Man preist zu Zeiten als sittlichen Wert die Selbstaufgabe des Menschen an ein Ziel, das den Vielen dient. Alle Hingabe und auch noch die Selbstaufgabe sind stets Formen von Wechselwirkung. D a aber, wo der sog. Egoismus oder Egozentrismus den stets trügerischen Versuch macht, sich um seiner selbst willen aus der Anerkennung aller wechselwirksamen Anforderungen zu lösen, da sehen wir sittliches Geschehen am tiefsten zerstört. Wir sehen das sittliche Geschehen also — wie immer das auch näher zu bestimmen ist — unter der Kategorie der Wechselwirkung. Wir stellen es damit in den gewaltigen kosmischen Prozeß, der alles Lebendige umspannt. Während die Materialität des Sittlichen als die Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung eine spezifisch menschliche, mit der menschlichen ratio gegebene Lebensbewegung ist, sehen wir das Sittliche hier unter der alles Lebendige umfassenden Kategorialität. Diese Einordnung zeigt ganz deutlich, daß das sittliche Geschehen nicht etwa nur ein zwischenmenschliches Geschehen sei. Die Wechselseitigkeit verbindet den Menschen mit Luft und Sonne, Tier und Baum und allen Gegenständen seiner Umwelt. Der sittliche K o s m o s ist unendlich tief, und der handelnde wie denkende Mensch ist nicht nur Menschen gegenüber sittlich verantwortlich. Ein Postulat baut sich von hier aus offenbar für das Sittliche auf, das der neueren ethischen Forschung im allgemeinen fernliegt. Albert Schweitzer hat nahezu als einziger immer wieder betont, daß jede Ethik zu kurz gebaut ist, in der nur Menschen vorkommen. Sein sittliches Prinzip — die »Ehrfurcht vor dem Lebendigen« — umspannt mit dem Lebendigen den Bereich, den wir hier mit der Kategorie der Wechselwirkung erfassen. Dabei ist die Ehrfurcht ja ein sittliches Kriterium, das selbst diese Wechselseitigkeit wie Treue oder Vertrauen in bestimmter Weise charakterisiert. Sittliches Geschehen — als das Handeln und Denken von Menschen in ihrer Umwelt — geschieht stets als Ausdruck dieser Umwelt. Das heißt, daß sittliches Geschehen in seinem Grunde stets darauf angesehen sein will, daß es ein Ergebnis von Wechselwirkung ist. Wir haben von diesem Sachverhalt insofern schon im letzten Kapitel gehandelt, als wir die Mate-
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rialität des sittlichen Geschehens als Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung wiedergaben. Die Bedürfnisse des Menschen und ihre Befriedigung sind eine bestimmte Charakterisierung der Wechselwirkung. Sie sind die Wechselwirkung, mit der der Mensch mit seiner Umwelt wie aus seiner Umwelt in »dynamischer Gemeinschaft« steht. Die Bedürftigkeiten sind ja nicht nur einseitige Leerstellen. Sie sind vielmehr stets auch Ausdruck von Wechselwirkung. In besonders eindrücklicher Weise hat das Ludwig Klages in seiner Triebpsychologie erläutert, wenn er Durst oder Hunger ganz wesentlich von den »Bildern« beherrscht erklärt, die als frisches Wasser oder frisch gebackenes Brot den Menschen anrühren und ihn anziehen. 19 Andererseits ist die Wechselwirkung durch G. H. Mead z.B. als die Realität des Lebens dargestellt. Das Leben hat seine Realität nicht an oder in Stoffen, sondern in den Wechselwirkungen, von denen aus er zu jener Bestimmung kommt, daß die Gegenwart von der Zukunft in Bewegung gehalten und bestimmt sei. 20 Mit der Kategorie der Wechselwirkung reden wir also von der Form des sittlichen Geschehens, auf Grund deren sich das »Was« seiner Materialität vollzieht. 4. Die Goldene Regel Die Wechselwirkung des Geschehens ist in der sog. Goldenen Regel auf eine sittliche Formel gebracht. Diese Formel besitzt als Formel des Grundsachverhaltes des Geschehens verständlicherweise eine sehr große Verbreitung. Sie ist im Vorderen Orient seit der Achikar-Erzählung — also seit dem 5. vorchr. Jahrhundert — formuliert belegt. Sie ist in Griechenland Thaies zugeschrieben worden. Diogenes Laertius berichtet von Thaies die Formulierung: »Wenn wir etwas an anderen tadeln, so sollen wir es selbst nicht tun«. 21 Die Formulierungen der Goldenen Regel können recht verschiedenartig sein. Sie sind negativ, aber auch — wie z.B. im Munde Jesu (Mt. 7,12) positiv formuliert. In der neueren ethischen Diskussion ist die Goldene Regel an zwei Stellen besonders wichtig und einflußreich geworden. Einmal die Diskus-
19
Ludwig Klages, Vom kosmogonischen Eros. Jena 3. Auflage 1930, S. 17—28.
20
G. H. Mead, Philosophie der Sozialität. Frankfurt 1969, S. 267.
21
H. Diels, Die Fragmente der Vorsokratiker. Berlin 5. Auflage 1934. Bd. I, S. 71. 22 f.
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sion, die Leibniz in den Nouveaux Essais 22 gibt. Es geht dabei um die Frage, ob es ethische Grundsätze gibt, die unmittelbar einleuchtend sind oder als ideae innatae angesprochen werden können. Dabei kommt die Goldene Regel zur Sprache. Sie wird von Leibniz als die »Quelle der Tugenden« eingeführt, die sich auf die societe beziehen. Es gibt also offenbar auch Tugenden, die die societe nicht berühren. Für diese aber ist die Goldene Regel das Prinzip oder die Quelle und von hohem Rang. Sodann kommt die Goldene Regel bei Schopenhauer zur Sprache. Schopenhauer hat in seiner »Grundlage der Moral« im ersten Teil (»Vom obersten Grundsatz der Kantischen Ethik«) den kategorischen Imperativ behandelt. Er charakterisiert ihn nach anderen Einwänden so, »daß er, bloß als Formel betrachtet, nur eine Umschreibung, Einkleidung, verblümter Ausdruck der allbekannten Regel quod tibi fieri non vis, alteri ne feceris ist«. 23 Mit dieser Überlegung führt Schopenhauer den Gedanken zu Ende, in dem er zu erweisen sucht, daß Kants Ethik auf der Reziprozität ruhe. Er weist dafür zumal auf den § 30 in den »Metaphysischen Anfangsgründen der Tugendlehre« hin. Kant schreibt hier: »Denn jeder Mensch, der sich in Noth befindet, wünscht, daß ihm von anderen Menschen geholfen werde. Wenn er aber seine Maxime, Anderen wiederum in ihrer Noth nicht Beistand leisten zu wollen, laut werden ließe ..., so würde ihm, wenn er selbst in Noth ist, jedermann gleichfalls seinen Beistand versagen ...«, 2 4 Diese Reziprozität, auf der die moralische Verpflichtung nach Kant also beruht, erweist — meint Schopenhauer — diese Ethik letztlich als egoistisch. Die Reziprozität kennzeichne ein so gegründetes Handeln im Grunde doch so, daß der Wohltäter daran denkt, daß er in Not kommen könnte. Aber darüber hinaus meint Schopenhauer auch, daß der kategorische Imperativ, der auf derartiger Reziprozität ruhe, kein kategorischer, »sondern in der That ein hypothetischer Imperativ ist«. 25 In der Rückfüh-
22
I. Buch II. K p . , § 4: »qui est la source des vertus qui regardent la Societe; ne faites ä autruy que ce vous voudries qu'il vous soit fait ä vous meme.« (G. W. Leibniz, Neue Abhandlungen über den menschlichen Verstand. Nouveaux Essais sur L'entendment humain. I. Band. Hg. und übersetzt von W. von Engelhardt und H. H. Holz. Frankfurt 1961, S. 54. 56.)
23
A. Schopenhauer, Sämtliche Werke. Hg. von A . Hübscher. Bd. 4, Leipzig 1938, S. 158.
24
Metaphysik der Sitten, 2. Teil, 1. Hauptst. I. Abschn. § 30. Zitiert nach Kant's gesammelte
25
A. Schopenhauer, Sämtliche Werke. Bd. 4, S. 157.
Schriften. Bd. VI. Berlin 1907, S. 453.
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rung des kategorischen Imperativs auf die Reziprozität und ihre Einkleidung in die Goldene Regel ist für Schopenhauer die wesentlichste Kritik an Kants Ethik ausgedrückt. Uns beschäftigt hier Schopenhauers Kritik an Kant nicht. Es ist aber nicht zu leugnen, daß der kategorische Imperativ tatsächlich die äußerste Verallgemeinerung der Goldenen Regel insofern ist, als das eigene Handeln zu dem Handeln der Menschheit als Wechselwirkung verstanden ist. Wichtig ist an dieser Beobachtung Schopenhauers für uns, daß die Wechselwirkung sich als Grundstruktur sittlichen Geschehens auch noch bis in diese Kantische Formalisierung durchhält. Nun meint Schopenhauer an der gleichen Stelle, die Goldene Regel »ist aber selbst wieder nur eine Umschreibung, oder, wenn man will, Prämisse, des von mir, als der einfachste und reinste Ausdruck der von allen Moralsystemen einstimmig geforderten Handlungsweise, aufgestellten Satzes: Neminem laede, imo omnes, quantum potes, iuva«.26 Woher die Macht stamme, die in dieser Forderung stecke, das sei das eigentliche ethische Problem. Aber der Grund sittlichen Handelns sei dieser Satz. Das Nebeneinander von neminem laedere ... ist schon früher — bei Leibniz — als Ausdruck der natürlichen Gerechtigkeit im Sinne einer iustitia commutativa geführt. Schopenhauer gibt also diese Fassung wieder. Die Goldene Regel ist — wie es sich nach unseren bisherigen Überlegungen nahelegt — als Ausdruck der Wechselwirkung ein Ausdruck des sittlichen Geschehens selbst. Ob man ihr die Formulierung der iustitia commutativa oder die der sog. Goldenen Regel gibt, trägt für die Sache selbst nichts aus. Die Goldene Regel gilt weithin als Grund-Ausdruck naturrechtlicher Setzung. In dieser Regel findet die Talion ihren Ausdruck: Blut fordert Blut. Alte religiös geschützte Ausgleichsrechte charakterisieren die Goldene Regel als ehernes Gesetz, über das man sich nicht hinweg setzen kann und darf. Das Gesetz der Moira, das Orest jagt, wird dann freilich durch das Gericht der Athener abgelöst. Aber auch dieses Gericht, das die irrtümliche Verflochtenheit von Tat und Tatfolge in die Helle des Bewußtseins hebt, löst die Goldene Regel oder die Talion nicht auf, sondern substituiert im Bereich der Tatfolge die Talion durch ein Strafmaß. Das »Gesetz« der Wechselwirkung als Hintergrund bleibt aber auch im Zusammenhang der δίκη erhalten.
26
Ebd., S. 158.
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II. Existenzstrukturen der dynamischen Gemeinschaft 1. Dynamische
Gemeinschaft
Alles Lebendige ist in dem Austausch des Empfangens und des Gebens von Wirkungen lebendig. Dieser Austausch charakterisiert die Lebendigkeit und zeichnet sie in jeder Hinsicht aus. Dies gilt von allem Lebendigen. Es gilt vom Menschen als einem mit allem Lebendigen verbundenen Wesen. Die Welt der Mineralien, Pflanzen und Tiere sind dem Menschen verbindlich zugeordnet auf der Ebene der Stoffwechsels und der in ihm angelegten Freiheit. Sittliches Geschehen vollzieht sich als diese Wechselwirkung, als das Substrat, auf dem und in dem seine Dynamis und Effizienz ruht. In dem Geschehen, das stetig als ein Prozeß von Wechselwirkung geschieht, sehen wir das sittliche Geschehen sich vollziehen. Der Prozeß von Geschehen ist als polare Spannung und polarer Austausch da. Der Geschehensverlauf hat an dieser Polarität seine Wirklichkeit. Diese Wirklichkeit des Sittlichen, wie sie sich z. B. in der Goldenen Regel ausdrückt, ist nun weder chaotisch wild noch egalitär gleichförmig. Die Wechselwirkung zeigt vielmehr Strukturierungen. Wir wenden uns zunächst den sog. Existenz-Strukturen 27 zu. 2. Eltern / Kinder Das menschliche Leben ist in seiner Eigenart, auf Wechselwirkung zu beruhen, dadurch charakterisiert, daß jeder Mensch das Kind bestimmter Eltern ist. Diese Gegebenheit menschlichen Daseins ist so selbstverständlich, daß man sie kaum erwähnt. Dabei ist dieser Sachverhalt doch in mehreren Richtungen bedenkenswert. Zunächst ist kein Zweifel, daß jeder Mensch sich von seinen Eltern her empfangt. Dies ist eine entwicklungs-physiologische und -psychologische Tatsache. Aber es ist noch anderes. Von diesem Empfangen her bestimmt sich das ganze Selbstbewußtsein eines Menschen. Das Eigentümliche ist ja, daß man sich zwar als Achtjähriger andersartig von seinen Eltern her empfangt denn als Zwanzigjähriger, daß man sich aber auch noch als Sechzig jähriger als Kind von seinen Eltern her empfindet 27
Der Begriff der Existenz-Struktur wird von E. Brunner gebraucht, um das Eltern/KindVerhältnis zu charakterisieren (Das Gebot und die Ordnungen. Tübingen 2. Auflage 1933, S. 330 f.).
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— und wenn die Eltern seit Jahrzehnten nicht mehr leben. Das heißt, die Tatsache, daß ein Mensch Kind seiner Eltern ist, ist erstens ein sich ständig wandelndes Verhältnis, ist aber zweitens eine ganz unauflösbare Bestimmtheit menschlichen Daseins. Aus dieser Bestimmtheit empfangt »sich« der Mensch: Seine Eltern können sein Selbstbewußtsein stark und reich machen, und sie können es auch lebenslänglich tief belasten. Niemals aber kann der Mensch davon absehen, daß er diese Bestimmtheit trägt. Aber der Mensch empfängt sich nicht nur als Kind von seinen Eltern her, worin die tiefe Bewahrtheit menschlichen Daseins ebenso wie immer neue Beunruhigung liegen kann, sondern indem er sich als Kind empfängt, wirkt sein Dasein als Kind dahin, daß seine Eltern sich von ihm aus als Eltern erfahren und empfangen. Der Mensch empfindet sich in seiner Welt neuartig, wenn er eines Tages ein Kind hat und Vater oder Mutter wurde. Dies gilt von der Mutter zwar andersartig als vom Vater. Aber für beide verändert sich ihre Welt durch die Vaterschaft oder Mutterschaft. In sehr vielen Fällen ist diese Veränderung bei einem Jungen als Kind noch wieder eine andere als bei einem Mädchen. Aber wesentlich ist die Tatsache, daß Elternschaft, die sich vom Kinde her empfangt, eine tiefe Bestimmung menschlichen Selbstbewußtseins beinhaltet. Es ist zu beobachten, daß die Wechselwirkung auch wohl noch daran hängt, daß es ein »eigenes« Kind ist, von dem her sich Elternschaft empfangt. Adoptiv-Kindern gegenüber ist die Tiefe der Elternschaft »so« nicht da und wohl auch nicht denkbar. Die tiefe Existenzbindung der Eltern an das eigene Kind ist nicht ersetzbar. Das wird zumal oft bei Stiefeltern sichtbar, die zugleich eigene Kinder haben. Offenbar ist die Erfahrung der Elternschaft in der durchaus zweiseitig polaren Wechselwirkung mit den Kindern dem Menschen — Mann wie Frau, wenn auch bei beiden andersartig — für sein Dasein wesentlich. Sie ist für viele konstitutiv. Eine kinderlose Ehe bleibt für viele eine defekte Gemeinsamkeit — auch wenn man keineswegs die sexuelle Beziehung mit der Erzeugung von Kindern identifiziert. Die Elternschaft empfängt der Mensch von seinen Kindern her, indem er das Kind als Kind konstituiert. Dies ist eine volle Wechselseitigkeit und polare Bestimmtheit. Die polare Bestimmtheit des Verhältnisses von Eltern zu Kindern ist nun ja offenbar in einem deutlichen ordo von den Eltern zu den Kindern strukturiert. Dies gilt ja auch keineswegs nur dem Kleinkind gegenüber. Das Verhältnis von Eltern und Kindern ist unumkehrbar. Auch da, wo man es chic, modern und fortschrittlich empfindet, wenn man seine Eltern mit Vornamen anspricht oder wenn man möglichst burschikos von ihnen
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spricht, bleibt das Verhältnis unumkehrbar. Das Kind erwartet daher, daß die Eltern es ausbilden und aussteuern. Das ist auch angemessen. Die Unumkehrbarkeit des Verhältnisses von Eltern zu Kindern setzt sich denn auch unter sog. modernen Verhältnissen durchaus bestimmend immer wieder durch. Das kann wohl auch nicht anders sein. Es liegt, wie man sagt, »in der Natur der Sache«. Das heißt aber, daß die Struktur der Wechselwirkung deutlich gerichtet ist, einen ordo aufweist, der von den Eltern zu den Kindern verläuft. Die Eltern sind als Eltern »andersartig« als die Kinder. Sie leben als Eltern eine auctoritas, die nicht delegierbar ist. Die Wechselwirkung von den Eltern zu den Kindern und umgekehrt ist eindeutig gerichtet. Diese Richtung, dieser ordo oder diese Autorität ist in dem Geschehen zwischen Eltern und Kindern selbst gegeben. Dabei ist es einsichtig, daß diese auctoritas geschichtlich verschiedene Formen annimmt. Die Gewalt über Leben und Tod, die der römische pater familias innehatte, war ebenso zeitbedingt wie die elterliche Autorität bei der Eheschließung der Kinder, wie sie z. B. Maria Theresia bei ihren Kindern ausübte. Man hat in der letzten Generation sehr viel freiere Formen dieser Autorität praktiziert, und das ist auch dem angemessen, daß Vierzig- und Fünfzigjährige sich heute freier bei Sport und Spiel bewegen als unsere Eltern. Aber wenn man nun aus dem Wahn falsch verstandener egalite heraus die elterliche Autorität abbauen und das vierjährige Kind selbstbestimmend handeln lassen will, dann ergibt das schwere Schäden. Das wird nicht nur darin sichtbar, daß Mütter von dreijährigen Kindern es nicht mehr schaffen, das Kind bei fiebriger Erkältung im Bett zu halten, woraus lang wirkende Schädigungen gesundheitlicher Art entstehen. Das wird auch zumal darin sichtbar, daß diese Kinder schon im frühesten Alter psychisch völlig überanstrengt sind, denn sie sollen ständig Entscheidungen fällen, die sie nicht fällen können. Die Schäden liegen so klar auf der Hand, daß dieser Trend — der ja meist pseudopolitische Gründe hat — bald überstanden sein wird. Wie immer die einzelnen »zeit«-entsprechenden Gestaltgebungen der elterlichen Autorität auch aussehen mögen, das für uns hier Wichtige ist die Einsicht, daß die Existenz wechselseitigen menschlichen Daseins im Falle des Eltern/Kind-Verhältnisses eindeutig strukturiert ist. Sittliches Geschehen ist auf diese Strukturiertheit angewiesen.
3. Mann / Frau Eine zweite Strukturierung der Wechselwirkung des Lebens liegt in der polar zweiseitigen Gespanntheit des Lebens als männliches Dasein im
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Verhältnis zum weiblichen. Diese polare Spannung ist wechselwirkend. Der Mann empfangt sein Mannsein von einer Frau her und umgekehrt. Das heißt, das Mann- oder Frau-Sein verstehen wir nicht etwa nur als eine Funktionstüchtigkeit zur Erzeugung oder Empfängnis, Schwangerschaft und Stillung von Säuglingen. Das Mann- oder Frau-Sein geschieht vielmehr als geistige wie psychische wie leibhafte Aufeinander-Gewiesenheit beider. Die Rede ist noch zu allgemein: Jede Handlung eines Mannes, der der Liebe seiner Braut gewiß wurde und auf den Wolken dieser Erfülltheit lebt, ist von dieser Tatsache geformt. Eine Frau, die mit ihrem Mann und drei Kindern glücklich und geborgen ihr Leben führt, entscheidet alles anders als eine Frau, die als ewige Freundin nunmehr von ihrem vierten Verhältnis entlassen wurde. Der Mensch ist nur als Mann oder als Frau in der Bestimmtheit dessen, wie beide sich nun aufeinander beziehen, da. Diese Bestimmtheit ist eine totale. Sie ist ebensosehr eine geistige wie eine psychische wie eine leibhafte. Das Mannsein, in dem ich mich von meiner Frau her empfange, ist also keineswegs primär sexuell oder gar nur auf das Gebiet der Sexualität beschränkt. Die Betonung des Sexuellen wird nur da bestimmend, wo das Verhältnis von Mann und Frau vor der Ehe noch nicht oder vielleicht auch in der Ehe — aus Entfremdung oder im Alter — nicht mehr »selbstverständlich« geschieht. In dem Gesamt des Miteinander von Mann und Frau, das ein Auseinander-Hervorgehen ist, geschieht eine ständige Ergänzung. Meine Frau sieht mit ihren weiblichen Fähigkeiten an Besuchern etwas anderes als ich, was oft sehr wichtig ist. Oder eine Frau gibt ihrem Manne in wirtschaftlichen Fragen mit der ihr als Frau eigenen besonders distanzierenden Rationalität erfolgreiche Hinweise. Oder ein Mann hilft seiner am Leben schwer tragenden Frau durch den spielerischen Mut, der ihm als Mann eigen ist, über viele dunkle Tage. Mann und Frau sind ständig aufeinander bezogen — in der Liebe wie in der Auseinandersetzung wie auch im Junggesellen-Dasein. Sie ergänzen sich aus dem spezifisch Männlichen oder spezifisch Weiblichen. Freilich, es gibt keine absoluten Männer oder Frauen. Die Anteile der Person am Männlichen oder Weiblichen sind verschieden und stets in gewissen »Mischungen« vorhanden. Es gibt sogar, wie man sagt, den »weibischen Mann« und es gibt das »Mannweib«. Aber das Wesentliche ist ja doch wohl, daß wir es bei dem polar wechselseitig gespannten Mannsein oder Frausein mit unterschiedlichen »Charakteren« des Gesamtmenschlichen zu tun haben. Keiner wird meinen, die Unterschiede zwi-
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sehen Mann und Frau bezögen sich nur auf einige äußerliche Unterschiede in primären oder sekundären Geschlechtsorganen und auf die Tatsache, daß die Frau es ist, die Kinder austrägt und säugt, im übrigen aber sei »alles« das eine Menschliche. Diese oberflächliche Sicht ist darin so gefährlich, daß sie das sexuelle Geschehen isoliert 28 und damit verdirbt und daß sie die Gesamtperson — geschlechtslos als Roboter oder so etwas — nur abstrakt und funktional zu bestimmen zuläßt. Mann und Frau sind also wechselseitig polar zueinander. Sie empfangen sich auseinander und suchen einander. Dies geschieht auf Grund und um Willen der großen Verschiedenheit ihres gesamten geistleiblichen Daseins. Diese Verschiedenheit von Mann und Frau macht sich darin bemerkbar, daß es auch in dieser Struktur wechselseitigen Daseins einen ordo gibt. Dieser ordo besteht nicht darin, daß die Frau dem Mann Untertan ist, wie es frühere Geschlechter für angemessen hielten. Er besteht vielmehr darin, daß der Mann der Werbende ist. Die Frau wird umworben vom Mann. Sie wirbt nicht. In diesem Sachverhalt kommt ein ebenso gewichtig geistiger wie leibhafter ordo von der Frau zum Mann zum Ausdruck. Diese Rolle des Mannes als des Werbenden und Zugreifenden ist unumkehrbar von der der Frau unterschieden. Dabei geht es nicht, wie weibliche Leser wieder beargwöhnen werden, um den Versuch, den Mann nun doch wieder höherstellen zu wollen. Dies alles hat mir Höher und Tiefer gar nichts zu tun. Die Frau wird von den Männern umworben. Darin zeigt sich ein ordo, eine unumkehrbare Struktur, die Mann und Frau einander zuordnet und diese Wechselseitigkeit zutiefst prägt. Wir sehen also die Bezogenheit von Mann und Frau in ihrer Wechselseitigkeit so, daß hier zwei durchgängig verschieden geartete Charaktere menschlichen Daseins sich gegenseitig ergänzen und aufeinander angewiesen sind. Das ist im Einzelnen auch sehr eindeutig zu machen. Gegenwärtig allerdings werden viele diese Erwägungen als einen Affront gegen die sog. Gleichberechtigung empfinden. Man meint vielfach, die sog. Gleichberechtigung von Mann und Frau sei nur sinnvoll zu vertreten, wenn 28
Die fatale Kurzschlüssigkeit zeigt sich auch darin, w e n n soziologisch die »Familie als Institutionalisierung der menschlichen Sexualität« bezeichnet wird. So bei P. L. Berger, Z u r Dialektik von Religion und Gesellschaft, T ü b i n g e n 1973, S. 14. Ausgerechnet die Familie als Institutionalisierung von Sexualität gekennzeichnet zu finden, ist schwer verständlich. Wenn v o n der Ehe die Rede wäre, so wäre das leichter zu verstehen. Aber selbst bis in die Bereiche der Familie setzt sich die oberflächliche Abspaltung des Sexuellen durch.
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Mann und Frau — abgesehen von einigen Geschlechtsmerkmalen — »gleich« sind. Auf diese Gleichheit kommt es an. Die Behauptung, daß eine gebildete Frau zu schade sei für Saubermachen und Kinderhüten, meint man sonst nicht vertreten zu können. Das »erkenntnisleitende Interesse« liegt im Falle der Gleichheit von Mann und Frau — abgesehen von ein paar Geschlechtsmerkmalen — auf der Hand. Aber die These dieser Gleichheit steht auf schwachen Füßen. Die sog. Gleichberechtigung von Mann und Frau liegt nun aber auch auf einem ganz anderen Feld. Die Gleichberechtigung ist als Forderung eigentlich nur sinnvoll, wenn Mann und Frau nicht gleich sind. Diese sog. Gleichberechtigung betrifft die Gleichbehandlung von Männern und Frauen in Ausbildung, Anstellung und Rentenzahlung. Die Klärung dieser Probleme ist auch ohne das lebensfremde Postulat der Gleichheit der Geschlechter möglich. Uns betrifft diese Frage hier eigentlich nicht. Wir meinen keineswegs, daß die Wahrnehmung der sich ergänzenden Verschiedenheiten, auf Grund deren Mann und Frau sich — wahrlich nicht nur sexuell — brauchen und suchen, die Frage der Gleichberechtigung nicht ausschließt. Wenn die Frauen, wie es heute der Fall ist, in Wirtschaft und öffentlichem Leben als Arbeitskräfte gebraucht werden, dann muß ihre »Gleichberechtigung« gewiß auch sichergestellt sein. Wir sehen dafür in diesen Überlegungen keine Schwierigkeit. Dies besagt auch gar nichts gegen die sogenannte Strukturiertheit des Verhältnisses von Mann und Frau. Wir müssen uns ja doch gegenwärtig halten, daß die Lebensgestalten, in denen das Zueinander von Mann und Frau jeweils sich ausdrückte, in den einzelnen Kulturen wie in ihren verschiedenen Epochen sehr verschiedenartige, historisch bedingte Formen fand. Diese Formen kennzeichnen alle die tiefreichende Unterschiedenheit von Mann und Frau. Aber das heißt ja nicht, daß damit die Frauen stets unterdrückt wären. Die tagespolitischen Formeln verkürzen auch in diesem Falle. Das heißt also, daß die gesamtpersönlichen Unterschiede von Mann und Frau in sehr verschiedener Weise historisch bedingten, und d. h. sich historisch wandelnden, Ausdruck finden. Man muß die sozialen Rollen, die Mann und Frau in Mitteleuropa bis ins 19. Jahrhundert normalerweise hatten, nicht damit insgesamt festschreiben, daß man feststellt, daß die geschlechtlichen Unterschiede von Mann und Frau nur ein Ausdruck der Unterschiedenheit der Gesamtpersonen sind. Nicht nur körperliche, sondern auch geistige und psychische Eigenarten sind mit dem Mann- und Frau-Sein gegeben. Diese Einsicht liegt zwar sehr offen zu Tage, kann z. B. leicht
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an der durchgängig verschiedenen Art, wie Jungs und Mädels auf unterrichtliche Anforderungen, auf seelische Belastungen wie auf tadelnde Kritik reagieren, erwiesen werden. Belegen und charakterisieren läßt sich diese Tatsache nur im Zusammenhang einer ausgeführten Sexualethik. An dieser Stelle ist nur zu klären, daß die Existenz-Struktur der Polarität von Mann und Frau nicht etwa nur als sexuelles Sondergeschehen von den Gesamtpersonen abgespalten und damit verzeichnet werden darf. Weil sich diese Spaltung der Persönlichkeit heute nahelegt und im allgemeinen wie selbstverständlich hingenommen wird, muß davon an dieser Stelle betont gesprochen werden. Wir meinen also, mit dem Mannsein oder Frausein des Menschen eine Strukturierung in den Wechselwirkungen sehen zu müssen, die den gesamten Seinsausdruck des Menschen bestimmend prägt. Diese Struktur hat stets zu sittlichen Transzendierungsgestalten geführt, die in den Eheformen z. B. Ausdruck im Stammes- und Familienleben wie in den Kulten gefunden haben. Das Dasein als Wechselwirkung im zwischenmenschlichen Bereich wie im Verhältnis zu Tier und Pflanze ist durch diese Strukturierung bedingt. Der ordo zwischen den beiden Polen dieser Struktur ist in den verschiedenen Kulturen verschieden bestimmt worden. Es ist unwahrscheinlich, daß die gegenwärtige Tendenz, diese Strukturierung abgesehen von der sexuellen »Funktion« aus-zu-gleichen, von Bestand sein kann.
4. Meister
/ Lehrling
Wir meinen, hier einen dritten Sachverhalt erwägen zu sollen, nämlich die Wechselwirkung zwischen Meister und Lehrling oder zwischen Lehrer und Schüler. Diese Struktur ist anders gelagert als die von Eltern/Kindern oder Männern/Frauen. Gegenüber diesen in der Existenz selbst liegenden Strukturen haben wir es hier mit einer im sittlichen Geschehen selbst liegenden, wir können auch sagen, mit einer gesellschaftlich veranlagten Struktur zu tun. Dieses Meister/Lehrling-Verhältnis hat zwei Seiten. Die eine Seite, die gleichsam äußerlich ist, besteht in einer Struktur der Berufsausbildung. Die Berufsbildung ist im Meister/Lehrling- oder Lehrer/ Schüler-Verhältnis strukturiert. Dieser Berufsweg eines Menschen ist — bis in unsere Tage — Kennzeichen des Lebensentwurfes, d. h. der sittlichen Lebensgestalt eines Menschen.
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Der Beruf beginnt freilich in der Neuzeit in einzelnen Sparten nicht mehr Lebensgestalt zu sein, sondern Job zu werden, den man auch beliebig wechseln kann und zu dem man kein inneres Verhältnis mehr hat. Damit löst sich der Beruf als sittliches Geschehen auf. Die berufliche Tätigkeit wird reines Gelderwerbsmittel. Diese Berufseinstellung hat ihre Grenzen am notwendigen Gelingen des Berufsinhaltes, d. h. an der Qualität des Arbeitsergebnisses. Man merkt diesen Trend der Berufs-Verfremdung an der schlechten Arbeit, die heute z. B. von Handwerkern, aber auch von Wissenschaftlern gleistet wird. Der Beruf eines Menschen — und das betrifft auch die Frauen, wenn sie sich in der Berufswelt halten wollen — ist ein sittliches Geschehen, das seinen Lebensentwurf wesentlich trägt und gestalten läßt. Für den Beruf ist das Meister/Lehrling- oder Lehrer/Schüler-Verhältnis konstitutiv. Der Schüler bleibt seines Lehrers Schüler sein Leben lang, auch wenn er selbst längst Lehrer wurde. Diese Struktur ist aber auch eine echte Wechselseitigkeit. Der Meister oder Lehrer wird nämlich durch seine Lehrlinge oder Schüler zum Meister. Er empfangt sich von den Schülern her als Meister. Die bekannte Einsicht, daß wir in tieferem Sinne nur im Lehren lernen (docendo discimus), gibt diesen Tatbestand wieder. Der Lehrer ist in seiner gravitas vom Lehrprozeß her ein Lehrer. Er ist es nicht ohne die Wirkung, die er von seinen Schülern in ihrem Schüler-Sein erfahrt. Dies ist eine ebenso wichtige wie wenig erhellbare Tatsache. Diese berufliche Struktur, so könnte man sagen, ist nun ja aber nur partiell von Gewicht. In unserer hochzivilisierten Gesellschaft gibt es vielleicht nicht sehr viele Menschen ohne Meister- oder Lehrer-Verhältnis. Das ist aber, wie man sieht, auch schon wieder im Übergang. Aber in wenig zivilisierten Kulturen lernt der Junge das Notwendige für seinen Beruf beim Mittun im Elternhaus oder bei Verwandten. Dabei kommen wir auf die zweite Seite dieser Wechselwirkung. Das Meister/LehrlingVerhältnis ist nämlich gar nicht nur oder vorwiegend eine Konstituante der Berufsbildung. Vielmehr ist damit auch jene Wechselwirkung gemeint, die ein sog. »väterlicher Freund« oder eine »mütterliche Freundin« in der sittlichen Lebensgestaltung hat. Der Name sagt, daß da etwas Platz hat, was in Richtung auf väterliches oder mütterliches Dasein geht. Aber es ist nun doch etwas typisch anderes. Die Prägung, die ein heranreifendes Leben von so einem Meister oder Lehrer erfährt, betrifft die gesamte Weltund Lebens-Anschauung. Das wird bei einer gelingenden Berufsausbildung zwar auch der Fall sein. Das ist hier aber das allein Wesentliche. Es
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geht hier um ein das sittliche Geschehen als Lebensgestalt ganz direkt betreffendes Verhalten. In dieser Wechselwirkung inkorporiert sich jener Tatbestand, daß das sittliche Geschehen sich nicht von selbst versteht, daß man es »sich gesagt sein lassen« muß. Gelingendes sittliches Leben, d. h. die Menschlichkeit des Menschen, wie sie sich in den verschiedensten Wechselwirkungen gestaltet bzw. zur Gestalt erhebt, verdankt sich einer Meisterschaft oder geschieht aus einer Lebenserfahrung, die unverlierbar prägt. Dieses Verhältnis ist für den sittlichen Vollzug menschlichen Daseins von großer Bedeutung. Das sittliche Geschehen ist also nicht nur in seiner Grundgegebenheit als der menschlichen Existenz strukturiert. Es ist auch in seiner gesellschaftlichen Seite strukturiert. Diese Strukturierung zeigt — wie das Eltern/Kind-Verhältnis — eine unumkehrbare Ordnung, wenn es auch und indem es wechselseitig ist. Das heißt, obwohl der Lehrer sich als Lehrer vom Schüler her empfangt, wie der Schüler sich als Schüler dem Lehrer verdankt, ist dennoch vom Lehrer zum Schüler ein deutlicher und unumkehrbarer ordo. Dieser ordo ruht in dem unabdingbaren »Mehrsein« des Lehrers, d. i. in seiner auctoritas. Diese Autorität kann der Meister nicht nichthaben wollen, wie das heutige Lehrer in unverstandener Gleichmacherei meinen. Wenn diese Autorität versehrt wird, dann ist das sittliche Geschehen an einem ganz wesentlichen Punkt nicht mehr vollziehbar. Ein Lernprozeß als Ausbildung wie als Lebensgestaltung überhaupt ist ein wechselseitiges und wechselwirkendes Geschehen. Beide Beteiligte hängen wechselwirkend voneinander ab. Aber das heißt nicht, daß damit beide »gleich« in dieser Wechselwirkung da wären. Die Fruchtbarkeit und Möglichkeit dieser Interaktion hängt vielmehr an unumkehrbaren Zuordnungen der Partner in der Richtung vom Lehrer zum Schüler und vom Meister zum Lehrling. Abbau dieser auctoritas zerstört den Grund der Möglichkeit von sittlicher Bildung. 5. Von der Gleichheit
der
Menschen
Sittliches Geschehen vollzieht sich in Wechselwirkungen als »dynamische Gemeinschaft«. Das Geschehen dieser dynamischen Gemeinschaft ist in sich selbst strukturiert. Wir haben die drei wesentlichen Strukturierungen gekennzeichnet. Die beiden ersten sind als Existenzstrukturen mit dem menschlichen Dasein gegeben. Es gibt keine dynamische Gemeinschaft, ohne daß die Akteure Kinder bestimmter Eltern oder Männer bzw.
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Frauen sind. Diese Existenzstrukturen bedingen denn auch mittelbar jedes Handeln und jedes Denken. Diese Einflüsse vollziehen sich weitgehend unbewußt. Die dritte Struktur ist nicht mit der Existenz des Menschen da. Aber sie ist mit der sittlichen Bewältigung von Existenz da. Sittlichkeit wächst aus Tradition, lebt mit Tradition und wird lehrend vermittelt — im Elternhaus, in der Schule, in der Lehre — und prägt das gesamte Leben. An dieser Kernstelle sittlichen Daseins hat diese dritte Struktur ihren Ort. Menschlich sittliches Dasein weist Komplementaritäten auf, ohne die es nicht gelebt wird und ohne die es nicht zu verstehen ist. Komplementär ist die Charakterisierung des Menschen als Mann und Frau, als Eltern und Kinder und als Lehrer und Schüler. Es gibt den Menschen nur in diesen komplementären Strukturen. Sie zeigen alle drei einen ordo oder eine in der Wechselseitigkeit liegende Ordnung als Elternsein oder Kindsein, als Mannsein oder Frausein wie als Lehrersein oder Schülersein. Der Mensch ist nur »so« Mensch. Alle drei ordines sind tief kultur- oder sittengeschichtlich bedingt. Dies ist wesentlich zu bemerken. Die pura naturalia sind in allen drei Fällen überformt von kulturgeschichtlichen Prägungen, die diese ordines gestaltet haben. Keine dieser drei Strukturen ist nur naturhaft zu erfassen und in keiner ist der übliche Rückgriff auf das »Natürliche« zur Verständigung hilfreich. Das heißt, daß der Unterschied der drei Komplementaritäten, von denen zwei zum ontischen Befund »Mensch«, die dritte aber zum kulturell-sittlichen Bereich gehören, nicht so groß ist, wie es zunächst scheint. Tatsächlich sind alle drei ordines sittliche Gestalten menschlichen Daseins, an deren geschichtlicher Gewordenheit man nicht rühren kann, ohne die kulturgeschichtlich gewordene und bedingte Identität menschlichen Daseins zu zerstören. In diesen komplementären Formen menschlich sittlichen Daseins ist deutlich, daß »der« Mensch — als Mutter oder Sohn, als Ehefrau oder Junggeselle wie als Lehrherr oder Lehrling — in Zuordnungen lebt, die es unmöglich machen, die Idee der Gleichheit auf ihn in Anwendung zu bringen. »Der« Mensch ist dem anderen niemals gleich, wenn die Organe beider auch analog funktionieren, weil es »den« Menschen in der Wirklichkeit nicht gibt. Im' sittlichen Denken muß man Friedrich Nietzsche recht geben, der seinen Zarathustra in der sogenannten »Vorrede« von dem »letzten und verächtlichsten« Menschen sagen läßt: »Kein Hirt und Eine Herde! Jeder will das Gleiche, Jeder ist gleich: wer anders fühlt, geht freiwillig ins
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Irrenhaus.« Dies ist der letzte Mensch. Es ist richtig, daß schon um willen der dreifachen Komplementarität des Menschen, ohne die kein Mensch lebt, Gleichheit das Ende von sittlichem Menschsein bedeuten müßte. Es liegt auf der Hand, daß damit nicht die Gleichberechtigung des Menschen verneint ist. Auch Mann und Frau sind gleichberechtigt vor dem Gesetz. Aber das heißt nicht, daß sie in irgendeinem Belang gleich wären. Die Grenzlinie zwischen jener Gleichberechtigung und dieser Gleichheit ist darum heute so schwer zu erfassen, weil wir alle doch naturwissenschaftlich funktional denken und meinen, man könnte dennoch Mann und Frau funktionalisieren und damit gleich-schalten. Aber wir sprechen nicht von dem biologischen Gleich- oder Ungleich-Sein von Mann und Frau, sondern von ihrem »ganzheitlichen« Aufeinander- Gewiesensein als dieser Mann, der sich von dieser seiner Frau her als Mann erfährt, und vice versa. Dieses »sich erfahren« oder »sich empfangen« geschieht in Westeuropa im 20. Jahrhundert anders als im 17. Es geschieht bei den Zulu anders als in Nepal. Aber es geschieht stets in einem ordo, der z. B. die Brautwerbung — auch in matrilinearen Kulturen — dem Mann bzw. seiner Familie zuweist. Wir kennen den Menschen nur in der Komplementarität von Mann oder Frau, Elternteil oder Kind und Meister oder Lehrling. Der ordo dieser komplementären Strukturen ist kultur- und sittengeschichtlich verschieden bestimmt. Diese verschiedenen ordines, in denen eine Kultur ihren Lebenspuls hat, ermöglichen und bestimmen Selbstverständnis und Identitätsfindung der Menschen. Ein Rückgriff auf die pura naturalia verbietet sich, da es diese naturalia nur als ideologischen Überbau gibt.
III. Die Phasen oder die zeithafte Struktur der dynamischen Gemeinschaft
1. Zeithafte
Struktur
Die dynamische Gemeinschaft, in der der Mensch im gesellschaftlichen Leben wie auch im Verhältnis zu seiner kosmischen und metakosmischen Umwelt da ist, haben wir als deutlich strukturiert erkannt. Das heißt, daß der Mensch die Dynamik der gesellschaftlichen und kosmischen Wechselwirkungen nicht überhaupt und allgemein als Mensch betritt. Er geht in diese Dynamik als ein strukturell bestimmter Mensch ein. Dies heißt erstens, daß dieser Mensch als Kind bestimmter Eltern in seiner
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Umwelt und für dieselbe da ist. Von seinen Eltern her kann ein Mensch z. B. seine große Lebensunsicherheit niemals loswerden. Daher neigt er dazu, sich anderen ohne rechte Meinung anzuschließen oder auch für alle anderen überraschend plötzlich vorzupreschen. Er geht also in dieser Weise bestimmt in die Anforderung seiner Lebensgestaltung im wechselwirkenden Geschehen hinein. Dies heißt zweitens, daß eine Frau in ihrer Umwelt als glücklich verlobte Braut, die den Himmel offen und jede Begegnung in diesem Licht sieht, oder als Frau eines ganz bestimmten Mannes, dessen Stellung sie dies oder das schuldig ist, oder auch als enttäuschte Freundin oder geschiedene Frau steht. Jede dieser Möglichkeiten bedeutet für das Stehen in den dynamischen Gemeinschaften sehr viel. Und drittens heißt es, daß man die Tagesanforderungen als Schüler von Adorno anders sieht und anfaßt, als man es tun würde, wenn man bei Teilhard de Chardin gelernt hätte, die Welt und sich selbst zu sehen und zu verstehen. Das heißt, daß jeder Mensch die Gestaltung seines Daseins und seinen sittlichen Entwurf nicht gleichsam als unbeschriebenes Blatt beginnt. Er steht stets in dieser dreifachen Weise im Verhältnis zu anderen spezifisch geprägt, d. h. strukturiert, da. Wahrscheinlich wird man die Tatsache, daß man das Kind bestimmter Eltern ist, daß man Mann einer bestimmten Frau oder Schüler bestimmter Lehrer ist, im allgemeinen gar nicht bemerken, geschweige denn ständig bewußt halten. Das wird nur in Ausnahmefällen so sein. Aber das ändert nichts an der tiefen Bestimmtheit, in der ein Mensch sein ganzes Leben angeht. Dieser Sachverhalt ist für alles Denken und Handeln wie für alles transzendierende Gestalten von eminenter Bedeutung. Klären wir nun die weitreichenden Bedingtheiten und Bestimmtheiten, in denen Menschen sittlich leben, so wird es uns deutlich, daß wir von »dem« Menschen überhaupt nur sehr bedingt sprechen können. Wir werden nur bestimmter Menschen ansichtig. Sie sind bestimmt von der Dynamik, die als ihr Elternhaus oder ihre Kinder, als ihr bestimmtes Mann- oder Frau-Sein oder als ihr bestimmtes Schüler- oder Lehrer-Sein die Gemeinschaften formt. Diese Einsicht muß man sich stets gegenwärtig halten. »Der« Mensch ist eine im ethischen Bereich unerlaubte Generalisierung. Nun ist aber offenbar diese dreifache Strukturierung, die wir uns als Bedingnis des sittlichen Kosmos der Wechselwirkung deutlich machten, doch nicht die einzige Struktur, in der wechselwirksames Geschehen sich vollzieht. Wenn man sich die gesellschaftlichen und also zwischenmenschlichen Prozesse ebenso wie die Wechselwirkung zwischen dem Menschen
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und seiner kosmischen oder metakosmischen Umwelt genauer ansieht, so bemerkt man, daß sich die dynamische Gemeinschaft in drei verschiedenartigen Phasen vollzieht. Diese Phasen folgen aufeinander. Daher strukturieren sie das Geschehen in einem zeitlichen Nacheinander. Aber nicht der Zeitablauf strukturiert, sondern der Mensch, der eine dreifache Veränderung durchmacht. Darum ist die Struktur zeithaft zu nennen.
2. Die drei Phasen Zur Erörterung der ersten Phase gehen wir von einer Beobachtung aus, die wir in der Studie Α anhand der Transzendierung der Bedürfnisbefriedigung machten. Es liegt ja auf der Hand, daß ein Mensch es sich gesagt sein lassen muß, wie man sein Leben und dessen Belange menschlich gestaltet. Er weiß das nicht von allein. Die Tatsache ist in der letzten Zeit in der anthropologischen Forschung viel beachtet. Ein Mensch hat auf Grund seiner biologischen Eigenarten keine spezialisierte Welt wie Füchse oder Ameisen, die er wie sie instinktsicher als seine Welt bewältigen könnte. 29 Ein Mensch ist darauf angewiesen, seine Welt zu »erlernen«. Was immer ein Mensch unternimmt, ob er einen Anzug herstellen oder eine Hochzeit feiern will, ob er ein Buch über Homer schreiben oder eine Straße säubern will, er kann dies alles nur so, daß er zunächst genau ansieht, wie »man« das denn macht. Ein Mensch also ist auf die Erfahrungen angewiesen, mit denen andere vor ihm ihre Welt lebbar machten. Die sittlichen Gestaltungen menschlichen Daseins werden zunächst einmal gelernt und also übernommen. Diese Tatsache kennzeichnet jedes Geschehen. Auch wo ein Genie wie Wolfgang Amadeus Mozart seine Violinkonzerte oder Opern schreibt, macht er das im italienischen oder französischen Stil, knüpft er an, läßt er es sich gesagt sein, wie man das seither machte. Der Ansatz — auch der genialen Neuschöpfung — ist stets nur als Aufnehmen dessen, was ist, gegeben. Dieser Sachverhalt ist auch entwicklungsgeschichtlich am Menschen erweisbar. Der Mensch, der ganz unfertig auf die Welt kommt, empfangt in den ersten Jahren seines Daseins die wesentlichen Konstituanten seines charakterlichen, geistigen wie körperlichen Daseins von seiner Umwelt. Der Mensch empfangt »sich« in jeder Hinsicht — und das ist der ihm 25
F. J. J . Buytendijk, Mensch und Tier, Hamburg 1958. A . Portmann, Zoologie und das neue Bild v o m Menschen, Hamburg 5. Aufl. 1962.
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notwendige Grund aller seiner Möglichkeiten. Wir wissen heute, welche Rolle dabei die Bezugspersonen spielen und wie lange tatsächlich diese Angewiesenheit eines Menschen darauf, »sich« zu empfangen, dauert. Wir wissen auch, welche tiefen, gerade sittlichen Schäden bei einem Menschen unabwendbar entstehen, wo diese Zeit des »Sich«-Empfangens zu früh abgebrochen wird. Ein Mensch empfängt »sich« von seiner Umwelt. Dies gilt für jede Handlung, die er unternimmt. Immer wieder ist er darauf angewiesen, dem nachzufragen, wie man es bisher gemacht hat. Damit ist ein Mensch ständig im Kontakt mit seiner Umwelt oder mit den Bedingungen seiner Zeit. So wird er ein »Kind seiner Zeit«. Es ist in seiner Gegenwart für den Einzelnen nicht ermeßbar, wie tief er in seiner Zeit steckt. Auch die großen Neuerer, wie Luther, Galilei, Leibniz oder Humboldt, waren Kinder ihrer Zeit. Auch sie waren als Empfangende auf ihre Weltzeit und die Grenze ihrer Einsichten festgelegt. Aber es bleibt nicht dabei, daß ein Mensch »sich« empfängt. Wer weiß, wie man bisher einen Anzug machte oder wie man Hochzeit zu feiern pflegte, wie man bisher Bücher über Homer schrieb oder Straßen zu säubern pflegte, der fangt dann an zu erfassen, wie er all das nun anfassen und machen will. Ein Mensch sieht das Erfahrene sehr rasch und grundsätzlich kritisch an. Das heißt, er sieht es darauf an, wie er das Erfahrene gestalten will: Ich schreibe mein Buch über Homer so, wenn auch alle bisher es anders machten. Ich möchte meine Hochzeit anders haben als bisher etc. Mit dieser zweiten Phase gewinnt ein Mensch, der sich bisher aus seiner Umwelt empfing, sein Ich. Er individuiert sich, indem er sich kritisch vom Gewesenen absetzt. Jedes Geschehen wird erst in diesem Vorgang — im wahrsten Sinne des Wortes — angeeignet. Die erste und zweite Phase unterscheiden sich so, wie Leibniz die perception von der apperception unterscheidet. Das Ich des Menschen setzt sich kritisch allem gegenüber, was es empfing, und darin werden die Erfahrungen sein eigen. Die Wechselwirkung wird bewußt, die Erfahrungen werden, wie Kant zeigt, synthetisierbar (s. o. A. 3). Fichte läßt demgegenüber mit dieser zweiten Phase — der Setzung des Ich — den Prozeß bewußten Daseins beginnen. Sein Denken hat daher sein gefahrlich unstabiles Gepräge und den starken solipsistischen Zug. Der Mensch kann als rationales Wesen nicht im Empfangen seiner Welt und in der Einigkeit mit seiner Welt verharren. Er muß eintreten in die Distanz, die das Ich als Individuation kritisch
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aufreißt, indem es sich setzt. Das Ich setzt sich: sie volo sie iubeo. Spontan und ohne Anlaß in seiner Umwelt heißt es plötzlich: Ich aber! Es ist ersichtlich, daß auch diese zweite Phase entwicklungsgeschichtlich ausgewiesen werden kann. Eines Tages tritt jedes Kind aus dem Hinnehmen dessen, was seine Umwelt ihm bietet, heraus. Es setzt dem Empfangen seine Setzung entgegen. Das sogenannte Generationen-Problem beginnt. Das Ich des Heranwachsenden tritt kritisch gegen seine Welt auf. Dieser Prozeß ist in dieser Allgemeinheit zwar auch nahezu an jedem Lebenslauf zu beobachten. Näherer Untersuchung stellt er sich aber als eine ganze Fülle von sehr unterschiedlich einsetzenden Schüben, die sich dann eines Tages im Großen gesehen zum kritischen Sich-Setzen der neuen Generation zusammenfassen lassen. Der Vorgang, »was du ererbt von deinen Vätern, erwirb es, um es zu besitzen«, kommt erst in der zweiten Phase an sein Ziel. Eigen wird die Welt und ihr Empfangen erst, wo die kritische Distanz reale Aneignung ermöglicht. Die perceptions geschehen noch halb im Unbewußten. Das Empfangen geschieht in »träumender Unschuld«. Anders kann auch nicht wirklich empfangen werden. Die kritische Distanz in der Setzung des Ich ist leer und bleibt leer bzw. die apperception bleibt ohne Gegenstand, wo nicht die halb unbewußt hingegebenen perceptions als erste Phase einen Grund legen. Das gilt für das spezifisch schöpferische Gestalten des Künstlers wie für alles handwerkliche Können. Das gilt für alles wissenschaftliche Forschen wie für alle politischen Maßnahmen. Aber der Schneider, der seinen Anzug also nun so macht, wie er das für richtig hält und will, der wird sich bald wundern, daß seine Kundschaft unzufrieden wird. Er vergaß bisher zu erwägen, daß er ja diesen Anzug für den Pfarrer und jenen für den Erbbauern oder jenen für einen Playboy machen soll — keinen aber für sich. Das heißt, er wird in seiner kritischen Ichhaftigkeit sich begrenzen müssen. Sein empfangenes Können und sein kritisch erprobtes Wissen wird er so zusammenfassen, daß er nach den Wünschen und dem Bedarf seiner Kunden fragt. Das geht dem Hochzeiter mit seiner Familie, dem Bücherschreiber mit seinen Lesern und dem Straßenfeger mit den Passanten nicht anders. Das heißt, eine dritte Phase schließt sich den beiden ersten an. Sie ist dadurch charakterisiert, daß das sich kritisch setzende Ich die Verbindlichkeit einer Welt anerkennt, für die da zu sein Inhalt und Sinn seines menschlichen Daseins ist. Diese Welt, von der wir hier kurzab reden, hat viele Horizonte. Bei dem Schneider hat seine Welt einen Horizont beim Kunden, einen zweiten bei
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Zur Grundlegung der Ethik
seiner Familie, die von ihm lebt, einen dritten bei den Kollegen, in deren Ansehen er steht. Dies läßt sich alles noch utilitaristisch bestimmen. Die wichtigsten Horizonte fehlen wohl noch, daß dieser Mann nämlich besonders gute Arbeit leisten will, weil er »sich das schuldig ist«, und daß dieser Mann daran — nicht an all den Nützlichkeiten — seine Lebensfreude hat. Diese Lebensfreude aber ist von allergrößtem Belang. Sie hält ihn nicht nur gesund und läßt seine Familie froh sein, sondern sie gibt seinen Anzügen den Chic und seiner Arbeit den Schwung, den die Leute »mögen«. Eine dritte Phase also schließt sich den beiden ersten an, in der das Ich in die Verbindlichkeit einer »Welt« eintritt und darin ein Selbst wird und Selbstgewißheit ausbildet. Als Selbst 30 bezeichnen wir gegenüber dem Ich einen Menschen, der seine Umwelt in ihrer Verbindlichkeit erkannte und anerkannte. Er bringt das Empfangene und kritisch Angeeignete zur wirkungsvollen Anwendung auf sein Weltverhältnis. Die distanzierte Zugehörigkeit eines Menschen zu seiner Welt wird in der Anerkenntnis des berechtigten Anspruches, den diese Welt auf das Ich hat, zur fruchtbaren Äußerung. Ein Mensch, der sich aus seiner Umwelt empfing und sich darin als Ich setzte, kommt zur Wirksamkeit auf seine Umwelt in einer durchaus neuartigen Wirkungsweise. Er hat in seinem Ich, d. h. in der kritischen Phase das Empfangen neuartig, nämlich sich gemäß, angeeignet und darin verwandelt. Daher wird er nun in neuer Weise wirksam sein können. Seine Weise, die Straße zu fegen, macht weniger Staub, seine Hochzeit ist sehr viel stiller, als es sonst üblich war, und sein Buch über Homer ist sehr viel konzentrierter als alle die großen »Schinken« sonst. Die Neuartigkeit seiner Wirkungsweise stammt also nicht aus Programmen, die Welt zu verändern. Sie stammt aus dem ungefähren Wirksamwerden des Ich um willen seiner Welt. Das Ich aber geht nur aus dem Empfangen hervor. Sonst bleibt es leer. Bleibt das Ich leer, muß es nach fremden Programmen arbeiten. Die zweite kritische Phase, an der ersten Stelle, läßt das Ich leer bzw. läßt es gar nicht zur Ichfindung kommen. Ichfindung nämlich geschieht als Dingfindung oder Aneignung von Erfahrungen oder
30
Wichtig hierfür ist die Bestimmung des Selbst als einer »sozialen Struktur« in der Soziologie von G. H. Mead. Wir meinen mit dem Selbst eben diese Reaktion auf Reaktionen. Vgl. dazu G. Winter, Grundlegung einer Ethik der Gesellschaft. München 1970, S. 38 ff. Bei Mead ist für unseren Gedankengang die triadische Struktur der Kommunikation von Belang: 1. Eine Gebärde oder ein Ausdruck 2. Die zugehörige Reaktion des anderen 3. Die Übernahme dieser Reaktion durch das Selbst.
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Gelerntem. Ichfindung ist Individuation und Originalität. Originalität trägt die dritte Phase der fruchttragenden Wendung zur Welt in ihren verschiedenen Horizonten. Jede menschliche Leistung läßt ein Stück Welt neu werden — solange eine Originalität oder ein Ich darin als Selbst wirksam wird. Die Setzung dieses Ichs geschieht auf Grund von Gelerntem und Empfangenem! Die drei Phasen sind offenbar in ihrem Nacheinander durch einander bedingt. Gewiß, diese drei Phasen werden bei einem Anfänger klarer zeitlich auseinandertreten als bei einem Könner. Aber auch da werden sie sich immer wieder melden, denn kein »Könner« kann darauf verzichten, weiterzuarbeiten. Sogleich stellen sich die Phasen aber ganz deutlich wieder ein. Wir haben diese Phasen an verschiedenen Vorgängen hinweisend verdeutlicht. Es liegt auf der Hand, daß sie nicht nur hinsichtlich der Berufsausbildung gelten, sondern daß dieser Dreischritt das menschliche Leben in allen seinen Handlungen prägt oder strukturiert. Diese Phasen sind ja auch nicht etwa nur oder primär ein menschlicher Entwicklungsverlauf, obwohl sie auch in bezug auf diese Phänomene ihre Gültigkeit haben. Man kann auch wohl ohne Schwierigkeiten im allgemeinen bei der Beobachtung menschlicher Handlungen sagen, an welcher Phasen-Stelle dies oder das geschah. Man sieht es den Handlungen an, ob sie ihre Entstehung dem kritischen Ich verdanken, das nur sich einmal wieder zur Darstellung bringt, oder ob sie in klarer Wahrnehmung der Verbindlichkeiten der Welt aus der distanzierten Zugehörigkeit wuchsen, die dem erfüllten Leben entsprechen. Die drei Phasen strukturieren das sittliche Geschehen als die Struktur der Wechselwirkung, als die sittliches Geschehen sich vollzieht. An dieser Strukturierung hängt ja offenbar sehr vieles. Ob das kritische Ich zur lebensträchtigen Originalität heranwachsen kann, ist dadurch mitbedingt, ob ein Mensch wirklich »etwas« empfangen und gelernt hat — ob er »sich« vor allem empfing.
3. Drei-Phasen
hehren
Die Strukturierung der Wechselwirkung — der Materialität des sittlichen Geschehens — in den drei Phasen ist immer wieder beobachtet worden. Wir klären unsere Überlegung der drei Phasen an nur zwei dieser Beobachtungen durch. Das eine ist die erste Rede von Fr. Nietzsches Zarathustra, und das andere ist eine moderne soziologische Charakterisierung dieser drei Phasen bei Peter L. Berger.
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Zur Grundlegung der Ethik
Fr. Nietzsche läßt Zarathustra in der ersten Rede des I. Teils »Von den drei Verwandlungen« 31 sprechen. Er meint damit Verwandlungen des Geistes: »wie der Geist zum Kameele wird, und zum Löwen das Kameel, und zum Kinde zuletzt der Löwe«. Es zeigt sich bald, was mit dem Geist, von dem Nietzsche hier spricht, gemeint ist. Das Kamel, das Lasten tragen will und nach dem Schwersten verlangt, fragt nach den Erniedrigungen, die es seinem Hochmut antun kann, fragt nach Werken der Aufopferung und Feindesliebe. Alle diese schweren Dinge, die für viele sittliche Ideale sind, nimmt das Lasttier auf sich und eilt so beladen in seine Wüste. Und in dieser Wüste verwandelt es sich in einen Löwen. Jetzt sucht der Geist als Löwe den, der ihm Herr sein könnte. Er will allem — auch Gott — sieghaft trotzen. Und letztlich geht es beim Kampf des Löwen um das »Du-sollst«. Der Geist des Löwen aber sagt: »ich will«. Der Drache des »Du-sollst« wird von dem Löwen bekämpft, und der Löwe schafft damit zwar keine neue Welt. Aber er schafft einen Freiraum auch noch gegenüber der Pflicht. Das heißt, der Löwe raubt sich den Freiraum, für sich sein zu wollen. Und über den Löwen hinaus bedarf es des Kindes: »Unschuld ist das Kind und Vergessen, ein Neubeginnen, ein Spiel, ein aus sich rollendes Rad, eine erste Bewegung, ein heiliges Ja-sagen«. Mit diesem Kinde geht es um Schaffen eines Neuen. Einen Neubeginn der Werte gilt es. Jeder Geist ist mit diesem Neubeginnen befaßt. Über das »Ich will« des Löwen hinaus bedarf es dieses »heiligen Ja-sagens«. Diese Rede Zarathustras braucht von uns nicht lange erläutert zu werden. Ihr Sinn liegt auf der Hand. Nietzsche legt die drei Phasen, von denen wir sprechen, in strenger Zuspitzung auf die ihm vorschwebende Umwertung aller Werte dar. Diese Rede gibt gleichsam die vorläufige Anwendung der drei Phasen auf das sittliche Geschehen. Offenbar sieht Nietzsche die Lage der drei Phasen zueinander in ganz analoger Weise, wie wir es darstellten. Freilich ist nun doch etwas entscheidend anders. Wir sehen die drei Phasen als zeithafte Struktur von Wechselwirkung. Wir könnten das auch so sagen, daß sich uns alles Geschehen — und das ist Wechselwirkung eines Menschen mit seiner Umwelt — bei genauem Hinsehen als in diese drei Phasen strukturiert darlegt. Von ferne gesehen wirkt der Mensch auf seine Umwelt und wird »zugleich« von ihr geprägt. Dies »Zugleich« sieht beinahe dialektisch aus. Aber die Wechselwirkung ist 31
F. Nietzsche, Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. v o n G. Colli und M. Montinari. Abt. 6, Bd. 1. Berlin 1968, S. 2 5 - 2 7 .
Ethische Studien
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nicht dialektisches »Zugleich«, sondern phasenartig dreifach strukturierter Verlauf. Der Verlauf ist dreifach strukturiert, wobei die Phasen dieser Struktur einander voraussetzen. Man kann Wechselwirkung nicht beliebig anders ansetzen. Man kann auch nicht die Mittelphase wegdenken. Die dritte Phase ist auf distanzierte Zugehörigkeit und die zweite Phase ist auf das Empfangenhaben angewiesen. Anderenfalls besteht die Gefahr der Entartung. Diese Tatsache, daß es sich bei der Strukturierung des Geschehens um Phasen der Wechselwirkung handelt, läßt Nietzsche in seinen drei Verwandlungen nicht sichtbar werden. Daß Nietzsche diese Verwandlungen auf den Geist bezieht, besagt nicht, daß er dies Geschehen rational verenge. Mit diesem Geist ist das menschliche Weltverhältnis überhaupt gemeint. Zarathustra hat alle rationalen Einbildungen auf die physiologische Ebene des ganzen Menschen gebracht, und der Geist ist Ausdruck dieser Ganzheit. In der wissens-soziologischen Theorie von P. L. Berger und Th. Luckmann finden wir die Wechselwirkung, als die Gesellschaft geschieht, auch in drei Phasen strukturiert vor: »Der Gesellschaft stiftende dialektische Prozeß besteht aus drei Schritten: Externalisierung, Objektivierung und Internalisierung«. 32 Die Wechselwirkung, die den Menschen mit seiner Gesellschaft verbindet, vollzieht sich in diesen drei Schritten. Das heißt, daß hier ein Drei-Phasen-Problem auf eben demselben Hintergrund gesehen ist, wie wir es sahen. Beschreiben wir die drei Phasen kurz, wie P. L. Berger sie darstellt. 33 Berger setzt mit der Externalisierung ein. Er versteht darunter den Sachverhalt, daß der Mensch seine Welt schaffen muß. Der Mensch findet keine fertige Menschenwelt vor. Die Instabilität des menschlichen Organismus ist dessen Folge und macht es unabdingbar, daß der Mensch sich seine Welt schafft. 34 Die festen Strukturen des menschlichen Lebens sieht Berger in der Kultur, z. B. auch in der Sprache und den auf sie gebauten Symbolen. Die sogenannte Gesellschaft ist »jeder Aspekt der Kultur, 32
P. L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft. Frankfurt 1973, S. 4. Vgl. P. L. Berger und Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit. Frankfurt 1970, S. 65.
33
P. L. Berger, Zur Dialektik von Religior und Gesellschaft. Frankfurt 1973, S. 4 — 19. Das Buch von P. L. Berger und Th. Luckmann, Die gesellschaftliche Konstruktion der Wirklichkeit, Frankfurt 1970, ist ganz diesem Thema gewidmet und sieht die Gesellschaft als externalisierte und objektivierte Wirklichkeit im II. K p . , als internalisierte im III. K p .
34
P. L. Berger, Zur Dialektik von Religion und Gesellschaft, S. 5 ff.
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Zur Grundlegung der Ethik
welcher den immer im Gang befindlichen Beziehungen des Menschen zu seinen Mitmenschen Struktur verleiht.« 35 Diese Definition von Gesellschaft nennt Berger »sehr einfach«. Daß diese Gesellschaft »unter den kulturellen Gebilden des Menschen doch einen bevorzugten Platz« hat, liegt daran, daß der homo sapiens »eingeborene Sozialität« hat. Diese »eingeborene Sozialität« kommt zumal darin heraus, daß der Mensch seine Welt nie allein, sondern stets gemeinsam errichtet. 36 Diese »eingeborene Sozialität« ändert aber nichts an der Tatsache, daß die Gesellschaft ein »Produkt menschlichen Handelns« ist. Gesellschaft ist nicht naturgegeben. Der Mensch schafft über sich hinaus, und dieses externalisierende Tun auf dem Hintergrund der »eingeborenen Sozialität« schafft die Gesellschaft — als einen Aspekt der allgemeinen Kultur. Dieser Gesichtspunkt ist insofern wichtig, als Berger damit meint, alle statische Betrachtung der Gesellschaft als unabänderliche Gegebenheit aufheben zu können. Gesellschaft geht aus Externalisierung als Produkt des Menschen hervor. Der zweite Schritt besteht in der Objektivierung: Die Gesellschaft nämlich nimmt wie alle Schöpfungen des Menschen eigene Faktizität an. Sie tritt ihrem Schöpfer als etwas Eigenes gegenüber. Dieser Sachverhalt »soll mit dem Ausdruck Objektivierung getroffen« 37 sein. Es ergibt sich daraus, daß für den Menschen die Welt, die er hervorbrachte, »etwas >da draussen«Theologie und Spiritualität des KampfesReligiöse< einengen und nicht mehr seine umfassende Weite sehen. Das sind diejenigen, die der Meinung sind, das Werk Christi erreiche die gesellschaftliche Ordnung, in der wir leben, nur im Gegenschlag ... und nicht von der Wurzel her, um sie in Frage zu stellen. Das sind diejenigen, die — in der Absicht, das Heil zu schützen ( . . . ) — es von dort fernhalten, wo der Puls der Geschichte schlägt und wo Menschen und soziale Klassen kämpfen, um sich von Sklaverei und Unterdrückung zu befreien, in die sie andere Menschen und andere soziale Klassen gestürzt haben. Das sind diejenigen, die es für unmöglich halten, daß die erlösende Tat Christi eine radikale Befreiung von allem Elend, aller Ausbeutung und aller Entfremdung ist. Das sind diejenigen, die — in der Absicht das Werk Christi zu >retten< — es zugrunde richten. In Christus und kraft des Geistes gelangt der Befreiungsprozeß mit all seinen Aspekten zu seinem vollen Sinn.« 2 5 Wir können die Gefahrdung des Gedankengangs der Vollversammlung in Nairobi durch diesen Kurzschluß nicht übersehen. Das gilt auch für die Auseinandersetzung über die »Macht und Machtregulierung« in der VI. Sektion. Hier wird zunächst völlig sachgemäß auf die verschiedenen Situationen verwiesen, die allgemeine Forderungen unmöglich machen 26 . Danach wird Nr. 37 gesagt, Christen und Kirchen könnten nicht in Strukturen der Unterdrückung für eine neue Weltordnung einstehen, ohne sich auf die befreiende Macht Jesu Christi zu beziehen. Dazu wird festgestellt, das Evangelium sei ja nach Luk 4,17 ff. »den Armen, den Machtlosen, den Unterdrückten, den Gefangenen, den Kranken gebracht worden«. Ja, das ist schon so. Aber damit ist ja gerade das Eintreten für eine neue Weltordnung nicht gemeint. Diese Armen und Machtlosen hat Jesus nicht mit 25
Gustavo Gutierrez, Theologie der Befreiung. München 1973, S. 172.
26
Bericht aus Nairobi 1975. Hg. von Hanfried K r ü g e r und Walter Müller-Römheld. Frankfurt 1976. VI, 36. S. 108.
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Zu ethischen Einzelproblemen
Reichtum und Macht beschenkt, sondern er hat ihnen das Reich Gottes gebracht. Dieses Reich aber ist nicht von dieser Welt. Das heißt, daß hier auch so ein Kurzschluß vorliegt, der den Gedankengang gefährdet. Wir müssen hiernach fraglos von einer Tendenz sprechen, das Heilswerk Christi und das Weltgeschehen unmittelbar aufeinander zu beziehen. Auch hier, meine ich, sei die mangelnde theologische Durchdringung des Stoffes die Ursache. Aber diese Tendenz dieses soteriologischen Kurzschlusses muß für sich beachtet werden, weil sie eine moderne, auch in manchen Theologien hervortretende Irreführung darstellt. Diese Tendenz, das muß auch gesagt werden, tritt in den Berichten nur nebenbei auf und bestimmt nicht das Ganze. Aber sie ist da und totalisiert, wie wir sahen, die gesetzlichen Forderungen. 5. Gehen wir zum Schluß noch auf einen Abschnitt ein, der die Frage nach Christus als Befreier besonders umfassend kennzeichnet. Er findet sich in dem Abschnitt über die Macht in der Sektion V: »38. Jesus Christus ist deshalb insofern unser Befreier, (1) als er uns aufruft, uns in seiner Nachfolge denen entgegenzustellen, die die Religion als Mittel der Herrschaft mißbrauchen; (2) als er uns hoffen lehrte, d. h. das Recht auf Leben und den Triumph des Lebens bestätigt gegenüber dem Zynismus und dem Fatalismus reiner Machtpolitik. An ihn zu glauben, heißt nicht, auf die Beteiligung an dem Kampf um Gerechtigkeit und Befreiung zu verzichten. Es bedeutet vielmehr, daß wir trotz unserer scheinbaren Machtlosigkeit den Glauben lebendig erhalten, damit wir auf den Tag zueilen, an dem >Gerechtigkeit fließen wird wie WasserNein< dazu« 2 . Sie bauen ein auf dem Ritus gegründetes Leben auf, das den Tod als Grenze negiert und überwindet. Für sie ist »das Sterben nicht ein passives Erleiden eines Naturgeschehens, sondern eine Kunst, ein Ritus, ein Sakrament« 3 . So ganzheitlich, wie diese Menschen ihr ganzes Leben in Familie und Stamm, mit Haus, Baum und Tier leben, so ganzheitlich ist also ihre Lebenserwartung über das vitale Sterben hinaus. Diese Anschauung tritt uns in vielen der großen Kulturen der »schriftlosen« Völker am klarsten entgegen. Sie hat in sehr vielen Fällen aber auch die religiösen Hochkultu2 3
Ebd., S. 8. Ebd., S. 9.
Erwarten wir noch etwas jenseits des Todes?
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ren mitbestimmt. Diese ganzheitliche Lebenserwartung ruht auf einer tiefen Einsicht in menschliches Leben. Der Mensch kann sich in seinem Selbst-Sein nicht abgesehen davon verstehen, daß er Frau und Kind hat oder daß er alleine steht. Er kann sich nicht abgesehen davon wahrnehmen, daß er diesen oder jenen Beruf ausübt, daß er in diesem oder jenem Volke Heimat hat. Der Mensch kann von diesen Bedingungen seines Daseins auch gar nicht abstrahieren. Daher ist es nicht so fernliegend, ihn als diesen Ganzen mit all den Statussymbolen seines Daseins über den Tod hinaus lebendig zu denken. Es hat sich davon ja auch ferner Nachklang erhalten, wenn wir Menschen im Ornat beisetzen, wenn wir Staatsbegräbnisse veranstalten oder wenn wir den Ehering mit ins Grab geben. Zweitens, die teilhafte Lebenserwartung. Diese Erwartung geht davon aus, daß der Mensch in seinem anthropologischen Grundbestand nicht als eine Ganzheit erfaßt werden kann, sondern daß er als Seele oder als Geist dem Leibe gegenübersteht. Das Phänomen, daß der Mensch »sich« so denken und bestimmen kann, daß er seinem Leibe als einem Objekt gegenübertritt, ist hier leitend geworden. Der Mensch merkt, daß »er« vieles will, was am Leibe scheitert. Er bemerkt den Zwiespalt seines Daseins und erklärt ihn aus der dualistischen oder triadischen Zusammensetzung seines Menschseins. Diese Anschauung ist auch unter »schriftlosen« Völkern zu finden. Sie hat eine besonders klare Ausprägung aber in Griechenland gefunden. Da ist der Ursprungsmythos vom Dionysos Zagreus: Die Titanen, die den Dionysos morden und verschlingen, die Zeus dafür mit dem Blitz verbrennt und aus deren Asche er den Menschen formt. Titanisches und Göttliches sind im Menschen vereint, und das Leben des Menschen ist daher ein Kampf beider widereinander. Unter diesen Voraussetzungen nun erstreckt sich die Lebenserwartung durch das Sterben hindurch auf jenes Göttliche oder die Seele oder wie immer man diesen Teil des Menschen nennt. Es gibt ein Unsterbliches im Menschen. Es ist während dieses Lebens gebunden von den Fesseln der Fleischlichkeit. Es unterliegt ihren quälenden Grenzen. Aber man kann es merken: Dieses Geisthafte ringt schon hier wider die Fesseln. Es strebt zur Freiheit. Sie winkt jenseits des Todes, in dem der Leib und alle irdische Qual zugrunde geht. Diese teilhafte Lebenserwartung, d. h. diese Lebenserwartung, die sich nur auf einen Teil des Menschen bezieht, ruht auf einer tiefen Einsicht in menschliches Leben. Wer wüßte nicht um die ständige Auseinandersetzung des Willens zum Guten und Wahren wie zur Freiheit mit den
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Zu ethischen Einzelproblemen
materialen Bindungen niederziehenden triebhaft-fleischlichen Seins. Wem hätte sich die dualistische Lösung des Fragens nach dem Menschen noch nicht nahegelegt? Der Mensch willigt ein in das Sterben seines Leibes. Er wähnt frei zu werden von Gebundenheiten. Der Tod wird zum festlichen Eingehen in den wahren Freiheitsraum der ewigen Seele. Unsterblich muß diese Seele sein, die dem vergehenden Leibe gegenübertritt, die allen Beschränkungen zum Trotz um Idee und Freiheit weiß, die in allem Dunkel um das helle Licht der Schönheit weiß — als um ihre Heimat. Es bleibt sich gleich, wie man den unsterblichen Teil des Menschen nennt. Es ist in den verschiedenen Kulturen auch sehr verschieden, wie die Zwei- oder Dreiteilung des Menschen angenommen wird. Aber wie es jene immer wieder auftauchende ganzheitliche Lebenserwartung in verschiedenartigen Schattierungen gibt, so gibt es auch die teilhafte Lebenserwartung in vielen Erstreckungen. Sie ist im Griechentum zu ihrer reifsten Form gediehen, und sie hat von da aus einen breiten Strom in der Lebenserwartung des Christentums bestimmt. Die dritte, zyklische Lebenserwartung meint die Vorstellung, daß der Tod zwar einen Einschnitt bedeutet, daß sich das Leben aber zyklisch erneuert. Es gibt für diese Lebenserwartung zwei verschiedenartige Ausprägungen. Beiden ist es gemeinsam, daß in dieser Erneuerung des Lebens das Individuum als dieser einzelne bestimmte Mensch verschwindet. Er vergeht nicht, sondern er stirbt in eine Transformation hinein, indem er in das Allhafte zurücksinkt. Diese Lebenserwartung hat einerseits, zumal im Westen, die Form naturmythischen Bildes. Wie die Pflanze zurücksinkt ins Erdreich und von dort Humus bildend weiterlebt, so stirbt der Mensch in das All der Auflösung hinein, um seine Individualität verloren zu haben, aber gleichwohl weiter zu wirken. Diese Anschauung gibt es auch in der geschichtsmythischen Form der Transformation ins Lebenswerk. Alle diese Anschauungen haben zwar hier oder da gewirkt; sie haben aber nie zu großen religiösen Konzeptionen geführt. Hinter dieser Anschauung steht die Erfahrung, in Momenten tiefer Lebensergriffenheit mit dem All der Natur oder auch mit bestimmten geschichtlichen Momenten zu verrauschen. So gingen z. B. die jungen Regimenter bei Langemark singend in den Tod. So weiß die große Naturdichtung der deutschen Romantik um die Einheit von Mensch und Natur. Anders ist es mit der anderen Spielart dieser zyklischen Lebenserwartung. Wir meinen das hinter den großen indischen Religionssystemen
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stehende Wissen um das karman. Damit ist gemeint, daß die Taten des Menschen einen unendlichen Wirkungszusammenhang bilden, der sich über den Tod ihres Subjektes hinaus einen neuen Träger bildet. Die Taten entscheiden nach ihrer Qualität, wie dieser Träger aussieht. Böse Taten führen in tierische Existenz. Gute Taten in heilige oder hohe Existenz. Zyklisch erneuert sich menschliches Dasein — herbeigezwungen vom Weiterwirken der Tat. Es geht nun nicht nur darum, das karman zu verbessern. Es geht im letzten um den Stillstand des karman und die Aufhebung der einzelnen Existenz. Diese Erwartung ist nicht, wie wir zunächst meinen, im letzten Grunde negativ. Sie wirkt negativ, wenn wir sie mit unseren Individualitätsbegriffen messen wollen. Aber sie ist positiv gemeint. Positiv in Hinsicht auf den Inbegriff von Sein überhaupt. Hinter dieser Idee des karman — die man fälschlich Seelenwanderung nennt — steht die tiefe Erfahrung der Einheit des Menschen mit seinen Taten. Der Mensch kann nicht absehen davon, was er getan »bei Leibesleben — Gutes und Böses«. Diese Taten gehören zu ihm. Ja, sie machen ihn aus. Das ist der erlebnismäßige Ansatz dieses karman. Wir sehen, wie verschiedenartig die Religionen die Frage beantworten, was der Mensch über den Tod hinaus erwarten kann. Sie geben alle oft sehr präzise Antworten, und sie geben auch alle sehr präzise Anweisungen, was man zu tun hat, um dieser Lebenserwartung teilhaftig zu werden bzw. sie zu realisieren. Sie führen alle auf Lebenseinsichten, die auch uns vertraut sind. Darum können wir sie verstehen. Sie haben sich in ihren Antworten aus diesen Lebenseinsichten erhoben. Sie gehen aber nicht in ihnen auf. Das Entscheidende nämlich bleibt ihre überzeugungstiefe Verwirklichung.
IV: Eine Einsicht aus dem Gesagten Ehe wir nun nach der Antwort fragen, die das Christentum gibt, müssen wir an diesen Antworten der Religionen etwas beachten, was uns im folgenden zu denken geben wird. Wir haben ja in allen drei Fällen die Erwartung des Menschen über seinen Tod hinaus aus dem entwickelt, was diese Menschen über sich selbst denken. Diese verschiedenen Erwartungen sind auch gar nicht anders verständlich zu machen, als daß wir uns klarmachen: So und so hat der Mensch vom Menschen also von sich selbst gedacht, und darum hat er so und so das Leben bestimmt und das und
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das erwartet. Dieses Selbstverständnis des Menschen aber ist nicht zufällig, sondern es ist tief religiös bestimmt. Es hat seine Wurzeln in dem religiösen Grundwissen der jeweiligen Kultur überhaupt. Dieses letztere konnte nicht so klar hervortreten, da wir in der dreifachen Typisierung ja sehr vereinfachen mußten. Dies letztere, also die Veranlagung des Selbstverständnisses im religiösen Grundwissen, ist für unseren Gedankengang aber auch nicht so wichtig. Wichtiger ist jene andere Beobachtung, daß die Lebenserwartung des Menschen und sein Selbstverständnis sich in direkter Korrelation befinden. Sie gehören offenbar zusammen. Dieses kann bei einiger Überlegung ja aber auch gar nicht anders sein. Der Mensch kann sein Leben über seinen Tod hinaus ja wohl gar nicht anders sehen als durch sein Wissen um sich selbst und den Sinn wie die Eigenart seines menschlichen Lebens überhaupt. Seine Religion ist die Aufdeckung seines wahren Menschseins und damit die Sinngebung. Mit dieser Aufdeckung seines wahren Menschseins ist aber sein wahres Leben entdeckt. Das heißt, daß wir unsere Beobachtung von der Korrelation der Lebenserwartung zum Selbstverständnis noch präzisieren müssen zur Identität beider! Die Einsicht in das wahre Menschsein, in das vor dem Gott, d. h. vor Grund und Grenze des menschlichen Lebens bestehende Leben, heißt die Lebenserwartung als Erwartung des Lebens durch den Tod hindurch erfaßt haben! Wir hätten also, ohne die tatsächliche Lebenserwartung der Religionen zu kennen, diese aus dem Selbstverständnis der Menschen in den Religionen folgern können. Dies ist tatsächlich so. Es gibt nur wenige Ausnahmen, und diese Ausnahmen beziehen sich auf Einzelausgestaltungen der Lebenserwartung: 1. aufgrund von Wunschträumen — das gibt es ja bis in die Hochreligionen hinein, 2. aufgrund von erzieherisch gemeinter Abschreckung — auch das ist ein ganz allgemeiner Topos, 3. aufgrund von okkulten Erfahrungen wie z. B. im Bardo Tödul, dem tibetischen Totenbuch. Aber auch an diesen Werken sieht man die Auswirkung des tibetischen Selbst- und Lebensverständnisses eindeutig immer wieder in Führung gehen. Diese Einsicht, die wir hiermit gewonnen haben, scheint für das Ganze unseres Gedankenganges von größtem Gewicht zu sein. Das erste, was hieraus folgt, ist, daß die Erwartung der Religionen über den Tod hinaus im Kern nicht windige Spekulation, Träumerei oder Spuk ist, sondern daß sich in diesen Erwartungen tiefe Lebenseinsichten aussprechen, die um den Menschen in seinem letzten Wissen um sich selbst liegen,
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wie es ihm sein Glaube erschloß. Wir haben das an mehreren Stellen ja auch angemerkt. Das Zweite ist die rückschließende Einsicht, daß der Mensch eben das und so viel von sich und dem Sinn seines Menschseins weiß, wie er Erwartung über den Tod hinaus hat. Diese Einsicht macht uns sehr nachdenklich, denn wenn wir sahen, wie ein Teil unserer heutigen Menschheit nichts von einer Lebenserwartung über den Tod hinaus weiß oder wissen will, dann müssen wir besorgt fragen: Was und wie viel wissen diese Menschen eigentlich von dem Sinn ihres Menschseins? Und wenn wir die totale Unsicherheit in dieser Frage als das typische Kennzeichen für unsere Gegenwart aussprachen, so würden wir nachdenklich sagen: Ja, diese Unsicherheit macht sich auch gerade hinsichtlich des Menschseins des Menschen überall bemerkbar. Das Dritte, was wir nun für unseren weiteren Gedankengang lernen, ist dies: Wenn wir fragen, ob und was wir Christen über den Tod hinaus erwarten, so fragen wir dabei offenbar nicht in geheimnisvolle Jenseitigkeiten hinein. Das würde nur von der tatsächlichen Frage abführen. Wir achten vielmehr darauf, ob und wie das Selbstverständnis des Christen als Christen und seine Erwartung über den Tod hinaus zusammengehören.
V: Wie das Christentum unserer Frage gerecht
wird
Unsere Frage, ob der Christ etwas jenseits des Todes erwartet, hat in der Grundbotschaft des Christentums einen Angelpunkt, der begrifflich wie tatsächlich das Glauben wie die Gewißheit des Christen bestimmt. Das ist die Auferweckung Jesu von Nazareth. Die Verkündigung der Apostel wie des Neuen Testaments ruht auf der Auferweckung Jesu. Er, den Israel ans Kreuz schlagen ließ und der gestorben und begraben war, ist vom Tode auferweckt. Diese Botschaft hat den Apostolat begründet. Auf ihr ruht das »Evangelium«, das die Schranken Israels durchstieß und in die Völkerwelt vorbrach. Wir brauchen hier noch nicht davon zu sprechen, daß und wie diese Botschaft in ihrer zentralen Bedeutung an dem gekreuzigten Jesus orientiert und ausgerichtet bleibt. In der Frage der Todesbedrohtheit des Menschen war diese Botschaft vom Leben Jesu durch den Tod hindurch das zentrale Licht. Und die Frage, ob Christen etwas jenseits des Todes erwarten, ist sehr klar mit dem Hinweis auf den auferweckten Kyrios
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Zu ethischen Einzelproblemen
Jesous beantwortet. Trotz des Todes und durch den Tod hindurch lautet diese Botschaft auf Leben. So eindeutig diese Antwort zunächst erscheint, so viele Fragen setzt sie zugleich frei. Der Christ ist ja eben nicht Christus. Was für Jesus gilt, gilt also nicht einfach für den Christen. Die Bastion von Leben jenseits des Todes, die mit der Auferweckung Jesu aus den Nebeln des Todes hervortrat, ist in sich nicht eindeutig und ist für uns nicht einfach übertragbar. Schon Paulus mußte sich mit den Korinthern über diese Fragen auseinandersetzen, wie I. Kor. 15 zeigt. Dabei ging es nicht um die mögliche Frage, ob Jesus auferweckt sei, sondern vielmehr ob dieses Geschehen an Jesus unsere Auferweckung einschließe und ob der Auferstehungsäon nun schon da sei. Es ist Paulus dabei gewiß, daß die Auferwekkung Jesu für unser Leben über den Tod hinaus zentrale Bedeutung hat. Er folgert: »Wenn die Auferweckung der Toten nicht wirklich ist, so ist Christus auch nicht auferweckt« (v. 13). Jedoch es ist ebenso gewiß, daß die Totenerweckung selbst noch nicht damit eintrat, daß Jesus erweckt wurde. Wir sehen aber auch, wie unsicher Paulus II. Kor. 5 darüber ist, was denn nun nach dem Tode sei, ob der Christ da möglicherweise nach Abbruch der irdischen Behausung seines Lebens entkleidet »nackt« erfunden werde. Diese offenen Fragen weist er aber in Berufung auf die »geistliche« Einsicht ab, daß wir es ja doch damit zu tun haben, Gott zu gefallen, wie er sagt, sei es mit jenen Fragen wie es sei. Das heißt, daß Paulus das Fragen in die Zone des Todes hinein abfangt mit dem tröstenden Verweis auf das, was wir im Geiste Gottes oder im Glauben heute vor Gott sind. So viele Fragen aber auch noch da sind, eines ist eindeutig, daß es in diesem ganzen Komplex um Auferweckung geht. Das gilt für Jesus wie für uns, was immer auch an einzelnen Problemen darum steht. Es geht um Leben aus der Auferweckung. Das heißt aber nun auch, daß der fragende Blick von Jesus wie vom Menschen abgezogen wird und auf Gott und sein Tun zielen muß. Das ist jedenfalls die ganz einhellige Meinung des Neuen Testaments, daß die Auferweckung Jesu nicht dadurch möglich wurde, daß Jesus eine unsterbliche Seele hatte oder daß er sonst geheime Macht über den Tod besaß, sondern nur dadurch, daß Gott eingriff, daß Gott diesen Tod zerbrach. Jesus starb am Kreuz. Gott erweckte ihn aus dem Tode. Das ist eindeutig. Wir sehen also — abgesehen von allem weiteren — hier schon ganz deutlich, wie sich diese Antwort von der Antwort der Religionen trennt.
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Es geht hier erstens nicht um ganzheitliche Lebensbewahrung auf kultischem oder ritischem Grunde. Der Auferweckte war verwandelt, so daß man ihn nicht so ohne weiteres erkannte, wie die Geschichte von den Emmaus-Jüngern zeigt. Da war allerdings eine Verwandlung eingetreten, vor der Paulus sich mit der Unterscheidung des Fleisch-Leibes von dem Geist-Leibe hilft. Es geht hier zweitens aber auch nicht um das Fortbestehen einer ewigen Seele oder eines unsterblichen Personenkernes. Dann hätte man Gott nicht zu berufen brauchen. Dann wäre diese Auferweckung höchstens darin merkwürdig, daß er gesehen wurde. Aber das ist ja nicht die Meinung des Neuen Testaments. Daß dieser tote Jesus erneut lebt, ist die Botschaft. Und drittens geht es hier nicht um eine Transformation, so daß man sagen könnte, Jesu Auferstehung sei das Leben seiner Gemeinde. Das ist zu viel Tiefsinn für die eindeutige Botschaft des Neuen Testaments, daß eben dieser Jesus, der am Kreuze gestorben und der begraben war, lebe. Es geht wirklich um diesen galiläischen Mann. Ihn hat Gott aus dem Tode gehoben und lebensvoll wirksam erwiesen. Mit der Botschaft von der Auferweckung Jesu betreten wir neben den übrigen Religionen einen neuartigen Antwortbereich, und in ihm geht es um Gottes den Tod zerbrechendes Tun. Damit haben wir die zentrale Antwort des Christentums gegeben. Die Christen erwarten jenseits des Todes ihre Auferweckung durch Gott, so gewiß Gott Jesus von Nazareth aus dem Tode erweckte. Diese Antwort steht nun aber nicht mirakelhaft für sich, sondern sie ist ein Teil der Gesamtbotschaft und fügt sich in den Gesamtzusammenhang der christlichen Botschaft ein. Das müssen wir uns nun klarmachen. Die Gesamtbotschaft des Neuen Testamentes wie der reformatorischen Kirchen ist ja darauf gegründet, daß Gott durch Jesus oder als Jesus diese Welt sucht, die ihm entlaufen ist und immer erneut entläuft. Denken wir an die Gleichnisse vom verlorenen Sohn, vom verlorenen Schaf und vom verlorenen Groschen. Die Welt ist aus sich selbst und bei sich selbst Gott verloren gegangen. Er aber macht sich auf und sucht sie. Er sucht die verlorene Welt, wie eine arme Frau ihr verlorenes Geldstück mit letzter Intensität sucht. In dieser Grundeinsicht von der Welt, die Gott verlor, geht es auch nicht um eine mehr oder weniger reparable moralische Verirrung. Das Geldstück ist tatsächlich verloren und der Sohn ein völlig hoffnungsloser Fall. Es geht nicht um moralische Defekte, sondern um das verlorene »Sein«. Das signalisiert die Bibel damit, daß sie das völlig unabänderliche
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Z u ethischen Einzelproblemen
Faktum Tod als Kennzeichen dieser Verlorenheit darstellt. Die Tatsache, daß die Welt den Tod in sich trägt, ist das Kennzeichen dieser Gottesverlorenheit. Der Tod aber ist wirklicher Tod. Er ist nicht ein Scheintod, in dem die Seele sich dann doch als unsterblich erweist. Er ist Abbruch der ganzen Existenz, denn vor Gott steht die Welt als Ganze als vor ihrem Schöpfer. Als Ganze ist die Welt verloren, als Ganze trifft sie der Tod, und des Menschen schweres Sterben ist das Fanal der im Bewußtsein manifestierten Gottesverlorenheit der Welt. Gott sucht die verlorene Welt. Er sucht die dahinsterbende Welt. Sein Suchen hält sie über dem Nichts. Und er findet sie. Oder um in der bedeutungsvollen Verschränkung der Gleichnisse zu bleiben: Er läßt sich von ihr finden, wie der Bauer im Acker den vergrabenen Schatz findet, wie der Perlenkaufmann die eine köstliche Perle findet: Der die verlorene Welt suchende Gott läßt sich von ihr finden. Mit diesem Ereignis ist die Welt, die Gott insgesamt als ihrem Sein und Leben zugehörte, aus der Verlorenheit des Todes zurückgekehrt ins Leben. Dieses Ereignis geschieht überall da, wo die Botschaft des suchenden Gottes ein Menschenherz ins Finden des Schatzes bringt, kurz, wo Glaube als Glaube an Gott in Jesu Christo entsteht. Als dieser Glaube ereignet Gott mitten in der zergehenden Welt Sein und mitten im Tode Leben. Leben — es geht um Leben. Das ist nicht ein Bild oder ein Symbol. Das ist nicht eine Metapher oder ein Gleichnis. Es geht um Leben, dessen ist die Auferweckung Jesu vornehmlichster Zeuge. Damit ist der Stachel des Todes abgebrochen. Damit der Sieg des Todes zerbrochen. Und mitten im Sterben leuchtet Leben auf. Das ist aber nicht nur mein Leben im Jenseits, sondern damit ist stets auch hiesiges Leben gemeint. Das zeigen z. B. die Heilungen Jesu. Sie haben zwar keine Bedeutung als Glaubensbegründung. Aber sie haben große Bedeutung, um die Botschaft vom Leben richtig einzuschätzen. Dieses Heil ist auch Leibheil. Der ganze Mensch mit Leib, Seele und Geist ist von diesem Leben gemeint, wie der ganze Mensch dem Tode gehörte. Mit diesen Überlegungen haben wir zwei Momente näher geklärt. Einmal haben wir die Reichweite und Eigenart der Lebensbotschaft des Christentums als Auferweckungsbotschaft vergegenwärtigt. Wo das Wort Jesu und die Botschaft von seinem Wort, Werk und Person Menschen erreicht, wo also Glaube Ereignis wird, da geschieht das, was Paulus die »neue Schöpfung« nennt. Wir sind als Glaubende mitten in dieser Neuartigkeit von Schöpfungsleben begriffen. Das ist kein »Augenblick«.
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Das ist Geschehen in der Zeit. Dieser Anbruch der neuen Schöpfung in uns hat seine Geschichte. Da gibt es Wachstum und auch Verlust. Gott aber ist das Subjekt. Er sucht. Er schafft. Er macht lebendig. Dieses einige Subjektsein Gottes hat Luther mit seiner Rechtfertigungsbotschaft wiederzugeben versucht, die, was den Menschen angeht, in dem Bekenntnis ihre Mitte hat: »Es ist nichts mit uns allen.« Der Mensch schrumpft zum punctum mathematicum, zum ausdehnungslosen Nichts. Gott aber wird alles in allem! Dieser Gott aber ist ein »Gott der Lebenden und nicht der Toten«. Seine Präsenz als Jesu Wort, Werk und Person läßt das Leben über uns aufgehen als gegenwärtige Lebensmacht wie als Verheißung über den Tod hinaus. Zweitens erkennen wir nun, was dieses Leben eigentlich heißt. Es heißt zuallererst Gott. Es geht um seine Präsenz und nicht um Lebensstoff, der auch abgesehen von ihm da wäre. Es geht um Gott, und wenn wir von Leben reden, so reden wir von ihm, dem Lebendigen. Er, Gott, ist unser Leben. Es ist so, wie der Psalmist sagt: »Wenn ich nur dich habe, so frage ich nichts nach Himmel und Erde. Wenn mir gleich Leib und Seele verschmachtet, so bis du doch, Gott, allezeit meines Herzens Trost und mein Teil«. Indem wir das sagen, verschwindet die Botschaft vom Leben nun aber nicht in die Idee oder in geistige Bereiche. Dieser Gott, der Vatergott Jesu, ist der Grund der Welt als Schöpfer und Bürge von Sein und vitaler Lebendigkeit, von Stoff und Form. Im Bereiche dieses Gottes ist mit Idealität nicht viel zu wollen. Hier geht es um handfeste Lebendigkeit als Dasein und Wirkung. Das meint der Glaube an diesen Gott als den Schöpfer. Um ihn geht es, um seine Präsenz. Die biblische Rede ist klarer: Es geht um sein »Wohlgefallen«. Er, Gott, ist, wie Paulus deutlich macht, das einige Ziel: »alles in allem!« Wenn wir also vom Leben in der neuen Schöpfung oder als neue Schöpfung sprechen, dann ist damit nicht ein Leben gemeint, das als solches auch an Gott vorbei »etwas« wäre. Dieses Leben »ist« Gott und sein Wohlgefallen. Dieser Satz ist ebenso streng theologisch wie er nur sinnvoll ist, wenn wir ihn ontologisch verstehen. Wir müssen an diese beiden Momente nun noch ein Wort zu uns selbst anfügen. Wenn wir Gott sagen und damit von Leben sprechen, so sieht das ja sehr allgemein aus, und man könnte denken, daß damit ein Gesamt-Lebensreservoir gemeint sei, in das wir uns im Glauben und jedenfalls wohl im Tode auflösen. Man könnte meinen, wir seien darin so
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Zu ethischen Einzelproblemen
mitgemeint, daß wir in Gott aufgingen. Jedoch das ist nicht die Meinung der Bibel, und so hat die Reformation die Botschaft des Heils auch nicht verstanden. Das Ereignis des Glaubens, in dem Gott uns sucht und wir sein Heil finden, meint uns nicht als ein Stück Welt überhaupt. Wir sind vielmehr als die ganz Bestimmten gemeint. Wie die Vergebung niemals allgemein, sondern nur in bezug auf unsere ganz bestimmte Schuld Wirklichkeit wird. Wie uns im Taufgeschehen Gottes Leben zu diesen ganz bestimmten Menschen macht, daß wir mit Recht mit der Taufe die Namengebung verbinden, so sind wir als Individualitäten von Gott gesucht und mit unserem ganz bestimmten Leben beschenkt. Das Leben, von dem wir reden, das Auferweckungsieben, ist offenbar nur streng individuiert vorzustellen, so wie der auferweckte Kyrios dieser Jesus von Nazareth war, den sie ans Kreuz schlugen. Das ist von großer Wichtigkeit für unsere Überlegungen. »Ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein«, so heißt es im Psalter, und das drückt dieses »ur-personhafte«, d. h. dieses auf den Einzelnen als Bestimmten bezogene Gotteshandeln aus. Wenn wir also unsere Themafrage nun nochmals vornehmen, ob wir als Christen noch etwas jenseits des Todes erwarten, so müssen wir sagen: Ja, wir erwarten »etwas«. Wir erwarten die Auferweckung, das heißt Gott und sein Eingreifen mitten in Tod und Verwesung. Wir können auch sagen: Wir erwarten Leben und zwar unser ganz individuiertes Leben als Handeln Gottes, wie es sich hier in unserem Dasein bereits als Glaube — auch an unserem Leibe — manifestiert. Wir können auch schlicht sagen: Wir erwarten Gott, wie er sich an unserem Dasein als gnädiger Vater oder als Lebensmacht erweist. Diese drei Antworten sind tatsächlich eine. Diese Antworten sagen uns nichts über einen Zwischenzustand. Sie sagen uns nichts zu der Frage, wann sich das Leben an uns vollziehen wird und wie. Sie lassen viel Platz für neugierige Vorstellungen und okkulte Erfahrungen. Sie konnten sich sogar mit der griechischen Vorstellung einer unsterblichen Seele verbinden. Jedoch alle diese (Wunsch)Vorstellungen oder auch diese Erfahrungen mit Abgeschiedenen können die Mitte des Ganzen nicht verdecken: Wir erwarten Gott und damit uns selbst. Die keusche Zurückhaltung der Bibel über all das einzelne ist in dem Vertrauen gegründet, das das Wesen des Glaubens ist: Das Vertrauen, das sagen kann, was soll ich das alles wissen. »Ich weiß, daß mein Erlöser lebt.« Das ist genug. Wenn man das im Glauben wirklich im Herzen trägt, dann ist das tatsächlich sehr viel.
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VI: Rücksicht
und
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Weltbelang
Wenn wir auf das zurückblicken, was wir als die dem Christentum eigene Antwort gegeben haben, so sehen wir unsere Überlegung bestätigt, daß nämlich das Selbstverständnis des Menschen, was er in seinem Glauben von dem Sinn seines Menschseins weiß und was er in seinem Leben und als sein Leben lebt, und seine Lebenserwartung über den Tod hinaus tatsächlich eine Einheit bilden. Die Erwartung des Christen, die über sein Sterben hinaus auf Gott vertraut, entspricht seinem Einsehen, woher und worin er sein Christendasein in dieser Welt hat. Gott ist der Grund der Möglichkeit des Christendaseins: erstens in dem Sinne, daß unser Sein von ihm ist und daß ohne ihn nichts ist; zweitens in dem Sinne, daß unser menschliches Dasein aus sich und bei sich Gott verlorenes und darum dem Nichts zueilendes Sein ist, das verweht wie das Herbstlaub im Sturm; drittens in dem Sinne, daß menschliches Dasein als weltverantwortendes und liebendes Dasein im tiefsten Sinne nur aus Gottes Vergebung oder vor Gott gelebt werden kann. Darum kann es so sein, daß Gottes Gegenwart wie Gottes Wohlgefallen alles ist — eben auch über den Tod, das Fanal von Nichts, hinaus. Wir können durchaus sagen, daß das Selbstverständnis des Christen, das den Sinn wie die Möglichkeit seines Daseins für diese Welt vor Gott ausmacht, daß dieses Selbstverständnis, das lebendige Gewißheit und Lebensbewährung darstellt, den Inhalt unserer Antwort, ob wir etwas über den Tod hinaus erwarten, ausmacht. Wir haben allerdings gesehen und haben zu beachten, daß dieser Glaube nicht im Innern des Menschen entstand. Der Christ ist auf die biblische Botschaft angewiesen. Die Hauptrolle spielt dabei die Auferwekkung Jesu. Wir haben auch oben bei den anderen religiösen Antworten gesehen, daß ihr Selbstverständnis aus den zentralen Überzeugungen ihrer Religionen hervorging. Das heißt, diese Selbstverständnisse des Menschen in seinen Religionen sind nicht einfach Anthropologie. Das ist angesichts unserer Ergebnisse wohl wesentlich zu überlegen, denn im Zuge gegenwärtig gravierender Tendenz könnte man die Feststellung, daß die Lebenserwartung der Religionen über den Tod hinaus daran abzulesen sei, wie das menschliche Selbstverständnis in den Religionen geartet sei, als einen weiteren Beitrag zur Anthropologisierung der Theologie verstehen wollen. Dies wäre aber nur berechtigt, wenn man die Grundeinsichten der Religionen und damit auch die Grundeinsichten des Christentums für menschlich allzumenschliche Einfälle hält. Dieses aber ist nicht der Fall. Es ist auch
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Zu ethischen Einzelproblemen
in den außerchristlichen Religionen nicht der Fall. Das kann man allerdings nur dann so sagen, wenn man selbst in einem Glauben steht, von dessen Entstehung extra hominem pro homine man durchdrungen ist. Dann aber kann man es auch nicht anders sagen. Alle diese Erwägung ist noch in anderer Richtung wichtig, denn man hat mit der Feststellung der Entsprechung, ja der Identität von religiösem Selbstverständnis und Lebenserwartung über den Tod hinaus wohl ein Mittel in der Hand, um Bodenständiges und Wesentliches von Zugewachsenem und Unbegründbarem in den Lebenserwartungen zu unterscheiden. Soweit sich die verschiedenartige Lebenserwartung über den Tod hinaus im Rahmen der im lebendigen Dasein bewährten Glaubenseinsichten hält, ist dieselbe eindeutig vergewissert und nüchtern. Alle die vielen Wunschträume und Neugiervorstellungen, die sachlich ein Mehr beitragen wollen, fallen heraus. Dies ist von Bedeutung angesichts der vielen in alter Tradition stehenden Bilder. Da sind die Bilder von den Endwehen und vom neuen Jerusalem z. B., die sich an der zentralen Mitte als ihrem Kriterium prüfen lassen müssen, ob und wieweit sie eine Stelle im Vorstellungsbereich christlicher Erwartung haben können. Wir müssen nun aber noch einen anderen Gedanken zu Ende denken, der in unseren Überlegungen angelegt ist. Wir haben uns klargemacht, daß es in unserer Umwelt Menschen gibt, die unsere Themenfrage nach der Erwartung mit Nichts beantworten. Sie meinen, der Mensch könne nur das Nichts über seinen Tod hinaus erwarten — das völlige Nichts. Wir haben uns gefragt, was diese Menschen eigentlich von ihrem Daseinssinn denken. Es liegt nach unseren Ergebnissen nahe zu sagen: Sie denken als Sinn nichts bzw. ihr Daseinssinn geht im verrinnenden Heute und seinen Anforderungen auf. Dies Heute ist morgen nichts. Vielleicht füllen sie ihr Nichts noch mit utopischen Postulaten. Das gehört zum Menschen, verändert aber das Nichts nicht, das spätestens mit dem Tode unabänderlich wird. Diese Meinung ist in der Religionsgeschichte nur in der heutigen areligiösen Ausprägung, wie wir sie nannten, zu belegen. Diese Meinung hat es vorher niemals gegeben. Zwar hat es immer wieder einzelne gegeben, und die gibt es in allen Religionen, die aus irgendwelchen Gründen alles Glauben für Unsinn und alle Riten für Mumpitz hielten. Diese Menschen werden auf unsere Frage auch wohl schon immer mit Nichts geantwortet haben. Aber gegenwärtig ist aus solcher Not einzelner eine Tugend für viele gemacht. Wir haben uns oben schon daran erinnert, daß es sich hier
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um eine Erscheinung nachchristlichen Denkens handelt. Das heißt, dieses Nichts ist ein Zerfallsprodukt des Christentums. Das muß uns zu denken geben. Ich meine, dies müßte uns zumal darum zu denken geben, weil in diesem Nichts etwas auf uns zukommt, das einst von uns Christen ausging. Wenn man die christliche Botschaft im 18., aber auch noch im 19. Jahrhundert — gerade und zumal in ihrer evangelischen Gestalt — ansieht, so bemerkt man, daß aus der Lehre von der Gottestat, die alleine ohne des Menschen Zutun hilft und trägt, immer wieder etwas geworden ist, was fast richtig klingt, aber dennoch falsch ist. Nämlich die Rede: Der Mensch ist Nichts. Die Welt ist Nichts. Die Schönheit ist Nichts. Die Wahrheit ist Nichts. Gott allein ist alles. Diese Rede meint etwas Unaufgebbares. Sie enthält aber den Schluß: Laßt die Welt. Züchtigt und knebelt den Menschen. Meidet die Schönheit. Fürchtet die Wahrheitssuche als Hybris. Diese Thesen haben das Christentum in bestimmten und zwar sehr verschiedenartigen Kreisen lange Zeit tief geprägt. Wenn man dieses Christentum nach seinem Gott und seiner Rolle fragt, so bemerkt man rasch, daß Gott hier zur negativen Bestimmung der Welt und des Menschen wurde. Man muß wohl sagen, daß Gott zur nihilistischen Bestimmung von Welt, Schönheit, Eros, Mensch und Freiheit wurde. Gegen diese Weltbestimmung ist die Moderne emanzipiert. Alles, was dort negativiert wurde, ward nun eigenständiger Wert. Gott aber wurde nichts, und damit wurde der Lebenssinn Nichts. In der nachchristlichen Verneinung unserer Frage kommt eine fehlerhafte christliche Botschaft in ihrer säkular gewordenen Form auf uns zu. Das Nichts der modernen nihilistischen Verneinung aller Erwartung über den Tod hinaus und damit einer letzten Verneinung eines tragenden Daseinssinnes kommt als Folge einst falsch ausgelegter christlicher Verkündigung heute aus einem Teil der Säkularität auf uns zu. Diese Tatsache verlangt darum unsere Aufmerksamkeit, weil sie erstens unsere christliche Haltung gegenüber diesen Verneinern bestimmen sollte. Wir können sie nämlich nicht einfach abtun als unsinnig oder unverantwortlich. In ihnen kommt eine Verfehlung der christlichen Botschaft auf uns zu, und das fordert doppelte Liebe und Anstrengung und Hilfsbereitschaft von uns. Zweitens macht uns dieser Sachverhalt darauf aufmerksam, sehr sorgsam mit unserer Rede umzugehen. Die klare Wahrheit, daß nicht der Mensch und sein Tun dem Heil wie der Vergebung konstitutiv sind, sondern Gott, so wie die eindeutige Einsicht in die Gottesverlorenheit des Menschen, der bei sich selbst bleibt und nur aus
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sich selbst lebt, können sich nicht verdichten zu einem Urteil über das Nichtssein von Welt, Mensch, Tat, Verantwortung, Schönheit, Freiheit, oder was immer Bezugspunkt solcher Rede sei. Die gottverlorene Welt wie der gottverlorene Mensch und all ihr Tun und all ihr Wort sind stets und immer Geschöpf Gottes und von diesem Gott Gesuchte. Sie sind also nicht nichts. Für ihre Verlorenheit hat dieser Gott als Jesus von Nazareth gelitten. Gott ist nicht eine negative Bestimmung von Mensch, Eros und Freiheit. Gott ist vielmehr die positive Bestimmung dieser Geschehnisse — und zwar nicht nur so, daß er sie einst für sich bestimmte, sondern auch so, daß er ihnen unendlich nachgeht. Ihr Geschehen und ihr Sein ist seines Welthandelns Folge. Mit ihnen umgehen, das heißt stets auch, auf Gottes Handeln stoßen. Ein Glaube, der die Welt wie den Eros, den Menschen wie die Schönheit verteufelt oder für nichts erklärt, schändet Gott und sein Tun. Die Folgen solchen Tuns liegen vor uns: An diesem Nihilismus schwer tragende und in ihn gebannte Menschen. Drittens gibt uns diese Überlegung auch einen Hinweis darauf, wie wir mit diesen Nichts-Sagern zu verfahren haben. Es wird wenig Sinn haben, ihnen statt ihres Nichts Gott anzupreisen. Aber es hat viel Sinn, ihnen zu zeigen, wie positiv und liebevoll der Christ tatsächlich von der Welt und ihrer Schönheit, von der Freiheit und ihrer Verantwortung denkt und denken muß, und wie dies nicht etwa geschieht, damit die Welt christianisiert wird, sondern weil Gott dieser Welt und ihres Geschehens Grund überhaupt ist. Kein Mensch kann die Welt und ihr Geschehen positiver beurteilen und daher ernster nehmen als der Christ. Er empfangt seine Welt von diesem Gott, der ein »Liebhaber des Lebens« (Sap. Sal. 11,26) ist. Vor ihm verantwortet er sie. An diesen Überlegungen wird nun nochmals deutlich, welche Reichweite das Selbstverständnis des Menschen für seine Erwartung über den Tod hinaus hat. Wir haben mit Bezug auf den Christen bisher nur davon gesprochen, wie er seine Existenz von Gott über den Tod hinaus gehalten und geschaffen glaubt und erwartet. Das ist ja auch der Kern des Ganzen. Wenn wir nun aber durch die Menschen, die unsere Erwartungsfrage nihilistisch abtun, noch in besonderer Weise zur Explikation des Weltverhältnisses des Christen veranlaßt werden, so können wir abschließend noch auf die biblische Erwartung des »neuen Himmels und der neuen Erde« eingehen. Diese Erwartung dehnt die Grundexistenz von Welt, wie sie sich als Himmel und Erde wiedergeben läßt, über ihre Hiesigkeit aus: Es wird einen neuen Himmel und eine neue Erde geben. Damit ist nicht die
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Ewigkeit der Welt behauptet. Aber es ist gesagt, daß die Welt als Himmel und Erde an der »neuen Schöpfung« teilhat. Gottes Schöpfervollmacht wird diese vergehende Welt als neue schaffen, wie wir als Neue vor ihm dasein werden. Dem christlichen Glauben ist die Schlußfolgerung unausweichlich, weil die Welt — auch eben als Himmel und Erde — zu seinem gläubigen Selbstverständnis aufs innigste gehört. Der Christ kann in seinem Glauben nicht von der Welt abstrahieren. Darum kann seine Erwartung über den Tod hinaus nicht auf den »neuen Himmel und die neue Erde« verzichten. Damit hätten wir in einem Falle eine »Probe aufs Exempel« gegeben und gezeigt, wie das Selbstverständnis des Glaubens zum Kriterium der Erwartung über den Tod hinaus wird.
Vom Sinn des Lebens* I.
Vorfragen
Die Frage nach dem Sinn des Lebens ist so alt wie die Menschheit. Sie ist heute so dringend wie vor 10000 Jahren. Kein wissenschaftlicher Fortschritt hat sie erledigt und keine technischen Möglichkeiten haben sie beschwichtigt. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellt sich auch immer wieder. Sie graviert auf die Gründe allen Daseins. Sie rührt an die Wurzeln der Existenz. In ihrer Dringlichkeit faßt sich der ganze Selbstbehauptungswille menschlichen Daseins zusammen, und man kann sagen, daß diese Frage es ist, an der sich das geistige Dasein der Menschheit ablesen läßt. Diese Frage ist nicht nur ur-alt, sondern sie ist zugleich eine ur-echte Frage, d. h. eine Frage, die sich offenbar als Frage nicht erledigen läßt, die sich als Frage durchhält durch die Geschlechter. H. Hesse nennt sie die »alte Kinderfrage«, die sich ihm als 79jährigen immer erneut stellt1. Und es ist etwas ganz Merkwürdiges um diese Frage, daß sie zugleich allgegenwärtig ist im Leben und zugleich schwebend ungreifbar, ja vielleicht unbeantwortbar. Woran liegt das eigentlich? Wenn man heute meint, den Sinn seines Lebens erfaßt zu haben, so muß man morgen schon wieder anfangen zu fragen! Wenn man gestern meinte, den Sinn ahnend ergriffen zu haben, so steht man heute wieder vor dieser Frage, so als sei sie noch niemals beantwortet. Dabei können wir sogleich auch näher klären, was man unter dieser ewig neu sich stellenden Frage versteht. Wir können dies aus dem Schluß von Nietzsches »Zur Genealogie der Moral« entnehmen 2 . Nietzsche erläutert hier den Sinn als die Beantwortung der Frage: »wozu Mensch über-
* Vortrag, gehalten am 14. Februar 1980 in Bad Nauheim. Der Vortrag wurde von 1 9 5 0 an in leicht abgewandelter Form immer wieder gehalten. 1
Hermann Hesse. In: Neue Zürcher Zeitung. 7. Juni 1956.
2
Friedrich Nietzsche, Zur Genealogie der Moral. III, 28. In: Ders., Werke. Kritische Gesamtausgabe. Hg. von G. Colli und M. Montinari. Abt. 6, Bd. 2. Berlin 1968, S . 4 2 9 f .
Vom Sinn des Lebens
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haupt?« Diese Frage nicht beantworten zu können, machte den Menschen krank. Dabei war nicht das Leiden des Menschen in der Welt Auslöser dieser Krankheit, »sondern daß die Antwort fehlte für den Schrei der Frage »wozu leiden?«< Die Zielfrage von Dasein und Leiden am Dasein ließ sich offenbar nicht beantworten: »Die Sinnlosigkeit des Leidens, nicht das Leiden, war der Fluch, der bisher über der Menschheit ausgebreitet lag.« Mit dieser Tatsache sah Nietzsche das Menschsein in seinem innersten Kern gefährdet — in seinem Willen zum Leben! An die Stelle der Unbeantwortbarkeit der Sinnfrage trat nach der Meinung Nietzsches das asketische Ideal und rettete, indem es das Nichts wollte, wenigstens den Willen. Mit dieser Wendung auf das »asketische Ideal« hat Nietzsche einen Teil der Religion für das Ganze gesetzt. E r meint in diesem »asketischen Ideal« die Religion, und er hat mit dieser Wendung wohl auch recht, denn die Religionen sind es, die die dunkle Frage nach dem Zielbereich menschlichen Lebens erhellen und die damit nach Nietzsche wenigstens den Willen retten — wenn sie ihn auch dem Nichts zuführen. Werfen wir von hier aus noch einen Blick in eine ganz andere Richtung. Die berühmte Kulturethik Albert Schweitzers, die er am Ende des Ersten Weltkrieges fertigstellte, dreht sich ebenfalls ganz zentral um die Sinnfrage. Kultur dient aus dem optimistischen wie aus dem ethischen Charakter, der ihr eignet, der Bestimmung von Sinn. Dabei meint Schweitzer — und darin sammelt sich immer wieder seine Kritik —, daß die westliche Kultur in der Moderne das Suchen nach der Sinnfrage aufgegeben habe 3 . Schweitzer sagt dazu als Klärung: »Um aus dem Sinnlosen, das uns gefangen hält, wieder zum Sinnvollen zu gelangen, gibt es keinen anderen Weg, als daß ein jeder wieder zu sich selbst zurückkehrt.« 4 Das »Nachdenkend-Werden« über den Sinn ist an sich schon von Bedeutung. Es mag sein, daß wir kein greifbares Ziel zu sagen vermögen. Aber es darf keine Resignation geben! Unsere »Welt- und Lebensbejahung« »muß . . . i n dem Sinn des Lebens zu begreifen sein«. Vielleicht vermögen wir einen »Sinn der Welt« nicht mehr anzugeben. Aber wir vermögen unserem Leben »aus dem Willen zum Leben« (!) einen Sinn zu geben 5 . Damit ist Schweitzer offenbar Nietzsche nicht fern. Ihrer beider Lehrmeister Schopenhauer macht sich geltend. Der Wille ist der letzte Träger von Sinn,
3
Vgl. Albert Schweitzer, Kultur und Ethik. München 1923, S. 61.
4
Ebd., S. 62.
5
Ebd., S. 65.
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weil er als Wille zielgerichtet ist. Das heißt, daß mit diesen beiden weit wirkenden Denkern — Nietzsche wie Albert Schweitzer — die Sinnfrage mit der Zielfrage des Lebens verbunden und darum dem Willen verknüpft wird. Der Sinn also liegt im Erwartungshorizont des Lebens, und wo dieser Erwartungshorizont sich verstellt, da bricht Sinnlosigkeit aus. Aber ist diese Annahme eigentlich richtig? Ein junges Leben in der Fülle seines Schaffens ist ja doch von dem Glücksgefühl sinnvollen Daseins begleitet. D a brauchen gar keine großen Zielvorstellungen hinzu zu kommen. Eine junge Liebe ist ebenso sinnerfüllt wie ein Frühlingstag. Zwei Menschen, die sich lieben, die brauchen gar nicht auf große Zielerfüllungen zu warten, deren Miteinander ist sinnerfüllte Freude! Das tätige Schaffen selbst ist sinnvoll und in seinem Sinn offenbar gar nicht abhängig vom Erfolg! In diesem Sinne ist doch wohl Goethes Faust zu hören: »Werd' ich zum Augenblicke sagen verweile doch, du bist so schön ...«. Der Sinn liegt im schönen Augenblick! Faust spricht sein »verweile« dann ja zum rüstigen Schaffen für andere, aber nicht zur Erhellung seines Zieles oder Horizontes? Dies gilt auch, obwohl die Schaufeln, deren Klang er hört, seine Grabschaufeln sind. Jedoch muß man demgegenüber wohl etwas anders urteilen, wenn man sich nochmals konkret vorstellt, wo die Sinnfrage aufzutauchen pflegt. Sie taucht ja überall da auf, wo ein anhebender Lebensvollzug nicht zu seiner Erfüllung kommt. Also wo eine junge Liebe in Untreue zerbricht, wo der Tod die Mutter kleiner Kinder raubt, wo ein junger Mensch durch eine Krankheit dahingerafft wird, wo ein Sturm einen jungen Fruchtbaum knickt, überall stehen wir vor der gähnenden Leere von Sinnlosigkeit und Widersinn. Es ist offenbar so, daß wir mit dem Sinne die Erfüllung verbinden? Wo ein alter Mensch nach einem erfüllten Leben stirbt, da rührt das diese Frage nicht auf. Wo ein Weg zu Ende gegangen ist, da ist das Enden eben sinnvoll. Sinn, das scheint also gleichbedeutend mit Erfüllung zu sein? Erinnern wir uns an den »Bericht« von Thornton Wilder, den er anhand des Einsturzes der »Brücke von St. Louis Rey« fingiert. Die fünf Menschen, die mit dieser Brücke in den Abgrund gerissen wurden, waren mit ihrem Leben alle — ob alt oder jung, reich oder arm — an einem Punkt angekommen, wo ihr Tod »sinnvoll« als Abschluß »vollendeten« Lebens gezeigt werden konnte. Das heißt, Thornton Wilder würde damit sagen, daß Leben sinnvoll ist, weil es stets auf Vollendung begonnenen Weges angelegt, diese Vollendung auch im Tode haben wird. D a waltet in keinem Leben sinnloses Durcheinander oder ins Leere Auslau-
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fen, sondern man kann nach Sinn fragen. Die Frage geht nicht ins Leere, wenn man nur genug vom einzelnen Leben weiß! Sinn wird behauptet — auch wo alles nach Sinnlosigkeit ausschaut. Sinn ist nicht aus äußerem Scheitern zu widerlegen! Sinn hängt nicht am Erfolg. Wir müssen also einleitend die Frage so stellen: Einerseits ist es ja wirklich so, daß eine junge erfüllte Liebe zweier Menschen, daß eine interessierende Arbeit ihren Sinn in sich selber tragen. Da fragt man nicht nach irgendwelchen Erfüllungen oder Erfolgen. In dieser Liebe liegt Sinn, auch wenn keine Ehe daraus wird. In dieser Arbeit selbst liegt Sinn, auch wenn ihr nicht große Erfolge erwachsen. Andererseits bricht die Sinnfrage immer wieder akut an dem »Wozu?« oder »Warum?« von Leid, Scheitern und Zerschellen auf. Der Tod eines jungen Menschen treibt die Sinnfrage hervor. Das tut der Tod eines alten Menschen nicht in gleicher Weise. Das heißt, Sinn hat es irgendwie mit dem Ziel oder mit Erfüllung zu tun. Jedoch beachten müssen wir auch dies: Die moderne Menschheit lebt ja zumal in Zielvorstellungen und ist ganz auf Zukunft fixiert. Aber die Sinnfrage wird der Moderne immer unlösbarer. Die Menschheit der großen Erfolgsplanung und Organisation der Ziele kommt mit dem Sinn ihres Daseins immer weniger zurecht. Das heißt, daß wir die Frage nach dem Sinn in einer doppelten Erstreckung sehen müssen; wir sehen sie als die Frage vor uns, ob die Sinnfrage im Erreichen eines bestimmten Zieles nur zur Ruhe kommt und ob sie darum immer wieder unbeantwortbar zu sein scheint, weil menschliches Leben seine Ziele selten wirklich erreicht? Oder liegt der Sinn nicht dem Lebensvollzug selbst schon sehr viel näher?
II. Umschau und Orientierung Für die weitere Erörterung des Begriffes »Sinn« müssen wir uns wohl zunächst etwas umsehen, was nämlich Wortgeschichte sowie die neuere Philosophie als Existenzphilosophie und was ein Mann wie Hermann Hesse unter Sinn verstehen. Wenn wir von der Wortgeschichte ausgehen: Das Althochdeutsche hat ein Wort sinnan. Das heißt »reisen, streben, gehen«. Das Nordgermanische aber zeigt unser Hauptwort sintha, was »Reise« oder »Weg« bedeutet. Dieses Wort gehört in der Wurzel mit unserem Worte »senden« zusammen. Das heißt, es geht nicht um einen Weg, den man frei wählte, sondern man
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ist auf dem Wege als in einer Sendung. Diese sich nahestehenden Wörter sintha im Nordgermanischen und sinnan im Althochdeutschen sagen also, daß Sinn etwas mit »auf dem Wege sein« zu tun hat. Dabei klingt an, daß diese Reise nicht spontan selbstgewählt ist, sondern daß eine Sendung dahinter steht. Das sinnan als »reisen« also ist nicht »sinnendes« Tun, sondern das Reisen selbst oder der Weg, den man betritt. Wenn man also Sinn von dieser geschichtlichen Fassung aus verstehen will, dann hat der Sinn eines Lebens oder einer Tat etwas mit dem Geschehen selbst — vorgestellt als Weg oder Reise — zu tun. In vorsichtig hinweisendem Sinne könnten wir sagen, daß der Sinn eines Lebensabschnittes darin läge, daß man ihn geht, daß man ihn betritt. Sinn des Lebens wäre jedenfalls nicht ein Plan des Lebens oder eine Karte, nach der man sein Leben entwürfe. Es wäre aber auch nicht das Lebensziel oder die Lebenserfüllung, sondern die Reise selbst bzw. das Leben als Weg, den man zu gehen hat. Aber nach der Wortgeschichte ist hierbei nicht der Ziel- oder Erfüllungsgedanke mit zu denken, sondern es klingt im Sinne der Gedanke der Sendung an. Das heißt, die Reise oder der Weg, das Beschritten-Sein-Wollen, werden von daher angesehen, von woher der Reisende auf den Weg geschickt ist. Die άρχή klingt an und nicht das τέλος! Die Wortgeschichte widerspricht also dem Gedanken, Sinn gehöre mit Zielerfüllung zusammen. Sinn liegt hiernach dem näher, was in einem Lebensvollzug selbst — als eine Arbeit oder als eine Liebe — darin ist, den man »begeht«, den man eigentlich auch nicht selbst wählt, sondern auf dem man sich wie in einer Sendung vorkommt. Sehen wir von hier aus zu einem modernen Denken hinüber, in dem der Sinnbegriff eine Rolle spielt. Bei Martin Heidegger hat der Sinn eine gewichtige Stelle. Nach Heidegger ist das menschliche Dasein eine Befindlichkeit, die zu stetigem Entwurf über sich selbst hinausstrebt bzw. sich ständig selbst voraus ist. Bei Heidegger ist der Sinn nun das, was man als »Woraufhin des Entwurfes« oder als Ziel des Sich-Entwerfens »verstehen« kann. Zum Sinn gehört also die »Verständlichkeit«, die Einsehbarkeit. Sie gehört so zum Sinn, daß man ohne diese »Verständlichkeit« nicht von Sinn reden kann. Also ist der Sinn nie im Leben als solchem. Sinn ist niemals als solcher da. Sondern er taucht erst auf, wo der verstehende Mensch ihn erhebt. »Nur Dasein kann daher sinnvoll oder sinnlos sein.« 6 6
Martin Heidegger, Sein und Zeit. Tübingen, 5. Auflage 1941, S. 151.
Vom Sinn des Lebens
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Dasein aber ist stets ein Mensch vor seiner Welt. Auf dem Schnittpunkt also, auf dem ein verstehender Mensch seine Welt so ergreift, daß er sich an diese Welt wagt und so zum Verstehen seines Weges in der Welt gelangt, auf diesem Schnittpunkt gibt es Sinn! Der Sinn geschieht als das »Verstehen« des Weges des Entwurfes. Der Sinn steht also nicht irgendwo jenseits des Lebens fest, so daß man ihn so suchen könnte, daß man den Weg verläßt und daneben theoretisiert, sondern er ist nur im Gehen des Weges. Der Sinn des Lebens steht also nicht hinter dem Leben, sondern darin. Nur das gelebte Leben ist sinnvoll oder sinnlos. Jenseits des Lebens gibt es keinen Sinn. Das hätten wir also bislang erfahren, daß das Leben als solches weder sinnhaft noch sinnlos ist — nur da, wo ein verstehender Mensch sein Leben lebt und seinen Lebensentwurf verstehend tut, da taucht der Sinn als Möglichkeit auf. Das sich selbst wagende Verstehen ist der Weg des Entwurfes. Das Verstehen gibt dem Selbst-Wagnis »Sinn«. 7 Worin die sprachgeschichtliche Erwägung und diese philosophische Erhellung einig sind, das ist: Sinn des Lebens ist nicht Theorie über das Leben. Wer nach dem Sinn des Lebens fragt, der erdenke keine tiefsinnigen Sätze über das Leben, sondern der gehe an seinen Lebensentwurf. Wo er sich an sein Leben wagt, wo er sich seinem Leben läßt, da geschieht Sinn, der verständnisvoll angelegt werden kann. Sinn ist »auf dem Wege sein«. Sinn des Lebens, das ist »auf dem Wege seines Lebens sein«, nicht an seinem Leben vorbeileben, um Träumen nachzuhängen oder Hinterwelten aufzusuchen. Die Frage nach dem Sinn des Lebens stellen, heißt also, sich seinem eigenen Leben als einem »Wege«, als einem »Entwürfe« stellen, sich auf den Weg begeben und mit dem eigenen Leben anfangen. Die beiden Auskünfte sind aber ganz unterschiedlich »gerichtet«. Die Sprachgeschichte sieht diesen Weg von seinem »Woher« in Nähe zu seinem Verständnis als Sendung an. Heidegger dagegen entwickelt Sinn aus der Zielbestimmung des Entwurfes, die im Existential »Verstehen« wahrgenommen wird. Das heißt, so gewiß man die Nähe dieser beiden Sichten angeben kann, so gegensätzlich verhalten sie sich in bezug auf die Frage, ob dieses »Auf-den-Weg-treten« von seinem Herkommen oder von seinem Ziel aus bestimmt ist. Dieser Unterschied ist ja sehr gravierend, zumal in bezug auf die Vergewisserung. Ist der Lebensvollzug, in bezug auf den nach dem Sinn gefragt wird, von seinem Herkommen aus im Sinne von Sendung bestimmt, dann geshieht er als solcher stets in seinem Sinn. Ist 7
Ebd., S. 324 f.
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Zu ethischen Einzelproblemen
der Lebensvollzug aber ganz von seinem Entwurf aus bestimmt, d. h. kommt es auf die Erreichung eines Zieles an, dann ist sein Sinn verloren, wo das Ziel nicht erreicht wird bzw. wo der Entwurf nicht aufgeht. An dieser Stelle liegt unsere Eingangsfrage in einer neuen Klarheit vor uns. Stellen wir neben diese beiden Orientierungen noch eine dritte. Ich nehme sie aus einem Briefwechsel von Hermann Hesse. Hermann Hesse kreist in allen seinen Schriften um den Sinn des Lebens. Diesen Briefwechsel, den er zu seinem achtzigsten Geburtstag 1956 in der »Neuen Zürcher Zeitung« 8 veröffentlichte, führte er mit einem kranken jungen Mädchen: »Sie kommt immer wieder, die alte Kinderfrage: Hat das Leben einen Sinn? Auch an mich, der ich weder Philosoph noch Seelsorger bin, wird sie viele Male im Jahr gestellt. Und wenn die Kräfte es irgend erlauben, sind wir Alten diesen Kinderfragen, wenn sie uns aus echter Not zu kommen scheinen, eine Erwiderung schuldig, manchmal eine Gebärde des Trostes, manchmal eine freundliche Zurechtweisung. Dieser Tage schrieb mir aus Norddeutschland ein ganz junges Mädchen, seit kurzem Patientin in einem Lungensanatorium, diesen Brief: >Bitte entschuldigen Sie, wenn ich an Sie schreibe, aber ich muß es einfach tun. Ich glaube auch, daß Sie mich verstehen werden. Ich bin in einer Lungenheilstätte und habe sehr viel Zfeit, um über mich, über andere und über den eigentlichen Sinn von allem nachzudenken. Ach, es ist alles so furchtbar, und ich weiß ja auch gar nicht, ob Sie meinen Brief lesen werden. Wahrscheinlich belästige ich Sie nur damit. Es ist so schwer, mit allen Problemen, die mich beschäftigen, allein fertig zu werden, und manchmal sehne ich mich danach, weise und abgeklärt zu sein. Ich bin oft so verzweifelt, daß ich mich frage, was für einen Sinn das Dasein überhaupt hat. Warum soll man denn überhaupt leben? Es ist alles so furchtbar, und die meisten Menschen sind so schlecht und dumm. Aber ich weiß, daß ich auch nicht besser bin, wenn ich so denke. Glauben Sie, daß es jemals anders werden kann und daß ich vielleicht wieder fest werde? Ich habe zu Ihnen Vertrauen, aber vielleicht können Sie mir ja auch nicht helfen, denn Sie sagen ja auch, daß im Leid jeder Mensch allein ist.
8
Hermann Hesse. In: Neue Zürcher Zeitung. 7. Juni 1956.
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Es war vielleicht nicht richtig von mir, Ihnen zu schreiben, und darum möchte ich Sie nochmals bitten zu entschuldigen, wenn ich Sie belästigt habe. Und, bitte, nehmen Sie meinen Brief ernst! Ich mußte Ihnen schreiben, weil ich zu keinem Bekannten und zu keiner Freundin richtiges Vertrauen haben kann. Vertrauen vielleicht schon, aber ich glaube, daß Sie mich richtig verständen. Mein Brief ist nicht schön, ich drücke mich manchmal so falsch aus, aber vielleicht verstehen Sie mich doch. Ich glaube es. Manchmal gehe ich nach draußen in die Natur, um dort Trost zu finden, aber wenn ich sehe, wie passiv und teilnahmslos sie daliegt, werde ich nur noch trauriger und fühle mich noch einsamer. Ich grüße Sie sehr.
Ihre M. W.