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German Pages 540 Year 2003
JÖRG RIECKEN
Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 916
Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle unter besonderer Berücksichtigung von John Hart Elys prozeduraler Theorie der Repräsentationsverstärkung
Von Jörg Riecken
Duncker & Humblot • Berlin
Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg hat diese Arbeit im Jahre 2001/2002 als Dissertation angenommen.
Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar.
Alle Rechte vorbehalten © 2003 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme und Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0582-0200 ISBN 3-428-10810-8 Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706 ©
Vorwort Die vorliegende Arbeit behandelt die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im demokratischen Staat. Im ersten Teil wird die Verfassungstheorie John Hart Elys untersucht, wie er sie 1980 in seinem Buch „Democracy and Distrust" entwikkelt hat. Diese Theorie versucht, die Grundrechtskontrolle des U.S. Supreme Court durch eine starke Prozeduralisierung zu beschränken. Der zweite Teil der Arbeit geht den methodischen, verfassungstheoretischen und funktionalen Grenzen des Bundesverfassungsgerichts nach. Die Vielschichtigkeit des Themas hat eine Auswahl der diskutierten Positionen wie auch der Literatur erforderlich gemacht. Die Arbeit wurde im Wintersemester 2001/2002 von der rechts wissenschaftlichen Fakultät der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg als Dissertation angenommen. Die Literatur befindet sich auf dem Stand von Frühjahr 2001. Meinem Doktorvater, Herrn Prof. Dr. Winfried Brugger, LL.M., gilt mein herzlicher Dank für die Anregung zu diesem Thema, für das in mich gesetzte Vertrauen und nicht zuletzt für die schnelle Erstellung des Erstgutachtens. Herrn Prof. Dr. Oliver Lepsius, LL.M., bin ich für seine rasche Zweitkorrektur sowie für Kritik und weiterführende Anmerkungen zu großem Dank verpflichtet. Vor allem die beiden nachfolgend Genannten haben mich und die Arbeit mit fachlichem und persönlichem Rat unterstützt und sind dabei weit über das hinausgegangen, was Freunden zugemutet werden darf. Herrn Dr. Ulrich Haltern, LL.M., danke ich für zahllose wichtige Anregungen und freundschaftliche Ratschläge, die mir in allen Phasen der Arbeit geholfen haben. Seiner kritischen Durchsicht des ersten Teils der Arbeit verdanke ich wertvolle Hinweise und Verbesserungsvorschläge. Nicht zuletzt hat mich die Auseinandersetzung mit seinen Schriften vielfach gezwungen, die eigene Position kritisch zu überdenken. Frau Barbara van Schewick danke ich für ihre Begleitung des Fortgangs der Arbeit sowie für unverzichtbare Anregungen zu deren Inhalt, Stil und Aufbau. Mein Dank gilt insbesondere auch ihrer kritischen Durchsicht des zweiten Teils der Arbeit, die sich in einer überarbeiteten Fassung niedergeschlagen hat. Für anregende Diskussionen, stete Ermutigung und seinen festen Glauben an die Vollendung dieser Arbeit danke ich meinem Bruder Nils Riecken. Frau Dr. Gesine Walz danke ich für die ebenso gründliche wie schnelle Korrektur des Manuskripts.
6
Vorwort
Für vielfältige Unterstützung, geduldiges Zuhören und den notwendigen Rückhalt danke ich Frau Sabine Kempelmann, Frau Hendrikje Schilling, Frau Dr. Gudrun Girnghuber sowie Herrn Dr. Philipp Räther. Meinen Eltern danke ich herzlich für ihre Unterstützung in der Ausbildung sowie in der Promotionszeit. Die Voraussetzungen für die Untersuchung der US-amerikanischen Verfassungstheorie hat mein Aufenthalt am Georgetown University Law Center in Washington, D.C., im Rahmen eines LL.M.-Studiums im Jahre 1993/94 geschaffen. Der Haniel-Stiftung und der Studienstiftung des deutschen Volkes sei an dieser Stelle für ihre Unterstützung gedankt. Ein Forschungsaufenthalt in Georgetown im Herbst 1999 hat mir weitere wertvolle Anregungen zur US-amerikanischen Verfassungstheorie vermittelt. Den Professoren Mark Tushnet, Louis Seidman, Roy Schotland und Vicki Jackson danke ich für ihre Beratung und für die mit ihnen geführten Gespräche über mein Thema. Ferner danke ich den Mitarbeitern der Law School für ihre freundliche Unterstützung. Mein besonderer Dank gilt Professor Jack Murphy und seiner Frau Lucinda sowie Mrs. Jean Friendly für die in dieser Zeit erfahrene außergewöhnliche Unterstützung und Gastfreundschaft. Herrn Prof. Dr. Thomas Raiser danke ich für die Erstellung eines Gutachtens und für die Zeit als Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl, die mir den Zugang zu manchen Aspekten dieser Arbeit erleichtert hat. Darüber hinaus danke ich der Konrad-Adenauer-Stiftung für ein Promotionsstipendium, ohne das die Arbeit in der vorliegenden Form nicht möglich gewesen wäre. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft danke ich schließlich für die Gewährung einer großzügigen Druckbeihilfe. Jörg Riecken
Inhaltsverzeichnis
Einführung
25
A. Gegenstand der Untersuchung
25
B. Überblick zum Aufbau der Arbeit
28
I. Elys prozedurale Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle IL Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland
28 28
Erster T e i l „Democracy and Distrust" John Hart Elys Theorie der Repräsentationsoptimierung
Einleitung
32
32
Erstes Kapitel Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
37
A. Elys Theorie im Überblick
37
B. Elys Versprechen: Überwindung der „countermajoritarian difficulty"
38
C. „Footnote 4" als Keimzelle von Elys Theorie
40
I. United States v. Carolene Products Co., Fußnote 4
42
1. Erster Absatz: Spezifisches Verfassungsrecht
42
2. Zweiter Absatz: Behinderung des politischen Prozesses
44
8
Inhaltsverzeichnis 3. Dritter Absatz: Minderheitenschutz
47
4. Zusammenfassung
49
II. Historischer Hintergrund der Fußnote 4 III. Die Autoren der Fußnote 4
D. Elys Entfaltung der Fußnote 4 in „Democracy and Distrust"
49 51
53
I. Begrenzung des Verfassungsgerichts
53
1. Kritik am Non-Originalismus
53
2. Kritik am intentionalistischen Originalismus
55
3. Begrenzung der Generalklauseln
56
4. Elys Deutung der Fußnote 4
58
II. Verfassungsgerichtliche Partizipationsoptimierung III. Optimierung der Repräsentation von Minderheiten im politischen Prozeß
60 61
1. Ausgangspunkt: Gleichheitsklausel als prozedurales Gebot
63
2. Das Vorurteil als Schlüssel zur Identifizierung schutzbedürftiger Minderheiten
66
a) Vorurteil ersten Grades: Feindseligkeit
66
b) Vorurteil zweiten Grades: Stereotypen
68
3. Anwendungsbereich des Minderheitenschutzes
70
a) Ausländer
70
b) Armut
71
c) Rasse
71
d) Geschlecht
71
e) Homosexualität
72
IV. Elys Begründung der repräsentationsoptimierenden Theorie
73
1. Prozedurales Verfassungsverständnis
74
2. Repräsentative Demokratie
74
3. Funktionales Argument
75
Inhaltsverzeichnis 4. Ultra-Originalismus
75
V. Zur Bezeichnung der Theorie
76
VI. Zusammenfassung: Elys Theorie als prozedurales Kontrollmodell
E. Konsequenzen von Elys Theorie am Beispiel der Grundrechte auf Persönlichkeitsentfaltung und Abtreibung I. Persönlichkeitsrechte im Bereich der Sexualität
76
77 77
1. Rechtsprechung des Supreme Court
77
2. „Freiheit" in der Theorie der Repräsentationsoptimierung
79
3. Freiheit durch Gleichheit?
80
II. Grundrecht auf Abtreibung und Schutz ungeborenen Lebens
83
1. Rechtsprechung des Supreme Court
83
2. Theorie der Repräsentationsoptimierung
84
3. Extrapolation eines Grundrechts auf Abtreibung?
85
F. Exkurs: Jesse H. Chopers funktionale Theorie
86
Zweites Kapitel Zur Analyse von Elys Theorie
90
A. Elys Deutung der Rechtsprechung des Warren Court
90
B. Elys Methode der Verfassungsinterpretation
93
I. Spezifische Grundrechte II. Generalklauseln
94 95
III. „Textualistischer Non-Originalismus" in Methode und Theorie
96
IV. Abgrenzung zu Scalias historisch-traditionalem Textualismus
97
C. Trennung von Recht und Politik
98
10
Inhaltsverzeichnis
D. Ely zwischen Positivismus und Nichtpositivismus
102
E. Ely als „gemäßigter" Utilitarist
107
I. Utilitarismus als Ausgangspunkt II. Repräsentationsoptimierung als Ausnahme III. Gleichheit im Urzustand
107 108 111
F. Skeptizismus gegenüber Grundrechten und Gerichten
113
G. Elys Verständnis des politischen Prozesses
117
I. Liberalismus und Zivilrepublikanismus II. Pluralistisches ,3argaining" und deliberative Demokratie
118 120
1. Egoistisches Menschenbild und Politikmodell?
122
2. Klassischer und geläuterter Pluralismus
124
3. Partizipations- und Repräsentationsoptimierung als Elemente diskursiver Demokratie? 130 4. Ergebnis
130
III. Flucht des Gesetzgebers aus der Verantwortung
131
H. Elys Theorie zwischen Zurückhaltung und Aktivismus
133
J. Verfassungspolitische Konsequenzen von Elys Theorie
134
K. Zusammenfassung
136
Drittes Kapitel Zur Kritik von „Democracy and Distrast"
138
A. Rezeption durch den U.S. Supreme Court nach 1980
138
B. Kritik der Literatur
140
Inhaltsverzeichnis I. Immanente Kritik an Elys Theorie
140
1. Kritik an Elys Begründung
141
a) Prozedurale Deutung der US-Verfassung
141
b) Ultra-Originalismus
142
c) Elys Demokratie Verständnis
143
d) Funktionale Argumentation
144
e) Verfassungstheorie und positives Verfassungsrecht
145
2. Kritik an Elys methodischen Prämissen
146
3. Kriterien der Durchführbarkeit
150
4. Zur Durchführbarkeit der Trennung von Inhalt und Verfahren
151
a) Entscheidung für Elys Theorie als wertneutraler Akt?
151
b) Anwendung des prozeduralen Kontrollmodells
153
aa) Elys Theorie als materialer Ansatz
154
bb) „Prozeduraler" Minderheitenschutz
154
(1) Das Verbot von Vorurteilen als inhaltlicher Maßstab
155
(2) Inhaltliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung
159
(3) Mehrheitsdemokratie und Minderheitenschutz
160
cc) Optimierung des Zugangs zum politischen Prozeß
161
dd) „Prozedurale" Grundrechtskontrolle im übrigen
162
ee) Elys Rückzug auf bereichsspezifische inhaltliche Kontrolle
164
c) Ergebnisse 5. Durchführbarkeit der Partizipationsoptimierung
166 166
a) Nationaler politischer Prozeß
166
b) Einzelstaatlicher und lokaler politischer Prozeß
167
aa) Partizipation auf verschiedenen politischen Ebenen
167
bb) Formelle und informelle Betrachtungsweise
169
cc) Schlußfolgerung
170
c) Private und gesellschaftliche Behinderung der Partizipation
171
d) Armut als informelle Zugangsbeschränkung
174
e) Zusammenfassung
177
12
Inhaltsverzeichnis 6. Durchführbarkeit des Minderheitenschutzes
177
a) Vorurteil ersten Grades: Feindseligkeit
177
b) Vorurteil zweiten Grades: Stereotypen
181
c) Mangelnde Differenzierung des Kontrollmaßstabs
183
d) Carolene-Minderheiten
als einfache Verlierer?
e) Schutzbedürftigkeit von Caro/ewe-Minderheiten aa) Carolene-Minderheiten und die Theorie kollektiven Handelns
184 185 186
bb) Non-Kooperation im Paria-Modell
187
cc) Kritik am Paria-Modell
189
dd) Kritik an Ackermans soziologischer Methode
190
ee) Konsequenzen für Elys Theorie
191
ff) Ausblick: Schutz für anonyme und verstreute Minderheiten?
192
f) Anwendungsbereich des Minderheitenschutzes
193
g) Ergebnisse zum Minderheitenschutz
194
7. Ergebnisse der internen Kritik IL Externe Kritik
195 196
1. Kritik aus der Perspektive der Critical Legal Studies
196
a) Aufhebung der Trennung von Recht und Politik
196
b) Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit
198
c) Verteidigung herkömmlicher Verfassungstheorie
199
d) Populistischer Minimalismus als Alternative?
201
e) Bedenken gegen populistisches Verfassungsrecht
204
2. Kritik aus der Perspektive des Originalismus
205
a) Historisierender Textualismus (Antonin Scalia)
205
b) Intentionalismus
208
aa) Uberblick zum Intentionalismus
208
bb) „Original Understanding" (Robert Bork)
211
cc) Kritik des Intentionalismus an Elys Theorie
214
dd) Intentionalismus als Alternative?
218
(1) Durchführbarkeit
218
(2) Externe Kritik
224
(3) Ergebnis
228
Inhaltsverzeichnis 3. Kritik aus der Perspektive des Non-Originalismus
229
a) Überblick zum materialen Verfassungsverständnis
229
b) Verteidigung des Non-Originalismus
232
c) Kritik des Non-Originalismus an Elys Theorie
236
aa) Primat demokratischer Selbstbestimmung
236
bb) Prozeduralistisches VerfassungsVerständnis
238
cc) Demokratie als „angewandter Militarismus"
238
dd) Kein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung?
239
ee) Prozeduraler Minderheitenschutz
243
d) Ergebnis
245
4. Liberalismus- und Kapitalismuskritik
245
5. Ideologiekritik?
246
6. Ergebnisse zur externen Kritik
247
C. Anschlüsse an Elys prozedurales Modell I. Michael Klarmans „Theorie des politischen Prozesses"
248 248
1. Mehrheitsdemokratie ohne spezifischen Minderheitenschutz
248
2. Kritik
251
3. Ergebnis
253
II. Anschlüsse durch prozedurale Theorien in Deutschland
254
D. Die Zukunft der Fußnote 4
259
E. Gesamtergebnis
260
Viertes Kapitel Schlußfolgerungen für den Untersuchungsansatz im deutschen Verfassungsrecht A. Anschluß an Elys Theorie? I. Aktivistische Partizipations- und Repräsentationsoptimierung
262 262 263
14
Inhaltsverzeichnis II. Restriktive Elemente in Elys Verfassungstheorie
265
1. Prozedurales Verfassungsverständnis
265
2. Rückzug auf die Kontrolle spezifischen Verfassungsrechts?
266
3. Skeptizismus
267
4. Ergebnis
268
B. Elemente einer Begrenzung des Verfassungsgerichts I. Methodische Grenzen
268 269
II. Verfassungstheoretische Grenzen
270
III. Funktionale Grenzen
270
IV. Institutionelle Grenzen
270
V. Thematische Eingrenzung
271
Zweiter Teil Zur Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG durch Methodik, Verfassungstheorie und funktionell-rechtliche Ansätze
273
Erstes Kapitel Einführung in die Problematik verfassungsgerichtlicher Grenzen A. Grenzen als Gebote positiven Verfassungsrechts I. Verfassungsbindung II. Gewalten- und Funktionsteilung
273 274 274 274
III. Fehlende demokratische Verantwortlichkeit des BVerfG
275
IV. Demokratieprinzip
276
V. Ergebnis
277
B. Zum Zusammenhang von verfassungsgerichtlichen Grenzen und weiten Kompetenzen des BVerfG 277
Inhaltsverzeichnis I. Kompetenz-Kompetenz des BVerfG? II. Teilhabe des BVerfG an der verfassungsgebenden Gewalt?
279 280
III. Souveränität des BVerfG?
281
IV. Ergebnis
281
C. Kritik an aktivistischer Grundrechtsjudikatur I. Verstoß gegen die eindeutige Bedeutung der Verfassung II. Verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht III. Einengung des einfachen Gesetzgebers
282 283 284 287
1. Konkretisierung
288
2. Abwägung
288
3. Haushaltswirksame Gerichtsentscheidungen
289
4. Grundrechte und einfaches Recht
289
IV. Willkürkritik?
290
V. Thematische Eingrenzung
292
D. Deutschland als Jurisdiktionsstaat?
292
E. Fazit
294
Zweites Kapitel Zur Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation in der verfassungsrechtlichen Methodenlehre
A. „Klassische" Auslegung der Verfassung (Forsthoff) I. Darstellung II. Kritik 1. Die Gesetzesform der Verfassung
295
296 296 297 297
16
Inhaltsverzeichnis 2. Beschränkung auf Savignys Auslegungskanon
298
3. Die Fiktion des syllogistischen Schlusses
299
III. Fazit
301
B. Teleologische Auslegung
302
C. Topik (Ehmke)
303
I. Darstellung II. Vorzüge
303 304
III. Kritik
304
I V Fazit
305
D. Theorie der Rechtsgewinnung (Kriele) I. Darstellung II. Vorzüge
305 305 307
III. Kritik
308
I V Fazit
309
E. Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (Häberle) I. Darstellung II. Vorzüge
309 309 310
III. Kritik
310
I V Fazit
311
F. Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechte (Alexy) I. Darstellung II. Vorzüge III. Kritik
312 312 315 316
Inhaltsverzeichnis IV. Verteidigung
318
V Fazit
321
G. Schlußfolgerung zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation
322
Drittes Kapitel Methodische Grenzen der Verfassungsinterpretation
325
A. Vorbemerkung
325
B. Wort- und Textbedeutung als Grenzen der Verfassungsinterpretation
327
I. Eindeutigkeit der Sprache als Ausnahmefall
328
II. Sprachliche Bedingungen der Wortlautgrenze
330
1. Herkömmliche Lehre a) Larenz' Methodenlehre
331
b) Semantischer Konventionalismus (Koch/Rüßmann)
332
c) Kritik
334
2. Im Vordringen befindliche Lehre a) Strukturierende Rechtslehre (Fr. Müller, Christensen)
335 335
aa) Wörterbücher
336
bb) Sprachgefühl
337
cc) Sprache als soziale Konvention
338
b) Wittgenstein-Rezeption (Depenheuer, Herbert)
340
3. Stellungnahme
341
4. Ergebnis
344
III. Grenzfunktion der eindeutigen Wort- oder Textbedeutung als verfassungsrechtliche Anforderung
2 Riecken
331
345
1. Verfassungsrechtliche Gründe für die Grenzfunktion
346
2. Unübersteigbare Grenzfunktion
348
18
Inhaltsverzeichnis 3. Überwindbare Grenzfunktion
350
a) Rechtsprechung des BVerfG
350
b) Herrschende Lehre
351
4. Ausnahmefallgruppen zur Wortlautgrenze a) Einheit der Verfassung aa) Logische Normwidersprüche
352 352 352
bb) Teleologische Reduktion bei kollidierendem Verfassungsrecht .... 353 b) Konsens
353
c) Materiale Gerechtigkeit
353
aa) Verbindlichkeit des positiven Verfassungsrechts
353
bb) Freiheitsmaximierung
354
cc) Wertungswidersprüche
355
d) Normzweck, Funktion und Zweckmäßigkeit
355
e) Fazit
357
5. Zur Konstruktion der Wortlautgrenze
357
6. Beispielsfälle
358
a) Schutz von Geschäftsräumen nach Art. 13 Abs. 1 GG
358
b) Ungleiche Dauer von Wehr- und Ersatzdienst
359
c) Persönlichkeitsrechte
360
IV. Ergebnisse
C. Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch den Willen des historischen Verfassungsgebers
360
361
I. Objektive Theorie der Interpretation
362
II. Subjektive Theorie der Interpretation
365
1. Zu den sprachtheoretischen Annahmen der subjektiven Theorie
365
2. Begrenzung der Interpretation durch das historisch Gewollte
367
3. Resümee zu Einwänden und Gegeneinwänden
370
III. Stellungnahme
372
Inhaltsverzeichnis D. Begrenzung durch Strukturierende Methodik (Fr. Müller) I. Strikte Normanbindung aller Auslegungselemente II. Rangordnung der Auslegungselemente
19 372 373 374
III. Normbereichsanalyse
375
IV. Ergebnis
376
E. Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht I. Kriterien der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht II. Grenzen der Rechtsfortbildung
377 378 383
1. Wortlautgrenze
384
2. Subjektive Theorie der Interpretation
384
3. Konsensualer Ansatz
385
4. Zur Begrenzung der Rechtsfortbildung durch Verfassungstheorie
386
III. Ergebnis
387
F. Schlußbemerkung zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch Methodik ... 388
Viertes Kapitel Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit
390
A. Vorbemerkung
390
B. Formeller Rechtsstaatsbegriff (Forsthoff)
392
I. Formales Verfassungsverständnis
392
II. Materiales Verfassungsverständnis
393
2* III. Stellungnahme
393
20
Inhaltsverzeichnis
C. Verfassung als „Rahmenordnung" (Böckenförde) I. Darstellung II. Kritik
394 394 396
1. Zum Verfassungsverständnis der Rahmenordnung
396
2. Verzicht auf Abwägung
399
3. Inhaltsermittlung statt Konkretisierung
400
4. Verzicht auf die objektive Dimension der Grundrechte
400
a) Verteidigung der objektiven Dimension
401
b) Begründung grundrechtlicher Schutzrechte
402
aa) BVerfG
402
bb) Literatur
403
cc) Stellungnahme
406
c) Abwehrrechtliche Rekonstruktion der Schutzrechte? III. Ergebnis
D. Demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie I. Darstellung II. Kritik III. Ergebnis
E. Enge Tatbestandstheorie
406 408
408 408 409 410
410
I. Zur Kontroverse zwischen enger und weiter Tatbestandstheorie
410
II. Möglichkeiten einer Verengung grundrechtlicher Schutzbereiche
413
1. Verengung des Schutzbereichs durch methodisch korrekte Verfassungsinterpretation
413
2. Verengung des Schutzbereichs durch abstrakte Abwägung auf Schutzbereichsebene 414 III. Ergebnis
415
Inhaltsverzeichnis F. Begrenzung der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit durch Konsens 416 I. Zum Inhalt konsensualer Ansätze II. Kritik
416 418
III. Ergebnis
421
G. Prozedurale Ansätze
421
I. Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren
422
II. Reduzierte verfassungsgerichtliche Kontrolle bei intensiver Beteiligung der pluralistischen Öffentlichkeit? 422 III. Prozeduralisierung und Diskurstheorie
423
IV. Substitution inhaltlicher Entscheidungen durch Prozeduralisierung
424
V. Ergebnis
427
H. Ergebnis zur Begrenzung durch Verfassungstheorie
427
Fünftes Kapitel Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit A. Political question-Doktrin I. Zum US-amerikanischen Hintergrund
429 429 429
II. Political question-Doktrin in Deutschland?
430
III. Zur Unterscheidung von Recht und Politik
432
IV. Ergebnis
432
B. Judicial self-restraint I. Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung? II. Verzicht auf obiter dicta
433 433 434
22
Inhaltsverzeichnis
C. Funktionell-rechtliche Spielräume des Gesetzgebers I. Begriff und Wirkungsweise des Spielraums
436 436
1. Strukturelle Spielräume
437
2. Funktionale Spielräume
438
3. Spielräume bei Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen des Gesetzgebers 438 4. Wirkungsweise der Spielräume II. Begründung und Konstruktion von Spielräumen
439 439
1. Materiell-rechtlicher Ansatz
440
2. Funktionell-rechtliche Ansätze
443
a) Gewaltenteilung als Funktionsverteilung
444
b) Beschränkung des BVerfG auf Kontrolle
445
c) Beschränkung des BVerfG auf Kassation (Heun)
447
d) Beschränkung des BVerfG durch die Organstruktur (Rinken)
448
aa) Darstellung
448
bb) Kritik
450
cc) Fazit
452
e) Ergebnis 3. Vermittelnde Ansätze a) Differenzierung nach Handlungs- und Kontrollnorm (Hesse)
452 453 453
aa) Darstellung
453
bb) Kritik
454
cc) Bedenken gegenüber der Divergenzlösung
455
dd) Konvergenzlösung als Alternative?
457
ee) Modifizierte Konvergenzlösung im Regel-Prinzipien-Modell
459
ff) Ergebnis
459
b) Kompetenzieller Ansatz (Alexy, Sieckmann, Raabe)
460
aa) Spielräume als Anforderung des Demokratieprinzips
460
bb) Funktionale Reduktion von grundrechtlichen Anforderungen
461
cc) Kritik und Verteidigung
463
Inhaltsverzeichnis dd) Legislative Einschätzungs-, Prognose- und Abwägungsspielräume
464
(1) Begründung
465
(2) Unsicherheit als Voraussetzung eines Spielraums
467
(3) Kriterien zur Bestimmung des Spielraumumfangs
467
ee) Kritik und Verteidigung
472
ff) Ergebnis
473
III. Das Beispiel grundrechtlicher Schutzpflichten
474
1. Zustimmung zum Ob des schutzrechtlichen Spielraums
474
2. Rechtsprechung des BVerfG zum Umfang des Spielraums
475
3. Abstrakte Bestimmung von Rechtsfolge und Spielraum?
478
a) Verpflichtung zu effektivem Schutz
478
b) Regeln zum Schutzumfang
478
aa) Maximales Schutzniveau
479
bb) Minimales Schutzniveau
479
c) Ergebnis 4. Bestimmung des Schutzumfangs durch Abwägung a) Schutzrechte als Prinzipien
482 483 483
aa) Schutzniveau
483
bb) Schutzmaßnahmen
485
cc) Untermaßverbot
485
b) Spielraum im Dreiecksverhältnis
487
c) Spielraum im zweiseitigen Verhältnis
488
5. Zum Umfang des Spielraums bei Schutzrechten
489
a) Minimalschutz als Untergrenze des Spielraums
489
b) Flexibler Spielraum
490
c) Argumentationslast zugunsten eines weiten Spielraums
490
d) Ergebnis
492
6. Beispielsfall Schwangerschaftsabbruch
D. Ergebnis zur Begrenzung durch funktionell-rechtliche Ansätze
492
494
24
Inhaltsverzeichnis
Schlußbemerkung zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit
495
Zusammenfassung des zweiten Teils
497
Anhang
506
Literaturverzeichnis
507
Personen Verzeichnis
530
Sachwortverzeichnis
532
*
Übersetzungen von englischsprachigen Zitaten stammen vom Verfasser, sofern nichts anderes angegeben ist. Die Abkürzungen und die Zitierweise zur US-amerikanischen Literatur und Rechtsprechung orientieren sich am Bluebook, A Uniform System of Citation.
Einführung A. Gegenstand der Untersuchung Wo liegen die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit bei der Interpretation des Grundrechtsteils einer Verfassung? Gibt es überhaupt noch Grenzen angesichts der „Offenheit" und Flexibilität, wie sie für Grundrechtsnormen typisch ist? Läßt sich aufgrund des Methodenpluralismus und eines fehlenden Konsenses im Bereich der Grundrechts- und Verfassungstheorie letztlich so gut wie alles vertreten? Wie weit darf das Verfassungsgericht die Verfassung im Zuge der Konkretisierung 1 nicht nur „anwenden", sondern auch fortbilden, etwa indem es neue Dimensionen der Grundrechte erfindet? Die Welle massiver Kritik, die im vergangenen Jahrzehnt nach kontroversen Entscheidungen, etwa zur Meinungsfreiheit („Soldaten sind Mörder" 2 ), zur Religionsfreiheit (Kruzifix im Klassenzimmer3) und zum Schwangerschaftsabbruch 4 über das BVerfG hereinbrach, verdeutlicht, wie problematisch die Bindung an die Verfassung als Brücke zwischen Verfassungsrechtsprechung und verfassungsgerichtlicher Legitimität ist. Die Frage, welchen Grenzen die Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie unterliegt, stellt auf einen Ausschnitt dieser Verfassungsbindung ab. Die Grenzproblematik ist jedoch angesichts der Uneindeutigkeit der Verfassung in schwierigen Fällen stets vorhanden, nicht nur dann, wenn das Verfassungsgericht unpopuläre Entscheidungen fällt. Deshalb hat die Frage nach den Grenzen der verfassungsgerichtlichen Interpretation und Kontrolle in methodologischer, verfassungstheoretischer, rechtsphilosophischer und letztlich 1 Unter Konkretisierung wird im folgenden der schöpferische Vorgang verstanden, mit dem eine „offene" Norm der Verfassung (dazu allg. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 19, 23 f., 50) unter Berücksichtigung der anerkannten Auslegungsmethoden inhaltlich soweit präzisiert und dabei gegebenenfalls auch fortgebildet wird, daß sie einen Prüfungsmaßstab für einen heute zu entscheidenden Fall aus dem Verfassungsrecht abgibt (vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 60 ff.; Brugger, AöR 119 (1994), S. 1 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1676, 1712 ff.). Neben Konkretisierung werde ich gleichbedeutend von Interpretation sprechen, wobei der Begriff der Konkretisierung die Problemorientierung der Interpretation und ihren Einzelfallbezug besonders hervorhebt (vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 64). Soweit nachfolgend von Auslegung die Rede ist, werden damit strukturelle Unterschiede zwischen Gesetzesauslegung und Verfassungsinterpretation nicht in Abrede gestellt. Vgl. aber auch Brugger, Konkretisierung, AöR 119 (1994), S. 22, 30 f., der die spezifischen Prinzipien der Verfassungsinterpretation, wie sie insbesondere Hesse, Grundzüge, Rdnr. 70 ff., vertritt, in den klassischen Viererkanon der Auslegungsmethoden einordnet.
2 BVerfGE 93, 266 ff. 3 BVerfGE 93, 1 ff. 4 BVerfGE 88, 203 ff.
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Einführung
erkenntnistheoretischer Hinsicht eine viel tiefere, beunruhigendere Dimension, als es die Kritik am einzelnen Fall vermittelt. In der US-amerikanischen Verfassungstheorie zeigt sich zumeist ein aggressiverer Umgang mit dem Problem verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Der dem Mehrheitsprinzip zuwiderlaufende Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit, der mit dem Schlagwort der „countermajoritarian difficulty" umschrieben wird, ist das klassische Paradigma der jenseits des Atlantik geführten und in neuerer Zeit auch in Deutschland stärker beachteten Debatte über Reichweite und Grenzen verfassungsgerichtlicher Macht5. Der Supreme Court 6 der Vereinigten Staaten von Amerika wird vielfach als gegenmehrheitliche, zuweilen sogar als antidemokratische Institution und damit als Systemfehler in der Verfassungsordnung wahrgenommen. Auch wenn man diese Sichtweise für einseitig hält 7 , lenkt die amerikanische Diskussion den Blick zu Recht auf das Demokratieprinzip als Sitz der Legitimitätsproblematik eines Verfassungsgerichts. Bei einer so akzentuierten Zuspitzung des Konflikts von Mehrheitsdemokratie und Grundrechten, von Parlament und Verfassungsgericht, darf man weiterführende Einsichten zur Grenzproblematik erwarten. Mit der Theorie der Repräsentationsoptimierung hat John Hart Ely in den USA einen vielversprechenden Ansatz entwickelt, der mit einem Modell prozeduraler Kontrolle die Verfassungsgerichtsbarkeit stärken und zugleich begrenzen will. Im Ergebnis hält Ely - wie etwa in Deutschland Böckenförde - eine allumfassende Verfassungsgerichtsbarkeit, die mit ihren Entscheidungen sämtliche Lebensbereiche durchdringt und mit faktisch unwandelbaren verfassungsrechtlichen Vorgaben imprägniert, für bedenklich. Durch den Rückzug auf die prozedurale Kontrolle soll der politische Prozeß gestärkt werden, ohne daß dabei die in der US-Verfassung ausdrücklich gewährten grundrechtlichen Freiheiten sowie der Schutz von Minderheiten vernachlässigt würden. Ob die repräsentationsoptimierende Theorie eine anschlußfähige Begrenzung des Verfassungsgerichts leistet, wird im ersten Teil der vorliegenden Arbeit untersucht.
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Vgl. nur Bichel , The Least Dangerous Branch, 1962. Der Supreme Court ist bekanntlich kein reines Verfassungsgericht, sondern fungiert darüber hinaus auch als oberstes Bundesgericht, wie dies seine englische Bezeichnung nahelegt (vgl. Art. III, See. 2 US-Verfassung). Scalia, A Matter of Interpretation, 1997, S. 13, hält dazu fest: „Ich würde schätzen, daß selbst im Supreme Court weniger als ein Fünftel der Probleme, mit denen wir konfrontiert sind, verfassungsrechtlicher Art sind. Wenn man strafrechtliche Fälle ausschließt, handelt es sich wahrscheinlich um weniger als ein Zwanzigstel." Die Zuständigkeit des Supreme Court für die inzidente verfassungsrechtliche Normenkontrolle (vgl. Marbury v. Madison, 5 U.S. [1 Cranch] 137 ff. [1803]; dazu Brugger, Grundrechte, S. 5 ff.) rechtfertigt es aber, ihn im Rahmen der vorliegenden Darstellung als Verfassungsgericht zu bezeichnen. Ebenso Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 3 Fn. 6. 6
7 Ausgewogen z. B. Tribe , American Constitutional Law, S. 307: „A realistic analysis of judicial and political institutions, however, might suggest that the dichotomy [between a democratic political process and an antidemocratic adjudicatory process] is greatly exaggerated."
Einführung
Eine kritische Auseinandersetzung mit der US-amerikanischen Literatur zu Ely ist auch deshalb angebracht, weil die Rezeption seiner Theorie in der deutschen Literatur nach verdienstvoller Grundlegung durch Winfried Brugger in den achtziger Jahren nunmehr weit vorangeschritten ist 8 . Jürgen Habermas, Martin Vocke und Oliver Gerstenberg haben in den neunziger Jahren auf Elys Theorie zugegriffen, um ein prozeduralistisches Verfassungsverständnis fortzuführen 9. In neuerer Zeit wird Elys Theorie in den sehr unterschiedlich angelegten Arbeiten von Markus Schefer, Ulrich Haltern und Cornelius Simons rezipiert 10. Die Arbeit versucht, durch eine umfassende Analyse und Bewertung der Theorie klarzustellen, wofür Ely zu Recht in Anspruch genommen werden kann, und beugt damit auch Verkürzungen und Mißverständnissen aus deutscher Sicht vor. Im zweiten Teil will die Arbeit die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit im deutschen Kontext ausloten, wobei sich der demokratische Impetus der Untersuchung Elys Theorie verpflichtet fühlt. Die Grenzproblematik knüpft in normativer Hinsicht an die demokratische Ordnung des Grundgesetzes an. In einer Demokratie erscheint es selbstverständlich, daß ein Gericht - auch ein Verfassungsgericht Grenzen unterliegt. Die vorliegende Untersuchung verfolgt diese Prämisse in zwei Richtungen. Zum einen soll der Ist-Zustand untersucht werden, wobei zu fragen ist, ob und inwieweit wirksame und durchführbare Grenzen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit bestehen. Im Anschluß an diese Diagnose zur Grenzwirkung einzelner Elemente sollen Überlegungen zum Soll-Zustand angestellt werden. Dazu ist aus normativer Perpektive zu untersuchen, ob und inwieweit die jeweilige Begrenzung angemessen erscheint, wobei dem demokratiebezogenen Aspekt besondere Aufmerksamkeit zugewendet wird.
8 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 363 ff., 367 ff.; sowie ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 179 ff., 185 f.; ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 580, 589; ders., Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 333 f.; ders., Ruperto Carola 3/1994, S. 23. Vgl. auch Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, S. 157 ff. 9 Vgl. Habermas , Faktizität und Geltung (Erstaufl. von 1992), insb. S. 321 ff., 333; Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, 1997, S. 84 ff. Vgl. auch Calliess, Prozedurales Recht, 1999, S. 114; ferner Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung: Grundlegung zu einer prozeduralen Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1995, S. 130 ff., 141, 145 f. Aus der älteren Lit. ist vor allem auf Goerlich, Staat 20 (1981), S. 454 ff.; ders., Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, hinzuweisen. Siehe dazu unten 3. Kap., zu C. II. 10 Vgl. Schefer, Konkretisierung, 1997, S. 241 ff., 453 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, 1998, S. 130 f., 256 ff. u.ö.; ders., Staat 36 (1996), S. 559 f.; Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, 1999, S. 315 ff.
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Einführung
B. Überblick zum Aufbau der Arbeit I. Elys prozedurale Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle Der erste Teil der Arbeit untersucht die Theorie der Repräsentationsoptimierung, wie sie Ely vor allem in „Democracy and Distrust" entfaltet hat 11 . Im ersten Kapitel wird die Theorie in ihrem US-amerikanischen Umfeld dargestellt. Das zweite Kapitel ist einer Analyse von Elys Prämissen, insbesondere in methodischer, verfassungstheoretischer und rechtsphilosophischer Hinsicht, gewidmet. Im dritten Kapitel wird im Hinblick auf die Anschlußfähigkeit der Theorie geprüft, inwieweit sie unter Berücksichtigung der umfangreichen Kritik in der amerikanischen Literatur noch als durchführbar und angemessen gelten kann. Die Angemessenheit erschließt sich im wesentlichen durch eine Auseinandersetzung mit einigen wichtigen konkurrierenden Strömungen der amerikanischen Verfassungstheorie. Als Testfall zu Elys Theorie wird die Untersuchung wiederholt auf das in den USA höchst problematische Recht auf freie Persönlichkeitsentfaltung eingehen. Nach repräsentationsoptimierendem Verfassungsverständnis ist die „Erfindung" neuer Freiheitsgrundrechte unzulässig. Ist Elys Theorie darum freiheitsfeindlich? Läßt sich ein Verlust an Freiheit gegebenenfalls durch einen Gewinn an Demokratie aufwiegen? Es bedarf kaum gesonderter Erwähnung, daß die US-Verfassung diese Fragen nicht ausdrücklich entscheidet. Die Untersuchung von Elys Theorie schließt mit einem Ausblick auf ihre Rezeption in Deutschland und Schlußfolgerungen für den deutschen Teil.
II. Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland Zur Diagnose des Ist-Zustands verfassungsgerichtlicher Grenzen in Deutschland möchte ich im zweiten Teil der Arbeit zunächst einen kritischen Blick auf die Entwicklung von Verfassungsrechtsprechung, Methodenlehre, Grundrechtstheorie und -dogmatik werfen. Dabei wird sich herausstellen, daß eine Tendenz zu einer Ausweitung der Wertungsspielräume des Interpreten besteht, über die dieser bei der Konkretisierung und Fortbildung der Verfassung verfügt. Die Grundrechtsinterpretation ist aufgrund von weiten Wertungsspielräumen durch hohe Flexibilität gekennzeichnet. Diese Flexibilität ermöglicht auch die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht, durch die neue Grundrechte und Grundrechtsfunktionen erfunden werden. Die Kehrseite dieser Spielräume scheint eine Einbuße an Verfassungsbindung und die mangelnde Voraussehbarkeit der Ergebnisse im Einzelfall zu sein. Der Spielraum des Verfassungsinterpreten kann sich aber unter methodologischen Gesichtspunkten und unter dem Aspekt des Freiheitsschutzes vielfach auf gute Gründe stützen und darf deshalb nicht einseitig als Verlust an Rechtssicherheit oder als 11 Vgl. Ely, Democracy and Distrust. A Theory of Judicial Review, 1980 (das Buch wird im folgenden zitiert als: Ely, Seitenzahl).
Einführung
Einschränkung des Gesetzgebers beklagt werden. Da jedoch dem BVerfG eine nahezu uneingeschränkte Konkretisierungskompetenz zusteht, die gerade auch Gerechtigkeit verbürgende materiale Letztwerte der Verfassung wie Freiheit und Gleichheit einschließt, scheint ein Widerspruch zwischen dem Erfordernis verfassungsgerichtlicher Grenzen als einer Voraussetzung von legitimer Verfassungsrechtsprechung einerseits und dem augenscheinlichen Fehlen oder jedenfalls dem höchst ungewissen Verlauf ebendieser Grenzen andererseits zu entstehen. Angesichts der Komplexität der diesem Dilemma zugrundeliegenden Fragen sind Erkenntnisfortschritte nur mit Hilfe eines differenzierten Vorgehens zu erwarten. Der Schwerpunkt der Arbeit untersucht deshalb einzelne methodische, verfassungstheoretische und funktionale Elemente einer Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit auf ihre Leistungsfähigkeit, wobei diese drei Bereiche notwendig ineinander verschränkt sind. In diesem Rahmen werden verschiedene Ansätze der deutschen Literatur vorgestellt, die eine Begrenzung des BVerfG im Verhältnis zum Gesetzgeber durch Einschränkung der verfassungsgerichtlichen Prüfungsund Verwerfungskompetenz vornehmen. Nur am Rande geht es mir um die vor allem als Deskription taugliche Unterscheidung von Zurückhaltung und Aktivismus des Verfassungsgerichts, also um „judicial (seif-) restraint" versus „judicial activism". Auch die Trennung von Recht und Politik informiert zwar das Problemverständnis, führt aber für sich genommen nicht zu handlungsanleitenden Grenzen. Das läßt sich exemplarisch am gescheiterten Versuch einer dogmatischen Umsetzung dieser Dichotomie in Gestalt der USamerikanischen political question-Doktrin zeigen. Schließlich sollen institutionelle Grenzen, die sich aus der Gerichtsförmigkeit des Verfahrens ergeben, nur kurz behandelt werden, weil diese zwar nicht unbedeutend sind, jedoch die methodischen, verfassungs- und erkenntnistheoretischen Probleme der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht lösen und im übrigen die gegenwärtige Entwicklung zu einer starken Verfassungsgerichtsbarkeit - ob man sie nun pejorativ als Marsch in den „Jurisdiktionsstaat" 12 bezeichnet oder anerkennend als liberale Grundrechtsjudikatur würdigt - nicht verhindert haben13. Im Anschluß an die Analyse des Ist-Zustands ist das jeweils untersuchte methodische, theoretische oder funktionale Grenzelement normativ zu bewerten und ggfs. weiterzuentwickeln, wobei hier der Wert einer Begrenzung unter demokratischem Aspekt besondere Berücksichtigung findet. Das Demokratieverständnis des Verfassers, das die Untersuchung der verfassungsgerichtlichen Grenzen in Deutschland inspiriert, ist durch Elys Theorie geschärft, aber mit ihm nicht identisch. Deshalb geht es dieser Arbeit nicht darum, mit radikalen Vorschlägen hervor12 Böckenförde, 13
Staat 29 (1990), S. 25, 29.
Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 775 (1991): ,,[T]hese checks and balances certainly ensure that Supreme Court Justices will not behave like Martians. Short of that, however, history has not shown these structural constraints to be particularly intimidating to countermajoritarianminded judges." (Fußnote weggelassen)
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Einführung
zutreten, indem etwa wesentliche Teile der etablierten Grundrechtstheorie über Bord geworfen würden. Vielmehr ist den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit nachzuspüren, denen diese auch dann noch unterworfen werden kann, wenn man im Grundgesetz ein Prinzipiengefüge sieht. Das von mir gewählte Vorgehen ist induktiv, weil Analyse und Bewertung von einzelnen Elementen der Methodik und der Verfassungstheorie ausgehen, die die Konkretisierung von Grundrechten begrenzen. Dabei können nicht alle denkbaren Diskursebenen behandelt werden, auf die bei der Suche nach letzten Grenzen und Begründungen im Wege eines unendlichen Regresses Zugriff zu nehmen wäre. Eine theoretisch umfassende Untersuchung von Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit würde sich mühelos vom Verfassungsrecht über die Verfassungstheorie in die politische Theorie, Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie emporschwingen, um letztlich zu anthropologischen Grundlegungen zu gelangen, womit nur eine mögliche Richtung des Erkenntnisinteresses angedeutet sei 14 . Dieser Aufwand würde sich im Rahmen der Grenzproblematik lohnen, wenn auf höherer Abstraktionsebene vergleichsweise größere Erkenntnissicherheit und Konsensfähigkeit herrschen würden. Dies ist jedoch nicht der Fall. Vielmehr sind Fragen zur Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle letztlich genauso umstritten wie solche zur politischen Theorie im demokratischen Rechtsstaat oder zu dem von der Verfassung vorausgesetzten Menschenbild. Zum Beispiel kann es für die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit nicht gleichgültig sein, ob ein positivistischer oder ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff verwendet werden soll. Selbst wenn man jedoch eine informierte Entscheidung zwischen beiden Schulen gefällt hätte, wären damit die in dieser Arbeit behandelten Fragen zur Reichweite verfassungsgerichtlicher Kontrolle nicht beantwortet. Damit soll nicht bestritten werden, daß die diversen Metaebenen der Analyse wichtige Erkenntnisse zur im engeren Sinne verfassungstheoretischen Diskussion beitragen können. Es wäre aber verfehlt, von dort eine autoritative Lösung zu erwarten. Überlegungen zur Grenzproblematik, die auf der Ebene der Legitimität von Verfassungsgerichtsbarkeit in der Demokratie angesiedelt sind, können ihrerseits nicht beanspruchen, Fragen der Metaebene zu entscheiden. Sie bleiben aber ein unverzichtbarer Bestandteil in der Diskussion um Verfassungsgerichtsbarkeit. Da die Arbeit die Grenzen der Verfassungsinterpretation allgemein untersucht, besteht ihr Ziel nicht in einem geschlossenen verfassungstheoretischen Entwurf, auch wenn sich im Zuge meiner Stellungnahmen zu den verschiedenen Grenzelementen eine eigene Position herauskristallisiert. Für die Suche nach anschlußfähi14 Auf das Menschenbild als letzte Begründungsstufe rekurriert z. B. im Hinblick auf die US-Verfassung Brugger, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 415 ff., 418 ff. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 199 ff., unterscheidet drei im Abstraktionsgrad ansteigende Analyseebenen: (1) Verfassungsdogmatik, (2) Legitimation und Legitimität von Verfassungsrecht und -gerichtsbarkeit und (3) um das Menschenbild und Identitäten zentrierte Fragen hinsichtlich des „Gesamtentwurfes von Herrschaft, Macht, Teilnahme und Handlung" (ibid., S. 203, näher zum Menschenbild S. 273 ff.).
Einführung
gen Grenzen erscheint daher die Beschäftigung mit einzelnen begrenzenden Strategien fruchtbarer als die Verengung auf eine bestimmte Theorie. Die Arbeit wird an verschiedenen Stellen konkrete Folgen einer sinnvollen Begrenzung in den Blick nehmen, um so den Bogen von der Verfassungstfieöne zum Verfassungsrecht zu spannen. Als Testfälle für die Begrenzung des Verfassungsgerichts dienen auch hier das allgemeine Persönlichkeitsrecht sowie das Recht auf Abtreibung bzw. der Schutz des ungeborenen Lebens. Anhand der grundrechtlichen Schutzpflichten wird schließlich ein eigener funktionell-rechtlicher Ansatz zur Grenzproblematik entfaltet.
Erster Teil
„Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie der Repräsentationsoptimierung Einleitung Wer sich mit US-amerikanischer Verfassungstheorie beschäftigt, kann nicht umhin, sich mit „Democracy and Distrust" von John Hart E l y 1 auseinanderzusetzen. Das 1980 erschienene Buch zählt zu den wichtigsten Werken der amerikanischen Verfassungstheorie 2 . Es hat die Diskussion über Verfassungsgerichtsbarkeit in den achtziger Jahren geprägt und hierzu einen eigenen Ansatz etabliert, der bis heute fortwirkt. Das Buch hat eine Publikationsflut ausgelöst und war Gegenstand von drei bedeutenden Symposien 3 . Neben einer Fülle von Aufsätzen widmen sich zahlreiche Buchbesprechungen Elys Vorschlägen 4 . Auszüge aus „Democracy and Dis-
1 Ely graduierte 1963 an der Yale Law School und arbeitete 1964/65 als „law clerk" für Chief Justice Earl Warren. Nach dem Start seiner akademischen Karriere in Yale war er Professor an der Harvard Law School, später Dean der Stanford Law School. Gegenwärtig ist er Professor an der Miami Law School. Vgl. zur Biographie z. B. die Hinweise bei Feerick, 73 Notre Dame L. Rev. 218 f. (1997). Vgl. auch Dershowitz, 40 Stan. L. Rev. 360 f. (1988). 2 Vgl. etwa Ortiz , 77 Va. L. Rev. 721 (1991): „Few, if any, books have had the impact on constitutional theory of John Hart Ely's Democracy and Distrust. " (Fn. und Hervorhebung weggelassen); Perry, The Constitution in the Courts, S. 180, 193; Klarman, 11 Va. L. Rev. 747 (1991). 3 Symposium : Constitutional Adjudication and Democratic Theory, 56 N.Y.U. L. Rev. 259 ff. (1981); Symposium : Judicial Review versus Democracy, 42 Ohio St. L.J. 1 ff. (1981); Symposium on Democracy and Distrust: Ten Years Later, 77 Va. L. Rev. 631 ff. (1991). 4 Im Jahre 1982 verkündet Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 7, das Erscheinen der einhundertsten Besprechung. Häufig zitiert werden Cox, A., 94 Harv. L. Rev. 700 ff. (1981); Estreicher, Platonic Guardians of Democracy: John Hart Ely's Role for the Supreme Court in the Constitution's Open Texture, 56 N.Y.U. L. Rev. 547 ff. (1981); Fleming, 80 Mich. L. Rev. 634 ff. (1982); haycock, Taking Constitutions Seriously: ATheory of Judicial Review, 59 Tex. L. Rev. 343 ff. (1981); Leedes, 59 N.C. L. Rev. 628 ff. (1981); Lupu, Choosing Heroes Carefully, 15 Harv. C.R.-C.L. L. Rev. 779 ff. (1980); Lynch, 80 Colum. L. Rev. 857 ff. (1980); O'Fallon, 68 Cal. L. Rev. 1070 ff. (1980). Vgl. darüber hinaus z. B. Arnold, 93 Ethics 615 ff. (1983); Boudin, 67 Va. L. Rev. 1251 ff. (1981); Chemerinsky, 17 Wake Forest L. Rev. 701 ff. (1981); Conant, 34 Vand. L. Rev. 233 ff. (1981); Cox, P., 15 Val. U. L. Rev. 637 ff. (1981); Dunne, 80 Mich. L. Rev. 652 ff. (1982); Fickle, 56 Ind. L.J. 637 ff. (1981); Gerety, 42 U. Pitt. L. Rev. 35 ff. (1980); Goerlich, Staat 20
Einung
trust" - etwa die beeindruckende Kritik der herrschenden Lehre - haben ihren Weg in die einflußreiche Ausbildungsliteratur der „casebooks" gefunden 5. In den letzten Jahren ist die Diskussion um Elys Theorie weitgehend zum Stillstand gekommen, auch wenn sie in neuesten Arbeiten zur Verfassungstheorie weiterhin behandelt oder jedenfalls angesprochen wird 6 . Dies erlaubt es allerdings nicht, die Diskussion um Elys Ansatz im Archiv der Verfassungsgeschichte abzulegen. Sein konstruktiver Beitrag zur amerikanischen Verfassungstheorie befruchtet die Diskussion bis heute7. Vor allem der prozedurale Ansatz stellt einen Meilenstein in der Diskussion um die verfassungsgerichtliche Legitimität dar, auch wenn der Aktualitätswert seiner Theorie mit gegenwärtigen Strömungen nicht mithalten kann. Soweit Elys Prozeduralismus widerlegt worden ist, ist dies allein aus noch darzulegenden Gründen eine wichtige Einsicht von bleibendem Wert für die zukünftige Diskussion. Die bedeutende Stellung von „Democracy and Distrust" im Kosmos US-amerikanischer Verfassungstheorie muß umso mehr erstaunen, als Elys Theorie der Repräsentationsoptimierung zu keinem Zeitpunkt eine herrschende Strömung war. Es fällt sogar ausgesprochen schwer, Anhänger der Theorie ausfindig zu machen8. Klarman hat zwar in einem wichtigen Aufsatz von 1991 einen Teil von Elys Lehre zu verteidigen versucht9. Jedoch würde Ely diesem Ansatz unzweifelhaft nicht zustimmen, da Klarman in einer Art Rückzugsstrategie einen wesentlichen Teil von Elys ursprünglichem Ansatz aufgibt. Zu ergänzen ist, daß sich weder der Supreme Court als solcher noch einzelne Richter oder Richterinnen die Theorie der Repräsentationsoptimierung als solche zu eigen gemacht haben. Ely selbst hat seine Theorie nur sehr halbherzig gegen Angriffe aus der Literatur verteidigt 10 . Das gilt auch für sein neuestes Buch, „On Constitutional Ground", aus dem Jahre 199611.
(1981), S. 454 ff.; Hovekamp, 8 Hastings Const. L.Q. 444 ff. (1981); Kay, 13 Conn. L. Rev. 203 ff. (1980); Levinson, 59 Tex. L. Rev. 395 ff. (1981); Matricciani, 39 Md. L. Rev. 808 ff. (1980); Murphy, P., 65 Minn. L. Rev. 158 ff. (1980); O'Brien, 48 U. Chi. L. Rev. 1052 ff. (1981); Thompson, 17 Harv. J. on Legis. 385 f. (1980); Veron, 56 Tul. L. Rev. 447 ff. (1981); Whitten, 13 Creighton L. Rev. 1479 ff. (1980). 5 Vgl. etwa Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 43, 575 f., 765 f. U.Ö.
6 S. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, 1999, S. 158 ff.; Sunstein, One Case at ATime, 1999, S. 7 ff.; Tribe, American Constitutional Law, 3. Aufl., 2000, S. 3, 47, 76 f. (Die Arbeit zitiert stets diese Auflage, wenn nicht ausdrücklich von der Vorauflage die Rede ist.) 7 Vgl. aber Tushnet, 11 Va. L. Rev. 631 ff. (1991). 8
Zustimmung bei Dershowitz, 40 Stan. L. Rev. 365 (1988), der aber Einwände gegen Elys Theorie nicht diskutiert, auf deutscher Seite bei Goerlich, Staat 20 (1981), S. 454; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 2, 133, 145. Wie im Text Ely, 11 Va. L. Rev. 854 Fn. 57 (1991): ,,[F]ew people appear to agree with me". 9 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 747 ff. (1991). Siehe dazu unten 3. Kap., C. I. 10 Ebenso Klarman, 11 Va. L. Rev. 748 (1991). Vgl. dazu Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 397 (1981). Ansätze von Gegenwehr bei Ely, 11 Va. L. Rev. 833 ff. (1991). 11
Vgl. dazu die Besprechung von Feerick, 73 Notre Dame L. Rev. 213 ff. (1997).
3 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Der Sammelband spiegelt Elys Lebenswerk in Auszügen wider, ohne eine Antwort auf seine Kritiker zu enthalten. Die Wirkung von Elys Theorie begründet sich daher weniger in ihrer mehr als spärlichen Gefolgschaft, sondern vielmehr in ihrem Anspruch, einen goldenen Mittelweg gefunden zu haben, der aus der vermeintlichen Pattsituation herausführt, in der sich 1980 die beiden wichtigsten Lager der US-amerikanischen Verfassungstheorie befanden und im wesentlichen auch heute noch befinden 12. Nach der hier verwendeten Terminologie heißen die beiden Kontrahenten Originalismus und Non-Originalismus. Der Originalismus hat zwei Spielarten, den Textualismus und den Intentionalismus. Textualismus versucht, Verfassungsinterpretation im wesentlichen als grammatische Auslegung zu betreiben, und will die verfassungsgerichtliche Kontrolle zumeist auf das einigermaßen „spezifisch" Gesagte beschränken. Die originalistische Variante des Textualismus legt die Textinterpretation zusätzlich auf das historische Sprach Verständnis bzw. die historische Bedeutung fest 13 . Intentionalismus14 versucht, die Interpretation an das historisch Intendierte oder das einigermaßen spezifisch Gewollte anzubinden15. Beim Non-Originalismus handelt es sich wohlgemerkt um eine Sammelbezeichnung für eine Reihe von Theorien, die der Verfassung auch dann nichtprozedurale Inhalte entnehmen, wenn diese nicht einigermaßen spezifisch im Wortsinn oder im historisch Gewollten an-
12 Ähnlich Ortiz, 77 Va. L. Rev. 722, 723 ff. (1991). 13
Als prominenter Vertreter der Theorie des „original meaning" kann vor allem Antonin Scalia angeführt werden, vgl. ders., A Matter of Interpretation, 1997. Theorien der „ursprünglichen Bedeutung" sind als textualistische Ansätze mit dem Intentionalismus zwar nicht identisch, aber doch eng verwandt: Textualismus stellt auf die (historische) Bedeutung des Textes ab, Intentionalismus allein auf den Willen des Normgebers. Näher dazu unten 3. Kap., B. II. 2. 14 Um Verwechslungen vorzubeugen, wird hier nur dann von Intentionalismus gesprochen, wenn es auf das historisch Gewollte bzw. den Willen des historischen Verfassungsgebers im Sinne der genetischen Auslegung ankommt. Intentionalismus wird in der Lit. auch als Originalismus oder Interpretivismus bezeichnet. Statt des hier verwendeten Oberbegriffs Originalismus faßt Ely Intentionalismus und Textualismus als Interpretivismus zusammen. Dabei stellt er seine eigene Theorie ein Stück weit als Textualismus dar, während seine Kritik dem von ihm abgelehnten Intentionalismus gilt (Vgl. Ely, S. 11 ff.). Diese Ambivalenz spricht dagegen, unter Interpretivismus bei Ely allein den Intentionalismus zu verstehen. Vgl. zur Terminologie auch Brugger, JöR N.F. 42 (1994), 580, 583; ders., Grundrechte, S. 345; Perry, 77 Va. L. Rev. 669 ff. (1991); Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 759 f. Im Uberblick stellt sich die in der vorliegenden Arbeit verwendete Terminologie so dar: Originalismus Textualismus
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Historische Textbedeutung
Non-Originalismus
Intentionalismus
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Gegenwartsbedeutung
Wille des historischen Normgebers
Ein wichtiger Vertreter des Intentionalismus ist Robert Bork, vgl. ders., The Tempting of America, 1990. Zu ihm näher unten 3. Kap., B. II. 2. b) bb).
Einleitung
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gelegt sind 1 6 . Ely meint nun, daß seine Theorie alle Nachteile vermeiden könne, für die er seine originalistischen und nichtoriginalistischen Opponenten in der ersten Hälfte seines Buches mit scharfsinniger und wirkungsmächtiger Kritik überzieht 1 7 . In der zweiten Hälfte seines Buches positioniert er seine eigene Theorie in der gedanklichen Mitte zwischen den beiden feindlichen Lagern. Die gegenwärtige Lage der Verfassungstheorie stellt sich ohne Zweifel komplexer dar als noch i m Jahre 1980. Es konkurrieren eine Vielzahl von Strömungen miteinander 1 8 . Beispielhaft genannt seien etwa Critical Race Theory und Feminismustheorie als neuere Ableger der Critical Legal Studies (CLS), die ökonomische Analyse des Rechts, pragmatischer Minimalismus 1 9 und Populistisches Verfassungsrecht 20 . Nicht alle aktuellen Strömungen können hier erwähnt, geschweige denn diskutiert werden, weil dies von Elys Theorie ablenken würde 2 1 . Daher ist eine Auswahl zwingend notwendig. Die Arbeit beschränkt sich i m wesentlichen auf die von Ely angegriffenen Lager Originalismus und Non-Originalismus, weil der Dichotomie auch in der Gegenwart weiterhin große Bedeutung zukommt 2 2 . Zwanzig Jahre nach „Democracy and Distrust" können beide Schulen immer noch oder wieder bedeutende Vertreter aufbieten. Für den Originalismus 2 3 sind dies bei-
16 Zwei bedeutende (und höchst unterschiedliche) Vertreter dieses Lagers sind Ronald Dworkin und Laurence Tribe. Vgl. nur Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, und Tribe, American Constitutional Law, etwa S. 19: „The Constitution [...] is a means to the realization of encompassing procedural and substantive ends..(Hervorhebung von J. R.). Zu dieser Richtung näher unten 3. Kap., B. II. 3. a). 17 Vgl. Ortiz, 11 Va. L. Rev. 722 (1991).
is Überblick bei Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 571 ff., insb. S. 580. Vgl. aus neuester Zeit den von Larry Alexander herausgegebenen Sammelband „Constitutionalism" mit Beiträgen von Jeremy Waldron, Jed Rubenfeld, Richard Kay, Michael Perry, Frank Michelman, Joseph Raz und Lawrence Sager. Vgl. dazu die Besprechung von Brugger, Staat 39 (2000), S. 425 ff. Aktuelles verfassungstheoretisches Schrifttum erschließt sich ferner über die Fußnoten des Lehrbuchs von Tribe, American Constitutional Law. 19 Sunstein, One Case at A Time: Judicial Minimalism on the Supreme Court, 1999. 20 Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, 1999. 21 Zu weiteren bedeutenden Positionen der amerikanischen Verfassungstheorie vgl. die aktuellen und informativen Arbeiten von Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, insb. S. 55 ff., 186 ff., 241 ff., 280 ff.; sowie Schefer, Konkretisierung, S. 228 ff., 270 ff., 311 ff., 321 ff. 22 Vgl. den Überblick von Sunstein, One Case at A Time, S. 6 f. A.A. Perry, 11 Va. L. Rev. 669 („The distinction is now defunct"), 673, 710, 718 (1991). Soweit Perry die Methodendiskussion für unfruchtbar hält, wenn man nicht die verfassungsrechtlich und -theoretisch gesollte Rolle der Politik und des Verfassungsgerichts einbeziehe (dazu ibid., S. 674, 718 f.), ist dem zuzustimmen. Auch mögen sich „aufgeklärter" Originalismus und um Berücksichtigung des historisch Gewollten bemühter „moderater" Non-Originalismus äußerlich ähneln. Damit ist aber die Diskussion um die Legitimität einer bestimmten Methode der Verfassungsinterpretation nicht erledigt. Zum einen beruhen Originalismus und Non-Originalismus auf unvereinbaren Prämissen, die eine pragmatische Gleichsetzung ausschließen. Zum anderen ist Perrys eigener Ausgangspunkt immer noch erkennbar intentionalistisch (vgl. nur ibid., S. 689 f., 694), auch wenn er sich bemüht, die Dichotomie zu verwischen (dazu Tushnet, 11 Va. L. Rev. 637 [1991]). 3*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
spielsweise Antonin Scalia und Clarence Thomas als amtierende Richter am Supreme C o u r t 2 4 sowie Robert Bork, dessen Kandidatur zum Supreme Court scheiterte, für den Non-Originalismus so unterschiedliche Autoren wie zum Beispiel Ronald Dworkin, Laurence Tribe und Richard Epstein. Abgesehen von der Kontroverse zwischen Originalismus und Non-Originalismus ist auf die Critical Legal Studies einzugehen, deren Ansatz auch Elys Theorie in radikaler Weise in Frage gestellt hat, und für die exemplarisch das Werk von Mark Tushnet behandelt wird25.
23 Sunstein, One Case at A Time, S. x, spricht vom „zeitgenössischen Enthusiasmus für das Vertrauen auf die urspüngliche Bedeutung der Verfassung." 24 Chief Justice William Rehnquist zählt dagegen mehr als Vertreter gerichtlicher Zurückhaltung. Diese Richtung beruft sich zumeist auf James Bradley Thayers Thesen, für den das Mehrheitsprinzip nur bei klaren Verfassungsverstößen eine verfassungsgerichtliche Intervention erlaubt. Vgl. ders., The Origin and Scope of the American Doctrine of Constitutional Law, 7 Harv. L. Rev. 129 ff. (1893); dazu Sunstein , One Case at a Time, S. 6, 8; Wellington, Interpreting the Constitution, S. 72 ff.; Ely, On Constitutional Ground, S. 25 ff.; Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 8 f. In Rehnquists älteren Voten ist dagegen eine originalistische Linie erkennbar, vgl. seine abw. M. in Sugarman v. Dougall, 413 U.S. 634, 649 ff. (1973), sowie in Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762, III ff. (1977). 2
5 Vgl. z.B. Tushnet, 89 Yale L.J. 1037 ff. (1980); 42 Ohio St. L.J. (1981); ders., Red, White, and Blue. Zu CLS und Tushnets Theorie siehe unten 3. Kap., B. II. 1.
Erstes Kapitel
Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle A. Elys Theorie im Überblick 1 Elys Theorie besteht im wesentlichen aus zwei Komponenten: Zu einer Begrenzung des Verfassungsgerichts tritt eine Rechtfertigung für eine aktive verfassungsgerichtliche Kontrolle des politischen Prozesses. Zunächst sei die Restriktion, dann die Legitimation verfassungsgerichtlicher Kontrolle skizziert: Elys Vorschlag zur Begrenzung des Verfassungsgerichts zielt auf die Generalklauseln2 der US-Verfassung, die Freiheit („liberty") und Gleichheit („equal protection of the laws") gewähren3. Das Verfassungsgericht dürfe mehrheitlich beschlossene Gesetze anhand dieser Klauseln grundsätzlich nicht kontrollieren, weil Freiheit und Gleichheit als Kontrollmaßstab unbestimmt seien, soweit nicht historisch vorbedachte Anwendungsfälle eine sichere Orientierung ermöglichten. Andernfalls setze das Verfassungsgericht eigene inhaltliche Wertungen an die Stelle der Weitungen des demokratisch legitimierten und verantwortlichen Gesetzgebers. In Ermangelung eines hinreichend spezifischen Normbefehls hält Ely dies für undemokratisch und willkürlich. Demgegenüber bestreitet Ely nicht, daß das Verfassungsgericht die speziellen Grundrechte der US-Verfassung - wie etwa die Redeoder Religionsfreiheit - durchsetzen dürfe. Konsequenz dieser Beschränkung auf spezifisches Verfassungsrecht ist vor allem, daß das Verfassungsgericht nach Ely keine neuen Grundrechte erfinden darf, weil ansonsten der politische Prozeß mit inhaltlichen Werten gegängelt werde, die letztlich nur auf das subjektive Empfinden der Verfassungsrichter und -richterinnen rückführbar seien. Die Begrenzung des Verfassungsgerichts komme somit dem politischen Prozeß zugute.
1 Eine gute Zusammenfassung findet sich zunächst bei Ely selbst, vgl. ders., Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 6 ff. Vgl. daneben vor allem Brugger, Grundrechte, S. 367 ff., 371 f., 410 f.; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 179 ff.; Brest, 42 Ohio St. L.J. 132 ff. (1981); Posner, 11 Va. L. Rev. 644 f. (1991); Dershowitz, 40 Stan. L. Rev. 361 ff. (1988). 2 So Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), etwa S. 180; ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 571 ff. 3
Das 5. Amendment der US-Verfassung lautet: „No person shall [ . . . ] be deprived of life, liberty, or property, without due process of law [ . . . ] . " Das 14. Amendment enthält eine ähnliche Bestimmung und sieht außerdem vor: „No State shall [ . . . ] deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws."
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Die so ausgestaltete verfassungsgerichtliche Zurückhaltung gegenüber dem politischen Prozeß sei allerdings nur insoweit gerechtfertigt, als dieser allen Teilnehmern gleichermaßen offen stehe und alle Interessen im politischen Prozeß fair berücksichtige. Nur dann dürfe vermutet werden, daß der politische Prozeß zu gerechten Lösungen gelange. Bestehen formelle oder funktionale Hindernisse für die Teilnahme am politischen Prozeß, darf das Verfassungsgericht nach Ely eingreifen 4. In diesem Rahmen dürfe es zum einen die Partizipations- und Zugangsrechte der Teilnehmer am politischen Prozeß optimieren, um diesen für einen Machtwechsel offen zu halten5. Zum anderen obliege es dem Verfassungsgericht, die Repräsentation von Minderheiten, die sich aufgrund von Vorurteilen als chronische Verlierer im parlamentarischen Verfahren herausstellen, zu verstärken 6. Letzteres soll dadurch geschehen, daß das Verfassungsgericht Minderheiten gegen ungleiche Belastungen durch die Mehrheit verteidigt, wenn diese sich nicht aus eigener Kraft im politischen Prozeß schützen können. Dem Anspruch von Elys Theorie zufolge ist die verfassungsgerichtliche Kontrolle prozeduraler Natur, weil sie grundsätzlich ohne den Rückgriff auf Werte und inhaltliche Entscheidungen auskomme.
B. Elys Versprechen: Überwindung der „countermajoritarian difficulty 44 Elys Theorie erschöpft sich weder in der Kritik konkurrierender Ansätze noch in der Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kompetenzen. Das positive Versprechen von „Democracy and Distrust" zielt darauf ab, verfassungsgerichtliche Kontrolle und insbesondere Minderheitenschutz mit der demokratischen Ordnung der USVerfassung zu versöhnen, deren Kernbestandteil für Ely das Mehrheitsprinzip ist. Damit verspricht Ely implizit, die „countermajoritarian difficulty" 7 zu überwinden, 4 Vgl. Ely , S. 73 (Überschrift zum 4. Kapitel): „Policing the Process of Representation: The Court as Referee". 5 Vgl. Ely , S. 105 (Überschrift zum 5. Kapitel): „Clearing the Channels of Political Change" 6
Vgl. Ely, S. 135 (Überschrift zum 6. Kapitel): „Facilitating the Representation of Minorities". Nur im Hinblick auf diesen aktivistischen Teil der Theorie kann man von Repräsentationsoptimierung im engeren Sinne sprechen. Im begrenzenden Teil der Theorie geht es dagegen nicht um die Repräsentation des Volkes (oder einzelner Gruppen oder Individuen) durch das Parlament oder durch Repräsentanten, sondern um die Kompetenzverteilung zwischen Parlament und Verfassungsgericht, das keiner durch Abwahl sanktionierten demokratischen Verantwortlichkeit unterliegt. Eine Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit, wie sie Ely vertritt, kann man jedoch in einem weiteren Sinne repräsentationsoptimierend nennen, weil sie der repräsentativen Demokratie im Verfassungsgefüge mehr Gewicht verschaffen will. Ely benutzt den Begriff nur im engeren Sinne. Dennoch hat es sich eingebürgert, seine gesamte Theorie als Theorie der Repräsentationsverstärkung („representation-reinforcing") zu bezeichnen. Diese Arbeit spricht gleichbedeutend von R&pr'iseniationsoptimierung. Dazu noch unten 1 Kap., D. V. 7 Die amerikanische Lit. zur „countermajoritarian difficulty" ist unerschöpflich. Grundlegend Bichel, The Least Dangerous Branch, 1962. Siehe daneben z. B. Choper, S. 4 ff.; Cover, 91 Yale L.J. 1287 ff. (1982); Tribe, American Constitutional Law, S. 302 ff. (w. Nachw. auf
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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die den Dreh- und Angelpunkt der repräsentationsoptimierenden Theorie bildet, auch wenn dieser Begriff in „Democracy and Distrust" praktisch nicht vorkommt 8. Das Problem der Gegenmehrheitlichkeit besteht darin, daß ein demokratisch nicht verantwortliches 9 Verfassungsgericht Gesetze überprüft und verwirft, die der Gesetzgeber mehrheitlich beschlossen hat 10 . Es geht also, vereinfacht in Dualismen gefaßt, um das Verhältnis von Demokratie und Grundrechten, von Mehrheitsprinzip und Minderheitenschutz, von Gesetzgeber und Verfassungsgericht sowie von Volkssouveränität und Konstitutionalismus11. Das Problem der Gegenmehrheitlichkeit erfährt nicht zuletzt dadurch eine Verschärfung, daß die Kompetenz des Supreme Court zur Prüfung und Verwerfung von Gesetzen in der US-Verfassung nicht ausdrücklich verankert ist 1 2 . Der Supreme Court begründete diese Kompetenz in der von John Marshall verfaßten Grundsatzentscheidung Marbury v. Madison13. Zwar bildet diese Entscheidung als Ergebnis verfassungsgerichtlicher Interpretation - und nicht etwa als blanke Usurpation gerichtlicher Macht - einen festen Bestandteil des US-amerikanischen Verfassungsrechts. Dennoch ist die Entscheidung auch ein Akt richterlicher Selbstdefinition, der die Frage nach einer Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle heraufbeschwört. Eine solche Theorie ist insbesondere unter dem Aspekt der Gegenmehrheitlichkeit unvollständig, wenn sie nicht die Frage nach den Grenzen verfassungsgerichtlicher Befugnisse beantwortet. Wenn Ely die verfassungsgerichtliche Kontrolle grundsätzlich auf spezifisches Verfassungsrecht beschränkt, so ist dies nur ein erster Schritt zur Überwindung der „countermajoritarian difficulty". Nochmals betont sei, daß sich seine Theorie - im Unterschied etwa zum Originalismus und zu Theorien verfassungsgerichtlicher Beschränkung bzw. Zurückhaltung 14 - nicht in einer Grenzziehung im Dienste der S. 302 Fn. 2), 307 ff. Auch „Democracy and Distrust" ist diesem Paradigma verpflichtet, obwohl ein ausdrückliches Bekenntnis fehlt, vgl. Ely, S. 4 f. Zu Unterschieden im deutschen und US-amerikanischen Staats- und Verfassungsverständnis einfühlsam Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 186 ff., 241 ff. 8 Vgl. aber Ely, S. 71. Ely, S. 4 f., führt in das Problem ein, ohne den Begriff zu verwenden. 9 Die Richter des Supreme Court werden als Bundesrichter weder gewählt noch sind sie abwählbar. Ihre Ernennung durch den Präsidenten verschafft zwar Legitimation, ersetzt aber keine demokratische Verantwortlichkeit. Vgl. Art. I I See. 2 mit Art. III See. 1 US-Verfassung. Dazu Ely, S. 46 ff., 67; ders., 11 Va. L. Rev. 842 ff., 865 ff. (1991); Tribe, American Constitutional Law, S. 307 f. 10 Vgl. etwa Klarman, 11 Va. L. Rev. 768 (1991). 11 Dazu unter Einbeziehung der amerikanischen Diskussion Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 172 ff. 12 Vgl. Art. III See. 1 und 2 US-Verfassung. Diesen Punkt darf man freilich nicht überbewerten, weil auch eine ausdrückliche Kontrollkompetenz auf deren methodische und verfassungstheoretische Implikationen keine vollständige Antwort gibt. 13 5 U.S. (1 Cranch) 137 ff. (1803). Dazu Brugger, Grundrechte, S. 5 ff. 14 Vgl. für einen solchen Ansatz z. B. Sandalow, 56 N.Y.U. L. Rev. 457 ff. (1981).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Mehrheitsdemokratie erschöpft. Seine Begründung positiver verfassungsgerichtlicher Kontrollbefugnisse zielt vor allem auf die Optimierung des politischen Prozesses. Nach Elys Theorie wird das Verfassungsgericht zum Hüter des politischen Prozesses15 bzw. zum „Wachhund der Demokratie" 16. Durch die Verbesserung der demokratischen Verfahrensbedingungen wird die Verfassungsgerichtsbarkeit Ely zufolge in den Dienst der repräsentativen Demokratie gestellt17. Aus diesem Kunstgriff erklärt sich die Attraktivität seiner prozeduralen Theorie 18 .
C. „Footnote 4" als Keimzelle von Elys Theorie Elys prozedurale Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle gründet sich auf die berühmte 19 Fußnote 4 der Entscheidung des Supreme Court in United States v. Carolene Products 20 von 193821. Der Fall Carolene Products betraf die Verfassungsmäßigkeit eines Bundesgesetzes, das aus Gründen des Verbraucher- und Gesundheitsschutzes den Handel mit Milch verbot, bei der das hochwertige Butterfett durch andere, preiswertere Fette ersetzt worden war. Der Supreme Court hielt das Gesetz für verfassungsmäßig. Entscheidend hierfür war die Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit von Gesetzen im Bereich der Wirtschaftsgesetzgebung, die im konkreten Fall nicht entkräftet werden konnte 22 . Die Vermutung drückte sich in 15 Zur „Hüter"-Metapher vgl. Estreicher, Platonic Guardians of Democracy: John Hart Ely's Role for the Supreme Court in the Constitution's Open Texture, 56 N.Y.U. L. Rev. 547, 581; aus deutscher Sicht Schild, Das Problem eines Hüters der Verfassung, in: Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik? S. 13 ff.; Scholz, Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, Beilage zu „Das Parlament", B 16/99 v. 16. 4. 1999, S. 3 ff. 16
Ausdruck bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 259 (Nachw. zur Herkunft in Fn. 320); ders., Staat 40 (2001), S. 252. 17 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *, 88. is Vgl. aber Brest, 42 Ohio St. L.J. 141 f. (1981): Prozedurale Ansätze seien für die Verfassungstheorie, was das perpetuum mobile für die Naturwissenschaften sei. 19 Vgl. Powell, 82 Colum. L. Rev. 1087 (1982): „the most celebrated footnote in constitutional law", und zuletzt Sunstein, One Case at A Time, S. 7: „the most famous footnote in all of constitutional law". 20 304 U.S. 144, 152 Fn. 4 (1938). Die Fußnote ist im Anhang wiedergeben. 21 Aus der umfangreichen Lit. zur Fußnote 4 vgl. zunächst Ely, S. 75 ff., und daneben auswahlweise aus neuerer Zeit Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1093 ff. (1982); Powell, 82 Colum. L. Rev. 1087 ff. (1982); Ball, 59 Iowa L. Rev. 1059 ff. (1974); Cover, 91 Yale L.J. 1287 (1982); Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 713 (1985); Strong, 5 Const. Comm. 185 ff. (1988); Miller, Sup. Ct. Rev. 1987, 397 ff.; Linzer, 12 Const. Comm. 277 ff. (1995); Brugger, Grundrechte, S. 364 ff.; Schefer, Konkretisierung, S. 247 f., 288 ff. 22 ,,[T]he existence of facts supporting the legislative judgment is to be presumed, for regulatory legislation affecting ordinary commercial transactions is not to be pronounced unconstitutional unless in the light of the facts made known or generally assumed it is of such a character as to preclude the assumption that it rests upon some rational basis within the
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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der Anwendung des sogenannten „rational basis test" aus, der es dem Verfassungsgericht unter anderem erlaubt, die das Gesetz tragenden Fakten - die rationale Basis - einfach zu unterstellen 23. Carolene Products war nicht die erste Entscheidung, die eine derartige verfassungsgerichtliche Zurückhaltung an den Tag legte, und deshalb an sich unspektakulär 24. In schroffem Gegensatz zum Urteilstext, in dem es um verfassungsgerichtliche Zurückhaltung gegenüber dem Gesetzgeber geht, enthält die Fußnote 4 mehrere Mutmaßungen von Justice Harlan Fiske Stone über eine zukünftige aktive Rolle des Verfassungsgerichts. Das Verfassungsgericht hat danach im Gegensatz zum Rationale-Basis-Test einen strengen Kontrollmaßstab anzuwenden, wenn es (1) Verstöße des Gesetzgebers gegen spezifisches Verfassungsrecht kontrolliert, (2) ein Gesetz überprüft, das eine Behinderung des politischen Prozesses bewirkt oder das (3) bestimmte Minderheiten benachteiligt. Diesen in der Fußnote 4 angelegten Dreischritt hat Ely in „Democracy and Distrust" systematisch entfaltet. Betrachtet man den Hintergrund der Entscheidung Carolene Products, so ergeben sich Zweifel an der Richtigkeit der Entscheidung, was zwar die Bedeutung der Fußnote 4 nicht schmälert, jedoch grundlegende Fragen der Pluralismustheorie aufwirft: So hält etwa Miller das in Carolene Products für verfassungsmäßig erklärte Gesetz, den Filled Milk Act von 1923, für das Ergebnis erfolgreicher Lobbyarbeit der Milchhersteller, die sich mit Hilfe des Kongresses lästiger Konkurrenz durch ein preiswerteres, aber ebenso gutes Produkt entledigen wollten 25 . Der Verdacht, daß das Gesetz möglicherweise durch unfaire Einflußnahme von übermächtigen wirtschaftlichen Interessenverbänden zustande kam, steht in eigenartigem Kontrast zur Fußnote 4 desselben Urteils, mit der eine Läuterung des politischen Prozesses angestrebt wird 2 6 . Strong hat sogar bestritten, daß der Filled Milk Act dem Rationale-Basis-Test genügte27. Er meint, daß das Gesetz weder dem Gesundheits- noch dem Verbraucherschutz gedient habe, weil es sich um gleichwertige Produkte gehandelt hätte 28 . Statt dessen habe es die Monopolstellung der Milch-
knowledge and experience of the legislators." U.S. v. Carolene Products Co., 304 U.S. 152 (1938) (Hervorhebung von J.R.). 23 Dazu Bork, The Tempting of America, S. 58; Brugger, Grundrechte, S. 58 f. 2 « Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 713 (1985), der im Hinblick auf Fußnote 4 von „the otherwise unimportant Carolene Products case" spricht. Ebenso Powell, 82 Colum. L. Rev. 1087, 1089(1982). 25 Vgl. Miller, Sup. Ct. Rev. 1987, 398: „The statute upheld in the case was an utterly unprincipled example of special interest legislation." 26 Zur „Läuterung" des pluralistischen Prozesses siehe noch unten 2. Kap., G. II. 2. 27 Strong, 5 Const. Comm. 185 ff. (1988). Prüfungsmaßstab war insoweit die due processKlausel des 5. Amendment, vgl. U.S. v. Carolene Products, 304 U.S. 148, 152 (1938). 28 Die Hersteller der „filled milk" hatten im Verlauf des Rechtsstreits begonnen, ihrem Produkt Vitamine zuzusetzen, um gesundheitliche Bedenken gegen Mangelernährung auszuräumen. Vgl. Strong, 5 Const. Comm. 186 (1988).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
hersteiler verfestigt. Nach dieser Ansicht hätte der Supreme Court den Filled Milk Act für verfassungswidrig erklären müssen29. Die Wirkungsgeschichte der Fußnote ist letztlich unabhängig davon, ob Carolene Products richtig entschieden wurde oder nicht, weshalb diese Frage hier nicht vertieft wird. In der Literatur kehrt sich das Verhältnis von Urteil und Fußnote geradezu um: Das Urteil Carolene Products wird ausschließlich als Appendix der Fußnote 4 wahrgenommen 30. Die von der Entscheidung berührte wichtige Frage, welchen Einfluß wirtschaftliche und andere Interessengruppen in einer pluralistischen Demokratie haben und legitimerweise haben sollten, kann hier ebenfalls nicht diskutiert werden. Auf einzelne Aspekte aus diesem Problemkomplex ist jedoch im Rahmen der Analyse und Bewertung von Elys Theorie einzugehen31. Aufgrund ihrer enormen Bedeutung für Verfassungsrecht und -theorie in den USA soll Fußnote 4 hier wörtlich wiedergegeben werden. (Das Original einschließlich der Zitate ist im Anhang abgedruckt.) Dabei darf ihr Inhalt nicht ohne weiteres mit der Deutung gleichgesetzt werden, die ihr Ely beigelegt hat 32 .
I. United States v. Carolene Products Co., Fußnote 4 1. Erster Absatz: Spezifisches Verfassungsrecht Der erste Absatz der Fußnote lautet unter Weglassung der Zitate wie folgt: „Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit könnte einen engeren Anwendungsbereich haben, wenn ein Gesetz offensichtlich einem der spezifischen Verbote der Verfassung unterfällt, wie etwa einem der ersten zehn Zusatzartikel, die als gleichermaßen spezifisch anzusehen sind, wenn sie als vom 14. Zusatzartikel umfaßt zu gelten haben. Siehe [ . . . ] " 3 3
Hiernach genießen die vom demokratisch legitimierten und verantwortlichen Gesetzgeber verabschiedeten Gesetze grundsätzlich die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit, womit die Fußnote an den Urteilstext anschließt. Diese Vermutung gilt jedoch nicht, wenn ein Gesetz in einen offensichtlichen Konflikt mit einer bestimmten Verbotsnorm der Verfassung gerät. Demzufolge obliegt es dem Supreme Court, die unter anderem in der Bill of Rights 34 enthaltenen spezifischen 29 Vgl. andererseits U.S. v. Carolene Products, 304 U.S. 144, 149 m. Fn. 2 (1938). 30 Dieses Spiel treibt Balkin, 83 Nw. U. L. Rev. 275 ff. (1989), aus dekonstruktivistischer Sicht in einem brillanten Aufsatz auf die Spitze. 31 Vgl. unten 2. Kap., G. II., und 3. Kap., B. I. 6. e). 32 Darauf ist noch zurückzukommen. Siehe unten 1. Kap., D. I. 4. 33 304 U.S. 144, 152 Fn. 4 (1938) (Zitate weggelassen, vgl. dazu den Anhang). Im Original lautet der erste Absatz wie folgt: „There may be narrower scope for operation of the presumption of constitutionality when legislation appears on its face to be within a specific prohibition of the Constitution, such as those of the first ten amendments, which are deemed equally specific when held to be embraced within the Fourteenth. See [ . . . ] . "
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Grundrechte der US-Verfassung gegenüber bundesstaatlichen Eingriffen zu verteidigen 3 5 . Gleiches soll gelten, soweit die ursprünglich auf die bundesstaatliche Gewalt gemünzte B i l l of Rights kraft sogenannter „Inkorporation" durch den 14. Zusatzartikel auch den Gliedstaaten gegenüber anwendbar i s t 3 6 . Der i m Bereich der spezifischen Grundrechte anwendbare Prüfungsmaßstab der strengen Kontrolle („strict scrutiny") 3 7 führt wegen der hohen Anforderungen 3 8 an die Verfassungsmäßigkeit regelmäßig zur Feststellung der Verfassungswidrigkeit des betreffenden Gesetzes 39 . Er bewirkt außerdem, daß die Konkretisierung der entsprechenden Kontrollnorm i m wesentlichen 4 0 in die Hände des Supreme Court gelegt ist. Bei einem unbefangenen Blick auf den ersten Absatz der Fußnote scheint es daher, als ob sein Inhalt trivial sei 4 1 . Es klingt wie eine Selbstverständlichkeit, daß 34
Die ersten zehn Amendments (= Zusatzartikel, Verfassungszusätze) der US-Verfassung. Das 9. und 10. Amendment sprechen von anderen als ausdrücklich in der Verfassung erwähnten Rechten und Kompetenzen, enthalten also keine „spezifischen Verbote". Soweit die Fußnote auch auf sie Bezug nimmt, liegt die Annahme eines Redaktionsversehens nahe. 36 Zur (selektiven) Inkorporation der Bill of Rights vgl. Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 784 (zu Nr. 1); Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1102 f. (1982); s. auch Brugger, Grundrechte, S. 49 ff. (51). Von der Inkorporation ausgenommen sind nur noch das 2., 3. und 7. Amendment sowie das Recht auf Anklage vor einer „grand jury" gem. dem 5. Amendment. 37 Powell, 82 Colum. L. Rev. 1088 (1982), sieht in der Fußnote 4 einen wichtigen Ursprung des strikten Prüfungsmaßstabes. Vgl. auch den zweiten und dritten Absatz der Fußnote 4, die von „more exacting judicial scrutiny" bzw. „more searching judicial inquiry" sprechen. 35
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Unter dem Prüfungsmaßstab der strengen (oder strikten) Kontrolle ist ein beschränkendes Gesetz nur dann mit einem spezifischen Freiheitsgrundrecht vereinbar und insoweit verfassungsgemäß, wenn der gesetzliche Eingriff der Durchsetzung eines zwingenden öffentlichen Interesses dient und eine enge Beziehung zwischen dem gesetzlichen Mittel und dem damit verfolgten Zweck besteht. Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 43. Wegen dieser hohen Anforderungen an die Rechtfertigung verlangt dieser Test mehr als eine einfache Abwägung kollidierender Verfassungsgüter. 39 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 41 ff. Aus diesem Grund kommt im amerikanischen Verfassungsrecht der Frage eminente Bedeutung zu, welcher Prüfungsmaßstab anwendbar ist: Brugger, ibid., S. 43, hält fest, daß mit der Entscheidung über den anwendbaren Prüfungsmaßstab das sachliche Ergebnis regelmäßig vorweggenommen werde. Aufgrund seiner geringen Flexibilität ist dieses „binäre" Vorgehen mit der deutschen Schrankendogmatik nur bedingt vergleichbar. Vgl. zu den Prüfungsmaßstäben des Supreme Court neuerdings Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum. 40 Hier ist allerdings auf die legislative Durchführungskompetenz hinzuweisen, die neuere Verfassungsbestimmungen dem Kongreß zuweilen in politisch sensiblen Bereichen zusprechen. Vgl. z. B. die nach dem amerikanischen Bürgerkrieg verabschiedeten Am. 13 See. 2, Am. 14 See. 5 und Am. 15 See. 2 US-Verfassung. Dazu Brugger, Grundrechte, S. 336 ff., 343. Diese Bundeskompetenzen richten sich allerdings weniger gegen eine vermutete Konkurrenz durch den Supreme Court als vielmehr gegen die Gliedstaaten, von denen man Widerstand befürchtete. 41 Ein Gesetz „unterfällt" einem spezifischen Verbot wohl schon dann, wenn dessen Schutzbereich offensichtlich betroffen ist, und nicht erst bei offensichtlicher Verfassungswidrigkeit. Ansonsten wäre die Fragestellung im ersten Absatz sinnlos, da offensichtlich verfas-
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
das Verfassungsgericht Bundesgesetze anhand der speziellen Grundrechte der B i l l of Rights zu überprüfen hat. Dennoch wirft auch der erste Absatz der Fußnote wichtige Fragen auf: Diese betreffen etwa das Demokratieverständnis, auf dem die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit i m Urteil aufbaut. Auch ist zu fragen, was eine „spezifische" Verfassungsnorm ausmacht 42 und mit welcher Methode selbst spezifisches Recht interpretiert werden s o l l 4 3 . Zu klären ist ferner, ob der erste Absatz nur eine Einleitung zu den folgenden Absätzen der Fußnote ist oder eigenständige Bedeutung hat. Die Fußnote führt damit in zentrale verfassungsrechtliche Probleme hinein, kann und w i l l aber auf diese Fragen keine Antworten geben 4 4 .
2. Zweiter Absatz: Behinderung des politischen Prozesses Der zweite Absatz der Fußnote betrifft den verfassungsgerichtlichen Schutz vor staatlichen Eingriffen in die ungestörte Funktionsweise des politischen Prozes45.
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ses : „Es besteht gegenwärtig keine Notwendigkeit zu prüfen, ob ein Gesetz, das die politischen Prozesse beschränkt, von denen man normalerweise erwarten kann, daß sie zur Rücknahme unliebsamer Gesetze führen, einer strengeren gerichtlichen Kontrolle anhand der allgemeinen Verbote des 14. Zusatzartikels unterworfen werden muß als die meisten anderen Arten von Gesetzgebung. Zu Beschränkungen des Wahlrechts siehe [ . . . ] ; zu Beschränkungen der Verbreitung von Information siehe [ . . . ] ; zur Behinderung von politischen Organisationen siehe [ . . . ] ; hinsichtlich des Verbots, sich friedlich zu versammeln, siehe j-
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sungswidrige Gesetze ganz sicher keine Vermutung der Verfassungsmäßigkeit genießen. Kritisch zur Formulierung des ersten Absatzes von Fußnote 4 Bork, The Tempting of America, S. 59. 42 Spezifisch oder nicht ist also eine Frage komplexer Verfassungsinterpretation, was die Fußnote nicht zu erkennen gibt. Siehe näher unten 3. Kap., B. I. 2. Das Kriterium der Offensichtlichkeit („on its face") hilft hier nicht weiter, weil seine Anwendung voraussetzt, daß man den Schutzbereich „spezifischen" Verfassungsrechts geklärt hat. 43 Im „trivialen" Verständnis, das aber möglicherweise die vernünftige Lösung ist, wird spezifisches Verfassungsrecht mit allen anerkannten Methoden der Verfassungsinterpretation konkretisiert. Dieser Position neigt - trotz prozeduralistischer Kampfrufe - im Ergebnis auch Ely zu. Ein restriktiver Ansatz sieht demgegenüber im ersten Absatz ein originalistisches Verfassungsverständnis verankert. Auf der anderen Seite des Spektrums kann man den ersten Absatz (zu Recht oder zu Unrecht) als Grundlage für eine aktivistische „fundamental rights"Rechtsprechung sehen. 44 Dies war auch nicht die Absicht ihres Verfassers, vgl. Powell, 82 Colum. L. Rev. 1092 (1982). 45 Eine gegenüber Elys Theorie eigenständige Deutung des zweiten Absatzes hat Cover, 91 Yale L.J. 1292 ff. (1982), vorgelegt. 4 6 304 U.S. 144, 152 Fn. 4 (1938) (Zitate weggelassen, vgl. dazu den Anhang). Im Original lautet der zweite Absatz wie folgt:
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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Zwei in der Fußnote zitierte Entscheidungen zum Wahlrecht betreffen den staatlichen Ausschluß schwarzer Wähler von „weißen" Vorwahlen („white primaries")47. Die übrigen Entscheidungen betreffen staatliche Eingriffe in „politische" Grundrechte wie Rede-, Presse-, Vereinigungs- und Versammlungsfreiheit. Der gedankliche Ausgangspunkt des zweiten Absatzes liegt allerdings nicht im Schutz bestimmter Grundrechte, die in den Zitaten angeführt werden, sondern in dtr funktionalen Erwägung zur gestörten Korrekturwirkung des politischen Prozesses, die den Zitaten vorangestellt ist. Diese Begründung verfassungsgerichtlicher Kontrolle geht über die bloße Anrufung eines spezifischen Grundrechts oder eines fundamentalen Interesses hinaus48. Das Verfassungsgericht schützt nun den politischen Prozeß, indem es die in der Verfassung ausdrücklich genannten Grundrechte auf Rede- und Versammlungsfreiheit durchsetzt, zumindest soweit sie im politischen Kontext in Anspruch genommen werden 49. Darüber hinaus darf das Gericht auch unbenannte Grundrechte schützen, die für einen funktionierenden politischen Prozeß unverzichtbar sind und außerdem einen engen Bezug zu ausdrücklich anerkannten Grundrechten aufweisen. Die Fußnote zitiert hier Entscheidungen zur Vereinigungs- und Parteienfreiheit 50 Da sich die strikte Kontrolle der im 1. Amendment geschützten Rede- und Versammlungsfreiheit aber schon aus dem Grundgedanken der Kontrolle „spezifischen" Verfassungsrechts rechtfertigt, wie er im ersten Absatz der Fußnote angelegt ist, erscheint der Vorschlag zur Konkretisierung des 14. Amendment als der eigentlich springende Punkt des zweiten Absatzes. Was man unter den „allgemeinen Verboten des 14. Amendment" genau zu verstehen hat, sagt die Fußnote nicht. In Frage kommt zum einen die due process-Klausel 51, die nach ihrem Wortlaut ein „It is unnecessary to consider now whether legislation which restricts those political processes which can ordinarily be expected to bring about repeal of undesirable legislation, is to be subjected to more exacting judicial scrutiny under the general prohibitions of the Fourteenth Amendment than are most other types of legislation. On restrictions upon the right to vote, see [ . . . ] ; on restraints upon the dissemination of information, see [ . . . ] ; on interferences with political organizations, see [ . . . ] ; as to prohibition of peaceable assembly, see [ . . . ]." Instruktiver Überblick zu den in der Fußnote zitierten Entscheidungen des Supreme Court bei Cover, 91 Yale L.J. 1287 ff. (1982). 47 Vgl. Nixon v. Herndon, 273 U.S. 536 ff. (1927); Nixon v. Condon, 286 U.S. 73 ff. (1932). Dazu Cover, 91 Yale L.J. 1301 (1982). 48 Vgl. die Antwort von Justice Stone auf die von Chief Justice Hughes geäußerten Bedenken am ersten Entwurf der Entscheidungsgründe mit Schreiben vom 19. April 1938, abgedruckt bei Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1107 f. (1982) im Anhang. 49
Vgl. zur Redefreiheit Ely, S. 107 ff. Zur anerkannten Funktion der Meinungsfreiheit für die demokratische Ordnung aus deutscher Sicht vgl. nur Hesse, Grundzüge, Rdnr. 387 f., und Stern, Staatsrecht I, S. 625. 50 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 271, 444; ders., Persönlichkeitsentfaltung, S. 9 Fn. 18 und Text (enge Analogie zu den ausdrücklich gewährten Freiheiten des 1. Amendment). 51 Vgl. Am. 5: „No person shall [ . . . ] be deprived of life, liberty, or property, without due process of law." Ähnlich Am. 14, Sec. 1 US-Verfassung. Im übrigen spricht die Präambel der
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
angemessenes Verfahren beim Entzug von Freiheit vorsieht 5 2 . Z u m anderen ist an das allgemeine Gleichheitsgebot zu denken 5 3 . Beide Generalklauseln sind für die Bundesgewalt wie auch für die Gliedstaaten verbindlich 5 4 . Die in der Fußnote erwähnten Zitate legen den Schluß nahe, daß vor allem die allgemeine Gleichheitsklausel gemeint sein könnte: M i t ihr unterzog der Supreme Court eine Beschränkung des Wahlrechts der schwarzen Minderheit einer strikten Überprüfung, u m so den Zugang zum politischen Prozeß zu optimieren 5 5 . Wie nun freilich die Kontrolle von Beschränkungen des politischen Prozesses anhand der Gleichheitsklausel genau aussehen soll, bleibt in der Fußnote dunkel. Jedenfalls ergibt sich aber aus einer Gesamtschau des zweiten Absatzes und der in ihm zitierten Entscheidungen, daß der politische Prozeß in seiner Funktion gestört ist, wenn (1) bestimmte Gruppen oder Personen von der Teilnahme am politiUS-Verfassung von dem Ziel, „die Segnungen der Freiheit für uns und unsere Nachfahren zu sichern." Die h.M. versteht die due process-Klausel auch als inhaltliche Garantie und nicht nur als prozedurale Sicherung gegenüber Freiheitsbeschränkungen, wie dies der Textsinn nahelegt. Unter „Freiheit" fallt mittlerweile jedes Freiheitsinteresse, während ursprünglich nur die körperliche Bewegungsfreiheit gemeint war. Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 316, mit rechtshistorischen Bezügen. 52 Zwar ist die due process-Klausel nach herrschender Ansicht das Vehikel für die Inkorporation der Bill of Rights, die so (größtenteils) gegenüber den Einzelstaaten anwendbar wird. Von Inkorporation spricht die Fußnote 4 aber bereits im ersten Absatz. Welche Funktion die due process-Klausel, die in Carolene Products Prüfungsmaßstab war, im Rahmen des zweiten Absatzes der Fußnote 4 haben könnte, ist unklar. Justice Stone spricht in seinem bereits erwähnten Schreiben zu den Entscheidungsgründen von Carolene Products an Chief Justice Hughes allein von der due process-Klausel des 14. Amendment, die Beschränkungen von „Freiheit" und „politischen Rechten" auch dann verbiete, wenn keine spezifischen Verbote betroffen seien (der Brief ist abgedruckt bei Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1107 f. [1982]). Im ursprünglichen Entwurf der Fußnote von Justice Stone fehlte die Bezugnahme auf die „allgemeinen Verbote des 14. Amendment" völlig (dieser Entwurf ist ebenfalls bei Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1096 f. [1982] abgedruckt). Dies könnte bedeuten, daß es Stone zunächst nur auf eine Aufzählung derjenigen Fälle ankam, in denen die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit entfallen sollte. Der Gebrauch der Absätze zwei und drei zur Konkretisierung von Generalklauseln wäre dann im wesentlichen eine Weiterentwicklung der Literatur. 53 Am. 14, See. 1 US-Verfassung lautet: „No State shall [ . . . ] deny to any person within its jurisdiction the equal protection of the laws." Die in der Judikatur annähernd bedeutungslose „Privileges or immunities"-Klausel kann demgegenüber außer Betracht bleiben. 54 Für die Gliedstaaten folgt dies unmittelbar aus dem 14. Amendment Auf Bundesebene ist die allgemeine Freiheitsgewähr im 5. Amendment enthalten. Für die Gleichheitsklausel geht die h.M. den verschlungenen, aber mangels ausdrücklicher textlicher Verankerung nicht zu umgehenden Weg der „umgekehrten Inkorporation". Danach inkorporiert die due processKlausel des 5. Amendment für den Bund die Gleichheitsklausel des an die Gliedstaaten gerichteten 14. Amendment. Vgl. Bölling v. Sharpe, 347 U.S. 497 ff. (1954) (Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung im District of Columbia); Brugger, Grundrechte, S. 158 Fn. 75, 163 Fn. 1. Begründet wird dies mit dem Argument, daß die Gliedstaaten nicht strengeren Grundrechtsmaßstäben ausgesetzt sein sollen als der Bund selbst. Einen alternativen Weg bietet Ely, S. 32 f., an, der das gleiche Ergebnis über den 9. Zusatzartikel - „that old constitutional jester" (Ely, S. 33) - begründen will. 55 Vgl. Ely, S. 120.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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sehen Prozeß gänzlich ausgeschlossen sind, (2) ihre Teilnahme unter ungleichen Bedingungen erfolgt oder wenn (3) bestimmte Betätigungsformen der politischen Partizipation behindert werden. Von einem funktionierenden politischen Prozeß, der i m Normalfall zur „Rücknahme unliebsamer Gesetze" führen soll, kann umgekehrt nur dann gesprochen werden, wenn die ungehinderte und gleichberechtigte Partizipation aller Teilnehmer sichergestellt ist.
3. Dritter Absatz: Minderheitenschutz Der dritte Absatz spricht dem Verfassungsgericht eine kompensierende Funktion beim Schutz von Minderheiten zu, wenn der politische Prozeß an funktionalen Mängeln leidet, obwohl der Zugang de jure allen Teilnehmern gleichermaßen offen steht 5 6 : „Auch müssen wir nicht untersuchen, ob ähnliche Überlegungen eine Rolle spielen könnten, wenn es um die verfassungsgerichtliche Prüfung von Gesetzen geht, die sich gegen bestimmte religiöse, [ . . . ] , oder ethnische, [ . . . ] , oder rassische Minderheiten richten, [ . . . ] : ob nicht Vorurteile gegenüber abgegrenzten [„discrete"] und isolierten [„insular"] Minderheiten ein besonderer Umstand sein könnten, der die Gefahr beinhaltet, daß die Funktionsweise der politischen Prozesse, denen man im Normalfall den Minderheitenschutz anzuvertrauen hat, ernsthaft beeinträchtigt wird, so daß eine entsprechend intensivere gerichtliche Kontrolle geboten sein könnte. Vergleiche [ . . . ] . " 5 7
56 Vgl. zum dritten Absatz der Fußnote neben Ely ; S. 135 ff. (3. Kapitel), und Cover, 91 Yale L.J. 1294 ff. (1982), vor allem die Arbeiten von Louis Lusky, von dem auch die Formulierung der „discrete and insular minorities" stammt (vgl. Linzer, 12 Const. Comm. 282 Fn. 16 [1995]): Lusky, Minority Rights and the Public Interest, 52 Yale L.J. 1 ff. (1942); ders., By What Right?, 1975; ders., Footnote Redux: A Carolene Products Reminiscence, 82 Colum. L. Rev. 1093 ff. (1982); ders., Our Nine Tribunes, 1993. Im Unterschied zu Ely vertritt Lusky ein materiales Verständnis der Fußnote, gelangt dabei aber zu eher noch restriktiveren Ergebnissen als jener. Dies liegt zum einen an originalistischen Untertönen, zum anderen daran, daß Lusky eine aktivistische Fortschreibung des Minderheitenschutzes im dritten Absatz, wie sie etwa Ely unternimmt, ablehnt, vgl. z. B. Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1104 f. m. Fn. 71 f. (1982). Überblick zu Luskys Position bei Linzer, 12 Const. Comm. 284 f., 287 Fn. 48, 303 Fn. 138 (1995). Wie Cover, 91 Yale L.J. 1296 Fn. 26, 1300 Fn. 37 (1982) bemerkt, verwendet bereits Lusky den Begriff der Empathie und die soziologische Unterscheidung von In- und Out-Group. Dies sind zugleich Schlüsselbegriffe aus Elys Analyse zum Minderheitenschutz (vgl. Ely, S. 158 ff.). Weitere Nachw. zur älteren Lit. bei Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 548 Fn. 4 (1981). 57 304 U.S. 144, 152 Fn. 4 (1938) (Zitate weggelassen, vgl. dazu den Anhang). Im Original lautet der dritte Absatz wie folgt: „Nor need we enquire whether similar considerations enter into the review of statutes directed at particular religious, [ . . . ] , or national, [ . . . ] , or racial minorities, [ . . . ] : whether prejudice against discrete and insular minorities may be a special condition, which tends seriously to curtail the operation of those political processes ordinarily to be relied upon to protect minorities, and which may call for a correspondingly more searching judicial inquiry. Compare [ . . . ] , and cases cited."
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Minderheiten können aufgrund von Vorurteilen an der effektiven Durchsetzung ihrer Interessen im politischen Prozeß gehindert sein. Selbst wenn in einer solchen Situation alle Mitglieder der Minderheit Rede- und Wahlrecht besitzen, hilft ihnen dieses Recht faktisch nicht. Die Fußnote deutet an, daß die Benachteiligung bestimmter Minderheiten einer verschärften verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterwerfen ist, wenn sie sich als Ergebnis eines fehlerhaften politischen Prozesses darstellt. Als Prüfungsmaßstab kommt wie im zweiten Absatz insbesondere die allgemeine Gleichheitsklausel des 14. Amendment in Betracht. Die Literatur mißt dem dritten Absatz innerhalb der Fußnote die größte Bedeutung bei: So erblickt Bork in Fußnote 4 die Ankündigung einer „verfassungsrechtlichen Revolution" im Hinblick auf den gerichtlichen Minderheitenschutz 58. Cover hält Fußnote 4 für die Geburtsstunde des spezifischen Minderheitenschutzes in der Rechtsprechung59. Fußnote 4 differenziere nicht mehr nach historisch kontingenten Erfahrungen einer Gruppe und auch nicht nach bestimmten Rechten, sondern stelle in generalisierender Betrachtungsweise auf die Tatsache ab, ob es sich bei der jeweiligen Gruppe um eine schutzbedürftige Minderheit handele. An die Stelle der historisch bedingten verfassungsrechtlichen Kategorien würden gruppenübergreifend die soziologischen und psychologischen Kriterien der Minderheit und des Vorurteils treten. Bemerkenswert sei schließlich, daß Justice Stone den Minderheitenschutz ausgerechnet zu Beginn einer gerade eröffneten Phase verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung auf den Plan rufe 60 . Bei unbefangener Lektüre wirft Justice Stones orakelhafter Spruch allerdings mehr Fragen auf, als er beantwortet 61. Beschränkt sich der gesamte Absatz auf religiöse, ethnische und rassische Minderheiten, oder geht sein Schutzbereich mit dem zweiten Halbsatz („prejudice against discrete and insular minorities") über diese Gruppen hinaus62? Was sind „abgegrenzte" 63, „isolierte" oder gar „insulare" 64 58
Bork, The Tempting of America, S. 61. 59 Vgl. zum folgenden Cover, 91 Yale L.J. 1294 ff., 1299 (1982). 60 Hinzuweisen ist auch auf den Bezug zu staatsrechtlichen Diskriminierungsverboten, den die Fußnote in den abschließenden Zitaten der Entscheidungen McCulloch v. Maryland, 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 428 (1819), und South Carolina State Highway Department v. Barnwell Bros., 303 U.S. 177, 184 Fn. 2 (1938) herstellt. Vgl. dazu Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1104 (1982); ausführlich Brilmayer, 134 U. Pa. L. Rev. 1299 ff. 61
Ähnlich Powell, 82 Colum. L. Rev. 1090 (1982): „Stone's cryptic language frames more questions than it implies answers." 62 Powell, 82 Colum. L. Rev. 1091 (1982), hält eine solche reduktionistische Lesart der Fußnote immerhin für plausibel, wenn man nur ihren Wortlaut berücksichtige. 63
Das Wort discrete heißt wörtlich „abgesondert" oder „getrennt". Vgl. auch Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1105 Fn. 72 (1982), den Verfasser der Fußnote 4: „As a matter of language, »discrete' means separate or distinct [ . . . ] " . Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 729 m. Fn. 27 (1985), versteht „discrete" im Sinne von „äußerlich leicht unterscheidbar". Diese Umschreibung drückt jedoch schon seine spezifische Interpretation der Fußnote aus und ist daher nicht verallgemeinerungsfähig. Vgl. auch Brugger, Grundrechte, S. 366, der „discrete" mit „abgrenzbar" übersetzt.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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„Minderheiten"? Was sind „Vorurteile", von denen die Verfassung nicht spricht? Mögliche Antworten auf diese Fragen werden sich in der Auseinandersetzung mit Elys Verfassungstheorie zeigen.
4. Zusammenfassung Kombiniert man Urteil und Fußnote, so ergibt sich für den Bereich der Grundrechte der Grundriß eines verfassungsgerichtlichen Kontrollmodells: (1) Grundsätzlich gilt für mehrheitlich beschlossene Gesetze die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit (Urteilstext). (2) Dies gilt jedoch nicht, wenn einer von folgenden drei Ausnahmefällen vorliegt: (a) Ein spezifisches Grundrecht der Bill of Rights greift ein (1. Absatz); (b) Das Gesetz behindert die Partizipation am politischen Prozeß (2. Absatz); (c) Das Gesetz belastet abgegrenzte und isolierte Minderheiten, gegen die Vorurteile bestehen (3. Absatz).
Es muß jedoch betont werden, daß die als Denkanstoß konzipierte Fußnote 4 keine entwickelte Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle beinhaltet65. Vor allem den dritten Absatz kann man ohne eine theoretische Unterfütterung nicht entschlüsseln. Dabei ist Elys Theorie der bedeutendste Entwurf zur Konkretisierung der Fußnote66. II. Historischer Hintergrund der Fußnote 4 Das historische Umfeld, in dem die Entscheidung Carolene Products im Jahre 1938 entstand, ist vor allem von innenpolitischen Faktoren geprägt 67. Das gilt im wesentlichen auch für die Fußnote 4, obwohl die Literatur die Ankündigung des Minderheitenschutzes im dritten Absatz auch vor dem Hintergrund von Nationalsozialismus und Judenverfolgung in Deutschland gewürdigt hat 68 . In den Jahren 64
Übersetzt man das englische „insular" mit dem Fremdwort insular (= inselartig), so tritt die räumliche Bedeutung des Begriffs ganz in den Vordergrund. „Isoliert" ist dagegen neben der geografischen auch für soziale und politische Konnotationen offen und wird hier aus diesem Grund bevorzugt. Vgl. auch Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1105 Fn. 72 (1982): „'insular' means isolated or detached". Damit überschneiden sich die Bedeutungen von „discrete" und „insular". 65 So auch Powell 82 Colum. L. Rev. 1090, 1092 (1982). 66
Daneben ist erneut auf Louis Luskys materialen und ebenfalls restriktiven Ansatz hinzuweisen, vgl. ders., 52 Yale L.J. 1 ff. (1942); ders., By What Right?, 1975; ders., 82 Colum. L. Rev. 1093 ff. (1982); ders., Our Nine Tribunes, 1993. 67 Dazu z. B. Cover, 91 Yale L.J. 1287 ff. (1982); Lusky, 82 Colum L. Rev. 1093 ff. (1982); Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 713 ff. (1985). 68 Besonders deutlich ist dieser außenpolitische Kontext bei Cover, 91 Yale L.J. 1289, 1293, 1297 Fn. 28, 1308 f. (1982), der den Minderheitenschutz vor dem Hintergrund der
4 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
vor 1938 hatte der Supreme Court zahlreiche sozialstaatlich motivierte Gesetze für verfassungswidrig erklärt, wobei er sich auf eine substantielle Lesart der due process-Klausel im 14. Amendment stützte. Ausgangspunkt und zugleich Paradigma dieser frühen Phase aktivistischer Verfassungsrechtsprechung ist der Fall Lochner v. New York aus dem Jahr 190569. Darin unterstellte der Supreme Court die in der Bill of Rights 70 nicht ausdrücklich geschützte Vertragsfreiheit der allgemeinen Freiheitsklausel, um eine gesetzliche Arbeitszeitbegrenzung für Bäcker zu kassieren. An dieser Rechtsprechung scheiterten zahlreiche Versuche des Gesetzgebers, Arbeitnehmerschutz gegenüber kapitalistischer Ausbeutung durchzusetzen. Lochner stellt auch den Beginn eines Machtkampfes zwischen dem Verfassungsgericht einerseits und Parlament sowie Exekutive andererseits dar. Dieser Konflikt eskalierte, als von Präsident Roosevelt initiierte Gesetze des „New Deal" am Supreme Court zu scheitern drohten. Im Jahre 1937, also ein Jahr vor Carolene Products, vollzog der Supreme Court mit West Coast Hotel Co. v. Parrish 71 eine bemerkenswerte Kehrtwendung 72. Fortan galt die oben erwähnte Vermutung für die Verfassungsmäßigkeit der Wirtschafts- und Sozialgesetzgebung, was sich im Ergebnis als verfassungsgerichtliche Zurückhaltung widerspiegelte. Die Literatur weist darauf hin, daß die Abkehr vom inhaltlichen „due process" der Lochner-Ära den Supreme Court ohne eine Konzeption richterlicher Prüfungsund Konkretisierungskompetenz ließ, die über einfache gerichtliche Zurückhaltung hinausging73. In dieses Vakuum stieß Fußnote 4 mit einer programmatischen BeTotalitarismus-Forschung erörtert. Vgl. auch ibid., S. 1296 Fn. 27: „ Carolene Products preceded the Krystalnacht by seven months". Vgl. daneben Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 741 f. (1985). Auch Ely ist dieser Kontext bewußt, wenn er ausgerechnet im Schlußwort der Frage nachgeht, ob sein Ansatz genügend Schutz gegenüber einer Perversion des Rechts durch die Mehrheit bieten würde (vgl. Ely, S. 181 ff.). Zum Holocaust stellt Ely, S. 181 f., fest, daß Verfassungstheorien gegen eine solche Extremsituation keinen vollkommenen Schutz gewähren könnten, daß aber Juden als abgegrenzte und isolierte Minderheit ein Anwendungsfall seiner Theorie seien: „A regime this horrible is imaginable in a democracy only because it so quintessentially involved the victimization of a discrete and insular minority." (Ely, S. 182) Soweit keine Minderheit betroffen ist, vertraut Ely dagegen in anglo-amerikanischer Tradition auf den politischen Prozeß. Vgl. dazu allg. Brugger, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 324. 69 198 U.S. 45 ff. (1905). Überblick und Nachweise bei Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 786 ff. m. w. Nachw.; vgl. i. ü. aus der unübersehbaren Lit. z. B. Wellington, Interpreting the Constitution, S. 61 ff.; Brugger, Grundrechte, S. 53 ff. 70 Vgl. aber die „Obligation of Contracts"-Klausel in Art. 1 See. 10 Cl. 1 US-Verfassung. 71 300 U.S. 379 ff. (1937). 72 Die Bewertung der Lage des Supreme Court vor der Wende ist uneinheitlich. Während zum Teil die drohende Zerstörung des Supreme Court, zumindest aber seine Entmachtung diagnostiziert wird (so Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 715 [1985]: „the Court [at] the brink of self-destruction"), sind andere Stimmen gelassener (so Ely, S. 48: „yet nothing resembling destruction materialized."). Entsprechend sind auch die Meinungen zur Wirksamkeit des „court-packing plan", den Roosevelt bekanntlich nicht in die Tat umsetzte, geteilt. Ely, S. 46, meint, daß der Plan angekündigt wurde, nachdem die Wende innerhalb des Supreme Court schon beschlossen war.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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Schreibung künftiger verfassungsgerichtlicher Kompetenzen, die - wie später bei Ely - das Versprechen einschloß, die Verfassungsgerichtsbarkeit in den Dienst der Demokratie zu stellen74. In einer kritischen Sichtweise ersetzt die Fußnote dagegen nur eine Form von verfassungsgerichtlichem Aktivismus durch eine andere: An die Stelle von Eigentumsschutz mit Hilfe der due process-Klausel sei nunmehr Minderheitenschutz durch die Gleichheitsklausel getreten 75.
I I I . Die Autoren der Fußnote 4 Die Fußnote hat mehrere Autoren. Sie ist zunächst einmal Bestandteil eines Urteils, das Justice Stone im Namen des gesamten Supreme Court verfaßte („opinion of the Court"). Im ersten Entwurf, für den Stone die Verantwortung trug, bestand die Fußnote nur aus dem zweiten und dritten Absatz 76 . Diesen Entwurf hat im wesentlichen Louis Lusky als Stones Assistent („law clerk") besorgt 77. An der Redaktion der Fußnote war schließlich auch Chief Justice Hughes beteiligt, auf dessen Veranlassung Stone den ersten Absatz der Fußnote hinzugefügt hat 78 . Die Intention der Autoren von Fußnote 4 ist ihrerseits zum Gegenstand der Forschung geworden 79. Im folgenden steht jedoch Elys Theorie im Vordergrund, die als ein theoretisch geschlossener Entwurf der Spekulation über die letztlich nicht maßgeblichen Intentionen der unterschiedlichen Verfasser vorzuziehen ist 80 . Betont werden muß, daß die Fußnote für verschiedene Deutungen offen ist und nach der mutmaßlichen Intention von Justice Stone auch sein sollte, weil sie vor allem als Katalysator für die verfassungsrechtliche und -theoretische Diskussion konzipiert wurde 81 . Dieser Intention würde es widersprechen, die Fußnote auf eine „authentische" Interpretation festzulegen, wie es Lusky im Sinn hat. 73 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 714 (1985); Cover, 91 Yale L.J. 1288 f. (1982). 74
Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 715 (1985): „By demonstrating that the legislative decision itself resulted from an undemocratic procedure, a Carolene court hopes to reverse the spin of the countermajoritarian difficulty." 75 Die Kritik referiert Powell, 82 Colum. L. Rev. 1089 f. (1982). 76 Diese Version ist abgedruckt bei Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1096 f. (1982). 77 Vgl. Ely, S. 76; Cover, 91 Yale L.J. 1291 Fn. 12 (1982); Linzer, 12 Const. Comm. 280 ff. (1995); und vor allem Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1093 ff. (1982); ders., Our Nine Tribunes, S. 119 ff. 78 Dazu ausführlich Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1097 ff. (1982). 79 Vgl. Linzer, 12 Const. Comm. 277 ff. (1995); Powell , 82 Colum. L. Rev. 1087 ff. (1982). 80 Es ist dem vorsichtig tastenden, zu Diskussion einladenden Charakter der Fußnote unangemessen, wenn man sie wie Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1104 f. (1982), auf eine ursprüngliche Bedeutung festzulegen versucht und alle nachfolgenden Deutungen der Fußnote - außer der eigenen - als Mißverständnisse („Latter-Day Misconceptions" - ibid., S. 1104) zurückweist. Kritisch auch Linzer, 12 Const. Comm. 301 (1995). si So Powell, 82 Colum. L. Rev. 1090 (1982); ebenso Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1098 f. (1982).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
An die komplizierte Entstehungsgeschichte der Fußnote 4 knüpfen zwei unterschiedliche Interpretationen an, von denen eine die Fußnote als bloßen Rahmen begreift, der höchst unterschiedliche Auffassungen von Justice Stone und Chief Justice Hughes zur intensiven verfassungsgerichtlichen Kontrolle enthalte, während die andere die Fußnote so auffaßt, als ob sie aus einem Guß wäre. Die zuerst genannte, „additive" Deutung vertritt Lusky. Danach verbergen sich in der Fußnote zwei getrennte Ansätze82. Der erste Absatz von Chief Justice Hughes stellt auf die Natur des Grundrechts ab 83 , um die Prüfungsdichte zu bestimmen84, die Absätze zwei und drei auf funktionale Erwägungen zum politischen Prozeß. Für Lusky sind beide Ansätze unvereinbar 85. Die zwischen ihnen bestehende Spannung sei von Justice Stone bedauerlicherweise verwischt worden, weil dieser im Auftrag des gesamten Gerichts geschrieben habe86. Einen „integrativen" Ansatz vertritt Ely, der Kritik am ersten Absatz zurückweist 87. Für Ely genügt es nicht, allein die spezifischen Grundrechte durchzusetzen88. Umgekehrt wäre aber die Fußnote als Aufzählung gerichtlicher Kontrollkompetenzen ohne den ersten Absatz unvollständig89. Auch für Cover ergänzen die beiden letzten Absätze mit ihrer funktionalen Rechtfertigung die auf den Text der Verfassung bezogene Begründung verfassungsgerichtlicher Kontrolle im ersten Absatz 90 . Auf die hier angesprochene Innenarchitektur der Fußnote ist noch zurückzukommen 91. 82 Vgl. Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1098 ff., 1104 f. (1982). 83
Vgl. dazu das Schreiben von Chief Justice Hughes an Justice Stone in Sachen Carolene Products vom 18. April 1938, abgedruckt bei Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1106 (1982) im Anhang. 84 Hieran knüpfte der Streit um die „preferred freedoms" an. Dieser betraf die Frage, ob aus dem intensiven Schutz persönlicher Freiheitsrechte, wie ihn Fußnote 4 vorsieht, geschlossen werden soll, daß Eigentumsrechte und wirtschaftliche Interessen grundsätzlich keinen intensiven verfassungsgerichtlichen Schutz genießen können. Vgl. dazu etwa Linzer, 12 Const. Comm. 277 ff. (1995). Ohne Zweifel unterstellt die Fußnote höchstpersönliche, nichtwirtschaftliche Freiheiten dem besonderen Schutz der „strict scrutiny". Daraus kann man aber nicht zwingend ableiten, daß wirtschaftlich relevante Freiheiten schutzlos gestellt seien (ebenso Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1105 [1982]). Zunächst können Eigentumsrechte auch als „spezifisches Verfassungsrecht" unter den ersten Absatz der Fußnote fallen (vgl. z. B. die Enteignungsklausel im 5. Amendment: „nor shall private property be taken for public use without just compensation"), weshalb sie insoweit erhöhten verfassungsgerichtlichen Schutz genießen. Im übrigen sind wirtschaftliche Grundrechte (dazu allg. Brugger, Grundrechte, S. 53 ff.) nicht das Thema der Fußnote; insoweit können ihr daher auch keine abschließenden Aussagen zu verfassungsgerichtlichen Prüfungskompetenzen entnommen werden. S5 Vgl. Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1097 f., 1099 f. (1982). Daß Stone die Ergänzung seiner Fußnote hinnahm, kann man entgegen Lusky auch so deuten, daß er zwischen dem ersten und den beiden letzten Absätzen keinen Widerspruch sah. 8 6 So Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1099 f. (1982). Man kann nur spekulieren, ob Lusky hier gegen die Verwässerung seines ursprünglichen Entwurfs zu Felde zieht. 8 7 Vgl. Ely, S. 76. 88 Vgl. Ely, S. 76: „interpretivism is incomplete". 89 So Ely, S.222 Anm. 11. 90 Vgl. Cover, 91 Yale L.J. 1291 m. Fn. 13 (1982).
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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D. Elys Entfaltung der Fußnote 4 in „Democracy and Distrust" 92 In Anlehnung an Fußnote 4 läßt sich Elys Theorie in drei Elemente gliedern: Die Begrenzung des Verfassungsgerichts als Fundament seiner Theorie (I.), die Optimierung der Partizipation (II.) und die Verstärkung der Repräsentation von Minderheiten im politischen Prozeß (III.).
I. Begrenzung des Verfassungsgerichts Im zweiten und dritten Kapitel von „Democracy and Distrust" liefert Ely eine Kritik des Originalismus und des Non-Originalismus. Die Kritik ist wesentlicher Bestandteil seiner Theorie 93 , weil sie deutlich macht, warum er seine Theorie zum einen als Mittelweg zwischen den beiden angegriffenen Positionen versteht und warum er zum anderen bei der Entwicklung seines eigenen Standpunktes gedanklich vom originalistischen Ufer aufbricht. Vorab ist eine terminologische Klarstellung angebracht. Ely spricht in „Democracy and Distrust" ausschließlich von Interpretivismus und Non-Interpretivismus. Diese Differenzierung läuft im wesentlichen auf die bereits erwähnte 94 Unterscheidung von Originalismus und Non-Originalismus hinaus95, die in dieser Arbeit bevorzugt wird. Für diese Begriffswahl sprechen auch inhaltliche Gründe, auf die jedoch erst im Rahmen der Kritik einzugehen ist 96 .
1. Kritik am Non-Originalismus Im dritten Kapitel von „Democracy und Distrust" beschreibt Ely wortgewaltig die Fallstricke des Non-Originalismus, in dem er die herrschende Strömung der amerikanischen Verfassungstheorie erblickt 97 . Aus nichtoriginalistischer Sicht 91 Siehe unten 1. Kap., D. I. 4. 92 Vorarbeiten zu „Democracy and Distrust" sind in folgenden Aufsätzen von Ely enthalten: Constitutional Interpretivism: Its Allure and Impossibility, 53 Ind. L.J. 399 ff. (1978); The Supreme Court, 1977 Term - Foreword: On Discovering Fundamental Values, 92 Harv. L. Rev. 5 ff. (1978); Toward a Representation-Reinforcing Mode of Judicial Review, 37 Md. L. Rev. 451 ff. (1978); Legislative and Administrative Motivation in Constitutional Law, 79 Yale L.J. 1205 ff. (1970); The Constitutionality of Reverse Racial Discrimination, 41 U. Chi. L. Rev. 723 ff. (1974); The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade , 82 Yale L.J. 920 ff. (1973). Vgl. auch Ely, S. vii f. 93 Ähnlich Richards, 42 Ohio St. L.J. 319 (1981). 94 Siehe oben die Einleitung des 1. Teils. 95 Vgl. Ely, S. vii. 96 Siehe unten 3. Kap., B. II. 3. b) (1). 97 Zusammenfassung der Kritik bei Ely, On Protecting Fundamental Interests and Powerless Minorities under the United States and Canadian Constitutions, in: ders., On Constitutio-
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
habe der Supreme Court die Aufgabe, die offenen Bestimmungen der Verfassung durch Konkretisierung wichtiger oder fundamentaler Werte mit Inhalt zu versehen und so die wesentlichen Prinzipien der Gesellschaft zu entwickeln 98 . Kennzeichen des Non-Originalismus sei es, daß Gerichte auch Rechtsnormen anwenden dürften, die keine Stütze im Wortlaut der Verfassung hätten99. Der Non-Originalismus gewinne verfassungsrechtliche Inhalte aus Naturrecht 100 , Moralphilosophie 101 , Tradii no
1 /vi
tion oder Konsens . Auf diese Weise entscheide das Verfassungsgericht zwischen grundlegend umstrittenen politischen, sozialen und moralischen Vorstellungen, wobei Ely zufolge letztlich die eigenen Wertvorstellungen der Richter zum Entscheidungsmaßstab würden 104 . Die vom Gericht ermittelten Prinzipien seien nämlich entweder allseitig konsentiert, aber von so hohem Abstraktionsgrad, daß sie im konkreten Fall nutzlos seien, oder aber hinreichend konkretisiert und in dieser Form hoffnungslos umstritten 105 . Die amerikanische Gesellschaft verfüge nicht über einen objektiv nachweisbaren Bestand moralischer Prinzipien 106 . Es gebe kein verbindliches Auswahlkriterium für die maßgebliche „gute" Tradition und für das Abstraktionsniveau, auf dem ein traditionelles Prinzip zu formulieren sei 1 0 7 . Darüber hinaus sei es für Gerichte unmöglich, in einer umstrittenen Frage einen Mehrheitskonsens aus den gesellschaftlichen Anschauungen herauszufiltern 108 . Selbst wenn dies gelingen würde, wäre der Konsens kein Argument gegen ein mehrheitlich beschlossenes Gesetz. Denn der Gesetzgeber reflektiere einen bestehenden Konsens viel eher als das nicht repräsentative Verfassungsgericht 109. Mehrheitskonsens lasse überdies keinen Raum für Minderheitenschutz 110. Die Krinal Ground, S. 20 ff. Vgl. auch Brugger, Grundrechte, S. 380 ff. In die gleiche Kerbe wie Ely schlagen Bork, The Tempting of America, S. 134; Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 353 ff. (1981); Scalia, A Matter of Interpretation, S. 44 f.; Klarman, 77 Va. L. Rev. 771 f. (1991). 98 Vgl. Ely, S. vii, 43. 99 Vgl. Ely, S. 1: ,,[C]ourts should [ . . . ] enforce norms that cannot be discovered within the four corners of the document." Vgl. diese Beschreibung des Non-Originalismus aus textualistischer Perspektive mit der intentionalistischen Beschreibung bei Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 760: Non-Originalismus lasse Werturteile des Verfassungsgerichts zu, die der Verfassungsgeber nicht vorausgesehen habe oder die gegen seinen Willen verstießen. 100 Ely, S. 48 ff. 101 Ely, S. 56 ff. 102 Ely, S. 60 ff. 103 Ely, S. 63 ff. 104 Vgl. Ely, S. 44. los Vgl. Ely, S. 51 f., 64 f. 106 Vgl. Ely, S. 54. 107 Dazu Ely, S. 60 ff. 108 Vgl. Ely, S. 64. 109 Vgl. Ely, S. 67. no Vgl. Ely, S. 69: ,,[I]t makes no sense to employ the value judgments of the majority as the vehicle for protecting minorities from the value judgments of the majority." (Fn. weggelassen).
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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tik läßt sich so zusammenfassen, daß Ely den Non-Originalismus für undemokratisch, willkürlich und elitistisch hält 1 1 1 .
2. Kritik am intentionalistischen
Originalismus
Unter Originalismus versteht Ely, daß sich Gerichte bei der Entscheidung verfassungsrechtlicher Fragen darauf beschränken sollen, Rechtsnormen anzuwenden, die ausdrücklich oder zweifellos stillschweigend in der geschriebenen Verfassung verankert sind 112 . Die der Entscheidung zugrundeliegende Prämisse müsse einigermaßen deutlich in der Verfassung erkennbar sein 113 . Trotz dieser eher textualistischen Definition des Originalismus, in der der Hinweis auf den Willen des historischen Verfassungsgebers fehlt 114 , lehnt Ely in seiner Kritik nur den intentionalistischen Zweig des Originalismus ab, während er dem Textualismus - in seiner auf die Gegenwartsbedeutung der Verfassung abstellenden Version - eine noch näher zu erläuternde Berechtigung zugesteht. Dabei will Ely dem Intentionalismus einen anfänglichen Reiz nicht absprechen 115 : Die intentionalistische Rechtfertigung verfassungsgerichtlicher Kontrolle behaupte, mit dem Mehrheitsprinzip als der zentralen Anforderung der amerikanischen Demokratie zu harmonieren 116. Grundrechts- und Minderheitenschutz sei nur durch eine im voraus erfolgte Selbstbindung der Mehrheit des Volkes denkbar, nicht aber durch ungeschriebene Verfassungsnormen, denen das Volk nie zugestimmt habe. Beschränke man die verfassungsrechtlichen Generalklauseln auf die historisch vorbedachten Anwendungsfälle oder Verfassungsprinzipien, so vollziehe das Verfassungsgericht im Grunde genommen nur den Willen der Mehrheit. 111 Vgl. Ely ; S. 44 (eigene Werte als Interpretationsmaßstab), 59 (Neigung der zeitgenössischen Moralphilosophie zu den Werten der akademisch gebildeten oberen Mittelklasse). Vgl. auch Bork, The Tempting of America, S. 145. Elys Elitismuskritik steigert sich teilweise zu einem von schrillen Tönen nicht freien Totalitarismusverdacht: „The notion that the genuine values of the people can most reliably be discerned by a nondemocratic elite is sometimes referred to in the literature as ,the Führer principle 4, and indeed it was Adolf Hitler who said ,My pride is that I know no statesman in the world who with greater right than I can say that he is the representative of his people.' We know, however, that this is not an attitude limited to right-wing elites." (Ely, S. 68, Fn. weggelassen). Es folgt ein Hinweis auf das sowjetischkommunistische Pendant. Vgl. in die gleiche Richtung Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 10. 112 Ely, S. 1: ,,[J]udges deciding constitutional issues should confine themselves to enforcing norms that are stated or clearly implicit in the written Constitution". 113 V g l . Ely, S. 2.
114 Vgl. Stone/ Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 759, die den Originalismus aus intentionalistischer Perspektive so beschreiben: ,,[J]udges deciding constitutional issues should confine themselves to enforcing norms that are stated or clearly implicit in the Constitution as it was understood by those who ratified it. " (Hervorhebung von J.R.) us Vgl. Ely, S. 1 (Überschrift): „The Allure of Interpretivism". 116 So Ely, S.4,7.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Mit den nichtoriginalistischen Gegnern des Intentionalismus weist Ely jedoch darauf hin, daß die Selbstbindung des Volkes durch die Verfassung eine unangemessene Fiktion darstelle, da das Volk im intentionalistischen Ansatz an den Willen und die Werte seiner längst verstorbenen Vorfahren gebunden werden solle 117 . Darüber hinaus versucht Ely anhand von konkreten Fällen nachzuweisen, daß reiner Intentionalismus undurchführbar sei, weil die Entstehungsgeschichte meistens zu keinem klaren Ergebnis führe 118 . Sein tragender Einwand gegen den Intentionalismus lautet jedoch, daß dieser im Hinblick auf bestimmte Generalklauseln der Textbedeutung widerspreche: Die Verfassung enthalte eine Reihe von Bestimmungen, die einen offenen Charakter hätten, weil sie über ihren Wortlaut hinausweisen und deshalb keine in sich abgeschlossenen Sinneinheiten („self-contained units") seien 119 . Beschränke man die Auslegung in diesen Fällen auf die historisch vorbedachten Anwendungsfälle, so würde dies der sprachlichen Anweisung der Normen nicht gerecht.
3. Begrenzung der Generalklauseln Aus der sprachlich offenen Fassung der Generalklauseln, der Ely eine „Delegation" oder „Einladung" zur Verfassungsinterpretation entnimmt 120 , und aus der Unzulässigkeit einer intentionalistischen Begrenzung zieht Ely jedoch nicht den Schluß, daß das Verfassungsgericht nunmehr frei sei, wie es diese Bestimmungen mit inhaltlichen Werten konkretisiere. Denn damit geriete er in nichtoriginalistisches Fahrwasser. Auch wenn Ely wohl nicht bestreiten will, daß die Generalklauseln wenigstens in den historisch vorbedachten Fällen anwendbar sein sollen, so ist ihr Gebrauch hiervon abgesehen unzulässig, es sei denn, man stützt sich dabei auf die konstruktiven Elemente seiner Theorie 121 . Verwende man die Generalklauseln im Sinne der repräsentationsoptimierenden Theorie, so trage man ihrer nach Konkretisierung rufenden Textbedeutung Rechnung, ohne jedoch in eine demokratiefeindliche, subjektivistische und elitistische Inhaltsbestimmung zurückzufallen. Somit ist dem Verfassungsgericht der Zugriff auf die Generalklauseln außerhalb des Anwendungsbereiches seiner Theorie versperrt. Dies führt dazu, daß der re117 Vgl. Ely, S. vii, 11. Zu einer solchen Bindung kommt es nicht nur auf intentionalistischer, sondern auch auf historisch-textualistischer Grundlage, vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 145 f. (moralische Werte der Verfassungsväter seien auch heute noch unverändert verbindlich, was ihre Anwendung unter Gegenwartsbedingungen nicht ausschließen soll). us Vgl. etwa Ely, S. 15 f., 27, 31.
119 Vgl. Ely, S. 12 mit Zitat. Beispiele ibid., S. 20 (due process), S. 28 (privileges and immunities), S. 32 (equal protection) und S. 38 (9. Amendment). Ahnlich unter Hinweis auf Ely Tribe, American Constitutional Law, S. 33 ff. m. Fn. 9. 120 Ely, S. 12, 14, 18,23,28. 121 Vgl. Ely, S. 41.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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striktive Teil von Elys Theorie im Ergebnis die gleiche begrenzende Wirkung wie der von ihm abgelehnte Intentionalismus hat 1 2 2 . Besonders deutlich wird dies, wenn man Elys Theorie und den Intentionalismus im Hinblick auf die due process-Klausel vergleicht, wo Elys aktivistischer Gebrauch der Generalklauseln keine Rolle spielt: Ely hält es mit den Intentionalisten für eine verfassungsgerichtliche Kompetenzüberschreitung, im Wege einer inhaltlichen Deutung der due process-Klausel neue Grundrechte zu erfinden. Im Ergebnis sind nach dieser Ansicht so unterschiedliche Entscheidungen wie Lochner v. New York 123 und Roe v. Wade 124 gleichermaßen illegitim, weil der Supreme Court im einen Fall ein Grundrecht auf Vertragsfreiheit und im anderen ein Grundrecht auf Abtreibung neu geschaffen hat 1 2 5 . Beide Theorien möchten die Klausel in Übereinstimmung mit dem Wortsinn („due process of law") am liebsten auf eine rein prozedurale Deutung reduzieren 126. Der dogmatische und methodische Weg, auf dem neue Grundrechte generiert werden, soll für die Illegitimität dieses Vorgangs keine Rolle spielen. Deshalb ist es für diese Ansicht letztlich unerheblich, ob neue Grundrechte durch Konkretisierung von Generalklauseln oder durch weite 1 2 7 Analogie zu spezifischen Grundrechten entstehen128. Die allgemeine Gleichheitsklausel des 14. Amendment ist nach intentionalistischer Auffassung nur auf Rassendiskrimierung 129 oder - in enger Analogie - auf 122 Ähnlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 259: „Ely übernimmt demnach wichtige Elemente der Originalisten." 123 198 U.S. 45 ff. (1905). 124 410 U.S. 113 ff. (1973). Dazu Ely, The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade, 82 Yale L.J. 920 ff. (1973); ferner ders., On Constitutional Ground, S. 297 ff.
125 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 132 (1981). 126 Immerhin unterstellt der Intentionalismus traditionelle Freiheitsinteressen wie Ehe und Familie im Wege einer (angeblich) engen Analogie der strikten gerichtlichen Kontrolle, wobei selbst hier fraglich ist, inwieweit Ely folgen kann. Vgl. allg. Brugger, Grundrechte, S. 122 ff., 432. Ely ist streng genommen sogar zu einer engen Analogie außerstande, da er sich hierfür nicht auf Tradition und Konsens berufen könnte. 127 Eine weite Analogie weist im Gegensatz zu einer engen Analogie und zu extensiver Auslegung eine vergleichsweise schwächere Anbindung an Text, Tradition, historischen Willen und Einzelsystematik auf. Vgl. dazu Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 6 ff., 9. Die Abgrenzung ist zwar fließend und im Einzelfall häufig umstritten, deshalb jedoch nicht unmöglich. Über die Legitimität der einen oder anderen Interpretation ist mit dieser Einteilung nichts gesagt. 128 Zu den beiden Vorgehensweisen der „Konkretisierung von allgemeinen Prinzipien" sowie der „Verallgemeinerung von spezifischen Schutzbereichen" eindrücklich Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 6 f., 43 (Zitate auf S. 50). Siehe auch unten 1. Kap., E. I. 1. 129
Dies ist unstreitig der historisch vorbedachte Fall des 1868 eingefügten „Civil War Amendment". Wäre Rassendiskriminierung der einzige Anwendungsfall der Gleichheitsklausel, so wären bei einem konsequent historischen Verfassungsverständnis sogar nur die Schwarzen, nicht aber andere Rassen geschützt, wie Ely, S. 149, in einem Seitenhieb auf den Originalismus festhält. Dieses Ergebnis wird, soweit ersichtlich, von niemandem vertreten. Vgl. aber Bork, The Tempting of America, S. 149.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Diskriminierung wegen der nationalen Herkunft 130 anwendbar. Der Kreis der in der amerikanischen Dogmatik „verdächtigen" Klassifizierungsmerkmale, deren Vorliegen die strikte Gleichheitsprüfung 131 auslöst, ist also eng umgrenzt und grundsätzlich nicht erweiterungsfähig 132. Dies würde auch Ely unterschreiben, wenn nicht der aktivistische Teil seiner Theorie ausgerechnet die Gleichheitsklausel als Hebel benutzen würde. Elys restriktive Konzeption der Generalklauseln, die bei oberflächlicher Betrachtung mit einem intentionalistischen Ansatz verwechselt werden kann, läßt sich somit in folgender Faustformel zusammenfassen: „Generalklauseln sind für das Verfassungsgericht mit Ausnahme der historisch vorbedachten Anwendungsfälle grundsätzlich tabu. Ausnahmen regelt die Theorie der Repräsentationsoptimierung."
4. Elys Deutung der Fußnote 4 Ist Elys Anschluß an Fußnote 4 überzeugend? Ely akzeptiert die intensive Kontrolle im Bereich der speziellen Grundrechte der Bill of Rights. Aber auch jede andere Theorie, die verfassungsgerichtliche Kontrolle überhaupt zuläßt 133 , bejaht dies. Erst wenn man unterstellt, daß sich die Kontrollbefugnisse des Verfassungsgerichts grundsätzlich auf „spezifisches" Verfassungsrecht beschränken, geht der erste Absatz über ein oben als trivial bezeichnetes Verständnis hinaus. In eine restriktive Richtung weist die Fußnote, wenn man aus dem ersten Absatz im Umkehrschluß folgert, daß für nichtspezifisches Verfassungsrecht grundsätzlich nur der Rationale-Basis-Test anwendbar sein soll. Absätze zwei und drei umschreiben dann Fälle, in denen ganz ausnahmsweise auch nichtspezifische Generalklauseln in Gestalt der „allgemeinen Verbote" des 14. Zusatzartikels einer strikten Kontrolle unterliegen. Eine solche Strategie der verfassungsgerichtlichen Zurückhaltung (im
130 Vgl. dazu Korematsu v. U.S., 323 U.S. 214 ff. (1944) (Internierung von US-Bürgern japanischer Herkunft im 2. Weltkrieg zur Vorbeugung gegen Sabotage verfassungsmäßig). Vgl. auch Brugger, Grundrechte, S. 173, 188 (enge Analogie zum Klassifizierungsmerkmal „Rasse"), und ferner Ely, S. 148. 131 Im Bereich verdächtiger Klassifizierungen bedeutet strikte Überprüfung, daß das Klassifizierungsmerkmal (und damit die Ungleichbehandlung oder Diskriminierung im weiteren Sinne) nur dann verfassungsmäßig ist, wenn es der Verwirklichung eines zwingenden öffentlichen Interesses dient und hierzu notwendig ist. Zwischen der Klassifizierung und dem verfolgten Zweck muß eine enge Beziehung (close fit) bestehen, d. h. es darf kein weniger belastendes Mittel zur Verfügung stehen, das zur Zweckerreichung gleichermaßen geeignet wäre. Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 173. Siehe dazu näher unten 1. Kap., D. III. 1. 132 Dies zielt vor allem gegen Klassifizierungen wie Alter, Armut, Geschlecht, Nichtehelichkeit, Ausländerstatus und sexuelle Orientierung. 133 Vgl. aber Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts. Dazu unten 3. Kap., B. II. l.d).
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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Sinne von Thayer) vertritt grundsätzlich auch E l y 1 3 4 . Sie ist mit der Struktur der Fußnote 4 vereinbar, von ihr aber nicht zwingend vorgegeben. Der im ersten Absatz der Fußnote verwendete Begriff des „spezifischen" Verfassungsrechts drückt eine für den Originalismus typische Annahme aus 135 , nach der die Verfassung überwiegend eindeutige Regeln enthält bzw. nur klare Regeln überhaupt Rechtssatzcharakter haben. Die Fußnote gibt jedoch trotz ihrer Rede vom „spezifischen" Recht nicht klar zu erkennen, ob und inwieweit sie dem Originalismus verbunden ist. Wenn nun Ely zum ersten Absatz der Fußnote kurz und bündig festhält, es handele sich um „puren Interpretivismus" 136, will er die Fußnote keineswegs auf ein intentionalistisches Fundament stellen. Seine Definition von „Interpretivismus" führt vielmehr zu einem textualistischen Verständnis, das sich aber im Unterschied zum Originalismus auf die Gegenwartsbedeutung der Verfassung bezieht. Die Kontrolle spezifischen Verfassungsrechts ist für Ely schon deshalb legitim, weil sie positiv-rechtlich angeordnet ist 1 3 7 . Dies ist eine naheliegende Deutung des ersten Absatzes. Darüber hinaus steht die Fußnote einer prozeduralen Lesart durchaus offen. Anhaltspunkte hierfür finden sich im zweiten und dritten Absatz, die sich mit dem demokratischen Prozeß beschäftigen. Allerdings behauptet die Fußnote nicht, daß sich eine prozedurale Kontrolle durchführen lasse, ohne dabei inhaltliche Fragen zu entscheiden. Dieser Aspekt muß daher als Zutat von Ely gelten 138 . Das gleiche gilt für seine Behauptung, daß spezifisches Verfassungsrecht überwiegend Verfahrensfragen betreffe. Im ersten Absatz ist davon keine Rede. Deshalb zwingt die Fußnote nicht zu einem rein prozeduralen Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Im übrigen schließt es Fußnote 4 jedenfalls nicht aus, sie wie Ely im Rahmen einer „integrativen" Strategie als einheitliches Konzept zu lesen, in dem Begrenzung und Begründung verfassungsgerichtlicher Kompetenzen in einem symbiotischen Verhältnis zueinander stehen. Somit ist mit dem Text der Fußnote 4 ein prozedurales, repräsentationsoptimierendes Verständnis ebenso vereinbar wie eine intentionalistische oder eine nichtoriginalistische Deutung. Die Fußnote öffnet sich also für restriktive wie für aktivistische Konzeptionen von Verfassungsgerichtsbarkeit. Elys Deutung der Fußnote 4 ist vor diesem Hintergrund plausibel, aber keineswegs die einzig vertretbare Lösung. 134
Siehe dazu unten 2. Kap., zu H. Vgl. etwa die Diskussion bei Scalia, A Matter of Interpretation, S. 134 f. 136 Ely, S. 76. Ähnlich Ortiz , 11 Va. L. Rev. 726 f. (1991). 135
137 Vgl. gegen Luskys Kritik am ersten Absatz Ely, S. 76: „Any implied substantive criticism seems misplaced: positive law has its claims, even when it doesn't fit some grander theory." (Fn. weggelassen). 138 Vgl. husky, 82 Colum. L. Rev. 1096 Fn. 17 m. Text (1982). Vgl. auch Brilmayer, 134 U. Pa. L. Rev. 1306 ff. (1986).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
II. Verfassungsgerichtliche Partizipationsoptimierung Ely faßt den politischen Prozeß als pluralistischen „Marktplatz der Interessen" auf 1 3 9 . Alle Standpunkte müssen die gleiche rechtliche Chance haben, sich in den politischen Prozeß einzubringen. Daher müssen alle Teilnehmer die gleichen Partizipationsrechte genießen, insbesondere Redefreiheit und gleiches Wahlrecht („voice and vote"). Zentrales Anliegen ist also die Optimierung des politischen Prozesses im Input-Stadium, nicht aber die Kontrolle des Output 140 . Dabei muß eine Veränderung der gegenwärtigen Machtkonstellation, bei der Mehrheit und Minderheit die Plätze tauschen, jederzeit möglich sein 141 . Das Verfassungsgericht hat hierfür die Kanäle der politischen Partizipation und Kommunikation offenzuhalten 142. Voraussetzung verfassungsgerichtlicher Kontrolle ist eine Fehlfunktion im politischen Prozeß: „Eine Fehlfunktion, bei der das Verfahren kein Vertrauen verdient, tritt auf, wenn [ . . . ] die Insider die Kanäle für politische Veränderung blockieren, um sicherzustellen, daß sie drinnen und die Außenseiter draußen bleiben werden." 143
Zur Sicherung der für gleichberechtigte Partizipation erforderlichen Grundrechte sei das Verfassungsgericht berufen, weil man den am Machterhalt interessierten Insidern im politischen Prozeß nicht die Entscheidung in eigener Sache überlassen dürfe 144 . Ely empfiehlt einen „Antitrust-Ansatz", der eine gerichtliche Intervention nur bei Verletzung der Spielregeln des Marktes erlaube 145 . Einem ähnlichen Bild zufolge habe das Verfassungsgericht als Schiedsrichter zu fungieren 146 . Die gegenwärtige Mehrheit kann einen Machtwechsel blockieren, indem sie das Wahlrecht zu ihren Gunsten manipuliert oder Kritik an ihrer Politik verbietet. Zum einen will Ely daher Diskriminierungen im Bereich des Wahlrechts einer strikten Kontrolle anhand der Gleichheitsklausel147 des 14. Amendment unterwerfen 148. 139 Vgl. Ely, S. 103 („political market"), S. 135 („political marketplace"), S. 152 („pluralisms bazaar"). Zitat bei Brugger, Grundrechte, S. 376; vgl. auch ibid., S. 169, zum klassisch pluralistischen Modell. Näher dazu unten 2. Kap., G. II. 140 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 414 Fn. 32 m. Nachw. 141 Vgl. Ely, S. 74. 142 Vgl. Ely, S. 76. 143 Ely, S. 103 (Hervorhebung i.O.). 144 Vgl. Ely, S. 103, 120. 145 Vgl. Ely, S. 102 f. 146 S. Ely, S. 73 („The Court as Referee"), 103. 147 Im Gegensatz zur h.M. will sich Ely, S. 118 Fn. *, in Wahlrechtsfragen auch auf die Republican Form of Govemment-Klausel (Art. IV, See. 4 U.S.-Verfassung) stützen. 148 Vgl. näher Ely, S. 116 ff. (119). In der amerikanischen Dogmatik ist das Wahlrecht ein fundamentales Interesse, dessen Beeinträchtigung eine strenge gerichtliche Kontrolle im Rahmen der Gleichheitsprüfung auslöst. Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 75 f., 77 ff., 83 f. Eine strenge Kontrolle von Beschränkungen des Wahlrechts in Form von Wahlsteuern, Leseund Schreibtests etc. erscheint aus heutiger Sicht wenig praxisrelevant. Diese vor allem die
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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Zum anderen diskutiert er dogmatische Wege, wie man die für den offenen demokratischen Prozeß unabdingbaren politischen Grundrechte gegen Beschränkungen in Krisenzeiten absichern kann 149 . Seine Sorge gilt vor allem der Redefreiheit 150. Im Anschluß an den Supreme Court bejaht Ely darüber hinaus ein Grundrecht auf Reisefreiheit sowie auf Umzug in einen anderen Einzelstaat151. Nach dem Text der Verfassung ist die Freizügigkeit nicht geschützt. Das stört Ely aber nicht, da er ihr eine wichtige „Ventilfunktion" im System der Mehrheitsdemokratie zuschreibt 152 : Wenn sich schon der einzelne dem Willen der örtlichen Mehrheit beugen muß, seine eigene Stimme als machtlos empfindet und ihm für abweichende Verhaltensweisen kein allgemeines Persönlichkeitsrecht zur Seite steht, dann soll ihm wenigstens die „Exit"-Option bleiben, die ihm den Umzug in eine - womöglich - bessere örtliche Gemeinschaft erlaubt 153 .
I I I . Optimierung der Repräsentation von Minderheiten im politischen Prozeß Anders als für den Intentionalismus und die Vertreter gerichtlicher Zurückhaltung gibt es für Ely keine Gewähr, daß sich der politische Prozeß gegenüber allen Teilnehmern öffnet und die Interessen von Minderheiten angemessen berücksichtigt. Die Gegenauffassung müsse diese zwei Punkte „quasi als politisches Korrelat zum frühkapitalistischen Vertrauen in den Automatismus des Marktes" unterstellen 1 5 4 . Repräsentationsoptimierung bedeutet bei Ely, die Berücksichtigung der Interessen von Minderheiten im politischen Prozeß verfassungsgerichtlich zu verstärken 155 . Der Minderheitenschutz soll rein prozedural wirken. Voraussetzung der Schwarzen diskriminierenden Praktiken waren aber in den USA während langer Phasen der Unterdrückung weit verbreitet, ohne daß der Supreme Court dagegen eingeschritten wäre. Vor diesem Hintergrund ist die Rspr. des Warren Court weitaus progressiver, als es im Rückblick erscheint. Vgl. die Darstellungen bei Choper, S. 88 f.; Brugger, Grundrechte, S. 77 ff. 149 Vgl. im einzelnen Ely, S. 105 ff., insb. 116. 150 Zu nennen ist auch die Versammlungsfreiheit sowie die im 1. Amendment nicht ausdrücklich erwähnte Vereinigungsfreiheit, die die Freiheit einschließt, politische Parteien zu gründen, wovon auch der zweite Absatz der Fußnote 4 spricht. 151 Vgl. Ely, S. 177 ff. 152
„The Constitution makes no mention of any such right. By now we know that cannot be determinative, but we are entitled to some sort of explanation of why the right is appropriately attributable." (Ely, S. 177 - Hervorhebung von J.R.) 153 Vgl. allg. Hirschman, Exit, Voice, and Loyalty, S. 4, 21 ff. u.ö.; zitiert bei Ely, S. 178 f. 154 Brugger, Grundrechte, S. 363; ders., ARSPBeih. 37 (1990), S. 179. 155 Die Bezeichnung „Repräsentationsverstärkung" ist unglücklich gewählt. Es geht Ely weniger um die Repräsentation einer Minderheit in der Bevölkerung durch die Repräsentanten (der Mehrheit, der Minderheit oder „des ganzen Volkes", vgl. Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG) im Parlament, sondern vielmehr um eine verfassungsgerichtliche Verstärkung der Stellung der Minderheitsrepräsentanten im Verhältnis zu voreingenommenen Mehrheitsrepräsentanten.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Repräsentationsoptimierung ist, daß das optimierte demokratische Verfahren, an dem - formell betrachtet - jede Gruppe ungehindert partizipieren kann 156 , an einer funktionalen Störung leidet. So schreibt Ely: „Eine Fehlfunktion, bei der das Verfahren kein Vertrauen verdient, tritt auf, wenn [ . . . ] zwar niemandem die Redefreiheit oder das Stimmrecht versagt wird, jedoch die einer Mehrheit verpflichteten Repräsentanten eine Minderheit aufgrund von schlichter Feindseligkeit oder weil sie sich aufgrund von Vorurteilen weigern, gemeinsame Interessen zu erkennen, systematisch benachteiligen und dieser Minderheit damit den Schutz versagen, den das repräsentative System anderen Gruppen gewährt." 157
Aufgrund des Mehrheitsprinzips ist es ein normaler politischer Vorgang, daß die Mehrheit die Minderheit überstimmt und ihr einseitig Nachteile auferlegt. Nicht jeder Verlierer im politischen Prozeß ist daher eine Minderheit, die besonderen verfassungsgerichtlichen Schutz beanspruchen kann. Die Benachteiligung der Minderheit signalisiert für Ely nur dann eine Fehlfunktion, wenn die Mehrheit deren Interessen aufgrund von Vorurteilen nicht angemessen berücksichtigt hat. Das Vorurteil hindert die Mehrheit daran, die Interessen der Minderheit bei ihrer Entscheidungsfindung fair einzubeziehen. Umgekehrt setzt es die Minderheit außerstande, politischen Tauschhandel mit ggfs. wechselnden Interessenkoalitionen zu betreiben, um so ihre Interessen zu verteidigen. Die Mehrheit ist bei Ely kein monolithischer Block, sondern eine temporäre und im Bestand wechselnde Koalition aus Minderheiten 158 . Letztlich besteht der politische Prozeß in dieser Sicht aus Interessengruppen, die sich immer wieder neu in unterschiedlichen Konstellationen zusammenschließen. Diesen Mechanismus blockiert das Vorurteil. Im Ergebnis ist das formell vorhandene Wahl- und Stimmrecht für die Minderheit nutzlos 159 . Sie wird zu einem systematischen Verlierer im politischen Prozeß. Das Verfassungsgericht soll diese Minderheiten schützen, weil sie sich aufgrund des Vorurteils nicht aus eigener Kraft wehren können 160 . Verfassungstheoretischer Anknüpfungspunkt ist bei Ely jedoch nicht die Störung im pluralistischen Marktgeschehen, sondern die durch das Vorurteil motivierte Weigerung der Mehrheit, die Interessen einer Minderheit angemessen zu repräsenEly verquickt hier Pluralismus und Repräsentation, ohne die Beziehung der beiden Konzepte zueinander auf eine theoretische Grundlage zu stellen. 156 Die Partizipationsrechte der Minderheit („voice and vote") optimiert das Verfassungsgericht bereits im Rahmen des zweiten Absatzes der Fußnote 4. 157 Ely , S. 103 (Hervorhebung i.O., Auslassung betrifft die Partizipationsoptimierung, Fn. weggelassen). 158 Ely , S. 153, hält fest: „We are a nation of minorities and our system thus depends on the ability and willingness of various groups to apprehend those overlapping interests that can bind them into a majority on a given issue..." Noch deutlicher ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 398 Fn. 3 (1981). 159 Vgl. Ely , S. 84. 160 Vgl. Ely, S. 152: „courts should protect those who can't protect themselves politically".
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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tieren. Die mangelnde Repräsentation der Minderheitsinteressen durch die Mehrheit faßt Ely als Verfahrensfehler auf, den er durch die Gleichheitsklausel des 14. Amendment sanktionieren will. Das Ergebnis ist eine verfassungsgerichtlich fingierte Berücksichtigung der Interessen der Minderheit: Es wird so getan, als ob der politische Prozeß funktioniert und die Minderheitsinteressen fair berücksichtigt, das heißt repräsentiert habe. Ely verwendet in diesem Zusammenhang auch den höchst problematischen Begriff der virtuellen Repräsentation 161 .
1. Ausgangspunkt:
Gleichheitsklausel
als prozedurales
Gebot
Elys Ansatz ist nur verständlich, wenn man sich seinen Standpunkt innerhalb der Dogmatik der Gleichheitsprüfung i m amerikanischen Verfassungsrecht vergegenwärtigt 1 6 2 . Das Instrument, mit dem der Supreme Court das Ergebnis des politischen Prozesses korrigieren soll, ist die Gleichheitsklausel. Dazu dehnt Ely - ent161
Ely, S. 82 ff., verzichtet auf eine zufriedenstellende theoretische Absicherung seines eigenen Gebrauchs dieses aus der US-amerikanischen Kolonialzeit stammenden Konzepts. Für die Durchführung des Minderheitenschutzes ist es entbehrlich und bleibt daher im folgenden zumeist außer Betracht. Nach Elys Verständnis von „virtueller Repräsentation" müssen die Interessen der Minderheit von den auf das Gesamtwohl verpflichteten Mehrheitsrepräsentanten berücksichtigt (und in diesem Sinne repräsentiert) werden, auch wenn die Minderheitsinteressen im Ergebnis unterliegen. Ely, S. 82, ist sich der Ironie voll bewußt, die darin liegt, daß die Engländer mit der Idee der virtuellen Repräsentation Ansprüche der amerikanischen Siedler auf Partizipation und Repräsentation im englischen Parlament abzuwehren versuchten. „Virtuelle Repräsentation" war die britische Antwort auf die amerikanische Parole „No taxation without representation". Dennoch will Ely das Konzept einsetzen, um die Interessen von Mehrheit und Minderheit zu verkoppeln. Für Ely, S. 86, zwingt die Gleichheitsklausel die Mehrheit dazu, die Interessen der Minderheit fair einzubeziehen. In Anlehnung an das historische Vorbild könnte man dabei konstruktiv zu Recht von virtueller Repräsentation der Minderheitsinteressen im Wege der Gleichheitsklausel sprechen, wenn die Minderheit kein Stimmrecht hat. Vgl. zu solchen Fällen Ely, S. 83 f. Ely spricht aber gerade dann von virtueller Repräsentation, wenn die Minderheit volles Stimmrecht hat (also im formellen Sinne repräsentiert wird) und ihre Interessen lediglich aufgrund funktionaler Mängel im politischen Prozeß nicht fair berücksichtigt werden, vgl. Ely, S. 84. In einem derartig extensiven Verständnis ist die Idee der virtuellen Repräsentation ohne rechte Überzeugungskraft und zudem irreführend: Warum soll sich ein Mehrheitsrepräsentant in der pluralistischen Demokratie gerade um Minderheitsinteressen kümmern? Sieht man die amerikanischen Parlamentarier als „Vertreter des ganzen Volkes" (Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG), so ist der Schwenk in die „Virtualität" überflüssig, weil schlichte, „echte" Repräsentation auch genügen würde. Das verunglückte Konzept der „virtuellen Repräsentation" dient letztlich als Tarnkappe für eine Rechte-orientierte Begründung des Minderheitenschutzes, die Ely zu verstecken versucht. Dazu unten 2. Kap., zu D. Vgl. auch die Kritik bei Brilmayer, 134 U. Pa. L. Rev. 1310 ff. (1986). Zum Begriff der Repräsentation vgl. allg. Hofmann, Repräsentation. 162 Dazu allg. Brugger, Grundrechte, S. 144 ff., insb. 162 ff.; ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 112 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
gegen originalistischer Methodik - den Kreis verdächtiger Klassifizierungsmerkmale aus, so daß ein Nachteil, den die Mehrheit der Minderheit aufgrund von Vorurteilen einseitig auferlegt, der strikten Uberprüfung unterliegt. Für Vorteile, die sich die Mehrheit auf Kosten der Minderheit zuschanzt, gilt Entsprechendes. Elys Analyse beschränkt sich hierbei grundsätzlich auf klassifizierende Gesetze, das heißt auf die de jure-Diskriminierung 163 . Aufgrund des strengen Prüfungsmaßstabes im Bereich verdächtiger Klassifizierungen muß der Gesetzgeber eine möglichst enge Beziehung („close fit") zwischen dem von ihm verfolgten zwingenden öffentlichen Interesse und dem gewählten Unterscheidungsmerkmal nachweisen 164 . Es darf kein alternatives und zugleich unverdächtiges Unterscheidungsmerkmal geben, das zur Zweckerreichung gleichermaßen geeignet wäre. Diese schwer zu erfüllenden Anforderungen kommen in der Praxis einer Vermutung der Verfassungswidrigkeit gleich 165 . Für Ely darf das Gericht in der Gleichheitsprüfung keine materiellen Abwägungen anstelle des Gesetzgebers vornehmen, da das Verfassungsgericht für solche Entscheidungen unzuständig sei und die Verfassung kein allgemeines Verteilungsschema enthalte 166 . Gleichheit ist für Ely Verfahrensgleichheit. Dieses prozedurale Verständnis der Gleichheitsklausel zeigt sich besonders daran, daß Ely die Gleichheitsprüfung als Filter einsetzt, um verfassungswidrige Motivation des Gesetzgebers ausfindig zu machen 167 . Diese stellt für Ely einen Verfahrensfehler dar, der als Verletzung des „due process of lawmaking" 168 zur Verfassungswidrigkeit des Gesetzes führt 169 . Die Verwendung eines verdächtigen Unterscheidungsmerkmals
163 Vgl. z. B. Ely, S. 145 ff.; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 398 (1981). Wie weit auch de factoDiskriminierung der strikten Kontrolle unterfällt, wenn eine Minderheit durch eine neutral formulierte Norm besonders belastet wird, wird bei Ely nicht recht deutlich. Immerhin ist das Problem verfassungswidriger Motivation in Gestalt von Vorurteilen, das Ely als Ausgangspunkt wählt, nicht auf den Erlaß klassifizierender Gesetze beschränkt. Vgl. auch Ely, S. 162: „Now it is true that in order to merit suspicion a law need not necessarily discriminate explicitly against a disfavored group: that was the point of the earlier discussion of motivation." (Fn. weggelassen) Zum Verbot bestimmter Handlungen, durch das faktisch vor allem eine Minderheit (z. B. Homosexuelle) betroffen ist, vgl. Ely, 255 Anm. 92. Im Hinblick auf die faktisch ungleiche Anwendung der Todesstrafe, die auf neutral formulierten Gesetzen beruht, bejaht Ely im Ergebnis einen Verstoß gegen die Gleichheitsklausel, vgl. Ely, S. 173 ff. Im Hinblick auf die nicht-klassifizierende Ungleichbehandlung von Armen vgl. ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 399 Fn. 5 (1981). 164 Vgl. Ely, S. 146 ff., der sich mit weniger als einem zwingenden Interesse zufrieden zu geben scheint. Vgl. aber auch Ely, S. 148. 165 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 173. 166 Vgl. Ely, S. 135 f. Diese Zurückhaltung gegenüber Abwägungen spiegelt sich auf weniger radikale Weise auch in der Dogmatik des Supreme Court wider, die sich insoweit von der Abwägungsrechtsprechung des BVerfG deutlich unterscheidet. 167 Vgl. Ely, S. 136 ff., 145 ff. (146). Überblick bei Tushnet, 89 Yale L.J. 1051 f. (1980). 168 Der Begriff geht auf Hans Linde zurück, vgl. ders., Due Process of Lawmaking, 55 Nebraska Law Review 197 (1975) (zitiert bei Ely, S. 243 Anm. 14); dazu Goerlich, Staat 20 (1981), S. 454.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
65
indiziert das Vorliegen einer verfassungswidrigen Motivation. Der Verdacht der Verfassungswidrigkeit kann nur i m Rahmen der strikten gerichtlichen Kontrolle ausgeräumt werden. Damit rekonstruiert Ely die Gleichheitsprüfung als Hilfsmittel der Motivationsanalyse 1 7 0 , deren Beweisschwierigkeiten sie reduzieren s o l l 1 7 1 . Entscheidender Punkt aus der Sicht der amerikanischen Dogmatik ist damit, welche Minderheiten aufgrund einer abstrakt-generellen Betrachtungsweise erhöhten Schutz i m Rahmen der Gleichheitsprüfung beanspruchen k ö n n e n 1 7 2 . Ely hält die bisherige Dogmatik der verdächtigen Klassifizierungen für unbefriedigend 1 7 3 . Nach welcher Theorie man den Kreis verdächtiger Merkmale bestimmen könne, sei ungeklärt, auch wenn nur Unterscheidungsmerkmale in Frage kämen, die dem historisch eindeutig gemeinten Anwendungsfall der Rassendiskriminierung vergleichbar seien 1 7 4 . Für Ely ist die Theorie des Vorurteils der Schlüssel zum Verständnis der Verdächtigkeit 1 7 5 .
169 Vgl. Ely, S. 138, 169. Die Rspr. des Supreme Court ist weniger eindeutig. Nach der herrschenden Dogmatik kann eine verfassungswidrige Motivation bereits zur Verfassungswidrigkeit nach dem Rationale-Basis-Test führen, vgl. Brugger, Grundrechte, S. 167 ff. 170 Besonders eingängig wird diese Strategie von Sandalow, 56 N.Y.U. L. Rev. 461 f. (1981) nachgezeichnet.
171 Vgl. Ely, S. 145 f.; Brugger, Grundrechte, S. 169 ff. 172 Die US-Verfassung sagt nicht, welche Klassifizierungen verdächtig sind. Vor allem enthält die equal protection-Klausel keine Art. 3 Abs. 2 und 3 GG entsprechende Präzisierung. Vgl. aber zum Wahlrecht die speziellen Diskriminierungsverbote in Am. 15 (Rasse und Hautfarbe), 19 (Geschlecht) und 26 (Alter). 173 Die Unveränderlichkeit gesetzgeberischer Unterscheidungsmerkmale sowie das durch eine gesetzgeberische Einteilung der Minderheit auferlegte Stigma der Minderwertigkeit sind für Ely jedenfalls keine brauchbaren Kriterien, weil sie (1) zum Teil auch anerkannterweise unverdächtige Klassifizierungen erfassen würden, (2) umgekehrt für das Vorliegen einer verdächtigen Klassifizierung nicht immer erforderlich seien und (3) keine inhaltliche Begründung für die Verdächtigkeit enthielten, vgl. Ely, S. 150 f. Selbst das in Fußnote 4 angesprochene Kriterium der abgegrenzten und isolierten Minderheit sei für sich genommen zu weit gefaßt, weil es nicht zu erkennen gebe, wann eine solche Gruppe, die auch ein „einfacher" Verlierer im politischen Prozeß sein könne, besonderen verfassungsgerichtlichen Schutz beanspruchen dürfe. Vgl. näher Ely, S. 151 ff., der sich deshalb auch nicht auf eine Definition einläßt, aber als Beispiel an anderer Stelle unter anderem die Zeugen Jehovas nennt (Ely, S. 100). Vgl. demgegenüber Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1105 Fn. 72 (1982): „In my opinion, the phrase ,discrete and insular' applies to groups that are not embraced within the bond of community kinship but are held at arm's length by the group or groups that possess dominant political and economic power. [ . . . ] Justice Stone, I believe, would have agreed." Politische Machtlosigkeit einer Gruppe führt bei Ely nicht per se zur Verdächtigkeit einer entsprechenden Klassifizierung. Ausführlich zu den Kriterien der Verdächtigkeit Brugger, Grundrechte, S. 156 ff., 173 ff., 188. 174 Vgl. Ely, S. 149. 175 Im Rahmen der Vorurteilsprüfung gewinnen die zuvor genannten Kriterien der Verdächtigkeit teilweise wieder Bedeutung. 5 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
2. Das Vorurteil als Schlüssel zur Identifizierung schutzbedürftiger Minderheiten Ely unterscheidet Vorurteile ersten und zweiten Grades. Das Vorurteil ersten Grades zeichnet sich durch nackte Feindseligkeit gegenüber einer Minderheit aus, die die Mehrheit blind für gemeinsame Interessen macht und sie so vom politischen Tauschhandel mit der Minderheit abhält (a]). Das Vorurteil zweiten Grades besteht in unzulässigen Stereotypen, die verhindern, daß Vertreter der Mehrheit die Interessen der Minderheit wahrnehmen und fair berücksichtigen (b]).
a) Vorurteil ersten Grades: Feindseligkeit Ely versteht hierunter zunächst eine in der Gesellschaft weitverbreitete Feindseligkeit gegenüber einer bestimmten Gruppe 176 . Die Feindseligkeit - zum Beispiel Rassenhaß - verhindere zum einen, daß die Mehrheit der Minderheit zuhöre und deren Interessen in ihre Abwägung einstelle. Sie blockiere zum anderen die betroffene Minderheit in der Durchsetzung ihrer Interessen im Wege des Gebens und Nehmens, weil die Mehrheit nicht mit ihr verhandele. Die Feindseligkeit könne so weit gehen, daß die Gruppe allein deshalb benachteiligt werde, um ihr Schaden zuzufügen 177 . Damit werde dieser Gruppe der Anspruch auf gleiche Achtung und Rücksicht („equal concern and respect") versagt 178 . Die Absicht, der Minderheit schaden zu wollen, ist für Ely eine verfassungswidrige Motivation. Für Elys prozeduralen Ansatz ist wichtig, daß bei der Bestimmung des Vorurteils materielle Kriterien außer Betracht zu bleiben haben. Deshalb spiele es keine Rolle, ob die Feindseligkeit gegenüber der Minderheit inhaltlich berechtigt sei, da dies in Abwägungsfragen führe, für die nur der Gesetzgeber zuständig sei 1 7 9 . Das Kriterium der Feindseligkeit erscheint demzufolge sehr weit gefaßt. So sieht sich nach einem von Ely in „Democracy and Distrust" verwendeten Beispiel auch der Einbrecher weitverbreiteter gesellschaftlicher Abneigung ausgesetzt180. In einer Anmerkung nimmt sich Ely jedoch erheblich zurück: Danach genüge bloße Feindseligkeit nicht, wenn die einseitige Benachteiligung der Gruppe auf gutgläubigen moralischen Erwägungen beruhe und nicht allein aus der Absicht heraus geschehe, ihr schaden zu wollen. In derselben Anmerkung gibt Ely zu erkennen, daß trotz einer feindseligen Haltung der Mehrheit gegenüber einer homosexuellen MinderEly, S. 153 f. 177 Vgl. Ely, S. 153. t e Vgl.
1 78 Ely, S. 157, schreibt: „To disadvantage a group essentially out of dislike is surely to deny its members equal concern and respect, specifically by valuing their welfare negatively." (Hervorhebung von J.R.) 179 Vgl. Ely, S. 153 f. 180 Auf die Rechtfertigung seiner Ungleichbehandlung im Rahmen von Strafgesetzen ist sogleich zurückzukommen.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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heit kein Vorurteil im Sinne seiner Theorie vorliege, wenn sich die Mehrheit guten Glaubens auf die öffentliche Moral berufe, um gleichgeschlechtliche sexuelle Handlungen unter Erwachsenen unter Strafe zu stellen 181 . Damit haben Homosexuelle nach Elys Theorie keinen Anspruch auf Minderheitenschutz, wenn der Gesetzgeber ernsthafte moralische Gründe vorträgt 182 , die er allerdings nicht lediglich vorschützen darf 183 . Ely hat die nur durch „spezifische" Grundrechte eingeschränkte Befugnis des Gesetzgebers, Fragen der öffentlichen Moral zu regeln, in einem späteren Aufsatz nachdrücklich verteidigt 184 . Insbesondere meint er, daß auch ein immaterieller Schaden (zum Beispiel für das moralische Empfinden der Mehrheit) eine Rechtfertigung für staatliches Handeln sei 1 8 5 . Liegt eine verdächtige Klassifizierung vor, so kann der so begründete Verdacht verfassungswidriger Motivation ausgeräumt und die Ungleichbehandlung gerechtfertigt werden, wenn der Gesetzgeber ein Ziel von einem gewissen 186 inhaltlichen Gewicht verfolgt hat und eine optimal enge Beziehung zwischen Klassifizierung und Ziel besteht. So rechtfertigt Ely die Ungleichbehandlung des Einbrechers im Rahmen der strikten Überprüfung des Straftatbestandes gegen Einbruchdiebstahl, indem er auf das gewichtige gesetzgeberische Ziel abstellt, Eigentum und Wohnung zu schützen187. Der Gesetzgeber dürfe das mit der Ungleichbehandlung verfolgte Ziel nicht beliebig wählen. Es darf nach Ely weder „trivial" noch Camouflage beispielsweise rassistischer Motivation sein 188 . Nur im eng beschränkten Rah181 Vgl. Ely, S. 255 f. Anm. 92. Den Rekurs auf moralische Gründe unterschlägt Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 85 f. 182 An anderer Stelle behandelt Ely, S. 162 ff., Homosexualität zwar als verdächtige Klassifizierung, doch die dort genannten Gründe (dazu unten 1. Kap., D. III. 3. e]) ändern nichts an der im Text gezogenen Schlußfolgerung. 183 Vgl. Ely, S. 256 Anm. 92. Vgl. dazu Romer v. Evans, 517 U.S. 620 (1996). 184 Vgl. Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 399 ff. (1981). Nach US-amerikanischem Verfassungsrecht verfügen die Einzelstaaten mit der sog. „police power" über eine allgemeine Kompetenz zur Regelung von Fragen der öffentlichen Moral, vgl. z. B. Brugger, Grundrechte, S. 416. An Elys Theorie ist also nicht erstaunlich, daß sie diese Kompetenz überhaupt anerkennt, sondern daß Ely ihr im Bereich seiner Gleichheitstheorie Vorrang einräumt, ohne sie insoweit inhaltlicher grundrechtlicher Kontrolle zu unterwerfen.
185 Vgl. Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 404 (1981), der das liberale Argument ablehnt, daß es dem Staat verwehrt sei, rein selbstbezügliches Verhalten ohne Außenwirkung zu regulieren. Denn das Vorhandensein des - nicht völlig irrationalen - staatlichen Eingriffs belege hinreichend, daß die betreffende Handlung sehr wohl fühlbare Auswirkungen auf die Gemeinschaft habe und deshalb nicht lediglich selbstbezüglich sei. 186 Anders der Supreme Court, der wie erwähnt ein zwingendes öffentliches Interesse fordert, vgl. Brugger, Grundrechte, S. 173. Die bei Ely nachweisbare Unschärfe erklärt sich daraus, daß dieser gesetzgeberische Gründe nicht nach ihrer Wichtigkeit klassifizieren will. 187 V g l . Ely, S. 154. 188 Ely, S. 148, nennt als Beispiel einen Schulleiter, der bei einer Abschlußfeier getrennte Sitzplätze für Weiße und Schwarze mit ästhetischen Erwägungen zu rechtfertigen versucht. Daraus könnte man immerhin schließen, daß ästhetische Gründe keine Rechtfertigung für die Diskriminierung von Homosexuellen bieten.
5*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
men der Rechtfertigung will Ely inhaltliche Erwägungen bei der Gleichheitspriifung überhaupt zulassen.
b) Vorurteil zweiten Grades: Stereotypen Auch wenn die Mehrheit weder Feindseligkeit an den Tag legt noch die Absicht hat, Schaden zuzufügen, so kann doch ihr Blick für eine faire Bewertung der Minderheitsinteressen verstellt sein. Dies ist laut Ely der Fall, wenn die Mehrheit bei der Benachteiligung von Minderheiten unzulässige Stereotypen zugrunde legt, die als Vorurteile zweiten Grades 189 von zulässiger legislativer Generalisierung zu unterscheiden seien 190 . Handelt der Gesetzgeber auf der Grundlage eines unzulässigen Stereotyps, so bezieht er die Interessen der zu Unrecht ein- oder ausgeschlossenen Personen nicht in seine Zählung mit ein. In diesem Mangel an Repräsentation im Gesetzgebungsverfahren sieht Ely wiederum eine Verletzung des Rechts auf „equal concern and respect" 191 . Nun liegt es in der Natur der Generalisierung, daß durch sie eine bestimmte Anzahl von Personen zu Unrecht erfaßt oder ausgeschlossen wird. Dennoch dürfe der Gesetzgeber grundsätzlich generalisieren, unter anderem deshalb, weil die Kosten einer Prüfung jedes einzelnen Falles prohibitiv hoch sein könnten 192 . Deshalb ist die Abgrenzung von zulässiger und unzulässiger Generalisierung schwierig. Die Schwierigkeit verschärft sich für Ely noch, weil der Gesetzgeber Kosten und Nutzen alternativer Klassifizierungen abzuwägen hat, wenn er entscheidet, wie eng oder weit eine Klassifizierung zu fassen ist 1 9 3 . Diese materiale Abwägung ist für Ely grundsätzlich Sache des Gesetzgebers und dürfe vom Verfassungsgericht nur eingeschränkt nachgeprüft werden 194 . Um die Gefahr inhaltlicher und im Kern politischer Werturteile des Verfassungsgerichts bei der Überprüfung der vom Gesetz189 Terminologie nach Säger, 56 N.Y.U. L. Rev. 426 (1981). 190 Vgl. Ely, S. 156. 191 Ely, S. 157, hält fest: ,,[T]o disadvantage - in the perceived service of some overriding social goal - a thousand persons that a more individualized (but more costly) test or procedure would exclude, under the impression that only five hundred fit that description, is to deny the five hundred to whose existence you are oblivious their right to equal concern and respect, by valuing their welfare at zero." (Hervorhebung von J.R.; Hervorhebung i.O. weggelassen). 192 Vgl. Ely, S. 155. 193 In die Abwägung gehen jeweils der Zuwachs an individueller Fairneß und die Kosten für die Allgemeinheit ein. 194 Das Verfassungsgericht darf deshalb für Ely, S. 156, nicht einfach überprüfen, ob die vom Gesetzgeber vorgenommene Generalisierung eine „zu hohe" Anzahl von Gegenbeispielen umfasse. Vielmehr liege ein unzulässiges Stereotyp erst dann vor, wenn die tatsächlich vorhandene Anzahl der Gegenbeispiele erheblich höher sei, als sie nach der Einschätzung des Gesetzgebers sein sollte. Vgl. Ely, S. 157. Damit legt der Gesetzgeber bei Ely die entscheidende Richtgröße der gerichtlichen Kontrolle selbst fest.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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geber angestellten Kosten-Nutzen-Abwägung zu minimieren, soll sich die verfassungsgerichtliche Kontrolle Ely zufolge auf das Gesetzgebungsverfahren konzentrieren 195 . Ely diskutiert eine Reihe von sozialpsychologischen196 Mechanismen, die ihm als Hilfsmittel dienen, um Vorurteile zweiten Grades im Gesetzgebungsverfahren ausfindig zu machen. Ely sieht stets die Gefahr, daß die Mehrheit die Kosten für die Einführung eines höheren Grades an Differenzierung überschätzt und den Gewinn einer solchen alternativen Klassifizierung für die Minderheit unterschätzt 197. Dieses unzulässige Vorgehen ist für Ely indiziert, wenn die Generalisierung den Interessen der Mehrheit dient, etwa weil sie der Mehrheit einen fühlbaren Vorteil verschafft 198. Ferner sind für Ely solche Stereotypen verdächtig, mit denen die Mehrheit sich selbst positive und der Minderheit negative Eigenschaften zuschreibt, weil die Mehrheit für diese Einteilung einen psychologischen Anreiz habe 199 . Die Gefahr des zuletzt genannten Vorgehens sei besonders groß, wenn die Klassifizierung des Gesetzgebers einem We/They-Schema folge 200 . Die „We-Gruppe" identifiziert Ely mit der Mehrheit im Parlament. Sie bestehe vorwiegend aus weißen, relativ wohlhabenden, heterosexuellen Männern 201 . Diese Gruppe neige zu Stereotypen, die sie im Vergleich zu Schwarzen oder Frauen - als möglichen „They-Gruppen" - in ein günstiges Licht stellen 202 . Demgegenüber sei die Gefahr der Selbsterhöhung durch Stererotypen wesentlich geringer, wenn die Klassifizierung in einem They/TheySchema erfolge, also zwei Gruppen betreffe, denen die Mehrheit als dritte neutral gegenüberstehe203. Schließlich will Ely auch Faktoren berücksichtigen, die die Wirkung des Vorurteils kompensieren 204. Soziale Kontakte zwischen Mehrheit und Minderheit würden die Empathie der Mehrheit für die Belange der Minderheit erhöhen. Dies kann nach Ely zu einem Abbau der Feindseligkeit führen, aber auch zu einem vorsichtigeren Umgang der Mehrheit mit Stereotypen, die sie in ein günstiges und die Minderheit in ein ungünstiges Licht stellen. Soziale Kontakte werden durch Abgegrenztheit und Isolierung einer Minderheit erschwert, wodurch diese Kriterien der Ely, Vgl. Ely, Vgl. Ely, Vgl. Ely, Vgl. Ely,
195 V g l .
196 197 198 199
157. S. 153. S. 158 f. S. 158. S. 158 f. S.
200 Dazu auch Ely, On Protecting Fundamental Interests and Powerless Minorities under the United States and Canadian Constitutions, in: ders., On Constitutional Ground, S. 19. Tribe, American Constitutional Law, S. 76, bezeichnet die We/They-Unterscheidung als Elys „geistiges Eigentum" und sieht in ihr eine Kurzformel für die repräsentationsverstärkende Theorie. 2 01 Vgl. Ely, S. 168. 2 2 0 Vgl. Ely, S. 159 mit Beispielen. 2 03 Vgl. Ely, S. 159 f. 2 04 Zum folgenden Ely, S. 160 f.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Carolene- Fußnote eine gewisse Bedeutung gewinnen. Dabei betont Ely die soziale Komponente des Merkmals „insular" 205 .
3. Anwendungsbereich des Minderheitenschutzes Im folgenden soll der praktische Anwendungsbereich der Repräsentationsoptimierung sichtbar gemacht werden. Ely untersucht verschiedene Klassifizierungen darauf, ob nach seiner Theorie eine strikte Gleichheitsprüfung zugunsten der jeweiligen Minderheit in Frage kommt 2 0 6 . Entscheidende Bedeutung kommt dabei den Vorurteilen zu, die sich zum Beispiel in Xenophobie, Rassismus, Sexismus oder Homophobie äußern können. Zum Vergleich wird jeweils auf die einschlägige Rechtsprechung des Supreme Court hingewiesen207.
a) Ausländer Ely nennt folgende Faktoren, die für die Verdächtigkeit von Gesetzen sprechen, die Ausländer anders als Inländer behandeln208: (1) Weitverbreitete Feindseligkeit gegenüber Ausländern; (2) fehlendes Stimmrecht, wodurch Ausländer zu einem Sonderfall werden, weil sie kumulativ nach dem zweiten und dritten Absatz der Fußnote 4 schutzbedürftig erscheinen; (3) Mangel an sozialen Kontakten; (4) geringe Empathie der Eingesessenen; (5) We / They-Situation, da die meisten Parlamentarier selbst nie Ausländer waren. Auch der Supreme Court hielt bestimmte Ungleichbehandlungen von Ausländern durch die Einzelstaaten für verdächtig und bezog sich zur Begründung des strengen Prüfungsmaßstabes sogar ausdrücklich auf die Carolene-Formel der „abgegrenzten und isolierten Minderheit" 209 .
205 Vgl. Ely, S. 161. Politische Isolierung läßt sich für Ely dadurch überwinden, daß der Zugang der Minorität zum politischen Prozeß durch die Optimierung von Partizipationsrechten hergestellt wird. Die räumliche Bedeutung von Insularität - z. B. Ghettoisierung, (Selbst-) Abgrenzung bestimmter religiöser Minderheiten - spricht er dagegen nicht an. 206 Vgl. außer den nachfolgend im Text genannten Bsp. noch Ely, S. 163 f., 256 Anm. 93 (Nichtehelichkeit als verdächtige Klassifizierung), S. 160, 255 Anm. 83 (Alter als unverdächtige Klassifizierung, da die meisten Parlamentarier selbst einmal jung waren und die meisten einmal alt sein werden, so daß hohe Empathie zu erwarten ist). Auch nach der Rspr. des Supreme Court ist eine Klassifizierung nach dem Alter grundsätzlich unverdächtig, vgl. Brugger, Grundrechte, S. 199, 202, während Nichtehelichkeit als quasi-verdächtige Einteilung einem mittleren Prüfungmaßstab unterliegt. Dazu Brugger, ibid., S. 197 ff., 202 f. 207
Siehe auch die Ubersicht unten 1. Kap., nach D. III. 3. e). 208 Vgl. Ely, S. 161 f. 209 Vgl. Graham v. Richardson, 403 U.S. 365, 372 (1971) (Blackmun, J., opinion for the court). Vgl. aber auch den damaligen Justice Rehnquist in Sugarman v. Dougall, 413 U.S. 634, 657 (1973) (Rehnquist, J., dissenting), sowie kritisch Lusky, 82 Colum. L. Rev. 1105 Fn. 72 (1982). Zum Ganzen Brugger, Grundrechte, S. 195 ff., 203.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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b) Armut Arme sieht Ely mit Ausnahme des ihnen zustehenden Stimmrechts in einer ähnlich ungeschützten Lage wie Ausländer 210 . Dennoch verneint er grundsätzlich die Verdächtigkeit, weil der Gesetzgeber so gut wie nie gegen „die Armen" als Gruppe diskriminiere 211 . Das Problem bestehe vielmehr darin, daß es der Gesetzgeber aus verfassungsrechtlich unbedenklichen Gründen ablehne, zur Finanzierung von Sozialausgaben die Steuern zu erhöhen. Auch der Supreme Court geht grundsätzlich nicht von einer verdächtigen Klassifizierung aus 212 .
c) Rasse Die afro-amerikanische Minderheit ist die unbestrittene und historisch vorbedachte Zielgruppe der Gleichheitsklausel des nach dem amerikanischen Bürgerkrieg verabschiedeten 14. Amendment 213 . Die historische Intention allein kann jedoch für Ely kein Grund sein, um die Verdächtigkeit zu bejahen. Außerdem sieht er, daß sich die schwarze Minderheit in der Gegenwart mit Erfolg am politischen Geschäft beteiligt, weshalb sie in politischer Hinsicht weder abgegrenzt noch isoliert sei 2 1 4 . Andererseits klingen bei ihm doch deutliche Skrupel an, ausgerechnet die Schwarzen aus dem Anwendungsbereich der strikten Gleichheitsprüfung auszuschließen215. Entscheidend ist für Ely letztlich, daß gegenüber Schwarzen im sozialen und politischen Leben weiterhin rassistische Vorurteile bestehen, die eine an der Rasse anknüpfende Klassifizierung verdächtig machen 216 .
d) Geschlecht Frauen sind Ely zufolge häufig Opfer von unzulässigen sexistischen Stereotypen 2 1 7 . Andererseits seien sie weder abgegrenzt noch sozial isoliert noch in der 210 Vgl. Ely, S. 162. 211 Beachtlich ist allerdings, daß Ely, S. 176 f., für die Verfassungswidrigkeit der Todesstrafe argumentiert, soweit sie gleichheitswidrig zulasten der Unterschicht angewendet werde. Er knüpft dabei an den Gleichheitsgehalt des Verbots „ungewöhnlicher" Bestrafung im 8. Amendment an. 212 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 200 ff. 213 Dazu Brugger, Grundrechte, S. 149. 214 Vgl. Ely, S. 151 f. 215 Vgl. Ely, S. 152: „A theory that excludes blacks from its protection, as one geared exclusively to political insularity seems to, is at least in need of some reexamination." (Fn. weggelassen) 216 Vgl. Ely, S. 161 Fn. *. Zu Recht bemerkt Tushnet, Red, White, and Blue, S. 99 Fn. 65 hier „some labor on Ely's part". Kritisch Sandalow, 56 N.Y.U. L. Rev. 463 (1981). 217 Vgl. zum folgenden Ely, S. 164 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Minderheit 218 . Immerhin sei aber ihr Zugang zum politischen Prozeß in der Vergangenheit eingeschränkt gewesen, was eine verschärfte Kontrolle älterer Gesetze rechtfertige 219. Damit spielt auch hier ein partizipatorischer Aspekt in die Repräsentationsoptimierung hinein. Demgegenüber verfügten Frauen heutzutage über ungehinderten Zugang zum politischen Prozeß. Sie könnten sich daher gegenüber einer drohenden Benachteiligung hinreichend verteidigen 220 . Wenn es Frauen zukünftig unterließen, sich gegen sexuelle Diskriminierung durch neu erlassene Gesetze politisch zur Wehr zu setzen, so beruhe dies auf ihrer freien Entscheidung221. Im Unterschied zu Ely behandelt der Supreme Court das Geschlecht als quasi-verdächtige Klassifizierung, die er einem mittleren Prüfungsmaßstab unterwirft 222 .
e) Homosexualität Homosexuelle223 sieht Ely als Opfer von homophoben Vorurteilen ersten und zweiten Grades. Er bejaht zunächst eine verdächtige Klassifizierung, weil Homosexuelle durch Vorurteile am „coming out" und damit an offenen Sozialkontakten gehindert seien, mit denen die Minderheit zum Abbau der gegen sie gerichteten Vorurteile beitragen könne 224 . Geht man davon aus, daß sich die sozialen Kosten einer offen homosexuellen Lebensweise seit 1980 wesentlich verringert haben, so schwächt dies Elys Argumentation für erhöhte Schutzbedürftigkeit erheblich ab. Davon abgesehen wurde bereits gesagt, daß für Ely die Ungleichbehandlung von Homosexuellen unverdächtig ist, wenn der Gesetzgeber bona frde aus moralischen Gründen gehandelt hat 2 2 5 . Falls solche moralischen Gründe den Regelfall gesetzgeberischer Motivation darstellen, wäre eine Ungleichbehandlung nach Elys Theorie heutzutage unverdächtig. Der U.S. Supreme Court sieht in der sexuellen Orientierung bislang keine verdächtige Klassifizierung. Auch nimmt er bei der Un218 Vgl. Ely, S. 164. 219 Vgl. Ely, S. 167. Maßgeblicher Zeitpunkt könnte das Jahr 1920 sein, in dem mit dem 19. Amendment das Wahlrecht für Frauen eingeführt wurde, vgl. Bork, The Tempting of America, S. 198. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 99 Fn. 65 nennt das Jahr 1950. 220 Ely kumuliert hier Aspekte des zweiten und dritten Absatzes, wie dies schon bei der Ausländereigenschaft zu beobachten war. Das fehlende Stimmrecht dient dann nicht nur als Auslöser der Partizipationsoptimierung, sondern auch als Faktor für die Repräsentationsoptimierung. Damit stellt er auch dann auf die politische Machtlosigkeit einer Gruppe als Kriterium der Gleichheitsprüfung ab, wenn diese nicht auf dem Vorurteil beruht und es nicht um den Schutz von Partizipationsrechten geht. Dieser Ansatz läßt sich verallgemeinern, bleibt aber bei Ely im Hintergrund. 22 1 Vgl. Ely, S. 169. 222 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 189 ff. Der mittlere Prüfungsmaßstab hat zum Beispiel zur Folge, daß für die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung „administrative Zweckmäßigkeit" als öffentliches Interesse nicht ausreicht (vgl. ibid., S. 192 m. Zitat). 223
Damit sind in dieser Arbeit nicht nur Schwule, sondern auch Lesben gemeint. 4 Vgl. Ely, S. 162 ff. 22 5 Vgl. Ely, S. 256 Anm. 92. 22
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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gleichbehandlung von Homosexuellen bislang keine quasi-verdächtige Anknüpfung an das Geschlecht an, wie sie in der Literatur i m Hinblick auf die gleichgeschlechtliche Ehe begründet w i r d 2 2 6 . Nach der Rechtsprechung des Supreme Court bleibt es daher bei dem Schutz, den die Gleichheitsklausel i m Rahmen des Rationale-Basis-Tests bietet 2 2 7 . Die folgende Tabelle gibt eine Übersicht zu den dargestellten Anwendungsfallen der Repräsentationsoptimierung: Ungleichbehandlung durch Klassifizierung Elys Theorie Gesetz Ausländer
nach
Klassifizierung nach U.S. Supreme Court
verdächtig
verdächtig
Arme
grds. unverdächtig
grds. unverdächtig
Schwarze
noch verdächtig
immer verdächtig
Frauen
früher verdächtig, heute unverdächtig
quasi-verdächtig
Homosexuelle
früher u.U. verdächtig, heute unverdächtig
noch unverdächtig
IV. Elys Begründung der repräsentationsoptimierenden Theorie Ely stützt seinen textualistischen, partizipationsorientierten und repräsentationsverstärkenden Ansatz gerichtlicher Prüfungskompetenz ausdrücklich auf den prozeduralen Charakter der US-Verfassung (1.), Partizipation als den wichtigsten Wert der amerikanischen Demokratie (2.), funktionale Erwägungen, insbesondere zur Stellung des Verfassungsgerichts (3.) und einen Befehl des historischen Verfassungsgebers ( 4 . ) 2 2 8 .
226 Das Argument lautet in Kurzform, daß ein Mann, der einen anderen Mann heiraten möchte, dies könnte, wenn er nur eine Frau wäre. Daher diskriminiere das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe aufgrund des Geschlechts. Vgl. auch Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 197 ff. (1994). Aktueller Überblick zur amerikanischen Lit. mit umfangreichen Nachw. bei Heun, Gleichgeschlechtliche Ehen, S. 111 ff. Dort wird auch die Entscheidung des Supreme Court von Hawaii in Baehr v. Lewin, 852 P.2d 44 ff. (Haw. 1993), besprochen, der das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe für eine verdächtige Diskriminierung aufgrund des Geschlechts hielt. 227 Vgl. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 48 Fn. 97 m. Nachw.; ausführlich zur einzelstaatlichen Rspr. Heun, Gleichgeschlechtliche Ehen, S. 74 ff., insb. 79 f., 88 f., 120 f. Wie die Entscheidung Romer v. Evans, 517 U.S. 620 (1996) zeigt, kann der durch den RationaleBasis-Test gewährte Schutz im Ausnahmefall durchaus effektiv sein. Siehe noch unten 1. Kap., E. I. 1. Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 147 f., geht demgegenüber davon aus, daß das Gericht der Sache nach den mittleren Prüfungsmaßstab angewendet habe. 228 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *, 87 f., 101 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
1. Prozedurales Verfassungsverständnis Ely kommt mit Hilfe einer ausfuhrlichen Analyse der Verfassung zu dem Schluß, daß diese so gut wie ausschließlich prozedurale Normen enthalte, die zum einen die Fairneß individueller (i.S. adjudikativer) Verfahren beträfen und zum anderen eine möglichst umfassende Partizipation am politischen Prozeß sicherstellen wollten 229 . Auch die meisten Grundrechte der Bill of Rights versteht Ely prozedural 2 3 0 . Aus dem prozeduralen Befund zieht Ely den normativen Schluß, daß substantielle Werte nicht in die Verfassung gehören 231 . Wichtiger als die prozedurale Struktur der Verfassung sind Ely allerdings die beiden folgenden Argumente zur Begründung seiner Theorie 232 .
2. Repräsentative Demokratie Ely begründet seine Theorie vor allem mit dem US-amerikanischen System repräsentativer Demokratie 233 . Sein Demokratie Verständnis, das er aus dem Geist der amerikanischen Verfassung herausdestilliert, bildet das Fundament seiner Theorie: Partizipation und demokratische Selbstbestimmung sind für ihn die obersten Werte der US-Verfassung 234. Zu ergänzen hat man, daß sich die demokratische Selbstbestimmung nach dem Mehrheitsprinzip vollzieht, das bei Ely eine starke Stellung erhält 235 . Für Ely obliegt es grundsätzlich dem politischen Prozeß und nicht dem Verfassungsgericht, materiale Weitentscheidungen zu fällen und Abwägungen vorzunehmen 236. Durch seine Theorie will Ely verfassungsgerichtliche Eingriffe in den politischen Prozeß auf ein unverzichtbares Minimum reduzieren. Als demokratische Theorie par excellence lasse sie nicht mehr und nicht weniger 229 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *, im einzelnen S. 88 ff., besonders deutlich auf S. 87: ,,[T]he document is overwhelmingly concerned, on the one hand, with procedural fairness in the resolution of individual disputes (process writ small), and on the other, with what might capaciously be designated process writ large - with ensuring broad participation in the processes and distributions of government." (Fn. weggelassen) 230 Vgl. Ely, S. 79 f., ausführlich S. 93 ff., wo er z. B. den materialen Gehalt der Redefreiheit bestreitet. Nur soweit es sich gar nicht vermeiden läßt, erkennt er widerwillig auch materiale Werte an. Beispiele hierfür sind die Abschaffung der Sklaverei in Am. 13 (vgl. Ely, S. 98), die Religionsfreiheit in Am. 1 (vgl. Ely, S. 94) und der Schutz vor Selbstbezichtigung im Strafprozeß in Am. 5 (vgl. Ely, S. 95 f.). 231 Vgl. Ely, etwa S. 99, der in diesem Zusammenhang auf Sklaverei und Prohibition verweist, um zu belegen, daß substantielle Werte in der Verfassung keinen dauerhaften Bestand hätten (Vgl. Ely, S. 88,99 f.). 232 Vgl. Ely, S. 88, 89 Fn. *, 101. 233 Zum folgenden Ely, S. 75 Fn. *, 88, 102. Vgl. daneben Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 9 ff. 234 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. 235 Vgl. Ely, S. 7: ,,[M]ajoritarian democracy is [ . . . ] the core of our entire system [ . . . ] . " 236 Vgl. Ely, S. 87, 103.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
75
verfassungsgerichtliche Kontrolle zu, als die repräsentative Demokratie selbst erfordere 237 . 3. Funktionales Argument Elys funktionale Begründung gerichtlicher Kontrollkompetenzen stützt sich vor allem darauf, daß Gerichte Außenseiter gegenüber dem politischen Prozeß seien 2 3 8 . Ely zufolge darf man den Teilnehmern am politischen Prozeß nicht die Kontrolle über die Offenheit des demokratischen Verfahrens und über die angemessene Repräsentation von Minderheiten übertragen. Gerichte seien in ihrer politischen Unabhängigkeit und Neutralität vergleichsweise besser geeignet, auf objektiver Grundlage prozedurale Fragen zu entscheiden und Partizipationsrechte durchzusetzen, auch wenn dies Werturteile nicht überflüssig mache 239 . Daneben meinte Ely in „Democracy and Distrust" noch, daß Gerichte bzw. Juristen Experten für Verfahrensfragen seien, was sie für die Anwendung eines prozeduralen Kontrollmodells besonders qualifiziere 240 . Er bezog dies nicht nur auf den „Mikrobereich des Gerichtsverfahrens", sondern auch auf den „Makrobereich des politischen Prozesses" 241. Expertenwissen gesteht Ely allerdings auch den Parlamentariern selbst zu 2 4 2 . Aus diesem Grund hat Ely diesen Begründungsansatz später möglicherweise fallen gelassen, indem er ausführte, daß Gerichte über keine besonderen argumentativen Fähigkeiten verfügten 243 . 4. Ultra-Originalismus In „Democracy and Distrust" geht Ely so weit zu behaupten, daß seine Theorie vom Verfassungsgeber gewollt sein müsse, weil sie zum einen dem Konkretisie237 Vgl. Ely, Vgl. Ely, 239 Vgl. Ely, 240 Vgl. Ely, 238
S. 88. S. 75 Fn. *, 88, 102 f. S. 103. S. 21, 88,102.
241 Unterscheidung bei Ely, S. 87, 102, siehe auch S. 74. Übersetzung nach Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 258 mit Zitaten. 242 Ely, S. 102. Dieser überzeugende Einwand beschädigt das Argument höherer institutioneller Kompetenz des Verfassungsgerichts (im Sinne von vergleichsweise größerer Erkenntnisfähigkeit in prozeduralen Fragen) nachhaltig. Deshalb stellt Ely bereits in „Democracy and Distrust" weniger auf Expertenwissen und mehr auf die „Perspektive", d. h. auf die politische Neutralität des Gerichts ab. Diese Differenziertheit vernachlässigt Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 87 Fn. 21 m. Text, der das auf Ely, S. 102, verweisende Zitat sinnentstellend verkürzt. 243 Vgl. Ely, 77 Va. L. Rev. 833 f. Fn. 4 (1991). Auffällig ist, daß ibid. nur eine Passage aus „Democracy and Distrust" zitiert wird, die auf die politische Neutralität des Verfassungsgerichts abstellt, während die entsprechende Passage, wonach Juristen Experten in Verfahrensfragen seien, nicht mehr auftaucht.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
rungsauftrag der offenen Klauseln der Verfassung nachkomme und weil zum anderen nur eine repräsentationsoptimierende Deutung der Generalklauseln mit dem ursprünglichen System amerikanischer Demokratie als dem Kern der Verfassung vereinbar sei. Seine Theorie sei daher „ultimativer Interpretivismus" 244.
V. Zur Bezeichnung der Theorie Elys Theorie wird in den USA üblicherweise als „representation reinforcement", also RepräsentationsVerstärkung oder -Optimierung bezeichnet245. Damit wird vor allem auf die verfassungsgerichtliche Verstärkung der Repräsentation von Minderheiten Bezug genommen, auf die der dritte Absatz der Fußnote 4 abzielt. Diese Bezeichnung ist insofern unbefriedigend, als die Optimierung des Zugangs zum politischen Prozeß unerwähnt bleibt 246 . Immerhin ist aber der Minderheitenschutz das Herz von Elys Theorie. Es stehen auch keine brauchbaren Alternativen zur Verfügung 247 . Da sich die Bezeichnung Repräsentationsverstärkung bzw. -Optimierung eingebürgert hat, wird sie hier übernommen, soweit von Elys Theorie insgesamt oder ihrem minderheitenschützenden Teil die Rede ist. Soweit es nur um den zweiten Absatz der Fußnote geht, bietet es sich dagegen an, analog von Partizipationsverstärkung bzw. -Optimierung zu sprechen.
VI. Zusammenfassung: Elys Theorie als prozedurales Kontrollmodell Elys Theorie zielt auf eine weitreichende Prozeduralisierung verfassungsgerichtlicher Kontrolle ab 2 4 8 . Das Output des politischen Prozesses interessiert Ely grundsätzlich nicht, es rückt allenfalls bei der Kontrolle spezifischen Verfassungsrechts in das Blickfeld. Selbst diese ist aber aus seiner Sicht so gut wie rein prozedural, 244 Ely, S. 87 f. 245 Ely, S. 87, 102, spricht selbst von einem „representation-reinforcing approach". Der in der deutschen Diskussion anders belegte (vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 75 ff.), aber treffende Begriff der „Optimierung" findet sich im Zusammenhang mit Ely zuerst bei Brugger, Grundrechte, S. 363 ff. 246 Ely, S. 87, stellt beide Aspekte seiner Theorie nebeneinander, wenn er von einem „participation-oriented, representation-reinforcing approach to judicial review" spricht. Zwar verstärkt auch die Optimierung der Partizipationsrechte in einem losen Sinn die Repräsentation der Bürger in der Demokratie. Für diesen allgemeinen Aspekt interessiert sich Ely aber nicht. 247 „Partizipationsoptimierung" würde sich lediglich auf den zweiten Absatz der Fußnote beziehen, was ebenso einseitig wäre. Klarman, 11 Va. L. Rev. 747 (1991), spricht von „Political Process Theory", aber diese Bezeichnung ist zu allgemein; außerdem divergieren seine und Elys Position (siehe unten 3. Kap., C. I. 1.). Akzeptabel, aber immer noch recht unspezifisch wäre die Bezeichnung „Demokratieoptimierung". Vgl. ähnlich Sunstein, One Case at A Time, S. 7, der von „democracy-reinforcement" spricht. 248 Besonders deutlich Ely, S. 75 Fn. *, 87 Fn. *, 157.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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weil für ihn die Bill of Rights kaum materiale Normen enthält. Nach Elys Theorie kontrolliert das Verfassungsgericht auf der Input-Ebene, ob alle Standpunkte gleichmäßig in das Gesetzgebungsverfahren eingebracht werden können. Dies ist der Fall, wenn jede(r) ungehindert von staatlichen Beschränkungen partizipieren darf (Wahlrecht) und wenn jede Stimme gleich viel zählt (Wahlkreiseinteilung) und zu Wort kommen kann (Redefreiheit). Diese prozeduralen Rechte legen die Teilnahmebedingungen am politischen Prozeß fest. Input und Output sind durch das Gesetzgebungsverfahren verbunden. Dieses ist für die verfassungsgerichtliche Kontrolle nur dann von Interesse, wenn funktionelle Mängel auftreten. Die als Motivationsanalyse angelegte, auf Verfahrensfehler bezogene und damit prozedural konzipierte Gleichheitsprüfung will den Minderheitenschutz bewältigen, ohne inhaltliche Urteile fällen zu müssen.
E. Konsequenzen von Elys Theorie am Beispiel der Grundrechte auf Persönlichkeitsentfaltung und Abtreibung Wie sich Elys Theorie auf die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit und die Kompetenzen des Gesetzgebers auswirkt, läßt sich anhand der in den USA hochkontroversen Persönlichkeitsrechte verdeutlichen, die - für deutsche Begriffe irreführend - zusammengefaßt als Recht auf Privatsphäre („right to privacy") firmieren und mit dem unter anderem höchstpersönliche Entscheidungen in den Bereichen Ehe und Familie, Fortpflanzung, Abtreibung und sexuelle Orientierung angesprochen sind. Die Konsequenzen von Elys Theorie sollen zum einen anhand des Schutzes der sexuellen Intimsphäre (I.) und zum anderen anhand des in Deutschland wie in Amerika zutiefst umstrittenen Rechts auf Abtreibung (II.) verdeutlicht werden 249 .
I. Persönlichkeitsrechte im Bereich der Sexualität 1. Rechtsprechung des Supreme Court Die Rechtsprechung des Supreme Court zum Persönlichkeitsrecht erweist sich als wesentlich restriktiver, als man es aus dem deutschen Verfassungsrecht gewohnt ist 2 5 0 . Der Supreme Court hat ein „allgemeines fundamentales Recht auf 249
Vgl. zum ganzen Problemkreis Brugger, Persönlichkeitsentfaltung; Schefer, Konkretisierung, S. 73 ff. 250 So gewährt der Supreme Court weder verfassungsrechtlichen Schutz für persönlichkeitsbezogene Daten noch ein Recht auf Berufsfreiheit. Erst recht sieht man in der allgemeinen Handlungsfreiheit kein fundamentales Interesse. Dazu Brugger, Grundrechte, S. 130, 449 f.; vgl. allg. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 419 ff., 429 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Wahlfreiheit in allen Basisentscheidungen des Lebens" bislang nicht anerkannt 251. Allerdings entschied der Supreme Court in Griswold v. Connecticut 252, daß der Gebrauch von Verhütungsmitteln in der Ehe grundrechtlich geschützt sei. Justice Douglas argumentierte mit einer weiten Analogie zu speziellen Grundrechten, die einzelne Ausschnitte der Privatsphäre schützen. Er bezog sich dabei auf das 1., 3., 4. und 5. Amendment 253 . Andere Richter griffen unmittelbar auf die „Freiheit" der due process-Klausel des 14. Amendment zurück. Die Beschränkung des Schutzbereichs auf eheliche Beziehungen hat der Supreme Court später fallengelassen 254. Ein allgemeines Recht auf sexuelle Entfaltungsfreiheit existiert gleichwohl nicht 2 5 5 . Schon in Griswold hatten mehrere Richter des Supreme Court in einem Diktum geäußert, daß es den Einzelstaaten freistehe, Ehebruch, außerehelichen Geschlechtsverkehr, Homosexualität und Inzest zu verbieten 256 . In Bowers v. Hardwick von 1986 lehnte es der Supreme Court mit einer knappen 5:4-Mehrheit ausdrücklich ab, die due process-Klausel als ein Freiheitsgrundrecht auf gleichgeschlechtlichen Verkehr unter einverständlich handelnden Erwachsenen aufzufassen. Demgegenüber entschied der Supreme Court in Romer v. Evans mit einer 6:3Mehrheit, daß Homosexuellen nicht der Schutz entzogen werden dürfe, der ihnen nach besonderen Diskriminierungsverboten im Bundesstaat Colorado zustand. Der Supreme Court hielt den entsprechenden Verfassungszusatz („Amendment 2"), der vom Volk von Colorado mit Mehrheit angenommen worden war, für unvereinbar mit der allgemeinen Gleichheitsklausel. Im Gegensatz zum Supreme Court von Colorado, der eine verdächtige Klassifizierung bejaht hatte, erklärte der U.S. Supreme Court ausdrücklich, den Rationale-Basis-Test anzuwenden. Er entschied, daß der Verfassungszusatz keine rationale Basis habe, weil er aus purer Animosität gegenüber Homosexuellen beschlossen worden sei. Auf die Befugnis der Einzelstaaten, Fragen der Moral zu regeln, ging das Urteil nicht ein. Die Entscheidung steht in Widerspruch zu Bowers v. Hardwick, worauf auch das Minderheitsvotum von Scalia hinweist 257 . Es bleibt abzuwarten, ob der Supreme Court die sexuelle 251 Brugger, Grundrechte, S. 133 (Hervorhebung weggelassen). Folglich kontrolliert das Gericht Beschränkungen der Persönlichkeitsentfaltung im allgemeinen nur anhand des weitgehend wirkungslosen Rationale-Basis-Tests. Prüfungsmaßstab ist zwar auch hier die „Freiheit" der due process-Klausel, die aber nur bei „fundamentalen" Interessen eine strenge verfassungsgerichtliche Kontrolle auslöst. 2 2 5 381 U.S. 479 ff. (1965). Dazu Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 6 ff. 253
Die Bestimmungen betreffen u. a. die Rede- und Religionsfreiheit (Am. 1), den Schutz vor Einquartierung von Truppen in Privathäusern (Am. 3), das Verbot willkürlicher Beschlagnahme und Durchsuchung (Am. 4) sowie neben der due process-Klausel eine Reihe von Justizgrundrechten (Am. 5). 254 Vgl. Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 ff. (1972), und Carey v. Population Services International, 431 U.S. 678 ff. (1977). Danach haben auch Unverheiratete und Minderjährige ein Recht auf freien Zugang zu Verhütungsmitteln. Vgl. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 10; ders., Grundrechte, S. 111 f. 2
55 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 131 ff. 56 Griswold v. Connecticut, 381 U.S. 486 ff., 498 f. (1965) (Goldberg, J., joined by Warren, Ch. J., and Brennan, J., concurring). 2
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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Orientierung zukünftig als eine verdächtige oder zumindest quasi-verdächtige Klassifizierung behandeln und sie durch einen entsprechend strengeren Prüfungsmaßstab schützen wird.
2. „Freiheit"
in der Theorie der Repräsentationsoptimierung
Das repräsentationsoptimierende Verständnis von „Freiheit" in der due processKlausel bleibt hinter der Rechtsprechung zurück und zeigt eine starke Affinität zur originalistischen Position 2 5 8 . Bei strikt originalistischer Interpretation wäre Griswold eine unzulässige richterliche Fortbildung der Verfassung, weil ihr Text i m historischen Verständnis für ein Grundrecht auf Empfängnisverhütung keinen Anhaltspunkt gibt. Immerhin konnte sich Griswold aber auf ein traditionelles Freiheits- und Integritätsinteresse, nämlich auf die familiäre und eheliche Privatsphäre stützen, was die Originalisten versöhnen dürfte 2 5 9 . Ely muß Griswold dagegen ablehnen, soweit man i n der Entscheidung die Erfindung eines neuen Grundrechts auf Empfängnisverhütung e r b l i c k t 2 6 0 . Zutreffenderweise sieht Dworkin deshalb in Ely einen Gegner von Griswold 261. Elys Kritik an „fundamentalen" Werten scheint keine andere Einschätzung zuzulassen. Dennoch versucht Ely in „Democracy and Distrust", diese radikale Position zu vermeiden 2 6 2 . So betont er, daß die Entschei257 Vgl. Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 186 (1986), mit Romer v. Evans, 517 U.S. 620 (1996). Dazu Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 41 ff., ders., Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 123 f., 146 ff.; Faßbender, EuGRZ 1997, S. 608 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 376 ff. Die Entscheidung wirft schwierige Fragen der Gleichheitsdogmatik und der Drittwirkung von Grundrechten auf. Für Gegner der Entscheidung erhalten Homosexuelle durch spezielle Diskriminierungsverbote „besondere Rechte", während Befürworter der Entscheidung in solchen Antidiskriminierungsmaßnahmen lediglich eine Gleichstellung mit Heterosexuellen erblicken, die der fraglichen Diskriminierung schließlich nicht ausgesetzt seien. Ein weiteres Problem der Entscheidung war, ob Amendment 2 nur besondere Diskriminierungsverbote zugunsten von Homosexuellen verbietet oder auch den Schutz von Homosexuellen nach allgemeinen Gesetzen (z. B. dem strafrechtlichen Verbot der Körperverletzung) einzuschränken vermag, was noch weitaus einschneidender wäre. Es gibt Anzeichen dafür, daß der Supreme Court einen enger formulierten Verfassungszusatz nicht beanstandet hätte, der sich stärker auf den Schutz der Vertragsfreiheit (z. B. von Vermietern und Arbeitgebern) bezogen hätte. 258
Dazu bereits oben 1. Kap., D. I. 3. 259 Aus Elys Sicht, die er aber so in „Democracy and Distrust" nicht geäußert hat, müßte selbst der in der Verfassung nicht ausdrücklich geschützte Wert der „Ehe und Familie" seiner Kritik am Non-Originalismus unterfallen (vgl. Ely, S. 60 ff.). Gerade die traditionale Wertschätzung der Ehe ist nach repräsentationsoptimierender Sichtweise ein Garant im politischen Prozeß, der justiziellen Schutz überflüssig machen würde. 260 So bereits das Memorandum für Chief Justice Warren, das Ely als dessen „law clerk" im Fall Griswold verfaßte, abgedruckt in: Ely, On Constitutional Ground, S. 279 ff. Vgl. auch Ely, ibid., S. 281: „Once again, it appears my habits of thought were formed at an age some might find distressingly early. (I confess I don't)." 261 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 500 f. (1981).
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dung im Votum von Justice Douglas eng an einzelne spezielle Grundrechte anknüpfe. Entscheidender Gesichtspunkt sei, daß Beweise für einen Verstoß gegen das Verbot des Gebrauchs von Verhütungsmitteln nur mit unverhältnismäßigen Mitteln zu gewinnen wären („Polizei im ehelichen Schlafzimmer"). Ein Verbot der Herstellung oder des Verkaufs wäre demgegenüber zulässig, weil es ohne Verletzung der ehelichen Intimsphäre durchsetzbar sei. Damit ist die Entscheidung für Ely hinreichend originalistisch abgesichert und so auch von Roe v. Wade, der von ihm bekämpften Entscheidung zum Grundrecht auf Abtreibung, methodisch unterscheidbar 263. Die vom Supreme Court vollzogene Ausweitung von Griswold auf Unverheiratete ist aus originalistischer wie aus repräsentationsoptimierender Warte illegitimer verfassungsgerichtlicher Aktivismus. In dieser Sichtweise findet die Rechtsprechung des Supreme Court nur insoweit Zustimmung, als sie ein allgemeines Grundrecht auf sexuelle Intimsphäre ablehnt. Im Ergebnis unterfallen deshalb staatliche Beschränkungen der Persönlichkeitsentfaltung nach Elys Theorie allenfalls dem Rationale-Basis-Test. Der Schutz der Persönlichkeit ist für Ely insoweit dem politischen Prozeß aufgegeben, dessen Akteure in keiner Weise zum Tätigwerden verpflichtet werden können.
3. Freiheit durch Gleichheit? Fraglich ist nun, ob die repräsentationsoptimierende Theorie mit Hilfe der Gleichheitsklausel neue Freiheitsräume erschließen kann 264 . Dies scheint eine attraktive Vorgehensweise zu sein. Denn die Erstreckung bestehender Rechte auf weitere Berechtigte anhand der Gleichheitsklausel würde sich Elys Vorwürfen der Willkür und der Demokratiefeindlichkeit vergleichsweise weniger ausgesetzt sehen als eine Erfindung neuer Grundrechte mit Hilfe der allgemeinen Freiheitsklausel 265 .
262 Vgl. auch Brest, 42 Ohio St. L.J. 132 (1981), der Griswold in der folgenden Aufzählung zum „substantive due process" ausläßt: ,,[T]he two betes noires in [Ely's] freak show are Lochner v. New York and Roe v. Wade" (Fn. weggelassen) 263 Vgl. Ely , S. 221 Fn. 4; ders., The Wages of Crying Wolf, in: ders., On Constitutional Ground, S. 286 f.; abschwächend ibid., S. 455 Anm. 3. Es versteht sich von selbst, daß diese engstmögliche Lesart von Griswold keiner Ausdehnung offen steht, wie sie der Supreme Court später vorgenommen hat. 264 Es geht hier vor allem darum, das praktische Potential von Elys Theorie auszuloten. Der komplexe Zusammenhang von Freiheit und Gleichheit kann hier nur angedeutet werden. Aus der Lit. vgl. z. B. Sunstein, Sexual Orientation and the Constitution: A Note on the Relationship between Due Process and Equal Protection, 55 U. Chi. L. Rev. 1161 ff. (1988). 265 Zwar entsteht auch aufgrund der Gleichheitsklausel ein Recht, das im Hinblick auf den Kreis der Berechtigten vom Gesetzgeber inhaltlich so nicht konzipiert worden ist. Dennoch bleibt der im Text genannte Unterschied bestehen, weil die Vergleichsgruppe wenigstens einen festen Anhaltspunkt liefert, welcher Gewährleistungsinhalt in Frage kommt. Es handelt
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Akzeptiert man das Recht auf Empfängnisverhütung in der Ehe als Ausgangspunkt, wofür selbst i m originalistischen Verständnis die traditionelle Anerkennung der Ehe spricht, so läßt es sich unter dem Gebot der Gleichbehandlung auf den ersten Blick kaum rechtfertigen, warum unverheiratete Paare kein Recht auf Familienplanung haben sollen 2 6 6 . Die Unterscheidung 2 6 7 zwischen Unverheirateten und Eheleuten ist jedoch nach der Rechtsprechung des Supreme Court keine verdächtige Klassifizierung. Z u m gleichen Ergebnis kann man auch mit der repräsentationsoptimierenden Theorie gelangen 2 6 8 . Die Gleichheitsprüfung hilft den Ledigen daher nach dem Rationale-Basis-Test nur bei völlig irrationaler Motivationslage des Gesetzgebers w e i t e r 2 6 9 . Zur Rechtfertigung würde es schon genügen, wenn sich der Gesetzgeber ernsthaft auf seine Kompetenz zur Regelung der öffentlichen Moral berufen würde. Für Ely steht es unverheirateten Bürgern frei, ihre Auffassung von Privatsphäre i m politischen Prozeß durchzusetzen. Der Minderheitenschutz, wie er i m dritten Absatz der Fußnote 4 angelegt ist, operiert demgegenüber i m Rahmen der Gleichheitsklausel mit dem Maßstab strikter Überprüfung und könnte dazu führen, daß unbenannte Freiheitsinteressen erhöhten grundrechtlichen Schutz genießen. Als Beispiel sei die homosexuelle Minderheit betrachtet, die auch nach Elys Ansicht Opfer von Feindseligkeit und Zielgruppe unzutreffender Stereotypen i s t 2 7 0 . Durch das gesetzliche Verbot von ho-
sich also um ein derivatives Grundrecht, nicht aber um die Erzeugung einer völlig neuen, originären Grundrechtsposition. Vgl. aber Ely, S. 32. 266 So im Ergebnis auch Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 ff. (1972). 267 Aus Elys Sicht würde diese Frage nur dann der Gleichheitsprüfung unterfallen, wenn der Gesetzgeber ein Gesetz beschlösse, das ausschließlich unverheirateten Personen den Zugang zu Verhütungsmitteln verbietet. Bei einem nicht-klassifizierenden Gesetz, das unterschiedslos für Verheiratete und Unverheiratete gilt, käme die Gleichheitsprüfung nicht zur Anwendung. 268 Unverheiratete sind keine Zielgruppe von Vorurteilen ersten Grades. Immerhin entscheidet der Gesetzgeber aber auf der Grundlage einer We/They-Klassifizierung. Hier könnte durchaus die Gefahr der Selbsterhöhung bestehen, wie Angriffe auf „Dinks" und „Yuppies" als - angeblich - unsolidarische Mitglieder der Gemeinschaft zeigen. Jedoch waren verheiratete Parlamentarier selbst einmal unverheiratet. Viele haben zudem unverheiratete Kinder. Beides könnte ihre Empathie mit Ledigen steigern und entsprechende Vorurteile ausräumen. Das Beispiel zeigt, wie spekulativ Feststellungen zum Vorurteil zweiten Grades sein können. Posner, 11 Va. L. Rev. 647, 649 (1991), hält es entgegen Elys Intention für möglich, mit partizipations- und repräsentationsoptimierenden Argumenten Persönlichkeitsrechte zu begründen, weil im Fall Griswold die katholische Kirche als eine mächtige Interessengruppe Reformen zulasten von Frauen aus einkommensschwachen Schichten blockiert habe. Hier wird der im Vorurteil enthaltene Aspekt der politischen Machtlosigkeit verallgemeinert. 269 Unter der Beweislastverteilung im Rationale-Basis-Test darf das Verfassungsgericht wie erwähnt - auch auf hypothetische Motive zurückgreifen, die der Gesetzgeber bei Erlaß des Gesetzes tatsächlich nicht hatte. In Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 (1972), verneinte der Supreme Court zwar das Vorliegen rationaler Gründe, nahm aber der Sache nach eine strikte Überprüfung vor. 270 Vgl. auch Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 975 (Nr. 5). 6 Riecken
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mosexuellem Geschlechtsverkehr, aber auch durch das Verbot der gleichgeschlechtlichen Ehe wird diese Minderheit gegenüber der heterosexuellen Mehrheit ungleich behandelt. Soweit ein Gesetz ausdrücklich nur gleichgeschlechtlichen Verkehr oder die gleichgeschlechtliche Ehe verbieten würde, läge eine verdächtige Klassifizierung 271 vor, die die strikte Gleichheitsprüfung auf den Plan ruft. In der Tat bejaht ein großer Teil der amerikanischen Literatur eine verdächtige Klassifizierung, die, je nach Sichtweise, an die sexuelle Orientierung oder an das Geschlecht anknüpfen soll 2 7 2 . Mit Hilfe des Maßstabs strikter Kontrolle kann man also - anders als die knappe Mehrheit des Supreme Court in Bowers v. Hardwick zur Verfassungswidrigkeit einer solchen Ungleichbehandlung gelangen. Es ist nämlich nach den Maßstäben der amerikanischen Dogmatik höchst fraglich, ob sich der Gesetzgeber erfolgreich auf ein zwingendes öffentliches Interesse an der Ungleichbehandlung berufen könnte. Im Hinblick auf homosexuellen Geschlechtsverkehr würde es nicht genügen, sich pauschal auf die öffentliche Moral zu berufen 2 7 3 . Was die gleichgeschlechtliche Ehe angeht, so wären angebliche Nachteile zum Beispiel für das Gemein- und Kindeswohl sowie für die Entwicklung des Bevölkerungswachstums - zu substantiieren und zu beweisen, was einigermaßen schwer fallen dürfte 274 . Zumindest wären entsprechende Verbotsgesetze aufgrund ihrer „Verdächtigkeit" prima facie verfassungswidrig. Für Ely sind dagegen ernsthafte moralische Gründe des Gesetzgebers nicht erst eine Rechtfertigung der Ungleichbehandlung, vielmehr schließen sie schon das Vorurteil und damit die Verdächtigkeit der Klassifizierung aus. Eine verfassungsgerichtliche Bewertung der moralischen Gründe des Gesetzgebers kommt für ihn nicht in Frage. Ausgerechnet im Fall der Homosexualität gewährt Elys Theorie also keinen zusätzlichen grundrechtlichen Schutz, obwohl Homosexuelle ein Paradefall für eine durch gesellschaftliche Vorurteile behinderte Garo/ene-Minderheit zu sein scheinen. Will man also begründen, daß die Ungleichbehandlung homosexuel271 Das mindestens ebenso wichtige Problem, inwiefern ein unterschiedslos anwendbares, nicht-klassifizierendes Gesetz wie in Bowers einer strikten Überprüfung unterliegen kann, muß hier ausgeklammert werden, weil Elys Theorie diese Fälle nicht erfassen kann. Der Supreme Court hat die Gleichheitsklausel in Bowers nicht geprüft, da das „Sodomie"-Gesetz Anal- und Oralverkehr unterschiedslos für Homo- und Heterosexuelle unter Strafe stellte. Allerdings argumentiert die abw. M. von Justice Stevens mit Gleichheitsgesichtspunkten, vgl. Bowers v. Hardwick, 478 U.S. 214 ff., 218 ff. (1986) (Stevens, J., dissenting). 272 Vgl. Heun, Gleichgeschlechtliche Ehen, S. 115 ff. m. umfangreichen Nachw.; sowie z. B. Note, The Constitutional Status of Sexual Orientation: Homosexuality As a Suspect Classification, 98 Harv. L. Rev. 1285 ff. (1985); Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 197 (1994). Zur Gegenansicht vgl. ebenfalls die Darstellung und Nachw. bei Heun, Gleichgeschlechtliche Ehen, S. 118 ff. Zur Rechtsprechung siehe oben 1. Kap., D. III. 3. e). 273 Die Beantwortung der Frage hängt unter anderem davon ab, ob man der individuellen Freiheit grundsätzlich Vorrang vor der öffentlichen Moral einräumt. Ely bestreitet einen solchen Vorrang, vgl. ders., S. 256 Anm. 92. Dennoch dürften einfache moralische Gründe im Rahmen der strikten Kontrolle nicht zur Rechtfertigung ausreichen. 274 Ausführlich zum aktuellen Stand der Diskussion in Deutschland und den USA Heun, Gleichgeschlechtliche Ehen in rechtsvergleichender Sicht, 1999.
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ler Lebensweisen eine verdächtige Klassifizierung beinhaltet, so kann man dafür nicht auf Elys Theorie zurückgreifen 275. Statt dessen wäre zum Beispiel nach inhaltlichen Kriterien zu suchen, mit denen sich der Begriff des Vorurteils konkretisieren läßt. Dabei wäre auch auf weitere anerkannte Kriterien der Verdächtigkeit einzugehen wie etwa das in der Diskriminierung liegende Stigma der Minderwertigkeit sowie die Unveränderlichkeit der sexuellen Orientierung 276 . Die Entscheidung des Supreme Court in Romer v. Evans verdeutlicht die Problematik noch einmal. Aufgrund der vom Supreme Court unterstellten Feindseligkeit gegenüber Homosexuellen im Bundesstaat Colorado (= Vorurteil ersten Grades) müßte Ely eigentlich eine strenge Gleichheitsprüfung befürworten. Andererseits geht Ely wie auch der dissentierende Richter Scalia von einer Befugnis des Gesetzgebers zum Verbot der Homosexualität aus moralischen Gründen aus. Unter diesem Aspekt müßte Ely die Entscheidung der Mehrheit des Supreme Court ablehnen. Allerdings wird in der Literatur darauf hingewiesen, daß Ely in einem Memorandum zur Unterstützung der Gegner des Verfassungszusatzes als „amicus curiae" für dessen Verfassungswidrigkeit auf der Grundlage des Rationale-Basis-Tests ein• 277
getreten sei
.
II. Grundrecht auf Abtreibung und Schutz ungeborenen Lebens 1. Rechtsprechung des Supreme Court In der Leitentscheidung Roe v. Wade von 1973 gelangte der Supreme Court zu einer Fristenlösung der Abtreibungsfrage 278. Das Gericht bejahte ein Grundrecht der Schwangeren auf Abtreibung, wobei es sich mangels expliziter Verankerung in der US-Verfassung unter anderem 279 auf die allgemeine Freiheitsklausel des 14. Amendment sowie auf seine früheren Entscheidungen zum Schutz der Privatsphäre berief. Demgegenüber lehnte es der Supreme Court ab, das ungeborene Leben dem grundrechtlichen Lebensschutz zu unterstellen 280. Dem Staat blieb es 275 Dafür müßte man die prozedurale Brille absetzen und der pauschalen Berufung des Gesetzgebers auf moralische Gründe einen inhaltlich definierten Riegel vorschieben. Damit würde man Elys Theorie aufgeben. 276 Diese Fragen nach den sinnvollen Kriterien für die Verdächtigkeit einer Klassifizierung führen in die Einzeldogmatik der Gleichheitsprüfung und können hier nicht näher untersucht werden. 277 Vgl. Romer v. Evans, 517 U.S. 620 (1996), und dazu Faßbender, EuGRZ 1997, S. 611 f. m. Fn. 26 u. w. Nachw. 278 Vgl. allg. Brugger, NJW 1986, S. 896 ff.; ders., Grundrechte, S. 112 ff.; ders., Persönlichkeitsentfaltung, insb. S. 11 ff. 279 Der Supreme Court stützte sich ergänzend auf das 9. Amendment. 28 0 Zu denken wäre insbesondere an das „Leben" als Schutzgegenstand der due processKlauseln im 5. und 14. Amendment, wenn man den Fötus als „Person" im Sinne dieser Bestimmungen anerkennt. 6*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
jedoch unbenommen, im Rahmen des strikten Prüfungsmaßstabes besonders schwerwiegende Interessen vorzubringen, um das Recht der Schwangeren auf Abtreibung einzuschränken. Ein solches legitimes Interesse ist nach Auffassung des Gerichts der Schutz des ungeborenen Lebens. Dies führte zu einer abgestuften Regelung, die im ersten Trimester eine Fristenlösung erlaubt 281 . In einer Entscheidung aus dem Jahre 1992 schränkte der Supreme Court das Recht auf Abtreibung insofern ein, als nunmehr Beschränkungen der Abtreibung in den ersten beiden Trimestern der Schwangerschaft verfassungsgemäß sind, sofern sie keine unangemessene Beeinträchtigung („undue bürden") der Schwangeren darstellen 282.
2. Theorie der Repräsentationsoptimierung Ely ist schon vor 1980 als prominenter Kritiker von Roe v. Wade hervorgetreten 2 8 3 . Das Grundrecht der Schwangeren auf Abtreibung stellt für ihn eine illegitime Erfindung des Supreme Court dar 2 8 4 . Daran hält er auch in „Democracy and Distrust" fest, obwohl seine politische Uberzeugung für die Wahlfreiheit der Frau („pro choice") spricht 285 . Weder das Recht der schwangeren Frau auf Abtreibung noch der Schutz des ungeborenen Lebens seien im Text der US-Verfassung auch nur „einigermaßen spezifisc[h]" verankert 286 . Von daher liegt nach der repräsentationsoptimierenden Theorie allenfalls die Verwendung des Rationale-Basis-Tests nahe, wenn der Kongreß oder ein Einzelstaat die Abtreibung regelt. Im Ergebnis könnte der Gesetzgeber - abgesehen von einer völlig irrationalen Motivationslage - die Abtreibung ganz verbieten 287 , aber auch vollständig freigeben 288. Dies impli281 Im ersten Trimester liegt daher die Entscheidung über die Abtreibung allein bei der Schwangeren. Im zweiten Trimester darf der Staat nur die Ausübung der Abtreibung regeln, um den Schutz der Gesundheit der Schwangeren wie bei ärztlicher Heilbehandlung sicherzustellen. Schließlich rechtfertigt der Schutz des ungeborenen Lebens als zwingendes öffentliches Interesse das Verbot der Abtreibung, sobald der Fötus außerhalb des Mutterleibes lebensfähig ist. Auch dann ist die Abtreibung noch zulässig, sofern sie zum Schutz der Gesundheit der Schwangeren erforderlich ist. Vgl. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 13. 282 Vgl. Planned Parenthood of Southeastern Pennsylvania v. Casey, 505 U.S. 833 ff. (1992). Dazu Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 23 f. 283 Vgl. Ely, The Wages of Crying Wolf: A Comment on Roe v. Wade, 82 Yale L.J. 920 ff. (1973), wieder abgedruckt in: ders., On Constitutional Ground, S. 281 ff. 284
Ely, S. 99 f., 228 f. Anm. 91, nennt im Zusammenhang mit der Behauptung, daß inhaltlichen Weiten im Verfassungsrecht keine dauerhafte Existenz beschieden sei, die verfassungsgerichtliche Billigung von Sklaverei, Frühkapitalismus und Abtreibung in Dred Scott v. Sandford, Lochner v. New York und Roe v. Wade in einem Atemzug. 28 5 Vgl. Ely, S. 248 Anm. 52; ders., 11 Va. L. Rev. 844 Fn. 26 (1991). 28 6 Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 5, 31 (Zitat auf S. 21). Vgl. auch Ely, The Wages of Crying Wolf, in: ders., On Constitutional Ground, S. 289. 287 Verfassungsrechtlich gebotene Einschränkungen eines Abtreibungsverbotes, die dem Schutz des Lebens oder der Gesundheit der schwangeren Frau dienen, seien hier ausgeklammert. Vgl. dazu Perry, The Constitution in the Courts, S. 181.
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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ziert, daß für Ely die gesamte Problematik dem politischen Prozeß überantwortet i s t 2 8 9 Seine Theorie eröffnet dem Gesetzgeber insoweit ungewöhnlich große Spielräume. Die Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Interpretationskompetenz bewirkt eine verstärkte parlamentarische Verantwortlichkeit und eine Aufwertung des politisch-moralischen Diskurses über den gerechten Ausgleich zwischen den Interessen der Schwangeren an der Abtreibung und dem Schutz des ungeborenen Lebens. Elys Theorie läuft allerdings auf eine Bestätigung des status quo hinaus. Wenn einzelstaatliche Gesetze wie in Roe die Abtreibung einschränken, muß Ely dies hinnehmen.
3. Extrapolation
eines Grundrechts auf Abtreibung?
Möglicherweise kann man mit Elys Theorie doch für ein Grundrecht auf Abtreibung oder für grundrechtlich gebotenen Schutz des ungeborenen Lebens argumentieren, wenn man nicht den restriktiven, sondern den aktivistischen Teil der Theorie heranzieht 290. Das Recht auf Abtreibung wird in den USA auch als Problem der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts diskutiert 291 . Aus der Perspektive von Elys Theorie ergeben sich daraus folgende Ansatzpunkte: Zwar sind Frauen keine Minderheit im politischen Prozeß 292 . Auch kann jede Frau, ob schwanger oder nicht, im politischen Prozeß als Fürsprecherin eines Rechts auf Abtreibung auftreten. Immerhin könnte man aber überlegen, ob nicht Frauen durch ungewollte Schwangerschaft und nachfolgende zeitintensive Kindererziehung gegenüber Männern in ihrem gleichen Zugang zum politischen Prozeß behindert werden, so daß ein gesetzliches Abtreibungsverbot eine staatliche Behinderung ihrer Partizipation wäre. Auch könnten in einer von Männern dominierten Legislative Rollenmodelle und Stereotypen gegenüber Frauen wirksam sein, weshalb Abtreibungsverbote an der strikten Gleichheitsprüfung zu messen wären 293 . 288 Auch für Ely steht es dem Staat frei, das ungeborene Leben als staatliches Interesse zu schützen. 289 So ausdrücklich Ely, On Protecting Fundamental Interests and Powerless Minorities under the United States and Canadian Constitutions, in: ders., On Constitutional Ground, S. 20. 29 0 Vgl. zum folgenden Cox, 94 Harv. L. Rev. 700, 710 f. (1981). 291 Dieser Aspekt kann hier nicht vertieft werden. Vgl. etwa Tribe, American Constitutional Law, 2. Aufl. 1988, S. 1350 ff.; MacKinnon, Roe v. Wade: A Study in Male Ideology in Abortion, 1985; Perry, The Constitution in the Courts, S. 181 f.; Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 29 Fn. 56. 292 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 751 f., 759 Fn. 63 m. Text (1991); Ely, S. 164. 29 3 Anders Ely, The Wages of Crying Wolf, in: ders., On Constitutional Ground, S. 288 f., der Frauen in der Abtreibungsfrage nicht für eine schutzbedürftige Minderheit im Sinne der Carolene-Fußnote hält, weil das ungeborene Leben im politischen Prozeß vergleichsweise schwächer als Frauen vertreten sei: „Compared with men, very few women sit in our legisla-
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Das ungeborene Leben hat im politischen Prozeß naturgemäß keine eigene 294 Stimme und könnte deshalb einer Carolene-Minderheit gleichstehen295. Ob es schutzwürdig im Sinne der repräsentationsoptimierenden Theorie ist, hängt aber unter anderem davon ab, ob ihm das Recht auf Leben überhaupt zusteht 296 . Diese Frage kann der aktivistische Zweig der repräsentationsoptimierenden Theorie aus sich heraus nicht beantworten, weil Ely nicht sagt, wer Teilnehmer am politischen Prozeß ist. Diese Überlegungen zeigen, daß sich die repräsentationsoptimierende Theorie einer Fortschreibung im Hinblick auf ein Grundrecht auf Abtreibung nicht völlig versperrt, auch wenn Ely einer derartigen Extrapolation unzweifelhaft nicht zustimmen würde: Der Versuch, die Abtreibungsfrage zurück in ihr „verfassungsrechtliches Prokrustesbett" 297 zu zwingen, würde aus seiner Sicht das Ziel verfehlen, in verfassungsrechtlich nicht eindeutig geregelten Fragen die Entscheidungskompetenzen des demokratischen Prozesses zu stärken. Zugleich macht diese Dynamisierung von Elys Ansatz beispielhaft deutlich, daß die Anwendung des aktivistischen Teils seiner Theorie auf problematische Fälle mit erheblicher Unsicherheit belastet ist.
F. Exkurs: Jesse H. Chopers funktionale Theorie Im gleichen Jahr wie „Democracy and Distrust" erschien m i t , Judicial Review and the National Political Process" 298 von Jesse Choper eine umfangreiche Studie, die anhand funktionaler 299 Erwägungen Sachbereiche der Verfassung zu bestimmen versucht, die legitimerweise verfassungsgerichtlicher Kontrolle unterliegen. Choper befürwortet zunächst die verfassungsgerichtliche Kontrolle im Bereich der Grundrechte, deren Schutz er nicht der Mehrheit im politischen Prozeß anvertrauen w i l l 3 0 0 . Der Supreme Court sei zum Schutz von grundrechtlichen Freiheiten und insbesondere von unpopulären und nicht repräsentierten Minderheiten besonders tures, a fact I believe should bear some relevance [ . . . ] to the appropriate standard of review for legislation that favors men over women. But no fetuses sit in our legislatures." (ibid., S. 288) 294 Ely verkennt nicht, daß das ungeborene Leben im politischen Prozeß stellvertretend geschützt wird, wie zum Beispiel durch Anhänger der pro life-Bewegung. Er meint aber, daß in der Abtreibungsfrage beide Seiten über solche Fürsprecher verfügten, vgl. ibid. 295 Ely, The Wages of Crying Wolf, in: ders., On Constitutional Ground, S. 288 f., zieht diesen Schluß nicht, kommt ihm aber immerhin nahe, wenn er das politisch machtlose ungeborene Leben durch ein Grundrecht auf Abtreibung den Interessen der Frauen untergeordnet sieht. 296 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 139 Fn. 42 (1981). 297 Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 17. 298 1. Aufl., 1980. 299 Choper, S. 2, bezeichnet seinen Ansatz auch selbst als funktional. Vgl. auch den Untertitel des Buches: „A Functional Reconsideration of the Role of the Supreme Court". 300 Vgl. Choper, S. 2, 60 f f , 64 ff., insbesondere 67 ff.
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geeignet, weil er keiner politischen Verantwortlichkeit unterliege und sein deliberatives Verfahren den Einfluß von Emotionen auf die Entscheidung minimiere 301 . Demgegenüber hält er bestimmte Verfassungsstreitigkeiten im Bereich der vertikalen und horizontalen Gewaltenteilung für nicht justiziabel, was sich untechnisch als Ruf nach Zurückhaltung des Verfassungsgerichts apostrophieren läßt. Im einzelnen solle sich der Supreme Court aus föderalen Konflikten heraushalten, in denen es um eine behauptete Verletzung einzelstaatlicher Kompetenzen durch den nationalen Gesetzgeber geht 302 . Die Einzelstaaten könnten ihre Kompetenzen303 im Verhältnis zur Bundesgewalt im politischen Prozeß hinreichend schützen, indem sie zum Beispiel im Senat Einfluß auf die Formulierung bundesstaatlicher Politik nähmen 304 . Auch Kompetenzstreitigkeiten zwischen Kongreß und Exekutive seien allein im politischen Prozeß zu lösen 305 . Die gerichtliche Zurückhaltung im Bereich des Staatsorganisationsrechts soll es dem Supreme Court nach Choper ermöglichen, sein erschöpfbares institutionelles Kapital 3 0 6 auf die Entscheidung von kontroversen Grundrechtsfällen zu konzentrieren. Der staatsorganisationsrechtliche Kontext, wie ihn Choper in den Vordergrund rückt, stellt gegenüber den von Ely anvisierten grundrechtlichen Fragen sogar die ältere Bedeutungsschicht des repräsentationsverstärkenden Gedankens dar und läßt sich schon in frühen Entscheidungen des Supreme Court nachweisen307. Mit dem 301 Vgl. Choper, S. 68 f. 302 Choper, S. 2 f., 171 ff. (Kapitel 4). Zu Chopers Ansatz vgl. bereits Wechsler, The Political Safeguards of Federalism: The Role of the States in the Composition and Selection of the National Government, 54 Colum. L. Rev. 543 ff. (1954). 303 Die als „police power" bezeichnete allgemeine Verwaltungs- und Gesetzgebungskompetenz der Einzelstaaten wird zwar von der amerikanischen Verfassung umfassend - im Sinne der althergebrachten „Polizeygewalt" - vorausgesetzt. (Vgl. auch das 10. Amendment, das an Art. 30 GG erinnert.) Der Kongreß kann jedoch die einzelstaatlichen Kompetenzen insbesondere im Rahmen der Commerce Clause (Art. 1 See. 8 Cl. 3 US-Verfassung) sehr weit einschränken. Dies liegt zum einen an der weiten Auslegung dieser bundesstaatlichen Kompetenz zur Regelung des grenzüberschreitenden Handelsverkehrs zwischen den Einzelstaaten durch den Supreme Court und zum anderen daran, daß es bisher nicht gelungen ist, eine materiale Theorie der Gliedstaatensouveränität im Sinne unantastbarer einzelstaatlicher Kernkompetenzen zu entwickeln. Die hiermit verbundenen Probleme des Staatsorganisationsrechts sind Gegenstand wichtiger Rspr. des Supreme Court, vgl. den prozeduralen Ansatz in Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority, 469 U.S. 528 ff. (1985), mit dem National League of Cities v. Usery, 426 U.S. 833 ff. (1976) außer Kraft gesetzt wurde. Siehe auch unten 3. Kap., A., FN. 2. Vgl. zum ganzen einführend Tribe, American Constitutional Law, S. 124 ff., 860 ff.; aus deutscher Sicht Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 53 ff.; Rau, Selbst gesetzte Grenzen, S. 106 ff. 304 Chopers Ansatz ist bedeutend differenzierter, als es das im Text genannte Beispiel vermuten läßt. 305 Choper, S. 3, 260 ff. (Kapitel 5). 306 Vgl. dazu ausführlich das 3. Kapitel von Choper, S. 129 ff. 307 Tushnet hat deshalb Elys und Chopers Theorien als „Wiederentdeckungen" bezeichnet, Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 411 (1981) m. w. Nachw. zur Rspr.; vgl. auch ders., Red, White, and Blue, S. 72.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Zitat von McCulloch v. Maryland 308 schlägt auch die Fußnote 4 den Bogen von den Grundrechten zum Föderalismus. In McCulloch argumentierte Chief Justice John Marshall mit Mängeln des politischen Prozesses, und zwar mit der unvollständigen Repräsentation des amerikanischen Volkes im Parlament von Maryland, um die Verfassungswidrigkeit einer einzelstaatlichen Steuer auf eine nationale Bank zu begründen 309. Damit ist die in Fußnote 4 und von Ely verfolgte Strategie angedeutet, mit Mängeln im politischen Prozeß einen punktuellen verfassungsgerichtlichen Aktivismus im Bereich der Grundrechtskontrolle zu rechtfertigen 310. Soweit Ely und Choper Stärken und Schwächen des politischen Prozesses in das Zentrum ihrer funktionalen Analyse stellen, besteht zwischen ihnen eine gewisse Verwandtschaft. Allerdings treten unterschiedliche Schwerpunkte zutage. Choper konzentriert sich auf die Gewaltenteilungsproblematik und verzichtet dafür im Bereich grundrechtlicher Kontrolle auf weitere Differenzierung: Da er bereichsspezifrsch die Justiziabilität von Verfassungsstreitigkeiten untersucht, geht es ihm allein um das „Ob" und nicht um das „Wie" verfassungsgerichtlicher Kontrolle 311 . Deshalb findet man bei ihm keine vertieften Ausführungen zum Inhalt von Grundrechten und zur Methode der Verfassungsinterpretation. Auch geht er dem Ansatz der Carolene-Fußnote nicht näher nach 312 . Infolge dieser Selbstbeschränkung auf den staatsorganisationsrechtlichen Kontext trägt sein Werk nur wenig zur Klärung der von Ely und in dieser Arbeit untersuchten verfassungs- und grundrechtstheoretischen Probleme bei 3 1 3 . Deshalb bleibt es hier bei einem Exkurs. Ungeachtet der zum Teil heftigen Kritik, auf die hier nur hinzuweisen ist 3 1 4 , liefert seine Analyse 308 17 U.S. (4 Wheat.) 316, 428 (1819). Dazu Ely, S. 85 f. 309 Dementsprechend befürwortet Choper, S. 205 ff., grds. den verfassungsgerichtlichen Schutz von Bundeskompetenzen gegenüber einzelstaatlichen und lokalen Gesetzen, weil die Bundesgewalt auf diesen unteren Ebenen nicht hinreichend repräsentiert sei. 310 In der älteren Rechtsprechung findet sich aber auch die umgekehrte Begründung, bei der ein funktionierender politischer Prozeß als Argument gegen verfassungsgerichtliche Kontrolle eingesetzt wird. Vgl. Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 411 (1981), mit Hinweis auf Gibbons v. Ogden, 22 U.S. (9 Wheat.) 1 ff. (1824). An diese limitierende Strategie knüpft Choper in den Bereichen Föderalismus und horizontale Gewaltenteilung an, während Ely so zu verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung außerhalb der von Fußnote 4 vorgesehenen Kontrollkompetenzen gelangt. 311 Vgl. Choper, S. 1,70 f. 312 Vgl. Choper, S. 71 f., 75 ff., zum zweiten und dritten Absatz der Fußnote 4. 313 Vgl. Choper, S. 79: „Although [ . . . ] judicial review should be exercised in behalf of personal constitutional liberties, this book in no way undertakes to say how this superintendence should be carried out. In short, it does not attempt to resolve what John Ely recently stated to be ,the critical question facing constitutional scholarship': development of ,a principled approach to judicial enforcement of the Constitution's open-ended provisions' [Fn.] securing individual rights." (Nachw. bezieht sich i.O. auf Ely, 53 Ind. L.J. 448 (1978). 314 Chopers Ruf nach verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung ist unter anderem deshalb problematisch, weil Gewaltenteilung bekanntlich nicht nur eine staatsorganisationsrechtliche, sondern auch eine freiheitsschützende Funktion hat. Die Effektivität von Grundrechten hängt auch davon ab, wer sie einschränken darf, und dies ergibt sich aus dem institutionellen Kon-
1. Kap.: Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle
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des politischen Prozesses eine verdienstvolle empirische Ergänzung zu Elys Theorie315. Selbst Gegner beider Theorien erkennen an, daß der partizipations- und repräsentationsorientierte Ansatz mit Ely und Choper seinen dogmatischen Höhepunkt erreicht hat 3 1 6 .
text. Dies spricht prima facie für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der horizontalen und vertikalen Gewaltenteilung. Vgl. dazu Bork, The Tempting of America, S. 140, der auch darauf hinweist, daß sich unterschiedliche Gewaltenteilungskonzeptionen auf die Partizipationsmöglichkeiten der Bürger auswirken. Nimmt man hier pauschal verfassungsgerichtliche Zurückhaltung an, so steht dies im Widerspruch zu Elys Theorie, nach der die Bedingungen der Partizipation gerade nicht der Selbstregulierung durch den politischen Prozeß überlassen werden dürfen. Parker, 42 Ohio St. L.J. 229 ff. (1981), hat Chopers empirisch-sozialwissenschaftlichen Ansatz heftig kritisiert und ihm selektiven Umgang mit den Ergebnissen politologischer Forschung vorgeworfen {ibid., S. 233 ff., 243 f.). Kurze, aber schlagkräftige Kritik bei Tribe / Dorf, On Reading the Constitution, S. 27 f. Selbst wenn sich der Supreme Court im Sinne von Chopers Theorie zurückhalten würde, müßte dies nicht zu einer besseren Akzeptanz kontroverser Grundrechtsentscheidungen führen. Die Vorstellung eines verrechenbaren institutionellen Kapitals ist deshalb angreifbar (Vgl. ibid., S. 27 mit dem Vorwurf der Naivität). Vgl. auch die Kritik bei Tushnet, Red, White, and Blue, S. 73 ff. 315
Das gilt zum Beispiel für die Frage der tatsächlichen politischen Verantwortlichkeit von Gesetzgeber und Verfassungsgericht, dazu Choper, S. 12 ff., 29 ff., 47 ff., sowie für die reale Funktionsweise von „Repräsentation". 316 Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 230 (1981): „Between them [ . . . ] they bring 'processorientation' to methodological maturity". Für Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 411 f. (1981) eröffnen Ely und Choper - zusammen mit anderen Autoren wie etwa Tribe und Perry - eine neue Epoche der von ihm so genannten „Großen Theorien" des Verfassungsrechts. Vgl. auch Tushnet, Red, White, and Blue, S. 1 ff. Den Beginn der voraufgegangenen Epoche des „grand theorizing" setzt er zwei Jahrzehnte früher an, und zwar bei Wechslers neutralen Prinzipien (vgl. ders., 73 Harv. L. Rev. 1 ff. [1959]), und Bickels „The Least Dangerous Branch" von 1962. Zu Wechsler vgl. Brugger, Grundrechte, S. 358 ff.
Zweites Kapitel
Zur Analyse von Elys Theorie Zweck der nachfolgenden Analyse ist es, ein möglichst objektives Bild von Elys Theorie zu gewinnen, das als Grundlage und Bezugspunkt für die Darstellung und Diskussion der Kritik im dritten Kapitel dienen kann. Es geht in diesem Kapitel primär darum, Elys Theorie besser zu verstehen. Eine Kritik oder Bewertung der Theorie ist hier noch nicht bezweckt, auch wenn die Analyse bestrebt ist, etwaige Widersprüche offenzulegen. Allerdings kann auch die Analyse nicht auf Wertungen verzichten, weshalb sie nicht das einzig mögliche Verständnis, sondern bereits eine Interpretation seines Werks ist. Die Untersuchung ordnet Elys Theorie verschiedenen verfassungstheoretischen und rechtsphilosophischen Positionen zu, um auf diese Weise die Prämissen der repräsentationsoptimierenden Theorie zu ergründen, zu denen sich Ely nur selten ausdrücklich äußert. Das differenzierte Bild, wie es als Ergebnis dieser Analyse entsteht, weicht von der Selbsteinschätzung Elys, aber auch von dem Eindruck, der sich dem Leser von „Democracy and Distrust" dem ersten Anschein zufolge bietet, zum Teil erheblich ab. Dies kann so weit gehen, daß die Analyse Züge einer Rekonstruktion annimmt. Zunächst wird untersucht, ob Elys Theorie die Rechtsprechung des Warren Court zutreffend erfaßt (A.). Danach wird seine Methode der Verfassungsinterpretation analysiert, womit sich eine erste Charakterisierung seiner verfassungstheoretischen Position verbindet (B.). Im Anschluß daran sind die einzelnen Bestandteile seiner Verfassungstheorie zu durchleuchten. Dies betrifft die Trennung von Recht und Politik (C.), seine Vorstellungen vom Begriff (D.) und Zweck des Rechts (E.), seine erkenntnistheoretische Position (F.) und sein Politikverständnis (G.). Darüber hinaus ist Elys Theorie im Hinblick auf die Rolle des Verfassungsgerichts zwischen Zurückhaltung und Aktivismus einzuordnen (H.). Schließlich sollen die verfassungspolitischen Konsequenzen seiner Theorie besprochen werden (J.).
A. Elys Deutung der Rechtsprechung des Warren Court Ely will mit „Democracy and Distrust" die Rechtsprechung des Supreme Court unter Chief Justice Earl Warren in den Jahren 1953 bis 1969 theoretisch absichern 1. Rechtfertigt seine Theorie diese Rechtsprechung2?
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Viele bekannte Entscheidungen des Warren Court lassen eine repräsentationsoptimierende Deutung zu 3 . Dies gilt zunächst für die Aufhebung der Rassentrennung in Brown v. Board ofEducation 4 aus dem Jahre 1954. Brown erscheint dann als ein Fall, in dem das Verfassungsgericht einer Minderheit Beistand geleistet hat, die sich aufgrund von Vorurteilen i m System der US-amerikanischen Rassendiskriminierung nicht selbst wehren konnte. Die Entscheidung läßt sich damit als Ausfluß des dritten Absatzes von Fußnote 4 verstehen 5 . Die Einführung des „One person, one vote"-Standards in Reynolds v. Sims 6 von 1964 setzte die Wahlrechtsgleichheit als ein zentrales Anliegen der Partizipationsoptimierung durch, wie sie i m zweiten Absatz der Fußnote 4 angelegt ist. Auch die Stärkung der Redefreiheit läßt sich gut i m Kontext des zweiten Absatzes lesen 7 . Selbst bei der verfassungsgerichtlichen Stärkung der Stellung des Beschuldigten i m Strafverfahren in Miranda v. Arizona 8 von 1966 kann man den prozeduralen Aspekt betonen, für den Gerichte laut Ely besonders berufen sind 9 . Man kann sogar die Ansicht vertreten, daß wirkliche und 1 Vgl. Ely, S. 73 ff., und die Widmung des Buches: „For Earl Warren. You don't need many heroes if you choose carefully." Vgl. auch Ely, The Chief, wieder abgedruckt in: ders., On Constitutional Ground, S. 3 f., mit einer persönlichen Würdigung Earl Warrens, für den Ely als „law clerk" arbeitete. Dieser Beitrag von 1974 enthält bereits die Kerngedanken von „Democracy and Distrust". Überblick zur Warren-Ara bei Choper, S. 91 ff.; vgl. auch die Nachw. bei Tribe, American Constitutional Law, S. 303 Fn. 3. 2 Zu Übereinstimmungen von Elys Theorie mit der Rechtsprechung des Supreme Court (nicht nur unter Earl Warren) vgl. die ausführliche Untersuchung von Schefer, Konkretisierung, S. 249 ff. (zur Meinungsfreiheit), S. 255 ff. (zur Gleichheit), S. 266 ff. (zur Privatsphäre), S. 453 ff. Klarman, 11 Va. L. Rev. 748 ff. (1991), glaubt ein immer wiederkehrendes Muster zu erkennen, wonach sich der Supreme Court in seiner Grundrechtsjudikatur nach Carolene Products zunächst auf einen demokratisch-funktionalen Ansatz beschränkt, diese Begrenzung jedoch in der Folge aufgegeben habe. Vgl. ibid., S. 748, 750, 768, 819 f. Vgl. ferner Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 323 ff. 3 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 366: „Unbestritten ist jedenfalls, daß ein Großteil der Entscheidungen des Supreme Court während der Warren-Ära unter dem Gesichtspunkt repräsentativer Verstärkung gerechtfertigt werden kann [Fn.]." Im Original enthält die Fußnote eine Einschränkung, in der Brugger auf die alternative materiale Sichtweise hinweist, die nachfolgend im Text besprochen wird (vgl. ibid., S. 366 Fn. 10, 386 f. Fn. 26). 4 347 U.S. 483 ff. 5 Vgl. auch Loving v. Virginia, 388 U.S. 1 ff. (1967), worin der Supreme Court das - zu diesem Zeitpunkt noch in 16 Einzelstaaten bestehende - Eheverbot zwischen Weißen und Schwarzen für einen Verstoß gegen die Gleichheitsklausel des 14. Amendment hielt. Dazu aus repräsentationsoptimierender Sicht Ely, 1983 Duke L.J. 971 Fn. 42; zum Hintergrund Choper, S. 94 f.; ausführlich Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 197 ff. (1994). 6 377 U.S. 533 ff. 7 Z. B. Brandenburg v. Ohio, 395 U.S. 444 (1969). Vgl. dazu Ely, S. 74 („unprecedented activism"), 114 ff.; Brugger, Grundrechte, S. 231 f.; Schefer, Konkretisierung, S. 249 ff. (253). Zur unbestr. Bedeutung der Redefreiheit für die Demokratie vgl. nur Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 157 f., 160 f.
8 384 U.S. 436 ff. Vgl. Ely, S. 125, der hier von „process-oriented decisions in the most ordinary sense" spricht (ibid., S. 74). Vgl. auch die auf prozedurale Gleichheit abstellende Deutung von 9
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
mutmaßliche Straftäter im politischen Prozeß schlecht repräsentiert seien, was eine besondere verfassungsgerichtliche Rolle rechtfertige 10. Die genannten Fälle lassen sich aber mindestens ebensogut in einer Matrix materialer Werte wie Personalität, Menschenwürde und inhaltlicher Gleichheit verorten 11 . Die Rassendiskriminierung erscheint dann weniger als Verfahrensfrage, sondern mehr als Problem inhaltlicher Gerechtigkeit. Bei den Justizgrundrechten wirkt eine rein partizipatorisch-prozedurale Rechtfertigung gekünstelt. Zur Gleichheitsklausel konstatiert die Literatur, daß der Supreme Court eine rein prozedurale Handhabung nicht erkennen lasse12. Vor allem zeigt sich aber an der inhaltlichen Konkretisierung der due process-Klausel, daß der Warren Court zumindest auch einen materialen, Rechte-orientierten Ansatz verfolgt hat. In der schon vorgestellten 13 Leitentscheidung zum Persönlichkeitsrecht, Griswold v. Connecticut von 1965, erkannte der Supreme Court mit dem Recht auf Empfängnisverhütung einen einzelnen Aspekt der Persönlichkeitsentfaltung und Privatsphäre als fundamentales Interesse an, was in scharfem Gegensatz zu Elys Theorie steht. Die Entscheidung argumentiert inhaltlich-wertbezogen mit der Fundamentalität der ehelichen Privatsphäre. Sie läßt sich kaum repräsentationsverstärkend auffassen 14. Denn Mängel im politischen Prozeß waren nicht erkennbar, da die vom Gesetz belasteten Eheleute weder eine Minderheit bildeten noch Vorurteilen ausgesetzt waren. Ely behauptet freilich, daß es sich um „Ausrutscher" 15 und bloße Rhetorik 16 handele, soweit der Warren Court von fundamentalen Werten spreche. Nun kann man zwar
Justizgrundrechten bei Ely, S. 97. Zu Recht kritisch Klarman, 11 Va. L. Rev. 763 m. Fn. 78 (1991). 10 So Klarman, 11 Va. L. Rev. 766 (1991). Vgl. auch Ely, S. 173 ff. 11 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 387 Fn. 26 a.E. A.A. Goerlich, Staat 20 (1981), S. 455: „Es gelingt [Ely] zu zeigen, daß der Warren Court nicht eine wertorientierte Judikatur politischer Zielvorgaben und Reform verfolgte [ . . . ] . " 12 Vgl. Schefer, Konkretisierung, S. 258, 265. Ortiz, 11 Va. L. Rev. 723, 730 ff. (1991) meint, daß der Supreme Court nur scheinbar auf der Grundlage einer prozeduralen Theorie entscheide. Diese Sichtweise bestätigt auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 749 (1991), demzufolge es der Supreme Court nach Carolene Products unterlassen habe, partizipatorische Kriterien in die Gleichheitsprüfung zu integrieren. 13 Siehe oben l.Kap.,E. I. 1. 14 Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 634 Fn. 14 mit Text (1991): „Not even Ely contends that Griswold can be understood in representation-reinforcing terms" (ibid., S. 634, Fn. weggelassen). Vgl. aber Posner, 11 Va. L. Rev. 647, 649 (1991); auch Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet, Constitutional Law, S. 922 (Ziff. 4 a.E.); Klarman, 11 Va. L. Rev. 760 Fn. 66 (1991): „If viewed [ . . . ] as a selective prosecution case, Griswold is consonant with political process theory." 15 Vgl. Ely, S. 73: ,,[T]he Court did lapse occasionally into the language of fundamental values". Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 325 f., spricht sogar von den ,,Auswüchse[n] der modernen pr/vacy-Rechtsprechung" (ibid., S. 325), in der er eine „Disziplinlosigkeit" des Gerichts sieht (ibid., S. 326). 16 So hält Ely, S. 221 Anm. 3, den Rekurs auf die fundamentale Freiheit der Eheschließung in Loving v. Virginia, 388 U.S. 12 (1967), für überflüssig.
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den materialen Ansatz von Griswold für verfehlt halten, er ist aber dennoch integraler Bestandteil der Rechtsprechung des Warren Court 17 . Dies blendet Ely aus, indem er die Entscheidung totschweigt18 und ihre Anknüpfung an „spezifische" Grundrechte überbewertet 19. Es drängt sich dadurch der Eindruck auf, daß Ely die seiner Theorie widersprechenden materialen Elemente der Warren Court-Rechtsprechung herunterzuspielen versucht. Soweit Elys Theorie wichtige Entscheidungen und, allgemein gesprochen, den materialen, Rechte-orientierten Ansatz des Warren Court ausblenden bzw. als falsch hinstellen muß, kann sie nicht den Anspruch erheben, eine umfassende Rekonstruktion dieser Rechtsprechung zu bieten 20 . Vielmehr wirkt seine Theorie an dieser Stelle einseitig. Im übrigen liefert sie einen plausiblen Begründungsansatz für den Schutz von politischen Grundrechten und Minderheiten, wie ihn der Warren Court entwickelt hat 21 .
B. Elys Methode der Verfassungsinterpretation In „Democracy and Distrust" finden sich keine Ausführungen zur Methodenlehre als solcher, sondern allenfalls kritische Bemerkungen zu einzelnen Methoden der Verfassungsinterpretation wie der genetischen Auslegung, mit der der Wille des historischen Normgebers erforscht werden soll. Bei Ely dominiert der verfassungstheoretische Kontext, was für die US-amerikanische Rechtswissenschaft »7 Die Fortschreibung von Griswold durch Eisenstadt v. Baird, 405 U.S. 438 ff. (1972), Carey v. Population Services International, 431 U.S. 678 ff. (1977), sowie Roe v. Wade, 410 U.S. 113 (1973), ist demgegenüber bereits das Werk des Burger Court. In Cruzan v. Director, Missouri Department of Health, 497 U.S. 261 ff. (1990), erkannte der Supreme Court - nunmehr unter Chief Justice Rehnquist - ein Grundrecht auf Ablehnung lebensverlängernder medizinischer Behandlung („right to die") grds. an, wobei er sich zur Begründung auf die due process-Klausel berief. Damit haben deutlich konservativere Gerichte, als es der Warren Court war, zur Fortentwicklung der Persönlichkeitsrechte beigetragen, vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 820(1991). 18 Ely, S. 14 ff., diskutiert zwar die von ihm abgelehnte inhaltliche Deutung der due process-Klausel, vernachlässigt dabei aber Griswold. Die Entscheidung wird im Text von „Democracy and Distrust" einmal beiläufig erwähnt und zweimal in den Fußnoten angesprochen, vgl. Ely, S. 2, 219 Anm. 118, 221 Anm. 4. 19 Ely, S. 221 Anm. 4, bemüht sich nach Kräften, den Wertgehalt von Griswold herunterzuspielen. Griswold ist zwar wie oben gezeigt mehrdeutig, dennoch ist eine rein originalistische oder prozedurale Deutung der Entscheidung verfehlt. 20 Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 633 f. (1991). 21 Soweit Schefer, Konkretisierung, S. 247, festhält, „daß sich Elys Theorie eng an die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court anlehnt", ist dies zumindest mißverständlich. Ely lehnt sich zwar in der Tat an Fußnote 4 an, entfaltet sie aber mit seiner eigenen Theorie, der er wiederum die Rechtsprechung des Warren Court unterzuordnen versucht. Im übrigen protokolliert auch Schefer gerade die inhaltlichen Unterschiede zwischen Ely und der Rechtsprechung.
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nicht untypisch erscheint 22. Rückschlüsse auf seine methodische Position, die zu seiner Verfassungstheorie in enger Beziehung steht, kann man ziehen, wenn man seinem Umgang mit spezifischen Grundrechten einerseits und den Generalklauseln andererseits nachgeht.
I. Spezifische Grundrechte Ely interpretiert spezifische Grundrechte mit der grammatischen wie auch der genetischen Auslegung23. Daneben greift er aber auch auf die Struktur und Systematik der Verfassung sowie auf Sinn und Zweck der einzelnen Normen zurück und argumentiert in diesem Rahmen unter Einbeziehung der Judikatur sachbezogen und pragmatisch 24. Damit kommen im Hinblick auf spezifisches Verfassungsrecht alle anerkannten Auslegungsmethoden zum Einsatz25. Sein methodisches Vorgehen ist insoweit ohne Besonderheiten. Ely betont allerdings die Bindung an den Wortlaut der Verfassung. Unter der Wort- und Textbedeutung versteht er grundsätzlich den täglichen Sprachgebrauch 26. Dabei sieht er das Textverständnis als Grenze der Interpretation an, wobei er offen läßt, wie diese Begrenzung funktioniert 27. Die Textbedeutung soll daher bei Ely die Interpretation informieren und begrenzen. Dem historischen Willen des Verfassungsgebers will er dagegen wegen der damit verbundenen Beweisprobleme nur eine begrenzte Rolle zuweisen, nämlich 22 Die Wahl der Methode wird tendenziell als durch die vom jeweiligen Interpreten gewählte Verfassungstheorie determiniert begriffen und erscheint in dieser Sichtweise sekundär, vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 324. Grundsätzlich ist dieses Vorgehen zu begrüßen, weil es den Blick über formale Erwägungen hinaus auf die Sachfragen lenkt. Auch spiegelt das starke Interesse an Theorie wohl eine Desillusionierung im Hinblick auf Methode als „neutrales" Mittel zur Erkenntnis wider. Das Risiko liegt in einem Abgleiten in rein politikwissenschaftliche, soziologische und philosophische Erörterungen, deren normative Anbindung unklar bleibt. Vgl. allg. zu diesem Spannungsverhältnis Haltern, Staat 40 (2001), S. 243 ff., insb. S. 252 f., 256. Vor diesem Hintergrund ist es eine bemerkenswerte Aufwertung der Methodenlehre im US-amerikanischen Verfassungsrecht, daß Tribe der Neuauflage seines Lehrbuchs nunmehr einen längeren Abschnitt zu den Methoden der Verfassungsinterpretation voranstellt, vgl. ders., American Constitutional Law, S. 1, 30 ff. 23
Dazu gleich näher im Text. 24 Vgl. etwa Ely, S. 88 ff., 105 ff. 25 Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 1, 30 ff., der als Auslegungselemente (1) Text, (2) Struktur, (3) Geschichte, (4) Werte/Ethos und daneben Rechtsprechung und Dogmatik nennt. Vgl. auch Brugger, 42 Am. J. Comp. L. 395 ff. (1994); ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 575 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 30 ff. 26 Vgl. Ely, S. 16 f. Letztlich kommt es Ely wohl auf den heutigen Sprachgebrauch an. Dazu gleich im Text unter IV. 27 Vgl. Ely, S. 14, zur Interpretation der „cruel and unusual punishment"-Klausel des 8. Amendment: „[The Clause] does invite the person interpreting it to freelance to a degree, but the freelancing is bounded". (Hervorhebung von J.R.)
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eine Wörterbuchfunktion zur Klärung sprachlicher Zweifelsfälle 28. Weil Ely die sprachliche Fassung für eine ausreichende Begrenzung hält, besteht für ihn keine Veranlassung, die Interpretation durch das historisch Gewollte zu begrenzen. Konsequenterweise will er die Auslegung auch nicht auf die historisch vorbedachten Anwendungsfälle beschränken. Ely argumentiert hier, daß der Verfassungsgeber enumerativ vorgegangen wäre, wenn er eine restriktivere Fassung gewollt hätte, als aus dem Wortlaut hervorgeht 29. Die genetische Auslegung wirkt also bei ihm informierend, aber nicht begrenzend.
II. Generalklauseln Die Konkretisierung der Generalklauseln allein mit Hilfe der grammatischen Auslegung kann nicht gelingen, weil ihr Text die Interpretation kaum anleitet. Deshalb sieht sich Ely zu der Einsicht gezwungen, daß „strenger" Textualismus im Sinne einer Beschränkung auf die grammatische Auslegung undurchführbar sei 30 . Dennoch hat Elys Umgang mit den Generalklauseln deutlich textualistische Züge. Er beruft sich für seine Konkretisierung mit Hilfe der repräsentationsoptimierenden Theorie gerade auf eine Anweisung des Normtextes: Generalklauseln enthalten für ihn, wie schon erwähnt, eine Delegation bzw. „Einladung" 31 an den Interpreten. Ely hält die historisch vorbedachten Anwendungfälle der Generalklauseln nicht für autoritativ 32 , lehnt sie aber auch nicht explizit ab. Einen Teil dieser Fälle dürfte er auch im Rahmen der erwähnten „Wörterbuchfunktion" anerkennen. Jedoch soll die genetische Auslegung wiederum nur informieren und nicht begrenzen, zumal die Generalklauseln absichtlich offen formuliert seien. Seine verfassungstheoretischen Überlegungen zur Partizipations- und Repräsentationsoptimierung lassen sich unter methodischem Aspekt als Interpretation von Struktur und Ethos der Verfassung auffassen, was in deutscher Terminologie einer im weitesten Sinne systematischen und vor allem einer teleologischen Auslegung entspricht 33.
28 Vgl. Ely , S. 13 m. Bsp., 17. 29 Vgl. Ely, S. 1, 13 f. Zum Beispiel hätte der Verfassungsgeber auflisten können, was „grausame" und „ungewöhnliche" Strafen i. S. des 8. Amendment sind. 30 So stellt Ely, S. 20, zu Recht fest, daß die Verfassung selbst bei rein prozeduraler Deutung nicht sagt, welches Verfahren angemessen („due") im Sinne der due process-Klausel ist. Andererseits begründet er ibid., S. 18, die Beschränkung auf die prozedurale Deutung der due process-Klausel wiederum textualistisch: Nach „due" stehe das Wort „process", „substantive due process " sei deshalb ein Widerspruch in sich. 31 Ely, S. 12, 14, 18, 23, 28. Diese Einladung bezieht sich nicht auf die due process-Klausel, die Ely rein prozedural verstehen will. Heftige Kritik an Elys „Einladung" bei Berger, 42 Ohio St. L.J. S. 97 if., 110 ff. (1981). 32 Seine Zurückhaltung wird deutlich, wenn man den Begründungsaufwand in ,»Democracy and Distrust" betrachtet, der nötig ist, um die Schwarzen dem Schutz der Gleichheitsklausel des 14. Amendment zu unterstellen. Siehe oben 1. Kap., D. III. 3. c). 33 Vgl. allg. Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 580, 588 ff.
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Damit sind auch im Rahmen der Generalklauseln alle anerkannten Methoden der Verfassungsinterpretation im Einsatz. Ely genügt also dem formellen Gebot der Methodenvollständigkeit.
I I I . „Textualistischer Non-Originalismus" in Methode und Theorie Zwischen Auslegungsmethode und verfassungstheoretischer Position besteht ein untrennbarer Zusammenhang. Dies läßt sich auch bei Ely zeigen, bei dem grammatische Auslegung mit dem Textualismus als verfassungstheoretischem Ausgangspunkt, aber auch strukturelle und auf das Verfassungsethos bezogene Auslegung mit den nichtoriginalistischen Elementen seiner repräsentationsoptimierenden Theorie Hand in Hand gehen. Genauso spiegelt sich in Elys Umgang mit der genetischen Auslegung seine Zurückweisung des Intentionalismus wider. An Elys Methode läßt sich also seine verfassungstheoretische Position ablesen, auch wenn letztere die Methodenwahl determiniert. Ely tritt uns zu einem guten Teil als Textualist entgegen, wie seine Betonung der Wort- und Textbedeutung der Verfassung 34, sein textualistisches Verständnis des ersten Absatzes von Fußnote 4 und nicht zuletzt seine Sympathie für den Erztextualisten Hugo Black 35 bezeugen. Auch Klarman spricht von Elys „residualem Textualismus"36. Dieser führt ihn dazu, die Generalklauseln als „Einladung" aufzufassen. Das weite Feld, das er damit eröffnet, wird aber augenblicklich von seinem Demokratieverständnis umhegt. Ely will keine - angeblich - beliebige Konkretisierung der Generalklauseln, mit denen die mehrheitlich beschlossenen Lösungen des demokratisch verantwortlichen Gesetzgebers überprüft und gegebenenfalls verworfen werden. Dieses Demokratieverständnis, das eine starke Begrenzung des Verfassungsgerichts fordert, verbindet ihn ein Stück weit mit dem Intentionalismus37. Andererseits wirkt Elys Demokratieverständnis nicht nur begrenzend, sondern auch entgrenzend und dabei handlungsanleitend für die Konkretisierung, denn es stellt die Triebfeder für die aktivistische Deutung der Gleichheitsklausel dar. Bei der Konkretisierung der Gleichheitsklausel wird Ely zum Non-Originalisten, weil seine repräsentationsoptimierende Theorie weder im Text der Verfassung noch im Willen des historischen Verfassungsgebers verankert ist,
34 Vgl. z. B. Ely, S. 16, 38, 236 Anm. 36 a.E. 35 Dazu Ely, S. 2 f. Zu Justice Black vgl. Brugger, Grundrechte, S. 348 f. 36 Klarman, 11 Va. L. Rev. 773 (1991). 37 Vgl. auch Ely, S. 41: „If a principled approach to judicial enforcement of the Constitution's open-ended provisions cannot be developed, one that is not hopelessly inconsistent with our nation's commitment to representative democracy, responsible commentators must consider seriously the possibility that courts simply should stay away from them." (Hervorhebung von J.R.)
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sondern ihre Inspiration in der Struktur und im Ethos der amerikanischen Verfassung findet. Bei alldem ist Ely niemals Intentionalist, auch wenn die begrenzende Wirkung seiner Theorie in einzelnen Aspekten einer intentionalistischen Begrenzung ähnelt. Wie schon im Hinblick auf seine Deutung der Carolene-Fußnote gesagt, ist sein im Grundsatz restriktiver Umgang mit den Generalklauseln nicht der Bindung an den Willen des Verfassungsgebers, sondern seinem majoritätsbezogenen Demokratieverständnis und einem behaupteten Mangel an Objektivität in der nichtoriginalistischen Interpretation geschuldet. Ely würde also gründlich mißverstanden, wenn man seine Theorie als „Intentionalismus plus Partizipation plus Minderheitenschutz" beschreiben würde. Allerdings sollen Partizipations- und Repräsentationsoptimierung Mängel des demokratischen Mehrheitsprozesses kompensieren, für die der Intentionalismus blind ist. Im Sinne einer verfassungstheoretischen Klassifizierung fügt sich das textualistische Fundament seiner Theorie mit dem nichtoriginalistischen Aufbau zu einem eigenwilligen „textualistischen Non-Originalismus" 38. Diese scheinbar paradoxe Bezeichnung verleiht Ely die Züge eines Chamäleons, auch wenn sein methodischer und verfassungstheoretischer Standpunkt widerspruchsfrei konvergieren: Besonders in der Umgebung spezifischen Verfassungsrechts kommt die textualistische Färbung zum Vorschein, im Kontext der Generalklauseln erscheint er dagegen stärker als Non-Originalist. Sieht man nicht genau hin, hält man ihn für einen Intentionalisten, weil er wie dieser die Erfindung neuer Grundrechte ablehnt.
IV. Abgrenzung zu Scalias historisch-traditionalem Textualismus Elys Textualismus zeigt gewisse Parallelen zu Justice Scalias traditionalem Textualismus39. Es überwiegen aber die Unterschiede. Vergleichbar ist zunächst das starke Textvertrauen, die Ablehnung des Intentionalismus als Grenze der Verfassungsinterpretation sowie die Zurückweisung des Non-Originalismus 40. Vergleichbar ist auch die kategorische Ablehnung neuer ungeschriebener Grundrechte 41. Scalia würde jedoch im Unterschied zu Ely die Generalklauseln niemals als 38 Vgl. zu dieser Terminologie Perry, 11 Va. L. Rev. 670, 686 f. (1991), der aber diesen Ansatz zu Unrecht nicht mit Elys Theorie identifiziert. Vgl. auch Laycock, 59 Tex. L. Rev. 393 (1981): „Democracy and Distrust is a strangely schizoid book. Its interpretivism turns out to be a preface, largely irrelevant to its wholly noninterpretivist and idiosyncratic conclusion." 39 Vgl. insbesondere Scalia, A Matter of Interpretation, S. 22 ff., 37 ff., 144 ff.; sowie ders., Originalism: The Lesser Evil, 57 U. Cin. L. Rev. 849 ff. (1989); vgl. auch Schefer, Konkretisierung, S. 92 ff. (114 ff.). Näher dazu unten 3. Kap., B. II. 2. a). 40 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 22 ff. (pro Textualismus), 16 ff., 29 ff., 133 (contra Intentionalismus), 38 ff. (contra Non-Originalismus). 41 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 13, 139. 7 Riecken
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sprachlich offene Delegationsnormen an das Verfassungsgericht auffassen 42. Auch will jener die gesamte Verfassungsinterpretation allein mit grammatischer und enger Kontextauslegung im Sinne eines strengen Textualismus bewältigen43. An der Durchführbarkeit dieser Selbstbeschränkung äußert Ely Zweifel, wenn er Justice Blacks Glauben an die Leitwirkung des Textes als überzogen kritisiert 44 . Der entscheidende Unterschied liegt jedoch in der temporalen Dimension: Scalia hält zwar den historischen Willen des Verfassungsgebers für unerheblich, nicht aber die historische, traditionelle Sprachbedeutung45. Scalia geht es um die ursprüngliche Bedeutung des Textes („original meaning of the text"). Bei Ely fehlt diese traditionalistische Beschränkung der Interpretation auf die historische Wort- und Textbedeutung46. Daraus muß man schließen, daß für ihn letztlich die gegenwärtige Bedeutung maßgeblich ist.
C. Trennung von Recht und Politik Ely hält es für möglich, bei der Interpretation der Verfassung zwischen rechtlichen und politischen Argumenten zu trennen 47. Das Verfassungsgericht dürfe bei der Entscheidung von verfassungsrechtlichen Fragen nicht wie politisch verantwortliche Völksvertreter inhaltliche Entscheidungen treffen 48. In der apolitischen Anwendung des Rechts liegt Elys zentrales verfassungstheoretisches Credo. Konsequenterweise können für ihn juristische Uberzeugung und politische Präferenz auseinanderfallen 49. Als Kronzeugen in eigener Sache nennt Ely die Abtreibung, 42 Scalia leugnet die Dynamik der Textbedeutung, auch wenn er selbstverständlich als Richter am Supreme Court die Verfassung auf die heutige Zeit anwendet. Mit dieser Position ist eine „Einladung" (Ely) an das Verfassungsgericht zur Erzeugung von Bedeutung unvereinbar. 43 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 37, 135. Auch nach dem Zweck des Gesetzes zu fragen, was nach deutscher Terminologie der teleologischen Auslegung entspricht, lehnt Scalia, ibid., S. 27 rigoros ab. 44 Vgl. Ely, S. 3. 45 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 38, 133, 145. Als Indiz für die historische Bedeutung greift Scalia auch auf die Entstehungsgeschichte zurück (vgl. insb. ibid., S. 38). Dies geschieht allerdings nie mit der Absicht, das historisch Gewollte im Sinne der genetischen Auslegung zu ermitteln. Deshalb will er auch auf historische Quellen zurückgreifen, die nicht von den Verfassungsvätern stammen. 46 Dies zeigt sich an der „Wörterbuchfunktion" der historischen Auslegung, die nur in Zweifelsfällen zum Tragen kommt und an die er sich überdies nicht gebunden fühlt. 47 Vgl. z. B. Ely, 11 Va. L. Rev. 846 Fn. 30 (1991), wo er von der Idealvorstellung spricht, „that one's constitutional inferences should not simply track one's politics". Ely will damit nicht bestreiten, daß verfassungsgerichtliche Entscheidungen politische Auswirkungen haben können und daß aus der Beobachterperspektive auch der Supreme Court ein „political actor im Gefüge der anderen politischen Gewalten" ist (Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 242). Ihm geht es schlicht um eine Trennung des juristischen vom politischen Diskurs. 4 « Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 833 (1991).
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die er persönlich weitgehend freigeben möchte, hierfür jedoch keine verfassungsrechtliche Handhabe sieht 50 . Um Mißverständnissen vorzubeugen, ist zu betonen, daß Ely nicht nach einer Theorie sucht, mit deren Hilfe sich im Grundrechtsbereich besonders kontroverse „political questions" gegenüber justiziablen verfassungsrechtlichen Fragen auszeichnen ließen 51 . Statt dessen will Ely die Trennung von Recht und Politik im wesentlichen durch die Prozeduralisierung verfassungsgerichtlicher Kontrolle bewältigen. Die Trennung der rechtlichen von der politischen Sphäre zielt auf die Wertneutralität des Verfassungsrechts. Damit ist nicht gemeint, daß für Ely Werturteile in der Verfassungsinterpretation überhaupt entbehrlich seien, sondern daß die Werturteile samt den einer Verfassungstheorie zugrundeliegenden Werten nicht von politischen oder persönlichen Vorlieben determiniert werden dürfen. Insoweit stimmt Elys Ansatz mit Herbert Wechslers Forderung nach neutralen Prinzipien des Verfassungsrechts überein 52. Bei Wechsler verbindet sich jedoch das formale Kriterium der Neutralität bei Anwendung eines Prinzips mit dem ebenfalls formalen Erfordernis der Allgemeinheit bei dessen Formulierung 53. Auch zusammengenommen lassen sich daraus keine inhaltlichen Maßstäbe für die Entscheidung verfassungsrechtlicher Fälle gewinnen, weshalb Ely diesen Ansatz verwirft 54 . Anders als Wechsler
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Vgl. Ely, S. 72: „For one perfectly well can be a genuine political liberal and at the same time believe, out of a respect for the democratic process, that the Court should keep its hands off the legislature's value judgments." Vgl. zur Gegenposition Tushnet, Taking the Court Away from the Constitution, S. 155: „The historical record suggests that a judge is rather more likely to pick the theory that points where he or she wants to go anyway, than to pick a theory and reluctantly find that it leads to conclusions he or she would have preferred to avoid." so Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 533 (1981); ders., 11 Va. L. Rev. 844 Fn. 26 (1991). Ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 399, 404 (1981), bezeichnet es als „frustrierend", daß seine Theorie kein Recht auf Anderssein einschließe. Ely, 1983 Duke L.J. 971 Fn. 42, nennt Gesetze gegen homosexuelle Handlungen „stupid and cruel". 51 So will Ely Verteilungsfragen grundsätzlich im politischen Prozeß geklärt sehen. Hierfür sprechen ihm zufolge allgemeine demokratietheoretische Überlegungen und die Tatsache, daß insoweit verfassungsrechtliche Maßstäbe fehlen, nicht aber die Vorstellung, daß die Verteilung knapper Güter ein zu kontroverser Vorgang sei, um ihn dem Gericht anzuvertrauen. Umgekehrt kann eine geschützte Meinungsäußerung noch so umstritten sein, ohne daß er deshalb für verfassungsgerichtliche Zurückhaltung argumentieren würde. Vgl. Ely, S. 114, zu Cohen v. California, 403 U.S. 15 ff. (1971), wo es um Protest durch Tragen einer Jacke mit dem Aufdruck „Fuck the draft" ging. 52 Vgl. Wechsler, Toward Neutral Principles of Constitutional Law, 73 Harv. L. Rev. 1 ff. (1959), mit Ely, S. 44. Siehe demgegenüber die Kritik an Wechslers Position bei Ely, S. 54 f. Vgl. allg. Brugger, Grundrechte, S. 358 ff. 53 Wechsler verlangt vom Supreme Court, Entscheidungsmaximen nicht für den Einzelfall, sondern mit genereller Gültigkeit zu formulieren. Ein solches Prinzip sei auch unter veränderten politischen Rahmenbedingungen gleichermaßen anzuwenden, was das Gericht bei der Formulierung bereits mitzubedenken habe, vgl. zusammenfassend Ely, S. 54. Der disziplinierende Zwang zur Verallgemeinerung soll damit in Wechslers Ansatz die Neutralität der Interpretation bewirken. Vgl. auch Brugger, Grundrechte, S. 360. 7*
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versucht Ely gerade, inhaltliche Maßstäbe anzugeben, indem er das Verfassungsgericht auf die Kontrolle des Verfahrens begrenzt und inhaltliche Entscheidungen auf die Interpretation „spezifischen" Verfassungsrechts beschränkt. Wertneutralität bedeutet bei Ely daher nicht nur Abwehr politischer oder persönlicher Präferenzen, sondern auch Minimierung inhaltlicher Entscheidungen. Durch die Prozeduralisierung erhält die Wertneutralität bei Ely eine ausgesprochen wertskeptizistische Wendung 55 , die in Wechslers formalen Kriterien so nicht angelegt ist 56 . Man muß sich in diesem Zusammenhang vergegenwärtigen, daß Elys Theorie in der Tradition der von Wechsler, Lon Füller sowie Henry Hart und Albert Sacks begründeten einflußreichen Schule des „Legal Process" steht, die in den 50er und 60er Jahren ihre Blütezeit hatte 57 . In der Konzeption von Hart und Sacks läßt sich Legal Process frei mit „Recht als Verfahren" übersetzen, da Recht als ein dynamisches System von institutionalisierten Verfahren aufgefaßt wird, durch das sich die Gesellschaft steuern lasse58. Dabei ist wie bei Ely die Durchführung des angemessenen Verfahrens tendenziell wichtiger als ex ante aufgestellte inhaltliche Maßstäbe, mit denen etwa der Verfassungs- oder Gesetzgeber das Gericht zu determinieren versucht 59. Das Verfahren schafft Legitimität, wobei - ebenfalls wie bei Ely nur ein offenes und angemessenes Verfahren Gewähr für richtige Ergebnisse bietet 60 . Für die Bestimmung der zur Entscheidung am besten geeigneten Institution stellt Legal Process auf funktionale Erwägungen ab 61 . Auch Ely argumentiert
54 Vgl. Ely, S. 55; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 398 f. Fn. 4 (1981): „My criticism of Herbert Wechsler [ . . . ] was not that the search for ,neutral principles' is misguided - my book obviously constitutes such a search - but rather that the ,neutral principles' formula does not provide the premises from which any such search must begin." 55 Dazu noch unten 2. Kap., zu F. 56 Nach Brugger, Grundrechte, S. 360, steht Wechsler letztlich für eine mcMnterpretivistische Position. 57 Vgl. dazu insb. Hart/Sacks, The Legal Process: Basic Problems in the Making and Application of Law, 1994. Dabei handelt es sich um eine Neuherausgabe von zuletzt 1958 „versuchsweise" veröffentlichten Unterrichtsmaterialien der beiden Autoren, die in verschiedenen Versionen seit den 40er Jahren breite Verwendung an führenden US-amerikanischen Law Schools fanden. Der Kurs „Legal Process" nannte sich zunächst „Legislation", hatte aber mit allgemeinen Fragen zur Natur, Erzeugung und Anwendung des Rechts durch Gerichte und den Gesetzgeber stets einen wesentlich größeren rechtstheoretischen Tiefgang, als es der Titel „Gesetzgebung" vermuten läßt. „Legal Process" und „Legislation" werden in den USA auch heute noch unterrichtet. Vgl. zum ganzen den Überblick bei Eskridge /Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2031 ff. (1994), die auch als Neuherausgeber von „The Legal Process" fungieren. Vgl. auch Schefer, Konkretisierung, S. 243 m. Fn. 87. 58 Vgl. Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2037, 2039 f. (1994). 59 Vgl. ibid., S. 2037, 2043. 60 Vgl. ibid., S. 2032 f., 2040, 2044 f.: „Hart advanced a procedural theory of legitimacy" (ibid., S. 2040). Die Angemessenheit kann man bei Ely auf den Minderheitenschutz beziehen. 61 Stichwort ist die „institutionelle Kompetenz", vgl. ibid., 2032 f. Seidman/Tushnet, Remnants of Belief, S. 214, bezeichnen in ihren bibliografischen Hinweisen Legal Process
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funktional, wenn er das Verfassungsgericht aufgrund seiner politischen Unabhängigkeit für besonders geeignet hält, einen prozeduralen Ansatz anzuwenden62. Vielschichtig stellt sich der Wertbezug in der Legal Process-Schule dar. In der Darstellung von Eskridge und Frickey ist er in der Frühphase vorhanden 63, während später ein „auf Verfahren gegründeter Positivismus" vorherrschend gewesen sei, der die Aufrechterhaltung des status quo begünstigt habe64. Wie dieser gedrängte und fragmentarische Überblick zeigt 65 , lassen sich in Elys Theorie mühelos Kernelemente des Legal Process orten, auch wenn Ely in „Democracy and Distrust" keinen entsprechenden Bezug herstellt 66. Zum Legal Process bekennt er sich erst in einem späteren Aufsatz 67 . Zwar darf man aus diesem Bekenntnis nicht auf schlichte Kontinuität und Identität mit der ursprünglichen Ausrichtung dieser Schule schließen. Zum einen ist Elys Theorie eine individuelle Fortentwicklung des prozeduralen Gedankens, die anders als Hart und Sacks auch den Impetus des Warren Court integriert. Im Unterschied zum frühen Legal Process gilt Elys Sorge gerade auch den Mängeln des demokratischen Verfahrens und insbesondere dem Minderheitenschutz 68. Zum anderen weist die Tradition des Legal Process eine enorme inhaltliche Bandbreite auf. So steht etwa auch Dworkins prinzipiengeleiteter Ansatz, den Ely ablehnt, in der Nachfolge dieser Schule69. Wenn man aber Elys Differenzen und Modifikationen gegenüber der ursprünglichen Schule sowie die Breite des heutigen Spektrums nicht aus den Augen verliert, führt Ely in der Tat die Tradition des Legal Process fort 70 . Trotz resignatiund Funktionalismus als ein und dieselbe Tradition. Stärker funktionalistisch als Ely argumentiert Choper. Siehe dazu oben 1. Kap., zu F. 62 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 834 Fn. 4 (1991): „here comes the,legal process' part". Zur funktionalen Begründung siehe oben 1. Kap., D. IV. 3. Zur Kritik siehe unten 3. Kap., B. 1.1. d). 63 Vgl. Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2033 (1994): „principle and reason" als substantielle Ergänzung prozeduraler Offenheit; vgl. auch ibid., S. 2040. 64 Vgl. ibid., S. 2045 mit Zitat, 2050. 65 Auf Kritik an der Legal Process-Schule kann hier nicht eingegangen werden, vgl. dazu ibid., S. 2049 ff.; Peller, 21 U. Mich. J.L. Ref. 561 ff. (1988). 66 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 833 (1991): „ I never took the course on Legal Process", mit Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2052 (1994): „Others did not take the class but absorbed the legal process agenda and vocabulary by osmosis and applied it toward ambitious rethinkings of the Constitution (John Hart Ely), [ . . . ] . " Auch Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 86, ordnet Ely dem Legal Process zu. 67 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 833 m. Fn. 4, 879 (1991). 68 Wie Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2050 f. (1994), festhalten, vernachlässigt „The Legal Process" Mängel im repräsentativen System und auch den Minderheitenschutz. Allerdings haben die Materialien von Hart und Sacks ihren Schwerpunkt nicht im Verfassungsrecht, vgl. ibid., S. 2049 m. Fn. 113. 69 Eskridge/Frickey, ibid., S. 2052, nennen Dworkin ohne Gleichsetzung, aber doch in einem Zug mit Ely. Vgl. auch die Abgrenzung gegenüber dem von ihm so bezeichneten „mehr traditionellen" Legal Process bei Ely, 11 Va. L. Rev. 834 Fn. 4 a.E. (1991). 70 Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2052 (1994), führen Ely unter der Überschrift „ ,New' Legal Process: A Fresh Generation of Centrists" auf. Eskridge / Frickey konstatieren
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
ver Untertöne 71 in späteren Veröffentlichungen hat Ely den Glauben an das aufklärerische Ideal einer Trennung von Recht und Politik nie aufgegeben, das zwischenzeitlich vor allem durch die kritische Rechtsschule unter Druck geraten ist 72 . Darauf ist noch zurückzukommen 73.
D. Ely zwischen Positivismus und Nichtpositivismus Ely sieht sich selbst nicht als Non-Originalisten im herkömmlichen Sinne, wie man aus seiner Kritik an diesem Lager im dritten Kapitel von „Democracy and Distrust" schließen muß. Naturrechtliche und moralphilosophische Erwägungen können für ihn keine Rechte oder Verfassungstheorien begründen 74. Vor allem soll es dem Verfassungsgericht nicht möglich sein, mit Hilfe einer inhaltlichen Deutung der due process-Klausel moralische Vorstellungen von der Autonomie der Person oder der Menschenwürde in das Verfassungsrecht aufzunehmen. Ely will vielmehr das Dilemma der Wertbegründung des Rechts umschiffen, indem er sich auf Verfahrenskontrolle zurückzieht 75. Damit scheint Elys Theorie insoweit der Trennungsthese zu folgen, die für den Rechtspositivismus kennzeichnend ist 76 . Diese besagt, „daß der Begriff des Rechts so zu definieren ist, daß er keine moralischen Elemente einschließt."77 Wäre Ely lupenreiner Originalist, so wäre er auch Positivist. Denn Textualismus und Intentionalismus sind positivistische Theorien, weil sie Recht ohne den Rekurs auf außerrechtliche Maßstäbe definieren und begründen 78 . Für sie beruht der Geltungsanspruch der Verfassung allein auf der „autoritativen Gesetztheit"79 der Verfassung.
ibid., S. 2031 f., 2053 ff., ein „comeback" des Legal Process in den achtziger Jahren und machen Ansätze zu einer Renaissance in den neunziger Jahren aus. 71 Vgl. Ely, 77 Va. L. Rev. 833 ff. (1991). Vgl. auch ibid., S. 833 (Überschrift zu I.): „Recess Period for the Legal Process School" 72 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 833 ff. (1991). 73 Zu CLS siehe unten 3. Kap., B. II. 1. Zur Unterscheidung von Recht und Politik siehe unten 2. Teil, 5. Kap., A. 74 Die Frage, ob der Text der Verfassung und insbesondere deren Generalklauseln Freiheit und Gleichheit als moralische Normen inkorporieren, thematisiert Ely nicht ausdrücklich. Aus seiner Wertkritik (Ely, S. 48 ff., 56 ff.) darf man wohl schließen, daß er die Frage verneint. 75 V g l . Ely, S. 75 F n . * . 76 Vgl. z. B. Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 10 f., 20 ff., der hier auch von der Neutralitätsthese spricht. 77 Alexy, ARSP Beih. 37 (1990), S. 9.
78 Auch für Ely ist Originalismus in etwa dasselbe wie Positivismus: „Interpretivism is about the same thing as positivism..." (Ely, S. 1 Fn. *) 79 Alexy, ARSP Beih. 37 (1990), S. 9.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Jedoch stellt sich die Frage, ob Ely im Rahmen der Repräsentationsoptimierung nicht doch auf moralische Normen zugreift und insoweit seinen positivistischen Standpunkt relativiert, durchbricht oder sogar aufgibt. Nach Elys eigenem Bekunden soll seine Theorie über die „vier Ecken" 80 des Verfassungstextes im wesentlichen nicht hinausgehen81. Daß die repräsentationsoptimierende Theorie andererseits nicht ausdrücklich in der Verfassung enthalten ist, will auch Ely nicht bestreiten 82 . Sich auf das Ethos, die Natur oder die Struktur der repräsentativen Demokratie zu berufen, um so die US-Verfassung zu interpretieren, heißt aber aus Elys Sicht noch nicht, eine moralische Norm zu inkorporieren. Allerdings bezieht sich Ely in „Democracy and Distrust" an zentralen Stellen auf Dworkin und dessen in „Taking Rights Seriously" (deutsch: „Bürgerrechte ernstgenommen") entwickeltes Recht auf „equal concern and respect", um seinen repräsentationsoptimierenden Ansatz zu rechtfertigen 83. Die Pflicht der Volksvertreter, Mehrheit wie Minderheit gleichermaßen mit Achtung und Rücksicht zu behandeln, sei ein Hauptthema der Verfassung. Die Gleichheitsklausel des 14. Amendment schütze die Minderheit davor, daß ihr gleiche Achtung und Rücksicht versagt werde 84 , was insbesondere bei einer Ungleichbehandlung aufgrund von Vorurteilen der Fall sei 85 . Angesichts der Offenheit des Demokratiebegriffs für unterschiedliche Deutungen kann man im Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht den Kern von Elys Demokratieverständnis sehen. Dies liegt besonders dann nahe, wenn man die von Ely für den Minderheitenschutz bemühte republikanische Tradition und das Konzept der virtuellen Repräsentation für eine schwache Begründung hält 86 .
so Vgl. Ely, S. 1, 12 f. 81 Vgl. Ely, S. 12: ,,[T]he theory [ . . . ] should be derived from the general themes of the entire constitutional document and not from some source entirely beyond its four corners" (Hervorhebung von J.R.) 82 Vgl. Ely, S. 12, 88 f. Fn. *, der die Frage, ob seine Theorie rein originalistisch oder zwischen dem Originalismus und dem Non-Originalismus zu plazieren sei, immerhin aufwirft, sie aber - im Unterschied zu mir - für unwichtig und nicht zu beantworten hält. 83 Ausdrücklicher Bezug auf Dworkin, Taking Rights Seriously, S. 180, bei Ely, S. 82, 223 Anm. 34. Vgl. auch Ely, S. 86 f., 99 m. Zitat, der von „the representative's duty of equal concern and respect to minorities and majorities alike" spricht. 84
Vgl. Ely, S. 86 f., der dabei wiederum auf das Konzept der Repräsentation zurückgreift: ,,[T]he protection of popular government on the one hand, and the protection of minorities from denials of equal concern and respect on the other [ . . . ] can be understood as arising from a common duty of representation." 85 Vgl. Ely, S. 157. 86 Zur Kritik an der „virtuellen Repräsentation" siehe oben 1. Kap., D. III., vor 1., FN. 161. Zur Berufung auf die republikanische Tradition siehe noch unten 2. Kap., G. I. Tradition ist nach Elys Wertkritik kein geeignetes Mittel zur Begründung einer Verfassungstheorie. Im übrigen bleiben seine historischen Ausführungen eigentümlich blaß. Überdies wird nicht recht deutlich, warum die republikanische Tradition gerade zu seiner Konzeption von Minderheitenschutz führen soll.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Was bedeutet dies für seinen rechtsphilosophischen Standpunkt, zu dem sich in „Democracy and Distrust" nur Andeutungen finden? Einerseits übernimmt Ely mit seiner Anleihe bei Dworkin nicht einfach dessen moralphilosophische Position, weil dies angesichts seiner Kritik am Non-Originalismus, die auch Dworkin nicht verschont, unplausibel wäre 87 . Es ist andererseits kein Versehen, daß Ely von „equal concern and respect" spricht. Er hat an diesem Konzept ausdrücklich festgehalten88. Im folgenden wird die These vertreten, daß die Verweisung nicht einfach eine Entlehnung fremden Vokabulars ist, sondern eine eng begrenzte inhaltliche Ubereinstimmung widerspiegelt. Dies läßt sich begründen, wenn man Elys Konzeption der Gleichheit mit der von Dworkin vergleicht 89. Ely beruft sich auf das Recht eines jeden Menschen, mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt zu werden, um die Gleichheitsklausel im Rahmen der Repräsentationsoptimierung zu konkretisieren: Bei Ely bedeutet Gleichheit ein gleiches Recht auf faire Berücksichtigung der eigenen Interessen, was ein inhaltliches90 Recht einschließt, im Gesetzgebungsverfahren nicht zum Opfer von Vorurteilen zu werden. Wenn die Mehrheit eine Minderheit aus nacktem Haß (Vorurteil ersten Grades) oder auf der Grundlage von übermäßig generalisierenden Stereotypen (Vorurteil zweiten Grades) benachteiligt, versagt sie ihr damit Ely zufolge gleiche Achtung und Rücksicht. Dworkin bezieht die Formel in aller Deutlichkeit auf die moralische Norm der Gleichheit, die von der Gleichheitsklausel des 14. Amendment in das positive Verfassungsrecht inkorporiert werde 91 . Die Idee der Gleichheit drückt sich für ihn insbesondere im Recht aus, vom Staat als ein Gleicher, das heißt mit gleicher Achtung und Rücksicht behandelt zu werden. Dieses Recht ist die Wurzel von Dworkins Theorie der Rechte des Einzelnen gegen den Staat92. Auch bei Dworkin verstößt der Gesetzgeber gegen den Gleichheitsgrundsatz, wenn er - wie etwa im Falle der Rassendiskriminierung - auf der Grundlage von Vorurteilen handelt, weil hierin 87 Vgl. Ely, S. 58; dazu die Replik von Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 502 (1981). 88 Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 540 (1981), ders., 1983 Duke L.J. 959 (1983). 89 Die folgenden Ausführungen beziehen sich nur auf die Ansichten, die Dworkin in „Bürgerrechte ernstgenommen" und in seiner Kritik an Elys Theorie geäußert hat (vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 500 ff. [1981]). Zweck dieser Momentaufnahme aus Dworkins umfangreichem Werk ist die Analyse und Bewertung von Elys Theorie. 90 Siehe dazu unten B. I. 4. b) bb). Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 516 (1981), spricht seinerseits von einer „ inhaltlichen Theorie der Repräsentation, die dem Grundprinzip entstammt, daß der Staat die Menschen als Gleiche behandeln muß." (Hervorhebung von J.R.) 91 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, etwa S. 225 f., 230, 248. 92 Vgl. grundlegend Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 16 f., 19, 297 ff., 370, insb. 439 ff. Dworkin spricht hier auch vom „Recht, in der politischen Entscheidung darüber, wie [ . . . ] Güter und Chancen zu verteilen sind, auf gleiche Weise berücksichtigt und geachtet zu werden." (Ibid., S. 440) Alle anderen Gleichheits- und Freiheitsrechte gehen bei ihm auf dieses grundlegende Recht zurück, auch speziellere Rechte auf Chancen- und Verteilungsgleichheit. Vgl. ibid., S. 19, 440 f. Im Unterschied zu diesem originären Recht auf Gleichheit erkennt Dworkin kein allgemeines Freiheitsrecht an, vgl. ibid., S. 17,429 ff., 447.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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eine verfassungswidrige Motivation liege 93 . Dworkin stimmt Ely sogar ausdrücklich zu, daß eine prozedurale Kontrolle des Gesetzgebers der Ergebniskontrolle anhand fundamentaler Interessen vorzuziehen sei 94 . Er leitet jedoch aus dem Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht weitere Grundrechte ab und beschneidet dabei - in scharfem Gegensatz zu Ely - die Befugnis des Gesetzgebers, über Fragen der öffentlichen Moral nach dem Mehrheitsprinzip autoritativ zu entscheiden95. So be93 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 511 (1981), ders., Bürgerrechte ernstgenommen, S. 364 ff., 372 Fn. 8, 384 ff. Zum Begriff des Vorurteils vgl. ibid., S. 404 f., mit z.T. ähnlichen Kriterien wie Ely. 94 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 501, 512 (1981). Aus damaliger Sicht ist hier die von Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 382 ff., 443 ff., eingeführte Unterscheidung zwischen internen und externen Präferenzen einschlägig. Dazu müssen hier einige Anmerkungen genügen. Dworkin behauptet im Kern, daß das Grundrecht auf „equal concern and respect" die Verrechnung der Interessen im utilitaristischen Modell einschränke. Nur persönliche Vorlieben, die die Zuteilung von Gütern an die eigene Person betreffen, dürften gezählt werden. Externe Vorlieben, die die Zuteilung von Gütern an andere betreffen, dürften nicht berücksichtigt werden, weil sie sonst zu gleichlaufenden persönlichen Präferenzen hinzukämen und damit doppelt gezählt würden. Soweit moralische Vorstellungen der Mehrheit über das Verhalten der Minderheit als externe Präferenzen zu bewerten sind, dürfen sie in diesem Modell nicht für eine Ungleichbehandlung herangezogen werden. Der Ansatz ist als prozedurales Modell konzipiert, weil es darauf ankommen soll, ob unzulässigerweise externe Präferenzen in das Gesetzgebungsverfahren eingeflossen sind. Gegen dieses Modell, das Grundrechte auf eine verbesserte Zählweise im utilitaristischen Modell reduziert, sind schwerwiegende und wohl auch durchgreifende Bedenken angemeldet worden. Vgl. die Kritik bei Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 426, 432 ff. (1981); Ely, 1983 Duke L.J. 959 ff.; H.L.A. Hart, 79 Colum. L. Rev. 828 ff. (1979). Es gibt Anzeichen dafür, daß Dworkin die Unterscheidung von externen und internen Präferenzen aufgegeben hat, vgl. Ely, On Constitutional Ground, S. 328, mit Hinweis auf Andrew Koppelman, Antidiscrimination Law and Social Equality, 1996, S. 22 Fn. 36. Die Undurchführbarkeit des prozeduralen Modells zwingt jedoch nicht dazu, das Recht auf „equal concern and respect" als solches aufzugeben. M.E. läßt sich das Recht jedoch nur mit Hilfe einer materialen Theorie der Grundrechte überzeugend entfalten. Dabei sind Unterscheidungen nach der Wichtigkeit des betroffenen Interesses letztlich unvermeidlich. Auf der Grundlage von „Bürgerrechte ernstgenommen" könnte Dworkin einer solchen Rekonstruktion allerdings nicht zustimmen, weil er gegenüber der Fundamentalität von Interessen ähnliche Bedenken wie Ely hegt. Entscheidend für den im Text vorgenommenen Vergleich ist jedoch nicht, ob die Dichotomie von externen und internen Vorlieben durchführbar ist, sondern daß das Recht auf „equal concern and respect" sowohl bei Dworkin als auch bei Ely (1) eine moralische Norm ist, (2) einen inhaltlichen Maßstab impliziert und (3) ein Grundrecht begründet. 95 Danach steht es der Mehrheit zum Beispiel nicht zu, der Minderheit eine bestimmte soziale Rolle (z. B. die der Heterosexualität) anzusinnen, weil damit anderen (z. B. homosexuellen) Lebensentwürfen die gleiche Achtung und Rücksicht versagt werde, vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 514 f. (1981). Diese normative Wertung läßt sich aus Gleichheitsgründen auch dann vertreten, wenn man Dworkins technokratischen Vorschlag, die externen Präferenzen aus dem utilitaristischen Nutzenkalkül herauszufiltern, für undurchführbar hält. Ely meint dagegen, daß der Gesetzgeber aufgrund der öffentlichen (Mehrheits-) Moral selbstbezügliches Verhalten verbieten dürfe, auch wenn ansonsten kein greifbarer Schaden drohe. Vgl. Ely, S. 256 Anm. 92, zu einverständlichen homosexuellen Handlungen unter Erwachsenen: ,,[N]o one seems to be hurt in any tangible way, but on honest reflection that comes across as cheat-
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
jaht Dworkin zum Beispiel ein Grundrecht auf „frei[e] Wahl unserer persönlichen und sexuellen Beziehungen"96 und schafft damit im Ergebnis einzelne Grundrechte im Bereich der Persönlichkeitsentfaltung 97, was Ely entschieden ablehnt. Dworkin hat die - aus seiner Sicht - verkürzte Tragweite der Gleichheit bei Ely als inkonsequent kritisiert 98 , dessen Rekurs auf „equal concern and respect" aber nicht grundsätzlich angegriffen 99. Im Ergebnis präsentiert Ely also eine rudimentäre und vergröberte Version dessen, was das Grundrecht auf „gleiche Achtung und Rücksicht" gebietet 100 . Im Vergleich zu Dworkin reduziert er den Inhalt dieses Rechts auf die vorurteilsfreie Verrechnung aller Interessen im politischen Prozeß 101 . Auch verwendet Ely das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht nur im Kontext des Minderheitenschutzes, wie ihn der dritte Absatz der Fußnote 4 anspricht. Dennoch schafft Ely mit Hilfe eines moralischen Prinzips ein Grundrecht, soweit es seine repräsentationsoptimierende Theorie erfordert 102 . Aus dem eng umgrenzten Anwendungsbereich des Prinzips der Gleichheit folgt aber, daß es ein grobes Mißverständnis wäre, Ely nunmehr im ganzen als Rechte-orientierten Ansatz aufzufassen. Abgesehen vom Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht (dritter Absatz der Fußnote), den politischen Grundrechten (zweiter Absatz) 103 und den spezifischen Grundrechten (erster Absatz) erkennt Ely keine weiteren Grundrechte an 1 0 4 . ing". Die Auseinandersetzung knüpft am Freiheitsbegriff John Stuart Mills an, vgl. Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 400 ff. (1981), mit Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 419 ff., 444. 96 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 446. Ibid., S. 17 spricht er sogar von einem „Recht auf persönliche moralische Entscheidungen". Zum Recht auf Homosexualität vgl. bereits ibid., S. 390 ff., insb. 404 ff.; und auch ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 513 ff. (1981). 97 Vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 444, zu Empfängnisverhütung und Pornografie. 98 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 513 ff. (1981). 99 Vgl. ibid., S. 512 Fn. 101 m. Text. 100 Dies verkennt Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 87, der bei Ely einen „normativ komplexeren - deliberativen - Politikbegrif[f], der auf die Idee der reziproken Anerkennung als Gleiche bezugnimmt", vermißt (Hervorhebung von J.R.). Sicherlich vertritt Ely kein Modell deliberativer Demokratie (dazu unten 2. Kap., G. II. 3., und 3. Kap., C. II.). Er greift aber mit dem Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht auf weit mehr als „rein institutionell[e] Erwägungen" (ibid., Hervorhebung weggelassen) zurück. Deshalb steht Gerstenbergs Schlußfolgerung zu Ely auf tönernen Füßen, wonach die „Begrenzung judizieller Machtbefugnisse [ . . . ] nicht durch eine Kompromittierung des radikaldemokratisch-egalitären Geltungssinns moderner Verfassungen erkauft werden" dürfe (ibid.). 101
Nochmals betont sei, daß sich Ely hierbei nicht der von Dworkin verwendeten Unterscheidung von externen und internen Präferenzen anschließt, vgl. Ely, 1983 Duke L.J. 959. 102 Ähnlich Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 426, 429 (1981). Näher dazu unten 2. Kap., E. II., und 3. Kap., B. I. 4. b) bb)(l). i° 3 Die Wahlrechtsgleichheit und das Recht auf gleichen Zugang zum politischen Prozeß begründet Ely nicht mit „equal concern and respect", obwohl dies naheliegen würde. 104 Zur Frage, ob dies auf Rechte-Skeptizismus oder auf Skeptizismus gegenüber dem Verfassungsgericht beruht, siehe unten 2. Kap., zu F.
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Freilich gesteht Ely nicht zu, daß er das Grundrecht auf gleiche Achtung und Rücksicht aus einer inhaltlich-moralischen Norm ableitet. Das Recht einer Minderheit auf gleiche Repräsentation ist in seiner Darstellung in den republikanischen Traditionsstrang eingebettet, an den er mit dem verunglückten Konzept der virtuellen Repräsentation anzuschließen versucht 105 . Selbst wenn die historische Begründung zutreffen sollte, wäre damit noch nicht der eklatante Widerspruch zwischen der Anrufung eines moralischen Rechts und seiner positivistischen Grundhaltung beseitigt, den Ely nicht aufklärt. Wenn man die hier vertretene Ansicht teilt, daß Ely das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht positivistisch nicht überzeugend begründen kann 106 , so fließen bei ihm ethische Elemente in das Recht ein. Ely wäre dann - dem ersten Anschein zum Trotz - kein Positivist, sondern ein Nichtpositivist. Allerdings würde das nichtpositivistische Element praktisch nur im Bereich des repräsentationsoptimierenden Minderheitenschutzes eine Rolle spielen.
E. Ely als „gemäßigter" Utilitarist I. Utilitarismus als Ausgangspunkt Für den im anglo-amerikanischen Rechtskreis traditionsreichen Utilitarismus besteht der Zweck des Rechts in der Maximierung des Gesamt- oder Durchschnittsnutzens der Gesellschaft 107. Dabei zählen der Nutzen, die Bedürfnisse oder die Präferenzen eines jeden Menschen gleich viel. Jeder Einzelnutzen unterliegt aber der Verrechnung im Hinblick auf den Gesamtnutzen. Das heißt insbesondere, daß der Verlust des einen mit dem Gewinn des anderen verrechnet werden darf. In institutioneller Hinsicht erfolgt die Nutzenverrechnung im Parlament, und zwar auf der prozeduralen Grundlage des Mehrheitsprinzips. Moralisch begründete Rechte kann es im reinen Utilitarismus nicht geben, weil der Begriff des Rechts positivistisch definiert wird. Rechte-orientierte Modelle, wie sie etwa Rawls und Dworkin entwickelt haben, verstehen sich daher als Alternative zum Utilitaris-
105 Vgl. Ely, S. 83 ff., zu Verfassungsbestimmungen, die bereits vor Inkrafttreten der Gleichheitsklausel des 14. Amendment dafür gesorgt hätten, daß diejenigen, die politische Macht besitzen, die Interessen der Machtlosen berücksichtigen müssen. 106 Ely bringt hier jedenfalls keine Einschränkung an, die ein rein positivistisches Verständnis von „equal concern and respect" nahelegen würde. Auch eine Begrenzung auf ein rein utilitaristisches Verständnis nimmt er nicht vor. Ebenso Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 512 Fn. 101 (1981). Dazu näher unten 1. Kap., E. II. 107 Auf die unterschiedlichen Spielarten des Utilitarismus ist hier nicht einzugehen. Eine Verteidigung des Utilitarismus gegen einige Einwände versucht Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 11 ff. 108 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 40; Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14,446.
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Ely faßt Demokratie grundsätzlich als angewandten Utilitarismus auf 1 0 9 , wobei er nicht bestreitet, daß der politische Prozeß in diesem Rahmen auch ideale inhaltliche Werte zum Beispiel moralischer oder religiöser Natur verfolgt 110 . Da aus Elys Sicht keine inhaltlichen Werte als verfassungsgerichtlicher Kontrollmaßstab zur Verfügung stehen, ist es dem Verfassungsgericht verwehrt, den politischen Prozeß im Hinblick auf die tatsächliche Nutzenmaximierung zu überprüfen. Außerhalb der Kontrolle des Verfassungsgerichts, das heißt soweit weder spezifisches Verfassungsrecht noch die Optimierung des politischen Prozesses eingreifen, kann daher der Einzelnutzen so verrechnet werden, wie dies die Mehrheit zur Maximierung des Gesamt- oder Durchschnittsnutzens bestimmt. Wenn dabei kein einfachgesetzliches Recht auf Privatsphäre entsteht, so ist dies von den Teilnehmern am politischen Prozeß hinzunehmen, deren Interessen in die Gesamtrechnung eingestellt und verrechnet (und insofern berücksichtigt), aber nicht befriedigt wurden. Für die Konkretisierungen von Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit muß man insoweit im politischen Prozeß kämpfen, der hier das Letztentscheidungsrecht hat. Es gilt also insoweit das „Prinzip der effektiven Selbstbehauptung als Leitwert" 111 . Insoweit unterstellt die Literatur Ely zutreffend ein utilitaristisches Gemeinwohlverständnis 112. Dies ist der Ausgangspunkt seiner Theorie, was angesichts der folgenden Einschränkung nicht in Vergessenheit geraten darf.
II. Repräsentationsoptimierung als Ausnahme Elys Theorie begrenzt die freie Verrechnung der Einzelinteressen nach dem Mehrheitsprinzip, soweit eine Minderheit nicht aufgrund von Vorurteilen benachteiligt werden darf, auch wenn gerade dies den Gesamt- oder Durchschnittsnutzen maximieren würde 113 . Hiermit weicht Elys Theorie von einem rein utilitaristischen Demokratiemodell ab. Dworkin hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, daß Ely als reiner Utilitarist - der er nicht ist 1 1 4 - sogar eine den Gesamtnutzen fördernde Rassendiskriminierung hinnehmen müßte 115 . Dabei würden die Interessen der Schwarzen 109 Vgl. Ely, S. 187 Anm. 14, 238 Anm. 54; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 399 Fn. 4, 401 (1981); ders., Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 11 ff. 110
Ähnlich Brugger, Grundrechte, S. 377; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 261. Haltern, ibid.; ähnlich Brugger, Grundrechte, S. 376. 112 Vgl. Schauer, 11 Va. L. Rev. 658 (1991), der Ely als „majoritarian hedonistic utilitarian" bezeichnet; Leedes, 23 Santa Clara L. Rev. 779 (1983); Brugger, Grundrechte, S. 373, 376 f.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 131, 261, 269; ders., Staat 40 (2001), S. 257 f. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 70, hebt hervor, daß Elys Modell auf der Aggregation individueller Präferenzen aufbaue. 111
113 Daß das Vorurteil nur zur Verdächtigkeit der Klassifizierung führt, die unter strengen Anforderungen auch gerechtfertigt sein kann, sei hier vernachlässigt. 114 Vgl. dazu Ely, 1983 Duke L.J. 986 Fn. 79.
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mit gleichem Gewicht und gleicher Intensität wie alle übrigen Interessen in die Verrechnung eingestellt; sie würden aber rein zahlenmäßig unterliegen. Ironischerweise zeigt insoweit auch der Utilitarismus einen egalitären Zug, weil er jedem Menschen formell den gleichen Zählwert bei der Nutzenkalkulation zuweist 1 1 6 . Demgegenüber ist es aber gerade das Verdienst von Elys Theorie, daß sie sich für den Minderheitenschutz nicht auf die bloße Nutzenverrechnung nach dem Mehrheitsprinzip verläßt. Elys Konzeption von Gleichheit geht über die formelle Gleichheit, die mit dem Utilitarismus ohnehin verbunden ist, wenn dieser institutionell mit der Demokratie verknüpft wird, hinaus 1 1 7 . Ely w i l l mit dem bei Dworkin entliehenen Grundrecht auf gleiche Achtung und Rücksicht letztlich Mängel des Utilitarismus ausgleichen 1 1 8 . Das Verbot von Vorurteilen läßt sich weder mit dem Mehrheitsprinzip noch mit dem Ziel der Maximierung des Gemeinwohls begründen 1 1 9 . Denn bei einem rein utilitaristischen Nutzenkalkül dürfte das Vorurteil jedenfalls dann keine Rolle spielen, wenn die Benachteiligung der Minderheit für das Gemeinwesen zu handfesten Vorteilen - zum Beispiel wirtschaftlicher Art - führt. Diese Ausnahme konzediert Ely aber nicht; das Verbot von Vorurteilen läßt sich in seiner Theorie nicht durch ii5 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 510, 512 Fn. 101, 514 (1981), der festhält, daß Ely das rein utilitaristische Modell implizit verwerfe. H6 Vgl. dazu Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 381, 442. Vgl. aber auch ibid., S. 443, wo Dworkin den egalitären Anschein des Utilitarismus als trügerisch bezeichnet. 117 Ely scheint dies mißzuverstehen, vgl. Ely, S. 157; ders., Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 14 f.: Dort entsteht der Eindruck, daß die Berücksichtigung von Vorurteilen bereits die Grundregel des Utilitarismus verletze, wonach jeder Mensch/jeder Nutzen gleich viel zählt. Denn Haß auf die Minderheit führt nach Ely dazu, daß deren Interessen überhaupt nicht (positiv) in die Zählung des Gesamt- oder Durchschnittsnutzens eingehen. Das gleiche gelte bei unzulässigen Stereotypen für die zu Unrecht von der Norm erfaßte oder ausgeschlossene Gruppe. Diese Deutung erscheint nicht plausibel. Ein rein utilitaristisches Modell muß auch die Befriedigung von Haßgefühlen der Mehrheit berücksichtigen. Die Interessen der Minderheit werden dabei von der Mehrheit sehr wohl zur Kenntnis genommen, das heißt gezählt. Sie unterliegen aber in der Gesamtverrechnung aufgrund ihrer Unterzahl. Daran ändert sich nichts, wenn man die Perspektive wechselt und die Zählung nicht anhand eines Modells unmittelbarer Demokratie untersucht, sondern sie - über das Konzept der Repräsentation - im Kopf des Volksvertreters internalisiert. Denn der utilitaristisch inspirierte Repräsentant kommt ebenfalls dazu, daß der Nutzen der Mehrheit, der die Befriedigung von Haßgefühlen der Mehrheit einschließt, den - von ihm nicht ignorierten - Nutzen der Minderheit überwiegt. Dies verkennt Ely, On Constitutional Ground, S. 368 Anm. 22. us Vgl. auch die zutreffende Selbsteinschätzung bei Ely, On Constitutional Ground, S. 16: „ I suppose my political philosophy can be described as substantially utilitarian, albeit with serious 'corrections,' principally for equality." Diese „Korrekturen" kann Ely nicht Utilitarismus-immanent erklären. 119 So ausdrücklich Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 429 (1981). Vgl. auch ibid., S. 428: ,,[A]ttempts [ . . . ] to deploy raw utilitarian arguments in the service of rights to fair treatment are ultimately unpersuasive." (Fn. weggelassen) A.A. womöglich Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 504 (1981) (Minderheitenschutz könne auch von einer rein utilitaristischen Theorie gefordert sein).
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Nutzenerwägungen aufweichen. Es stellt damit etwas qualitativ anderes als eine technische Verbesserung des utilitaristischen Modells dar, die auf eine genauere Berechnung der Nutzenmaximierung abzielt. Umgekehrt argumentiert Ely aber auch nicht, daß Vorurteile langfristig niemandem nützen würden. Ely gibt uns überhaupt keine utilitaristische Begründung, warum das Verfassungsgericht eingreifen darf, wenn der politische Prozeß an Vorurteilen leidet 120 . Daran zeigt sich, daß Ely insoweit kein Utilitarist ist. Folgt man der oben vertretenen Einschätzung, daß das Recht auf „equal concern and respect" auch bei Ely auf einer moralischen Begründung beruht, so schränkt Ely den Utilitarismus mit einem moralisch begründeten Grundrecht auf Gleichheit ein 1 2 1 . Dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis von Utilitarismus und Grundrechten findet sich auch bei Dworkin. Dieser definiert Grundrechte als Trümpfe gegenüber dem politischen Prozeß. Grundrechte stehen dem Einzelnen gerade auch dann zu, wenn aus der Sicht der Mehrheit eine Erhöhung des Nutzens für das Gemeinwohl die Freiheitsbeschränkung oder Ungleichbehandlung rechtfertigen würde. Grundrechte werden also dem Utilitarismus als Dworkinsche Trümpfe aufgepfropft 122. Elys Minderheitenschutz folgt diesem Konstruktionsprinzip. Der Vergleich mit Dworkin ruft jedoch auch in Erinnerung, daß der Umfang, in dem Ely mit Hilfe der Gleichheit den Utilitarismus einschränkt, gering ist. Wäre wirklich jede Feindseligkeit des Gesetzgebers verdächtig und daher prima facie verboten, so würde dies zu einer starken Einschränkung des Utilitarismus führen, wie ihn die Mehrheit im politischen Prozeß verkörpert. Ely beschränkt sich aber auf den Bereich des Minderheitenschutzes, und hier wiederum auf das Problem des Vorurteils, das zudem bei ernsthaften moralischen Gründen entfallen soll. Immer wenn also der Gesetzgeber aus ernsthaften moralischen Gründen diskriminiert, darf er den Nutzen des Einzelnen mit dem Nutzen anderer verrechnen. Nur wenn im Ausnahmefall die Feindseligkeit durch keinerlei moralische Gründe gedeckt wird (und auch sonst nicht durch zwingende Gründe gerechtfertigt ist), ist der freien Nutzenverrechnung ein Riegel vorgeschoben 123. Damit kommt dem utilitaristischen Gemeinwohl Verständnis in Elys Ansatz große Bedeutung zu 1 2 4 .
120 Vgl. auch Ely , 1983 Duke L.J. 986 Fn. 79 a.E. Vgl. andererseits ders., Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 540 (1981): „equal concern and respect may really be part and parcel of a utilitarian view of democracy". Dabei reduziert Ely „gleiche Achtung und Rücksicht" zu Unrecht auf den gleichen Zählwert jedes einzelnen. 121 Vgl. die vorsichtige Einschätzung von Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 429 (1981): „There is a broad hint in Ely's treatment of prejudice which runs in the direction of Ronald Dworkin's theory of rights." Weitergehend und im Sinne der von mir vertretenen Einschätzung ibid., S. 426: „Ely in fact comes to depend rather heavily on premises closely akin to those advanced by Dworkin." Ahnlich ibid., S. 432: „Ely's theory of prejudice [ . . . ] conceals an external rights metric [ . . . ] . " 122 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14. 123 Zum Minderheitenschutz bei Ely siehe ausführlich unten 3. Kap., B. I. 4. b) bb), und B. I. 6.
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I I I . Gleichheit im Urzustand Während sich Ely in „Democracy and Distrust" mit rechtsphilosophischen Ausführungen zurückhält 1 2 5 , w i l l er in einem Aufsatz von 1991 mit der bekannten Figur des Urzustands 1 2 6 den Utilitarismus 1 2 7 und das Mehrheitsprinzip als Grundlagen seiner Theorie begründen: „Philosophisch betrachtet - früher habe ich mehr auf eine Analyse der Verfassung abgestellt - ergibt sich als allgemeine Theorie, daß eine Gruppe von Gleichen im 'Urzustand' bei dem Versuch, ein Staatswesen zu bilden, von der Annahme ausgehen würde, daß die Werte eines gesunden Erwachsenen nicht mehr und nicht weniger zählen sollten als die eines jeden anderen. Dies würde schnell zu der Schlußfolgerung führen, daß öffentliche Angelegenheiten im allgemeinen im Wege einer Mehrheitsabstimmung durch diese Personen oder ihre Repräsentanten geregelt werden sollten, mit zwei, vielleicht auch drei Ausnahmen. . . " l 2 8 Sicherlich hat John Rawls kein Monopol auf die vertragstheoretische Konstruktion des Urzustands und die daraus ableitbaren Annahmen. Elys Begründung kann aber nicht recht befriedigen. Er behauptet, daß der Urzustand zum Utilitarismus und zum Mehrheitsprinzip f ü h r e 1 2 9 . Da Rawls immerhin zur gegenteiligen Schlußfolgerung gelangt, liegt die Argumentationslast für diese Behauptung wohl bei Ely. Da Ely keine Gründe nennt, instrumentalisiert er die Figur des Urzustands, um eine utilitaristische Ausgangslage zu begründen. Dies ist reine R h e t o r i k 1 3 0 . Noch deut124
Deshalb wirkt es wenig überzeugend, wenn sich Ely; 1983 Duke L.J. 986 Fn. 79 a.E., nunmehr vom reinen Utilitarismus zu distanzieren versucht. Vgl. auch Ely, On Constitutional Ground, S. 16 (kein zwangsläufiger Zusammenhang zwischen dem restriktiven Teil seiner Theorie und dem Utilitarismus). Diese Äußerungen stehen in einem gewissen Widerspruch zu früheren Äußerungen, in denen Demokratie als angewandter Utilitarismus bezeichnet wird. Problematisch ist jedenfalls nicht, daß reiner Utilitarismus mit der US-Verfassung unvereinbar ist, sondern die von ihm ungenügend behandelte Frage, ob moralische Erwägungen wirklich jedwede Nutzenverrechnung rechtfertigen können. 125 V g l . Ely, S. 187 Anm. 14. 126 Grundlegend Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, insb. S. 27 ff., 34 ff., 140 ff.; vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 252 ff. 127 Schlüsselwort der nachfolgend zitierten Passage ist insoweit das Verb „zählen". 128 Ely, 11 Va. L. Rev. 833 f. Fn. 4 (1991), der hier eine eigene programmatische „Footnote 4" kreiert, die seine gegenüber „Democracy und Distrust" geringfügig abgewandelte Auffassung resümiert. Bei Ely, On Constitutional Ground, S. 5 f., figuriert die ehemalige Fußnote nunmehr prominent im Eingangskapitel zur allgemeinen Verfassungstheorie. Zu den im Zitat erwähnten Ausnahmen sogleich im Text. 129 Auch bei Ely, On Constitutional Ground, S. 16 f., findet sich keine zusätzliche Erläuterung. 130 Ebenso Haltern, Staat 40 (2001), S. 258: „Ely ist keineswegs ein Vertragstheoretiker, und seine Referenz an Rawls' Urzustand ist kaum mehr als eine oberflächliche Geste." A.A. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 133, der hier „eine philosophische Begründung angedeutet" sieht und meint, „daß sich Elys Theorie auch als Umsetzung einer prozeduralen rechtsphilosophischen Theorie verstehen läßt. [Fn.]" Im Original nimmt die Fußnote u. a. auf Habermas, Faktizität und Geltung, S. 323, Bezug. Dazu unten 3. Kap., C. II.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
licher wird dieses Vorgehen, wenn man die im Zitat genannten Ausnahmen vom Utilitarismus und vom Mehrheitsprinzip betrachtet. Dabei handelt es sich um (1) spezifisches Verfassungsrecht, (2) Ausschlüsse vom demokratischen Prozeß und (3) Benachteiligungen einer Minderheit. Dies sind die drei aus Fußnote 4 vertrauten Bausteine der repräsentationsoptimierenden Theorie. Ely leitet also aus dem Urzustand nicht mehr und nicht weniger als seine eigene Theorie ab. Damit wiederholt er lediglich seine Thesen, ohne zusätzliche Gründe anzugeben. Man sollte daher die Verwendung des Urzustands als Begründungsfigur nicht überbewerten. Das beiläufig in einer Fußnote vorgebrachte „Argument" ist aus Elys Perspektive für die Begründung seiner Theorie nicht zwingend notwendig. Es ist aber nachdrücklich darauf hinzuweisen, daß die Anrufung des Urzustands keine Affinität zwischen Elys Theorie und Rawls stiftet, weil zwischen beiden Autoren Welten liegen 131 : Der erste Grundsatz der Gerechtigkeit ist bei Rawls auf die größtmögliche Freiheit des Einzelnen bezogen, die mit der gleichen umfassenden Freiheit aller anderen vereinbar ist 1 3 2 . Dies ist - anders als Elys Theorie 133 - ein dezidiert Rechte-orientierter Ansatz, mit dem auch unbenannte Freiheitsrechte wie ein Recht auf Privatsphäre begründet werden können. Der zweite Grundsatz der Gerechtigkeit bezieht sich bei Rawls auf Probleme der Verteilungsgerechtigkeit, wobei nicht von politischer Gleichheit, sondern von wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten die Rede ist 1 3 4 . Derartige Verteilungsfragen sind jedoch bei Ely der Inbegriff des Politischen und mangels verfassungsrechtlicher Maßstäbe Sache des Gesetzgebers. Von dieser einfach festzustellenden Differenz abgesehen, stellt sich die Frage, ob eine Verbindungslinie zu Rawls vielleicht deshalb bestehen könnte, weil Dworkin das von Ely rezipierte Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht wiederum in Anlehnung an Rawls begründet 135. Rawls spricht von der „Gleichheit bezüglich der Achtung, die den Menschen unabhängig von ihrer gesellschaftlichen Stellung zukommt" 136 . Diese Gleichheit komme den Menschen als moralischen Subjekten zu; sie sei bereits „Bedingung für die Zulassung zum Urzustand" 137 . Dworkin vertritt deshalb die Auffassung, daß nicht Freiheit, sondern Gleichheit das grundlegende Prinzip von Rawls' Theorie sei 1 3 8 . Der Frage, ob Dworkins Deutung zutrifft, 131
Ely, 11 Va. L. Rev. 834 Fn. 4 (1991), verweist trotz seines suggestiven Umgangs mit dem Urzustand nicht auf Rawls. 132 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 81, 336. 133 Vgl. a u c h Ely, S. 58 f., dessen Kritik am Non-Originalismus Rawls einschließt. 134 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 81, 336. 135 Vgl. dazu Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 297 ff. 136 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 555 (zitiert bei Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 298). 137 Vgl. Rawls, Eine Theorie der Gerechtigkeit, S. 36 f., 555. Zitat bei Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 299. 138 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 296, 299. Die verkürzte Darstellung bei Schefer, Konkretisierung, S. 245, verdeckt die Differenz zwischen Dworkins primär auf
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kann hier nicht nachgegangen werden, weil dies zu einer Auseinandersetzung mit der umfangreichen und kontroversen Rezeption der Rawlsschen „Theorie der Gerechtigkeit" führen würde 139 . Eine solche Bewertung ist hier auch nicht erforderlich. Denn im vorliegenden Zusammenhang genügt es festzuhalten, daß das Prinzip der gleichen Achtung als personale, auf die Menschenwürde bezogene Idee der Gleichheit auch bei Rawls nachweisbar ist. Dies stiftet eine durch Dworkin vermittelte Verbindung zwischen Ely und Rawls, die freilich punktuell und angesichts der großen Divergenzen im übrigen so derartig schwach ist, daß sie vernachlässigt werden kann. Wird Ely dagegen undifferenziert mit einem Vertragsmodell identifiziert, so besteht die Gefahr, daß die zuvor erwähnten Unterschiede nivelliert und das utilitaristische Fundament von Elys Theorie verdeckt werden 140 . Zu einem solchen Mißverständnis hätte Ely durch seinen unbefangenen Umgang mit dem Urzustand beigetragen 141. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß weder die Rezeption von Dworkins Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht noch die beiläufige Erwähnung des Urzustands aus Elys Theorie einen moralphilosophischen Ansatz macht, daß aber ihr utilitaristisches Fundament von einer grundrechtlich begründeten Ausnahme durchbrochen wird, aufgrund derer vorurteilsbefleckte Gesetzgebung prima facie 142 verfassungswidrig ist.
F. Skeptizismus gegenüber Grundrechten und Gerichten Mit einem positivistischen Rechtsbegriff und einem utilitaristisch aufgefaßten Rechtszweck verbindet sich üblicherweise Relativismus oder Skeptizismus als zugehöriges Wertverständnis 143. Relativismus verneint das Bestehen universell geltender moralischer Werte oder Normen. In der skeptizistischen Variante wird ähnlich wie beim Subjektivismus144 - bestritten, daß diese an sich bestehenden Gleichheit und Rawls' primär auf Freiheit bezogenem Ansatz, auch wenn die Gleichheit im Urzustand für beide eine grundlegende Rolle spielt. 139 Vgl. die Nachw. bei Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 56 ff. 140 Deshalb ist es zu pauschal, wenn Schefer, Konkretisierung, S. 245, behauptet, daß „Ely von der selben Grundannahme auszugehen [scheint] wie Rawls bei der Formulierung der Basis fairer Verfahren." Kritisch dazu Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 261 Fn. 328. 141 Schon in „Democracy and Distrust" will Ely, S. 219 Anm. 119, der Idee des Urzustands einen anfänglichen Reiz nicht absprechen, wenn es um einfache Gesetze geht. Immerhin könnte man versuchen, mit der Pflicht zu einem universalen Rollentausch die rohen Interessen im Utilitarismus zu filtern und Vorurteile auszuscheiden. Vgl. allg. Calliess, Prozedurales Recht, S. 34 f. Auch hier geht Ely über Andeutungen nicht hinaus. 142 Die verdächtige Ungleichbehandlung kann ausnahmsweise gerechtfertigt sein. 143
Zu den Begriffen im vorliegenden Zusammenhang Brugger, Grundrechte, S. 352 Fn. 30. 1 44 Vgl. dazu etwa Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 14 f., 25 ff. 8 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Werte oder Normen sicherer, rationaler Erkenntnis - durch das Verfassungsgericht, den Gesetzgeber oder jeden anderen - offen stehen145 . Wertrelativismus oder -Skeptizismus liegen zumeist dem Originalismus zugrunde 146. Welchem Lager ist nun Ely zuzuordnen? Ist er Relativist, Skeptizist, Subjektivist oder Objektivist? Die Zuordnung ist schwierig, weil Ely meint, daß sein rechtsphilosophischer Standort für die Begründung seiner Theorie ohne Bedeutung sei, und ihn deshalb nicht expliziert 147 . Auch setzt er das werthaltige Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht, das im Rahmen seiner Theorie eine zentrale Rolle einnimmt, nicht zu seiner Wertkritik im dritten Kapitel von „Democracy and Distrust" in Beziehung. Dennoch lassen sich aus dieser Kritik Anhaltspunkte für seinen eigenen Standpunkt gewinnen: Einerseits meint Ely dort implizit, daß sich absolute ethische Wahrheit nicht entdecken lasse 148 . Er kritisiert, daß alle moralphilosophischen Theorien von einer unbeweisbaren normativen Grundannahme ausgingen149. Dies klingt nach einer starken Form von Skeptizismus in Verbindung mit Empirismus, was sich in Elys utilitaristisches Grundverständnis fügen und seine Ablehnung neuer, ungeschriebener Grundrechte auf moralischer Basis tragen würde. Andererseits hält Ely rationales Argumentieren über Moral und Vernunftrecht für möglich 150 . Er meint, daß es unvertretbare moralische Positionen gebe 151 . Zum Beispiel sei es irrational und unvertretbar zu behaupten, daß man jemandem unnötiges Leid zufügen dürfe 152 . Ely vertritt also keinen Relativismus und zumindest keinen strikten Skeptizismus oder Subjektivismus153. Mit einer solchen Position wäre auch das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht unvereinbar, für das Ely eine überzeugende nicht-objektivistische Begründung nicht anbietet. Den potentiellen Widerspruch zwischen einem von ihm nicht bestrittenen Kernbestand objektiver moralischer Normen und seiner skeptizistischen Grundhaltung will Ely auflösen, indem er sich auf eine pragmatische Ebene zurückzieht 154 : Die 145
Das Fehlen objektiver Werte und Normen führt den Utilitaristen gerade dazu, in der Nutzenmaximierung eine rationale Alternative zu metaphysischer Spekulation zu sehen. 146 Vgl. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 248, wonach der Ausgangspunkt des Originalismus darin bestehe, „daß es keine privilegierten Antworten auf Fragen der politischen Moralität über das hinaus gibt, was ausdrücklich in der Verfassung niedergelegt oder durch den Willen der politischen Mehrheit gewollt ist." w Vgl. z. B. Ely, S. 187 Anm. 14. Vgl. Ely, S. 54. 149 Vgl. Ely, S. 54: ,,[T]he inference proceeds, as it must, from one 'ought' to another." 150 Vgl. Ely, S. 53 f. 151 Vgl. Ely, S. 52. Schauer, 77 Va. L. Rev. 657 f. (1991), hält Elys ethischen Objektivismus für ein Lippenbekenntnis: „Although Ely occasionally pays appropriate homage to ethical objectivism, it is half-hearted at best." (Fn. weggelassen) 152 Vgl. Ely, S. 52. 153 Wie hier Richards, 42 Ohio St. L.J. 320 (1981); Nagel, 56 N.Y.U. L. Rev. 519 f. (1981). Vgl. allg. Dworkin., Bürgerrechte emstgenommen, S. 233, 235 ff. 154 Diesen pragmatischen Zug konstatiert zu Recht Schauer, 77 Va. L. Rev. 658 (1991).
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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objektive Erkenntnis hochabstrakter moralischer Sätze helfe jedenfalls im Einzelfall nicht weiter. Solche Sätze seien zu vage, um einen konkreten Anwendungsnutzen zu haben 155 . Im übrigen werde der Gesetzgeber praktisch keine Gesetze beschließen, die unnötiges Leid zufügen 156 . Man könnte Ely deshalb für einen „gemäßigten" Skeptizisten halten, der zwar die objektive Erkenntnis allgemeinster moralischer Sätze zuläßt, aber deren Konkretisierung stets als willkürlich ablehnt. Ely könnte hierfür geltend machen, daß es zwar eine rationale, aber keine eindeutige oder konsensfähige Argumentation gibt, wenn es um die konkrete Anwendung solcher Sätze geht. Einem solchen Skeptizismus, der meint, daß sich aus allgemeinen und daher „leeren" 157 Sätzen des Vernunftrechts keine konkreten Folgen ergeben können, würde allerdings Elys Konkretisierung des Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht im Rahmen der allgemeinen Gleichheitsklausel widersprechen. Außerdem müßte Ely epistemologische Gründe nennen, warum ein allgemeines Recht auf Freiheit, das er ablehnt, nicht zur Gruppe dieser von ihm anerkannten objektiven moralischen Sätze zählt, wohl aber das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht. Er müßte also einen „selektiven" Skeptizismus begründen, der in kohärenter Weise nur die Erkenntnis des Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht und dessen Konkretisierung zuläßt. Diese Begründung liefert Ely nicht. Deshalb vertritt er einen inkonsistenten Rechte-Skeptizismus, der zumindest eine objektivistische Ausnahme zulassen muß, ohne diese auf epistemologischer Ebene rechtfertigen zu können. Will man Ely diesen Vorwurf ersparen, so muß man untersuchen, ob sich sein Skeptizismus mehr gegen die Erkenntnis von unspezifischen Grundrechten durch das Verfassungsgericht als gegen den Bestand und die Erkenntnis ungeschriebener Grundrechte an sich richtet158. In diese Richtung deutet die folgende Passage aus „Democracy and Distrust": „Unsere Gesellschaft erkennt die Idee eines entdeckbaren und objektiv gültigen Bestands moralischer Prinzipien - zu Recht - nicht an, wenigstens nicht eines Bestands, der auf plausible Weise dazu dienen könnte, die Entscheidungen unserer gewählten Repräsentanten umzustoßen."159
Das Zitat leitet von Erkenntnisproblemen zu Fragen demokratischer Legitimation und institutioneller Kompetenz über. Dworkin zufolge führt das Abrücken vom umfassenden moralischen Skeptizismus dazu, daß als Rechtfertigungsgrund für 155 Vgl. Ely, S. 51 f., 59. Vagheit ist für sich genommen kein Einwand gegen den Objektivismus, zumal sich Ely nicht die Mühe macht, die Konkretisierung allgemeiner moralischer Normen etwa durch Dworkin oder Rawls zu diskutieren. 156 Vgl. Ely, S. 52 f., 182. 157 Ely, S. 59. 158 Die Unterscheidung zwischen Skeptizismus gegenüber Grundrechten und gegenüber dem Verfassungsgericht entwickelt Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 417 ff. (1981). 159 Ely, S. 54. 8*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
verfassungsgerichtliche Zurückhaltung nur eine Theorie der Unterordnung, das heißt der „Zurückhaltung" des Verfassungsgerichts in Frage komme 160 . Bei Ely ergibt sich die Unterordnung des Verfassungsgerichts unter den Gesetzgeber als Folge seiner Fixierung auf einen majoritätsbezogenen Demokratiebegriff. Für ihn ist es elitistisch und undemokratisch, wenn das Verfassungsgericht dem Gemeinwesen moralische Werte oder Normen auferlegt 161 . In dieser Lesart ist das von Ely bejahte Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht keine objektivistische Durchbrechung einer skeptizistischen Erkenntnistheorie. Vielmehr rechtfertigt sich dieser Ausnahmefall daraus, daß die Voraussetzungen des demokratietheoretisch unterfütterten Skeptizismus gegenüber dem Verfassungsgericht aus funktionalen Gründen punktuell entfallen, weil der Gesetzgeber seinerseits kein Vertrauen verdient: Soweit der demokratische Prozeß - wie im Paradigma des dritten Absatzes der Fußnote - ausnahmsweise nicht fair funktioniert und das Verfassungsgericht durch Anwendung eines ungeschriebenen Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht das Verfahren optimieren kann, besteht kein Anlaß, dem Gericht den epistemologischen Zugriff auf dieses Recht zu versagen. Auf diese Weise hebelt man mit dem - ausnahmsweisen - Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber das - grundsätzliche - Mißtrauen gegenüber dem Verfassungsgericht punktuell aus 162 . Führt man diese Linie konsequent fort, so beruht Elys Ablehnung gegenüber neuen, das heißt in der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnten Grundrechten wie zum Beispiel auf Privatsphäre, Abtreibung und sexuelle Orientierung nicht (oder nicht in erster Linie) auf erkenntnistheoretischem Skeptizismus gegenüber diesen Rechten, der den Gesetzgeber genauso wie das Verfassungsgericht treffen würde, sondern (primär) auf funktional begründeter Skepsis gegenüber dem Verfassungsgericht. Für eine Überwindung dieser Skepsis besteht beim Persönlichkeitsrecht kein Anlaß, da hier nach Ely kein unfaires Verfahren des Gesetzgebers zu erwarten ist, soweit keine Minderheiten betroffen sind. Allerdings ist auch diese Verteidigungslinie problematisch. Zum einen ist keineswegs klar, warum man sich - wie Ely - mit dem Verbot von Vorurteilen begnügen soll, wenn man das Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber überhaupt einsetzt, um die grundsätzliche Skepsis gegenüber dem Verfassungsgericht zu übertrumpfen. Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber ist nicht nur unter dem Aspekt des Minderheitenschutzes, sondern auch im Hinblick auf den Schutz der Autonomie der Person denkbar. Immerhin erscheint Elys Selbstbeschränkung auf den Minderheitenschutz vertretbar. Zum anderen wäre es bedenklich, Ely allein aufgrund des Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht in einen Objektivisten umzudeuten, der 160 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 234, 237 ff., der Argumente für die Unterordnung zurückweist (ibid., S. 239 ff.). 161 Vgl. Ely, S. 59, 68. 162 Von doppeltem Mißtrauen spricht bei Ely zu Recht auch Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 86. Demgegenüber zitiert Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 359 Fn. 9 m.Text, Ely nur in Zusammenhang mit Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber. Vgl. allg. Schauer, The Calculus of Distrust, 77 Va. L. Rev. 653 ff. (1991).
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lediglich eine starke Theorie verfassungsgerichtlicher Unterordnung vertritt. Denn erstens ist unwahrscheinlich, daß Ely realisiert hat, welche objektivistischen Konsequenzen die Bejahung dieses Rechts für seinen epistemologischen Standpunkt hat. Zweitens ist seine ablehnende Position gegenüber «^spezifischen Grundrechten doch von epistemologischem /tec/iie-Skeptizismus geprägt, auch wenn dieser inkonsequent erscheint. Im Ergebnis täuscht der erste Eindruck, daß es sich bei Elys Theorie um einen strikt skeptizistischen oder relativistischen Ansatz handelt, weil er neue Grundrechte rundheraus ablehnt. Denn Ely erkennt gewisse moralische Positionen als objektiv an. Vor allem postuliert er ein objektives Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht. Die Spannung zwischen Subjektivismus und Objektivismus bleibt bei ihm ungelöst, weil er sich in ein pragmatisches Vorgehen flüchtet und einer rechtsphilosophischen Diskussion ausweicht. Als Kern seiner Theorie stellt sich ein starker Skeptizismus gegenüber nichtspezifischen Grundrechten heraus 163 , der freilich in erkenntnistheoretischer Hinsicht inkonsistent ist. Zum Rechte-Skeptizismus tritt kumulativ ein starker Skeptizismus gegenüber dem Verfassungsgericht, der primär auf einem mehrheitsbezogenen Demokratieverständnis beruht, das das Verfassungsgericht dem politischen Prozeß unterordnet 164.
G. Elys Verständnis des politischen Prozesses Eine wichtige Entwicklung in der amerikanischen Verfassungstheorie, die jedoch in die Zeit nach „Democracy and Distrust" fällt, betrifft die Auseinandersetzung zwischen Liberalismus und Zivilrepublikanismus 165. Elys Verständnis des politischen Prozesses ist dieser Kontroverse zuzuordnen (I.) und im Anschluß daran im Kontext verschiedener Pluralismuskonzeptionen zu untersuchen (II.). Schließlich ist mit dem von Ely konstatierten Rückzug des Gesetzgebers aus der demokratischen Verantwortung ein Mangel im System der repräsentativen Demokratie anzusprechen, der nicht ohne Rückwirkung auf seine Theorie bleibt (III.).
163 Ähnlich Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 425 (1981); Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 555 m. Fn. 29 (1981). Vgl. auch Schauer, 11 Va. L. Rev. 658 (1991): „The real Ely, or at least the Ely that emerges from the pages of his book, seems at times a Holmesian moral skeptic / relativist/pragmatist, believing moral truth to be little other than what some society has decided to adopt at some time or place." (Fn. weggelassen) Diese Beschreibung ist grds. zutreffend, unterschlägt aber das Recht auf „equal concern and respect". 164 Auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 321, spricht im Hinblick auf Ely von Gerichtsskeptizismus. 165
Überblick zum Zivilrepublikanismus bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 55 ff. m. w. Nachw.; ders., Staat 40 (2001), S. 258 ff.; Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 93 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 113 ff. Vergleich der liberalen mit der neo-republikanischen Theorie bei Habermas, Faktizität und Geltung, S. 324 ff., 359 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
I. Liberalismus und Zivilrepublikanismus Sowohl Liberalismus als auch Zivilrepublikanismus berufen sich auf historische Vorbilder aus dem ausgehenden 18. Jahrhundert 166. Auch wenn das Verhältnis der beiden Ansätze hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann, so ist doch festzuhalten, daß sich die Traditionsstränge in historischer Sicht gegenseitig ergänzen 167 . Dagegen stehen die Pole Liberalismus und Zivilrepublikanismus in der Verfassungstheorie in einem Spannungs- oder sogar Ausschließlichkeitsverhältnis. Dieser Polarität soll Elys Ansatz im folgenden zugeordnet werden, indem Liberalismus und Zivilrepublikanismus unter Vernachlässigung der Details als verfassungstheoretische Typen aufgefaßt werden. Die liberale Theorie geht vom Individuum aus, dessen Präferenzen sie durch soziale Institutionen beschränkt sieht 168 . Als Attribute der entsprechenden liberalen Tradition nennt Tushnet unter anderem 169 (1) die Bestimmung des Gemeinwohls durch Aggregation egoistischer Einzelinteressen (= Utilitarismus); (2) die Neutralität staatlicher Institutionen gegenüber konkurrierenden Gemeinwohlkonzeptionen in der Gesellschaft (= Neutralitätsliberalismus 170) und (3) die Trennung von Recht und Politik. Auch wenn im zivilrepublikanischen Lager tiefgreifende Differenzen bestehen, lassen sich die Vertreter dieser Theorie auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen. Die republikanische Theorie stellt für Tushnet die soziale Natur des Menschen, der auf überschaubare örtliche Gemeinschaften wie Familie und Gemeinde als Kristallisationspunkte von „self-government" angewiesen sei, in den Mittelpunkt 171 . In der „staatlich institutionalisierten sittlichen Gemeinschaft" finde Integration der aktiven Bürgerschaft durch ,,ethisch-politisch[e] Selbstverständigung" auf der Basis eines „ k u l t u r e l l eingespielten Hintergrundkonsen[ses]" statt 172 . Zivilrepublikanismus betont dabei den Wert der Deliberation in der Zivilgesellschaft. Vom Zivilrepublikanismus läßt sich eine - freilich nicht zwingende - Verbindungslinie zum Kommunitarismus 173 ziehen 174 , der sich auf rechtsphilosophischer Ebene als Alternative zum liberalen Modell präsentiert 175.
166 Dazu Tushnet, Red, White, and Blue, S. 4 ff., 8 ff., 10 ff. m. w. Nachw. 167 Vgl. näher Tushnet, Red, White, and Blue, S. 4 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 345 f. 168 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 4 f. 169 Vgl. ibid., S. 6. 170 Dazu Haltern, KritV 83 (2000), S. 155 f. 171 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 5, 316. 172 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 359. 173 Überblick bei Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 67 ff.; ausführlich Brugger, AöR 123 (1998), S. 337 ff.; dagegen Haltern, KritV 83 (2000), S. 153 ff. 174 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 339 ff.; Haltern, Staat 40 (2001), S. 260, 262; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 70 Fn. 78, 113.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Ely läßt sich anhand dieser Skizze dem liberalen Pol zuordnen. Zwar erblickt er mit dem Republikanismus in der demokratischen Selbstbestimmung einen zentralen Wert, doch stehen bei ihm Partizipation und Interessenhandel im Vordergrund, nicht aber vernunftgeleitete Deliberation (dazu gleich). Zudem verortet Ely den politischen Prozeß primär im parlamentarischen Verfahren, nicht in der Zivilgesellschaft als Basis der republikanischen Theorie 176 . Die Gesellschaft als Ort der politischen Kommunikation, aber auch der politisch aktive Bürger selbst rücken bei Ely nie in das Zentrum des Interesses. Daß Ely informelle Rückwirkungen staatlichen Handelns auf politische und gesellschaftliche Prozesse nicht einmal thematisiert 177 , deutet darauf hin, daß er Präferenzen als exogen, das heißt außerhalb des politischen Prozesses entstehend und von diesem unabhängig ansieht, während der Zivilrepublikanismus von endogenen Präferenzen ausgeht, die durch den politischen Prozeß geformt und beeinflußt werden 178 . Auch spricht Ely im Unterschied zum Republikanismus nicht von Bürgertugenden, die als ethische Pflichten die Teilnahme am Prozeß der demokratischen Selbstbestimmung der privaten Beliebigkeit entziehen179. Nun stützt Ely den Minderheitenschutz im repräsentationsoptimierenden Ansatz auch auf die republikanische Tradition, indem er mit ihr die (Rechts-) Pflicht der Abgeordneten zur Ausübung ihres Mandats im Interesse des ganzen Volkes und zur gleichen Repräsentation aller Bürger begründet 180. Das Konzept der Repräsentation, das bei Ely die Interessen von Mehrheitsrepräsentant und Minderheit verkoppelt, sei schon in der ursprünglichen Verfassung angelegt und durch die Gleichheitsklausel des 14. Amendment ausdrücklich beglaubigt worden. Aufgrund des Verbots von Vorurteilen wird dem Repräsentanten der Mehrheit „mehr zugemutet als die Orientierung am jeweils eigenen Interesse" oder dem seiner Wahler 181 . Elys 175
Auf rechtsphilosophischer Ebene ist allerdings ein „Panaschieren", wie es sich aus dem Ineinanderblenden liberaler und zivilrepublikanischer Traditionen zur Konstruktion eines verfassungstheoretischen Mischmodells ergibt, nicht möglich, weil sich Kommunitarismus und Liberalismus in ihren Prämissen widersprechen. Während z. B. der Liberalismus, wie er von Rawls und Dworkin vertreten wird, von universell geltenden Normen ausgeht, betont der Kommunitarismus die Bedeutung lokaler, partikulärer Gemeinschaftswerte. Vgl. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 56 ff., 67 ff. 176 Vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 360 f. 177 Kritisch Tribe, 89 Yale L.J. 1078 f. (1980). 178 Zur Unterscheidung von exogenen und endogenen Präferenzen im Hinblick auf liberale und zivilrepublikanische Theorie Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 55 ff. (56, 59). 179 Ferner hat die Besinnung auf demokratische Selbstbestimmung („self-government") bei Ely keine antistaatliche Konnotation, vgl. dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 360. Schließlich mutet Ely dem Staat keinerlei Erziehungsfunktion zu. 180
Vgl. Ely, S. 79, 82, dem es hier nicht um zivilrepublikanische Tugend geht. 181 Für Ely, 77 Va. L. Rev. 840 Fn. 15 (1991), läßt sich vor allem das verfassungsgerichtlich durchzusetzende Verbot von Vorurteilen ersten Grades als republikanisch inspiriert auffassen („a significant judicial push away from bare-knuckled pluralism in the direction of »public values'"). Zitat im Text bei Habermas, Faktizität und Geltung, S. 329, dort jedoch auf den,»republikanischen Staatsbürger" bezogen.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Berufung auf republikanische Gleichheit, die im übrigen nicht ohne Widerspruch geblieben ist 1 8 2 , führt jedoch für sich genommen keineswegs zu einem Konzept deliberativer Demokratie als dem Kern des Zivilrepublikanismus. Darüber hinaus hat Ely die zivilrepublikanische Verfassungstheorie später ausdrücklich zurückgewiesen, weil sie in der US-Verfassung keine Grundlage finde 183 . Im Ergebnis bleibt Ely der liberalen Verfassungstheorie verpflichtet, was sich mit seiner Selbsteinschätzung deckt 184 . Deshalb läßt sich sein Ansatz trotz einer punktuellen Berufung auf die republikanische Tradition keinesfalls als Vorläufer zivilrepublikanischer Verfassungsi/ieone bezeichnen185. Soweit diese unter Betonung des offenen demokratischen Prozesses ebenfalls zu einer Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit gelangt, ergibt sich daraus eine äußerliche Übereinstimmung mit den Ergebnissen von Elys Theorie. So argumentiert vor allem Cass Sunstein für eine zurückhaltende Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit 186. Demgegenüber begreift Frank Michelman 187 das Verfassungsgericht „als eigentlich repräsentative Diskursgemeinschaft" 188, womit sich diese Spielart des Zivilrepublikanismus von vornherein in scharfen Gegensatz zu Ely setzt. II. Pluralistisches „Bargaining" und deliberative Demokratie Eine den Pluralismus kennzeichnende Wahrnehmung des politischen Prozesses als ein Konkurrenzverhältnis einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppen läßt sich bei Ely leicht nachweisen189. Zu nennen ist vor allem seine Beschreibung der 182 Parker, 42 Ohio St. L.J. 255 f. (1981), wirft Ely vor, die republikanische Theorie des 18. und 19. Jhd. zu verfälschen, um seine Konzeption der repräsentativen Demokratie abzustützen. Ely vernachlässige das Erfordernis einer aktiven Bürgerschaft sowie die gleichmäßige Verteilung des Wohlstands als Grundlage des republikanischen Modells. Vgl. aber zum zuletzt genannten Punkt Ely, S. 79. 183 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 840 Fn. 15 (1991): ,,[A]nything resembling a full-scale attempt to impose a »republican' political mentality [ . . . ] would [ . . . ] be unwarranted as a matter of constitutional interpretation, as no coherent account of the document supports it." Man vermißt bei Ely eine ausführliche Stellungnahme zum Zivilrepublikanismus. Zur Kritik am Republikanismus vgl. aus deutscher Sicht Habermas, Faktizität und Geltung, S. 337 f.; Haltern, Staat 40 (2001), S. 260 ff. 184 Ely bezeichnet sich selbst als Anhänger der liberalen Theorie, vgl. ders., 11 Va. L. Rev. 834 Fn.4(1991). 185 Zur Abgrenzung gegenüber deliberativer und diskursiver Demokratie siehe gleich im Text unter G. II. 3. 186 Vgl. z. B. Sunstein, Beyond the Republican Revival, 97 Yale L.J. 1539 ff. (1988); ders., One Case at A Time. Dazu noch unten 3. Kap., B. II. 1. d). Vgl. auch Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 105. 187 Vgl. z. B. Michelman, Law's Republic, 97 Yale L.J. 1493 ff. (1988). 188 Zitat bei Haltern, Staat 40 (2001), S. 259, der besonders deutlich auf die Unterschiede innerhalb des republikanischen Lagers hinweist. 189 Vgl. Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 84, der Ely als repräsentativen Ansatz einer Pluralismustheorie der Demokratie bezeichnet.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Mehrheit als einer Augenblickskoalition von Minderheiten 190 . Minderheiten sind bei ihm letztlich Interessengruppen, deren wirksame Teilnahme am parlamentarischen Tauschhandel auf dem politischen Marktplatz der Interessen durch Vorurteile blockiert wird 1 9 1 . Auch die We/They-Dichotomie bei legislativen Stereotypen arbeitet mit einer auf Gruppen bezogenen Betrachtungsweise. Darüber hinaus stellt Ely in „Democracy and Distrust" ausdrückliche Bezüge zum pluralistischen Politikmodell her, wenn er zum Beispiel vom „pluralist's bazaar" spricht 192 und James Madisons Überlegungen zur Begrenzung faktionaler Macht als geistesgeschichtliche Wurzel der US-amerikanischen Pluralismustheorie verteidigt 193 . Betrachtet man einerseits Liberalismus, Utilitarismus und Pluralismus 194 , wie sie Elys Theorie als Ausgangspunkt zugrunde liegen, und andererseits Zivilrepublikanismus und deliberative Demokratie 195 , so ergeben sich unterschiedliche Leitbilder des politischen Prozesses. Dies zeigt sich besonders deutlich an den Modellen, in denen das Zustandekommen politischer Übereinkünfte gedacht wird. In solche Übereinkünfte können rationale Wahl, egoistische Interessen und Macht der politischen Akteure eingehen, sie können aber auch auf der Anerkennung höherer Werte oder der Einsicht in Argumente beruhen. Bei der Unterscheidung zwischen einem pluralistisch-utilitaristischen Marktmodell der egoistischen Einzelinteressen und einem Modell deliberativer Demokratie, das sich grundsätzlich durch gegenseitige Überzeugungsarbeit und vernunftgeleitete Diskurse statt durch strategisches Handeln auszeichnet, handelt es sich um Idealtypen, deren Abgrenzung in der politischen Realität Probleme aufwirft 196 . Eine Verfassungstheorie, wie sie Ely entwor190
Vgl. Ely, S. 81: ,,[E]ffective majorities can usually be described as Clusters of cooperating minorities". 191 Es sei daran erinnert, daß Ely den Minderheitenschutz letztlich nicht mit dieser pluralistisch-empiristischen Begründung, sondern mit einem Gerechtigkeitsmaßstab („equal concern and respect") absichert. 192 Vgl. Ely, S. 80 ff., 135, 151 ff. (Zitat auf S. 152). 1 93 Vgl. Ely, S. 80, 223 Anm. 28. Die herausragende Bedeutung des im Text angesprochenen „Federalist Nr. 10" von 1787 läßt sich auch daran ablesen, daß zum Beispiel das Casebook zum Verfassungsrecht von Stone/Seidman/Sunstein/Tushnet ohne große Umschweife mit diesem Essay beginnt, vgl. dies., Constitutional Law, S. 7 ff. 1 94 Vgl. dazu aus politikwissenschaftlicher Sicht z. B. Schmidt, Demokratietheorien, S. 95 ff., 131 ff., 151 ff. zur liberalen, ökonomischen und pluralistischen Demokratietheorie. 1 95 Der Begriff der deliberativen Demokratie ist in der amerikanischen Diskussion vorwiegend zivilrepublikanisch belegt, wie dies soeben im Text ausgeführt wurde (siehe oben 2. Kap., G. I.). Habermas, Faktizität und Geltung, S. 340 ff., 359 ff., widmet ihn zu einem Kernbegriff des diskurstheoretischen Demokratiemodells um und streift ihm dabei die republikanisch-kommunitaristischen Konnotationen ab. Anders wiederum Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. In jedem Fall werden dabei qualitative Anforderungen an den politischen Prozeß gestellt. Vgl. zum Begriff auch Calliess, Prozedurales Recht, S. 110. Zur partizipatorischen und prozeduralistischen Demokratietheorie vgl. etwa Schmidt, Demokratietheorien, S. 170 ff., 177 ff. 1 96 Vgl. zu beiden Typen Habermas, Faktizität und Geltung, S. 331 f., 359 ff., der freilich meint, auch im Einzelfall zwischen strategischem und diskursivem Handeln unterscheiden zu
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
fen hat, kann jedoch in normativer wie deskriptiver Hinsicht das eine oder andere Politikmodell zugrunde legen, mit dem jeweils ein bestimmtes Menschenbild korrespondiert (1.). Auf dieser Grundlage sind die pluralistischen Züge, die in Elys Theorie deutlich zutage treten, näher zu bestimmen (2.). Schließlich ist eine Abgrenzung zum deliberativen Demokratiemodell vorzunehmen (3.).
7. Egoistisches Menschenbild und Politikmodell? Für die klassisch pluralistische Theorie konkurrieren die Gruppen untereinander bei der Verfolgung ihrer Interessen. Die Gruppen setzen sich aus Individuen zusammen, die ihr Handeln an ihrem Eigeninteresse orientieren. Die Eigeninteressen werden in der Gruppe aggregiert 197. Folgt nun Elys Theorie einem Menschenbild, das vom „rational actor" ausgeht, der vor allem seinen egoistischen Interessen folgt 1 9 8 , oder liegt ihr das Leitbild der „reasonable person" zugrunde, die ihre Präferenzen anhand von Tugend, Vernunft und Gerechtigkeitsmaßstäben überprüft und gegebenenfalls korrigiert 199 ? In normativer Hinsicht hat Ely im Rückblick folgendes festgestellt: „Die Theorie gerichtlicher Kontrolle, wie sie in Democracy and Distrust enthalten ist, sollte mit »republikanischem' Verhalten von Gesetzgeber und Gemeinschaft genauso vereinbar sein wie mit einem »pluralistischen' Modell." 2 0 0
Ely behauptet also, daß es dem Gesetzgeber nach seiner Theorie offen stehe, sich an Gemeinschaftswerten und Bürgertugenden zu orientieren, daß er aber genausogut eine rein pluralistische Interessenpolitik betreiben könne 201 . In der Tat erzwingt Elys Theorie nicht die Reduktion von Politik auf die Behauptung und den Ausgleich egoistischer Interessen. Der Gesetzgeber darf ohne weiteres „höhere Werte" und Tugenden verfolgen 202 . In der Pflicht zur Repräsentation der Minderheit kommt sogar eine Pflicht zur Berücksichtigung fremder Interessen zum Tragen, womit dem politischen Prozeß ein punktueller Altruismus vorgeschrieben
können, vgl. ibid., S. 346. Vgl. auch Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 111 ff., 113 ff. 197 Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 277. Auch Brugger, Staat 29 (1990), S. 504, 506 (m. Zitat), weist auf die Ausrichtung des klassischen Pluralismus auf „individuellfe] Utilitäten und Austauschprozess[e]" hin. 198 Zu diesem Menschenbild Brugger, Staat 29 (1990), S. 516 f. 199 Begriffe z. B. bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 159. 200 Ely, 11 Va. L. Rev. 840 Fn. 15 (1991). 201 Im Gegensatz zu „Democracy and Distrust", wo es Ely lediglich um eine Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle geht, scheint das Zitat mit dem Hinweis auf die „Gemeinschaft" auch auf ein Gesellschaftsmodell abzuzielen. 202 Siehe oben 2. Kap., E. I. Mit höheren Werten sind hier auch altruistische Präferenzen gemeint.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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wird. Von dieser Ausnahme abgesehen, darf sich der Gesetzgeber aber auch darauf beschränken, den Eigennutzen der Mehrheit zu maximieren. Elys Theorie enthält für Bürger und Politiker keinen Anreiz, materiale Gerechtigkeitsmaßstäbe oder Bürgertugenden zu verfolgen. Grundsätzlich verpflichtet Elys Theorie die politischen Akteure also weder auf die Maximierung des eigenen Nutzens noch auf die Verfolgung übergeordneter Ziele, etwa von Tugenden oder Werten. In deskriptiver Hinsicht könnte Elys Theorie jedoch die Annahme zugrunde liegen, daß Individuen und Gruppen vorrangig die Maximierung ihres Nutzens anstreben und sich dabei von ihren egoistischen Präferenzen leiten lassen. Zunächst ist an Elys Aussage zu erinnern, wonach Demokratie angewandter Utilitarismus sei 2 0 3 . Deutlicher wird die Orientierung der politischen Akteure an Präferenzen, wenn man an Elys Bild vom „politischen Markt" denkt 204 . Der Markt ist kein Ort der Tugend, der Werte oder der Gerechtigkeitsdiskurse, sondern das Forum der Interessen 205. Das Input in den politischen Prozeß, der bei Ely grundsätzlich eine „black box" bleibt, besteht vielleicht auch aus Wertvorstellungen, die sich in altruistische Präferenzen übersetzen können, in erster Linie jedoch aus selbstbezüglichen Interessen der Individuen und Gruppen, die in ihrer Intensität und Richtung bestimmbar sind und die im Gesetzgebungsverfahren vom Repräsentanten registriert und verrechnet werden. Ely bezieht Repräsentation auf das „Wohlergehen" der Mitglieder einer Gruppe 206 . Das kann man so verstehen, daß Repräsentation vor allem an ichbezogene Interessen gekoppelt ist. Auch der sozialpsychologische Mechanismus des Vorurteils beeinträchtigt nach Ely primär das egoistische Nutzenkalkül und höchstens sekundär die Vernünftigkeit des politischen Diskurses. Denn es blendet die Teilnehmer in der Wahrnehmung gleichgerichteter Interessen. Umgekehrt koaliert die werdende Mehrheit mit der Minderheit nicht aus moralischen, altruistischen Gründen oder aus Einsicht in die Uberzeugungskraft von Argumenten, sondern aufgrund ihres Eigeninteresses, das auf den Gewinn der Stimmen gerichtet ist, die ihr die Minderheit für eine Gegenleistung „verkauft". Abgesehen von der Repräsentation als Bündelung egoistischer Wählerinteressen ist auch das egoistische Interesse der Volksvertreter an ihrer eigenen Wiederwahl zu nennen, das in Elys Darstellung zuweilen als eine alles übrige in den Hintergrund drängende Motivation auftritt 207 .
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Sein utilitaristischer Ausgangspunkt ist jedoch nur von begrenzter Aussagekraft, weil in die Maximierung des Gesamt- oder Durchschnittsnutzens grds. auch die Befriedigung von altruistischen Präferenzen, z. B. durch die Realisierung bestimmter Werte, an denen der Einzelne festhält, einfließen kann. 204 Ely, S. 103. 205 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 469, 518 (1981), zum „forum of principle". 206 Vgl. Ely, S. 157, der mehrfach von „welfare" spricht. 207 Vgl. z. B. Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 8. Ely geht davon aus, daß der Repräsentant um des Machterhalts willen den freien Zugang zum politischen Prozeß blockiert und im Interesse „seiner" Mehrheit Minderheiten diskriminiert. Ähnlich wie hier Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 269.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
All dies legt es nahe, den politischen Prozeß, wie er „Democracy and Distrust" in deskriptiver Hinsicht zugrunde liegt, als pluralistisches Modell konkurrierender Interessen anzusehen, das auf politischen Tauschhandel („bargaining") 208 und strategische Kompromisse gegründet ist 2 0 9 und in dem auf Maximierung ihres Nutzens erpichte Individuen und Gruppen ihre egoistischen Präferenzen verfolgen. Auch wenn zahlreiche Indizien in diese Richtung weisen, ist aber bei der abschließenden Einschätzung Vorsicht angebracht. Denn in einer späteren Aussage scheint Ely mehr Raum für altruistisches, wertgebundenes, vernunftgeleitetes und tugendhaftes Handeln der politischen Akteure zu lassen, als es die gerade dargelegte Festlegung auf ein egoistisches Interessenmodell erwarten läßt: „Ich habe Pluralismus nie als etwas angesehen, das einer annähernd vollständigen Beschreibung der Art und Weise, in der Gruppen in den Vereinigten Staaten interagieren, nahe kommt [ . . . ] . " 2 1 0
Immerhin läßt sich aber ein Ubergewicht des egoistischen Interessenmodells ausmachen. Deshalb will die scharfe Distanzierung, die Ely hier im nachhinein vorgenommen hat, nicht recht überzeugen.
2. Klassischer und geläuterter Pluralismus Wenn also Elys Theorie pluralistische Züge aufweist, so stellt sich die Frage, wie man diese angesichts eines „starken Pluralismus von Pluralismuskonzeptionen" 2 1 1 trennschärfer fassen kann. Hierzu lassen sich im Anschluß an Brugger zwei idealtypische Modelle unterscheiden 212. Beim klassischen oder - nach Brugger - radikalen Pluralismus steht die Fähigkeit des politischen Prozesses zur Selbstregulierung ganz im Vordergrund 213. Die Vielfalt der Gruppen und deren gesunde Konkurrenz untereinander garantieren als solche, daß sich die Produkte des Verfahrens mit dem Gemeinwohl identifizieren 208
So Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 86: „Ely betrachtet den politischen Prozeß nach dem geläufigen Modell von Pluralismustheorien, das Politik als einen Bargaining-Prozeß sozialer Interessengruppen deutet." (Nachw. weggelassen) Überblick und Nachw. zur Tauschtheorie bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 276 ff. 209 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 331 f. 210 Ely, On Constitutional Ground, S. 17. 211 Brugger, Staat 29 (1990), S. 501; zustimmend Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 115. 212 Die folgenden Ausführungen schließen vor allem an Brugger, Radikaler und geläuterter Pluralismus, Staat 29 (1990), S. 497 ff., und Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 113 ff., an. Vgl. auch Brugger, Theorie und Verfassung des Pluralismus. Zur Legitimation des Grundgesetzes im Anschluß an Ernst Fraenkel, in: ders., Legitimation des Grundgesetzes aus Sicht von Rechtsphilosophie und Gesellschaftstheorie, S. 273 ff. 213 Ausführlich zum klassischen Pluralismus Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 116 ff. (Zusammenfassung auf S. 124).
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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lassen. I m vorliegenden Zusammenhang ist vor allem die anti-etatistische Konnotation des klassischen Pluralismus von Interesse, weil sich diese auch gegen die Verfassungsgerichtsbarkeit richten k a n n 2 1 4 . Da das Marktmodell mehr oder weniger von selbst zu einem Gleichgewichtszustand unter den Gruppen führen und auf diese Weise das Gemeinwohl verwirklichen soll, sind staatliche Eingriffe in den politischen Prozeß regelmäßig nicht erforderlich. Staat und Verfassung sind zwar nicht gerade überflüssig, garantieren aber lediglich Rahmenbedingungen, die sich auf die Inhalte der Politik grundsätzlich nicht auswirken 2 1 5 . Demgegenüber zeichnet sich geläuterter Pluralismus ungeachtet seiner zahlreichen Varianten dadurch aus, daß eine staatliche, verfassungsmäßige und insbesondere verfassungsgerichtliche Erweiterung und Läuterung des politischen Prozesses für notwendig erachtet w i r d 2 1 6 . Sinn dieser Läuterung kann es zum Beispiel sein, die Funktionsbedingungen des Pluralismus aufrechtzuerhalten. In Frage kommt aber auch die qualitative Verbesserung der Resultate des politischen Prozesses i m Hinblick auf materiale Maßstäbe der Gerechtigkeit. Diese bilden ein breites Spektrum, das je nach Schattierung der Theorie etwa von prozeduraler Fairneß über 214 Dazu Brüggen Staat 29 (1990), S. 500 f.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 125, 129, vgl. auch S. 147 ff. Daneben hat der klassische Pluralismus auch eine anti-totalitäre Komponente, auf die es hier nicht ankommt, und eine im einzelnen kontroverse anti-liberale Bedeutungsschicht, mit der unstreitig zumindest die Kritik an einer atomistischen, hyperindividualistischen Gesellschaftskonzeption gemeint ist, die dem Bild eines sozial geprägten und in Gemeinschaften eingelassenen Menschen widerspricht. Vgl. Brugger, ibid., S. 500 f. mit Fn. 17; anders und kritisch Haltern, ibid., S. 125 f., 150, 161, 164, der Liberalismus und Pluralismus für grundsätzlich unvereinbare Konzeptionen hält. Bei Ely sind Liberalismus und Pluralismus symbiotisch miteinander verbunden. Die pluralistisch strukturierte Gesellschaft liefert die Inhalte der Politik, deren Funktionsbedingungen die liberale Verfassung sichert, zum Beispiel indem sie die Meinungsfreiheit und die für Interessengruppen essentielle Vereinigungsfreiheit gewährt. 215 Deutlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 123: „Der Schutz der Gesellschaftsordnung findet dementsprechend nicht in erster Linie durch Konstitutionalismus statt." (Fußnote weggelassen) 216 Vgl. dazu Brugger, Staat 29 (1990), S. 501 f. m. Fn. 23; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 183; ders., Grundrechte, S. 2 f., 352 f. Fn. 30,422 Fn. 71; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, etwa S. 157 ff., 164 ff., der dieses Phänomen unter der Rubrik des „Progressivismus" kritisch abhandelt; beide mit umfangreichen weiteren Nachweisen. Die Erweiterung und Läuterung der öffentlichen Meinungen vollzieht sich nach Madison im „Federalist Nr. 10" durch die Repräsentanten des Volkes, soweit diese durch ihre Weisheit, Wahrheitsliebe und ihren Patriotismus imstande sind, das Gemeinwohl zu erkennen. Angemerkt sei, daß Madison diesem Idealbild sogleich die pessimistische Version des von Vorurteilen geleiteten, intriganten und korrupten Repräsentanten gegenüberstellt. Vgl. The Federalist Nr. 10 (James Madison), S. 50 ff. (55 f.). Brugger legt der Erweiterung und Läuterung dagegen einen umfassenderen Sinn bei, als diese Begriffe bei Madison haben. Vgl. Brugger, Staat 29 (1990), S. 502 Fn. 23. Zum einen kommt als läuternde Institution nicht nur die repräsentative (im Unterschied zur direkten) Demokratie, sondern auch eine staatliche Institution i.e.S. wie zum Beispiel das Verfassungsgericht in Frage. Zum anderen geht es nicht um eine republikanische Läuterung im Hinblick auf bürgerliche Tugenden, sondern letztlich um inhaltliche Maßstäbe der Gerechtigkeit. An diesen umfassenderen Sinn schließe ich im Text an.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Chancengleichheit bis hin zu einer sozialstaatlichen Dimension der Gleichheit reichen kann. Allen Verbesserungsvorschlägen ist gemeinsam, daß sie sich nicht allein auf die selbstregulierende Kraft des pluralistischen Marktes verlassen. In institutioneller Hinsicht läßt sich die läuternde Instanz zum Beispiel im Verfassungsgericht verorten. Ely hat sehr deutlich gemacht, daß er den klassischen Pluralismus nicht als normatives Ideal vertritt 217 , obwohl seine utilitaristische Deskription des politischen Prozesses und sein egoistisches Menschenbild durchaus zum Interessenpluralismus weisen 218 . In normativer Hinsicht zeigt sich die Distanzierung vom klassischen und die Annäherung an den geläuterten Typus, wenn man die einzelnen Elemente seiner Theorie aufschlüsselt. (1) Schon die strikte Kontrolle „spezifischer" Grundrechte und, allgemeiner gesprochen, den Konstitutionalismus kann man als Einschränkungen des klassischen Pluralismus sehen, dessen Selbststeuerung im Idealfall so gut funktioniert, daß für Grundrechte und eine Verfassung keine essentielle Funktion verbleibt 219 . Der klassische Pluralismus kann aber beides ohne Mühe konzedieren. Zum einen lassen sich „spezifische" Grundrechte als äußerste, unverfügbare Grenzen des pluralistischen Tauschhandels auffassen, denen sich die Marktteilnehmer freiwillig unterworfen haben. Zum anderen konstituieren Grundrechte als ermöglichende Bedingungen auch des klassischen Pluralismus die Freiheit und Vielfalt der Gruppen 2 2 0 . (2) Die Partizipationsoptimierung anhand der Gleichheitsklausel ist eine weitere verfassungsgerichtliche Korrektur des Marktgeschehens, die im radikalen Pluralismus nicht ohne weiteres angelegt ist. Wiederum kann man aber darauf verweisen, daß auch der klassische Pluralismus auf eine strukturelle Offenheit des politischen Marktes angewiesen ist, wenn jeder Teilnehmer auf Dauer die Möglichkeit haben soll, politische Transaktionen zu tätigen, was für die Legitimität dieses Modells entscheidend ist.
217 Vgl. Ely, S. 80 f., 135; ders., 11 Va. L. Rev. 840 Fn. 15 (1991); ders., On Constitutional Ground, S. 17 (repräsentationsoptimierende Theorie als Reaktion auf Mängel des Pluralismus im Hinblick auf Minderheitenschutz). 218 Zum Begriff des Interessenpluralismus vgl. Brugger, Grundrechte, S. 353 Fn. 30; ders., Staat 29 (1990), S. 501. 219 Brugger, Staat 29 (1990), S. 510, spricht von einem „sich mehr oder weniger naturwüchsig austarierenden Gleichgewicht der Konkurrenz". Vgl. aber einschränkend ibid., S. 503. 220 Vgl. Brugger, Staat 29 (1990), S. 509 („Sicherung der größtmöglichen Freiheit und Konkurrenz der einzelnen Individuen und Gruppen" als Staatsaufgabe im klassischen Pluralismus), 510 („Pluralismus als grundlegendes soziales Ordnungsprinzip umfaßt auch die Aufrechterhaltung der Vielfalt und Konkurrenz"). Zur Kategorie der ermöglichenden Bedingung vgl. im Hinblick auf Ely Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 85, und allg. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 189.
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(3) Elys Wende zu einer Form des geläuterten Pluralismus wird erst deutlich, wenn man den Minderheitenschutz betrachtet, der für ihn das Ungenügen des klassischen Pluralismus zu kompensieren versucht 221 : „Vor nicht allzu langer Zeit wurde die politische Wissenschaft von den Beteuerungen der pluralistischen politischen Theorie dominiert, wonach sich jede Gruppe, deren Mitgliedern nicht das Wahlrecht versagt ist, selbst schützen kann, indem sie sich in das Geben und Nehmen des politischen Marktplatzes einbringt. In neuerer Zeit sieht sich der Pluralismus jedoch einflußreichen Angriffen ausgesetzt, da die unbestreitbaren Machtkonzentrationen und Ungleichheiten unter verschiedenen konkurrierenden Gruppen in der amerikanischen Politik stärker hervorgehoben werden. Natürlich funktioniert das pluralistische Modell manchmal, und Minderheiten können sich dann in der Tat selbst schützen, indem sie politische Geschäfte machen und die Verbindungen herausstreichen, die die Interessen anderer Gruppen mit ihren eigenen verknüpfen. Aber manchmal funktioniert es eben nicht, was allein das Beispiel mehr als hinreichend beweist, wie unsere Gesellschaft ihre schwarze Minderheit behandelt hat (selbst nachdem diese Minderheit jedes offizielle Kennzeichen für Zugang zum Verfahren erlangt hatte)." 222
Im Ergebnis führt die Partizipationsoptimierung zu einer „Erweiterung" des politischen Prozesses, indem dieser für möglichst viele Gruppen offen gehalten wird. Die Repräsentationsoptimierung zugunsten der Minderheiten gleicht einer „Läuterung" des pluralistischen Verfahrens. Deshalb kann Elys Theorie nicht als reines Modell des klassischen oder radikalen Pluralismus bezeichnet werden 223 . Da andererseits die Partizipations- und Repräsentationsoptimierung nach Ely Mängel des Pluralismus kompensieren soll, wird das pluralistische Modell auch nicht aufgegeben. Die Hinwendung zum erweiterten und geläuterten Pluralismus betreibt Ely allerdings mit äußerst sparsamen Mitteln. In seiner Theorie halten sich wichtige Bastionen des klassischen Pluralismus. Dies drückt sich vor allem darin aus, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle zumindest mit dem Anspruch betrieben wird, sich auf prozedurale Fragen zu beschränken. Ely vertritt zwar keinen erkenntnistheoretischen Nihilismus 224 , wohl aber einen Skeptizismus, der den Staat mit der Konkretisierung von Gerechtigkeitsmaßstäben überfordert sieht 225 . Eine Läuterung des politischen Prozesses anhand materialer Maßstäbe soll bei ihm grundsätzlich nicht stattfinden, da er die Grundrechtskontrolle und vor allem die verfassungsge221 Brüggen Staat 29 (1990), S. 511, stellt ,,kompensatorisch[e] Maßnahmen zur Stärkung der Artikulations- und Organisationsmöglichkeiten der nicht angemessen organisierten Interessen" als Bestandteil des geläuterten Pluralismus dar, wobei auch an verfassungsgerichtliche Umsetzung zu denken sei. Er verweist dabei unter anderem auf Ely (ibid., Fn. 64). Ziel sei die „angemessene, gerechte Repräsentation der Interessen und Meinungen aller" (ibid., S. 511 - Hervorhebung weggelassen). 222 Ely, S. 135 (Fußnoten und Hervorhebung weggelassen). Die Passage ist wieder abgedruckt in: ders., On Constitutional Ground, S. 17. 223 Ebenso Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 130 f.: „Es ist wohl nicht zutreffend, Ely als klassischen oder radikalen Pluralisten einzuordnen." 224 Dazu im Zusammenhang mit radikalem Pluralismus Brugger, Staat 29 (1990), S. 513 f. 225 Siehe oben 2. Kap., zu F.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
richtliche Partizipations- und Repräsentationsoptimierung prozedural auffaßt. Dieser Skeptizismus und die Ablehnung verfassungsgerichtlicher Läuterung von politischen Inhalten verbinden ihn mit dem klassischen Pluralismus. Ungeachtet der Inkonsequenz seiner P o s i t i o n 2 2 6 setzt er sich gegenüber solchen Strategien des geläuterten Pluralismus scharf ab, die sich zwar zum Skeptizismus bekennen, dann aber doch zu einer umfassenden Läuterung des politischen Prozesses anhand von objektiven, aus Konsens, Tradition oder Moralphilosophie gewonnenen Maßstäben 227
ansetzen . Abgesehen vom begrenzten verfassungsgerichtlichen Interventionismus, der dem Programm der Fußnote 4 folgt, bleibt das Verfassungsgericht bei Ely passiv, was mit der anti-etatistischen Konnotation des klassischen Pluralismus harmoniert. Wirtschaftliche und soziale Ungleichheit identifiziert Ely zwar als wettbewerbsverzerrende Faktoren, aber eine „Verbesserung" der pluralistischen Verfahrensbedingungen unterbleibt i n s o w e i t 2 2 8 . Arme und sozial Schwache werden von Elys Minderheitenschutz nur erfaßt, soweit sie Vorurteilen und klassifizierender Behandlung ausgesetzt sind, was Ely zufolge regelmäßig nicht der Fall ist. Trotz punktueller
22 6 Es wurde schon gesagt, daß die Repräsentationsoptimierung mit einem inhaltlichen, moralischen Maßstab („gleiche Achtung und Rücksicht") operiert. Dazu noch ausführlich unten 3. Kap., B. I. 4. b) bb) (1). Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 148, der zum Fraenkelschen Neo-Pluralismus festhält, daß die Identifizierung „schützens- und förderungswürdig [er] Interessen" eine „Vision des Gemeinwohls" voraussetze, die „Kriterien materialer Gerechtigkeit" einschließe. Ely will im Ergebnis inhaltliche Läuterung, ohne den Preis für substantielle und daher angreifbare Festlegungen zu zahlen. Die inhaltliche Läuterung ist bei ihm aber auf einen verhältnismäßig kleinen Bereich, nämlich den Minderheitenschutz, beschränkt. Dadurch kommt der nachfolgend im Text angesprochene Abstand zu nichtoriginalistischen Theorien zustande, die ihrerseits auch auf pluralistischer Grundlage stehen können. 227 Deshalb ist es nicht unproblematisch, wenn Brugger, Staat 29 (1990), S. 515, 520, nach inhaltlicher Läuterung „unserer Auffassungen im Hinblick auf die Dialektik von Vorgegebenheit und Aufgegebenheit von Richtigkeitsfragen" ruft, die sich auf „Objektivationen von Legitimität und Richtigkeit" (ibid., S. 515) rückbeziehen soll, ohne das dadurch entstehende Spannungsverhältnis zu dem auch von ihm für den geläuterten Pluralismus vorausgesetzten Skeptizismus aufzuheben (vgl. ibid., S. 514). In den von ihm erwähnten „überkommenen Inhalten] und Kriterien", die „kulturell und wissenschaftlich bewährt" sind (ibid.), klingen die problematischen Elemente des Konsenses und der Tradition an, deren Verwendung im Rahmen einer Verfassungstheorie (darum geht es Brugger, vgl. ibid., S. 498 f.) eine befriedigende Antwort auf Elys Wertkritik voraussetzt. Widersprüche innerhalb des geläuterten Pluralismus erörtert ausführlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 34, 147 ff. 160 u.ö., für den sich das Problem so darstellt: „Das Gemeinwohl kann nicht einerseits Resultante der konkurrierenden ökonomischen, sozialen usw. Interessen sein und andererseits erst durch einen korrigierend eingreifenden Staat erkannt und verwirklicht werden" (ibid., S. 144 Fn. 120 m. Nachw.).
228 Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 85, meint, daß Elys Theorie auch gegen ,,sozialstrukturell[e] Asymmetrien" und für „sozialstaatliche Verbürgungen, die den Zweck haben, den Teilnehmerstatus zu schützen", mobilisiert werden könne. Ein solcher Gebrauch der repräsentationsoptimierenden Theorie (dazu unten 3. Kap., B. I. 5. d]) widerspräche jedoch Elys Intention, was Gerstenbergs Darstellung nicht deutlich macht.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Läuterung wird der Pluralismus bei ihm also nicht etwa sozialstaatlich gewendet. Überhaupt stellt die mangelnde Durchsetzungsfähigkeit im pluralistischen Prozeß bei Ely nicht per se einen Auslöser für verstärkten verfassungsgerichtlichen Schutz dar, worauf noch zurückzukommen ist 2 2 9 . Die Folgen einer in den USA massenhaften Wahlenthaltung für die demokratische Legitimation thematisiert Ely in „Democracy and Distrust" nicht 2 3 0 . Auf liberaler Grundlage gedeutet ist die Ausübung des Partizipationsrechts freiwillig. Folglich ist die Enthaltung in dieser Lesart eine konkludente Billigung der Mehrheitspolitik 2 3 1 . Im klassischen Pluralismus wird mangelnde Partizipation mit dem angeblich vorhandenen Wertkonsens entschuldigt 232 . Einen das pluralistische System tragenden und integrierenden Grundkonsens 233, der den zentrifugalen Tendenzen eines auf egoistische Gruppen fixierten Modells entgegenwirken soll, kann Ely auf der Basis seiner Kritik am Konsens als Quelle nichtoriginalistischer Verfassungsinterpretation freilich nicht anerkennen 234. Der jedenfalls vom klassischen235, als Objekt der staatlichen Läuterung auch vom Neo-Pluralismus vorausgesetzte Konsens 236 besteht für ihn nicht; jedenfalls soll er nicht zu operationalisierbaren Maßstäben materialer Gerechtigkeit führen. Was die pluralistische Wettbewerbsgesellschaft integriert, liegt außerhalb seines Erkenntnisinteresses. Das fehlende schlechte Gewissen gegenüber der liberalen Fiktion, die Schweigen für Einwilligung hält, teilt Ely jedenfalls mit dem klassischen Pluralismus.
229 Siehe unten 3. Kap., B. I. 6. e). 230 Elys Theorie stellt an die Quantität der Partizipation keine Anforderungen, soweit der Zugang zum politischen Prozeß keiner staatlichen Behinderung unterliegt. Vor dem Hintergrund der in den USA notorisch niedrigen Wahlbeteiligung kommt dies einem blinden Fleck gleich. Zur „Freiwilligkeit" der Wahlenthaltung siehe noch unten 3. Kap., B. II. 4. Als demokratisches Ideal verlangt Partizipation weitgehende Bürgerbeteiligung, ohne daß ihr Ausbleiben nach Elys Theorie Konsequenzen hätte. Umgekehrt dürfte Ely aber auch an wirklich massendemokratische Beteiligung keine qualitativen Anforderungen stellen. Mit dieser einseitigen Lösung umgeht Ely das vom Zivilrepublikanismus unbewältigte Problem, daß qualitativ hochwertige Deliberation i.d.R. auf einen elitären Zirkel aktiver Bürger beschränkt sein wird, was wiederum dem Ideal breit gestreuter Bürgerbeteiligung zuwiderläuft. Vgl. dazu Haltern, Staat 40 (2001), S. 260 f.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 57 f. Aus Elys Sicht ist auch nichts dagegen einzuwenden, daß sich Politik auf die Kaste der Berufspolitiker verengt, was dem republikanischen Ideal des „self-government" widerspricht. 231 Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 133 f. 232 Auf diesen Aspekt weist Haltern, ibid., S. 56, 124, 133 hin. 233 Mit Griwdkonsens ist hier ein Konsens gemeint, der einen Gleichgewichtszustand im pluralistischen System ermöglicht, obwohl Konsens im Einzelfall angesichts divergierender Interessen regelmäßig fehlen wird. 234 Vgl. Ely, S. 63 ff. Zum Konsens im geläuterten Pluralismus Brugger, Staat 29 (1990), S. 506 f. Zur Kritik des Konzepts der Integration durch Konsens vgl. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 121 f., 134 ff., 276 Fn. 9; ders., Integration als Mythos, JöR N.F. 45 (1997), S. 31 ff. 235 Vgl. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 122 f. 236 Vgl. ibid., S. 145 (zu Fraenkel); Brugger, Staat 29 (1990), S. 506 f. 9 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Faßt man zusammen, so soll die Selbstbeschränkung auf prozedurale Erweiterung und Läuterung des politischen Prozesses dem klassisch-pluralistischen Ringen der Gruppen um Macht so viel Freiraum wie möglich lassen. Damit stellt sich Elys Theorie in normativer Hinsicht als ein Modell des moderat geläuterten Pluralismus dar.
3. Partizipations- und Repräsentationsoptimierung als Elemente diskursiver Demokratie? Aus der Perspektive der deliberativen Demokratie kann man die bisherigen Erkenntnisse zu Elys Politik- und Demokratieverständnis wie folgt zusammenfassen. Wenn Elys Theorie den politischen Prozeß in normativer Hinsicht nicht auf die Verfolgung egoistischer Interessen festlegt und dieses Modell auch in deskriptiver Hinsicht nicht absolut setzt, so läßt dies dem politischen Prozeß theoretisch durchaus Raum für Deliberation und Diskurs. Grundsätzlich stellt Ely jedoch an die Qualität und Rationalität des Partizipationsaktes weder inhaltliche noch prozedurale Anforderungen 237. Jedes Interesse, jeder Partizipationsakt zählt gleich viel, wobei es aus verfassungsgerichtlicher Sicht nach Ely nicht darauf ankommen soll, ob dieser wohlüberlegt, begründet oder vernünftig ist. Eine Ausnahme betrifft das Verbot von Vorurteilen als verfassungswidriger Motivation. Eine weitere wichtige Ausnahme stellt er mit dem Gebot des offenen Verfahrens auf 2 3 8 . Offenheit und Vorurteilslosigkeit sind für sich genommen notwendige, aber keine hinreichenden Bedingungen deliberativer Demokratie. Folglich ist eine Konzeption deliberativer Demokratie bei Ely nicht nachweisbar 239. Soweit Ely durch die Gestaltung von Verfahrensbedingungen letztlich richtige, wahre und gerechte Ergebnisse erreichen will, sucht man bei ihm vergebens nach einer prozeduralen Theorie der Gerechtigkeit, die dieses Vorgehen flankieren könnte 240 .
4. Ergebnis Ely begreift den politischen Prozeß als pluralistisch strukturiert. Seine Theorie schließt es dabei weder in deskriptiver noch in normativer Hinsicht aus, daß sich Gruppen und Individuen im politischen Prozeß auch an materialen Werten orientie237 Auch bei Ely, 11 Va. L. Rev. 879 (1991), ist die Qualität der legislativen Beratung gleichgültig. Das Produkt des Verfahrens müsse jedoch „considered" sein. Das ist aus diskurstheoretischer Sicht eine sehr vage formulierte und überdies mit simpler parlamentarischer Beratung zu erfüllende formale Anforderung. 238 Vgl. Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2054 (1994), die Dialog, Deliberation und Offenheit als zentristische Strategien der Konfliktbewältigung in der Legal Process-Schule auffassen, der auch Ely zuzurechnen ist. Siehe dazu oben 2. Kap., zu C. 239 Zum folgenden siehe auch unten 3. Kap., C. II. 240 Siehe aber zu einem diskurstheoretischen Anschluß an Ely unten 3. Kap., C. II.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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ren oder um prozedurale Rationalität bemühen. In deskriptiver Hinsicht vermittelt Ely aber ein Bild, das den politischen Prozeß weniger als wert-, prinzipien-, Vernunft- oder tugendgeleitete Deliberation sieht, sondern mehr als Marktplatz der egoistischen Individual- und Gruppeninteressen und als Ort der „Konkurrenz strategisch handelnder kollektiver Aktoren um den Erhalt oder den Erwerb von Machtpositionen" 241 . Elys Verfassungstheorie transzendiert den klassischen Pluralismus und verfolgt durch Partizipations- und Repräsentationsoptimierung eine eng umgrenzte Strategie der - angeblich rein prozeduralen - „Erweiterung" und „Läuterung" (Brugger) des politischen Prozesses, deren Umsetzung dem Verfassungsgericht obliegt. Vor allem Elys ausgeprägter - wenn auch inkonsequenter - Rechte-Skeptizismus hält die Verbindung zum klassischen Pluralismus aufrecht. Zwar besteht Elys Theorie auf Offenheit und Vorurteilsfreiheit des Verfahrens. Diese Verbesserung der pluralistischen Ausgangsbedingungen genügt aber noch nicht, um die repräsentationsoptimierende Theorie als ein Frühstadium deliberativer oder diskursiver Demokratiemodelle zu bezeichnen.
III. Flucht des Gesetzgebers aus der Verantwortung Verfassungsgerichtliche Kontrolle zur Optimierung des politischen Prozesses hat bei Ely ebenso wie in Fußnote 4 Ausnahmecharakter. Daraus kann man schließen, daß Funktionsstörungen im Bereich der Partizipation und Repräsentation von Minderheiten punktuelle Probleme sind, während der politische Prozeß im übrigen einwandfrei funktioniert. Ein Jahrzehnt nach „Democracy and Distrust" hat Ely diese Prämisse radikal in Frage gestellt 242 . Der Kongreß delegiere seine gesetzgeberischen Aufgaben mehr und mehr an die übermächtige Exekutive 243 oder an parlamentarische Unterausschüsse244, um so der politischen Verantwortlichkeit zu entfliehen 245 . Das Parlament gehe schwierigen und schmerzlichen Entscheidungen systematisch aus dem Weg, um die Wiederwahl nicht zu gefährden. Die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit der Gesetze beim Rationale-Basis-Test sowie die grundsätzliche Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf die Input-Ebene und auf Verfahrensfragen beruhen aber auf der Annahme, daß der Gesetzgeber die wichtigen inhaltlichen Entscheidungen selbst trifft. Ely gesteht daher ein, daß der Rückzug des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung und deren Abwälzung auf die Exekutive das Fundament seiner Theorie zu beschädigen drohen. Aus 241 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 331. 242 Ely , Another Such Victory: Constitutional Theory and Practice in a World Where Courts Are No Different From Legislatures, 77 Va. L. Rev. 833 ff., insb. 855 ff. (1991). 243 Damit sind der Präsident sowie die Bundesbehörden gemeint. 244 Ely , 77 Va. L. Rev. 878 (1991), spricht von „subcommittee government". 245 Vgl. dazu bereits Ely, S. 131 f. 9*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
diesem Befund zieht er aber selbstverständlich nicht den Schluß, daß nunmehr das Verfassungsgericht berufen sei, an Stelle des Gesetzgebers Politik zu betreiben 2 4 6 . Vielmehr fordert Ely nun noch nachdrücklicher als bereits in „Democracy and Distrust", daß das Verfassungsgericht das Parlament in den politischen Prozeß reintegrieren müsse 2 4 7 , damit dieser wieder die legitimatorische Funktion übernehmen könne, die Grundlage der repräsentationsoptimierenden Theorie s e i 2 4 8 . Dies ist zwar konsequent, doch bleibt die Frage unbeantwortet, was geschehen soll, solange diese verfassungsgerichtlichen Anreizmechanismen noch nicht entwickelt sind und greifen 2 4 9 . Einstweilen scheint Elys Theorie aus Gründen demokratischer Verantwortlichkeit verfassungsgerichtliche Zurückhaltung gegenüber einem Gesetzgeber zu fordern, der die demokratische Verantwortung scheut 2 5 0 . Damit tritt Elys normative Begründung („Der politisch verantwortliche Gesetzgeber soll in der Demokratie alle wichtigen Entscheidungen treffen") in einen gewissen Widerspruch zu seiner implizit vorgetragenen funktionellen Begründung („Der Gesetzgeber ist der beste Ort, um kontroverse politische Fragen zu entscheiden"), was Ely immerhin selbst als „Paradoxie" bezeichnet h a t 2 5 1 .
246 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 833 f. m. Fn. 4, 864, 879 (1991). Immerhin geht Ely, ibid., S. 842 ff., insb. 865 ff., von einer Erhöhung der demokratischen Legitimation des Verfassungsgerichts infolge eines zunehmend politisierten Ernennungsverfahrens aus. Dies veranlaßt ihn aber nicht, seine Position aufzugeben, vgl. deutlich ibid., S. 854 Fn. 57. 247 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 878 f. (1991). Besonders deutlich ibid., S. 867 Fn. 103 (unter [3]): „It is the point of the instant Article that the proper role of the courts is not to take the business of legislating over for them but rather to get them back into it." 248 Als ein Instrument zur Durchsetzung dieser Strategie befürwortet Ely, S. 132 ff., in „Democracy and Distrust" eine Wiederbelebung der non delegation-Doktrin, die an den deutschen Parlamentsvorbehalt erinnert. Damit würde er in seine Theorie einen weiteren aktivistischen Baustein einfügen, der allerdings aus historischer Sicht ähnlich negative Assoziationen wie „substantive due process" im Sinne von Lochner hervorruft, vgl. Ely, S. 132 f. Denn das Delegationsverbot blockierte die Sozialgesetzgebung des New Deal, weil sie dem Ausbau der Bundesbehörden entgegenstand. 249 Nicht unerwähnt bleiben soll, daß Ely hier auf seine neueren Arbeiten zu den „war powers" in der Gewalten verschränkung von Präsident und Kongreß verweist, vgl. ders., 11 Va. L. Rev. 879 (1991) m. Nachw. in Fn. 149; ders., On Constitutional Ground, S. 143 ff. 250 Der wahltaktisch motivierte Rückzug des Gesetzgebers aus der politischen Verantwortung ist freilich nur ein Aspekt aus der Schwächung des parlamentarischen Verfahrens. Die Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses als Prämisse des partizipationsorientierten Ansatzes wird auch durch die nachlassende Steuerungsfähigkeit des Rechts in der postindustriellen Gesellschaft in Frage gestellt. Diese Frage diskutiert Ely nicht (vgl. aber die Hinweise bei Ely, S. 133). Dazu allg. Grimm, Die Zukunft der Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 399 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 516 ff.; Calliess, Prozedurales Recht, etwa S. 60 ff. 251 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 879 (1991), der den Widerspruch mit der Reaktivierung des politischen Prozesses durch das Verfassungsgericht lösen will, wie dies im Text beschrieben ist.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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H. Elys Theorie zwischen Zurückhaltung und Aktivismus Ely macht deutlich, daß er die Kategorien aktivistisch / restriktiv 252 nicht normativ verstehen will: Das Verfassungsgericht dürfe sich weder die Rolle des „liberalen Beschleunigers" noch die der „konservativen Bremse" anmaßen253. Als isolierte normative Forderung macht der Ruf nach Aktivismus bzw. Zurückhaltung in der Tat keinen Sinn. Die Dichotomie ist aber nützlich, um eine Verfassungstheorie zu beschreiben. Soweit Ely dabei einen Zusammenhang von Zurückhaltung und Originalismus einerseits sowie Aktivismus und Non-Originalismus andererseits bestreitet 254, vermag dies kaum zu überzeugen. De facto gehen originalistische Verfassungstheorien typischerweise mit einer Begrenzung des Verfassungsgerichts einher, während Non-Originalismus im Regelfall eine vergleichsweise aktivere Rolle für das Verfassungsgericht bereit hält. Ausgangspunkt verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung ist bei Ely die Beschränkung auf spezifisches Verfassungsrecht, die im ersten Absatz der Fußnote angelegt ist 2 5 5 . Zwar enthalten die Generalklauseln wie erwähnt eine Delegation zur Konkretisierung, jedoch darf das Verfassungsgericht von ihr grundsätzlich keinen Gebrauch machen, weil dies den Vorrang demokratischer Selbstbestimmung verletzen würde. Immerhin ist Ely insoweit kein typischer Vertreter verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung, als bei ihm eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation auf das historisch Gewollte oder die historische Bedeutung fehlt. Eine restriktive Tendenz kommt aber im Skeptizismus gegenüber moralisch begründeten Rechten zum Ausdruck, auch wenn Ely diesen nicht konsequent durchhält. Die kategorische Ablehnung neuer, ungeschriebener Grundrechte - mit Ausnahme des Grundrechts auf „equal concern and respect" - ist das wichtigste Element verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung in Elys Theorie. Das wichtigste aktivistische Element in seiner Theorie ist der Minderheitenschutz, weil Ely mit dem zentralen Tatbestandsmerkmal des Vorurteils sowie dem Recht auf gleiche Achtung und Berücksichtigung neue Fallgruppen verdächtiger Klassifizierung zu erschließen sucht. Die Garantie gleichberechtigter Partizipation, wie sie im zweiten Absatz der Fußnote 4 zum Ausdruck kommt, beinhaltet aus heutiger Sicht wenig Neues. Zu erinnern ist aber daran, daß die Theorie aktivistische Entscheidungen des Warren Court im Bereich der Wahlrechtsgleichheit und 252 Zu Zurückhaltung / Aktivismus vgl. die Beiträge im Symposium, 1 Harvard Journal of Law & and Public Policy (1984); Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 232 ff.; Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 15 f., 20 ff., 39, 51 ff. 2 53 Ely, S. 70. 2 54 Vgl. Ely, S. 1 Fn. *. 255
Zu erinnern ist hier auch an James Bradley Thayer als den Begründer verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung, nach der nur eindeutige Verfassungsverstöße kontrollierbar sind. Vgl. dazu Sunstein, One Case at A Time, S. 6, 8 (m. nachf. Zitat), der zu Elys Theorie festhält: ,,[T]he idea of democracy-reinforcement creates a great deal of space for the rule of clear mistake in those cases in which no democratic defect is at stake".
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
der politischen Grundrechte abstützt, die zur ihrer Zeit keine Selbstverständlichkeit waren. Somit steht der erste Absatz der Fußnote 4 und der entsprechende Teil von Elys Theorie für Zurückhaltung, während der zweite und dritte Absatz aktivistische Chiffren sind. Die Theorie zeigt dem Beobachter einen Januskopf, der restriktiven Skeptizismus gegenüber neuen Grundrechten und aktivistischen Schutz von Minderheiten verbindet. Im ganzen ist die Theorie aktivistischer als der Originalismus und restriktiver als der Non-Originalismus 256. Die Literatur charakterisiert Ely als „Zentristen" 257 . Dies bringt - abgesehen von der damit verbundenen Zuordnung zur Legal Process-Schule 258 - die Mittelstellung zwischen Originalismus und Zurückhaltung einerseits sowie Non-Originalismus und Aktivismus andererseits gut zum Ausdruck. Hält man das Potential des Minderheitenschutzes in Elys Theorie für gering 259 , dann neigt sich die Waage insgesamt auf die Seite des „judicial restraint". Elys Theorie ist dann primär eine Theorie zur Begrenzung verfassungsgerichtlicher Macht 2 6 0 .
J. Verfassungspolitische Konsequenzen von Elys Theorie An eine Theorie, die sich in ihrer praktischen Anwendung selbst als wertneutral versteht, darf man legitimerweise die Frage stellen, ob sie im politischen Sinne mehr zu konservativen oder mehr zu liberalen Ergebnissen tendiert. Damit soll nicht unterstellt werden, daß Ely mit seiner Theorie bestimmte politische Ergebnisse erzielen will. Es besteht kein Grund, an seinem guten Glauben an das Ideal einer Trennung von (Verfassungs-) Recht und Politik zu zweifeln 261 . 256
Unter Vernachlässigung aller Feinheiten kann man sagen, daß Elys prozessuale Theorie zwischen einem minimalisierenden Verfassungsverständnis, das vom Text und dem historischen Willen oder Verständnis geleitet und begrenzt wird, und einem maximalisierenden Verfassungsverständnis steht, das auf Fortschreibung der von der Verfassung vorausgesetzten Letztwerte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit zielt. Vgl. allg. Brugger, Grundrechte, S. 429 f., 451. 257 Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 253 (1981); Ackerman, We The People, S. 9. 258
Vgl. Eskridge/Frickey, 107 Harv. L. Rev. 2052 ff. (1994), die Zentrismus als „moderation that seeks change without disruption, accomodation without great cost" beschreiben (ibid., S. 2054). 259 Dazu unten 3. Kap., B. I. 6. f). Skeptisch etwa Tushnet, Red, White, and Blue, S. 99 Fn. 65. 260 Ely, On Constitutional Ground, S. 25 (kursiver Text), weist den Vergleich mit James Bradley Thayer im wesentlichen zurück (vgl. aber ibid., S. 368 Fn. 30). Allerdings verdeckt seine Kritik an Thayer (dazu Ely, The Rule of Clear Mistake, in: ders., On Constitutional Ground, S. 25 ff.), daß der repräsentationsoptimierende Teil-Rückzug auf „spezifisches" Verfassungsrecht durchaus eine Affinität zur „rule of clear mistake" hat. 261
Ely, S. 1, bestreitet gleich zu Beginn von „Democracy and Distrust", daß ein notwendiger Zusammenhang zwischen Originalismus und politischem Konservatismus bestehe. So
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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Vor allem der Minderheitenschutz stellt ein liberales Anliegen dar. Das gleiche gilt für den Schutz politischer Grundrechte wie zum Beispiel der Redefreiheit 262. Darüber hinaus steht die repräsentationsoptimierende Theorie einer freiheitsmaximierenden und insoweit liberalen Interpretation der spezifischen Grundrechte der Bill of Rights nicht im Wege. Demgegenüber führt der selektive Skeptizismus, den Ely im Hinblick auf neue Grundrechte (bzw. auf deren Erkenntnis durch das Verfassungsgericht) vertritt, unverkennbar zu einer konservativen Deutung der Verfassung 263. Für neue Freiheitsinteressen, die sich typischerweise weder auf Tradition noch auf den Konsens der Mehrheit berufen können, ist in Elys Verfassungstheorie kein Platz. In der von ihm ursprünglich vertretenen Ablehnung 264 eines Grundrechts auf den Gebrauch von Verhütungsmitteln sowie in der unveränderten Zurückweisung eines Grundrechts auf Abtreibung oder auf einverständliche homosexuelle Handlungen unter Erwachsenen trifft sich Elys Theorie im Ergebnis mit der Position der römisch-katholischen Kirche. Da inhaltliche Entscheidungen im Bereich der Persönlichkeitsrechte dem politischen Prozeß überlassen sind, ist dieser dafür mitverantwortlich, ob ein konservatives oder ein liberales Resultat entsteht. Die verfassungsgerichtliche Zurückhaltung, die mit Elys Theorie verbunden ist, ist insoweit politisch neutral, als sie der Politik keine Vorgaben macht. Akzessorietät zu den politischen Rahmenbedingungen läuft allerdings auf eine Bewahrung des - liberalen oder konservativen - status quo hinaus. Insoweit hat Elys Theorie auch eine im Wortsinne konservative Tendenz. Neutral ist seine Theorie darüber hinaus insofern, als ihr restriktiver Part nicht nur liberalem, sondern auch konservativ motiviertem Aktivismus des Verfassungsgerichts einen Riegel vorschiebt 265 . Zu denken ist hier an eine Beschneidung der Kompetenzen des modernen Wohlfahrtsstaates im Sinne von Lochner 266 sowie
habe etwa Justice Black strikt zwischen seiner politisch liberalen Anschauung und seiner originalistischen Verfassungstheorie zu trennen versucht, wie Ely, S. 2, anerkennend festhält. 262 Vgl. Ely, S. 105 ff. Der Schutz der Redefreiheit kann nicht nur mit der Optimierung des politischen Prozesses gerechtfertigt werden, sondern auch mit der „Spezifität" dieses Grundrechts. 263
Goerlich, Staat 20 (1981), S. 456, spricht hier von einem „guten Konservativismus", dem „[mjodische Anrufungen von Werten" fremd seien. 264 Vgl. Elys Memorandum zu Griswold in: ders., On Constitutional Ground, S. 279 ff. Ely, S. 221 Fn. 4 vertritt diese Position nicht mehr. 265
Vgl. dazu die Befürchtungen von Scalia, A Matter of Interpretation, S. 149. Vgl. aber auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 821 ff. (1991), der gerade Scalia und anderen konservativen Richtern am Supreme Court vorwirft, daß sie entgegen ihren verfassungstheoretischen Prämissen aufgrund politischer Vorlieben zur Verfassungswidrigkeit von „affirmative action"Programmen gelangen würden. 266 Vorgeschlagen wurde z. B. ein ausufernder Gebrauch der Takings-Klausel des 5. Amendment („nor shall private property be taken for public use without just compensation"), was im Ergebnis eine solche Kompetenzbeschränkung zur Folge hätte. Vgl. Richard
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
an ein ungeschriebenes Recht auf Leben des Fötus, das gegenüber den Rechten der Schwangeren strikt durchgesetzt wird. Im Ergebnis trägt Elys Theorie durch den ausgeprägten Schutz von Minderheiten sowie von spezifischen und politischen Grundrechten deutlich liberale Züge, während dem politischen Prozeß durch den Verzicht auf unbenannte Freiheitsgrundrechte konservative Ergebnisse ermöglicht werden. Aus konservativer Perspektive geht Ely damit schon zu weit; aus liberaler Perspektive geht er nicht weit genug.
K. Zusammenfassung Faßt man Elys theoretischen Standpunkt zusammen, so ergibt sich ein differenziertes Bild: Elys Theorie trägt restriktive wie aktivistische Züge und steht dabei zwischen Originalismus und Non-Originalismus. Ely vertritt einen eigenwilligen textualistischen Non-Originalismus, wobei der Intentionalismus konsequent abgelehnt wird. Diese verfassungstheoretische Position spiegelt sich in seinem methodischen Vorgehen konsequent wider. Ely ist eigentlich Positivist, durchbricht diese Position aber nach der hier vertretenen Ansicht, wenn er die Gleichheitsklausel mit einem - von Dworkin entlehnten - moralischen Grundrecht auf gleiche Achtung und Rücksicht konkretisiert. Aus dem gleichen Grund ist Ely kein lupenreiner Utilitarist, weil - abgesehen von den spezifischen Grundrechten - seine Konzeption der Gleichheit die Nutzenverrechnung einschränkt. Ely verficht einen pragmatischen Rechte-Skeptizismus; mit Blick auf das erwähnte Recht auf „equal concern and respect" ist diese Position jedoch inkonsistent. Darüber hinaus vertritt er einen starken Gerichtsskeptizismus auf der Grundlage eines majoritätsfixierten Demokratieverständnisses. Er steht fest in der Tradition liberaler Verfassungstheorie. Zwar beruft er sich für die Repräsentationsoptimierung zugunsten von Minderheiten auf die republikanische Tradition. Dies allein stiftet jedoch keine Verbindung zum Zivilrepublikanismus. Statt dessen faßt Elys Theorie den politischen Prozeß in deskriptiver Hinsicht grundsätzlich als Marktgeschehen auf, in dem interessengeleitete Akteure ihren Eigennutzen zu maximieren versuchen, auch wenn er altruistisches, wertgebundenes und tugendhaftes Handeln nicht leugnet. Partizipationsund Repräsentationsoptimierung zielen auf eine moderate „Erweiterung" und „Läuterung" des klassischen Pluralismus. Elys Ansatz ist kein deliberatives oder diskursives Demokratiemodell, auch wenn bei ihm Offenheit und Vorurteilslosigkeit zentrale Anforderungen an das Gesetzgebungsverfahren sind. Der Rückzug des Gesetzgebers aus der Verantwortung gefährdet die Legitimationsbasis von Elys Theorie. Die repräsentationsoptimierende Theorie versucht die Trennung von Recht und Politik durch ein wertneutrales Modell prozeduraler Kontrolle umzusetEpstein, Takings: Private Property and the Power of Eminent Domain, 1985. Überblick bei Bungert, AöR 117 (1992), S. 83 f. Kritisch Dorf /Tribe, On Reading the Constitution, S. 28.
2. Kap.: Zur Analyse von Elys Theorie
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zen und steht damit in der Nachfolge der Legal Process-Schule. Dabei zeigt sie eine Tendenz zur Aufrechterhaltung des status quo, der von einem politisch liberalen oder auch konservativen Gesetzgeber geschaffen worden ist, wobei letzteres zulasten der freien Persönlichkeitsentfaltung gehen kann. Elys Theorie rekonstruiert die Rechtsprechung des Warren Court, soweit sie sich repräsentations- und partizipationsoptimierend deuten läßt, vernachlässigt jedoch deren materiale Komponente, wie sie insbesondere im Recht auf Privatsphäre zum Ausdruck kommt.
Drittes Kapitel
Zur Kritik von „Democracy and Distrust" Thema dieses Kapitels ist die Darstellung, Diskussion und Bewertung der umfangreichen Kritik an Elys Theorie, die auf dieser Grundlage ihrerseits zu bewerten sein wird. Nach einem kurzen Uberblick zur Rezeption von „Democracy and Distrust" durch die Rechtsprechung des U.S. Supreme Court (A.) wird zunächst die immanente und dann die externe Kritik erörtert (B. I. und II.). Sodann werden Ansätze in der US-amerikanischen und deutschen Literatur vorgestellt, die an Elys prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle anschließen (C.). Das Kapitel endet mit einem Ausblick auf die Zukunft der Fußnote 4 (D.) und dem Gesamtergebnis (E.).
A. Rezeption durch den U.S. Supreme Court nach 1980 Ortiz zählte im Jahre 1991 lediglich zehn Zitate in Entscheidungen des Supreme Court, die auf „Democracy and Distrust" verweisen1. Er stellte fest, daß sich der Supreme Court Elys Theorie nur gelegentlich und dann vor allem im Bereich des Föderalismus angeschlossen habe, den Ely in „Democracy and Distrust" kaum behandelt hat2. Formal betrachtet hat also Elys Werk - im Gegensatz zur Fußnote 4 3 - in der Rechtsprechung nur geringe Spuren hinterlassen4. Aber auch 1 Vgl. Ortiz, 77 Va. L. Rev. 721 Fn. 3 (1991) m. Nachw. Bemerkenswert ist insbesondere das verfassungsgerichtliche Vertrauen auf Partizipation als Garant einzelstaatlicher Kompetenzen gegenüber der bundesstaatlichen „commerce power" in Garcia v. San Antonio Metropolitan Transit Authority, 469 U.S. 528, 550 ff. (1985). Mit der Entscheidung setzte sich vorübergehend der prozedurale gegenüber dem materiellen Ansatz zur Bestimmung unantastbarer einzelstaatlicher Kernkompetenzen durch, den der Supreme Court z. B. in der in Garcia außer Kraft gesetzten Entscheidung National League ofCities v. Usery, 426 U.S. 833 ff. (1976) vertreten hatte. Vgl. jedoch erneut materiell abgrenzend U.S. v. Lopez, 514 U.S. 549 ff. (1995). Vgl. ferner für einen möglichen „dritten Weg" New York v. U.S., 505 U.S. 144 ff. (1992), und Printz v. U.S., 521 U.S. 98 ff. (1997), die auf die unzulässige Inanspruchnahme einer einzelstaatlichen Exekutive oder Legislative durch Bundesgesetz abstellen („federal commandeering"). Dazu Tribe, American Constitutional Law, S. 29 f. Fn. 6, 68 f. Fn. 68 m. w. Nachw., 124 ff., 860 ff. 2
3 Vgl. Powell, 82 Colum. L. Rev. 1087 Fn. 4 (1982), der vor 1982 mindestens 28 Zitate der Fußnote 4 in Entscheidungen des Supreme Court zählte. 4 Ein gewisser Einfluß auf die Rspr. läßt sich zur Frage der Verfassungsmäßigkeit von „affirmative action" bzw. umgekehrter Diskriminierung feststellen. Vgl. dazu Schefer, Kon-
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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bei inhaltlicher Betrachtung der Rechtsprechung nach 1980 ist Elys Theorie weder im Burger Court noch im Rehnquist Court 5 als herrschende Strömung anzusehen6. Optimierung von Partizipation und Repräsentation war zu keinem Zeitpunkt das wichtigste Ziel des Supreme Court in seiner Funktion als Verfassungsgericht 7. Darüber hinaus hat sich kein Mitglied des Supreme Court der repräsentationsoptimierenden Theorie in einer Weise verschrieben, wie dies etwa beim Originalismus der Fall ist. Gemessen an ihrer praktischen Wirksamkeit kann man daher die Theorie der Repräsentationsoptimierung sicherlich nicht als Erfolg bezeichnen. Allerdings ist nicht zu verkennen, daß sich die Rechtsprechung des Supreme Court gegen jede vereinheitlichende Deutung auf der Grundlage eines einzelnen, hinreichend konturierten Ansatzes sperrt, wie zuletzt Sunstein betont hat8. Keine der mit dem repräsentationsoptimierenden Verfassungsverständnis konkurrierenden Hauptströmungen - Sunstein nennt Originalismus, Non-Originalismus sowie verfassungsgerichtliche Beschränkung auf die Kontrolle evidenter Verfassungsverstöße (im Sinne von Thayer) - bildet „die eine" Verfassungstheorie des Supreme Court, auch wenn sich hier entsprechende Maximen einzelner Richterinnen und Richter unterscheiden lassen9. Angesichts des trotz Ernennung auf Lebenszeit fluktuierenden Personalbestands und der unterschiedlichen Standpunkte einzelner Mitglieder des Gerichts ist eine solche Festlegung auch nicht zu erwarten 10. Vielmehr zeichnet sich der Supreme Court durch einen ausgeprägten Binnenpluralismus
kretisierung, S. 262 ff.; Klarman, 77 Va. L. Rev. 753, 822 f. (1991). Ely, S. 170 ff., hält es grds. für unproblematisch, wenn sich die (i.d.R. weiße) Mehrheit selbst schade, indem sie einer Minderheit einseitige Vorteile verschaffe. Vgl. bereits ders., The Constitutionality of Reverse Racial Discrimination, 41 U. Chi. L. Rev. 723 ff. (1974). 5 Der Burger Court (1969-1986) sowie der Rehnquist Court (seit 1986) gelten allgemein als weniger aktivistisch und politisch konservativer als der Warren Court. Überblick bei Choper, S. 103 ff. (für die Zeit bis 1980); Brugger, ZRP 1987, S. 54 ff. Tribe, American Constitutional Law, S. 304, kommt im Rückblick zu einer ausgewogenen Beurteilung: ,,[T]he Burger Court worked no counter-revolution. And the Rehnquist Court, while greatly enlarging the sphere of states' rights and largely halting the expansion of personal liberties and of equal protection, has continued, perhaps surprisingly, to operate largely within the paradigm constructed by the Warren Court in the 1960s." (Fn. weggelassen) 6 Für den gegenwärtigen Supreme Court Sunstein, One Case at A Time, S. 7,9. 7 Zum Warren-Court siehe bereits oben 2. Kap., zu A. Ausführlich zum Verhältnis von Rspr. und Elys Theorie Schefer, Konkretisierung, S. 249 ff., 254 ff., 266 ff. Vgl. auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 748 ff. (1991). 8 Vgl. Sunstein, One Case at A Time, S. 7: „The Court has not committed itself to a single theory." Brugger, Grundrechte, S. XXII, 434, betont zu Recht, daß diese Nichtfestlegung (die Behauptung von) Kontinuität der Rechtsprechung trotz personeller Diskontinuität ermögliche. 9 Vgl. z. B. oben die Einleitung des 1. Teils zu den Richtern Scalia, Thomas und Rehnquist. 10 Kritisch Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 416 (1981): ,,[T]he use of a collegial Court [ . . . ] with Justices arriving and departing at irregular intervals, comes as close to guaranteeing long term incoherence as any institutional arrangement could."
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
und, wie Sunstein gerade auch für den gegenwärtigen Supreme Court nachweist, durch Pragmatismus aus11.
B. Kritik der Literatur Elys Theorie ist unter jedem erdenklichen Aspekt kritisiert worden, so daß es keine Übertreibung ist, von einer Demontage zu sprechen12. Bereits ein Jahr nach dem Erscheinen von „Democracy and Distrust" erreichte die Rezeption mit den beiden Symposien von 1981 ihren ersten Höhepunkt13. Angesichts des gewaltigen Umfangs der Kritik droht die „freundliche" Rezeption ins Abseits zu geraten, weshalb sie an dieser Stelle vorab erwähnt sei. Die Literatur ist sich einig, daß „Democracy and Distrust" ein elegant geschriebenes Meisterwerk ist. Besondere Erwähnung verdienen Elys „one-liner", mit denen er seine Argumente auf originelle Weise abkürzt 14. Trotz des lockeren Tonfalls ist die Darstellung hochgradig verdichtet. Im Lob für die sprachliche Brillanz des Werkes schwingt jedoch zuweilen der Vorwurf der Rhetorik mit 1 5 . Inhaltliches Lob gilt zumeist Elys Kritik am Originalismus und am Non-Originalismus, die für die Vertreter dieser beiden Lager eine unverändert aktuelle Herausforderung ist 16 . Gelegentlich zollt man Ely auch für einzelne konstruktive Elemente seiner Theorie Anerkennung, wie zum Beispiel für seine Analyse der verfassungswidrigen Motivation des Gesetzgebers17. Es fehlt schließlich nicht an allgemein gehaltener Anerkennung, die Elys Beitrag zur Bewältigung der „countermajoritarian difficulty" oder sein Bemühen um Stärkung des demokratisch verantwortlichen Gesetzgebers als verdienstvoll würdigt. An der überwältigenden Ablehnung der Theorie, auf die die nachfolgend darzustellende Kritik hinausläuft, vermag dieses Lob freilich nichts zu ändern.
I. Immanente Kritik an Elys Theorie Die immanente Kritik greift Elys Begründung (1.), seine methodischen Prämissen (2.) und vor allem die Durchführbarkeit seiner Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle an (3.-6.). Die Kritik an der Durchführbarkeit, für die zunächst ein 11
Vgl. Sunstein, One Case at A Time, S. 9, der allerdings von Minimalismus spricht. Ortiz , 77 Va. L. Rev. 723 (1991), spricht von „the literature of Ely-bashing". 13 Symposium : Constitutional Adjudication and Democratic Theory, 56 N.Y.U. L. Rev. 259 ff. (1981); Symposium : Judicial Review versus Democracy, 42 Ohio St. L.J. 1 ff. (1981). 14 Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 632 (1991). Vgl. etwa Ely, S. 58, 67, 85. is Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 638 (1991). 12
Vgl. Posner, 11 Va. L. Rev. 651 (1991): „As a work of criticism it is a triumphant success." 17 Vgl. dazu bereits Ely, Legislative and Administrative Motivation in Constitutional Law, 79 Yale L.J. 1205 ff. (1970). Anerkennend Tushnet, Red, White, and Blue, S. 3 Fn. 6.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Maßstab vorgestellt werden soll (3.), bezieht sich auf die Trennung von Inhalt und Verfahren (4.), auf die Optimierung des Zugangs zum politischen Prozeß (5.) und auf den prozeduralen Minderheitenschutz (6.).
7. Kritik an Elys Begründung Einwände gegen Elys Begründung 18 sind von Einwänden gegen die Durchführbarkeit seiner Theorie zu unterscheiden. Denn Begründungsmängel schaden letztlich nicht, solange seine Theorie durchführbar ist und im Hinblick auf externe Kritik immer noch mehr überzeugt als konkurrierende Ansätze19. Im folgenden ist deshalb zunächst die Schlüssigkeit seiner Argumentation zu untersuchen (a]-d]). Besonderes Interesse verdient Elys zumeist implizite Behauptung, seine Theorie ergebe sich mehr oder weniger zwangsläufig aus Text, Struktur und Geschichte der US-Verfassung oder sogar aus dem Willen des Verfassungsgebers (e]).
a) Prozedurale Deutung der US-Verfassung Ely versucht, sein prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle mit dem angeblich prozeduralen Charakter der US-Verfassung zu begründen 20. Der Hauptteil der Verfassung (Art. I bis VII) ist zwar in der Tat vorwiegend staatsorganisationsrechtlichen Fragen gewidmet. Auch enthält die Bill of Rights eine Reihe prozeduraler Regelungen, vor allem in den Justizgrundrechten. Die Literatur kritisiert deshalb auch nicht den Befund, daß die Verfassung überhaupt prozedurale Normen enthalte21, sondern die Vernachlässigung ihres materialen Gehalts22. Zunächst dürfe man nicht davon ausgehen, daß der Verfassungsgeber die konstituierenden Regeln des Gemeinwesens ohne inhaltliche Wertentscheidungen festgelegt habe23. Dem formalen Arrangement liege in vielen Fällen ein materiales Ziel zugrunde 24. So verfolge die Gewaltenteilung im organisatorisch-prozeduralen Gewand das inhaltliche Ziel der Freiheitssicherung. Auch außerhalb des Organisationsrechts treffe die Verfassung bedeutende materiale Entscheidungen. Tribe weist is Siehe oben l.Kap.,D.IV. 19 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 71 f. 20
Vgl. zum folgenden auch Brugger, Grundrechte, S. 375. 1 Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 570 f. (1981), kommt zu dem Schluß, daß sich schon anhand Elys eigener Analyse allenfalls ein gleich hoher Anteil von prozeduralen und materialen Verfassungsnormen ergebe. 22 Vgl. allg. Tribe, American Constitutional Law, S. 5 Fn. 1: ,,[A]ny theory that insists on reading the constitutional materials in a way that squeezes them whenever possible into a coherent pattern, whether philosophical or linguistic, is very likely to be misguided." 2 3 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1068 (1980). 24 Vgl. ibid., S. 1066 Fn. 9. 2
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
zum einen auf die Anerkennung von Privateigentum und Religionsfreiheit sowie auf die Abschaffung der Sklaverei hin 2 5 . Zum anderen enthielten die verfahrensorientierten Justizgrundrechte inhaltliche Entscheidungen im Hinblick auf den Schutz der Privatsphäre und die materiale Gerechtigkeit 26. Tribes Argumentation ist überzeugend. Insbesondere im Hinblick auf die Grundrechte ist Elys These unhaltbar, daß die Verfassung nahezu ausschließlich Verfahrensfragen regele 27. Im Ergebnis enthält die US-Verfassung auch materiale Entscheidungen. Sie ist keineswegs fast ausschließlich prozeduraler Natur. Elys prozedurale Lesart erscheint einseitig und ergebnisfixiert, weil sie jede materiale Deutung ausblendet, sobald eine prozedurale Deutung - und sei sie auch noch so fernliegend 28 - möglich ist.
b) Ultra-Originalismus Wenn sich Ely zugunsten seiner Theorie auf ein historisches Mandat des Verfassungsgebers beruft, ist dies zunächst selbstwidersprüchlich, da er den Intentionalismus als entscheidendes Kriterium der Verfassungsinterpretation ablehnt und ihn daher nicht als autoritative Quelle für seine Theorie in Anspruch nehmen kann 29 . Darüber hinaus ist seine Behauptung aus historischer Sicht nicht plausibel. Ely untersucht nicht, welche Verfassungstheorie die Verfassungsväter tatsächlich gewollt haben könnten. Parker weist darauf hin, daß die Entstehung der Verfassung von tiefgreifendem Dissens über die richtige politische Theorie begleitet worden sei. Schon deshalb könne Elys Demokratiekonzeption nicht einfach als historisch gewollt gelten30. Schließlich ist diese Begründung normativ unvollständig31. Selbst wenn es der Wille des Verfassungsgebers gewesen sein sollte, die Nachwelt auf eine repräsentationsoptimierende Theorie festzulegen, so würde daraus noch nicht folgen, wieso dieser Wille verbindlich sein soll. Ohne diese zusätzliche Begründung ist die Berufung auf den historischen Willen des Verfassungsgebers lediglich Rhetorik, mit der Ely einen Alleinvertretungsanspruch für seine Theorie anmeldet. 25 Vgl. ibid., S. 1065 ff. 26
Vgl. ibid., S. 1069 f., zum Schutz von Menschenwürde und Privatsphäre durch das 4. und 5. Amendment. Demgegenüber verkürzt Ely, S. 96 f., den Bedeutungsgehalt etwa des 4. Amendment, wenn er den Schutz vor willkürlichen Hausdurchsuchungen vor allem als spezielle Ausprägung prozeduraler Gleichheit behandelt. 27 Vgl. etwa Tushnet, 89 Yale L.J. 1046 (1980), der Elys Versuch, die Bill of Rights rein repräsentationsverstärkend zu deuten, mit Ausnahme des 1. Amendment für gescheitert hält. 28 Beispiele bei Ely, S. 90. Kritik unter methodischem Aspekt bei Tribe, American Constitutional Law, S. 47. 2 9 Vgl. Ely, S. 17. 30
Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 235 (1981), der es überdies für widersprüchlich hält, wenn Ely einerseits einen historischen Konsens über partizipatorische Werte bejahe, andererseits aber einen Wertkonsens in der Gegenwart bestreite. 31 Dazu noch unten 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (2).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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c) Elys Demokratieverständnis Elys Demokratieverständnis wird, obwohl es Dreh- und Angelpunkt seiner Theorie ist, nicht wirklich demokratietheoretisch untermauert 32. Schon diese eigentümliche Wortkargheit fällt in dem ansonsten zu Recht für seine Eloquenz gepriesenen Werk auf. Zwar ist das Mehrheitsprinzip unstreitig ein Bestandteil der US-Verfassung 33. Dies allein führt aber nicht zu dem von ihm implizit unterstellten Vorrang von demokratischer Selbstbestimmung, Mehrheitsherrschaft und Verfahrenswerten. Elys Demokratieverständnis speist sich zu einem wesentlichen Teil aus seinem Skeptizismus34. Dieser ist, wie die Analyse gezeigt hat, nicht frei von Widersprüchen 35. Daß sein rechtsphilosophischer Standpunkt in „Democracy and Distrust" nur ungenügend ausgearbeitet ist 3 6 , hat daher auch Konsequenzen für die Qualität seiner demokratietheoretischen Begründung. Unbefriedigend ist vor allem die Begründung, mit der seine majoritäre Demokratiekonzeption im Hinblick auf den Minderheitenschutz erweitert wird. Aus dem schillernden Konzept der „virtuellen Repräsentation" und seinen verfassungsgeschichtlichen Darlegungen zur republikanischen Tradition ergibt sich kein theoretisches Gerüst. Problematisch ist vor allem sein Umgang mit dem Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht, das er nonchalant zum Eckstein seiner Konzeption repräsentativer Demokratie macht. Ely integriert hier ein objektivistisch begründetes Gleichheitskonzept in seinen Rechte-skeptizistischen Utilitarismus. Damit verkoppelt er den Rechte-skeptizistischen mit dem Rechte-orientierten Ansatz. Man kann kritisieren, daß er es - anders als Dworkin - unterläßt, durch Argumente für die Kohärenz dieser prima facie inkompatiblen Ansätze zu sorgen. Außerdem ist es nicht nachvollziehbar, warum er eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Dworkin versäumt 37. Richards hat kritisiert, daß sich Ely in die Polemik seiner Einzeiler flüchte, weil er zu einer inhaltlichen Diskussion moralphilosophischer Positionen nicht imstande sei 38 . Diese Begründungsmängel widerlegen Elys am Rande vorge32 Verstreute Bemerkungen zum Demokratieverständnis finden sich bei Ely, S. 7, 45, 67, 78, 102. Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 9 ff., versucht diese Begründung in Erwiderung auf die Kritik nachzuholen. Vgl. auch Habermas, Faktizität und Geltung, S. 324, der zutreffend festhält, daß Elys Demokratietheorie im Hintergrund bleibe und, soweit sie überhaupt erkennbar sei, „eher konventionelle Züge" trage. 33 Vgl. Ely, S. 7. 34 Auch Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 9 ff., 11, diskutiert zwar verschiedene Begründungen für Demokratie, rekurriert aber letztlich auf den Werteskeptizismus. Grundrechte werden auch hier nicht der Demokratie als gleichwertige Idee gegenübergestellt, sondern demokratieintern als notwendige Einschränkung der Mehrheitsherrschaft gerechtfertigt. Näher dazu unten 3. Kap., B. II. 3. c) aa).
35 Siehe oben 2. Kap., zu F. 36 Dazu heftige Kritik bei Richards, 42 Ohio St. L. J. 322 (1981). 37 Diese hätte auch deshalb nahegelegen, weil Dworkin die von Ely bejahte weitreichende Befugnis des demokratischen Gesetzgebers zur Regelung der öffentlichen Moral bestreitet. Diese Befugnis ist in Elys Theorie außerdem nicht hinreichend abgestützt.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
tragene Behauptung, daß es für seine Theorie auf die rechtsphilosophische Grundlegung nicht ankomme39.
d) Funktionale Argumentation Die Kritik bezweifelt, daß Verfassungsrichter eine besondere institutionelle Kompetenz besitzen, funktionelle Mängel im politischen Prozeß zu erkennen 40. Ely mache nicht deutlich, weshalb Gerichte im Hinblick auf die Fairneß des parlamentarischen Verfahrens über besonderes Expertenwissen verfügen sollen. Gerade die Abkopplung des Gerichts vom politischen Prozeß führe dazu, daß diese Behauptung an Überzeugungskraft verliere. Elys Analyse des politischen Prozesses vermag dieses Expertenwissen schon deshalb nicht zu ersetzen, weil seine Darstellung insbesondere im Hinblick auf gesetzgeberische Stereotypen unterstrukturiert und zu kurz ist, um einem Gericht eine verläßliche Orientierung zu ermöglichen. Das funktionale Argument verkehrt sich gegen Ely, wenn geltend gemacht wird, daß Richterinnen und Richter über die Funktion des Gesetzgebungsverfahrens genauso viel oder wenig wüßten wie über fundamentale Werte, die Ely dem Verfassungsgericht vorenthalten will 4 1 . Man kann bezweifeln, daß Juristen mit den von Ely verwendeten sozialpsychologischen Schlüsselbegriffen wie Vorurteil, Empathie und Stereotypen wirklich besser umgehen können als mit einer auf Rechte oder Werte bezogenen Argumentation. In die gleiche Richtung zielt der Einwand, daß ein Mitglied des Verfassungsgerichts, das in der Lage sei, sich aus rationalen Gründen für die Theorie der Repräsentationsoptimierung zu entscheiden, auch imstande wäre, eine Rechte- oder Werte-orientierte Theorie auszuwählen und anzuwenden42. Diese Einwände sind möglicherweise der Grund, warum Ely später nur noch auf die politische Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts abgestellt hat und nicht mehr auf etwaiges Expertenwissen 43. Ely kann mit Recht darauf verweisen, daß für die Rolle des Schiedsrichters im politischen Prozeß nur ein „Outsider" in Frage komme, für den keine eigenen Interessen auf dem Spiel stünden. In komparativer Hinsicht ist es daher besser, dem Verfassungsgericht die Prüfung funktionaler Mängel des Gesetzgebungsverfahrens anzuvertrauen. Dabei handelt es sich aber nicht nur um ein funktionales Argument der institutionellen Kompetenz, sondern 38 Vgl. Richards, 42 Ohio St. L.J. 327 f. (1981). Perry, 11 Va. L. Rev. 672 (1991), spricht von „Ely's impoverished conception of the kind of normative reasoning available to judges enforcing the Constitution's open-ended provisions." (Fn. weggelassen) 39 Vgl. Ely, S. 187 Anm. 14. 40 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 578 (1981). Um die Verletzung einfacher Form- und Verfahrensvorschriften geht es hier nicht. 41 So Posner, 11 Va. L. Rev. 650 (1991). 42 Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 636 f. (1991); Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 578 (1981). 43 Vgl. Ely, S. 102 f., mit ders., 11 Va. L. Rev. 833 f. Fn. 4 (1991).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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auch um ein Argument der Fairneß, demzufolge niemand Richter in eigener Sache sein soll 44 . Das Fairneß-Argument ist für Ely gefährlich, weil es sich (auf der Grundlage eines nicht konsequent durchgeführten Rechte-Skeptizismus) auch für eine materiale Sicht von Verfassungsgerichtsbarkeit einsetzen läßt. Danach ist das Verfassungsgericht berufen, alle inhaltlichen Entscheidungen im Bereich ausdrücklich und implizit geschützter Grundrechte zu treffen, weil der Gesetzgeber über den Umfang von Grundrechten als gegenmehrheitlicher Rechte gerade nicht entscheiden soll. Im Ergebnis bleibt von Elys Behauptung, Richter seien besonders geeignet, über Fragen des parlamentarischen Verfahrens zu urteilen, nichts übrig. Seine funktionale und - unfreiwillig - Fairneß-bezogene Argumentation zur Unabhängigkeit des Verfassungsgerichts vom politischen Prozeß ist vertretbar, läßt sich aber nicht nur zugunsten der repräsentationsoptimierenden Theorie einsetzen.
e) Verfassungstheorie und positives Verfassungsrecht Mit der Behauptung des prozeduralen Charakters der US-Verfassung, der Berufung auf die Autorität des historischen Verfassungsgebers und dem Bemühen, seine majoritäre Demokratiekonzeption als einzig vertretbare und eigentlich unkontroverse Deutung von Tradition und Wesen der US-Verfassung darzustellen, erweckt Ely zuweilen unterschwellig den Eindruck, als wolle er seine Theorie als Befehl des positiven Verfassungsrechts ausweisen45. Gegen dieses Unterfangen sprechen zwei Einwände. Zum einen wäre Elys konkrete Beweisführung mißglückt, wie eine Zusammenfassung der Kritik an seiner Begründung zeigt: (1) Die Verfassung enthält nicht nur prozedurale Regeln, die zu einem prozeduralen Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle nötigen könnten46. (2) Elys Theorie kann sich nicht als Befehl des historischen Verfassungsgebers legitimieren. (3) Der Text und die Struktur der US-Verfassung führen nicht zwingend zu dem Ergebnis, daß demokratische Selbstbestimmung nach dem Mehrheitsprinzip ihr höchster Wert ist 4 7 . (4) Auch die funktionale Begründung ist nicht zwingend. Elys Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle läßt sich somit nicht aus der Verfassung „ableiten" , was ihm auch selbst bewußt sein dürfte 49 . Im Hinblick 44
Vgl. z. B. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 239 f. 45 Vgl. Ely, S. 7, 87 f., 101 f. 46 Selbst wenn die US-Verfassung rein prozeduralen Charakter hätte, wäre noch nicht ausgemacht, daß die gerichtliche Kontrolle auf materiale Weitungen und Entscheidungen verzichten kann, dazu unten 3. Kap., B. I. 4. 47 Ebenso Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 568 ff. (1981). 48 Klarman, 77 Va. L. Rev. 773 (1991) bezeichnet Elys Begründung aus positivem Verfassungsrecht als „tortured reading of the document and its history". 49 Vgl. Ely, S. 89 Fn. * a.E., 101 (Zitat): ,,[0]ur Constitution is too complex a document to lie still for any pat characterization." Vgl. ferner im Rückblick Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 399 10 Riecken
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auf die prozedurale Natur der Verfassung konzediert er nämlich die begrenzte Tragweite seines Befundes 50. Auch auf das historische Mandat des Verfassungsgebers will er sich nur in seinen „more expansive days" berufen 51. Zum anderen läßt sich keine Verfassungstheorie allein anhand des positiven Rechts legitimieren. Wenn auch repräsentative Demokratie und das Mehrheitsprinzip unzweifelhaft Bestandteile der US-Verfassung sind, so bleibt es doch kontrovers, in welchem Verhältnis diese Elemente im normativen und institutionellen Gefüge der Verfassung zu den Grundrechten und zur Verfassungsgerichtsbarkeit stehen. Jede Verfassungstheorie stützt sich auf externe, „vor-verfassungsrechtliche" Grundannahmen, um die Bedeutung des positiven Rechts zu erklären 52. Bei Ely ist dies eine bestimmte Demokratiekonzeption, die der Verfassung unterliegen soll 53 . Sein um Repräsentation, Mehrheitsherrschaft und Skeptizismus kreisendes Demokratieverständnis liefert im ganzen eine vertretbare Begründung seiner Theorie, ist aber keineswegs dem Streit entzogen54.
2. Kritik an Elys methodischen Prämissen Zur Schlüssigkeit und Transparenz von Elys methodischen Prämissen stellen sich Fragen an (1) die Zweiteilung von „spezifischem" Verfassungsrecht und Generalklauseln, (2) die sprachlichen Grundlagen seines Textualismus und (3) seinen nichtoriginalistischen Umgang mit den Generalklauseln. (1) Ely geht von einer Zweiteilung in spezifisches Verfassungsrecht und verfassungsrechtliche Generalklauseln aus und schließt damit an Fußnote 4 an 55 . Die Unterscheidung gewinnt ihre eminente Bedeutung aus der Tatsache, daß die Generalklauseln grundsätzlich nicht justiziabel 56 sind, es sei denn, daß ein historisch abge-
Fn. 4 (1981): „Neither was I so benighted as to suppose that specific elaborations of my Carotene Products premises would somehow flow from 'the true meaning of democracy'." so Vgl. Ely, S. 101. 51 Ely, S. 87. 52 Vgl. Klarman, 77 Va. L. Rev. 773 (1991), der von der Notwendigkeit spricht, eine vorverfassungsrechtliche Regel anzuerkennen, mit der die Verfassung legitimiert wird; Kay, Preconstitutional Rules, 42 Ohio St. L.J. 187 ff. (1981); Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 442 (1981); Tribe, American Constitutional Law, S. 302: „[Arguments about the legitimacy of judicial review are ultimately metaconstitutional: the relevant considerations are philosophical, historical, and political in the broadest sense." Vgl. auch Ely, S. 102, mit dem Versuch, sich gegen den antizipierten Vorwurf der Zirkularität zu verteidigen. 53 Ely, S. 4, spricht von der „underlying democratic theory of our government". Vgl. auch Ely, S. 89 Fn. * a.E. („democratic theory"), und allg. S. 77 ff. 54 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 373 f., der Elys Demokratieverständnis zu Recht als plausibel, aber nicht zwingend bezeichnet. 55 Vgl. auch Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 532 f. (1981), sowie aus intentionalistischer Sicht Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 361 ff. (1981).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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sicherter Anwendungsfall betroffen ist oder die Klausel zu partizipations- oder repräsentationsoptimierenden Zwecken eingesetzt wird. Demgegenüber unterliegt spezifisches Verfassungsrecht uneingeschränkter gerichtlicher Kontrolle. Nun steht es den Verfassungsbestimmungen nicht auf die Stirn geschrieben, ob sie spezifische oder unspezifische Normen enthalten, was die Unterscheidung als Prämisse einer Theorie problematisch macht. Die Differenzierung läßt sich nicht allein auf sprachlicher Grundlage durchführen. Ely meint zum Beispiel, daß die Anwendung der „cruel and unusual punishments"-Klausel durch den Wortlaut einigermaßen begrenzt sei 57 . Die Bedeutung des Wortes „unusual" ist aber in sprachlicher Hinsicht genauso bestimmt oder unbestimmt wie die des Wortes „equal" im 14. Amendment. Allerdings betrifft die Gleichheitsklausel alle staatliche Gewalt, während das 8. Amendment nur die staatliche Strafgewalt erfaßt. Dieser Unterschied beruht aber nicht auf einem unterschiedlich spezifischen Bedeutungsgehalt der sprachlichen Zeichen, sondern auf Unterschieden in den von ihnen bezeichneten Sachbereichen, was Ely selbst bemerkt 58. Außerdem läßt sich nicht verhehlen, daß die Worte „liberty" und „equal" im 5. und 14. Amendment in einen konkreten Textzusammenhang eingebettet sind, die den unbefangenen Leser nicht an „Generalklauseln" denken lassen. Freiheit und Gleichheit werden zu Generalklauseln, weil man sie für fundamentale Prinzipien der Gerechtigkeit hält. Im Ergebnis ist eine Unterscheidung zwischen Generalklauseln und spezifischem Verfassungsrecht als sprachliche Vorfindlichkeit nicht haltbar 59. Betrachtet man die methodische Ebene, so lassen sich die meisten angeblich spezifischen Grundrechte der Bill of Rights allein mit Text, Kontext und Entstehungsgeschichte ebensowenig wie Generalklauseln „anwenden"60. Zum Beispiel ist bei der Redefreiheit durch Text und historischen Willen des Verfassungsgebers keineswegs vorgezeichnet, welche Rede geschützt ist und welche nicht. Sicherlich wirft die Konkretisierung von „Freiheit" und „Gleichheit" besondere Probleme auf, weil sie Grundlagenprobleme von Verfassungstheorie, politischer Theorie und 56 Wie der Untertitel von „Democracy and Distrust" nahelegt („Eine Theorie gerichtlicher Kontrolle"), scheint es Ely zunächst um die Justiziabilität der Generalklauseln zu gehen. Allerdings scheint Ely den justiziablen und den rechtlichen Inhalt der Verfassung gleichzusetzen. Hierfür spricht vor allem, daß er in „Democracy and Distrust" kaum die gerichtliche Kontrolle als solche thematisiert, sondern vor allem die Reichweite und den Inhalt der verfassungsrechtlichen Generalklauseln im Wege der Interpretation zu bestimmen versucht. Soweit Ely materiale Gehalte der Verfassung wie etwa inhaltliche Versprechungen von Freiheit und Gleichheit bestreitet, gesteht er den Generalklauseln auch nicht die Qualität von Rechtssätzen zu. 57 Vgl. Ely, S. 14: „the freelancing is bounded". 58 Vgl. ibid. 59 Von einer „false »specificity'", die die Carolene-Fußnote der Bill of Rights zuschreibe, spricht Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 744 (1985). 60
Ackerman, ibid., kritisiert, daß der erste Absatz von Fußnote 4 durch die Rede vom spezifischen Verfassungsrecht das Bild mechanistischer Rechtsanwendung nahelege. Diese Kritik trifft Elys Methodik jedoch nicht. 10*
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Moralphilosophie in einer Weise berührt, wie dies bei speziellen Grundrechten nicht immer der Fall ist. Jedoch stehen die Probleme etwa der Rede- und Religionsfreiheit denen der Gleichheitsklauseln an Komplexität nicht nach 61 . Elys Konkretisierung der Redefreiheit mit Hilfe des partizipationsoptimierenden Teils seiner Verfassungstheorie zeigt, daß hier keine „Spezifität" besteht. Darüber hinaus stellen verfassungstheoretische Überlegungen nicht nur ein Hilfsmittel zur Konkretisierung der Generalklauseln, sondern auch die Grundlage der Interpretation spezifischen Verfassungsrechts dar, da sie nicht nur die Methodenwahl steuern, sondern auch entscheidende grundrechtstheoretische und -dogmatische Weichen stellen. Allerdings wäre es ein Fehlschluß, diese Parallelen zwischen spezifischen Bestimmungen und Generalklauseln zum Anlaß zu nehmen, auf das Unterscheidungsmerkmal der „Spezifität" ganz zu verzichten. Es soll hier keineswegs bestritten werden, daß sich Unterschiede in der Spezifität begründen lassen. Einige Justizgrundrechte etwa lassen kaum Interpretationsspielraum und können insoweit als spezifisch gelten. Jedoch verläuft die Trennlinie nicht einfach zwischen Freiheit, Gleichheit und dem 9. Amendment auf der einen 62 und allen übrigen Grundrechten der Bill of Rights auf der anderen Seite. Vielmehr sind komplexere Modelle heranzuziehen wie etwa die Dichotomie von Regeln und Prinzipien 63. Geht man so vor, könnte man einige spezifische Grundrechte durchaus als unspezifische Prinzipien einordnen. Will man mit Ely daran festhalten, daß als Generalklauseln lediglich Freiheit, Gleichheit und das 9. Amendment anzusehen sind, so ist dies methodisch nicht überzeugend und nur als Produkt verfassungstheoretischer Erwägungen zu rechtfertigen. In der von Ely und in Fußnote 4 vorgenommenen Unterscheidung drückt sich dann die Vorstellung aus, daß das Verfassungsgericht nicht Hüter allgemeiner Freiheit und Gleichheit sein soll, wohl aber die freie Rede und andere ausgewählte Grundrechte zu schützen hat. (2) Ely ist uneingeschränkt beizupflichten, wenn er den Text der Verfassung aus demokratischen Gründen ernst nehmen will. Jedoch vermögen nicht alle Schlußfolgerungen zu überzeugen, zu denen er auf der Grundlage seiner insoweit textualistischen Position gelangt. Wenn der Text zu einem Problem „schweigt" - zum Beispiel zum Recht der Schwangeren auf Abtreibung - kann man aus nichtsprachlichen, zum Beispiel erkenntnis- oder demokratietheoretischen Gründen vertretbarerweise den Schluß ziehen, die Verfassung erkenne das Recht nicht an. Schließt aber die Verfassung dieses Recht nicht eindeutig aus, so ist die Gegenposition in sprachlicher Hinsicht genauso vertretbar, wenn man sie mit einer schlüssi61 Vgl. z. B. Wellington , Interpreting the Constitution, S. 72: „[Adjudication involving the Bill of Rights is not dramatically different from adjudication involving less textually explicit provisions of the Constitution." 62 Die privileges or immunities-Klausel wird hier und in der folgenden Aufzählung vernachlässigt. 63 Vgl. allg. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 71 ff.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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gen Rechte-orientierten Theorie begründet. Das bloße „Schweigen" des Textes sprich: die Nichterwähnung - genügt für die Ablehnung nicht, wenn man nicht die sprachliche Bedeutung auf dem Stand der gegenwärtigen oder historischen Gebrauchsmöglichkeiten einfrieren will. Dies lehnt Ely zu Recht ab, wenn er auf die offene Formulierung und auf das Fehlen einer enumerativen Technik hinweist. Daraus folgt, daß dem von Originalisten, aber eben auch von Ely benutzten sprachlichen Argument „Recht(sgut) X steht nicht in der Verfassung und ist deshalb nicht geschützt" im Falle nicht eindeutig geregelter Fragen keine definitive Bedeutung zukommt. Soweit bei Ely Sympathie mit dieser originalistisehen Position anklingt 64 , ist dies angesichts seiner berechtigten Kritik an einem zu engen Textualismus inkonsequent. Im Hinblick auf die Abtreibung läßt sich dem Text der US-Verfassung weder zu den Grundrechten der Frau noch zum Schutz des ungeborenen Lebens eine definitive Aussage abringen 65. (3) Estreicher hat darauf hingewiesen, daß Elys nichtoriginalistische Deutung der verfassungsrechtlichen Generalklauseln nicht frei von inneren Widersprüchen sei 66 . Ely entnimmt den offenen Klauseln der Verfassung eine „Einladung" zur Konkretisierung. Angesichts seiner Fixierung auf das Problem der Gegenmehrheitlichkeit würde man aber beim 9. und 14. Amendment eigentlich eine viel engere Interpretation erwarten. Denkbar wäre eine Beschränkung auf die historisch vorbedachten Anwendungsfälle, wie sie die intentionalistische Deutung vertritt, aber auch der Rückzug auf starke verfassungsgerichtliche Zurückhaltung nach der „rule of clear mistake". Indem Ely auf eine solche Begrenzung zunächst verzichtet, macht er den Weg frei für eine ergebnisoffene - teleologische - Interpretation der Generalklauseln, obwohl dies doch gerade antidemokratisch sein soll. Nachdem Ely die Generalklauseln im ersten Schritt zu einer Delegationsnorm hochstilisiert hat, die der inhaltlichen Fortschreibung der Verfassung durch das Gericht keine immanenten Grenzen auferlegt, verengt er sie im zweiten Schritt durch die Rückbesinnung auf partizipatorische Werte. Mit diesem Trick gelingt es Ely, seine Theorie als Einschränkung der Generalklauseln darzustellen, obwohl sein Verständnis der Generalklauseln - verglichen etwa mit der intentionalistischen Deutung - von vornherein aktivistisch ist 67 . Estreicher zieht daraus den Schluß, daß Elys Wunsch
64 Vgl. z. B. Ely; S. 15 zu Roe v. Wade. Zum Originalismus siehe unten 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 65 Vgl. zu den Grenzen der Wort- und Textbedeutung auch unten 2. Teil, 3. Kap., B. I. und II. 66 Vgl. zum folgenden Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 557 ff. (1981). 67 Zu diesem Vorverständnis paßt auch, daß Ely eine Reihe von Generalklauseln umdeuten und aktivieren will, die im wesentlichen im verfassungsrechtlichen Dornröschenschlaf liegen und vom Supreme Court gemieden werden. Elys Vorschläge schreiben dabei en passant Teile der Verfassungsdogmatik um: (1) So soll die Privileges or immunities-Klausel des 14. Am. (dazu Ely, S. 22 ff.) möglicherweise die Inkorporation der Bill of Rights bewirken, wodurch deren ursprünglich nur gegen die Bundesgewalt gerichtete Grundrechte auch für die Gliedstaaten verbindlich werden
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
nach einer aktivistischen Rolle des Verfassungsgerichts die Interpretation der Generalklauseln steuere 68.
3. Kriterien
der Durchführbarkeit
Im folgenden ist zunächst zu präzisieren, an welchem Maßstab sich die Kritik an der Durchführbarkeit von Elys Theorie orientieren soll. Allgemeine Anforderungen wie Konsistenz und Klarheit sind zwar notwendige, aber noch nicht hinreichende Bedingungen für eine Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Kriterien der Durchführbarkeit lassen sich insbesondere bei Autoren der kritischen Rechtsschule wie Tushnet finden, die die Unmöglichkeit aller herkömmlichen Verfassungstheorien beweisen wollen und sich dabei auf immanente Kritik konzentrieren, weil diese unabhängig vom eigenen Standpunkt ist 6 9 . Für Tushnet kann es keine Theorie geben, die erstens der verfassungsgerichtlichen Kontrolle einen vernünftigen Anwendungsbereich eröffnet, zweitens das Gericht hinreichend begrenzt und drittens wertneutral anwendbar ist. Die Verfassungstheorie sei in einem Dilemma, weil sie strukturell außerstande sei, alle drei Bedingungen zugleich zu erfüllen 70 . Verfassungsgerichtliche Kontrolle von einiger Bedeutung führt nach dieser pessimistischen Sicht zu einer Entgrenzung und Versubjektivierung, die nicht mehr einholbar sind. An anderer Stelle umschreibt Tushnet dasselbe Problem so: Eine starke Beschränkung des Verfassungsgerichts führe zur Tyrannei der Mehrheit bzw. des nicht hinreichend kontrollierten Gesetzgebers, während eine starke Beschränkung des Gesetzgebers dem Verfassungsgericht so viel unkontrollierbare Macht verleihe, daß eine Tyrannei der Richter drohe 71 . Diese Kritik ist auch dann ernstzunehmen, wenn man Tushnets These von der Undurchführbarkeit herkömmlicher Verfassungstheorie nicht teilt und sein Entwe(bisher: Inkorporation durch die due process-Klausel im 14. Am.), vgl. aber Ely, S. 27. Zur Inkorporation siehe oben 1. Kap., C. I. 1. (2) Das 9. Amendment (dazu Ely, S. 34 ff.) soll die Gleichheitsklausel für die Bundesgewalt verbindlich machen (bisher: „umgekehrte" Inkorporation durch die due process-Klausel des 5. Am., dazu oben 1. Kap., C. I. 2., FN. 54), vgl. Ely, S. 33. (3) Die Republican Form of Government-Klausel (Art. IV See. 4, dazu Ely, S. 122 f.) will Ely, S. 118 f. Fn. *, in Verbindung mit der Gleichheitsklausel für die Kontrolle des Wahlrechts nutzbar machen (bisher: nicht justiziable Klausel). Keiner dieser Vorschläge ist für Elys Theorie von tragender Bedeutung. Sie bezeugen aber, wie ungewöhnlich aktivistisch sein Ansatz im Hinblick auf die Generalklauseln ist. 68 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 563 (1981). 69 Vgl. vor allem Tushnet, Red, White, and Blue, 1988. Eine auf inhaltliche Werte bezogene Kritik ist vom - mindestens - wertskeptizistischen Standpunkt aus, wie ihn Tushnet vertritt, ohne Überzeugungskraft. Zu Tushnets neuerem Ansatz, der auch konstruktive Elemente enthält, siehe unten 3. Kap., B. II. 1. d). 70 Vgl. Tushnet, 89 Yale L.J. 1037 f., 1057, 1061 (1980). 71
Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 313, der dies als Attacke auf die liberale Verfassungstheorie formuliert.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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der-Oder-Denken für überspitzt hält 72 . Denn er formuliert besonders deutlich Kriterien, denen eine Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle jedenfalls annäherungsweise zu genügen hat. Die Kriterien lassen sich insbesondere auf die aktivistischen Teile von Elys Theorie beziehen: (1) Die verfassungsgerichtliche Kontrolle darf nicht leer laufen, sondern muß genügend Anwendungsfälle von staatlich behinderter Partizipation und fehlerhafter Repräsentation ausweisen. (2) Elys Theorie muß die Grenzen dieser Kontrolle klar beschreiben, wobei hier auch ihr restriktiver Teil in den Blick zu nehmen ist. (3) Sie muß gegenüber subjektiven Werten des Interpreten soweit immun sein, daß sie nicht manipulierbar ist 7 3 . Das erste Kriterium macht deutlich, daß eine Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit, auf die das zweite und dritte Kriterium abzielen und die das übergreifende Thema dieser Arbeit bildet, nicht isoliert beurteilt werden darf. Im folgenden ist auf diese Kriterien zurückzukommen, soweit Elys Theorie dazu Anlaß bietet.
4. Zur Durchführbarkeit der Trennung von Inhalt und Verfahren Die Kritik macht geltend, daß die Entscheidung zugunsten von Elys Theorie entgegen seiner Darstellung nicht prozeduraler und insoweit wertneutraler, sondern inhaltlicher Natur sei (a]). Sie will Ely darüber hinaus nachweisen, daß auch die Anwendung des prozeduralen Kontrollmodells inhaltliche Entscheidungen erfordere (b]). Deshalb sei die von ihm angestrebte Trennung von Inhalt und Verfahren im ganzen undurchführbar (c]).
a) Entscheidung für Elys Theorie als wertneutraler Akt? Kann sich ein Mitglied des Supreme Court in wertneutraler Weise entscheiden, Elys Theorie zur Grundlage seiner richterlichen Spruchtätigkeit zu machen? Ely erweckt diesen Eindruck, wenn er meint, daß seine Theorie nur partizipatorische Werte durchsetze, inhaltliche Entscheidungen des Verfassungsgerichts minimiere und die gerichtliche Kontrolle auf Verfahrensfragen zurücknehme 74. Damit scheint es so, als ob die Entscheidung für ein prozedurales Modell selbst keine inhaltliche Entscheidung sei 75 . Demgegenüber stellt die Literatur fest, daß mit der Wahl von Elys Theorie eine komplexe inhaltliche Festlegung verbunden sei. Zwar kann das 72 Kritisch Brugger, 47 Am. J. Comp. L. 408 ff. m. Fn. 33 u. 36 (1994). 73 Tushnet bestreitet sicherlich nicht, daß Wertungen unumgänglich sind. Die jeweilige Theorie muß aber ausschließen, daß persönliche Überzeugungen die Entscheidung des Falls determinieren. 74 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. 75 Wertneutralität wird also im vorliegenden Zusammenhang als Abwesenheit inhaltlicher Werte verstanden, denen die repräsentationsoptimierende Theorie neutral gegenüber zu stehen glaubt, weil sie ihrem Anspruch nach allenfalls prozedurale Werte enthält.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Verfassungsgericht bei der Anwendung von Elys Theorie schwierige und in der pluralistischen Gesellschaft strittige moralische Entscheidungen im Bereich des Rechts auf Privatsphäre vermeiden. Dies gelingt aber nur, weil Ely diese Fragen zuvor, das heißt im Rahmen der Konzeption seiner Theorie, ausgeklammert hat. Darin liegt bereits eine inhaltliche Entscheidung über die „politische Moral" eines Gemeinwesens76, deren Bestandteile im Rahmen der oben durchgeführten Analyse von Elys Theorie deutlich geworden sind 77 : Das positivistisch-utilitaristische Fundament einerseits, die Zurückweisung des nackten Utilitarismus mit dem auf gleiche Achtung und Rücksicht gegründeten Minderheitenschutz andererseits, das am Mehrheitsprinzip ausgerichtete Demokratieverständnis, der Rechte-Skeptizismus, all dies sind inhaltliche Wertentscheidungen, wie sie auch konkurrierende Theorien vornehmen 78. Ely wird zwar als Zentrist bezeichnet, aber auch durch die Einnahme einer Mittelposition bezieht man Stellung. Die Auswahlentscheidung ist damit kein neutraler Akt 7 9 . Sie ist eine inhaltliche Entscheidung zugunsten einer bestimmten politischen Philosophie. Wer sich für Elys Theorie entscheidet, entscheidet sich also für die Werte der repräsentationsoptimierenden Theorie. Die Literatur knüpft hieran den Vorwurf der Inkonsistenz, der bereits in der Analyse von Elys Skeptizismus zur Sprache kam. Begreife Ely Partizipation als Wert an sich, setze er sich damit seiner eigenen Wertkritik im dritten Kapitel von „Democracy and Distrust" aus 80 . Tushnet stimmt Ely zunächst darin zu, daß in der pluralistischen Gesellschaft kein Konsens über objektive Werte bestehe, die deshalb auch nicht Grundlage einer Verfassungstheorie sein dürften 81. Gegen diese Einsicht verstoße Ely aber, wenn er Partizipation und Repräsentation als die wichtigsten Werte bezeichne82. Ferner setze sich Ely in Widerspruch zu dem von ihm selbst postulierten Verbot, Verfassungswerte mit Hilfe zeitgenössischer Moraltheorien zu ermitteln, indem er sich auf Dworkins „equal concern and respect" beziehe83. Auf die Spitze getrieben, lautet der Vorwurf, daß man sich nicht für Elys Theorie entscheiden dürfe, wenn man seine Wertkritik ernst nehme84. 76 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 512 (1981). 77 Siehe zu den im Text folgenden Punkten oben 2. Kap., unter D., E. und F. 78 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 510, 512 (1981). 79 Drastisch Parker, 42 Ohio St. L.J. 252 f. (1981): ,,[T]he theory is the manifesto of one political faith." Der Glaube beziehe sich auf den „aufgeklärten, liberalen Wohlfahrtsstaat" (ibid., S. 253), den Parker kritisiert. so Zu diesem Zusammenhang auch Tribe, 89 Yale L.J. 1071 f. (1980). 81 Vgl. Tushnet, 89 Yale L.J. 1038 m. Fn. 2, 1061 f. (1980). 82 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. Dazu Tushnet, 89 Yale L.J. 1037 f., 1045, 1047 f. (1980). Hier wird deutlich, daß Tushnet unter Wertneutralität Wertfreiheit im Sinne eines radikalen Skeptizismus versteht, während Ely prozedurale im Gegensatz zu materialen Werten für neutral zu halten scheint. 83 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 112 f. (1981). Vgl. dazu einerseits Ely, S. 82, 99, 157, und andererseits ibid., S. 58. 84 Vgl. Tushnet, 11 Va. L. Rev. 637 (1991): „If Ely is right, then his theory must be wrong."
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Allerdings kann man einen so radikalen Skeptizismus, wie er hier bei Tushnet anklingt, für überzogen halten. Letztlich enthält jede Verfassungstheorie Werte im weitesten Sinne, für die man sich entscheidet, wenn man ihr folgt. Daß die Entscheidung für Elys Theorie insoweit nicht wertneutral wäre, spricht noch nicht dagegen, sie aus inhaltlichen Gründen zu vertreten. Im Hinblick auf die Auswahl der richtigen Theorie verschiebt sich das Problem damit von der Dichotomie Inhalt/ Verfahren zur eigentlich entscheidenden Frage, welche Werte eine Verfassungstheorie richtigerweise vertreten sollte (materiale, prozedurale, traditionale etc.). Auf diese Frage ist im Rahmen der externen Kritik zurückzukommen 85. Ein radikaler erkenntnistheoretischer Skeptizismus kann sich hier als unfruchtbar erweisen, weil er letztlich keine Antwort, die zu inhaltlichen Aussagen gelangt, gelten lassen kann. Auch besteht die Gefahr, daß Kritik auf dieser Grundlage destruktive Züge annimmt 86 . Im Ergebnis ist mit der Entscheidung für Elys Theorie eine komplexe inhaltliche Festlegung verbunden, was aber unter dem Aspekt der Wertneutralität keinen Einwand gegen die Durchführbarkeit seiner Theorie begründet.
b) Anwendung des prozeduralen Kontrollmodells Im folgenden geht es um die Durchführbarkeit eines Modells verfassungsgerichtlicher Kontrolle, das sich auf die Prüfung von Verfahrensfragen zurückziehen und dabei keine inhaltlichen Entscheidungen treffen will 8 7 . Die angestrebte Trennung von Inhalt und Verfahren und die Selbstbeschränkung auf prozedurale Fragen ist ein Versuch, wertneutrale Kriterien zur Rechtsanwendung zu entwickeln, die das Verfassungsgericht hinreichend begrenzen. Wie schon erwähnt 88, bestreitet Ely nicht, daß verfassungsgerichtliche Kontrolle auch im Rahmen einer prozeduralen Theorie gewisse Wertungen beinhaltet89. Daher kann Begrenzung nicht Determination bedeuten, sondern nur, die Größe des richterlichen Ermessens bei der Anwendung seiner Theorie einzuschränken. Je besser Elys Theorie die verfassungsgerichtliche Kontrolle bindet, desto weniger Anlaß besteht, an ihrer Wertneutralität und an der Begrenzung des Verfassungsgerichts zu zweifeln. Je mehr Ermessen sie entgegen ihrem eigenen Anspruch in inhaltlichen oder prozeduralen Fragen zuläßt, desto größer wären die Zweifel an Wertneutralität und Grenzwirkung. Die Kritik hält die Abkopplung prozeduraler Entscheidungen von materialen Fragen für undurchführbar. Elys Theorie lasse sich nur mit Hilfe von inhaltlichen 85 Siehe unten 3. Kap., B. II. 86 Siehe näher unten 3. Kap., B. II. 1. a). 87 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. 88 Siehe oben 2. Kap., zu C. 89 Vgl. z. B. Ely, S. 103, der hier von »judgment calls", also Ermessensentscheidungen spricht.
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Entscheidungen anwenden und sei deshalb von einem materialen, Rechte-orientierten Ansatz nicht zu unterscheiden (aa]). Will man diese These überprüfen, so muß man im einzelnen untersuchen, wo inhaltliche Maßstäbe in das prozedurale Modell einfließen. Im folgenden werden daher der angeblich prozedurale Minderheitenschutz (bb]), die Optimierung des Zugangs zum politischen Prozeß (cc]) sowie die Grundrechtskontrolle im übrigen, die nicht die Optimierung des politischen Prozesses betrifft (dd]), auf materiale Gehalte abgeklopft. Zu berücksichtigen ist dabei auch, daß Ely seine Position nach „Democracy and Distrust" modifiziert hat (ee]). aa) Elys Theorie als materialer Ansatz Ely gibt zwar zu, daß Partizipation als Wert aufgefaßt werden könne 90 . Er meint jedoch, daß eine Theorie prozeduraler Kontrolle dem Gesetzgeber keine inhaltlichen Werte auferlege. Genau dies bestreitet die Literatur. Brest spricht davon, daß repräsentationsverstärkende und wertgebundene Kontrolle „siamesische Zwillinge" seien91. Auch für Estreicher besteht kein Unterschied darin, ob das Verfassungsgericht dem Gesetzgeber partizipatorische oder sonstige inhaltliche / fundamentale Werte vorschreibe 92. Indem Ely partizipatorische Werte aus den offenen Generalklauseln der Verfassung ableite, gehe er in methodischer Hinsicht genauso vor wie der Supreme Court in den von ihm bekämpften Entscheidungen Lochner und Roe v. Wade, die sich auf die Fundamentalität von Interessen berufen 93. Da kein Konsens darüber bestehe, was das Demokratieprinzip verlange 94, würden aus den Verfassungsrichtern unter Elys Theorie „Piatonic Guardians of Democracy", die gegenüber dem Gesetzgeber ihre eigene, inhaltliche Konzeption von idealer Demokratie durchsetzen95. Das Problem der Gegenmehrheitlichkeit werde auf diese Weise nicht bewältigt. bb) „Prozeduraler " Minderheitenschutz Das Verfassungsgericht kann nur dann behaupten, die Prozesse der Mehrheitsdemokratie zu überwachen, statt den Mehrheitswillen mit inhaltlichen Entscheidun90 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. 91 Brest, 42 Ohio St. L.J. 131 (1981). 92 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 551 (1981); ähnlich Bork, The Tempting of America, S. 194; Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 502 (1981). 93 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 551 (1981). 94 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 502 (1981). Für Wellington, Interpreting the Constitution, S. 70 f., ist das Gericht bei der Überwachung des politischen Prozesses zu hochabstrakten und philosophischen Erwägungen zum politischen System der repräsentativen Demokratie gezwungen, was dem theoriefeindlichen Charakter von Elys Theorie widerspreche. 95 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 547 (Zit.), 551, 572, 581 (1981). Ely, Democracy and Judicial Review, in: ders., On Constitutional Ground, S. 8, hält das Bild von den platonischen Wächtern der Demokratie im Hinblick auf seine Theorie für gelungen.
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gen zu gängeln, wenn es ihm gelingt, inhaltliche Urteile über die Schutzwürdigkeit von Minderheiten zu vermeiden. Die Kritik macht geltend, daß sich Inhalt und Verfahren gerade im Bereich des Minderheitenschutzes nicht trennen lassen. Zunächst ist Elys Theorie des Vorurteils ersten und zweiten Grades zu untersuchen ([1]). Sodann ist auf die Rechtfertigung verdächtiger Ungleichbehandlungen einzugehen ([2]). Schließlich sind die Konsequenzen dieser Kritik für das Problem der Gegenmehrheitlichkeit festzuhalten ([3]). (1) Das Verbot von Vorurteilen als inhaltlicher Maßstab Nach Auffassung der Kritik kann man auf inhaltliche Maßstäbe nicht verzichten, wenn man mit Elys Theorie Vorurteile im politischen Prozeß identifizieren will, um so verdächtige von unverdächtigen Klassifizierungen und damit schutzwürdige von nicht schutzwürdigen Minderheiten zu unterscheiden. Elys angeblich prozedurales, auf die Input-Seite des politischen Prozesses beschränktes Modell des Minderheitenschutzes sei in Wirklichkeit material und Output-orientiert, weil es bestimmte Ergebnisse des politischen Prozesses an einem grundrechtlichen, inhaltlichen und moralischen Maßstab messe. Die folgenden Ausführungen entfalten diese These und schließen dabei an die Erkenntnisse der Analyse an, wobei einige dort vorgestellte Argumente nunmehr genauer auszuführen sind 96 . Elys Konzeption des Minderheitenschutzes enthält einen grundrechtlichen Maßstab, weil sie den Mitgliedern der Minderheit die Abwehr von Vorurteilen erlaubt 97. Nach Ely versagt die Mehrheit der Minderheit „equal concern and respect", wenn sie aufgrund von Vorurteilen legislative Klassifizierungen vornimmt 98 . Die Verletzung des Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht wird mit Hilfe der Gleichheitsklausel sanktioniert. Der darin enthaltene Abwehranspruch ist gegenüber gemeinwohlbezogenen Erwägungen resistent, weil ihn die Mehrheit nicht unter Berufung auf ihr Interesse oder auf das Gemeinwohl zurückweisen kann 99 . Das Verfassungsgericht entscheidet damit nach Elys Theorie, welche Rechte der Einzelne als Trumpf über den politischen Prozeß hat 1 0 0 . Insoweit handelt es sich also auch bei Elys Theorie um einen Rechte-orientierten Ansatz 101 . Die Literatur greift zu Recht die Vorstellung an, daß sich das Verbot von Vorurtei-
96 Siehe oben 2. Kap., D., E. II. 97 Auch Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 425, 427 (1981), spricht hier von einem grundrechtlichen Maßstab („rights metric"). 98 Vgl. Ely, S. 157. 99 Vgl. zum letzteren Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14. 100 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 515 (1981). 101 Am deutlichsten kommt dies bei Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 425 ff., 432 (1981), zum Ausdruck, der Elys Theorie zu Recht im Kontext des Utilitarismus diskutiert. Vgl. auch Tushnet, 77 Va. L. Rev. 635 (1991) (Ely sei einer Rechte-orientierten Meta-Theorie verpflichtet).
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len allein mit Hilfe des Demokratie- oder Mehrheitsprinzips rechtfertigen lasse 102 . Dieser Einwand bekräftigt die an sich triviale Einsicht, daß an der Gegenmehrheitlichkeit von Minderheitenschutz kein Weg vorbei führt. Hiergegen könnte man jedoch zu Elys Gunsten einwenden, daß es beim repräsentationsoptimierenden Ansatz nur um ein Verfahrensgrundrecht gehe, das nicht auf eine Ergebniskontrolle hinauslaufe und weder inhaltliche noch moralische Maßstäbe enthalte. Dieser Einwand soll im folgenden widerlegt werden. Zunächst sei das Vorurteil ersten Grades betrachtet, worunter Ely Haß und Feindseligkeit versteht. Ely meint hier, alle inhaltlichen Fragen zu umschiffen, weil es zunächst nicht darauf ankommen soll, ob die Feindseligkeit berechtigt ist. Um Verfahrenskontrolle soll es gehen, weil entscheidend nicht der Inhalt des Gesetzes sei, sondern die Frage, ob die Entscheidung des Gesetzgebers durch Vorurteile motiviert sei. Erste Zweifel an dieser rein prozeduralen Sicht entstehen jedoch, wenn man bedenkt, daß das Verbot von Vorurteilen keine Verfahrensmängel im engeren Sinne betrifft, die sich auf die Zuständigkeit, den Verfahrensablauf und Formvorschriften beziehen. Vor allem aber ist man zur Beurteilung der nach Ely verdächtigen Motivation auf inhaltliche Maßstäbe angewiesen. Das inhaltliche Prinzip, an dem Ely den Gesetzgeber mißt, lautet schlicht: „Schade niemandem ohne sachlichen Grund." Als solcher kommt insbesondere die Rechtfertigung der Ungleichbehandlung im Rahmen des strikten Kontrollmaßstabs in Frage 103 . Das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht ist selbst dann ein inhaltlicher Maßstab, wenn Ely darunter weniger als Dworkin versteht 104 . Ely bemüht sich auch nicht weiter um eine prozedurale Rechtfertigung dieses Grundrechts. Die Begriffe „Achtung" und „Rücksicht" enthalten einen nicht zu übersehenden Bezug zur Menschenwürde 105, auch wenn es im amerikanischen Verfassungsrecht kein Pendant zu Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG gibt und sich Dworkin zur Konkretisierung von Achtung und Rücksicht nicht auf fundamentale Interessen einlassen w i l l 1 0 6 . Das Verbot 102 Vgl. Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 431 f. (1981) (Elys Theorie verberge einen externen, dem demokratischen Prozeß nicht inhärenten grundrechtlichen Maßstab hinter dem Begriff des Vorurteils); Klarman, 11 Va. L. Rev. 786 (1991). 103 Daneben ist an die Einschränkung des Vorurteils durch „ernsthafte moralische Gründe" des Gesetzgebers zu denken. Dazu gleich im Text. 104 Auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 785 (1991), hält es für unklar, weshalb Ely seine Prämisse der gleichen Achtung und Rücksicht als nicht-inhaltlich ansehe; ähnlich Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 579 Fn. 121 (1981). Vgl. auch Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 427, 429 (1981). Brugger, Grundrechte, S. 404, stellt zutreffend fest, daß Ely „von einem inhaltlichen Modell gleicher Selbstbestimmung ausgeht, in dem die Interessen eines jeden gerecht zur Geltung kommen sollen." (Hervorh. i.O.) 105 Vgl. insb. die Definition von Achtung und Rücksicht bei Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 439: „Die Regierung muß diejenigen, die sie regiert, mit Rücksicht behandeln, das heißt als menschliche Wesen, die des Leidens und der Enttäuschung fähig sind, und mit Achtung, das heißt als menschliche Wesen, die in der Lage sind, sich nach intelligenten Konzeptionen davon, wie sie ihr Leben leben sollten, selbst zu formen und entsprechend zu handeln" Vgl. auch ibid., S. 299 f. (zum Urzustand bei Rawls), und allg. Brugger, Grundlinien der Kantischen Rechtsphilosophie, JZ 1991, S. 894 ff.
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purer Feindseligkeit läßt sich als Bestandteil eines inhaltlichen Minimums auffassen, mit dem das Konzept der Menschenwürde konkretisiert wird. In dieser Sichtweise zeigt Elys Theorie einen auf die Menschenwürde bezogenen materialen Gehalt. Darüber hinaus kann man das Verbot der Feindseligkeit mit guten Gründen für eine ethische Norm halten 107 . So weist Richards zum einen darauf hin, daß die Gleichbehandlung im politischen Prozeß auf den moralischen Prinzipien der Universalisierbarkeit und Gegenseitigkeit beruhe: „Behandle andere im politischen Prozeß so, wie Du selbst an ihrer Stelle behandelt werden möchtest." 108 Zum anderen hat auch der schon erwähnte Bezug zur Menschenwürde eine moralische Dimension 109 . Der konstruktive Teil von Elys Theorie sei daher alles in allem eine „substantive moral theory of judicial review" 110 , obwohl inhaltliche, moralische Werturteile nach Elys eigener Kritik am Non-Originalismus unzulässig sein sollen 1 1 1 . Vor allem mit der Berufung auf „equal concern and respect" öffnet Ely die Pforten seiner repräsentationsoptimierenden Theorie einem von Dworkin gezimmerten trojanischen Pferd, in dem materiale, moralische Werte wie Gleichheit und Würde bis in das Herzstück des prozeduralen Modells vordringen. Wenn Ely über die Generalklausel „Gleichheit" einen moralischen Standard in das Verfassungsrecht inkorporiert hat 1 1 2 , belegt dies seinen inkonsequenten Rechte-Skeptizismus, der sich auch in dem inkonsequenten Vörverständnis der Generalklauseln als „Einladung" zur Konkretisierung ausdrückt. Zu Elys Verteidigung könnte man einwenden, daß das Verbot nackter Feindseligkeit eine elementare, allseitig konsentierte Fairneß-Regel darstelle, die eine inhaltliche Festlegung nur für einen minimalen Bestand moralischer Normen notwendig mache, weshalb sie mit einem auf den Schutz fundamentaler Interessen zielenden Non-Originalismus nicht vergleichbar sei. Ely lehnt jedoch den Konsens als Quelle verfassungsrechtlicher Normen ab. Im übrigen wird die Undurchführbarkeit einer rein prozeduralen Definition des Vorurteils nicht dadurch geheilt, daß die tragenden inhaltlichen Festlegungen besonders einleuchtend sind. Hält man Ely schon deshalb für einen moralischen Objektivisten, weil er das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht anerkennt, so entfällt zwar die Inkonsequenz seines Rechte-Skeptizismus. Dies hilft Ely aber nichts, weil er damit in der Auseinander106 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 510 f. (1981). 107 Vgl. auch Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 427 (1981): „To say of a given distributive act that it is undertaken in pursuit of inequality for its own sake is really to say that it is undertaken for reasons that are not compatible with basic notions of justice. " (Hervorhebung von J.R.) los Vgl. Richards, 42 Ohio St. L.J. 330 (1981). 109 Richards, 42 Ohio St. L.J. 332 (1981), spricht von der personalen Autonomie, von freien und vernunftbegabten Menschen sowie von Würde und Selbstachtung als moralischen Werten. no Ibid., S. 331. in Vgl. ibid., S. 320, 330 f. 112 Dazu allg. Brugger, AöR 119 (1994), S. 29 m. Fn. 84.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
setzung um den Inhalt moralischer Positionen bestehen müßte, hierfür aber zu wenig argumentiert. Wie Nagel zutreffend festhält, ist nicht ausgemacht, ob nicht neben Elys Gleichheit in der Repräsentation auch andere moralisch wichtige „Gleichheiten" anzuerkennen sind. Dabei sei das Recht auf gleiche demokratische Repräsentation nicht von vornherein wichtiger als die individuelle Freiheit 113 . Der inhaltliche Charakter der Vorurteilsprüfung tritt noch deutlicher hervor, wenn man berücksichtigt, daß Ely mit ernsthaften moralischen Gründen des Gesetzgebers das Kriterium der Feindseligkeit einschränkt. Zunächst ändert die tatbestandliche Einschränkung nichts daran, daß das Verbot der Feindseligkeit selbst inhaltlicher Art ist. Darüber hinaus muß bezweifelt werden, daß man allein anhand prozeduraler Kriterien feststellen kann, ob ein ernsthafter moralischer Grund vorliegt 1 1 4 . Daß Ely ernsthafte moralische Gründe grundrechtlich stets für unverdächtig hält, ist im übrigen seinerseits eine außerordentlich weitreichende inhaltliche Festlegung, die er an keiner Stelle hinreichend mit Argumenten verteidigt 115 . Eine inhaltliche Begründung wäre umso dringlicher, als Elys Unterteilung staatlichen Verhaltens grobschlächtig ist: Einerseits soll jegliche Feindseligkeit für die Verdächtigkeit genügen, andererseits genießen alle ernsthaften moralischen Urteile des Gesetzgebers verfassungsrechtliche Immunität. Es trifft also zu, wenn die Literatur Ely vorhält, daß er unter einem prozeduralen Schleier letztlich verdeckte inhaltliche Entscheidungen darüber treffe, welche Vorurteile zulässig (= unverdächtig) und welche prima facie unzulässig (= verdächtig) seien 116 . Im Ergebnis urteilt Elys Theorie über das Bestehen von Vorurteilen ersten Grades nicht allein auf prozeduraler, sondern auch auf inhaltlicher Grundlage, obwohl er vorgibt, dem Gesetzgeber keine inhaltlichen, wertbezogenen Vorschriften für den Minderheitenschutz zu machen. Auch Feststellungen zum Vorurteil zweiten Grades beinhalten nach Ansicht der Kritik inhaltliche Kriterien 117 . Ortiz unterscheidet zwischen deskriptiven Stereotypen, die Generalisierungen über die faktische Situation enthalten, und präskriptiven (bzw. normativen) Stereotypen, die ein soziales Rollenverständnis beinhalten. Wenn das Verfassungsgericht deskriptive oder normative Stereotypen des Gesetzgebers für unzulässig erkläre, weiche es von dessen Einschätzung ab, wie die Welt ist oder wie sie sein soll. In beiden Fällen ersetze das Gericht mit seiner inhaltlichen Einschätzung diejenige des Gesetzgebers118. 113 Vgl. Nagel 56 N.Y.U. L. Rev. 520, 524 (1981). 114 Dazu unten 3. Kap., B. I. 6. a). us Ebenso Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 282 (1994): „Ely, however, thinks, for reasons never set forth , that laws imposing such genuine [moral] convictions can never violate the Constitution." (Hervorhebung und Zusatz von J.R.). 116 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 140 (1981); Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 582 (1981). 117 Für Ortiz ist Elys gesamte sozialpsychologische Analyse nicht frei von inhaltlichen Wertungen. Ob zum Beispiel ausreichende Empathie vorhanden sei, könne man nur sagen, wenn man wisse, wie eine Gruppe die andere behandeln solle, vgl. Ortiz, 77 Va. L. Rev. 741 (1991).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Als Ergebnis ist festzuhalten, daß man einen inhaltlichen, moralischen, ergebnisorientierten und grundrechtlichen Maßstab benutzt, wenn man Elys Theorie des Vorurteils für den Minderheitenschutz anwendet. Insoweit ist Ely die prozedurale Zähmung der Gleichheitsklausel mißlungen 119 . (2) Inhaltliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung Die Rechtfertigung einer verdächtigen Ungleichbehandlung läßt sich nicht ohne inhaltliche Erwägungen diskutieren. Wie dargelegt 120 verlangt der bei verdächtigen Klassifizierungen anwendbare strenge Kontrollmaßstab zur Rechtfertigung der Ungleichbehandlung ein zwingendes staatliches Interesse, das mit der Klassifizierung in Beziehung gesetzt werden muß. Selbst in der Darstellung Elys ist dieses Interesse material 121 . Immerhin reduziert Ely den Anwendungsbereich der inhaltlichen Rechtfertigungsprüfung, weil für ihn ernsthafte moralische Gründe das Vorurteil entfallen lassen. Dadurch liegt in weit weniger Fällen ein Vorurteil vor, als es in Elys Darstellung zunächst den Anschein hat. Überdies wird sich in Fällen, in denen keine ernsthaften moralischen Gründe für eine feindselige Benachteiligung einer Minderheit angeführt werden können, eine Rechtfertigung nur schwer finden lassen. Dennoch bleiben aber „verdächtige" Fälle übrig, in denen eine inhaltliche Rechtfertigung am Maßstab strenger Kontrolle zu prüfen ist. Hierfür genügt es, daß die Berufung des Gesetzgebers auf die Moral unglaubwürdig erscheint. Wenn man auf die Rechtfertigung nicht verzichten will, so könnte man den Einfluß inhaltlicher Erwägungen immerhin minimieren, indem man den Maßstab strikter Kontrolle so rigoros anwendet, daß eine Rechtfertigung fast nie gelingt 122 . Dies hätte jedoch unerwünschte Folgen. Die Literatur bestreitet zum Beispiel, daß sich Strafgesetze rechtfertigen ließen, wenn man den Maßstab strenger Kontrolle mit seinen hohen Beweisanforderungen wirklich rigoros anwende123. So weit will auch Ely nicht gehen 124 . Er hält zwar die Bestrafung von Einbrechern für eine ver118 Vgl. Ortiz, 11 Va. L. Rev. 732, 736 (1991); ähnlich Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 431 f. (1981): Gerichtliche Kontrolle von Werturteilen über soziale Rollen sei nur auf der Grundlage einer „Theorie sozialer Gerechtigkeit" (ibid., S. 432) möglich. 119 Vgl. Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 432 (1981). 120 Siehe oben 1. Kap., D. III. 1. 121 Vgl. Ely, S. 146,154. 122 Vgl. allg. Brest, 42 Ohio St. L.J. 140 (1981): „Applied as strictly as the Court has usually done, [the standard] amounts to virtually automatic invalidation." 123 Vgl. Ely, S. 250 Anm. 65, mit Klarman, 11 Va. L. Rev. 787 Fn. 171 (1991), der es bei „strict scrutiny" für notwendig hält, die abschreckende Wirkung der Strafnorm zu beweisen. 124 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 136 f. (1981): „Wholesale invalidation of the criminal justice system seems rather draconian, and obviously is not what Professor Ely intends." (Ibid., S. 137) Im übrigen würde die Prüfung durch den Verzicht auf die Rechtfertigung kopflastig werden, weil nun alles vom Vorliegen eines Vorurteils abhängen würde. Damit würden
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
dächtige Ungleichbehandlung, weil diese Gruppe weitverbreiteter Feindseligkeit ausgesetzt sei 1 2 5 , bejaht aber die Rechtfertigung des Strafgesetzes, weil eine optimale Beziehung zwischen dem inhaltlichen Ziel des Eigentumsschutzes und der Klassifizierung „Einbrecher" bestehe126. Die auch in Elys Modell unvermeidlich inhaltliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung stellt eine Durchbrechung des prozeduralen Standpunkts dar und nicht etwa eine begründete Ausnahme 127 . Für die inhaltliche Entscheidung trägt Ely keine Maßstäbe vor. Sein Prozeduralismus wird zur Pose, wenn er sich bemüht, den materialen Gehalt der Rechtfertigung herunterzuspielen.
(3) Mehrheitsdemokratie und Minderheitenschutz Mehrheitsdemokratie und Minderheitenschutz sind prinzipiell gegenläufig 128. Das gleiche gilt für demokratische Selbstbestimmung und verfassungsgerichtlich verordneten Egalitarismus. Ein staatsfreier politischer Prozeß, wie ihn der zweite Absatz der Carolene-Fußnote anstrebt, steht zu verfassungsgerichtlicher Läuterung des pluralistischen Marktgeschehens, wie sie der dritte Absatz umreißt, in einem Spannungsverhältnis 129. Diese in der Konfiguration der Fußnote 4 angelegten Antinomien will Ely allein dadurch auflösen, daß er den Minderheitenschutz prozeduralisiert. Ely geht es nicht um materiale Gleichheit, sondern um Verfahrensgleichheit, die sich im Verbot verfassungswidriger Motivation ausdrückt. Die Bindung der Mehrheit an Verfahrensregeln soll weniger gegenmehrheitlich sein als die Bindung an inhaltliche Maßstäbe. Mit dem Scheitern der rein prozeduralen Konzeption von Minderheitenschutz lebt das Spannungsverhältnis zwischen Mehrheitsherrschaft und gegenmehrheitlichem Minderheitenschutz, zwischen dem zweiten die herkömmlichen Kriterien des „close fit" und des zwingenden staatlichen Interesses überflüssig. 125 Ely läßt in diesem Beispiel die tatbestandliche Einschränkung durch ernsthafte moralische Gründe unberücksichtigt. Dies ist inkonsequent und verwirrend. Ely meint selbst, daß die meisten Strafgesetze auch auf - per se unverdächtigen - moralischen Erwägungen beruhen, vgl. Ely, S. 256 Anm. 92. Da der Gesetzgeber den Einbruchdiebstahl sicherlich auch aus Gründen der öffentlichen Moral verbietet, müßte in seinem Beispiel das Vorurteil entfallen, ohne daß es noch auf eine Rechtfertigung des Strafzwecks ankäme. 126 Vgl. Ely, S. 154. Allerdings stellt er im Anschluß daran höchst zweideutig fest, daß diese Rechtfertigung die Verdächtigkeit der Klassifizierung augenblicklich entfallen lasse. Die inhaltliche Prüfung der Rechtfertigung wird hier also womöglich in die Prüfung des Vorurteils vorverlagert und in ihr versteckt. i 2 ? Besonders deutlich Brest, 42 Ohio St. L.J. 140 (1981): „A court may not assess the justifiability' of a prejudice and may not balance competing personal and governmental interests, because these require judicial value choices." Vgl. auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 787 (1991). 128 Vgl. Ely, S. 76. i 2 * Vgl. Cover, 91 Yale L.J. 1300, 1307 (1982); Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 740 f. (1985); Brugger, Grundrechte, S. 366. Dazu näher unten 3. Kap., B. I. 5. c) und d).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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und dritten Absatz der Fußnote wieder auf 1 3 0 . Elys fehlgeschlagener Versuch eines rein prozeduralen Minderheitenschutzes zeigt, daß sich die „countermajoritarian difficulty" insoweit nicht hintergehen läßt 131 . cc) Optimierung des Zugangs zum politischen Prozeß Die Fairneß des politischen Prozesses soll sich nach dem Anspruch von Elys Theorie allein dadurch einstellen, daß das Input in den politischen Prozeß optimiert wird. Dworkin hat versucht nachzuweisen, daß ein reines Input-Modell als Grundlage politischer Fairneß unschlüssig sei 1 3 2 . Im Kern lautet die Kritik, daß man den tatsächlichen Wert einer Partizipationschance nicht messen könne, ohne die Ergebnisse des politischen Prozesses zu berücksichtigen. Man müsse also die OutputEbene einbeziehen, um Erfolg oder Mißerfolg der Input-Optimierung bewerten zu können. Ergebnisse des politischen Prozesses lassen sich aber wiederum nur an inhaltlichen Maßstäben messen. Insbesondere anhand der Wahlrechtsgleichheit läßt sich zeigen, daß auch Ely auf inhaltliche Maßstäbe nicht verzichtet 133 . Ely verteidigt den in Reynolds v. Sims eingeführten „One person - one vote"-Standard nicht mit materialer Gerechtigkeit oder Fairneß, sondern allein mit Zweckmäßigkeitserwägungen 134. Um faktische politische Chancengleichheit herzustellen, dürfe der Gesetzgeber grundsätzlich auch den Erfolgswert der Stimme modifizieren, etwa um der im politischen Prozeß benachteiligten Landbevölkerung einen Ausgleich für geringere Einflußmöglichkeiten zu geben 135 . Dann müßte das Verfassungsgericht jedoch in das „Dickicht" des politischen Prozesses hinabsteigen und den effektiven Einfluß von Gruppen messen. Von dieser praktisch unmöglichen Aufgabe entlastet sich das Gericht Ely zufolge, indem es den - angeblich - leicht handhabbaren „One person - one vote"Standard wählt. Den Rahmen für die Gestaltung der Zweckmäßigkeitsregeln kann aber nur eine inhaltlich definierte Konzeption von Chancengleichheit abstecken136. 130 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 787 f. (1991). 131 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 142 (1981): ,,[I]n his heroic attempt to establish a valuefree mode of constitutional adjudication, John Hart Ely has come as close as anyone could to proving that it can't be done." 132 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 503 ff., 508 ff. (1981), dessen komplexe Argumentation hier nicht im einzelnen nachgezeichnet werden kann. 133 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 573 (1981). 134 Vgl. Ely, S. 124. 135 Vgl. Ely, 121 f., wonach Abweichungen vom Prinzip des gleichen Erfolgswerts durchaus zu rechtfertigen und keineswegs per se undemokratisch seien. 136 Z. B. stellen sich bei der gerichtlichen Überprüfung der Wahlkreiseinteilung schwierige Fragen, die mit Zweckmäßigkeitserwägungen allein nicht zu beantworten sind. Vgl. Wellington, Interpreting the Constitution, S. 67, der in Erwiderung auf Ely festhält, man könne eine unzulässige Wahlkreiseinteilung nur anhand eines inhaltlichen Maßstabes feststellen, der auf einer Theorie politischer Fairneß aufbaue. Vor allem wenn das geografisch konzentrierte Stimmpotential von Anhängern einer Partei oder von Minderheiten durch Aufteilung auf 11 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Deshalb ist es wenig verwunderlich, daß sich Ely zu einer - im einzelnen unklar bleibenden - Idee realer politischer Chancengleichheit als inhaltlichem Ziel bekennt 137 , womit er den rein prozeduralen Kontext verläßt. Wäre dagegen Zweckmäßigkeit wirklich die einzige Anforderung an die gerichtliche Durchsetzung der Wahlrechtsgleichheit, so würde dies dem Verfassungsgericht ein derartig weites Ermessen einräumen, daß unter dem Aspekt seiner Begrenzung Bedenken entstünden. Schließlich hängt die Plausibilität der Formel „Fairneß durch gleichberechtigte Partizipation" zu einem wesentlichen Teil von der Frage ab, wer überhaupt am politischen Prozeß teilnehmen darf. Die Literatur weist darauf hin, daß die Teilnahmeberechtigung am demokratischen Verfahren keine prozedurale Frage sei, sondern die Definition der maßgeblichen politischen Gemeinschaft durch eine inhaltliche Entscheidung betreffe 138 . Ely unternimmt jedoch keine Definition des Teilnehmerkreises, obwohl sie für ein System repräsentativer Demokratie von grundlegender Bedeutung ist 1 3 9 . Im Ergebnis stellen sich im Bereich der Partizipationsoptimierung Vorfragen, durch die inhaltliche Maßstäbe in die gerichtliche Entscheidung eingehen. Bei der Formulierung und Anwendung dieser Maßstäbe wird das Verfassungsgericht durch Elys Modell nicht hinreichend gebunden. dd) „ Prozedurale " Grundrechtskontrolle
im übrigen
Schließlich ist zu fragen, ob die Begrenzung auf prozedurale Kontrolle außerhalb der aktivistischen Bereiche von Elys Theorie gelingt. Dies betrifft vor allem die spezifischen Grundrechte sowie die due process-Klausel. Die Kontrolle spezifischer Grundrechte erfordert inhaltliche Entscheidungen. Der Schutzbereich muß bestimmt werden, und im Rahmen der strikten gerichtlichen Kontrolle sind gewisse Abwägungen erforderlich, weil ein zwingendes öffentliches Interesse den Grundrechtseingriff rechtfertigen kann 140 . Bei einigen Grundrechten gesteht auch Ely den inhaltlichen Charakter der Grundrechtskontrolmehrere Wahlbezirke verwässert wird, ist es mit reiner Arithmetik im Sinne von „Eine Person = eine Stimme" nicht getan. Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 81 f. 137 Vgl. Ely, S. 123: „real equality". 138 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1071 (1980) m. Bsp. u. Nachw. zur Rspr.; Brest, 42 Ohio St. L.J. 140 (1981); Ortiz, 11 Va. L. Rev. 728 f. (1991). 139 Vgl. Ely, S. 116 ff. zum Wahlrecht. Zumindest im Hinblick auf den lokalen politischen Prozeß ist die Frage von praktischer Bedeutung, ob neben US-Bürgern auch aufenthaltsberechtigte Ausländer als Wähler zu qualifizieren sind. Auf lokaler Ebene wird ferner die Frage relevant, ob der Kreis der Wahl- oder Abstimmungsberechtigten auf diejenigen eingegrenzt werden darf, die von der Entscheidung inhaltlich betroffen sind. Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 572 f. (1981), zu Kramer v. Union Free School District, 395 U.S. 621 (1969), und dazu noch unten 3. Kap., B. I. 5. b) und e). 140 Vgl. z. B. Wellington, Interpreting the Constitution, S. 68.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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le zu. Daß seine Begründung des rein prozeduralen Wesens der US-Verfassung unhaltbar ist, wurde schon gesagt 141 . Im übrigen darf man Ely wohl so verstehen, daß bei textlich spezifizierten Grundrechten auch eine inhaltliche Kontrolle zulässig ist, weil diese ausdrücklich angeordnet sei und sich ihr Umfang einigermaßen klar aus der Verfassung ergebe. Darüber hinaus ist die Frage bedeutsam, ob sich die due process-Klausel rein prozedural anwenden läßt, weil Ely hiermit eine folgenschwere Begrenzung des Verfassungsgerichts anstrebt. Nach Ansicht der Kritik sind materiale Entscheidungen erforderlich, wenn man entscheiden wolle, welches Verfahren angemessen („due") im Sinne des 5. und 14. Amendment ist 1 4 2 . Inhaltliche Gründe steuerten (1) die Auswahl des richtigen Verfahrenstyps und (2) die Ausgestaltung des Verfahrens entsprechend der Bedeutung seines Verfahrensgegenstands. (1) Aufgrund rein prozeduraler Erwägungen lasse sich nicht bestimmen, ob ein adjudikatives oder ein repräsentatives Verfahren für den Interessenausgleich angemessen sei 1 4 3 . Welche Form von Partizipation die Verfassung verlange, sei nur mit Hilfe einer inhaltlichen Theorie zu entscheiden, die Art und Gewicht der betroffenen Interessen anhand von Werten oder Rechten beurteilen müsse 144 . (2) Betrachtet man die in der due process-Klausel genannten Rechtsgüter („life, liberty, or property"), so sind zum Beispiel bei einer Hinrichtung strengere Verfahrensanforderungen angebracht als bei einer Freiheitsentziehung bzw. einer Enteignung. Diese Abstufung ist nur inhaltlich erklärbar 145 . Allerdings gesteht auch Ely zu, daß man über das angemessene Verfahren nicht entscheiden könne, ohne inhaltliche Fragen nach der Intensität der Beeinträchtigung und den Kosten eines aufwendigeren Verfahrens für den Staat zu beantworten 146. Er meint aber, daß sich diese Abwägung nicht mit inhaltlichem „due process" vom Typ Lochner oder Roe vergleichen ließe, bei dem der Supreme Court über die inhaltliche Wichtigkeit einer gesetzgeberischen Politik geurteilt habe 147 . Für Ely lassen sich aus der due process-Klausel nur prozedurale, aber keine inhaltlichen Anforderungen ableiten. Der Gesetzgeber darf also letztlich jeden Eingriff in Leben, Freiheit und Eigentum vornehmen, wenn er nur entsprechend umfangreiche Verfahrenssicherungen bereit stellt. Auf die Angemessenheit dieser Sicht ist hier nicht einzugehen. Festzuhalten ist, daß auch nach Ely das von der Freiheitsbeschränkung betroffene materielle Interesse die Verfahrensanforderungen steuert 148 . Diese Prüfung ist und bleibt inhalt141 Siehe oben 1. Kap., D. IV. 1., und 3. Kap., B. I. 1. a). 142 Zur due process-Klausel Ely, S. 14 ff. 143 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1068 (1980). 144 Vgl. ibid., S. 1068 f. 145 Vgl .ibid., S. 1070 m. Fn. 31. 146 Vgl. Ely, S. 19 ff. 147 Vgl. Ely, S. 21. 148 Verzichtet man völlig auf inhaltliche Kriterien, so steht es im Belieben des Gesetzgebers, das angemessene Verfahren zu definieren. Die Bedeutung der due process-Klausel li*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
lieh, auch wenn sie womöglich weniger weit reicht als die Entdeckung von unbenannten Freiheitsrechten 149. Im Ergebnis ist festzuhalten, daß sich Ely nicht wirklich um eine Prozeduralisierung spezifischen Verfassungsrechts bemüht. Die Kontrolle spezifischer Grundrechte ist inhaltlicher Natur. Auch ist eine rein prozedurale Anwendung der due process-Klausel undurchführbar. ee) Elys Rückzug auf bereichsspezifische
inhaltliche Kontrolle
Wie sich gezeigt hat, muß das Verfassungsgericht eine Fülle von inhaltlichen Entscheidungen treffen, wenn es Elys Theorie anwendet. Somit ist die von Ely zugunsten seiner repräsentationsoptimierenden Theorie behauptete Begrenzung des Verfassungsgerichts auf prozedurale Fragen in Wahrheit nicht vorhanden. Soweit er dies in „Democracy and Distrust" abstreitet, wird seine Theorie widersprüchlich. Über die Unmöglichkeit einer Abkopplung prozeduraler von inhaltlichen Fragen besteht Einigkeit 150 . Selbst Klarman, der Elys Ansatz in Teilen weiterführt, gibt diesen Punkt verloren 151 . Damit hat ein Kernbestandteil von Elys Theorie nämlich der Rückzug auf die prozedurale Kontrolle - für undurchführbar zu gelten. Auch wenn Ely seine in „Democracy and Distrust" ausführlich begründete Kernthese von der Prozeduralität der Verfassung und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle nicht einfach ungeschehen machen kann, so ist doch bemerkenswert, daß er sich als Diskutant des New Yorker Symposiums von 1981 massiv zurückgenommen hat, indem er zugab, daß der Richter oder die Richterin bei der Anwendung der repräsentationsoptimierenden Theorie erhebliches Ermessen habe 152 . Die Ausübung dieses Ermessens erfolge wie bei jeder anderen Theorie anhand inhaltlierschöpft sich dann darin, daß das vom Gesetzgeber bereitgestellte Verfahren eingehalten werden muß. Damit kann gerade Ely nicht zufrieden sein, für den sich die due process-Klausel auch an den Gesetzgeber und nicht nur an die rechtsanwendenden Staatsorgane richtet. Ely hat eine solche Verkürzung des angemessenen auf das gesetzmäßige Verfahren auch nicht vertreten. 149 Allerdings muß auch Ely die inhaltliche Frage beantworten, was „liberty" und wer „person" ist, um überhaupt zur Anwendbarkeit der due process-Klausel zu gelangen. Vgl. aber Ely, S. 19. 150 Grundlegend Tribe, 89 Yale L.J. 1063 ff. (1980); vgl. auch Brest, 42 Ohio St. L.J. 131 ff. (1981); Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 510 ff. (1981); Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 425 ff. (1981); Ortiz , 77 Va. L. Rev. 723, 735 ff. (1991); Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 563 ff. (1981); Brilmayer, 134 U. Pa. L. Rev. 1306 f. (1986). Von deutscher Seite vgl. Brugger, Grundrechte, S. 375 f., 378; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 260. 151 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 773, 782 ff. (1991). Dazu noch unten 3. Kap., C. I. 1. 152 Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 528 (1981): ,,[T]here will come a point at which my judge too will be substantially on his or her own." Vgl. demgegenüber die spärlichen und defensiven Andeutungen bei Ely, S. 67 (Zitat), 103: ,,[T]here does not exist a nontrivial constitutional theory that will not involve judgment calls."
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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eher Maßstäbe. Zwar behauptet Ely nunmehr, der Dichotomie Inhalt/Verfahren nichts abgewinnen zu können 153 . Davon abgesehen gesteht er aber zu, daß sich die Anwendung seiner Theorie von der Anwendung einer werthaltigen, materialen Theorie nicht unterscheide, wie folgender Erwiderung auf Dworkin zu entnehmen ist: ,,[0]nce one has decided a given issue is appropriate for the Court and has gotten fully ,into' it, the inquiry [ . . . ] may not be far at all from what I take to be the techniques you would end up recommending for your judge." 1 5 4
Damit gibt er den Anspruch auf, daß seine Theorie im Unterschied zu materialen Theorien auf inhaltliche Entscheidungen weitgehend verzichten könne. Auf der Anwendungsebene räumt dieses Eingeständnis die Einwände gegen die Konsistenz seiner Theorie aus, die sich gegen die vorgebliche Prozeduralität seines Ansatzes richten. Dies ist zu begrüßen. Soweit die Attraktivität seiner Theorie gerade auf der weitgehenden Prozeduralisierung des spezifischen wie unspezifischen Verfassungsrechts beruht, für die Ely in „Democracy and Distrust" eindringlich geworben hat, ist sein Zugeständnis allerdings gleichbedeutend mit einer Kapitulation. Die verbleibende Begrenzung für das Verfassungsgericht erblickt Ely darin, daß - abgesehen vom spezifischen Verfassungsrecht - inhaltliche Entscheidungen nur in einem beschränkten Bereich, nämlich im Hinblick auf die Kontrolle des parlamentarischen Verfahrens, erforderlich seien und daß seine Theorie hierbei die richtigen Fragen identifiziere 155 . Damit geht Ely im Vergleich zu „Democracy and Distrust" zu einem bereichsspezifischen Ansatz inhaltlicher Kontrolle über, der Problemzonen des Verfassungsrechts lokalisieren will, während das Ansinnen einer umfassenden Prozeduralisierung aufgegeben wird. Ely verteidigt sich also damit, daß seine Theorie inhaltliche Werturteile zwar nicht ausschalte, aber immerhin reduziere. Soweit seine Theorie die verfassungsgerichtliche Kontrolle beschneidet, ist dies plausibel. Als Beispiel ist die due process-Klausel zu nennen, bei der Ely auf eine inhaltliche Ausdeutung verzichtet. Allerdings liegt auch in diesem Verzicht ein inhaltliches Urteil, das auf der Metaebene der Konzeption seiner Theorie gefällt wird 1 5 6 . Im übrigen läßt auch die modifizierte Theorie wichtige Fragen offen, weil Ely nunmehr inhaltliche Maßstäbe für die richtige Entscheidung prozeduraler Fragen wie etwa die reale Umsetzung der Wahlrechtsgleichheit, die angemessene Ausgestaltung des Verfahrens („due process") und die inhaltliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung nennen müßte.
153 Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 539 (1981). 154 Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 528 (1981). Ähnlich Klarman, 11 Va. L. Rev. 783 (1991). 155 Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 528 (1981): ,,[T]he value of my book is principally in defining the appropriate set of questions." Ähnlich wiederum Klarman, 11 Va. L. Rev. 783 (1991). Dazu noch unten 3. Kap., C. I. 1. 156 Siehe oben 3. Kap., B. I. 4. a).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
c) Ergebnisse Die Konzeption einer Verfassungstheorie macht inhaltliche Entscheidungen erforderlich. Daher ist auch die Entscheidung zugunsten einer bestimmten Theorie inhaltlicher Art und insoweit nicht wertneutral. Wer Elys Theorie wählt, fällt damit weitreichende inhaltliche Entscheidungen über Fragen der politischen Moral 1 5 7 . Da jede Verfassungstheorie vor diesem Problem steht, kann dieser Einwand allein letztlich kein Grund sein, sich nicht für Elys Ansatz zu entscheiden. Was die Anwendung von Elys Theorie angeht, so ist ihr der Rückzug auf prozedurale Kontrolle nicht gelungen. Die Grundrechtskontrolle erfordert auch dann inhaltliche Maßstäbe und Entscheidungen, wenn man der repräsentationsoptimierenden Theorie folgt. Damit ist die Trennung von Inhalt und Verfahren als Voraussetzung des prozeduralen Kontrollmodells gescheitert. Insoweit ist seine Theorie weder prozedural noch wertneutral. Das Spannungsverhältnis von Mehrheitsprinzip und verfassungsgerichtlicher Grundrechtskontrolle bleibt folglich bestehen. Später hat Ely seine ursprüngliche Position abgewandelt und zugegeben, daß die Anwendung seiner Theorie inhaltliche Entscheidungen erfordere. Statt eines Rückzugs auf prozedurale Fragen verlangt er nunmehr, die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf spezifische Grundrechte und die Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses zu beschränken. Dabei bleiben jedoch weiterhin inhaltliche Fragen offen, die für eine Bindung der gerichtlichen Kontrolle beantwortet werden müßten.
5. Durchführbarkeit
der Partizipationsoptimierung
a) Nationaler politischer Prozeß Die Durchführbarkeit der Partizipationsoptimierung auf der gesamtstaatlichen Ebene des nationalen politischen Prozesses wird in der Literatur nicht bestritten. Würde der Kongreß etwa das Wahlrecht oder die Redefreiheit durch Bundesgesetz beschränken, so könnte der Supreme Court diesen Eingriff einer strikten Kontrolle anhand des 14. bzw. des 1. Amendment unterziehen. Den funktionalen Grund hierfür liefert der zweite Absatz der Fußnote 4 1 5 8 . Allerdings bemängelt Tushnet, daß nach der Verleihung des Wahlrechts an Schwarze 159 und an Frauen 160 kaum noch Anwendungsfälle für die verfassungsgerichtliche Partizipationsoptimierung verblieben 161 . Formelle Ausschlüsse vom 157 Ebenso Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 512 (1981). 158 Die Legitimation strikter verfassungsgerichtlicher Kontrolle durch spezifische Anordnung im Sinne des ersten Absatzes der Fußnote macht die zusätzliche demokratisch-funktionale Begründung im zweiten Absatz nicht überflüssig. 159 Vgl. das 15. Amendment. 160 Vgl. das 19. Amendment.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Wahlrecht seien heutzutage selten und beträfen unbestrittene Fallgruppen wie Ausländer, Kinder, bestimmte Straftäter und Geisteskranke 162. Auch wenn es nicht völlig undenkbar ist, daß der nationale Gesetzgeber in Zukunft neue Wahlrechtsbeschränkungen einführt, besteht gegenwärtig wenig Anlaß zur Sorge. Auch im latenten Zustand erfüllt der zweite Absatz der Carolene-Fußnote jedoch eine sinnvolle Hüterfunktion für einen offenen politischen Prozeß. Das gilt erst recht für kommunikative politische Grundrechte wie die Rede-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit, bei denen staatliche Eingriffe immer zu gewärtigen sind. Deshalb kann man entgegen Tushnet nicht behaupten, daß der partizipationsorientierte Zweig von Elys Theorie der verfassungsgerichtlichen Kontrolle keinen vernünftigen Anwendungsbereich eröffne. Auf inhaltlicher Grundlage betrieben, ist die Partizipationsoptimierung, wie sie Ely umschrieben hat, eine unverzichtbare, durchführbare und allgemein anerkannte Funktion des Verfassungsgerichts.
b) Einzelstaatlicher und lokaler politischer Prozeß Die verfassungsgerichtliche Durchsetzung von Partizipationsrechten stellt sich jedoch wesentlich komplexer dar, wenn man Wahlrechtsausschlüsse auf der lokalen oder einzelstaatlichen Ebene betrachtet. Die nachfolgenden Überlegungen stützen sich zunächst auf Elys Modell der Partizipationsoptimierung, darüber hinaus aber auch auf die Rekonstruktion dieses Ansatzes von Tushnet. Die Rekonstruktion läßt einerseits vieles klarer hervortreten, was in „Democracy and Distrust" im Hintergrund bleibt. Andererseits entfernt sie sich beträchtlich von Elys Konzeption und löst sich zuweilen ganz von ihr ab. Soweit Tushnet Kritik am rekonstruierten Modell übt, kann diese nicht ohne weiteres auf Ely übertragen werden. aa) Partizipation
auf verschiedenen politischen Ebenen
Vordergründig betrachtet liefert auch auf der lokalen oder einzelstaatlichen Ebene ein Wahlrechtsausschluß einen Grund für (verfassungs-) gerichtliches Einschreiten. Der Supreme Court hat in Kramer v. Union Free School District die Verfassungswidrigkeit eines Wahlrechtsausschlusses auf der lokalen Ebene der Gemeinde festgestellt 163. Wenn jemand für Organe der kommunalen Selbstverwaltung in Schulangelegenheiten nicht wählen darf (etwa weil er keine Kinder im schulpflichtigen Alter hat), so scheint dies prima facie ein klarer Fall für die gerichtliche Durchsetzung des Wahlrechts mit Hilfe der Gleichheitsklausel zu 161 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 86; ders., Taking the Constitution Away from the Courts, S. 160. Vgl. auch Ortiz, 77 Va. L. Rev. 729 (1991): „ I will not criticize paragraph two theories, including Ely's, in greater detail, because they do not cover much ground. [ . . . ] To get anywhere interesting, process theory must invoke paragraph three [ . . . ] . " 162 Dazu Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 158.
163 395 U.S. 621 if. (1969).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
sein 164 . Dabei scheint das Gericht auf wertneutraler Grundlage und klar begrenzt durch das Ziel, Gleichberechtigung im Hinblick auf das Wahlrecht herzustellen, vorzugehen. Offenbar ergibt sich so auf lokaler Ebene ein Anwendungsbereich für die Partizipationsoptimierung, weil hier im Unterschied zum nationalen politischen Prozeß Wahlrechtsausschlüsse auch praktisch vorkommen. Diese Sicht vernachlässigt jedoch, daß sich der von der kommunalen Regelung benachteiligte Bürger stets an den einzelstaatlichen oder sogar den nationalen Gesetzgeber wenden kann, um diesen zur Rücknahme des Wahlrechtsausschlusses mittels eines höherrangigen Gesetzes zu bewegen 165 . In diese Richtung weist bereits das Minderheitsvotum von Justice Stewart in Kramer 166. Formell betrachtet hat der vom Wahlrecht ausgeschlossene Bürger also doch eine Partizipationsmöglichkeit. Wenn dies gegen die (verfassungs-) gerichtliche Kontrolle des Wahlrechtsausschlusses sprechen würde, wäre der Anwendungsbereich der Partizipationsoptimierung minimal, wie Tushnet kritisch ausgeführt hat 1 6 7 . Die Theorie wäre nur auf - gegenwärtig irrelevante - Einschränkungen des nationalen Wahlrechts anwendbar, weil in allen anderen Fällen der politische Weg zur nächsthöheren Legislative offen stünde. Auf lokaler und einzelstaatlicher Ebene würde die Theorie leerlaufen. Gegen dieses Ergebnis könnte man einwenden, daß es für die Wahlen im Bereich der kommunalen Selbstverwaltung nur auf die Partizipationsmöglichkeit im Rahmen der örtlichen Gemeinschaft ankomme. Die Verweisung auf die nächsthöhere Ebene des politischen Prozesses sei eine Art Taschenspielertrick. Diese Position ist sicherlich vertretbar. Entscheidend ist jedoch, daß Elys Theorie nicht sagt, auf welche legislative Ebene es ankommt. Sie beantwortet die Frage nicht, was die für die Aggregation der Interessen relevante Gemeinschaft ist 1 6 8 . Dies kann die Gemeinde, der Einzelstaat, aber auch der Gesamtstaat sein. Durch die Unsicherheit über die Wahl der relevanten partizipatorischen Gemeinschaft kann man die Durchführbarkeit der Theorie bedroht sehen. Schließlich könnte man bei Partizipationsausschlüssen auf lokaler Ebene eine gerichtliche Kontrolle mit dem Argument abschneiden, daß der betreffende Bürger umziehen kann, wenn ihm das lokale Angebot an kommunalen Rechten nicht gefällt 1 6 9 . Ely bejaht schließlich aus politischen Gründen ein Grundrecht auf Freizü164 Im konkreten Fall hielt der Supreme Court den Maßstab der strikten Kontrolle für anwendbar, weil der Ausschluß vom Wahlrecht und damit vom Verfahren der Repräsentation die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit zerstöre. Auf dieses sicherlich vertretbare Ergebnis kommt es hier nicht entscheidend an, weil der Fall nach den Prämissen der Partizipationsoptimierung rekonstruiert wird. 165 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 84.
166 Kramer v. Union Free School District, senting).
395 U.S. 634 ff., 639 f. (1969) (Stewart, J., dis-
167 Vgl. zum folgenden Tushnet, Red, White, and Blue, S. 83 ff. Ely, S. 117, zitiert eine Passage aus Kramer, problematisiert die Entscheidung aber nicht weiter. 168 Tushnet, Red, White, and Blue, S. 87.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
169
gigkeit. Die Ausübung der Exit-Option mag in vielen Fällen unzumutbar erscheinen. Dies ist aber ein materialer Grund, der aus prozeduraler Sicht unbeachtlich ist. Elys Theorie kann daher nicht erklären, warum der benachteiligte Bürger nicht auf die Exit-Option verwiesen werden darf, zumal andere Bürger den Stimmrechtsausschluß mit sachlichen Gründen (zum Beispiel unmittelbarer Betroffenheit in schulischen Angelegenheiten) unterstützt haben werden und nun durch die gerichtliche Intervention den Wert ihres Partizipationsrechts eingeschränkt sehen 170 . Im Ergebnis ist es bei lokalen und einzelstaatlichen Zugangsbeschränkungen aus repräsentationsoptimierender Sichtweise konsequent, auf die Partizipationsmöglichkeit bei der nächsthöheren Legislative zu verweisen. Da diese Möglichkeit de jure schon aufgrund des Petitionsrechts 171 immer offen steht, läuft die Partizipationsoptimierung leer, wenn es sich nicht um Eingriffe des nationalen Gesetzgebers handelt 172 . Verzichtet man darauf, den politischen Instanzenzug in die Betrachtung einzubeziehen, so muß man eine inhaltliche Begründung geben, warum die relevante politische Gemeinschaft über die Grenzen der Gemeinde oder des Einzelstaats nicht hinausgeht. Eine solche Begründung liefert Ely nicht. bb) Formelle und informelle Betrachtungsweise Freilich könnte man den soeben vorgestellten Gedankengang als formalistisch kritisieren, weil der in einem Fall wie Kramer formell vorhandene Zugang zum einzelstaatlichen Gesetzgeber und zum Kongreß praktisch nicht zur Verfügung stehe. Man könnte argumentieren, daß sich niemand außerhalb der betreffenden Gemeinde für den Ausschluß vom Wahlrecht in der schulischen Selbstverwaltung interessieren werde. Deshalb lasse sich der formelle Ausschluß vom Wahlrecht auf lokaler Ebene nicht mit der formell vorhandenen Möglichkeit zur Partizipation auf überörtlicher Ebene verrechnen. Mit diesem Argument ist allerdings ein folgenschwerer Schritt getan: Um den Vorwurf auszuräumen, daß die Theorie nach ihren eigenen Prämissen leerlaufe, untersucht man nunmehr, ob auch informelle Hindernisse für die Partizipation vom 169 Vgl. ibid., S. 85. 170 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 80, 85. 171 Vgl. das 1. Amendment. Praktisch wichtiger ist freilich die informelle Einflußnahme im politischen Prozeß. 172 Überträgt man die Überlegungen zum Wahlrecht auf lokale oder einzelstaatliche Beschränkungen der Redefreiheit, so müßte man auch hier eine strikte gerichtliche Kontrolle ablehnen, da der Weg zur nächsthöheren Legislative offen steht. Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 89. Aus repräsentationsoptimierender Perspektive wären selbst gesetzliche Einschränkungen der Redefreiheit auf Bundesebene nur dann strikter gerichtlicher Kontrolle ausgesetzt, wenn sie verbieten würden, für ihre Rücknahme einzutreten. Vgl. ibid., S. 93. Andernfalls wäre es stets möglich, auf den nationalen politischen Prozeß Einfluß zu nehmen, um die Rücknahme der Beschränkung zu erwirken. Die bloße Möglichkeit dieser partizipatorischen Einflußnahme würde die gerichtliche Kontrolle ausschließen.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Gericht überprüft werden dürfen 173 . Anders ausgedrückt untersucht man nunmehr nicht das Recht selbst, sondern seinen faktischen Gebrauchswert. Bezieht man die politische Realität ein, um abzuschätzen, ob der Bürger sein Stimmrecht auf einzelstaatlicher oder nationaler Ebene tatsächlich durchsetzen könnte, setzt man die verfassungsgerichtliche Kontrolle erheblicher Unsicherheit aus 174 . So weist Tushnet darauf hin, daß es zwar unwahrscheinlich, aber eben nicht ausgeschlossen ist, das Interesse des einzelstaatlichen oder nationalen Parlaments auf das Problem des lokalen Wahlrechtsausschlusses zu lenken 175 . Für ein Gericht dürfte es eine nahezu unmögliche Aufgabe sein, die Chancen eines politischen Erfolges im Einzelfall einzuschätzen. Im Ergebnis würde man zwar den Anwendungsbereich der gerichtlichen Kontrolle von Wahlrechtsausschlüssen auf örtlicher und einzelstaatlicher Ebene wiederherstellen, wenn man informelle Hindernisse der Partizipation einbezöge, dadurch jedoch erhebliche Unsicherheit einführen. cc) Schlußfolgerung Damit ist die Partizipationsoptimierung nach Tushnets Analyse in einem Dilemma 1 7 6 : Solange man die politisch relevante Gemeinschaft nicht definiert hat, muß man konsequenterweise die Partizipationsberechtigung bei der nächsthöheren Legislative mit einbeziehen. Wenn dabei nur formelle Hindernisse der Partizipation betrachtet werden, droht die verfassungsgerichtliche Kontrolle des Wahlrechts auf ein Nischendasein reduziert zu werden. Denn die formell vorhandene „Beschwer173
Zwischen formellen und informellen Mängeln des politischen Prozesses differenziert z. B. Ortiz, 77 Va. L. Rev. 728 (1991); vgl. auch Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 556 (1981). 174 Das liegt unter anderem daran, daß sich der einzelne Teilnehmer am politischen Prozeß entscheiden kann, seine Ressourcen anderweitig einzusetzen, statt zum Beispiel gegen einen lokalen Wahlrechtsausschluß vorzugehen. Es stellt sich also - abgesehen von allen anderen Schwierigkeiten - das Problem der Intensität der Partizipation, wenn man untersucht, wieviel ein formelles Partizipationsrecht faktisch wert ist. Vgl. zum ganzen Tushnet, Red, White, and Blue, S. 79 f., 84 f., 106. "5 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 85. 176 Vgl. ibid., S. 75, 106. Die Problematik weist enge Bezüge zum Staatsorganisationsrecht auf, die besonders deutlich von Tushnet, Red, White, and Blue, S. 72 ff. herausgearbeitet werden und die zugleich eine Brücke von Ely zu Choper schlagen. Es geht darum, ob der politische Prozeß den Schutz einzelstaatlicher Kompetenzen gegenüber der Bundesgewalt sowie den Schutz von „out of State "-Interessen gegenüber einzelstaatlicher und lokaler Diskriminierung übernehmen kann und soll. Auch hier stellt sich für Tushnet das Problem, daß bei rein formeller Betrachtungsweise eine gerichtliche Kontrolle faktisch nicht stattfindet, daß aber bei Betrachtung der politischen Realität so große Unsicherheit entsteht, daß die begrenzende Wirkung der Theorie gefährdet ist. Begnügt man sich beispielsweise mit der formell vorhandenen Partizipationsmöglichkeit der Einzelstaaten, so sind Übergriffe des Bundesgesetzgebers stets hinzunehmen. Will man dagegen im Rahmen der gerichtlichen Kontrolle ermitteln, ob der politisch aktive Einzelstaat seine Kompetenzen selbst wirksam schützen kann, so begibt man sich in eine heikle Analyse der politischen Realität.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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demöglichkeit" an das Parlament der nächsthöheren Ebene schließt die intensive gerichtliche Kontrolle aus. Ein solcher „Leerlauf 4 ist zu vermeiden, wenn man informelle Mechanismen der Partizipation und den tatsächlichen Wert des Partizipationsrechts berücksichtigt. Diese Analyse ist jedoch aufgrund widersprüchlicher empirischer Deutungsmöglichkeiten von geringer Anwendungssicherheit und nachlassender Wertneutralität gekennzeichnet. Praktisch läßt sich das Dilemma nur so umgehen, daß man den Rekurs auf die höhere Partizipationsebene ausblendet.
c) Private und gesellschaftliche Behinderung der Partizipation Bei Ely bleibt letztlich ungeklärt, ob der einzelne im Rahmen der Partizipationsoptimierung nur gegen staatliche Eingriffe Schutz begehren kann oder auch gegen privates Handeln, das sich gegen die Ausübung seiner Partizipationsrechte richtet. Soweit ersichtlich behandelt Ely in „Democracy and Distrust" lediglich staatliche Eingriffe des Gesetzgebers177. Dies fügt sich in das Bild der Fußnote 4, die im zweiten Absatz Schutz vor gesetzlicher Behinderung des politischen Prozesses verspricht („ legislation which restricts those political processes.. , " 1 7 8 ) und auch im dritten Absatz an Gesetze anknüpft, die sich gegen Minderheiten richten („statutes directed at [ . . . ] minorities") 179 . Für eine Beschränkung auf staatliches Handeln spricht aus der Sicht des amerikanischen Verfassungsrechts die State action-Doktrin. Ihr zufolge gewähren die Grundrechte gegen nicht-staatliches Verhalten grundsätzlich keinen Schutz 180 . Aus grundrechtlicher Sicht darf zum Beispiel ein privater Club gegen Schwarze diskriminieren 181 . Für gleichberechtigte Partizipation am politischen Leben kann aber der Zugang zu einer solchen Veranstaltung erforderlich sein, etwa weil politische Allianzen gerade auf privaten Veranstaltungen geschmiedet werden. Auf diese Weise schirmt die State action-Doktrin gesellschaftliche Zugangshindernisse vor staatlicher Kontrolle ab 1 8 2 . Problematisch ist an diesem Ausgangspunkt, daß privates Tun den Zugang zum politischen Prozeß ebenso effektiv blockieren kann wie ein Eingriff des von der Mehrheit kontrollierten Gesetzgebers 183. Das Problem spitzt sich zu, wenn eine ge177 Die beiden Wahlrechtsfälle, die Fußnote 4 im zweiten Absatz zitiert, betrafen Einschränkungen der Wahlberechtigung bei Vorwahlen, die auf gesetzliche Ermächtigungsgrundlagen rückführbar waren. Vgl. Nixon v. Herndon, 273 U.S. 536 ff. (1927), und Nixon v. Condon, 286 U.S. 73 ff. (1932). Der Bereich des exekutiven Handelns wird hier ausgeklammert. i™ U.S. v. Carolene Products Co., 304 U.S. 152 Fn. 4 (Hervorhebung von J.R.). i™ Ibid. (Hervorhebung von J.R.). Vgl. Powell, 82 Colum. L. Rev. 1091 (1982). 180
Dazu Brugger, Einführung in das öffentliche Recht der USA, S. 95 ff.; ausführlich ders., Grundrechte, S. 30 ff. 181 Vgl. Moose Lodge No. 107 v. Irvis, 407 U.S. 163 ff. (1972). 182 Vgl. Cover, 91 Yale L.J. 1306 f. (1982), der hier ausdrücklich an die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft anschließt. Dazu Brugger, Grundrechte, S. 423 ff.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
seilschaftliche Gruppe durch privates Verhalten systematisch vom politischen Prozeß ausgeschlossen wird. Cover weist darauf hin, daß sich die afro-amerikanische Minderheit vor Beginn der verfassungsgerichtlich durchgesetzten Rassenintegrierung 1 8 4 in den fünfziger Jahren in dieser Lage befand 185 . Als Faktoren, die den effektiven Gebrauch des Stimmrechts und der Redefreiheit unmöglich machten, sind etwa der Ausschluß von parteiinternen Vorwahlen („white primaries"), Terror weißer Rassisten und subtilere, aber nicht minder wirksame Formen gesellschaftlicher Unterdrückung zu nennen 186 . Die Offenheit des demokratischen Prozesses - Elys zentrales Anliegen - ist unter solchen Umständen nicht vorhanden. Systematische und in der Gesellschaft tief verwurzelte Mißstände lassen sich mit einer allein staatsgerichteten Partizipationsoptimierung nicht ausreichend bekämpfen 187. Ohne Zweifel sind Ely diese Tatsachen bekannt. Dennoch diskutiert er diese Fragen nur, soweit sich Vorurteile auf das Produkt des Gesetzgebungsverfahrens auswirken, nicht aber als Zugangsbeschränkung im politischen Prozeß. Da der dritte Absatz der Fußnote 4 Vorurteile als ein informelles Hindernis im politischen Prozeß anspricht, hätte es jedoch durchaus nahegelegen, Überlegungen zur privaten Macht auch im Rahmen des zweiten Absatzes anzustellen. Mit Ausnahme von Cover wird das Problem allerdings auch in der Kritik an Ely zumeist vernachlässigt. Nicht nach seinem Wortlaut, wohl aber nach seinem Sinn und Zweck gebietet der zweite Absatz der Fußnote 4 verfassungsgerichtliches Einschreiten auch gegen Terror und Behinderung durch nicht-staatliche Akteure, soweit dadurch die Offenheit des politischen Prozesses leidet. Als Parallele aus dem deutschen Verfassungsrecht drängt sich die grundrechtliche Schutzpflicht auf 1 8 8 . Im amerikanischen Verfassungsrecht würde die Einführung von Schutzpflichten jedoch die Aufgabe der State action-Doktrin bedeuten. Will man an ihr grundsätzlich festhalten, so kann man immerhin die Voraussetzungen für das Vorliegen staatlichen Handelns aufweichen, etwa indem man privates Handeln dem Staat großzügig zurechnet. So hat der Supreme Court eine Partei gezwungen, der schwarzen Minderheit Zugang zu „primaries" zu gewähren 189. Rein privates Verhalten, das keinerlei staatliche Funktion
183 Vgl. zum folgenden Cover, 91 Yale L.J. 1287 ff. (1982). 184 Vgl. nur Brown v. Board ofEducation, 347 U.S. 483 ff. (1954). Dazu Brugger, Grundrechte, S. 152 ff. 185 Vgl. Cover, 91 Yale L.J. 1300 ff. (1982). 186 Vgl. ibid., S. 1302 f., 1306 f.; zum Hintergrund Choper, S. 88 f. 187 Ein anderes, hier nicht zu vertiefendes Problem ist, daß verfassungsgerichtliche Kontrolle nicht das einzige Mittel ist, um Vorurteile in der Bevölkerung zu bekämpfen und abzubauen. Im übrigen wird hier deutlich, daß Ely der Bildung von - in diesem Fall rassistischen - Präferenzen in der Gesellschaft nichts entgegenzusetzen hat, was für die Angemessenheit seiner Theorie nicht ohne Folgen bleibt. Siehe unten 3. Kap., B. II. 3. c) bb) und ee). iss Siehe dazu unten 2. Teil, 5. Kap., C. III. 189 Vgl. Smith v. Allwright, 321 U.S. 649 ff. (1944), womit Grovey v. Townsend, 295 U.S. 45 ff. (1935), außer Kraft gesetzt wurde. Vgl. dazu Cover, 91 Yale L.J. 1307, 1310 (1982). Formell hält der Supreme Court dabei an der State action-Doktrin fest.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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erfüllt, läßt sich damit jedoch nicht erfassen 190. Hier kann der Gesetzgeber einschreiten, wie er es etwa im Civil Rights Act getan hat, er muß es aber nicht. Selbst wenn man die State action-Doktrin durch die Einführung von Schutzpflichten modifizieren würde, wären damit die verfassungstheoretischen Probleme des partizipatorischen Ansatzes nicht ausgeräumt. Je mehr der Supreme Court regulierend in gesellschaftliche Prozesse eingreift, um nicht-staatliche Hindernisse für die gleichberechtigte Partizipation abzubauen, desto mehr engt er zugleich den staatsfreien politischen Prozeß ein, der Grundlage und Voraussetzung des pluralistischen Modells ist, das dem zweiten Absatz unterliegt 191 . Um die faktisch gleichberechtigte und ungehinderte Partizipation aller sicherzustellen, würde das Verfassungsgericht die Freiheit einiger oder sogar der Mehrheit einschränken, ihr gesellschaftliches Leben im Vorfeld politischer Partizipation nach Belieben zu organisieren 1 9 2 . Will man etwa den ungehinderten Zugang der schwarzen Minderheit zum politischen Prozeß herstellen, so muß das Verfassungsgericht die Vorurteile, das heißt den Rassismus der Gesellschaft angehen. Dabei ist es unproblematisch, wenn der Mehrheit untersagt wird, Gewalt anzuwenden, um die Minderheit an der Ausübung ihrer Partizipationsrechte zu hindern. Wenn aber das Verfassungsgericht die Gesellschaft umfassend mit Vorgaben an den Gesetzgeber reguliert, um jegliche Diskriminierung auszuschalten, greift es tief in gesellschaftliche Vorgänge ein, die staatlicher Kontrolle aus liberaler Sicht eigentlich entzogen sein sollen 193 . Im Extremfall stellt das Verfassungsgericht Maßgaben für eine gerechte Gesellschaftsordnung auf, was dem exzeptionellen Charakter verfassungsgerichtlicher Kontrolle in Fußnote 4 widerspricht. Durch die Ausdehnung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf den privaten bzw. gesellschaftlichen Bereich kommt es also zu einem internen Zielkonflikt innerhalb des zweiten Absatzes der Fußnote, den vor allem Cover verdienstvoll herausgearbeitet hat 1 9 4 . Bemerkenswert ist daran, daß sich beide Seiten auf gegenläufige Ideale der Fußnote berufen können: Die eine Seite ruft im Zeichen realer partizipatorischer Chancengleichheit nach gerichtlicher Intervention, während die andere Seite im Zeichen von demokratischer Selbstbestimmung und Pluralismus gerichtliche Zurückhaltung einfordert. Uber das Scharnier des Vorurteils greift dieser Zielkonflikt auch auf den dritten Absatz der Fußnote 190 Weitergehend jedoch Terry v. Adams, 345 U.S. 461 ff. (1953); dazu Brugger, Grundrechte, S. 379 („Erweiterung, wenn nicht Aufgabe der State action doctrine"); einschränkend Cover, 91 Yale L.J. 1311 Fn. 90 m. Text (1982). 191 Abgesehen von dieser mehr demokratisch-funktionalen Betrachtungsweise stehen auch die Abwehrgrundrechte der Rassisten dem gerichtlichen Eingriff entgegen. 192 Damit sollen gemeinschaftlich begangene Terrorakte gegen Schwarze nicht als Partizipationsakte am politischen Leben deklariert werden. Gemeint sind hier gesellschaftliche Arrangements informeller und formeller Art, die Schwarze ausschließen, ohne daß es der Anwendung grundrechtlich nicht geschützter Gewalt bedarf. 193 Da sich ein privater, rassistischer Club wie in Moose Lodge Nr. 107 gegenüber staatlicher Regulierung auf die Vereinigungsfreiheit des 1. Amendment berufen kann, entsteht eine schwierige Grundrechtskollision. 194 91 Yale L.J. 1304 ff., 1307 (1982).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
über. Der zweite Absatz zielt demokratische Selbstbestimmung frei von staatlicher Gängelung an. Dadurch ergibt sich ein Spannungsverhältnis zur Fairneß des politischen Prozesses, die durch den Ausschluß von Vorurteilen verfassungsgerichtlich überwacht wird 1 9 5 . Das Bild vom Zielkonflikt soll nicht suggerieren, daß das Dilemma ausweglos sei. Der Ausweg besteht jedoch in einer Gratwanderung, die Elys Theorie aus sich heraus nicht bewältigen kann. Zugespitzt gefragt muß für die Partizipationsoptimierung folgende Frage beantwortet werden: Wieviel gesellschaftlichen Rassismus - als Hinderungsgrund für de facto gleichberechtigte Partizipation der Schwarzen - muß (und darf) der Supreme Court kurieren, bis für alle ein de facto gleicher Zugang zum politischen Prozeß sichergestellt ist? Für den schwierigen Mittelweg, den das Gericht bei einer Modifizierung der State action-Doktrin gehen muß 1 9 6 , fehlt einem auf diese Weise fortgeschriebenen partizipationsoptimierenden Ansatz die Binnensteuerung. Vor diesem Problem steht allerdings nicht nur Elys Theorie.
d) Armut als informelle Zugangsbeschränkung Wenn man die verfassungsgerichtliche Kontrolle ungeachtet der damit verbundenen Unsicherheit auf informelle Behinderungen der Partizipation, etwa durch rassistische Vorurteile oder private Gewalt, erstrecken will, müßte man konsequenterweise auch die wirtschaftlichen und sozialen Bedingungen prüfen, die einen Bürger von der Ausübung seines Wahlrechts oder sonstiger politischer Grundrechte abhalten 197 . Insbesondere Armut könnte auf der Grundlage des partizipationsorientierten Konzepts eine relevante Zugangsbeschränkung sein, die die Armen vom politischen Markt fern hält 1 9 8 . Demgegenüber behandelt Ely Wohlstand und Bildung 1 9 9 nicht als Voraussetzungen für Partizipation und einen fairen politischen Prozeß 200 . 195 Vgl. Cover, 91 Yale L.J. 1307 (1982), der eine „potentiell paradoxe Beziehung" zwischen dem zweiten und dritten Absatz ausmacht. 196 Brugger, Grundrechte, S. 427, konstatiert dazu ein abgestuftes Vorgehen in der Rspr. des Supreme Court. 197 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 103 ff.; ders., Taking the Constitution Away from the Courts, S. 160; Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 723 (1985). Dabei geht es hier nicht um eine Untersuchung der Repräsentation der Interessen der Armen im politischen Prozeß, sondern um deren eigene Partizipation. Armut ist als Strukturproblem ein informelles Hindernis der Partizipation. 198 Die kartellrechtliche Analogie hat Ely, S. 102, selbst ins Spiel gebracht. 199 Bildung auf der Grundlage des zweiten Absatzes zu verlangen, widerspricht Elys Ansatz insoweit, als es auf die Qualität des Partizipationsaktes grundsätzlich nicht ankommt (siehe oben im 2. Kap., G. II. 3.). Bildung wirkt sich daneben aber auch auf den faktischen Wert des Partizipationsrechtes aus, wenn sie z. B. Zugang zu effektiveren Kommunikationskanälen ermöglicht.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Sieht man Armut als informelles Hindernis der Partizipation an, so könnte man eine verfassungsgerichtliche Pflicht bejahen, für materielle Mindestbedingungen der Partizipation zu sorgen. In der Tat hat Michelman versucht, Elys Ansatz für die Begründung eines fundamentalen Rechts auf das Existenzminimum nutzbar zu machen, das Voraussetzung für die Teilnahme am politischen Prozeß sei 2 0 1 . Michelman ist als prominenter Befürworter sozialer Grundrechte hervorgetreten, über die auch in Amerika diskutiert wird 2 0 2 . Ely würde allerdings einer solchen „Extrapolation" 203 seiner Theorie niemals zustimmen 204 . Für die Verteilungsgerechtigkeit ist nach Ely primär der politische Prozeß, nicht aber das Verfassungsgericht verantwortlich 205 . Ely meint, daß es verfassungsrechtlich unbedenklich sei, wenn die Regierung allgemeine Steuererhöhungen zur Bekämpfung von Armut ablehne 206 . Im Rahmen des dritten Absatzes der Fußnote 4 konstatiert er für den Regelfall das Fehlen einer an Armut anknüpfenden, verdächtigen Klassifizierung 207. Ein von der Gleichheitsklausel unabhängiges, „originäres" grundrechtliches Leistungsrecht kommt für ihn nicht in Frage, weil das Verfassungsgericht keine neuen Grundrechte erfinden dürfe. Dies alles läuft im Kern auf funktionale Bedenken hinaus. Eine breit angelegte Umverteilung von Eigentum käme dem nahe, was in den USA unter verfassungsgerichtlicher Tyrannei verstanden wird. Ein sozialstaatlich inspiriertes „gouvernement des juges constitutionnels" würde nicht zuletzt dem Ausnahmecharakter der verfassungsgerichtlichen Kontrolle im System der Carolene-Fußnote widersprechen. Denn die ungleiche Verteilung des Wohlstands stellt eine strukturelle Grundbedingung der Gesellschaft dar, nicht aber eine punktuelle Störung des politischen Prozesses, auf die Fußnote 4 primär abzielt. Schließlich müßte die empirische Berechtigung der These diskutiert werden, wonach Wohlstand und Bildung automatisch zu mehr Partizipation führen.
200 Kritisch Parker, 42 Ohio St. L.J. 245 f., 252 Fn. 119 (1981). Zum inhaltlichen Aspekt seiner Kritik siehe unten 3. Kap., B. II. 4. Vgl. auch Tushnet, Red, White, and Blue, S. 106 Fn. 84. Ely hat später bedauert, daß Armut in seiner Theorie nicht thematisiert wird, vgl. ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 399 Fn. 5 (1981). 201 Vgl. Michelman, Weifare Rights in a Constitutional Democracy, 1979 Wash. U.L.Q. 674 ff., 677. Dazu kritisch Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 372 f. (1981). 202 Zur Gegenposition vgl. Bork, The Impossibility of Finding Welfare Rights in the Constitution, 1979 Wash. U.L.Q. 695 ff.; Überblick bei Brugger, Grundrechte, S. 91 ff. m. w. Nachw. 203 Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 372 (1981). 204 Anders Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 85, der Ely für „sozialstaatliche Verbürgungen, die den Zweck haben, den Teilnehmerstatus zu schützen", in Anspruch nimmt, diese These aber weder begründet noch mit Nachweisen abstützt. 205 Vgl. Ely, S. 135 f. (Verfassung enthalte keinen Verteilungsmaßstab). 206 Vgl. Ely, S. 162 („constitutionally innocent"). 207 Vgl. ibid.; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 399 Fn. 5 (1981).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Andererseits lassen sich durchaus auch Argumente für die Gegenseite nennen. Funktionelle Bedenken waren bei der als hinreichend ungerecht empfundenen Rassendiskriminierung auch kein Grund, auf eine verfassungsgerichtliche Umwälzung gesellschaftlicher Strukturen mittels permanenter und umfangreicher (verfassungs-) gerichtlicher Kontrollmaßnahmen zur Rassenintegration zu verzichten 208 . Darüber hinaus erscheint das Bild einer verfassunsgerichtlichen Tyrannei übertrieben, solange es lediglich um ein staatlich finanziertes Existenzminimum geht. Deshalb ist auch das Schreckbild einer vom Verfassungsgericht angeordneten Umstrukturierung des gesamten Wirtschaftssystems überzeichnet, zumal eine Rückwendung zu Lochnerschem Aktivismus praktisch nicht zu befürchten ist 2 0 9 . Dem Problem sozialer Grundrechte ist hier nicht näher nachzugehen. Statt dessen ist das Augenmerk auf den Zielkonflikt innerhalb des zweiten Absatzes der Fußnote zu richten, der auch hier wieder aufbricht und den die gerade angerissene Diskussion illuminiert. De facto gleiche Teilnahmechancen setzen womöglich umfangreiche staatliche Maßnahmen voraus, die dem Ziel eines von staatlicher Einflußnahme weitgehend freien, selbstbestimmten demokratischen Prozesses zuwiderlaufen. Massive Chancenungleichheit beim Zugang zum politischen Prozeß widerspricht aber ebenso dem Ideal der Fußnote 4. Eine radikale Durchsetzung der funktionellen Voraussetzungen des Pluralismus hätte also zur Folge, daß dessen Grundbedingungen untergraben würden. Für die Auflösung des Zielkonflikts bedarf es wiederum komplexer Abwägungen und inhaltlicher Entscheidungen210, die Ely aber bei der Anwendung seiner Theorie gerade nicht vornehmen kann. Ungeachtet dieser Kritik ist festzuhalten, daß der von Ely vorgeschlagene Weg, wonach die sozialen Voraussetzungen der Partizipation kein Gegenstand verfassungsgerichtlicher Optimierung sein sollen, eine durchführbare Lösung ist.
208 Cover, 91 Yale L.J. 1309, 1313 ff. (1982), bezeichnet die Interventionen des Supreme Court und anderer Bundesgerichte zur Rassenintegration nicht als eine punktuelle Korrektur einer politischen Fehlfunktion, sondern als gerichtlich durchgesetzten Umbau von Verfassung, Staat und Gesellschaft. 209 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 160. 210 Im einzelnen ist hier zu differenzieren, ob man eine minimale Ausstattung des Einzelnen mit Wohlstand und Bildung für Chancengleichheit genügen läßt oder ob man darüber hinaus geht. Neben diesem Problem der Umverteilung stellt sich noch die Frage, ob der zweite Absatz der Fußnote „Kappungsgrenzen" für die Partizipation erfordert. Bei der Meinungsfreiheit sind unterschiedliche Ressourcen unter dem Aspekt des gleichen Zugangs nicht unbedenklich, weil sie zu ungleicher Repräsentation verhelfen können. Wenn etwa Parteispenden in unbegrenzter Höhe zulässig sind, so kann dies zu einer Verzerrung des politischen Prozesses führen, die dem auf gleiche Partizipationsrechte aller gerichteten Demokratieideal der Fußnote widerspricht. Andererseits ist gerade eine Parteispende eine politische Meinungsäußerung, die dem besonderen Schutz des zweiten Absatzes unterfällt. Vgl. Buckley v. Valeo, 424 U.S. 1 ff. (1976), und Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 723 Fn. 19 m. Text (1985).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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e) Zusammenfassung Angesichts der soeben unternommenen Rekonstruktion ist es wichtig, noch einmal zu betonen, daß die Partizipationsoptimierung, wie sie Ely anhand des zweiten Absatzes der Fußnote 4 entworfen hat, durchführbar ist. An Tushnets Kritik mag manches übertrieben sein, zumal er Elys Theorie anhand ihrer eigenen Prämissen solange fortspinnt, bis der Faden zu dem von Ely intendierten Modell der Partizipationsoptimierung abreißt 211 . Sie hat jedoch das Verdienst, mangelhaft begründete Prämissen und Widersprüche aufzudecken, die bei konsequenter Weiterführung des partizipatorischen Ansatzes entstehen. Die von Ely geforderte Kontrolle lokaler und einzelstaatlicher Wahlrechtsausschlüsse erscheint wegen des möglichen Rekurses auf die Ebene des nationalen Gesetzgebers inkonsistent. Es rächt sich, daß Ely die für die Partizipation und demokratische Selbstbestimmung relevante politische Gemeinschaft nicht definiert. Private Macht sowie Armut werden bei ihm nicht als Zugangshindernisse zum politischen Prozeß thematisiert, obwohl das Ziel eines offenen und chancengleichen demokratischen Verfahrens durch beide Faktoren beeinträchtigt wird. Seine prozedurale Theorie kann die hier erforderlichen materialen Weichenstellungen nicht vornehmen. Diese Unterlassungssünden bei der Konzeption der Theorie ermöglichen verdeckte Werturteile bei der Anwendung des partizipationsorientierten Ansatzes. Daß der heutige Anwendungsbereich der Partizipationsoptimierung verhältnismäßig klein ist, kann allerdings kein Grund sein, die politischen Grundrechte und einen staatlich ungehinderten Zugang zum politischen Prozeß als liberale Errungenschaft gering zu schätzen.
6. Durchführbarkeit
des Minderheitenschutzes
a) Vorurteil ersten Grades: Feindseligkeit Aus dem Zusammenspiel der beiden Kriterien für das Vorliegen eines Vorurteils, Feindseligkeit einerseits und Abwesenheit ernsthafter moralischer Gründe andererseits, ergeben sich Probleme für die Durchführbarkeit des Minderheitenschutzes, die den Anwendungsbereich, die Begrenzung und die Wertneutralität der verfassungsgerichtlichen Kontrolle betreffen. Sein prozeduraler Ansatz zwingt Ely dazu, eine rein formale Regel für das Vorurteil ersten Grades aufzustellen. Bloße Feindseligkeit genügt; ob sie berechtigt ist oder nicht, ist unerheblich 212 . Es darf insbesondere kein inhaltlicher Maßstab verwendet werden, der zulässige Urteile von unzulässigen Vorurteilen der Mehrheit trennt 213 . Würde man es dabei belassen, so fände in allen Fällen von Feindseligkeit 211
Im Original ist die Kritik noch wesentlich komplexer als im Text wiedergegeben. 212 Vgl. Ely, S. 153 f. 213 Daß hierbei in Wirklichkeit doch inhaltliche Entscheidungen getroffen werden müssen, wurde bereits erörtert. Siehe oben 3. Kap., B. I. 4. b) bb). 12 Riecken
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gegenüber einer Minderheit die strikte Prüfung Anwendung. Dies hätte einen zu weiten Anwendungsbereich der strikten Kontrolle zur Folge. In ihren Genuß kämen auch Minderheiten, deren besondere Schutzwürdigkeit im Rahmen der Gleichheitsprüfung von niemandem behauptet wird, wie zum Beispiel Raucher und Einbrecher 214. Auch abweichende Verhaltensweisen, die die Mehrheit zu untersagen versucht, stünden entgegen Elys Intention unter erhöhtem verfassungsgerichtlichen Schutz 215 . Schließlich droht aus Elys Sicht ein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung durch die Hintertür, weil moralische Erwägungen keine zwingende Rechtfertigung für eine Ungleichbehandlung von Homosexuellen im Vergleich zu Heterosexuellen sein dürften 216 . Da das Kriterium der Feindseligkeit zu viele Anwendungsfälle produziert, schraubt Ely die Verdächtigkeit - versteckt in den Anmerkungen von „Democracy and Distrust" 217 - auf diejenigen Ausnahmefälle zurück, in denen keine ernsthafte moralische Motivation des Gesetzgebers vorliegt 218 . Nur Feindseligkeit ohne moralische Begründung ist ein Vorurteil. Letztlich will Ely mit dieser Einschränkung doch zwischen berechtigter und unberechtigter Feindseligkeit differenzieren. Weil er aber hierfür keine inhaltlichen Maßstäbe verwenden kann, ohne seinen prozeduralen Ansatz aufzugeben, muß jeder ernsthaft vertretene moralische Grund genügen. Deshalb sind zum Beispiel Homosexuelle keinem Vorurteil im Sinne seiner Theorie ausgesetzt, wenn der Gesetzgeber ihr Sexualverhalten zwar aus Feindseligkeit unter Strafe stellt, hierfür aber moralische Gründe anführt 219 . Die Literatur bestreitet die Wertneutralität dieses Kriteriums, weil der Unterschied zwischen nackter Feindseligkeit und ernsthaften moralischen Gründen nicht objektiv festgelegt sei 2 2 0 . Ein Richter oder eine Richterin lasse insbesondere diejenigen moralischen Gründe als „ernsthaft" gelten, die mit seinem oder ihrem eigenen Wertsystem übereinstimmen. Umgekehrt ist der Gesetzgeber für Brest aus psychologischen Gründen stets in Versuchung, das abweichende Verhalten einer als bedrohlich oder fremd empfundenen Gruppe mit dem Prädikat „unmoralisch" zu 214 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1075 (1980); vgl. auch Klarman, 11 Va. L. Rev. 787 Fn. 171 (1991), demzufolge ein Strafgesetz gegen Einbruchdiebstahl eine strikte Kontrolle womöglich nicht überstehen würde, etwa weil die abschreckende Wirkung nicht sicher bewiesen sei. 215 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 137 f., 139 f. (1981), der als Beispiele das Verbot von Marihuana-Konsum, Haarerlasse und Schuluniformen nennt. Vgl. dazu Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 397,405(1981). 216 Siehe dazu oben 1. Kap., E. I. 3. 217 Für Ely ist die Tatsache, daß der Gesetzgeber in Fragen der öffentlichen Moral ein Letztentscheidungsrecht hat, offenbar eine Selbstverständlichkeit. Dennoch ist seine Darstellung insoweit irreführend. 218 Wie hoch der Anteil dieser „gutartigen" Motivation bei einem Motivbündel sein muß, sagt Ely nicht. 219 Auch dürfte sich der Gesetzgeber nach Elys Theorie auf moralische Gründe berufen, um Homosexuelle in ihrer Berufsfreiheit zu beeinträchtigen, vgl. die überzeugende Kritik bei Brest, 42 Ohio St. L.J. 136 (1981). Anders Ely, S. 255 Fn. 92 mit S. 250 Fn. 65. 220 Kritisch zu Fußnote 4 Bork, The Tempting of America, S. 60 f.
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brandmarken. Außerdem würden in die moralischen Urteile des Gesetzgebers genau diejenigen unzulässigen Stereotypen einfließen, die Ely als Vorurteile zweiten Grades auszuschließen versuche. Für Brest unterminiert daher die auf einer verdächtigen We/They-Unterscheidung beruhende moralische Einrede des Gesetzgebers die Grundlage der repräsentationsoptimierenden Theorie 221 . Darüber hinaus ist unklar, wie Ely verhindern will, daß der Gesetzgeber im nachhinein in manipulativer Absicht moralische Gründe nachschiebt. Immerhin will der Staat im Prozeß den verfassungsrechtlichen Streit gewinnen, so daß er auch in denjenigen Fällen nach einer moralischen Begründung suchen wird, in denen diese ursprünglich fehlte. Selbst wenn man keine Manipulation unterstellt, ist das Erfordernis eines ernsthaften moralischen Grundes leicht zu erfüllen, eben weil Ely an die Moral keine inhaltlichen Anforderungen stellen darf. Auch ein rassistischer Gesetzgeber kann sich ernsthaft auf Moral berufen, wenn er die schwarze oder eine sonstige Minderheit nur konsequent genug diskriminiert 222 . Daß Rassismus des Gesetzgebers keine Moral ist, kann Ely nicht behaupten, weil seine Theorie darauf verzichten muß, moralische Urteile zu bewerten. Auf die Spitze getrieben, werden in Elys Ansatz Rassismus, Antisemitismus, Xeno- oder Homophobie von der „Nicht-Moral" zur „Moral", wenn der Gesetzgeber diese Einstellungen nur ernsthaft und gutgläubig genug vertritt. Geht man davon aus, daß alle selbsternannten Moralvorstellungen zum Ausschluß der Verdächtigkeit führen, so droht die strikte Gleichheitsprüfung in den kritischen Fällen leerzulaufen, weil ein Vorurteil gerade bei tief verankerten, als moralisch empfundenen Einstellungen nie vorliegen wird 2 2 3 . Als einziger Anwendungsfall kommen spontane legislative Haßakte in Frage, bei denen sich der Gesetzgeber nicht die Mühe macht, eine moralische Begründung zu liefern 224 . Damit scheinen sich die beiden Regeln gegenseitig zu blockieren: Das zu weit geratene Kriterium der Feindseligkeit scheint zunächst zu einem übergroßen Anwendungsbereich der strengen verfassungsgerichtlichen Prüfung zu führen. Die zur 221 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 135 f., 139 (1981). 222 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1076 Fn. 66 (1980); Brest, 42 Ohio St. L.J. 135 (1981) (zum Verbot der Mischehe und zur Rassentrennung); eindrücklich Klarman, 11 Va. L. Rev. 786 f. (1991) m. Bsp. Zwar mag die Schlüssigkeit einer bestimmten Moral im Einzelfall helfen, Vorwand und glaubwürdige Moral voneinander zu unterscheiden (vgl. Ely, S. 256 Anm. 92). Andererseits haben sich die Einzelstaaten im Zuge der Rassendiskriminierung immer wieder phantasievolle Rechtfertigungen einfallen lassen, um die Diskriminierung von Schwarzen auf schlüssige Weise zu begründen. 223 m.E. verkennt Bork, The Tempting of America, S. 199, die Tragweite dieser „Einrede des moralischen Grundes". Bei konsequenter Anwendung von Elys Theorie dürfen Homosexuelle vom Beruf des Grundschullehrers oder von der Adoption von Kindern ausgeschlossen werden, wenn - wie Bork in seinem Beispielsfall unterstellt - ernsthafte moralische Gründe dafür sprechen. Ely versucht also gar nicht erst, zwischen „guter" Moral und vorurteilsbehafteter Bigotterie zu unterscheiden. Vgl. auch Bork, ibid., S. 60 f. 224 Dies würde einen überlegten, langfristigen Rassismus gegenüber einem spontanen Affekt auf absurde Weise privilegieren. 1*
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Einschränkung eingeführte Einrede der Moral ist aber ebenfalls so weit gefaßt, daß sie einen Leerlauf des Minderheitenschutzes zu bewirken droht. Gibt es aus der Sicht von Elys Theorie einen Ausweg aus diesem Dilemma? Eine Einschränkung des zu weit geratenen Kriteriums der Feindseligkeit ist nicht möglich, ohne zusätzlich inhaltliche Maßstäbe zu Hilfe zu nehmen. Dieser Weg verbietet sich aus Elys Sicht. Deshalb kommt nur in Frage, die Einschränkung des Vorurteils durch ernsthafte moralische Gründe aufzugeben, weil damit zumindest der weitgehende Leerlauf der verfassungsgerichtlichen Kontrolle vermieden würde. Dann müßte man sich mit einem überbreiten Anwendungsbereich der strikten Kontrolle abfinden, weil jede Feindseligkeit verdächtig wäre. Allerdings würden dann Gesetze der strikten Kontrolle unterfallen, bei denen keine vernünftigen Zweifel an der Verfassungsmäßigkeit bestehen und die Ely auf keinen Fall als „verdächtig" behandelt sehen w i l l 2 2 5 . Außerdem ist dieser Weg nur theoretisch gangbar, denn er widerspricht der amerikanischen Dogmatik, die, in deutsche Terminologie gefaßt, bei der Gleichheitsklausel eine „enge Tatbestandstheorie" verfolgt, weil sie die strikte Kontrolle auf wenige verdächtige Klassifizierungsmerkmale beschränkt und die Rechtfertigung als Ausnahmefall ansieht. Schließlich öffnet der weite Anwendungsbereich der strikten Kontrolle Tür und Tor für materiale Erwägungen, die Ely jedenfalls auf Ausnahmefälle eingrenzen möchte, wenn er sie schon nicht ausschalten kann. Aus seiner Sicht führt daher der Verzicht auf moralische Gründe als einschränkendes Tatbestandsmerkmal zu einer mangelnden Begrenzung des Verfassungsgerichts, weshalb dieser Weg ebenfalls nicht in Frage kommt. Im Ergebnis ist Elys Theorie des Vorurteils ersten Grades unfähig, die drei Bedingungen ihrer Durchführbarkeit zu erfüllen: (1) Nimmt man mit Ely an, daß ernsthafte moralische Gründe das Vorurteil ausschließen, so hat seine Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle einen zu engen Anwendungsbereich. Überdies schirmt die pauschale Unverdächtigkeit moralischer Gründe auch solche Stereotypen gegenüber gerichtlicher Kontrolle ab, die Ely als Vorurteile zweiten Grades aus dem politischen Prozeß ausschalten will. (2) Darüber hinaus bestehen starke Zweifel, daß sich die Ernsthaftigkeit moralischer Gründe wertneutral feststellen läßt. (3) Verwehrt man dem Gesetzgeber die Verteidigung mit Hilfe moralischer Gründe, so zählt jede feindselige Einstellung als Vorurteil. Dies würde zu einem zu weiten Anwendungsbereich der strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle führen, was dem System der amerikanischen Dogmatik und Elys Versuch widerspricht, materiale Abwägungen des Verfassungsgerichts zu begrenzen. Die Probleme entstehen zu einem guten Teil dadurch, daß die Dichotomie „Vorurteil oder Moral" eine holzschnittartige Vereinfachung komplexer inhaltlicher Probleme beinhal-
225 Siehe oben 3. Kap., B. I. 4. b) bb) (2). 226 Ähnlich Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 281 (1994), der es für eine falsche Dichotomie hält, wenn sich für Ely „bias and sincerity" gegenseitig ausschließen.
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b) Vorurteil zweiten Grades: Stereotypen Zu Elys Umgang mit Stereotypen, zur Rolle der Empathie und zum We/TheySchema werden in der Literatur folgende Kritikpunkte besonders hervorgehoben. (1) Man wirft Ely vor, den Unterschied zwischen faktischen und normativen Stereotypen zu vernachlässigen 227. „Alle Schwulen handeln unmoralisch" ist eine Wertung, gegen die besseres Wissen machtlos ist. Tribe hält zu Recht fest, daß Homosexuelle vielfach nicht aus Unwissenheit, sondern aus Prinzip diskriminiert würden, weil man ihr Verhalten inhaltlich mißbillige 228 . Normative Stereotypen stellen also bei Licht betrachtet eine Spielart des Vorurteils ersten Grades dar. Während Sozialkontakte Unwissenheit und damit auch Vorurteile zweiten Grades (bzw. empirische Stereotypen) abbauen können, ist ihr Einfluß bei Vorurteilen ersten Grades (bzw. normativen Stereotypen) ungewiß 229 . Gegenüber normativen Stereotypen ist Elys Theorie machtlos, sobald sich der Gesetzgeber auf ernsthafte moralische Gründe beruft. Hält man normative im Vergleich zu faktischen Wertungen für das größere Problem, dann bleibt für das Vorurteil zweiten Grades nur ein kleiner Anwendungsbereich übrig. (2) Auch der von Ely behauptete Zusammenhang von Empathie und sozialer Isolierung ist nicht ohne Widerspruch geblieben 230 . Parker bezweifelt, daß soziale Kontakte zum Abbau von Vorurteilen führen, solange die betreffenden Gruppen ungleich im Hinblick auf Status und Macht seien 231 . Zum Beispiel habe die Rassenintegration trotz vielfältiger Kontakte im Alltag nicht zum Abbau von Vorurteilen gegenüber Schwarzen geführt 232 . Im übrigen sind hier Ursache und Wirkung unklar: Vorurteile können der Grund sein, warum sich eine Mehrheit auf oberflächliche oder versteckte Sozialkontakte mit einer Minderheit beschränkt. Dann ist es widersinnig, zwecks Steigerung der Empathie auf offene und intensivere Sozialkontakte zu vertrauen, um damit Vorurteile zu verringern. (3) Ackerman hat Elys sozialpsychologische Methode im Hinblick auf das We/ They-Schema233 als übermäßig vereinfachend kritisiert 234 . Die meisten Parlamentarier würden es vermeiden, Teile ihrer Wählerschaft unnötig gegen sich aufzubringen, wie es das polarisierende We / They-Schema nahelege. Ein Abgeordneter treffe Entscheidungen - auch solche, die eine Minderheit benachteiligen - überwie-
227 Siehe dazu oben 1. Kap., D. III. 2. b), und 3. Kap., B. I. 4. b) bb) (1). 228 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1075 f. (1980). 229 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1075 f. (1980): „Coming out of the closet could dispel ignorance, but it may not alter belief." (ibid., S. 1075) 230 Siehe dazu oben 1. Kap., D. III. 2. b). 231 232 233 234
Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 245 (1981). Dies sieht auch Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 539 (1981). Siehe dazu oben 1. Kap., D. III. 2. b). Vgl. zum folgenden Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 734 Fn. 39 (1985).
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gend auf der Grundlage rationaler Interessenkalkulation und nicht mit Hilfe von simplifizierenden We /They-Stereotypen. Wenn auch Ely die We/They-Einteilung nicht als permanente, festgefügte Struktur mißversteht, sondern vielmehr die Mehrheit als eine Augenblickskoalition von Minderheiten auffaßt 235 , so ist dennoch die von ihm als Beispiel angeführte We-Gruppe weißer, männlicher Parlamentarier weit weniger homogen, als es seine Darstellung vermuten läßt. Warum sollen etwa reiche und gebildete weiße Männer die Interessen von armen und weniger gebildeten weißen Männern angemessen berücksichtigen 236? Angesichts dieser Inhomogenität aufgrund signifikanter sozialer Unterschiede ist es prekär, daß Elys Theorie keine genauen Anweisungen gibt, wie die Einteilung vorzunehmen ist. Im konkreten Fall kann die We-Gruppe zum Beispiel aus Männern, weißen Männern oder weißen und wohlhabenden Männern bestehen. Für Tushnet erhöht es die Manipulierbarkeit der Theorie, daß sich We/ They-Gruppen nur ad hoc festlegen lassen. Das Kriterium sei auch deshalb willkürlich, weil man viele an sich suspekte We / They-Klassifrzierungen in die nach Ely unverdächtige They / They-Form umformulieren könne 237 . Die Einteilung sei nicht natürlich, sondern Ergebnis einer normativen Wertung, die in Elys Theorie nicht genügend gebunden sei 2 3 8 . Tushnet schließt daraus, daß Elys Kriterien zur Gleichheitsprüfung insoweit keine tragfähige Begrenzung des Verfassungsgerichts liefern könnten 239 . (4) Im ganzen betrachtet liefert Ely eine eher verwirrende Vielzahl von Kriterien für das Vorurteil zweiten Grades. Es handelt sich hierbei mehr um Topoi als um eine ausgearbeitete Theorie. Die Ergebnisse der einzelnen Kriterien können sich widersprechen, ohne daß Ely Vorrangregeln formuliert. Dadurch wird die Entscheidung unvorhersehbar und kontrovers. Immerhin vertritt Ely hier einen originellen Ansatz, der neue Aspekte in die verfassungsrechtliche Bewertung einführt. Auch sollte zugunsten seiner Theorie berücksichtigt werden, daß eine einfache Handhabung von Prüfungsmaßstäben im Verfassungsrecht die Ausnahme ist. Daß die Kriterien im Einzelfall unterschiedliche Ergebnisse zulassen, könnte womöglich ihre Verwendung in der verfassungsrechtlichen Argumentation begünstigen. Im Ergebnis ist allerdings nicht zu übersehen, daß auch im Hinblick auf das Vorurteil zweiten Grades die Kritik der US-amerikanischen Literatur den Zuspruch deutlich überwiegt. 235 Vgl. Ely, S. 81, 153; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 398 Fn. 3 (1981); Tushnet, Red, White, and Blue, S. 97 f.; Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 720 (1985). 236 Deshalb ist Elys Verteidigung der „affirmative action" bzw. umgekehrten Diskriminierung zweifelhaft, wonach keine verdächtige Klassifizierung vorliege, soweit sich die WeGruppe der weißen und männlichen Parlamentarier selbst benachteilige. Kritisch Posner, 77 Va. L. Rev. 647 (1991). 237 Vgl. Tushnet, 89 Yale L.J. 1052 f. (1980); ders., Red, White, and Blue, S. 98, zu Klassifizierungen, die an nichteheliche Abstammung und an das Geschlecht anknüpfen. 238 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 99. 239 Vgl. Tushnet, 89 Yale L.J. 1045, 1051 ff. (1980).
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c) Mangelnde Differenzierung des Kontrollmaßstabs Ackerman hält es für inkonsistent, daß nach dem dritten Absatz der Fußnote 4, aber auch nach Elys Theorie für alle Carolene-Minderheiten unterschiedslos der gleiche (strenge) Prüfungsmaßstab anwendbar sei. Das pluralistische Politikmodell, das der Fußnote unterliege, könne diesen Mangel an Differenzierung nicht rechtfertigen 240. Ackerman fragt im Sinne einer hypothetischen Kausalität, wie die CaroleneMinderheit stünde, wenn im politischen Prozeß keine Vorurteile gegen sie wirksam geworden wären 241 . Könnte man diese Frage zweifelsfrei beantworten, so wüßte man, welches Ergebnis die Gleichheitsprüfung nach Elys Theorie haben muß. Allerdings ist die hypothetische Kausalität mit erheblicher Unsicherheit belastet. Praktisch kann man das Vorurteil nicht einfach hinwegdenken und mit diesem Gedankenexperiment ermitteln, ob die Gruppe unter im übrigen gleichen Umständen auch in gleicher Weise benachteiligt worden wäre. Denn die Umstände wären in der Realität nicht notwendigerweise die gleichen, weil es völlig offen ist, wie die Minderheit mit der Mehrheit interagiert hätte, wenn sie nicht zum Opfer von Vorurteilen geworden wäre. Nun zielt Ackerman mit seiner Fragestellung sicherlich nicht auf mathematisch präzise Voraussagen ab. Sein sozialwissenschaftlicher Ansatz will vielmehr einzelne Kausalzusammenhänge im politischen Prozeß aufdecken, um so zu verallgemeinernden Aussagen über die Wirklichkeit zu kommen. Denkt man das Vorurteil als zentrales Hindernis für eine effektive Teilnahme am politischen Prozeß hinweg, so ergeben sich im pluralistischen Prozeß erhebliche Unterschiede an Einfluß, die sich vor allem danach bestimmen, wie groß die Gruppe ist. Eine Mikrominorität mit 0,5% der Stimmen könne nicht erwarten, ebenso häufig Erfolge zu erzielen wie eine mittelgroße Minorität von 10%, ganz zu schweigen von einer noch größeren Minderheit. Dennoch komme der Supreme Court nach dem Ansatz der Fußnote 4 allen drei Gruppen gleichermaßen zu Hilfe, indem er unterschiedslos die strikte Kontrolle anwende. Strikte Kontrolle bedeutet regelmäßig, daß die Ungleichbehandlung der Minderheit verfassungswidrig ist, was einem politischen Erfolg der Minderheit im Ergebnis gleichsteht. Der undifferenzierte Minderheitenschutz, wie ihn der dritte Absatz der Fußnote 4 anzielt, tritt dadurch in ein Spannungsverhältnis zum Leitbild pluralistischer Demokratie, das dem zweiten Absatz der Fußnote unterliegt 242 . Während die Größe der Gruppe für den Minderheitenschutz unerheblich ist, ist sie im pluralistischen Alltag ein wichtiger Faktor für Verhandlungsstärke und politische Macht. Eine nach der Größe der Minderheit differenzierende Rechtsfolge, die den Prämissen des zweiten Absatzes gerecht würde, könnte der Carolene-Ansatz nur bieten, indem er sich auf einen gleitenden Maßstab verfassungsgerichtlicher Kontrolle 240 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 720 f. (1985). 241 Vgl. ibid., S. 721. 242 Vgl. ibid., S. 722.
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einläßt 243 . Der Kontrollmaßstab der Gleichheitsprüfung versperrt sich durchaus nicht jeglicher Differenzierung. So hat der Supreme Court wie erwähnt bei der Diskriminierung aufgrund des Geschlechts einen mittleren Prüfungsmaßstab zugelassen. Jedoch würde ein vollständig flexibler Prüfungsmaßstab der amerikanischen Gleichheitsdogmatik widersprechen. Damit kann Elys Ansatz die unterschiedliche politische „Soll-Stärke" der jeweiligen Minderheit, die sich am Maßstab eines perfekten pluralistischen Prozesses ergibt, nicht berücksichtigen. Die fehlende Abstufung von Kontrollintensität und Rechtsfolge ist auch dann widersprüchlich, wenn man das Verbot von Vorurteilen als Ausfluß eines materialen Gerechtigkeitsmaßstabs auffaßt, wie ihn das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht enthält.
d) Carolene-Minderheiten als einfache Verlierer? Nach konservativer Sichtweise handelt es sich bei Minderheiten lediglich um besonders eloquente Partikularinteressen im Sinne von „special interest groups" 244 . Damit wird, um es überspitzt auszudrücken, die National Rifle Association mit homosexuellen Interessenverbänden gleichgesetzt. Das gleichlaufende verfassungsrechtliche Argument lautet, daß die im politischen Prozeß unterlegene Minderheit nicht aufgrund von mangelhafter Repräsentation verloren habe, sondern als normale Verliererin im politischen Tagesgeschäft 245. Damit wird bestimmten Minderheiten die Schutzbedürftigkeit abgesprochen. Soweit diese Sicht den faktischen Einfluß von rassistischen, antisemitischen, sexistischen, xenophoben, homophoben usw. Vorurteilen auf die Diskriminierung der entsprechenden Gruppen leugnet, ist sie abzulehnen. Tushnet, der der Sympathie mit dieser konservativen Verkürzung unverdächtig ist, hat nun darauf hingewiesen, daß das Unterliegen im Hinblick auf einen bestimmten Punkt der jeweiligen politischen Agenda in der Tat auch auf der freien Entscheidung der Minderheit beruhen könne. Minderheiten könnten komplexe politische Programme haben, die sich nicht auf die Durchsetzung von minderheitsbezogenen Interessen beschränken würden. Eine Minderheit könne an einem bestimmten Punkt, der sie als Minderheit betreffe, nachgeben, um in einem anderen Punkt, der keine minderheitenspezifischen Interessen berühre, einen Erfolg zu erzielen. Unterliege also eine Minderheit im Hinblick auf ein sie benachteiligendes Gesetz, so habe sie dieses im Vergleich zu anderen Gesetzen womöglich für weniger wichtig gehalten und ihr Interesse daher mit geringerer Intensität verfolgt 246 . Minderheiten könnten also aufgrund ihrer eigenen Ressourcenallokation im politi243 Vgl. ibid., S. 721. 244 Vgl. etwa Bork, The Tempting of America, S. 195. 245 Vgl. dazu auch Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 719 (1985): „minorities are supposed to lose in a democratic system". 246 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 95 mit Bsp.
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sehen Machtkampf zu einfachen Verlierern im politischen Geschäft der Mehrheitsdemokratie werden. Tushnet warnt davor, mit der Fixierung auf minderheitenspezifische Interessen ein neues Stereotyp entstehen zu lassen 247 : Dieses besagt, daß sich Frauen nur um frauenspezifische Probleme kümmern, Homosexuelle nur um Probleme sexueller Orientierung usw. Welche Konsequenzen soll man aus dieser Warnung ziehen? Soll man den Blick auf das gesamte politische Programm einer Minderheit ausweiten und deren Gesamtpolitik in der Hoffnung bilanzieren, auf diese Weise fremdverschuldete, vorurteilsbedingte von „freiwilligen" Niederlagen, die eine Gruppe aus strategischen Gründen in Kauf nimmt, abgrenzen zu können? Dies erscheint nicht praktikabel. Die Gleichheitsprüfung muß sich grundsätzlich auf das konkrete klassifizierende Gesetz beschränken. Davon abgesehen darf die von Tushnet zu Recht angemahnte differenzierte Wahrnehmung nicht zu dem Fehlschluß verführen, daß Minderheiten letztlich doch selbst schuld seien, wenn sie zum Opfer von Diskriminierung würden. Soweit Vorurteile reichen, besteht an der Machtlosigkeit der Opfer und der Unfreiwilligkeit ihrer Diskriminierung kein Zweifel. Auch aus normativer Sicht sind Minderheiten schutzwürdig. Denn Vorurteile beinhalten aus grundrechtlicher Sicht eine unfaire Behandlung. Als Fairneß-Maßstab kann man an das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht anknüpfen, das es der Mehrheit verbietet, Mitglieder von Minderheiten als minderwertig zu behandeln. Grundsätzlich geht es daher fehl, CaroleneMinderheiten als einfache Verlierer im politischen Prozeß aufzufassen.
e) Schutzbedürftigkeit von Carolene-Minderheiten Elys funktionale Analyse des politischen Prozesses will Fehlfunktionen ausschließlich mit sozialpsychologischen Kriterien beschreiben. Diesen Untersuchungsansatz hat Ackerman als verkürzt kritisiert, der bei Ely eine Analyse des Einflusses von Interessengruppen nach der Theorie kollektiven Handelns vermißt 2 4 8 . Ackerman holt dies in einer luziden Durchsicht des dritten Absatzes der Fußnote 4 nach. Er gelangt dabei im Gegensatz zu Ely auch zu einer Definition der „abgegrenzten" und „isolierten" bzw. „insularen" Minderheit. Seine zentrale These besagt, daß Carolene-Minderheiten nach der Theorie kollektiven Handelns gerade aufgrund ihrer Abgegrenztheit und Isolierung einen komparativen Wettbewerbsvorteil im politischen Prozeß besitzen, den die gegen sie fortbestehenden Vorurteile im Normalfall nicht zunichte machen. Soweit Carolene-Minderheiten erfolgreich am politischen Prozeß teilnehmen, bedürften sie in Zukunft womöglich nicht 247 Vgl. ibid., S. 96. 248 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 734 f. (1985); ähnlich Posner, 11 Va. L. Rev. 646, 648 f. (1991). Grundlegend M. Olson, The Logic of Collective Action: Public Goods and the Theory of Groups, 1965.
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mehr des besonderen gerichtlichen Schutzes, den der dritte Absatz der Fußnote 4 verspreche (aa]). Der Anwendungsbereich der Carolene-Fußnote verenge sich auf den Ausnahmefall der sogenannten „Paria-Gruppe", mit der niemand politische Geschäfte machen wolle (bb]>. Am Paria-Modell sowie an Ackermans Methode läßt sich Kritik üben (cc] und dd]). Im Ergebnis übersteht Elys Theorie Ackermans Angriffe ohne größeren Schaden (ee]). aa) Carolene-Minderheiten
und die Theorie kollektiven
Handelns
Die Isolierung bzw. Insularität einer Minderheit erhöht für Ackerman die Chancen, daß die Gruppe in organisierter Form politisch aktiv wird 2 4 9 . Aufgrund ihrer sozialen Isolierung, das heißt gesellschaftlicher Aus- und Abgrenzung, aber auch aufgrund von geografischer Insularität 250 sind Mitglieder der Minderheit untereinander eng verbunden. Dem Trittbrettfahrer („free rider") 251, der seinen eigenen Beitrag zum politischen Engagement einzusparen versucht, weil er sich darauf verläßt, daß andere Gruppenmitglieder an seiner Stelle handeln, drohen in dieser eng verbundenen Gemeinschaft einschneidende soziale Sanktionen. Auch sind in einer solchen Gemeinschaft die Organisationskosten geringer, weil eine bereits vorhandene Kommunikationsstruktur genutzt und auf erprobte Führungspersönlichkeiten zurückgegriffen werden kann. Für Ackerman vergrößert auch das Merkmal der Abgegrenztheit die politische Handlungsfähigkeit einer Minderheit. Er faßt Abgegrenztheit im Sinne von äußerlicher Unterscheidbarkeit auf 2 5 2 . So seien etwa Frauen und Schwarze als solche erkennbar. Weil das einzelne Gruppenmitglied seine Gruppenzugehörigkeit regelmäßig nicht verbergen könne, sei es für eine unterscheidbare Carolene-Minderheit leichter, politisch aktiv zu werden. Denn eine nicht-unterscheidbare, nach Ackerman „anonyme" Minderheit muß ihre Mitglieder zunächst motivieren, die Zugehörigkeit zur Gruppe offenzulegen 253. Dies hat höhere Organisationskosten für die Aufnahme politischer Aktivitäten zur Folge, wenn die Offenlegung - zum Beispiel der Homosexualität - mit sozialen Kosten belastet ist. Angesichts dieser Wettbewerbsvorteile falle es einer Carolene-Minderheit im Normalfall verhältnismäßig leicht, ihre Interessen im politischen Handel mit anderen Gruppen effektiv wahrzunehmen 254. Carolene-Minderheiten könnten grund249 Zum folgenden Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 722 ff. (1985). 250 Zur geografischen Insularität vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 724, 727 f. (1985). Zu denken ist an die Siedlungsgebiete bestimmter religiöser Gemeinschaften (Amish in Pennsylvania, Mormonen in Utah), aber auch an die freiwillige oder unfreiwillige Ghettoisierung ethnischer, rassischer oder sprachlicher Minderheiten. 251 Dazu Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 724 (1985). 252 Vgl. ibid., S. 729. 253 Vgl. ibid., S. 730 f. 254 Vgl. auch Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 158 ff.
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sätzlich damit rechnen, den in einem fairen, das heißt vorurteilsfreien politischen Prozeß erwartbaren Anteil an politischen Erfolgen zu erzielen. Entscheidend ist dabei folgender Mechanismus. Politisch aktive Cflro/ene-Minderheiten seien aufgrund ihres hohen Organisationsgrades im Normalfall in der Lage, ihr Stimmpotential meistbietend zu versteigern 255. Eine solche Minderheit könne ihren 10%igen Stimmenanteil an diejenige der beiden großen Parteien mit jeweils 45%igem Stimmenanteil „verkaufen", die den größten Anteil aus dem politischen Programm der Minderheit durchzusetzen verspreche 256. Die afro-amerikanische Minderheit habe auf diese Weise erfolgreich einen Teil ihrer Anliegen durchgesetzt 257. Soweit Elys Analyse diese politische Macht verkenne, sei sie realitätsfremd 258. Ackermans Überlegung läßt sich anhand eines aktuellen Beispiels fortführen. Bei der homosexuellen Minderheit 259 zeigt sich ein Maß an konzertierter Interessenwahrnehmung, das ihre politische Machtlosigkeit als Prämisse des CaroleneAnsatzes fragwürdig erscheinen läßt. So läßt sich ein Trend zur Offenlegung der sexuellen Orientierung feststellen, der die Unterscheidbarkeit erhöht. Soweit sich die homosexuelle Minderheit in Großstädten geografisch konzentriert und insoweit in einer „insularen" Lage ist 2 6 0 , ist sie durch eine enge Gruppenbindung gekennzeichnet und daher im Sinne Ackermans „isoliert". Damit geht eine zunehmend sichtbare Interessenwahrnehmung auf allen Ebenen der Politik einher. Auch wenn Ackerman hier Einschränkungen vornimmt, auf die noch zurückzukommen ist, ist die Stoßrichtung seiner Analyse klar: Jedenfalls auf längere Sicht verlieren politisch aktive Carolene-Minderheiten wie Schwarze oder Homosexuelle ihre besondere Schutzbedürftigkeit, weil sie trotz der Vorurteile ihre Interessen selbst effektiv wahrnehmen können. bb) Non-Kooperation im Paria-Modell Auf den ersten Blick erscheint es paradox, daß Unterscheidbarkeit und Isolierung einen Wettbewerbsvorteil im politischen Prozeß erzeugen sollen, obwohl beide Faktoren das Entstehen und den Fortbestand von Vorurteilen begünstigen. Zum 255 Im Hinblick auf ethnische und religiöse Minderheiten hat Cover, 91 Yale L.J. 1301 f. (1982), die Ansicht vertreten, daß diese trotz der gegen sie bestehenden Vorurteile letztlich immer den politischen Prozeß zu ihren Gunsten genutzt hätten. Als Beispiele nennt er Katholiken und US-Amerikaner deutscher Herkunft, vgl. dazu die im dritten Absatz der Fußnote 4 zitierten Entscheidungen Pierce, Meyer und Bartels. 256 Dies bezieht sich auf das US-amerikanische Zwei-Parteien-System. 2 57 Dazu ausführlich Klarman, 11 Va. L. Rev. 788 ff. (1991). 258
So Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 159. Es geht hier um die Gültigkeit der Carolene-Prämisse, daß Vorurteile gegen abgegrenzte und isolierte Minderheiten per se zu Nachteilen im politischen Prozeß führen. Daß nach Ely Homosexuelle keine Carolene-Minderheit sind, wenn sie aus moralischen Gründen diskriminiert werden, sei an dieser Stelle ausgeblendet. 260 Damit soll nicht ein Ansatz zur Ghettobildung behauptet werden. 259
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Beispiel bilden Schwarze, orthodoxe Juden und offen Homosexuelle gerade auch deshalb eine Zielscheibe von Vorurteilen, weil sie erkennbar „anders" (unterscheidbar) sind, weil sie ausgegrenzt werden und weil sie sich zum Teil - auf je unterschiedliche Weise - auch selbst abgrenzen 261. In Ermangelung mehr als oberflächlicher sozialer Kontakte fällt es umso leichter, an unzutreffenden Stereotypen und Aversion festzuhalten. Elys Analyse des Vorurteils wirkt deshalb so plausibel, weil sie diesen Aspekt der Wirklichkeit zutreffend erfaßt. Welche Rolle spielt nun das Vorurteil in Ackermans Analyse? Ackerman will keineswegs bestreiten, daß unterscheidbare und isolierte Minderheiten weiterhin sozialer Diskriminierung unterliegen, auch wenn er sie im Vergleich zu anonymen und dekonzentrierten Minderheiten für weniger schutzbedürftig hält 2 6 2 . Er sieht jedoch die Schutzbedürftigkeit der Carolene-Minderheiten auf den Ausnahmefall beschränkt, in dem die Vorurteile so groß sind, daß sie den spezifischen Vorteil einer Carolene-Minderheit aufheben, „Zünglein an der Waage" zu spielen. Ackerman spricht hier plastisch von Paria-Gruppen. Solche Gruppen zählen zur Kaste der politisch Unberührbaren, weil man mit ihnen unter keinen Umständen politische Geschäfte macht 263 . Bei einer Paria-Gruppe macht das Vorurteil sämtliche politischen Vorteile zunichte, die sie nach der Theorie kollektiven Handelns erwarten darf, weil sie als Carolene-Minderheit isoliert und unterscheidbar ist 2 6 4 . Der politische Grenznutzen, den diese Minderheit einer werdenden Mehrheit eigentlich verschaffen könnte, indem jene dieser ihr gebündeltes Stimmpotential verkauft, ist aufgrund des Paria-Status für beide Seiten wertlos. Historisch ist die schwarze Minderheit in den USA durchaus in der Position einer Paria-Gruppe gewesen. Unbestreitbar ist aber, daß sie sich heutzutage trotz fortbestehender Vorurteile in großem Umfang und mit Erfolg am politischen Geschäft beteiligt. Sie befindet sich damit nicht mehr im Paria-Modell. Gewährt man Carolene-Minderheiten nur dann Schutz, wenn sie vollständig im Paria-Modell gefangen sind, so scheint für den Minderheitenschutz kaum ein praktisch relevanter Anwendungsbereich zu verbleiben. Vor allem würde die schwarze Minderheit aus dem Schutzbereich der Gleichheitsklausel herausfallen, obwohl sie die historisch vorbedachte Zielgruppe dieser Norm ist. Ackerman äußert sich zur Lage der schwarzen Minderheit nur sehr vorsichtig. Er kritisiert den Carolene-Ansatz zwar einerseits als irreführend 265, verweist aber
261 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 742 (1985). Als Beispiele lassen sich die Selbstabschottung der Schwarzen auf dem Campus, jüdische Stadtviertel und die homosexuelle Szene nennen. 262 Vgl. ibid., S. 737. Ackerman will damit auch dem Stereotyp der „schwachen Minderheit" vorbeugen. 263 Eine Paria-Gruppe ist politisch isoliert, womit das Tatbestandsmerkmal „insular" neben der sozialen und geografischen Komponente eine dritte Bedeutungsebene erhält. Vgl. auch Ely, S. 152. 264 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 733, 735 Fn. 40 (1985).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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andererseits für den von ihm angekündigten partizipatorischen Paradigmenwechsel, der zur fehlenden Schutzwürdigkeit von abgegrenzten und isolierten Minderheiten führen werde, auf die Zukunft 266 . Auch will er seine Argumentation sicherlich nicht so verstanden wissen, daß Rasse im Rahmen der Gleichheitsprüfung kein verdächtiges Unterscheidungsmerkmal mehr sein soll 2 6 7 . Diese Unschlüssigkeit läßt sich nur damit überzeugend erklären, daß Ackerman letztlich seiner eigenen Theorie nicht traut. Vorurteile spielen auch außerhalb des Paria-Modells eine empirisch und normativ bedeutendere Rolle, als er zugestehen will. Dies wird die nachfolgende Kritik zeigen. cc) Kritik am Paria-Modell Ackerman vergleicht hauptsächlich eine unterscheidbare und isolierte mit einer anonymen und diffus verteilten Minderheit. Soweit er daraus den vergleichenden Schluß zieht, daß Carö/erce-Minderheiten ceteris paribus durchsetzungsstärker als anonyme und diffuse Minderheiten seien, wirkt dies plausibel 268 . Jedoch läßt sich fragen, warum Ackerman nicht die Carolene-Minderheit, gegen die Vorurteile bestehen, mit einer im Hinblick auf Größe und Struktur ähnlichen Minderheit vergleicht, gegen die keine Vorurteile bestehen269. Im Hinblick auf die Kritik an der mangelnden Differenzierung des Kontrollmaßstabes für unterschiedlich große Minderheiten nimmt er diesen Vergleich schließlich auch v o r 2 7 0 Dann würde sich erweisen, daß der nachteilige Effekt des Vorurteils durch die abgegrenzte und isolierte Gruppenstruktur außerhalb des Paria-Modells zwar aufgewogen sein mag, aber im Vergleich zu der von Vorurteilen unbelasteten Minderheit immer noch einen komparativen Wettbewerbsnachteil beinhaltet. Das Vorurteil wird für die betroffene Minderheit stets Kosten verursachen, die eine „akzeptierte" Minderheit nicht zu tragen hat. Die Kosten können sich in höheren sachlichen und personellen Aufwendungen für politische Aktivitäten der Gruppe oder in einer geringeren Erfolgsquote niederschlagen. Immerhin könnte eine Verrechnung von Vor- und Nachteilen insoweit im Sinne Elys sein, als er selbst darauf abstellt, ob sich eine Minderheit im politischen Pro265 Vgl. ibid., S. 717: „[Carolene's] approach to minority rights is profoundly shaped by the old politics of exclusion and yields systematically misleading cues within the new participatory paradigm." Vgl. auch ibid., S. 723: „Carolene is utterly wrongheaded in its diagnosis." 266 Vgl. ibid., S. 717 („My concern here, however, is with the future, not the past."), 718, 737, 745. 267 Vgl. ibid., S. 745 (1985): ,,[I]t is far too early to say that we have redeemed the promise of the thirteenth and fourteenth amendments." 2 68 Vgl. z. B. ibid., S. 737. 269
Ackerman selbst vergleicht an anderer Stelle eine durch informelle Hindernisse behinderte Gruppe mit einer nicht behinderten Gruppe. Vgl. ibid., S. 721. 2 ™ Siehe oben 3. Kap., B. I. 6. c).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
zeß aus eigener Kraft hinreichend schützen kann. Gegen die Verrechnung spricht aber aus repräsentationsoptimierender Sicht, daß das Vorurteil immer einen unfairen Nachteil beinhaltet, der im Vergleich zu einer unbelasteten Gruppe die Chancengleichheit zerstört 271 . Außerdem vernachlässigt Ackerman, daß das Paria-Modell lediglich sektorale Bedeutung haben kann. Er unterscheidet nur zwei Zustände, die sich gegenseitig ausschließen. Im Paria-Modell ist das Vorurteil so groß, daß seine Wirkung jeden Gewinn an politischer Handlungsfähigkeit, den die Carolene-Gruppe aufgrund ihrer besonderen Struktur hat, überwiegt. Außerhalb des Paria-Modells spielt das Vorurteil dagegen keine Rolle mehr, weil die Vorteile der Gruppenstruktur den hemmenden Effekt des Vorurteils überwinden 272 . Der Paria-Status kann sich aber auf bestimmte Sachgebiete beschränken. Vorurteile können sich gerade auf spezifische Minderheiteninteressen nachteilig auswirken, weil die Mehrheit insoweit auf die Verhandlungsangebote der Minderheit nicht eingeht 273 . Die Benachteiligung, die die Minderheit hier erleidet, wird durch anderweitige politische Erfolge nicht ausgeglichen. Ackermans binäre Betrachtungsweise wird dieser Realität nicht gerecht. Daraus folgt, daß Vorurteile auch für Carolene-Minderheiten einen größeren Einfluß haben, als es Ackerman zugestehen will. Im Ergebnis erscheinen Caro/¿ne-Minderheiten nicht nur innerhalb, sondern auch außerhalb des Paria-Modells schutzwürdig, weil der fortwirkende Einfluß von Vorurteilen aus der Sicht von Elys Theorie einen unfairen Wettbewerbsnachteil bedeutet, der stets zu einer verringerten Erfolgsquote im politischen Geschäft führen kann. Ackerman beschränkt den Minderheitenschutz nach Elys Theorie zu Unrecht auf das Paria-Modell. dd) Kritik an Ackermans soziologischer Methode Ackermans Modell erweckt den Eindruck, daß im politischen Prozeß alles meßbar sei, wenn man sich nur die Mühe mache, die richtige politologische und soziologische Analyse zugrunde zu legen. Seine Analyse steht jedoch vor dem Problem, die „Bremswirkung" des Vorurteils und die Größe des kompensierenden Effekts von Isolierung und Abgegrenztheit messen, quantifizieren und verrechnen zu müssen, um den Anwendungsbereich des Paria-Modells zu bestimmen. Kann dies gelingen? Bei den Überlegungen zur Differenzierung des Kontrollmaßstabs wurde schon gesagt, daß sich das Ergebnis eines vorurteilsfreien politischen Prozesses 271
Umgekehrt ist der Wettbewerbs vorteil aufgrund der besonderen Struktur der Carolene Minderheit nicht unfair. 272 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 733 f. (1985). 273 Als Beispiel läßt sich an eine homosexuelle Minderheit denken, die sich für die Aufhebung der Strafbarkeit gleichgeschlechtlicher Handlungen einsetzt und insoweit keine politischen Erfolge verbuchen kann, während sie sich in „neutralen", das heißt von der sexuellen Orientierung unabhängigen Themen erfolgreich in politische Allianzen einbringen kann.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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nicht einfach im Rahmen eines Gedankenexperiments zur hypothetischen Kausalität ermitteln läßt 274 . Das Verfassungsgericht müßte sich vielmehr auf empirische Untersuchungen einlassen. Es müßte unter anderem schätzen, wie stark die Vorurteile sind und wieviel Einfluß eine Minderheit ihrer Gruppenstruktur verdankt. Schon hinsichtlich des Ist-Zustands bestünde ein hohes Maß an empirischer Unsicherheit 275 . In bezug auf den hypothetischen, vorurteilsfreien Soll-Zustand sind Aussagen über die politische Macht der betroffenen Minderheit oder einer Vergleichsgruppe ebenfalls unsicher und spekulativ. Die Analyse ist so komplex, daß sich mühelos Argumente für die eine oder andere Seite finden lassen 276 . Es zeigt sich, daß die Gleichheitsprüfung auch unter soziologischen Vorzeichen keine Rechenoperation ist, mit der man zuverlässig feststellen könnte, inwieweit Ist- und Soll-Zustand der politischen Erfolgsbilanz einer Gruppe aufgrund von Vorurteilen und sonstigen Faktoren voneinander abweichen. Ackermans Kritik legt damit Schwächen in Elys Modell offen, ist aber hinsichtlich der Erkenntnismöglichkeiten des eigenen Modells zu optimistisch. Im übrigen vernachlässigt Ackerman die normative, Fairneß-bezogene Komponente in Elys Theorie des Vorurteils. ee) Konsequenzen für Elys Theorie Ely ist sich bewußt, daß das Merkmal „discrete and insular" für sich genommen keine besondere Schutzbedürftigkeit indiziert 277 . Er läßt keinen Zweifel daran, daß für ihn das Vorurteil das entscheidende Kriterium der Schutzbedürftigkeit ist. Immerhin erfaßt Ely mit dem Vorurteil einen wesentlichen Bestandteil der politischen Realität, dessen Wirkung als Wettbewerbsnac/ite// über das reine Paria-Modell hinausgeht. Es kommt ihm jedoch nicht in den Sinn, Abgegrenztheit und Isolierung als Wettbewerbsvorte/Ze aufzufassen, weil er diese Art von Analyse nicht unternimmt 2 7 8 . Elys sozialpsychologische Analyse des politischen Prozesses greift damit zu kurz. Aus normativen Gründen ist es jedoch überzeugend, nach der Theorie kollektiven Handelns erwartbare Wettbewerbsvorteile nicht zur Kompensation des Vorurteils einzusetzen. Ackermans Vorschlag, die Schutzwürdigkeit von Carolene-Minderheiten auf das Paria-Modell zu begrenzen, ist abzulehnen, weil Vorurteile auch außerhalb dieses Modells unfair sind und das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht verletzen. Ely kann sich im Rahmen der Gleichheitsprüfung zu Recht
274 Siehe oben 3. Kap., B. I. 6. c). 275
Dazu in anderem Zusammenhang Ely, S. 124. Fehlende Begrenzung dieses Ansatzes konstatiert auch Klarman, 77 Va. L. Rev. 772 Fn. 114(1991). 277 Vgl. Ely, S. 151 f. (vgl. aber S. 160 f. zur Hilfsfunktion des Kriteriums); ders., Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 539 (1981). 278 Zutreffend Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 734 (1985); Posner, 11 Va. L. Rev. 648 f. (1991). 276
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
auf das Vorurteil als verfassungsrechtlichen Transmissionsriemen stützen. Material gedeutet übersteht Elys Theorie Ackermans Kritik daher nahezu unbeschadet. Allerdings müßte Ely das Vorurteil als variable Größe behandeln, weil dessen Bremseffekt von Fall zu Fall unterschiedlich stark sein kann. Auch das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht ist kein Grund, die unterschiedlich starke Wirkung des Vorurteils außer acht zu lassen. Da aber selbst Ackermans differenzierte Analyse die abgestufte Wirkung des Vorurteils nicht exakt erfassen kann, bleibt es bei dem bereits als unbefriedigend bewerteten Ergebnis 279 , daß jedes Vorurteil gegenüber einer Minderheit unterschiedslos die strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle auslöst. ff) Ausblick: Schutz fir anonyme und verstreute Minderheiten? Ackerman fordert zu einer Rekonstruktion der Fußnote 4 auf, um ihren Anspruch gegenüber den seit 1938 eingetretenen Veränderungen des amerikanischen Pluralismus einzulösen280. Er weist dem Verfassungsrecht die Rolle zu, diejenigen Gruppen zu bestimmen, die im politischen Prozeß systematisch benachteiligt sind und deshalb unverhältnismäßig weniger Einfluß haben, als man nach ihrer zahlenmäßigen Stärke vermuten darf. Die größte Schutzbedürftigkeit besäßen in Zukunft nicht Carolene-Minderheiten, sondern anonyme und diffus verteilte Minderheiten wie etwa die Opfer sexueller Diskriminierung und Arme 2 8 1 . Das Trittbrettfahrerproblem und Organisationskosten belasten geografisch verstreute Gruppen, deren anonyme Mitglieder sich untereinander nicht einmal kennen, stärker als eine sozial isolierte und abgegrenzte Gruppe, deren Mitglieder enge Sozialkontakte pflegen 2 8 2 . Allerdings erläutert Ackerman nicht, wie der besondere verfassungsgerichtliche Schutz für diese Gruppen aussehen soll. Ely könnte sich diesem Vorschlag nicht anschließen. Wenn man der hier vertretenen Ansicht folgt, wonach er aus Fairneß-Erwägungen die Verrechnung von Vorund Nachteilen im Wettbewerb, von Gruppenstruktur und Vorurteil, von Macht und Ohnmacht ablehnt, so wird deutlich, daß die politische Machtlosigkeit einer Gruppe für ihn kein hinreichender Grund ist, um Minderheitenschutz zu gewähren. Ausschlaggebend ist vielmehr die substantielle Bewertung anhand des Rechts auf gleiche Achtung und Rücksicht.
279 Siehe oben 3. Kap., B. I. 6. c). 280 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 713, 740 ff. (1985). 281 Vgl. ibid., S. 717 f., 737, 745. 282 Die geografische Komponente der Insularität wird einerseits im Zeitalter des Internet immer unbedeutender, da enge Sozialkontakte auch über weite Entfernungen innerhalb einer an sich diffus verteilten Gemeinschaft geknüpft werden können. Andererseits fällt es einer geografisch konzentrierten Minderheit leichter, politischen Einfluß auszuüben, weil sie einen Wahlbezirk dominieren kann. Vgl. ibid., S. 728.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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f) Anwendungsbereich des Minderheitenschutzes Es fällt schwer, eine Minderheit zu benennen, die von Elys Theorie einen Grenznutzen in dem Sinne hat, daß sie in den Genuß strikter verfassungsgerichtlicher Kontrolle von Ungleichbehandlungen kommt, auf die sie nicht schon nach der Rechtsprechung Anspruch hätte 283 : (1) Die Ungleichbehandlung rassischer, ethnischer und religiöser Minderheiten unterliegt auch ohne Elys Theorie strenger verfassungsgerichtlicher Kontrolle 284 . Allerdings kann man die Verdächtigkeit einer Klassifizierung in diesen Fällen auch mit dem Bestehen rassistischer, germanophober und antikatholischer Vorurteile begründen, um bei den Beispielen der Fußnote 4 zu bleiben. (2) Auch Ausländer, bei denen der Supreme Court immerhin die Carolene-Formel der abgegrenzten und isolierten Minderheit benutzt hat, sind auf Elys Minderheitenschutz nicht unbedingt angewiesen. Denn diese Gruppe hat kein Wahlrecht, was sie - unabhängig von gegen sie gerichteten Vorurteilen - als schutzbedürftige Minderheit auszeichnet. Andererseits ist Xenophobie ein archetypisches Vorurteil, weshalb der repräsentationsoptimierende Ansatz hier seine Berechtigung hat und zur Erklärung der Verdächtigkeit einer Ungleichbehandlung herangezogen werden kann. (3) Die Gleichheitsprüfung zum Schutz der Minderheit droht leerzulaufen, sofern sich die Mehrheit - wie im Regelfall - auf ernsthafte moralische Gründe beruft, weil durch sie das Vorurteil ersten Grades entfällt. Deshalb erkennt Ely die Diskriminierung aufgrund der sexuellen Orientierung grundsätzlich nicht als verdächtige oder quasiverdächtige Klassifizierung an, womit er an die Rechtsprechung des Supreme Court anschließt. (4) Was die Verdächtigkeit einer Diskriminierung aufgrund des Geschlechts betrifft, so bleibt Ely hinter der Rechtsprechung zurück, wenn er neuere Diskriminierungen nicht einmal als quasi-verdächtige Klassifizierung ansieht. Soweit sich Ely weniger auf Vorurteile, als vielmehr auf ungleiche Partizipationsbedingungen in der Vergangenheit beruft, fällt seine Begründung aus dem Kontext der Repräsentationsoptimierung heraus. Im Ergebnis setzt eine gewisse Ernüchterung ein, wenn man den Ertrag von Elys Theorie des Vorurteils auf diese Weise abklopft. Sein Minderheitenschutz ist weit weniger progressiv, als es zunächst den Anschein hat. Er geht über die Rechtsprechung nicht hinaus und zeigt im übrigen nur wenig Entwicklungspotential285. 283 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 99 Fn. 65: „On the whole the theory does not appear to be very powerful in this setting." 284 Rassendiskriminierung ist der unstreitige Anwendungsfall der nach dem Bürgerkrieg verabschiedeten Gleichheitsklausel des 14. Amendment. Nationale Herkunft ist als enge Analogie zur Rassendiskriminierung ebenfalls eine unbestrittene verdächtige Klassifizierung. Religiöse Minderheiten fallen unter den Schutz des 1. Amendment, das man insoweit als spezielle Gleichheitsklausel auffassen kann. Der dritte Absatz der Fußnote 4 zitiert Entscheidungen zu diesen Minderheiten, bevor er im zweiten Halbsatz zu einer verallgemeinernden Aussage über die Rolle von Vorurteilen im politischen Prozeß gelangt. 285 Unbefriedigend bleibt auch, daß Ely auf den Problemkreis der de facto-Diskriminierung kaum eingeht. Vgl. z. B. Ely, 1983 Duke L.J. 971 Fn. 42 zu Loving v. Virginia, 388 13 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Offenbar ist diese „Zurückhaltung" beabsichtigt, da Ely vor allem die Rechtsprechung des Warren Court absichern will. Da jedoch im beschriebenen Umfang ein Anwendungsbereich für die gerichtliche Kontrolle des Gleichheitssatzes verbleibt, ist dies kein Einwand gegen die Durchführbarkeit.
g) Ergebnisse zum Minderheitenschutz Zusammengefaßt ergibt sich zur Durchführbarkeit von Elys repräsentationsoptimierendem Ansatz folgendes: (1) Bei Vorurteilen ersten Grades läßt der Einwand ernsthafter moralischer Gründe die Gleichheitsprüfung im wesentlichen leerlaufen, die insoweit keinen vernünftigen Anwendungsbereich hat. Die Theorie ist nicht wertneutral anwendbar, weil das Vorliegen ernsthafter moralischer Gründe allein anhand formaler Kriterien beurteilt werden muß. (2) Die Kriterien für das Vorurteil zweiten Grades bilden einen Topoikatalog statt einer Theorie und lassen dem Interpreten zu viel Spielraum. (3) Elys Ansatz differenziert nicht bei der Rechtsfolge einer verdächtigen Klassifizierung, weil Carolene-Minderheiten unabhängig von ihrer Größe unterschiedslos in den Genuß strikter Kontrolle kommen. Dies erscheint auf der Grundlage eines pluralistischen Politikmodells widersprüchlich. (4) Carolene-Minderheiten sind keine einfachen Verlierer im politischen Prozeß, sondern sehen sich durch Vorurteile unfreiwillig in ihrer politischen Aktivität behindert und einer unfairen Behandlung ausgesetzt. (5) Abgegrenzte und isolierte Minderheiten sind zwar in der politischen Auseinandersetzung grundsätzlich (das heißt außerhalb des Paria-Modells) nicht so durchsetzungsschwach, wie dies Elys Theorie nahelegt. Entgegen Ackerman ist aber eine Verrechnung der unfairen Benachteiligung durch das Vorurteil mit Vorteilen aus der spezifischen Gruppenstruktur normativ nicht geboten. (6) Der repräsentationsoptimierende Minderheitenschutz geht über die Rechtsprechung nicht hinaus und hat wenig Entwicklungspotential, was jedoch keinen Einwand gegen seine Durchführbarkeit begründet. Die Einwände (1) und (2) führen zu dem Ergebnis, daß Elys Minderheitenschutz undurchführbar ist. Diese Kritik trifft Elys Verfassungstheorie ins Mark, da der Minderheitenschutz einer ihrer zentralen Bestandteile ist 2 8 6 .
U.S. 1 ff. (1967) (Verfassungswidrigkeit eines neutral formulierten Mischehenverbots). Diese Verkürzung des Carolene-Ansatzes hat Brilmayer kritisiert, für die Verfahrensfehler wie Vorurteile, die Ely im Hinblick auf klassifizierende Gesetze prüft, auch bei nicht-klassifizierenden Gesetzen vorhanden sind und daher auch bei neutral formulierten („facially neutral") Gesetzen zum Maßstab strenger Kontrolle führen müßten, vgl. Brilmayer, 134 U. Pa. L. Rev. 1307 ff., 1311 f., 1334 (1986). Es ist ungewiß, ob und ggfs. wie Ely seine Vorurteilsprüfung auf nicht-klassifizierende Gesetze erstrecken würde. Immerhin ist de facto-Diskriminierung auch nach Ely unzulässig, wenn eine verfassungswidrige Motivation vorliegt. 286 Oritz, 77 Va. L. Rev. 723 (1991), bezeichnet das 6. Kapitel von „Democracy and Distrust" als „the heart of Ely's work".
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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7. Ergebnisse der internen Kritik Einige der in der internen Kritik diskutierten Einwände haben sich als letztlich unschädlich herausgestellt. (1) Zwar ist Elys prozedurale Deutung der US-Verfassung aufgrund eines entsprechenden Vorverständnisses einseitig. Auch kann die repräsentationsoptimierende Theorie nicht aus positivem Recht begründet werden. Ihre Begründung mit Hilfe einer mehrheitsbezogenen Konzeption repräsentativer Demokratie ist jedoch vertretbar. (2) Elys methodische Prämissen sind nicht frei von Widersprüchen, was die Zweiteilung in spezifisches und nichtspezifisches Verfassungsrecht, seinen Umgang mit Sprache sowie sein Vorverständnis der Generalklauseln angeht. Dennoch ist sein Ansatz insoweit durchführbar. (3) Die Entscheidung des Verfassungsinterpreten für Elys Theorie ist kein wertneutraler Akt, sondern ein Bekenntnis zu den partizipatorischen Werten dieser Theorie. Entsprechendes gilt jedoch auch für jede andere Verfassungstheorie und kann daher kein entscheidender Einwand sein. (4) Schließlich ist auch die verfassungsgerichtliche Partizipationsoptimierung nach dem Vorbild des zweiten Absatzes der Fußnote 4 durchführbar, wenn man davon absieht, daß sie inhaltliche Entscheidungen erfordert. Allerdings zeigen sich bei konsequenter Fortführung ihrer Prämissen Widersprüche. Dennoch ist die Durchführbarkeit von Elys ursprünglicher Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle, wie er sie in „Democracy and Distrust" entwickelt hat, nach der in den USA herrschenden und auch hier vertretenen Ansicht widerlegt. Die Durchführbarkeit des prozeduralen Kontrollmodells beruht vor allem darauf, daß sich bei seiner Anwendung Inhalt und Verfahren trennen lassen. Diese Trennung kann ebensowenig gelingen wie eine umfassende Prozeduralisierung des Verfassungsrechts. Darüber hinaus ist der prozedural konzipierte Minderheitenschutz undurchführbar. Immerhin kann man Elys Theorie als materialen Ansatz auffassen, der inhaltliche verfassungsgerichtliche Kontrolle bereichsspezifisch in Anlehnung an Fußnote 4 legitimiert und zugleich beschränkt. Das Verfassungsgericht ist dann nur für die inhaltliche Kontrolle der spezifischen Grundrechte, der Offenheit des politischen Prozesses und des Minderheitenschutzes zuständig. Zu dieser gegenüber „Democracy and Distrust" stark modifizierten Version seiner Theorie hat sich Ely später in einer Diskussion bekannt. Damit hat er zunächst selbst eingeräumt, daß sein Rückzug auf ein rein prozedurales Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle gescheitert ist. Im übrigen beseitigt die Abkehr vom rein prozeduralen Kontrollmodell nicht alle Bedenken gegen die Durchführbarkeit seiner Theorie. So bleiben im Bereich der Partizipationsoptimierung inhaltliche Fragen offen. Auch ändert sein Eingeständnis nichts daran, daß der repräsentationsoptimierende Minderheitenschutz undurchführbar ist, solange keine differenziertere materiale Theorie eingesetzt wird, um den Begriff des Vorurteils zu konkretisieren. Da der Minderheitenschutz ein unverzichtbarer Bestandteil von Elys Ansatz ist, muß auch die modifizierte Theorie insgesamt als undurchführbar gelten. 13
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Diese Kritik schließt es nicht aus, eine durchführbare Konzeption verfassungsgerichtlicher Kontrolle zu entwickeln, die sich an Fußnote 4 orientiert 287 . Eine solche Konzeption hat Ely jedoch weder in „Democracy and Distrust" noch in späteren Veröffentlichungen vorgelegt.
II. Externe Kritik Wie in der Einleitung dargelegt 288, soll die externe Kritik an Elys Theorie aus drei unterschiedlichen Perspektiven vorgestellt und diskutiert werden, die sich als Alternative zu Elys Theorie verstehen. Zunächst ist auf die Critical Legal Studies einzugehen, wobei die vorliegende Arbeit mit Mark Tushnet einen bedeutenden Vertreter dieser Schule herausgreift (1.). Danach ist der Originalismus zu behandeln, den Ely in „Democracy and Distrust" kritisiert hat und dessen aktuelle Bedeutung darauf beruht, daß er von Mitgliedern des gegenwärtigen Supreme Court vertreten wird (2.). Als wichtigster Gegenspieler des Originalismus ist schließlich der Non-Originalismus und dessen Kritik an Ely zu würdigen (3.).
1. Kritik aus der Perspektive der Critical Legal Studies a) Aufhebung der Trennung von Recht und Politik Vertreter der von Morton Horwitz, Duncan Kennedy, Mark Tushnet und Roberto Unger gegründeten Critical Legal Studies („CLS") greifen die Trennung von Recht und Politik in der Verfassungsinterpretation an 2 8 9 , womit diese Schule teilweise an den Legal Realism anschließt290. CLS bestreitet letztlich, daß ein rationaler, objektivierter juristischer Diskurs möglich sei, oder jedenfalls, daß ein solcher Diskurs von den Verfassungsinterpreten tatsächlich geführt werde. Die Radikalität dieser These kann nicht überschätzt werden, weil sie auf die Auflösung der Rechtswissenschaft als Disziplin zielt. Denn mit ihr wird bestritten, daß Recht einem Erkenntnismodell folgt. Vielmehr ist das unbestimmte Recht in den Händen des Interpreten beliebig manipulierbar. Der Richter oder die Richterin benutzt das 287
Zur Zukunft der Carolene-Fußnote siehe unten 3. Kap., zu D. Siehe oben 1. Teil, Einleitung. 2g 9 Vgl. aus der uferlosen Lit. auswahlweise Unger, Knowledge and Politics, 1975; ders., The Critical Legal Studies Movement, 96 Harv. L. Rev. 563 ff. (1983); Kelman, A Guide to Critical Legal Studies, 1987. Vgl. im Überblick Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 573 f., 581 ff.; ders., Staat 24 (1985), S. 565 ff.; Langenbucher, Rechtstheorie 25 (1994), S. 392 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 250 ff.; ders., Staat 40 (2001), S. 251, 254 Fn. 30. Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf das Werk von Mark Tushnet, weil er sich mit Ely am eingehendsten auseinandergesetzt hat. 2 90 Vgl. Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 425 (1981); Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 573 m. w. Nachw. in Fn. 16; Haltern, Staat 40 (2001), S. 250 f. 288
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Recht, um seine oder ihre politischen Überzeugungen durchzusetzen. Dazu muß lediglich ein Ansatzpunkt im Verfassungsrecht gefunden werden, was angesichts der sprachlichen Offenheit der Verfassungsnormen und der Flexibilität der Methoden nicht schwer fällt. Wenn Ely insistiere, daß politische Präferenz und verfassungsrechtliche Meinung bei ihm auch in wichtigen Fragen wie etwa der Abtreibung auseinanderfallen, so sei dies eine seltene Ausnahme 291. Der Einfluß politischer und persönlicher Präferenzen wird damit nicht als bezwingbares Problem bei der Findung und Rechtfertigung juristischer Entscheidungen wahrgenommen, sondern als unumschiffbare Klippe, an der die Hoffnung auf objektive Erkenntnis und auf eine Theorie der normativen Bindung richterlicher Interpretation zerschellt 292 . Um den Nachweis mangelnder Objektivität der Rechtsanwendung zu führen, investieren Vertreter dieser bedeutenden293 Strömung der amerikanischen Verfassungstheorie viel Energie in die Widerlegung konkurrierender Theorien, weshalb die frühen Critical Legal Studies destruktive Züge aufweisen 294. Wenn kein objektives, von Präferenzen unabhängiges Erkenntnismodell zur Verfügung steht, so kann man aus der Perspektive von CLS vernünftigerweise auch nicht verlangen, daß das Gericht so tue, als ob ein solches Modell existiere. Dies wäre eine Aufforderung zur Heuchelei 295 . Angesichts der von CLS behaupteten vollständigen Politisierung des Rechts bliebe dem Mitglied des Gerichts also nur übrig, seinen Präferenzen offen zu folgen. Aus dem empirischen Befund „Law is politics" 2 9 6 wird so der normative Schluß gezogen, daß der Richter oder die Richterin politisch handeln soll Das Verfassungsgericht soll nunmehr seine eigenen Wertungen unter Berufung auf Verfassungsrecht gegen den politischen Prozeß durchsetzen 297. Verfassungsrichterinnen und -richter handeln nach dieser Auffassung nicht anders als „jeder andere politische Akteur" 2 9 8 . 291 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 155 f. 292 Vgl. Tushnet , 42 Ohio St. L.J. 416, 424 (1981), der hier vor allem auf den Gegensatz von Wille und Vernunft eingeht, den liberale Verfassungstheorien nicht auflösen könnten, weil zuletzt doch Willkür und Präferenzen die Oberhand behielten. 293 Vgl. nur Ely , 11 Va. L. Rev. 838 (1991): „Critical scholars are not a fringe group in contemporary legal scholarship; in time it will be understood that their influence on the profession has approached that of their legal realist forebears, which is to say it will have been major." 294 Vgl. etwa Tushnet, Red, White, and Blue, Teil I („The Critique of Grand Theory"), S. vii („I am not interested in offering an alternative normative theory of judicial review"), der sich hier als „intellectual historian" und „cultural critic" versteht (ibid, S. viii). Angesichts neuerer konstruktiver Thesen von Tushnet (siehe dazu unten 3. Kap., B. II. 1. d]) ist es sachgerechter, von „creative destruction" zu sprechen. 295 Schon deshalb ist der Vorschlag von Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 424 f. (1981), inakzeptabel, wonach Richter politisch entscheiden und dies mit einer herkömmlichen Theorie verdekken sollten. 296 Zitat bei Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 581. 297 Vgl. z. B. Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 424 ff. (1981). 298 Ibid., S. 426.
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. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Mit diesem Voluntarismus steht CLS in Fundamentalopposition zu Elys Theorie, aber auch zum Originalismus und Non-Originalismus. Alle diese herkömmlichen Ansätze lassen sich insofern auf einen kleinsten gemeinsamen Nenner bringen, als sie die Befolgung eines Erkenntnismodells für eine Mindestvoraussetzung legitimer verfassungsgerichtlicher Tätigkeit halten. In einem Erkennntnismodell wird Recht nicht aufgrund politischer und sonstiger Präferenzen gesetzt, sondern anhand von Text, Kontext und Struktur der Verfassung sowie anhand des historisch Gewollten und der in der Verfassung inkorporierten Werte und Zwecke ermittelt, wobei dies nicht mit mechanistischer Rechtsanwendung zu verwechseln ist, für die der in den USA frühzeitig überwundene Formalismus steht. Ein solches hermeneutisches Erkenntnismodell ist einem Rechtsetzungsmodell, das die Verfolgung politischer Präferenzen vorschreibt, auch dann diametral entgegengesetzt, wenn der schöpferische Anteil der Interpretation anerkannt wird 2 9 9 . Sieht man das Recht mit CLS von politischen Präferenzen und persönlichen Überzeugungen determiniert, so kann man eine offene Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit befürworten (b]) oder aber die Verfassungsgerichtsbarkeit in ihrer gewohnten Funktion abschaffen (d]). Gegen beide Wege bestehen Bedenken (c] und e])
b) Politisierung der Verfassungsgerichtsbarkeit Eine Politisierung des Supreme Court, wie sie für CLS unvermeidlich ist, kann dadurch betrieben werden, daß die Auswahl der Richter und Richterinnen ausschließlich nach politischen Kriterien erfolgt. Dies könnte dazu führen, daß die Besetzung des Gerichts die realen politischen Mehrheitsverhältnisse in der Bevölkerung oder im Parlament reflektiert 300 . Aufgrund dieser Spiegelbildlichkeit würde der Supreme Court zur - politisch nicht verantwortlichen - dritten Gesetzgebungskammer (neben Senat und Repräsentantenhaus) aufsteigen. CLS ist dem politisch linken Spektrum zuzuordnen 301, weshalb eine derartige Instrumentalisierung des Rechts nicht überrascht. Zu Elys Entsetzen betreibt aber auch die konservative Rechte eine im Ergebnis ähnliche Politisierung des Verfassungsrechts und der Justiz 302 . Ely zeichnet die Geschichte der Ernennungen von Richtern am Supreme 299 Konsequenterweise gibt Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 425 (1981), den Unterschied zwischen der Findung und der Rechtfertigung der Entscheidung auf. Vgl. dazu z. B. Schlink, Staat 19 (1980), S. 87 ff. 300 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 47. 301 Vgl. Brugger, JÖR N.F. 42 (1994), S. 574. 302 Besonders deutlich zeigt sich dies bei Bork, The Tempting of America, S. 1 ff. Bork beschwert sich über den Liberalismus, der die Verfassung als „Trumpfkarte" instrumentalisiere, um unter dem Deckmantel des Rechts politische Ziele durchzusetzen (ibid., S. 3 m. Zit., 7 ff.). Niemand dürfe der Versuchung nachgeben, das Verfassungsrecht nach politischen Präferenzen zu interpretieren (ibid., S. 2, 7). Bork empfiehlt den Intentionalismus, also die Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch das historisch Gewollte, um politisch neu-
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Court während der Amtszeit von Präsident Reagan nach, um zu belegen, daß erstens auch auf konservativer Seite die politische Ausrichtung des Kandidaten oder der Kandidatin wichtiger sei als die juristische Meinung und daß zweitens von solchen Kandidaten erwartet werde, daß sie bestimmte politische Ergebnisse herbeiführen. Damit werde dem Verfassungsgericht auch von konservativer Seite angesonnen, Politik zu betreiben 303 . Im Ergebnis sieht Ely sich und den Legal Process zu Beginn der neunziger Jahre auf verlorenem Posten. Er prognostiziert, daß das von CLS aufgestellte Paradigma des Primats der Politik für längere Zeit dominieren werde 304 . Im gegenwärtigen Supreme Court läßt sich allerdings kein Trend zur Ideologisierung feststellen, weshalb diese Einschätzung im Rückblick zu pessimistisch erscheint.
c) Verteidigung herkömmlicher Verfassungstheorie Ely greift CLS eher beiläufig und mit resignierendem Unterton an 3 0 5 . Dennoch bestreitet er weiterhin, daß die von linker und rechter Seite betriebene Politisierung der Justiz die richtige Lösung sei 3 0 6 . Eine Auseinandersetzung mit den geistesgeschichtlichen, erkenntnistheoretischen und anthropologischen Grundlagen von CLS ist hier nicht möglich, ohne ein neues Thema zu eröffnen. Im folgenden müssen einige wichtige Einwände genügen, die sich auf den verfassungstheoretischen Kontext beschränken. (1) Soweit politische Wertungen bei der Auswahl und Gewichtung von Werten und Verfassungstheorien eine Rolle spielen, beklagt Ely, daß hier fälschlicherweise vom Sein auf das Sollen geschlossen werde 307 . Diesen Einwand vom Sein-Sollentrale Rechtsanwendung und strikte Bindung an das Verfassungsgesetz zu garantieren. Näher zu Bork unten 3. Kap., B. II. 2. b) bb). Es steht im Widerspruch zu dieser Forderung nach politischer Neutralität, wenn sich Bork auf das von ihm selbst kritisierte Niveau eines politischen Überlebenskampfes begibt. Gegner des Intentionalismus denunziert Bork als Ketzer, die den Glaubenssatz strikter richterlicher Gesetzesbindung leugnen (ibid., S. 4, 6 f.). Ketzerei müsse ausgerottet werden (ibid., S. 11: ,,[I]t is crucial to recognize a heresy for what it is and to root it out [ . . . ]"). Vgl. dazu Ackerman, Robert Bork's Grand Inquisition, 99 Yale L.J. 1419 ff. (1990). Bork will seine Abhandlung nicht als rein juristischen Beitrag mißverstanden wissen: „This book is not [ . . . ] ultimately about legal theory." (Bork, The Tempting of America, S. 11; vgl. auch S. 133 ff.) Bork kämpft um die „Kontrolle der Rechtskultur" (ibid., S. 9 f.). Damit stellt er sein Plädoyer für die Wertneutralität des Intentionalismus in ein schiefes Licht. 303 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 842 ff., 869 ff. (1991), zu den Kandidaturen von Robert Bork und David Souter. 304 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 854 Fn. 57 (1991). 305 Dazu Ely, Another Such Victory: Constitutional Theory and Practice in a World Where Courts Are No Different from Legislatures, 77 Va. L. Rev. 833 ff. (1991). 306 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 854 Fn. 57 (1991): ,,[T]his Article is intended to convey just as clearly the idea that today's consensus is wrong". Siehe dazu oben 2. Kap., G. III. 307 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 835 (1991).
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Fehlschluß würde ein Vertreter der kritischen Rechtsschule jedoch zurückweisen. Für ihn gibt es eben keine Verfassungstheorie, die die mangelnde Objektivität der Verfassungsinterpretation auszuschließen vermag. Daher handele es sich nicht um einen Fehlschluß, sondern um die Anerkennung der Realität bei der Formulierung und Anwendung einer Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Der Kern des Streits betrifft daher weniger ein logisches Argument, wie die Rede vom Sein-Sollen-Fehlschluß nahelegt, sondern die Frage, wieviel Subjektivität die Verfassungsinterpretation enthält und wieweit man diese akzeptiert. Hier differieren CLS und die übrigen Theorien, weil sie von unterschiedlichen Wissenschafts- und insbesondere Erkenntnistheorien ausgehen. Nackter Voluntarismus, auf den CLS hinausläuft, führt zu erkenntnistheoretischem Nihilismus, der sich - von Kritik abgesehen - zum Schweigen verurteilt sieht. Für das Projekt der Verfassungstheorie ist dies unbefriedigend, was die Vertreter von CLS mittlerweile selbst eingesehen haben dürften, wie zum Beispiel die konstruktiven Züge in Tushnets neuestem Ansatz zeigen. (2) Der empirische Befund, wonach angeblich jede Verfassungsinterpretation von politischen Erwägungen determiniert wird, ist eine Übertreibung 308. CLS schließt aus der Unmöglichkeit einer vollständigen Determination verfassungsgerichtlicher Tätigkeit auf das Fehlen jeglicher Kontrolle. Schwache Bindung wird zu Unrecht mit fehlender Bindung gleichgesetzt309. Zwar fließen Werte zumindest in Form von Vorverständnissen stets in die Interpretation ein. Die im Zwang zur juristischen Argumentation liegende Filterwirkung begründet aber doch einen Unterschied zur bloßen Behauptung einer politischen Präferenz. Als Minimalposition läßt sich CLS entgegenhalten, daß schon der Zwang, eine politische Präferenz in juristische Argumente kleiden zu müssen, aus einem politischen einen juristischen Diskurs macht. Über Grundregeln des juristischen Diskurses wird Rationalität hergestellt, die eine gewisse begrenzende Wirkung ausübt. Auch in inhaltlicher Hinsicht schafft Recht vielfältige Anschlußzwänge, die nicht beliebig manipulierbar sind. Aus der Sicht von CLS nützen diese formalen Erfordernisse jedoch nicht viel, weil in hochpolitischen Materien des Verfassungsrechts wie etwa dem Grundrecht auf Abtreibung und der gleichgeschlechtlichen Ehe eben doch politische oder andere nichtjuristische Präferenzen die Hauptrolle spielen. In diesen Bereichen wird die Scheidewand zwischen rechtlichen, politischen, moralischen und religiösen Diskursen zuweilen in der Tat so dünn, daß der eine Diskurs vom anderen punktuell ununterscheidbar sein mag, was tendenziell die Befriedungsfunktion des Rechts gefährdet. Dies gilt vor allem dann, wenn man auf nichtoriginalistischer Grundlage ethische Überlegungen in das Recht einfließen läßt. Selbst wenn aber der Streit um 308 Vgl. hierzu und zu weiteren Einwänden Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 581 ff., der allerdings mehr auf die Unbestimmtheit des Rechts abstellt, sowie ders., 47 Am. J. Comp. L. 408 ff. m. Fn. 33 u. 36 (1994) (Kritik am „Alles-oder-Nichts-Denken"). Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 253. 309 Dies gegen Tushnet, dessen Strategie im Rahmen der immanenten Kritik nachgezeichnet worden ist. Siehe oben 3. Kap., B. I. 3.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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hochkontroverse Fragen von außeijuristischen Werten und Überzeugungen stark beeinflußt wird, stellt es dennoch eine Übertreibung dar zu behaupten, daß das Recht als Ganzes durch politische Erwägungen gesteuert werde. Auch in hochpolitischen Fragen ist die ehrliche Leitfrage des Verfassungsinterpreten nicht voluntaristisch gefaßt („Was will ich?"), sondern auf objektive, vernunftgeleitete Erkenntnis angelegt („Was ist die Bedeutung der Verfassung?"). Soweit Interpreten mit unterschiedlichen politischen Überzeugungen zu unterschiedlichen Interpretationen gelangen, ist das nicht der Nachweis grenzenloser Manipulierbarkeit, sondern ein Beleg für die pluralistische Offenheit der Verfassung, die unterschiedliche Deutungen selbst zuläßt. (3) Auch wenn man zugibt, daß politische Präferenzen in vielen wichtigen Fragen des Verfassungsrechts eine das Vorverständnis und die Entscheidungsfindung prägende Rolle spielen, so ist damit noch nicht der Nachweis geführt, daß der unvollkommen rationale Rechtsdiskurs keine sinnvolle Funktion erfüllt. In seiner normativen Konsequenz bewirkt CLS eine Marginalisierung des Verfassungsrechts, da das Forum der Politik alles entscheidet. Damit werden Konstitutionalismus, Gewaltenteilung, Grundrechte und Minderheitenschutz als Errungenschaften des liberalen und demokratischen Rechtsstaates über Bord geworfen, ohne daß dem ein faßbarer Gewinn gegenübersteht. Besser erscheint es daher, auf Unbestimmtheit und Subjektivität der richterlichen Rechtserzeugung mit einer Strategie zu antworten, die versucht, den Einfluß politischer Präferenzen zu minimieren, statt ihn zu maximieren. Genau dies versucht herkömmliche Verfassungstheorie, wie sie Originalismus, Non-Originalismus und Repräsentationsoptimierung betreiben.
d) Populistischer Minimalismus als Alternative? Einen über die Demontage herkömmlicher Verfassungstheorie hinausführenden Ansatz hat Tushnet in seinem Buch „Taking the Constitution Away from the Courts" entworfen, worin er die Abschaffung der seit Marbury v. Madison 310 anerkannten verfassungsgerichtlichen Verwerfungskompetenz zur Diskussion stellt und dies mit einem Plädoyer für populistisches Verfassungsrecht 311 kombiniert, demzufolge das Volk selbst die verfassungsrechtlichen Inhalte diskutieren und entwickeln soll 3 1 2 310 5 U.S. (1 Cranch) 137 ff. (1803). 311 Vgl. dazu mit anderem Ansatz und anderem Ergebnis Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, Demokratie und Mißtrauen: Das Bundesverfassungsgericht in einer Verfassungstheorie zwischen Populismus und Progressivismus. 312 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 154, 157, 174. Tushnet weiß, daß die von ihm gezeichnete Vision einer Abdankung des Supreme Court nicht eintreten wird. Entsprechend vorsichtig folgert er, daß die Diskussion über den Verzicht auf verfassungsgerichtliche Kontrolle jedenfalls dazu beitragen könne, den Sinn der Bevölkerung für
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Primärer Ort des verfassungsrechtlichen Diskurses dürfe nicht länger der Supreme Court sein, weil eine objektive und konsensfähige Theorie zur Interpretation der Verfassung, mit der eine hinreichende Bindung des Verfassungsgerichts erzeugt werden könnte, nicht zur Verfügung stehe 313 . Als Vertreter des Populismus sieht er das bisherige Verfassungsrecht in einem elitistischen Diskurs gefangen, der vom Supreme Court und allgemein von Juristen dominiert werde 314 . Aber auch dem Parlament will Tushnet anders als Ely nicht die Hauptverantwortung für die Konkretisierung des Verfassungsrechts zusprechen. Er setzt vielmehr auf die politische Auseinandersetzung in der Zivilgesellschaft, der er zutraut, einen einfachen verfassungsrechtlichen Diskurs zu führen. Orientieren soll sich der populistische Diskurs an den Prinzipien der Präambel der US-Verfassung (etwa „the general Weifare") und der Unabhängigkeitserklärung 315. Unveräußerliche Menschenrechte sind für ihn ein Kernbestandteil dieser Prinzipien 316 . Der Diskurs müsse offen geführt werden, alle betroffenen Prinzipien einbeziehen und sei daher nicht auf bestimmte Ergebnisse festgelegt 317. Für Tushnet verstärkt populistisches Verfassungsrecht die Fähigkeit der Bürger zu demokratischer Selbstbestimmung („self-government"), weil sie Verantwortung für den Inhalt der Verfassung übernehmen, statt diese an den Supreme Court zu delegieren 318. Tushnet spricht sich zwar nicht für eine Abschaffung des Supreme Court aus, aber mit der Verwerfungskompetenz verliert das Verfassungsgericht seine privilegierte Stellung als Verfassungsinterpret. Tushnets Ansatz ist im Wortsinne radikal, weil er mit dem Angriff auf Marbury die Axt an die nahezu 200 Jahre alte Wurzel der modernen Verfassungsgerichtsbarkeit legt. Tushnets Auffassung von Verfassungsrecht ist betont minimalistisch 319 und reduktionistisch 320. Tushnet spricht von der „dünnen Verfassung", weil an die Stelle der vom Verfassungsgericht entwickelten Dogmatik mit ihren differenzierten Schutzbereichen, Abwägungen im Rahmen mehrstufiger Tests etc. einfache und verständliche Grundsätze treten sollen 321 .
das Verfassungsrecht zu schärfen. Vgl. ibid., S. 174 f. Kurze Kritik bei Tribe, American Constitutional Law, S. 28 Fn. 19. Vgl. auch die Bspr. von Brugger, Staat 39 (2000), S. 135 ff. 313 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 154 ff., 157, 163. 314 Vgl. ibid, S. 182, 186, 194; ders., Red, White, and Blue, S. 313. Im Hinblick auf den Non-Originalismus vgl. auch Ely, S. 59. 315 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 181, 185, 187 u.ö. 316 Vgl. ibid., S. 181. 317 Vgl. ibid., S. 185 f., 187, 190 f., 193 f. 318 Vgl. ibid., S. 163,174, 181. 319 Vgl. ibid., S. 185: „One advantage of the thin Constitution is that it leaves a wide range open for resolution through principled political discussions [ . . . ] . " 320 Vgl. in anderem Zusammenhang ibid., S. 168: ,,[T]he Constitution outside the courts is relatively simple and understandable." 321 Vgl. etwa ibid., S. 185. Zur Gegenüberstellung von „dünner" und „dicker" Verfassung ibid., S. 173 f., 185. An der Leitwirkung der Präambel und der Unabhängigkeitserklärung ist nicht zuletzt bemerkenswert, daß so die eigentliche Verfassung ausgelassen wird.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
Soweit Tushnets populistischer Ansatz der Zivilgesellschaft zu größerer Verantwortung bei der Konkretisierung der Verfassung verhelfen will, liegt dies im gegenwärtigen Trend der amerikanischen Verfassungstheorie, wie ein Blick auf Cass Sunsteins Minimalismus zeigt, der vor dem Hintergrund eines zivilrepublikanischen Verfassungsverständnisses zu sehen ist 3 2 2 . Wie Ely hält auch Sunstein Meinungsfreiheit, offene politische Kanäle und politische Gleichheit für essentielle Voraussetzungen einer funktionierenden Demokratie 323 . Dieser inhaltliche Kern bildet den Grundstock seiner minimalistischen Theorie 324 . Für die Zukunft empfiehlt er jedoch dem Verfassungsgericht, in kontroversen und komplexen Fällen die tragenden Gründe der Entscheidung so eng wie möglich zu fassen und auf theoretischen Tiefgang so weit wie nur irgend möglich zu verzichten 325 . Auf der Grundlage dieses in den USA traditionsreichen Pragmatismus lehnt Sunstein alle gegenwärtig vertretenen Theorien verfassungsgerichtlicher Kontrolle als Grundlage verfassungsgerichtlicher Tätigkeit ab, darunter auch die repräsentationsoptimierende Theorie 326 . Das Gericht entscheide anhand einer solchen maximalistischen Konzeption mehr, als es in einer Demokratie sinnvollerweise entscheiden müsse. Minimalismus sei eine besondere Form verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung, was nicht als zurückhaltender Gebrauch der Kontrollkompetenz mißzuverstehen ist 3 2 7 . Durch Minimalismus will Sunstein - im Ergebnis wie Tushnet - die Verantwortung und Mitwirkung des politischen Prozesses und insbesondere der Zivilgesellschaft verstärken. Minimalistische Rechtsprechung soll als ein Katalysator für deliberative Demokratie dienen 328 . 322 Vgl. Sunstein, One Case at A Time. Dazu neuerdings Haltern, KritV 83 (2000), S. 185 ff., der teilweise an Sunstein anschließt. 323 Vgl. Sunstein, One Case at A Time, S. xi. 324 Vgl. ibid „ S. x f.
325 Vgl. ibid., S. 10 ff. 326 Vgl. ibid., S. 6 ff. Allerdings darf die von Sunstein angezielte minimalistische Begründung von verfassungsgerichtlichen Urteilen nicht dazu verleiten, seine Theorie für minimalistisch zu halten. Uberblick zum Pragmatismus bei Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 38 ff. 327 Vgl. Sunstein, One Case at A Time, S. x. Er meint, daß Minimalismus die Haltung der Mehrheit am gegenwärtigen Supreme Court sei (ibid., S. xi, xiii, 9) und bezieht dies auf die Richterinnen und Richter Ginsburg, Souter, O'Connor, Breyer und Kennedy, die für ihn „the analytical heart of the current Court" bilden. 328 Vgl. ibid., S. xiv. Für eine Diskussion von Sunsteins Minimalismus vgl. Haltern, KritV 83 (2000), S. 185 ff. Vgl. auch Ely, On Constitutional Ground, S. 475 f. Anm. 16, der zum Pragmatismus kritisch festhält: ,,[0]ne cannot judge whether a proposition of law ,works4 without a separately stated [ . . . ] theory of what law should accomplish." Pragmatismus gibt als Maxime gerichtlichen Handelns keine Antwort auf inhaltliche Fragen und begrenzt daher weniger, als der Verzicht auf theoretischen „Tiefgang" und auf „breite" Entscheidungsgründe zunächst vermuten läßt. Soweit Sunsteins Pragmatismus auf den Hintergrund eines bereits anerkannten inhaltlichen Minimums verfassungsrechtlicher Normen angewiesen ist (vgl. ders., One Case at A Time, S. x f.), ist zu fragen, warum dieser kontingente status quo den Endpunkt der theoretischen Entwicklung in der Grundrechtsrechtsprechung bilden soll. Im übrigen kann der Verzicht auf theoretische Begründungen zu Rationalitätsdefiziten führen.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Die Kombination der Elemente (1) verfassungsgerichtliche Zurückhaltung, (2) Offenheit des politischen Prozesses und (3) politische Gleichheit mit dem Ziel der Demokratieoptimierung ist Tushnet, Sunstein und Ely gemeinsam, auch wenn ihre Positionen im übrigen unterschiedlicher kaum sein könnten. Auf dieser höchsten Abstraktionsstufe kann man daher sagen, daß Elys Anliegen in der zeitgenössischen Verfassungstheorie fortlebt.
e) Bedenken gegen populistisches Verfassungsrecht Tushnet vertritt eine extreme Form gerichtlicher Zurückhaltung. Die Bewertung hängt davon ab, wie man die Frage beantwortet, ob verfassungsgerichtliche Kontrolle insgesamt mehr nützt als schadet. Unter grundrechtlichem Aspekt besteht an einem positiven Saldo kein Zweifel. Dabei ist es verfehlt, das vom Supreme Court für den Schutz von Freiheit und Gleichheit bereits Geleistete als Selbstverständlichkeit anzusehen, wie dies im Ansatz sowohl Tushnet als auch Sunstein tun 3 2 9 . Populistisches Verfassungsrecht führt zu einer unangemessenen Vereinfachung, weil große Prinzipien, auf deren Strukturierung bewußt verzichtet wird, den ergebnisoffenen Diskurs informieren. Damit werden alle dogmatischen und verfassungstheoretischen Differenzierungen ausgeblendet. Es ist sehr fraglich, ob der damit einhergehende Rationalitätsverlust den komplexen Problemen des Verfassungsrechts angemessen ist. Bedenken gegen populistisches Verfassungsrecht - wie auch gegen CLS im allgemeinen - ergeben sich vor allem aus der Rolle des Grundrechts- und Minderheitenschutzes330. Tushnet verweist auf Großbritannien und die Niederlande, um den Einwand abzuwehren, daß ohne verfassungsgerichtliche Kontrolle die Grundrechte gefährdet seien 331 . Damit wird aber der spezifische Beitrag der Verfassungsgerichtsbarkeit zum Grundrechts- und Minderheitenschutz unterschätzt 332. Die von Tushnet als Vorzug des populistischen Diskurses gedachte Ergebnisoffenheit enthält ein hohes Risiko, wenn aus der Sicht der Minderheit das falsche Ergebnis beschlossen wird. Auch wenn man die in der Unabhängigkeitserklärung angespro329 Demgegenüber meint Tushnet, daß angesichts des bereits erreichten status quo die Abschaffung verfassungsgerichtlicher Kontrolle keine gravierenden Folgen hätte, vgl. ders., Taking the Constitution Away from the Courts, S. 154, 158, insb. 174: ,,[B]asically judicial review is an institution that operates around the margins of our political life". Er gibt zu, daß dieser Punkt seine Argumentation für die Abschaffung verfassungsgerichtlicher Kontrolle schwäche, vgl. ibid., S. 174. 330 Freilich spiegelt dieser Einwand aus der Sicht von CLS nur liberalistische Voreingenommenheit wider, die an den wirklich Bedürftigen der Gesellschaft vorübergeht. 331 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 163. Vgl. auch die Hinweise bei Brugger, Staat 39 (2000), S. 427 f f , 450, zu Jeremy Waldron und dessen Affinität zum britischen Modell. 332 Vgl. auch Tribe, American Constitutional Law, S. 28 Fn. 19.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
chenen unveräußerlichen Menschenrechte in den populistischen Diskurs einbezieht 333 , ändert dies nichts daran, daß der Mehrheit die Definitionsmacht über die Grundrechte zusteht. In einer älteren Publikation hat Tushnet selbst darauf hingewiesen, daß ein Verzicht auf verfassungsgerichtliche Kontrolle schwerwiegende Konsequenzen für die bürgerlichen Freiheiten haben könne 334 . Was geschieht nach Tushnets Theorie, wenn die Mehrheit eine Minderheit diskriminiert, ihr Grundrechte per einfachem Gesetz vorenthält oder den politischen Prozeß zu ihren Ungunsten strukturiert? Die von Ely behandelten Fehlfunktionen des politischen Prozesses infizieren auch den populistischen Diskurs. Für den politischen Kampf um das Recht sind Minderheiten schlecht gerüstet 335. Solange diese Fragen offen bleiben, ist populistischem Verfassungsrecht im Ergebnis noch mehr zu mißtrauen als einer als elitistisch kritisierten Verfassungsgerichtsbarkeit.
2. Kritik aus der Perspektive des Originalismus In den Vereinigten Staaten wird um den Originalismus weiterhin lebhaft gestritten 3 3 6 . Der Textualismus meint, daß die historische Bedeutung der Verfassung die Interpretation nicht nur informieren, sondern auch begrenzen soll. Entsprechendes gilt dem Intentionalismus zufolge für das historisch Gewollte 337 . Zunächst ist auf Scalias historisierenden Textualismus einzugehen (a]). Ausführlicher ist jedoch der eng verwandte Intentionalismus zu behandeln, der mit Kritik an Ely deutlicher hervorgetreten ist (b]).
a) Historisierender Textualismus (Antonin Scalia) 338 „Der Text ist das Gesetz, und es ist der Text, der befolgt werden muß." 3 3 9 Diese unscheinbare Prämisse des Textualismus verschleiert, daß nicht die gegenwärtige, 333 Vgl. die Unabhängigkeitserklärung von 1776: ,,[A]11 Men [ . . . ] are endowed by their Creator with certain unalienable Rights, [ . . . ] among these are Life, Liberty, and the Pursuit of Happiness [ . . . ] " 33 4 Vgl. Tushnet , 89 Yale L.J. 1057 (1980); vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 253. 33 5 Vgl. Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 574, 583. 33 6 Vgl. z. B. das Symposium: Originalism, Democracy, and the Constitution, 19 Harv. J.L. & Pub. Pol'y 237 ff. (1996), mit zahlreichen Beiträgen, unter anderem von Sunstein, Alexander, Kay, Dorf, Epstein, Perry, Amar und Easterbrook. Weitere Nachweise zur unerschöpflichen Lit. bei Tribe, American Constitutional Law, S. 47 ff., vor allem in Fn. 17, 19 und 25. 337
Zu Textualismus und historischem Willen des Verfassungsgebers als Methoden der Verfassungsinterpretation Tribe, American Constitutional Law, S. 32 ff., 47 ff. 338 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation; ders., 57 U. Cin. L. Rev. 849 ff. (1989). Zum Textualismus von Justice Black vgl. Brugger, Grundrechte, S. 348 f. m. Nachw.; ausführlich Schefer, Konkretisierung, S. 92 ff., zur von ihm so genannten engen sprachlichen Argumentation.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie sondern allein die historische und insofern auch traditionelle Textbedeutung maßgeblich i s t 3 4 0 : „Was ich in der Verfassung suche, ist genau das, was ich in einem Gesetz suche: die ursprüngliche Bedeutung [original meaning] des Textes, nicht aber, was die ursprünglichen Verfasser beabsichtigten."341 Daß allein die ursprüngliche Textbedeutung („original meaning") maßgeblich sein soll, rechtfertigt es, Scalias Textualismus unter den Sammelbegriff „Originalismus" zu fassen 3 4 2 , obwohl er sich vom reinen Intentionalismus scharf abgrenzt, weil er die Interpretation anhand des „historisch Gewollten" für einen undurchführbaren und illegitimen Ansatz h ä l t 3 4 3 . Scalia meint, daß die historische Textbedeutung eine konstante, stabile und unveränderliche Verfassung garantiere, was dem Schutz der Grundrechte gegenüber den Launen des Zeitgeistes zugute k o m m e 3 4 4 . Was 1791 verfassungsmäßig war, könne nicht heutzutage verfassungswidrig sein, und umgekehrt 3 4 5 . Dabei verwahrt er sich zugleich gegen die Karikatur des Textualismus, die den Richter auf einen Katalog historischer Fälle beschränkt sehe; der historische Sinn müsse vielmehr auf die heutige Zeit angewendet werden 3 4 6 . Andererseits soll die Textbedeutung stets als unübersteigbare Grenze der Auslegung fungieren, ohne daß Scalia dieses Konzept näher erklärt 3 4 7 . Wie
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So zur Gesetzesinterpretation Scalia, A Matter of Interpretation, S. 22. Das Zitat spiegelt aber auch seine Auffassung zur Verfassungsinterpretation wider, die er als „statutory interpretation" und nicht nach der Methode des common law betreiben will, vgl. ibid., S. 37 ff. Scalia will den Text von Gesetzen weder eng noch weit, sondern „vernünftig" auslegen, vgl. ibid., S. 23. Er versucht, sich vom „strict constructionism" im Sinne einer aus politischen Motiven engen Auslegung der Verfassung abzusetzen (vgl. aber ibid., S. 41 f.). Eine enge Auslegung sei unvernünftig, weil sie dem Grundsatzcharakter der Verfassung widerspreche. Vgl. ibid., S. 37. Abi. zum „strict constructionism" bereits Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 226, 249. 3 *o Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 38, 45, 133, 149. Zielscheibe seiner Kritik ist die „lebende Verfassung", die sich mit der Gesellschaft flexibel verändere. Vgl. ibid., S. 38, 41, 44. Vgl. auch Rehnquist, The Notion of a Living Constitution, 54 Tex. L. Rev. 693 ff. (1976). Der Begriff der „Living Constitution" wird Justice Brennan als einem Vertreter des Non-Originalismus zugeschrieben, vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 48 Fn. 4 m. Nachw. 341
Scalia, A Matter of Interpretation, S. 38. So auch Scalia selbst, vgl. ibid., S. 138. Zur Bedeutung von Tradition im Rahmen des „substantive due process" vgl. Cruzan v. Director, Missouri Department of Health, 497 U.S. 292 ff., 295 (1990) (Scalia, J., concurring). 343 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 16 ff., 29 ff., 133. 344 Vgl. ibid f s. 40, 141, 146, 148. Als Beispiele für modernistische Einschränkungen von Freiheitsrechten erwähnt er den verringerten Stellenwert des Eigentums und die Entwertung des individuellen Grundrechts, Waffen zu tragen. Vgl. ibid., S. 43, zum 2. Amendment auch S. 136 f. Fn. 13. 342
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5 Vgl. ibid., S. 45 f. (zur Todesstrafe), 141. 6 Vgl. ibid., S. 45, 140, 145.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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schon im Zusammenhang mit Elys Textualismus bemerkt 348 , soll sich die Auslegung auf die wörtliche Auslegung beschränken. Aus der Perspektive dieses strikten Textualismus läßt sich gegen Ely einwenden, daß sich dessen Theorie nicht mit den Mitteln der grammatischen und (engen) systematischen Auslegung aus der Verfassung erheben läßt. Darüber hinaus stellt Elys Theorie aus dieser historisierenden Sicht eine dynamische Fortschreibung der allgemeinen Gleichheitsklausel dar, die vom historisch-statischen Textverständnis Scalias nicht gedeckt wird 3 4 9 . Hier sollen nur zwei Kritikpunkte an Scalias Textualismus hervorgehoben werden 3 5 0 . Zum einen ist auf die Selbstbeschränkung der Interpretation auf die wörtliche Auslegung und zum anderen auf die Behauptung einer konstanten Bedeutung der Verfassung einzugehen. Der offene, mehrdeutige Wort- und Textsinn gerade der Grundrechtsbestimmungen wird auch durch Rekurs auf das historische Sprachverständnis nicht zu einem spezifischen, geschlossenen Regelwerk, das eindeutige sprachliche Anweisungen für alle schwierigen Fälle enthält. Scalia verwahrt sich ja selbst gegen eine solche verzerrte Wahrnehmung seiner Theorie. Dann ist aber eine Beschränkung der Verfassungsinterpretation auf die grammatische Auslegung des historischen Wort- und Textverständnisses undurchführbar 351. Im übrigen erklärt Scalia nicht, wieso die Unsicherheit und Manipulierbarkeit, die für ihn die Undurchführbarkeit der nach dem historischen Willen fragenden genetischen Auslegung begründet, nicht auch die Feststellung der historischen Bedeutung belastet 352 . Scalias Auffassung von einer konstanten Bedeutung der Verfassung überzeugt nicht. Einerseits will er den Interpreten nicht auf einen Katalog von Anwendungsfällen beschränken, die im historischen Sprachgebrauch verankert sind 353 . Ande347
Vgl. ibid., S. 24: „Worte haben eine beschränkte Reichweite an Bedeutung, und eine Interpretation, die über diese Reichweite hinausgeht, ist unzulässig." Eine inhaltliche Deutung der due process-Klausel verstößt für ihn gegen die Wortlautgrenze. 3 48 Siehe oben 2. Kap., B. IV. 349
Scalia kritisiert Ely in „A Matter of Interpretation" nicht ausdrücklich, vgl. aber ibid., S. 147 f., zur Redefreiheit und zur Gleichheitsklausel. 350 Zur Kritik vgl. die Beiträge von Wood, Tribe, Glendon und Dworkin in: Scalia, A Matter of Interpretation, S. 49 ff. Vgl. auch Sunstein, One Case at A Time, S. 209 ff., 261 f.; Tribe, American Constitutional Law, S. 50 Fn. 9. Zur fehlenden Determinierung der Interpretation durch nicht-historischen Textualismus vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 769 f. (1991). 351 Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 35: „The Constitution's text is authoritative but not exhaustive or, even within its sphere, necessarily self-defining.", und ibid.: ,,[W]hat the Constitution says does not exhaust what it means". 352 Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 35 f., 38. Mit einem bloßen Etikettenwechsel sind die methodischen Probleme der genetischen Auslegung nicht zu lösen. Zu Einwänden gegen die Durchführbarkeit des Intentionalismus siehe unten 3. Kap., B. II. 2. b) aa) und dd) (1). 3 3 5 Vgl. ibid., S. 140, 145.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
rerseits will er den Text in seiner alten Bedeutung auf neue Tatsachen anwenden, ohne daß sich dadurch der als feststehend gedachte Bedeutungsinhalt der Verfassung ändern soll. Dies ist aus sprachphilosophischer Sicht eine unzulässige Fiktion, weil die Bedeutung an den Gebrauch der Sprache gekoppelt ist 3 5 4 . Scalia täuscht darüber hinweg, daß er selbst die Bedeutung der Verfassung verändert und verschiebt, indem er das historische Verständnis „ermittelt" und auf die Gegenwart „anwendet". Er verschleiert diesen Bedeutungswandel und Mangel an sprachlicher Determination mit nebulösen Metaphern 355 . Im Ergebnis ist eine Beschränkung der Interpretation auf historisierenden Textualismus undurchführbar, weshalb Kritik an Elys Theorie insoweit ohne Grundlage ist 3 5 6 . Gegen Scalias Versuch, der Verfassung einen unveränderlichen, historisch fixierten Inhalt zuzuweisen, sind auch inhaltliche Einwände denkbar, auf die im Zusammenhang mit dem insoweit vergleichbaren Intentionalismus einzugehen ist 3 5 7 .
b) Intentionalismus Im folgenden wird zunächst in die Problematik eingefühlt (aa]), sodann Robert Borks Version des Intentionalismus vorgestellt (bb]). Daran schließt sich die Kritik an Ely aus intentionalistischer Perspektive an (cc]). Schließlich ist der als Alternative zu Elys Theorie auftretende Intentionalismus seinerseits auf Durchführbarkeit und Angemessenheit zu untersuchen (dd]). aa) Uberblick zum Intentionalismus In der amerikanischen Literatur firmiert der Intentionalismus358 als Theorie des „Original Understanding" (Bork) sowie des „Original Intent" (Monaghan). Anstel354
Scalia diskutiert keine sprachphilosophischen Erkenntnisse. Dazu unten 2. Teil, 3. Kap., B. I. und II. 355 Vgl. ibid., S. 45: In neuen Bereichen müsse sich der Interpret an die vom 1. Amendment vorgezeichnete Bahn („trajectory") halten. Vgl. auch ibid., S. 38, wonach „Rede" und „Presse" Stellvertreter („Synekdochen") für weitere Kommunikationsformen seien. Damit liest Scalia etwas in die Verfassung hinein, was sie nach historischem Sprachverständnis nicht beinhaltet. 3 56 Dies schließt es nicht aus, wie Ely einen nicht-historisierenden Textualismus zur Grundlage der Verfassungsinterpretation zu machen. 357 Siehe unten 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (2). Scalias Thesen klingen in mancher Hinsicht noch radikaler, weil sie sich gegen jede Entwicklung des Bedeutungsinhalts der Verfassung wenden. Vgl. ders., A Matter of Principle, S. 146 (Unveränderlichkeit der in der Bill of Rights enthaltenen moralischen Werte der US-Amerikaner von 1791), 147 (Unveränderlichkeit von Rechten). 3 58 Vgl. etwa Berger, Government by Judiciary, 1977; ders., 42 Ohio St. L.J. 87 ff. (1981); Bork, The Tempting of America, insb. S. 1 ff., 143 ff. (dazu die Bspr. von Bungert, AöR 117
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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le von Intentionalismus kann man auch mit Brest von Originalismus und mit Ely von Interpretivismus sprechen. Intentionalismus versteht die Verfassung als historischen Befehl des Verfassungsgebers 359. Intentionalismus knüpft an den Willen des faktischen Verfassungsgebers in der damaligen Zeit an 3 6 0 , nicht - wie Scalia - an die historische Textbedeutung. Allerdings gehen beide Ansätze umso stärker ineinander über, je mehr man die objektiv-historische Textbedeutung mit dem subjektiv-historisch Intendierten identifiziert 361 . Die verfassungsgerichtlichen Kontrollbefugnisse sollen sich auf das einigermaßen spezifisch Gesagte und Gewollte beschränken 362, um die historische Anordnung möglichst authentisch zu vollziehen. Alle vom Verfassungsgeber nicht klar vorentschiedenen Fragen soll der demokratische Prozeß nach dem Mehrheitsprinzip regeln. Selbst der faktische Verfassungsgeber in der damaligen Zeit 3 6 3 ist jedoch eine Personifikation ohne eigenen Willen 3 6 4 : Der Verfassungsgeber besteht aus zahlreichen Individuen, die je ihren eigenen Willen hatten. Dabei ist schon zweifelhaft, auf welchen Personenkreis es ankommen soll 3 6 5 . Von den Verfassungsvätern („framers"), das heißt den Teilnehmern des Verfassungskonvents von Philadelphia, der die Verfassung beschlossen hat, hat sich der Intentionalismus mittlerweile verabschiedet, weil dieser Konvent mit der eigentlichen Ausübung der verfassungsgebenden Gewalt durch Ratifikation nichts zu tun hatte 366 . Man kann deshalb auf die Mitglieder der die ursprüngliche Verfassung ratifizierenden Konvente in den Einzelstaaten abstellen („ratifiers"). Bei Verfassungsänderungen kommen der Kongreß (1992), S. 71 ff.); Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 374 ff. (1981); Perry, 11 Va. L. Rev. 669 ff. (1991), der in diesem Artikel eine eigenwillige Version des Intentionalismus vertritt. Vgl. auch ders., The Constitution in the Courts, 1994. Aus der Rechtsprechung vgl. z. B. die abw. M. des damaligen Justice Rehnquist in Sugarman v. Dougall, 413 U.S. 634, 649 ff. (1973), sowie in Trimble v. Gordon, 430 U.S. 762, III ff. (1977). Vgl. auch Rehnquist, 54 Tex. L. Rev. 693 ff. (1976). Eine Diskussion des Intentionalismus in deutscher Sprache findet sich bei Brugger, Grundrechte, S. 350 ff.; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 176 ff., 184 f.; ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 583 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 245 ff.; Heun, AöR 116 (1991), S. 185 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 33 ff.; Schefer, Konkretisierung, S. 155 ff. 359 Besonders deutlich Perry, 11 Va. L. Rev. 690 (1991). 360 Vgl. Brugger, AöR 119 (1994), S. 26 f. mit Übersicht auf S. 34. 361 Näher dazu noch unten 2. Teil, 3. Kap., C. II. 1. 362 Vgl. Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 584. 363 Gleiches gilt mutatis mutandis für den verfassungsändernden Gesetzgeber, vgl. Art. V US-Verfassung. 364 Kritisch Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 483 (1981). 365 Scalia erspart sich manchen Widerspruch, indem er nicht auf den Willen des Verfassungsgebers, sondern auf die Bedeutung der Verfassung abstellt. Dadurch entfällt die Verengung auf die „Framers", die „Ratifizierer" oder das - weiße, männliche - Wahlvolk. Statt dessen konstituiert sich die Bedeutung potentiell in der gesamten historischen Öffentlichkeit. Vgl. Scalia, A Matter of Interpretation, S. 38; Tribe, American Constitutional Law, S. 56 ff. 366 Vgl. Art. V I I US-Verfassung. Umgekehrt kann Scalia die Ansichten der Verfassungsväter zur Bedeutungsermittlung heranziehen. 14 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
und sämtliche einzelstaatlichen Parlamente in Frage 367 . In allen Fällen steht schließlich hinter den „Ratifizierern" i.e.S. das Wahlvolk, das für lange Zeit allein aus weißen Männern bestand. Die damalige Öffentlichkeit hingegen partizipiert als solche nicht an der verfassungsgebenden Gewalt des Volkes und bleibt im strikten Intentionalismus außer Betracht. Nun kann der Intentionalist theoretisch versuchen, alle Einzelwillen der maßgeblichen Personen zu ermitteln und auf der Grundlage einer Zählung dieser Einzelwillen die Mehrheitsmeinung herauszufinden. Ziel dieses Vorgehens ist eine fiktive Abstimmung über die heute zu entscheidende Frage in einer fiktiven verfassungsgebenden Versammlung 368. Der Intentionalist wird diesen Versuch aufgeben müssen, weil er zum einen außerstande ist, den Willen jedes einzelnen Mitglieds eines Verfassungskonvents zu ermitteln und weil zum anderen der „Verfassungsgeber" das spezielle Problem der Gegenwart in der Regel nicht diskutiert haben wird. Statt einen aggregierten Willen des „Verfassungsgebers" als Ziel der Interpretation zu verfolgen, muß sich der Intentionalist daher mit repräsentativen, aber unvollständig überlieferten Äußerungen bescheiden, die uns in der heutigen Zeit zur Verfügung stehen. Dieses Unterfangen ist jedoch mit erheblicher Unsicherheit belastet: (1) Zunächst stellt sich der „Wille" einer Person als ein komplexer psychologischer Befund dar, den man nicht einfach durch Aktenstudium erheben kann 369 . (2) Es ist unklar, wann die einzelne Willensäußerung den Willen des Verfassungsgebers repräsentiert 370. (3) Bei widersprüchlichen Ansichten innerhalb des maßgeblichen Personenkreises stellt sich das Problem, die historische „Mehrheitsmeinung" oder „herrschende Meinung" bestimmen zu müssen. (4) Das Ergebnis der historischen Recherche wird ein buntes Gemisch aus konkreten Vorstellungen zu möglichen Anwendungsfällen und mehr oder weniger abstrakten Absichten, Zielen, Hoffnungen und Erwartungen sein 371 . Für den Umgang mit diesem sperrigen Material muß der Intentionalist einfach anwendbare Regeln aufstellen.
367 Vgl. Art. V US-Verfassung. Dazu Ely, S. 17. 368 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 477, 487 f. (1981), der im Anschluß an Brest, 60 B.U.L. Rev. 212 f. (1980), von einem „»majority intention' approach" spricht. 369 Vgl. die Diskussion von Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 478 ff., 482 (1981). Vgl. auch Brugger, Grundrechte, S. 357: „Ein direkter Durchgriff auf den ,Willen4 einer Person oder Institution ist nicht möglich. Der Interpret muß gleichzeitig die gesamte Situation und den Werthorizont mitverstehen und miterschaffen. Dann aber kann man fragen, welchen Willen die betreffende Person oder Institution gehabt hätte, wenn sie bestimmte neue, ihr noch nicht bekannte Umstände mit in die Überlegung einbezogen hätte." (Fn. weggelassen) 370 Vgl. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 488 (1981) (»„representative intention' approach"). 371 Vgl. auch Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 483 ff. (1981), der hier unter Rückgriff auf den Sprachphilosophen Paul Grice zwischen Erwartungen und Hoffnungen differenziert. Einführend zu Grice Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 139 f., 160 m. Nachw. Vgl. auch Dworkin, in: Scalia, A Matter of Interpretation, S. 116 ff., zur Unterscheidung von „semantic intentions" und „concrete expectations of lawgivers"; dazu Tribe, American Constitutional Law, S. 54 f.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Eine Möglichkeit ist, daß das Verfassungsgericht die Norm lediglich in den historisch vorbedachten Anwendungsfällen anwenden darf. Dies soll maximale Berechenbarkeit der intentionalistischen Methode garantieren. Ein solcher „primitiver" Intentionalismus ist jedoch in dem Sinne undurchführbar, daß er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle einen zu geringen Anwendungsbereich eröffnet. Wenn die Interpretation immer dann abgebrochen wird, sobald der historische Verfassungsgeber den gegenwärtig vom Gericht zu entscheidenden Fall nicht klar und deutlich vorausgesehen hat, wird die betreffende Norm nur in wenigen Fällen anwendbar sein. Das Resultat wäre eine minimalistische Verfassung, die selbst hinter dem, was die Textbedeutung nahelegt, weit zurückbleiben würde. Dies erkennen auch die Intentionalisten, die sich verleumdet fühlen, wenn man ihnen das primitive Modell unterstellt 372 . „Anspruchsvoller" Intentionalismus will alle diese Probleme lösen, indem er aus dem historisch gewollten oder gemeinten Inhalt der Verfassung abstrakte Prinzipien ableitet und diese in die Gegenwart projiziert. So wird zum Beispiel der Gleichheitsklausel des 14. Amendment das Prinzip der Rassengleichheit entnommen 373 . Eine Beschränkung der Interpretation auf das abgeschlossene Inventar historisch vorbedachter Fälle findet damit nicht statt, wohl aber eine Beschränkung auf die historisch gewollten Prinzipien der Verfassung. Diese können prozeduraler wie materialer Art sein. Eine rein prozedurale Deutung der Verfassung lehnt der Intentionalismus ab. Da anspruchsvoller Intentionalismus grundsätzlich konkrete wie auch abstrakte Vorstellungen des Verfassungsgebers für wichtig hält, muß er entscheiden, in welchem Verhältnis der konkret vorbedachte Anwendungsfall und abstrakte Absicht, Zielvorstellung oder Prinzip zueinander stehen. Verschiedene Intentionalisten treffen hier ganz unterschiedliche inhaltliche Entscheidungen, um ein Rangverhältnis festzulegen. Hier soll mit Robert Bork ein prominenter Vertreter des anspruchsvollen Intentionalismus zur Sprache kommen. Bork vermeidet den „primitiven" Intentionalismus ebenso wie eine patriarchalisch anmutende Anknüpfung an den Willen der Verfassungsväter („framers") und zeigt eine gewisse Affinität zu Scalias Standpunkt. Diese geht so weit, daß man Bork seiner Terminologie zufolge für einen Vertreter des historisierenden Textualismus halten muß 3 7 4 . Wie sich im folgenden zeigen wird, vertritt er letztlich aber doch eine intentionalistische Position. bb) „ Original Understanding"
(Robert Bork)
Für Bork muß das Verfassungsgericht die Prinzipien der Verfassung so anwenden, wie sie die informierte Öffentlichkeit zur Zeit der Verfassungsgebung verstand oder 372 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 167. 373 Die Gleichheitsklausel des 14. Amendment spricht im Unterschied zum 15. Amendment nicht von Rasse, sondern allgemein von „equal protection of the laws". 374 Siehe dazu gleich im Text unter bb). 14
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
verstanden haben w ü r d e 3 7 5 . Damit konstituiert für ihn das Textverständnis der damaligen Zeit („original understanding") die Bedeutung der Verfassung 376 . Bork geht es vorrangig um das Verständnis der von den „Ratifizierern" öffentlich geäußerten Intentionen 3 7 7 , während geheime Vorbehalte unbeachtlich seien 3 7 8 . Wenn Bork auf das ursprüngliche Verständnis abstellt, zuweilen sogar von „original m e a n i n g " 3 7 9 spricht, so meint er damit wie Scalia die objektive, historische Bedeutung der Verfassung 380 . Dies zeigt sich am deutlichsten in folgender Passage: „Allein maßgeblich ist, wie die Worte, die die Verfassung gebraucht, zur damaligen Zeit verstanden worden wären. Das ursprüngliche Verständnis manifestiert sich daher in den benutzten Wörtern und in Sekundärmaterialien, wie etwa den Debatten in den Konventen, der öffentlichen Diskussion, Zeitungsartikeln, damals gebräuchlichen Wörterbüchern und Ähnlichem." 381 Die relative Differenziertheit, die in diesem semantischen Ansatz liegt, macht Bork allerdings praktisch zunichte, indem er so häufig auf die Absichten der „Ratifizierer" abstellt, daß man den - öffentlich geäußerten - Willen des Verfassungsgebers doch für sein entscheidendes Auslegungskriterium halten m u ß 3 8 2 . Das Verständnis der informierten Öffentlichkeit dient als Feigenblatt für die alles entscheidenden bekannt gemachten Intentionen der an der Verfassungsgebung beteiligten Personen 3 8 3 . Man tut ihm also i m Gegensatz zu Scalia keineswegs Unrecht, wenn man ihn als Intentionalisten bezeichnet 3 8 4 . 375 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 5, 143 ff. 376 Zu Unrecht unterstellt Perry, 11 Va. L. Rev. 677 (1991), daß Bork das Verständnis des Wahlvolks als Träger der verfassungsgebenden Gewalt für maßgeblich halte. Das wäre für einen strikten Intentionalismus konsequent, den Bork aber infolge seiner Annäherung an Scalias Position nicht vertritt. 377 Man kann diese im Vergleich zum „Willen der Verfassungsväter" anspruchsvollere Formel als unausgesprochenen und freilich unvollkommenen Versuch einer Annäherung an die intentionalistische Formel von Grice werten, die etwa Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 483 f. (1981), so umschrieben hat: „Speaker's meaning is determined by what the speaker expects the hearer to understand the speaker as intending him to understand." Welche Rolle die Sprecherintention für die Textbedeutung spielen soll, kann die Verfassungstheorie nur in Kooperation mit der Sprachphilosophie bestimmen. Dazu näher unten 2. Teil, 3. Kap., C. II. 1. u. 2. 378 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 144: „Law is a public act. Secret reservations or intentions count for nothing." 379 ibid., S. 145. Vgl. auch S. 176: ,,[T]here is a historical Constitution that was understood by those who enacted it to have a meaning of its own. That intended meaning has an existence independent of anything judges may say." 380 Bork ist jedoch anders als Scalia kein strikter Textualist, vgl. ibid., S. 147: „The Constitution states its principles in majestic generalities that we know cannot be taken as sweepingly as the words alone might suggest." Dies kommt einer Aufforderung zur restriktiven Auslegung oder sogar zur teleologischen Reduktion gleich. 381 Ibid., S. 144. 382 Vgl. ibid., S. 161 ff., 165, 180 f., 183, 197 u.ö. 383 Vgl. auch ibid., S. 5: „Of course, the judge is bound to apply the law as those who made the law wanted him to. That is the common, everyday view of what law is."; sowie
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Das Verfassungsgericht hat bei Bork die Aufgabe, die historischen Prinzipien in der Gegenwart effektiv durchzusetzen 385. Es müsse dasjenige Übel identifizieren, gegen das die Norm historisch gerichtet sei, und sie dann gegen das korrespondierende Übel in der Gegenwart verteidigen 386 . Die Interpretation müsse die Veränderung der Lebensbedingungen berücksichtigen, damit die Normen der Verfassung nicht bedeutungslos würden 387 . Für Bork ergeben sich aus dem historisch Gewollten wertneutrale Prinzipien, wodurch die Rechtsanwendung von Politik, Moral und gesellschaftlichem Konsens abgekoppelt werde 388 . Die einmal ermittelten Prinzipien seien vom Gericht konsequent anzuwenden, was ihre Anpassung an den Einzelfall nicht ausschließe389. Das schöpferische Element der Verfassungsinterpretation wird von Bork als minimal dargestellt 390: Es bestehe in geringfügiger, lückenfüllender Rechtserzeugung 391 . Schlechterdings unentschuldbar ist für Bork verfassungsgerichtlicher Aktivismus, der über das historisch Gewollte hinausgeht, etwa indem er neue Grundrechte erfindet 392 . Intentionalismus bedeutet jedoch für Bork nicht, daß das Verfassungsgericht alle aktivistischen Entscheidungen der letzten 200 Jahre aus der amtlichen Sammlung tilgen muß 3 9 3 . Aus intentionalistischer Sicht inakzeptable Entscheidungen wie Brown 394, aber auch Entscheidungen wie Carolene Products, die den ursprünglich nicht vorgesehenen Ausbau der Bundesgewalt im „New Deal" absichern sollten, werden über die Doktrin der „stare decisis" als Bestandteile des geltenden VerfasS. 143: „[A] judge is to apply the Constitution according to the principles intended by those who ratified the document [ . . . ] . " (Hervorhebungen von J.R.) 384 Im Gegensatz dazu vermeidet Scalia, A Matter of Interpretation, konsequent den Rekurs auf den historischen Willen. 385 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 163, 167 ff. 386 387
So die Beschreibung des Originalismus bei Ely, S. 13. Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 168 m. Bsp.
388
Vgl. ibid., S. 143, 146 f., 151 (Überschriften), zur Neutralität von Ableitung, Definition und Anwendung der Verfassungsprinzipien. 389 Borks Beschränkung auf den historisch nachweisbaren Bestand an Verfassungsprinzipien geht allerdings über die von Wechsler verfochtene Konsequenz hinaus, vgl. Bork, The Tempting of America, S. 145 f., 151 ff. 3 90 Dazu auch Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 392 (1981), der vorschlägt, die Verfassung als „superstatute" wie ein einfaches Gesetz zu interpretieren. 391 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 5: „It is of course true that judges to some extent must make law every time they decide a case, but it is minor, interstitial lawmaking." (Hervorhebung von J.R.) 39 2 Vgl. ibid., S. 146 f. 393
Vgl. aber Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 587; ders., Grundrechte, S. 350 Fn. 19 m.
Text. 394
Bork, The Tempting of America, S. 74 ff., 82 f., hält diese Entscheidung allerdings für ein zulässiges Verständnis der Gleichheitsklausel. Dazu kritisch Bungert, AöR 117 (1982), S. 85 f.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
sungsrechts abgesichert, weil sie inzwischen aus dem Verfassungsverständnis nicht mehr wegzudenken seien 395 . Dieser Bestandsschutz soll freilich nicht für Entscheidungen wie Griswold 396 und Roe gelten, die aus konservativer Sicht nicht im traditionellen Sozialethos verankert sind 397 . Die mit der Bindung an das historisch Gewollte einhergehende Rechtssicherheit ist zwar als ein traditioneller Bestandteil positivistischer Rechtstheorie für die Intentionalisten von großer Bedeutung, weil hierin gerade ein komparativer Vorteil zu allen anderen Theorien erblickt wird 3 9 8 . Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Voraussagbarkeit des Verfassungsrechts haben aber im Intentionalismus letztlich nur eine dienende Funktion, weil sie sich als Anforderungen des zugrunde liegenden Demokratiemodells erweisen, das - stärker noch als bei Ely - um das Mehrheitsprinzip und ein skeptizistisches oder relativistisches Wertverständnis zentriert ist 3 9 9 . Verfassungsgerichtliche Kontrolle ist für Bork grundsätzlich legitim, auch wenn er sie ganz im Paradigma der „countermajoritarian difficulty" sieht. Verfassungsgerichtlicher Schutz individueller Freiheit verhindere eine Tyrannei der Mehrheit 4 0 0 . Ohne strikte Begrenzung verfassungsgerichtlicher Macht drohe jedoch umgekehrt eine Tyrannei der Minderheit und des Verfassungsgerichts. Allein die Begrenzung auf das historisch Gewollte vermittelt Bork zufolge effektive Bindung der Interpretation an das Verfassungsgeseiz und damit Legitimität verfassungsgerichtlicher Kontrolle 401 . Der Intentionalismus porträtiert sich so - wie Ely - als goldene Mitte zwischen Mehrheits- und Minderheitsherrschaft. cc) Kritik des Intentionalismus an Elys Theorie Die intentionalistische Kritik 4 0 2 setzt ein, sobald man sich dem Kernbereich der Fußnote in Elys Verständnis nähert, nämlich bei der Partizipations- und Repräsen395 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 155 ff., 158; Scalia, A Matter of Interpretation, S. 138 ff. Wegweisend Monaghan, 56 N.Y.U. L. Rev. 382 m. Fn. 168, 390 (1981). „Stare decisis" gilt allerdings für den Supreme Court nicht zwingend, wie das nicht unübliche „overruling" eigener Vorentscheidungen zeigt. 396 Die konservativen Angriffe richten sich gegen den Persönlichkeitsschutz, nicht gegen den Schutz der ehelichen Intimsphäre. 397 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 158 f. Kritisch dazu Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 157. 398 Vgl. aber Perry, 11 Va. L. Rev. 680 f., 711, 713 (1991), der bestreitet, daß anspruchsvoller Intentionalismus, wie er ihn vertritt, einfach anwendbar sei und zu einem höheren Grad an Determination führe als nichtoriginalistische Verfassungsinterpretation. 399 Ähnlich Brugger, Grundrechte, S. 352 f. m. Fn. 30; ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 584. 400
Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 139 ff., zum „Madisonian dilemma". Anders wiederum Perry, 11 Va. L. Rev. 680 f., 693 (1991), der seinem eigenen intentionalistischen Ansatz eine die Verfassungsinterpretation begrenzende Wirkung abspricht. Dazu Bork, The Tempting of America, S. 58 ff., 194 ff.; Berger, 42 Ohio St. L.J. 87 ff. (1981); Laycock, 59 Tex. L. Rev. 393 f. (1981). 401
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tationsoptimierung mit Hilfe der allgemeinen Gleichheitsklausel403. Einer aktivistischen Ausdehnung von Partizipationsrechten steht Bork ablehnend gegenüber 404 . Im Zentrum der Kritik steht jedoch der Minderheitenschutz, der als eine verfassungsgerichtliche Mißachtung des Prinzips demokratischer Mehrheitsherrschaft aufgefaßt wird 4 0 5 . Für Bork führen „Vorurteile gegenüber abgegrenzten und isolierten Minderheiten" für sich allein nicht zu erhöhtem verfassungsrechtlichen Schutz 406 . Carolene-Minderheiten sind für Bork lediglich „Interessengruppen", die die historische Verfassung nicht besonders schütze 407 . Da die Anwendung der Gleichheitsklausel auf den historisch gewollten Rahmen zu beschränken sei, dürfe das Verfassungsgericht über Rasse und nationale Herkunft hinaus keine verdächtigen Klassifizierungen annehmen. Die aktivistische Ausdehnung des Minderheitenschutzes gleiche der Erfindung eines Rechts auf Privatsphäre, wie sie Justice Douglas in Griswold v. Connecticut 408 vorgenommen habe, und sei gleichermaßen illegitim 4 0 9 . Ely gewähre mehr Repräsentation, als die Verfassung historisch und sprachlich belegbar vorsehe. Für die Vertreter des Intentionalismus liegt Elys gesamter Theorie ein unzutreffendes Vorverständnis der Generalklauseln zugrunde 410 . Bork meint, daß eine auf Textbedeutung und genetische Auslegung beschränkte Interpretation der Generalklauseln („clause-bound interpretation") nicht nur möglich 411 , sondern auch ver403
Soweit „spezifisches" Verfassungsrecht nach Fußnote 4 intensiver gerichtlicher Kontrolle unterliegt, ist dies für Bork selbstverständlich. Dies gilt auch für die Redefreiheit sowie für den Schutz religiöser, ethnischer und rassischer Minderheiten. Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 60, 197. 404 Bork, The Tempting of America, S. 196, bemerkt zutreffend, daß ein verfassungsgeschichtlicher Trend zu mehr Partizipation es nicht rechtfertige, über das von der Verfassung gebotene Maß an Partizipationsrechten hinauszugehen. 4 05 Kritisch Berger, 42 Ohio St. L.J. 129 (1981): „In truth, Ely, while paying lip service to majority rule, would sap it. [ . . . ] Elected officials represent those who elected them and are not bound to carry out the desires of the losers. Ely would have the tail wag the dog." (Fn. weggelassen) 406 Bork, The Tempting of America, S. 60, stellt fest, daß Vorurteile nach der Verfassung nicht per se verboten seien. Wer den Text der Fußnote 4 erstmalig liest, wird sich des Eindrucks nicht erwehren können, daß die Formel „prejudice against discrete and insular minorities" eine geniale richterliche Eingebung ist, die mit dem Text der Verfassung nichts zu tun hat. Dies bringt Borks Kritik treffend zum Ausdruck. Vgl. auch Berger, 42 Ohio St. L.J. 87 (1981): „Justice Stone spun his footnote out of thin air [ . . . ]." w Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 195 (Zitat), 197. 4 08 381 U.S. 479,480 ff. (1965). 4 09 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 197 f. 4 10 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 120 ff., 123 ff. (1981); Bork, The Tempting of America, S. 178 ff., 194. Siehe dazu bereits oben 3. Kap., B. I. 2., unter (3). 411 Ely hält dagegen eine auf Textaussage und den historischen Willen beschränkte Interpretation erstens für unmöglich (vgl. Ely, Überschrift auf S. 11: „The Impossibility of a Clause-Bound Interpretivism") und zweitens für unvereinbar mit dem in den Generalklauseln enthaltenen Normbefehl. Vgl. Ely, S. 12: „[A] number of constitutional phrases cannot intelligibly be given content solely on the basis of their language and surrounding legislative
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fassungsrechtlich geboten sei 4 1 2 . Man dürfe die Generalklauseln gerade nicht als Delegation 413 auffassen, die das Verfassungsgericht zur Erfindung neuer Rechte ermächtige. Eine solche Delegation verkehre das verfassungsmäßige System der Gewaltenteilung ins Gegenteil 414 . Die Verfassungsväter hätten in der Judikative eine vergleichsweise unbedeutende staatliche Gewalt erblickt, die auf Ermittlung und Anwendung des vorgegebenen Rechts beschränkt sei, und dem Verfassungsgericht keineswegs unkontrollierte Macht verleihen wollen, die Verfassung fortzuschreiben 415. Eine Delegation, wie sie Ely bejahe, sei nach dem Wortsinn der Generalklauseln nicht zwingend vorgeschrieben und vom Verfassungsgeber nicht beabsichtigt gewesen. Letzteres hat Berger mit Hilfe einer detaillierten Analyse der Entstehungsgeschichte nachzuweisen versucht 416 . Ely sieht dagegen im historisch Gewollten letztlich keinen Hinderungsgrund für seine Theorie 417 . Von seinem methodischen Standpunkt aus ist es jedoch zulässig, sich aus der Entstehungsgeschichte zu informieren 418 . Deshalb bemüht er sich, auf dem Gebiet der genetischen Auslegung Punkte zu sammeln, um so seiner These, wonach die Generalklauseln eine „Einladung" 419 zu nichtoriginalistischer Verfassungsinterpretation seien, zusätzliches Gewicht zu verleihen 420 . In der Regel lautet sein Ergebnis, die Entstehungsgeschichte sei nicht so klar und eindeutig, wie üblicherweise behauptet werde 421 . Ohne hierauf im einzelnen eingehen zu können, ist festzuhalten, daß Elys genetische Auslegung der Generalklauseln von der der Intentionalisten teilweise erheblich abweicht 422 . Im Hinblick auf die Gleichheitshistory, [ . . . ] certain of them seem on their face to call for an injection of content from some source beyond the provision [ . . . ] . " 412 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 178 ff., 185 mit Zitat. 4 13 Zu den Generalklauseln als Delegation an das Verfassungsgericht Ely, S. 28, 32, 38. Vgl. auch S. 13: ,,[T]he constitutional document itself, the interpretivist's Bible, contains several provisions whose invitation to look beyond their four corners - whose invitation, if you will, to become at least to that extent a woninterpretivist - cannot be construed away." (Hervorhebungen von J.R.) 414 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 121 (1981): „It is therefore sheer fantasy to maintain that the founders employed 'open-ended' terms in order to empower judges to overrule the legislature or rewrite the Constitution by invoking values derived outside the Constitution." 415 Vgl. ibid., S. 120 f. Auch Ely, S. 20, 23, 34, hält eine unbegrenzte Delegation unter demokratischem Aspekt für problematisch und meint deshalb, man müsse die Generalklauseln entweder im Sinne der repräsentationsoptimierenden Theorie konkretisieren oder überhaupt nicht anwenden, vgl. Ely, S. 41. 416 Vgl. Bergen 42 Ohio St. L.J. 87 ff. (1981).
417 Besonders deutlich Ely, S. 118 f. 418 Vgl .Ely, S. 16. 419 Ely, S. 13. 420 Vgl. Ely, S. 15 ff., 25 ff., 31, 119. 421 Vgl. etwa Ely, S. 25, 27. 422 Dies trifft z. B. auf die privileges or immunities-Klausel des 14. Amendment, auf das 9. Amendment und die Republican Form of Government-Klausel in Art. IV See. 4 US-Verfassung zu, denen Ely eine vergleichsweise aktive Rolle zuweisen will. Vgl. im einzelnen
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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klausel des 14. Amendment, die das wichtigste Vehikel seines verfassungsgerichtlichen Aktivismus ist, geht er einer historischen Diskussion aus dem Weg 423 . Bergers historische Analyse richtet sich aber nicht nur gegen den behaupteten Mißbrauch der Generalklauseln als „Blankoscheck" 424 , sondern greift im besonderen Elys historisches Verständnis der Gleichheitsklausel als Sitz der Partizipationsund Repräsentationsoptimierung an. Für Berger war es die erklärte Absicht der Verfassungsväter, daß die Gleichheitsklausel des 14. Amendment auf Wahlrechtsfragen unanwendbar sein sollte 425 . Die Unanwendbarkeit der Gleichheitsklausel des 14. Amendment in Wahlrechtsfragen zerstöre das Fundament von Elys Theorie426. Berger zitiert eine Fülle von historischen Stellungnahmen, um dies zu belegen. Davon abgesehen sprechen zwei systematische Argumente für seine Ansicht. Zum einen lasse die Sanktionsregelung in Am. 14 See. 2 US-Verfassung das Wahlrecht der Einzelstaaten unberührt 427 . Zum anderen zwinge das 15. Amendment, das Ungleichbehandlung aufgrund der Rasse in bezug auf das Wahlrecht verbietet, zu dem Umkehrschluß, daß das 14. Amendment diese Materie noch nicht regeln wollte 4 2 8 . Auch die Kontrolle des politischen Prozesses im weiteren Sinne, wie sie im Rahmen von Partizipations- und Repräsentationsverstärkung erfolge, sei historisch nicht Thema des 14., sondern des 15. Amendment. Ely müsse aber für die Repräsentationsoptimierung die Anwendbarkeit des 14. Amendment erzwingen, weil dessen Schutzbereich im Gegensatz zum 15. Amendment nicht auf Rassendiskriminierung beschränkt sei 4 2 9 . Im Zuge seiner ausführlichen Analyse hat Berger Elys historische Auslegung scharf kritisiert 430 . Ely spekuliere über die Entstehungsgeschichte431, verdrehe geschichtliche Fakten 432 und nehme historische Quellen gar nicht 4 3 3 oder nur selekEly, S. 22 ff., 34 ff., 122 ff., mit Berger, 42 Ohio St. L.J. 99 ff., 116 ff., 113 ff. (1981). Anders als Berger hält Perry, 11 Va. L. Rev. 671 (1991), Elys historische Auslegung des 9. Amendment und der privileges or immunities-Klausel für „quite plausible". 423 Vgl. Ely, S. 31 f. 424 Berger, 42 Ohio St. L.J. 98 (1981). 425 Vgl. ibid., S. 87 ff., 111, 126 f. Vgl. andererseits Ely, S. 118 f. 426 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 88, 91 (1981). 427 Vgl. ibid., S. 94. Schließt ein Gliedstaat Schwarze von der Wahl aus, so hat dies nach dem Text der Vorschrift nicht einen bundesstaatlichen Eingriff in das einzelstaatliche Wahlrecht zur Folge, sondern lediglich eine verringerte Repräsentation dieses Gliedstaates im Repräsentantenhaus. 428 Vgl. ibid., S. 89 ff. 429 Vgl. ibid., S. 90. 430 Bergers Tonfall zeichnet sich durch ein Höchstmaß an Unsachlichkeit aus, woran Ely freilich nicht unschuldig ist. Vgl. etwa Berger, 42 Ohio St. L.J. 89, 99 (1981), mit Ely, S. 201 Anm. 70. 431 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 88 (1981). 432 Vgl. ibid., S. 88: „Ely twists, bends, and distorts the historical facts to fit his theory.", S. 92: „downright misleading", S. 99: „Such is the »nonsense' by which Ely would obscure ,the intent of the framers'." (Fn. weggelassen)
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tiv wahr 434 . Er verfalle einem für Aktivisten typischen Kardinalfehler, sich für seine Lesart auf nicht repräsentative Stellungnahmen aus der Entstehungsgeschichte zu beziehen 435 . Soweit die intentionalistische Kritik bemängelt, daß Elys Theorie über das historisch Gewollte erstens hinausgeht und ihm zweitens widerspricht, überzeugt dies nur dann, wenn der Intentionalismus seinerseits eine überzeugende Verfassungstheorie ist. dd) Intentionalismus als Alternative? Es kann hier nicht darum gehen, die Kontroverse zwischen Originalismus und Non-Originalismus in ihrer vollen Breite erneut auszuloten, weil damit der Kontext von Elys Theorie verlassen wäre. Freilich läßt sich eine auf die wesentlichen Einwände beschränkte Diskussion des Intentionalismus nicht vermeiden, wenn man wissen will, ob er als durchführbare und legitime Alternative zu Ely in Frage kommt 4 3 6 . (1) Durchführbarkeit Gegen die Durchführbarkeit des Intentionalismus sind zahlreiche Einwände denkbar 437 , von denen einige schon im Rahmen des Uberblicks zur Sprache gekommen sind. Im folgenden sollen nur Einwände gegen die „anspruchsvolle" Version von Bork behandelt werden. Unbestritten ist, daß die historischen Quellen unvollständig sind. Nur ein Bruchteil der Beratungen in den Verfassungskonventen zur ursprünglichen Verfassung ist dokumentiert 438. Darüber hinaus haben sich die „Ratifizierer" mit vielen wichtigen Problemen der Gegenwart nicht einmal befaßt. Es hängt also vom Zufall ab, wie433 Vgl .ibid., S. 110 f., 120 f. 434 Vgl. ibid., S. 91, 94 m. Zitat: „Ely prefers a tortured reading of one utterance to many unequivocal voices to the contrary." 435 Vgl. ibid., S. 104, 108 f., insb. 116. 436 Aus der umfangreichen Lit. vgl. z. B. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 469 ff. (1981); ders., 57 U. Chi. L. Rev. 657 ff. (1990); Ackerman, 99 Yale L.J. 1419 ff. (1990); Brest, 60 B.U. L. Rev. 204 ff. (1980); Tushnet, 96 Harv. L. Rev. 781 ff. (1983); ders., Red, White, and Blue, S. 21 ff.; Ely, S. 11 ff.; Scalia, A Matter of Interpretation, S. 16 ff., 29 ff.; Klarman, 11 Va. L. Rev. 770 f. (1991); Wellington, Interpreting the Constitution, S. 43 ff.; Dershowitz, 40 Stan. L. Rev. 360 ff. (1988); Brugger, Grundrechte, S. 355 ff., 400 ff.; ders., ARSP Beih. 37 (1990), 184 f.; Heun, AöR 116 (1991), S. 189 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 249 f.; Bungen, AöR 117 (1992), S. 71 ff. (m. w. Nachw. zur Kritik an Bork in Fn. 7, 77); Kupka, ARSP 78 (1992), S. 540 ff.; Schefer, Konkretisierung, S. 164 ff., 178 ff. 437 Vgl. insb. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 469 ff. (1981); Brugger, Grundrechte, S. 356 ff.; Heun, AöR 116 (1991), S. 189 ff.; instruktiv im Hinblick auf einfache Gesetze Scalia, A Matter of Interpretation, S. 32 ff. 438 Vgl. etwa Heun, AöR 116 (1991), S. 189.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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viel feststellbaren Inhalt die Verfassung hat. Eine „perfekte Verfassung" ist aber auch nicht das Ziel der Intentionalisten, wie etwa Monaghan bekräftigt hat 4 3 9 . Die Exegese historischer Quellen ist doppelt problematisch, wenn sie in den Dienst eines normativen Erkenntnisinteresses gezwungen wird. Bork scheint es nicht zu stören, daß Juristen für historische Quellenkritik nicht ausgebildet sind 440 . Im übrigen diskutiert auch die rein empirisch orientierte Geschichtswissenschaft kontrovers über ihre Ergebnisse, was eine eindeutige Wegweisung durch das historisch Gewollte ausschließen dürfte. Für den richtigen Umgang mit Quellen gibt Bork jedenfalls keine Hinweise. So bleibt offen, wie sich aus der Vielfalt der historischen Stellungnahmen ein schlüssiges Gesamtverständnis der Öffentlichkeit ergeben soll. Stellt man wie Bork vor allem auf die „Ratifizierer" ab, so ist das daraus gewonnene Meinungsbild womöglich nicht repräsentativ für den Verständnishorizont der Öffentlichkeit. Zählt nur die informierte Öffentlichkeit, so eröffnet dies zusätzlichen Spielraum für den Interpreten. Ungeachtet dieser offenen Fragen halten die Intentionalisten die Unsicherheit der historischen Untersuchung für begrenzt und im Vergleich zur nichtoriginalistischen Interpretation für das kleinere Übel. Die Gegner des Intentionalismus halten bereits diese praktischen Probleme für unüberwindbar. Die Kontroverse ist insoweit festgefahren, braucht hier aber nicht vertieft zu werden. Denn selbst wenn man unterstellt, daß historische Forschungen auch von Juristen zuverlässig durchgeführt werden können und zu einem vernünftigen Anteil an eindeutigen Ergebnissen führen, entgeht man damit nicht dem gravierenden Problem auf normativer Ebene, welche Schlüsse man aus dem historischen Material ziehen darf. Der wohl wichtigste immanente Einwand gegen den Intentionalismus behauptet, daß sich der Abstraktionsgrad des gesuchten Verfassungsprinzips auch bei zuverlässiger Quellenlage nicht neutral feststellen lasse 441 . Richtet sich etwa das im 14. Amendment enthaltene Gleichheitsprinzip nur gegen die Ungleichbehandlung von Schwarzen oder gegen jede Rassendiskriminierung? Verbietet es auch die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, der sexuellen Orientierung oder sogar von Vorurteilen? Bork gibt hierauf eine scheinbar einfache Antwort. Der Richter müsse das Prinzip auf demjenigen Abstraktionsgrad bzw. mit derjenigen „Breite" formulieren, der bzw. die sich aus dem Text, der Struktur der Verfassung und dem historischen Material belegen lasse 442 . Was von diesem Vorschlag zu halten ist, zeigt ein genauer Blick auf die methodische Ebene. 439 Vgl. ders., Our Perfect Constitution, 56 N.Y.U. L. Rev. 353 ff., 395 f. (1981). 440 Intentionalistische Untersuchungen führen zu Zitat- und Materialschlachten, die ohne das Fachwissen und die Methodik eines Historikers nicht zu beurteilen sind. Vgl. etwa Berger, 42 Ohio St. L.J. 87 ff. (1981). Fairerweise muß man sagen, daß Juristen für einen rechtsphilosophischen Diskurs, wie ihn Rechte-orientierte Ansätze zuweilen voraussetzen, i.d.R. auch nicht ausgebildet sind. 441 Vgl. z. B. Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 488 ff. (1981); Bungert, AöR 117 (1992), S. 86 m. w. Nachw. in Fn. 77.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Zu Analysezwecken ist es nützlich, in Anlehnung an eine der logischen Semantik zugehörige Terminologie von Hans-Joachim Koch und Helmut Rüßmann folgende Kategorien zu unterscheiden, die sich als Ergebnisse der historisch-empirischen Untersuchung ergeben können 443 : Bei positiven Kandidaten ist nach der Entstehungsgeschichte die Anwendung der Norm auf einen zu beurteilenden Fall eindeutig gewollt. Bei negativen Kandidaten sollte die Norm eindeutig unanwendbar sein. Zu neutralen Kandidaten bleibt die Entstehungsgeschichte ohne konkreten Befund, das heißt sie spricht weder für noch gegen die beabsichtigte Anwendung der Norm. Bei zweifelhaften Kandidaten enthält die Entstehungsgeschichte widersprüchliches Material, aus dem kein klares Ergebnis abgeleitet werden kann. Zwischen neutralen und zweifelhaften Kandidaten besteht praktisch kein Unterschied. Bork sieht den Verfassungsinterpreten an negative Kandidaten gebunden, die nach dem historischen Willen oder Verständnis von der Norm nicht erfaßt sein sollten 4 4 4 . Dies kann problematisch sein, wenn der Verfassungsgeber nicht vorausgesehen hat, daß ein von ihm ebenfalls gewolltes abstraktes Prinzip im Widerspruch zu der von ihm geäußerten konkreten Vorstellung steht. Will Bork zugunsten der konkreten Vorstellung entscheiden oder aber das abstrakte Prinzip einschränkend definieren, so daß es den Negativ-Kandidaten nicht mehr umfaßt, so ist hierfür eine Vörrangregel notwendig. Diese liefert er nicht. Sie ergibt sich auch nicht aus seiner intentionalistischen Prämisse. Wie widersprüchliche Stellungnahmen der Entstehungsgeschichte zu behandeln sind, sagt der geschichtliche Befund nicht. Hier sind komplexe normative Annahmen gefordert. Wie groß der Spielraum für solche normativen Annahmen im intentionalistischen Lager ist, zeigt Michael Perrys progressive Version des Intentionalismus. Für Perry binden nicht einmal negative Kandidaten den Verfassungsinterpreten 445. Für ihn kann ein historisches Prinzip ohne weiteres im Widerspruch zum konkret Gewollten stehen. Vorrang genießt bei Perry nicht die konkrete Vorstellung oder Erwartung, sondern der abstrahierte Wille 4 4 6 . Damit kann ein Prinzip in der Gegenwart auf einen Fall anwendbar sein, den die Verfassungsväter oder die „Ratifizierer" in der Vergangenheit mit Sicherheit aus dem Anwendungsbereich der Norm 442 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 149 f. 443 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 195. Das quantitative Verhältnis der vier Typen untereinander bemißt sich danach, wie man die Leistungsfähigkeit der genetischen Auslegung einschätzt. Dies führt zurück in die empirische Ebene. Im folgenden wird unterstellt, daß ein hinreichend großer Anteil von positiven und negativen Kandidaten vorhanden ist. 444 Allerdings vertritt Bork keineswegs einen lupenreinen Intentionalismus, der selbst gegen den eindeutigen Wortsinn entscheiden würde. 445 Vgl. Perry, 11 Va. L. Rev. 703 ff. (1991). Bei positiven Kandidaten soll dagegen der konkrete Wille den Interpreten ausnahmslos binden, weil dies die „Kernbedeutung" der Norm betreffe, vgl. ibid., S. 706 f. Aus strikt intentionalistischer Sicht ist nicht leicht zu begründen, warum man positive und negative Kandidaten unterschiedlich behandeln soll. 446 Warum das so ist, erfährt man bei Perry letztlich nicht. Vgl. aber Tribe, American Constitutional Law, S. 53 ff. (54 f.).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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ausschließen wollten. Auf diese Weise kann man zum Beispiel die in Brown bejahte Verfassungswidrigkeit der Rassentrennung nach der Gleichheitsklausel des 14. Amendment auch dann intentionalistisch rechtfertigen 447, wenn man - etwa mit Berger 448 - davon ausgeht, daß die Verfassungsväter die Rassentrennung in öffentlichen Schulen ganz sicher aus dem Anwendungsbereich der Gleichheitsklausel ausschließen wollten 449 . Auf diese Weise spielt Perry das abstrakt und hypothetisch Intendierte gegen das konkret Gewollte aus. Kurioserweise soll der negative Kandidat aber auch bei Perry nicht etwa bedeutungslos sein. Vielmehr kann er den Interpreten zwingen, das Prinzip entsprechend eng zu definieren. Wann aber der Interpret einen Negativ-Kandidaten zum Anlaß nehmen soll, das Prinzip eng auszulegen, und wann er ihn für verfassungswidrig halten muß, weil er dem weit definierten Prinzip widerspricht, ist völlig offen 450 . Aus der Kollision von konkreten und abstrakten Vorstellungen entsteht also bei negativen Kandidaten eine beträchtliche Anwendungsunsicherheit. Diese bildet allerdings nur den Auftakt für die Probleme beim Umgang mit neutralen Kandidaten, der durch die Entstehungsgeschichte in keiner Weise determiniert ist. Nach Borks Ansicht ist das betreffende Abstraktionsniveau zu hoch gegriffen, wenn es nicht durch einen konkreten Anhaltspunkt in der Entstehungsgeschichte indiziert ist. Sollte der Verfassungsgeber beabsichtigt haben, Schwarze zu schützen, und lasse sich keine weitergehende Absicht nachweisen, so sei die Gleichheitsklausel auf Schwarze zu beschränken 451. Gleiches soll für Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung gelten: Die Unterscheidungsmerkmale sind im historischen Material nicht erwähnt und daher vom Gleichheitsprinzip nicht umfaßt 452 . Fehlende Indizien in der Entstehungsgeschichte führen also dazu, daß die Interpretation im Hinblick auf die in Aussicht genommene, umfassendere Bedeutung abgebrochen werden muß. Das Schweigen der Entstehungsgeschichte bedeutet, daß der Interpret kein Prinzip aufstellen darf, das den neutralen Kandidaten einschließt. Damit behandelt Bork neutrale im Ergebnis wie negative Kandidaten. Im Extremfall gibt sich Bork ausdrücklich mit einer inhaltsleeren Norm zufrieden, wenn 447 So Perry, 11 Va. L. Rev. 682 f., 701, 705 (1991). 448 Vgl. Berger, 42 Ohio St. L.J. 126 f. (1981). Der Supreme Court hielt die Entstehungsgeschichte dagegen für unklar. Dazu Brugger, Grundrechte, S. 153, 155 f. Vgl. auch Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 156. 449 Daraus zieht Berger den normativen Schluß, daß die verfassungsgerichtlich angeordnete Rassenintegration, wie sie mit Brown v. Board of Education, 347 U.S. 483 ff. (1954), begann, illegitim sei. Vgl. bereits Berger, Government by Judiciary, S. 284, 288. Zur Angemessenheit dieser Sichtweise Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 156: „In the modern era you cannot defend an approach to constitutional law that leads to the conclusion that Brown was wrong." 450 Vgl. Perry, 11 Va. L. Rev. 705 f. (1991). 451 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 149. 452 Vgl. ibid., S. 150.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
ihr Inhalt historisch nicht sicher ermittelt werden kann 453 . Eine Begründung hierfür sucht man vergeblich. Mit dem Ausschluß der neutralen Kandidaten wird die eigentliche Frage umgangen, ob im historischen Willen ein abstraktes Prinzip nachweisbar ist, das auch den neutralen Kandidaten einschließt. Daß der Verfassungsgeber einen bestimmten Fall nicht bedacht hat, ist aus der immanenten Perspektive des Intentionalismus kein zwingender Grund, anzunehmen, daß er vom Inhalt des verfassungsrechtlichen Prinzips ausgeschlossen sein soll. Ansonsten würde man auf einen „primitiven" Intentionalismus zurückfallen, der den Inhalt der Verfassung mit den historisch vorbedachten Anwendungsfallen (= den positiven Kandidaten) gleichsetzt. Dies hätte die Versteinerung der Verfassung zur Folge, die Bork angeblich nicht will. Borks Abbruch der Interpretation bei neutralen Kandidaten steht im Widerspruch zu der auch von ihm bejahten Notwendigkeit, eine effektive Anwendung der historischen Prinzipien in der Gegenwart sicherzustellen. Tatsächlich ist Bork in Gefahr, die Interpretation auf den gesicherten Bestand positiver Kandidaten zu beschränken, was sich an der Reduktion der Gleichheitsklausel auf die „verdächtigen" Merkmale Rasse und nationale Herkunft zeigt. Für diese Beschränkung gibt der Text der Gleichheitsklausel nichts her, weil er ganz allgemein vom „gleichen Schutz der Gesetze" spricht 454 . Der sprachlich offenen Formulierung kann man stets ein Indiz dafür entnehmen, daß die Verfassung eben doch ein Prinzip höheren Abstraktionsgrades enthält, das den neutralen Kandidaten erfaßt 455 . Elys textualistische Einwände gegen den Originalismus sind insoweit nicht widerlegt. Falls diese Indizwirkung nicht gewollt war, hätte man enger formulieren können 456 . So hätte man zum Beispiel die Gleichheitsklausel auf Rassendiskriminierung beschränken können. Dieser Einwand ist besonders gewichtig, weil Bork selbst den Text der Verfassung als eines von mehreren Kriterien nennt, um den richtigen Abstraktionsgrad des Prinzips zu ermitteln 457 . Ein weiterer Widerspruch 453 Vgl. ibid., S. 166: „There being nothing to work with, the judge should refrain from working. A provision whose meaning cannot be ascertained is precisely like a provision that is written in Sanskrit or is obliterated past deciphering by an ink blot." 4 4 ^ Borks beiläufiger Hinweis, daß die Verfassung nicht immer wörtlich genommen werden könne, weil zum Beispiel die Redefreiheit unstreitig beschränkbar sei, obwohl sie der Verfassungstext unbeschränkt gewährleiste, kann einen so restriktiven Umgang mit den Möglichkeiten der Textbedeutung, wie ihn seine intentionalistische Deutung beinhaltet, nicht hinreichend erklären. Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 147. 45 5 Ebenso Ely, S. 16: ,,[T]he most important datum bearing on what was intended is the constitutional language itself." (Hervorh. weggelassen) Das Problem wird bei Bork selbst daran deutlich, daß er zugeben muß, daß die „allgemeine Sprache" des 14. Amendment eine Ungleichbehandlung aufgrund des Geschlechts oder der sexuellen Orientierung erfasse, so daß immerhin der Rationale-Basis-Test zur Anwendung komme. Daß dieser Test regelmäßig leer läuft, ändert nichts daran, daß die Klausel auch nach Bork sprachlich anwendbar ist. Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 150 m. Zitat. 4 56 Zutreffend Ely, S. 1: ,,[T]he practices could simply have been listed." Vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 230. Dagegen kann man jedenfalls nicht in allen Fällen einwenden, daß eine solche Technik aus einer Verfassung eine Kodifikation mache. Denn die Gleichheitsklausel hätte sich mit geringem Formulierungsaufwand einschränken lassen. 4 57 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 149 f.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
ergibt sich daraus, daß Bork letztlich auf den hypothetischen Willen des Verfassungsgebers abstellt, wenn er abstrakte Prinzipien ermittelt. Warum soll dann der hypothetische Wille nicht auch benutzt werden können, um neutrale Kandidaten im konkreten Fall zu negativen oder positiven Kandidaten zu „verbestimmen"? Zu betonen ist, daß es bei diesen Fragen um Borks normative Konzeption der Verfassungsgerichtsbarkeit geht, die als solche ebensowenig wertneutral ist wie Elys Konzeption 458 . Somit ist selbst auf der Grundlage einer eindeutigen Entstehungsgeschichte das richtige Abstraktionsniveau des gewollten Prinzips bzw. das richtige Verhältnis von konkreten und abstrakten Vorstellungen nicht zuverlässig zu ermitteln. Sobald man im Zuge der Definition des Prinzips beginnt, die Stufenleiter der Abstraktion zu erklimmen, ist der Haltepunkt nicht mehr durch den historischen Willen determiniert. An dieser Stelle büßt der Intentionalismus seine angeblichen Vorzüge ein: Berechenbarkeit, Rechtssicherheit, Objektivität und begrenzende Wirkung durch weitgehende Determination der Verfassungsinterpretation 459. Jeder vom Interpreten vorgenommene Ausgleich zwischen dem konkret und dem abstrakt Gewollten widerspricht der für die Legitimität des Intentionalismus zentralen These, man vollziehe letztlich den historischen Willen des Verfassungsgebers. Wieviel Abstraktion historisch geschuldet ist, ist regelmäßig nicht determiniert 460 . Die Unsicherheit über den richtigen Abstraktionsgrad schafft breiten Raum für Weitungen und Manipulationen 461 . Unsicherheit und mangelnde Objektivität lassen die begrenzende Wirkung des Intentionalismus entfallen. Perry ist so redlich, dies zuzugeben 462 . Sein durch den historischen Willen informierter, aber nur wenig determinierter Intentionalismus ähnelt einer am historisch Gewollten orientierten teleologischen Auslegung. Borks Modell führt zwar nicht zu mehr Determination; aus dem Ausschluß negativer und neutraler Kandidaten resultiert aber eine restriktive Auslegung im Sinne des politisch konservativen „strict constructionism" 463. An 458 Vgl. auch Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 498 f. (1981) („decisions of political morality"), Perry, 11 Va. L. Rev. 712 ff. (1991). 459 Ähnlich Brugger, Grundrechte, S. 358; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 185. Vgl. auch Scalia, A Matter of Interpretation, S. 17 f., 36. 460 Hier kommt auch Scalias Textualismus nicht ungeschoren davon, wie seine Diskussion zur Todesstrafe als einer grausamen Bestrafung im Sinne des 8. Amendment zeigt, die den Gegensatz von konkretem Verständnis und abstraktem Prinzip letztlich per Dezision löst, vgl. ders., A Matter of Interpretation, S. 145 f. 461 Kritisch Bungen, AöR 117 (1992), S. 86. 462 Vgl. Perry, 11 Va. L. Rev. 680 f. m. Zitat, 693 (1991): „Auch ist es ein Fehler anzunehmen, daß der originalistische Ansatz immer oder auch nur häufig zu einer beträchtlichen Beschränkung richterlichen »Ermessens' führe." Für Perry steht Intentionalismus in keinem notwendigen Zusammenhang mit einer restriktiven Konzeption von Verfassungsgerichtsbarkeit, vgl. ibid., S. 712. Es gebe keine Beweislastregel, nach der in Zweifelsfällen die engere Auslegungsvariante zu wählen sei, vgl. ibid., S. 712 f., 716 f. Auf diese Weise entfernt er sich immer weiter von Bork, den er zunächst verteidigt. Vgl. ibid., S. 675 ff. mit S. 710 ff. Auch verschwimmt damit die Grenze zwischen Originalismus und Non-Originalismus, was Perry freilich bezweckt, vgl. ibid., S. 710. Dazu Tushnet, 11 Va. L. Rev. 637 (1991).
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
dieser Beurteilung ändert sich auch dann nichts, wenn man nicht unmittelbar auf den Willen der „Ratifizierer" zurückgreift, sondern ihren Willen im Spiegel des Verständnisses der Öffentlichkeit betrachtet, wie dies Bork zu tun vorgibt. Soweit sich Intentionalisten der Borkschen Prägung damit verteidigen, daß die Unsicherheit des Non-Originalismus mindestens ebenso groß sei, lenkt dies von den eigenen Problemen ab: Intentionalismus verspricht höchste Rechtssicherheit, ohne sie geben zu können. Non-Originalismus behauptet dagegen gar nicht erst, das Verfassungsrecht an die kurze Leine weitgehender Determination zu legen. Die Schwierigkeiten bei der Definition und Anwendung des Prinzips belegen im übrigen, daß Bork die schöpferische Rolle des Interpreten unterschätzt. Im übrigen gehen Definition und Anwendung ineinander über 464 . Trotz gegenteiliger Beteuerungen erweckt Bork den Eindruck, ein Modell quasi-mechanistischer Rechtsanwendung zu vertreten 465 . Im Ergebnis bestehen durchgreifende Bedenken gegen die Durchführbarkeit des Intentionalismus, wie er exemplarisch von Bork vertreten wird. Die Anwendung dieser Theorie ist mit hoher Unsicherheit belastet. Deshalb kann sie den von ihr vertretenen Anspruch hoher Objektivität nicht einlösen. Auch wird das Verfassungsgericht weitaus weniger begrenzt, als es der Intentionalismus behauptet. (2) Externe Kritik Die externe Kritik am Intentionalismus nimmt ihren Ausgang an dessen Textverständnis und greift die verschiedenen Begründungen zur Legitimation dieser Theorie an. Besondere Beachtung verdient das originalistische Demokratie-, Verfassungs- und Wertverständnis. Verfassungsgebung ist nicht nur die Setzung eines Normtextes, sondern vor allem auch ein politischer Willensakt, dessen historische Umstände für spätere Generationen nicht gleichgültig sein können. Daher ist es unproblematisch, daß das historisch Gewollte die Verfassungsinterpretation informieren soll. Kritisch ist dagegen, daß der historische Wille das heutige Textverständnis begrenzen soll, obwohl der Text der Verfassung dies nicht verlangt. Wenn Bork die Verfassungsinterpretation tendenziell auf positive Kandidaten beschränkt, weil er neutrale und negative Kandidaten aus dem Bedeutungsgehalt ausschließt, so widerspricht dies in der Regel der sprachlichen Offenheit der Verfassung. Dies begründet den Vor463
Ablehnend Dworkin,
Bürgerrrechte ernstgenommen, S. 222 ff. Vgl. auch Ely, S. 1
Fn. *. 464 Es handelt sich in deutscher Terminologie um den Vorgang der Konkretisierung, bei dem eben nicht zwischen Auslegung und Anwendung des Prinzips als sukzessiven Operationen säuberlich getrennt werden kann. 465 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 167 (keine mechanische Rechtsanwendung) sowie S. 169 (Übergang von Anpassung eines bestehenden Prinzips zur Schaffung eines neuen Prinzips sei fließend).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
wurf, daß er die Textbedeutung vernachlässigt. Nimmt man die Indizwirkung des Textes ernst, so ist der von Ely geltend gemachte Charakter der Generalklauseln als einer begrenzten Delegation zur Konkretisierung doch nicht von der Hand zu weisen 466 . Warum soll nun der Wille des Verfassungsgebers, ggfs. reflektiert durch das historische Verständnis, eine höhere Legitimität als die weniger restriktive Textbedeutung genießen? Borks Behauptung, daß Intentionalismus dem Willen des historischen Verfassungsgebers entspreche 467, ist nicht ohne Widerspruch geblieben. Zunächst wirft man ihm vor, den historischen Nachweis selbst nicht geführt zu haben 468 . Ob seine Argumentation historisch korrekt ist 4 6 9 , kann hier offen bleiben. Denn sie enthält in jedem Fall einen Zirkelschluß, der ihre Überzeugungskraft beeinträchtigt. Selbst wenn nämlich die „Ratifizierer" den Intentionalismus als maßgebliche Methode der Verfassungsinterpretation angesehen haben sollten, wäre damit noch nicht geklärt, warum dies das heutige US-amerikanische Volk binden soll 4 7 0 . Ein Satz wie: „Maßgeblich ist das historisch Gewollte, weil dies der historische Wille des Verfassungsgebers ist" ersetzt keine Begründung zur Legitimität dieser Verfassungstheorie 471. Ahnlich defizitär ist Borks Begründung zur Legitimität intentionalistischer Verfassungsdeutung, soweit er sie auf die Gesetzesqualität der Verfassung stützt 472 . Für Bork ist der historische Wille maßgeblich, weil die Verfassung Gesetz sei. Die Frage, warum bei Gesetzen allein die historische Bedeutung zählen soll, bleibt damit unbeantwortet. Verfassungsbindung ist bei Bork - nicht zu Unrecht - die Brücke, die die Rechtsprechungsinhalte mit der Verfassung verknüpft und so zur Legitimität verfassungsgerichtlicher Kontrolle führt. Für Bork garantiert nur der Intentionalismus objektive Bindung an die Verfassung und Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kontrollkompetenz. Wenn aber, wie die interne Kritik gezeigt hat, die Grenzwirkung der genetischen Auslegung in Wirklichkeit viel schwächer ist, als Bork meint, und auch keine weitestgehend objektive Methode darstellt, so führt die 466 Vgl. Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 586: ,,[D]er Text der Verfassung [ . . . ] enthält [ . . . ] auch Rechtsprinzipien, und daß diese von Richtern nicht verbindlich ausgelegt werden sollen, sagt die Verfassung jedenfalls nicht ausdrücklich." Vgl. auch Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 230 Fn. 4 m. Text. 467 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 153 ff. 468 Dazu Bungert, AöR 117 (1992), S. 78 Fn. 33 m. Nachw., S. 99. 469 Zweifelnd Klarman, 11 Va. L. Rev. 770 (1991); Powell, The Original Understanding of the Original Intent, 98 Harv. L. Rev. 885 (1985). 470 Kritik bei Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 493 ff., 496 (1991). Vgl. auch Perry, 11 Va. L. Rev. 692 (1991) („question-begging"). 471 Aus diesem Grund läßt sich Bork auch nicht mit seinen eigenen Waffen schlagen. Mit der intentionalistischen Begründung „Ganz sicher wollte der Verfassungsgeber, daß der Text der Verfassung ernst genommen wird" steht man auf genauso dünnem Eis. 472 Vgl. Bork, The Tempting of America, S. 145: „If the Constitution is law, then presumably its meaning, like that of all other law, is the meaning the lawmakers were understood to have intended." 15 Riecken
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Argumentationslinie „Legitimation durch Begrenzung und Verfassungsbindung" nicht auf den Intentionalismus als einzig anschlußfähiges Modell. Läßt sich umgekehrt gegen Bork überzeugend einwenden, daß die Verfassung Gesetz sei 4 7 3 und daß daher die - nicht auf das historische Verständnis begrenzte Bedeutung des gesetzten Textes maßgeblich sei 474 ? Mit einer solchen Begründung würde nur ein Positivismus gegen den anderen ausgetauscht, weil man Intentionalismus durch Textualismus ersetzen würde. Auch Bork weiß, daß der Text der Verfassung nach dem Verfahren der Art. V bzw. V I I der US-Verfassung ratifiziert wurde und nicht der Wille der „Ratifizierer" 475 . Die Verfassung sagt jedoch nicht, durch welche Theorie ihrem Text Bedeutung verliehen wird. Will man einen Zirkelschluß vermeiden, muß man eine Text und Willen vorausliegende Begründung finden 476 Eine vertretbare Begründung des Intentionalismus behauptet, daß er die demokratischere Lösung sei 4 7 7 . Es sei demokratischer, die im voraus festgelegten Werte im ursprünglichen Verständnis anzuwenden, statt die Verfassung den unkalkulierbaren Wechselfällen des Zeitgeistes (Konsens) und der materialen Verfassungsinterpretation (Vernunftrecht, Moralphilosophie) auszusetzen. Eine gewisse „Versteinerung" der Verfassung ist in diesem Ansatz also durchaus gewollt. Die Selbstbindung des Volkes als verfassungsgebender Gewalt sei in ihrem Ausmaß begrenzt und müsse einen festen Rahmen haben. Die Ausdeutung der Letztwerte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit bleibe dadurch weitgehend den Repräsentanten des Volkes im parlamentarischen Verfahren überlassen, das sich insoweit eben nicht im voraus durch seine Verfassung festgelegt habe 478 . Ausmaß und Inhalt der historischen Selbstbindung zu verändern, stehe nur dem Volk im Verfahren der förmlichen Verfassungsänderung zu. Deshalb sei das Mehrheitsprinzip so weit wie möglich zu schützen, was nur der restriktiven intentionalistischen Interpretation gelinge. 473 Vgl. Art. V I Cl. 2 der US-Verfassung: „This Constitution [ . . . ] shall be the supreme Law of the Land" (Hervorhebung von J.R.). Selbst die Gesetzesqualität der Verfassung kann man bezweifeln, weil der Rekurs auf die Anordnung des positiven Rechts ähnlich zirkulär ist wie die Bezugnahme auf den historischen Willen. 474 Vgl. zur Gesetzesauslegung Scalia, A Matter of Interpretation, S. 17: „It is the law that governs, not the intent of the lawgiver." 475 Vgl. Perry, 11 Va. L. Rev. 691 f. (1991) m. w. Nachw. 476 Zutreffend Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 472 f., 495 f., insb. 498 (1981). 477 Es kann hier ebensowenig wie bei Ely darum gehen, den Intentionalismus - oder auch einen historischen Textualismus - aus dem Demokratieprinzip „abzuleiten". Gefordert ist vielmehr eine demokratietheoretische Begründung, die sich an der US-Verfassung orientiert und mit ihr im Einklang steht. 478 Soweit Scalia, A Matter of Interpretation, S. 43 f. u.ö., argumentiert, daß historischer Textualismus die ursprüngliche Freiheit der Verfassung gegen Beschränkungen durch nachfolgende Generationen schütze, vermag dies nicht zu überzeugen. Selbst wenn man die Einschränkung der Eigentumsfreiheit und des Rechts, Waffen zu tragen, zugesteht, belegt dies nicht, daß sich die grundrechtliche Freiheit seit 1791 insgesamt verringert hat.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
Auch die Gegenauffassung kann jedoch - neben anderen Argumenten - auf ein demokratisches Argument zurückgreifen. Was den Intentionalisten (und Scalias historischem Textualismus) als Ruch erscheint - die Offenheit des Textes für Bedeutungsänderung - garantiert für die Non-Originalisten den Aktualitätswert der Verfassung. Für diese ist die Selbstbindung an die moralischen Vorstellungen der längst verstorbenen Verfassungsväter oder „Ratifizierer" eine unangemessene Fiktion, da sie sich diesen Vorstellungen niemals unterworfen haben 479 . Dagegen könne sich die Selbstbindung des heutigen Volkes an die Verfassung nur auf deren gegenwärtige Bedeutung beziehen. Rechte-orientierte Ansätze versuchen in diesem Sinne zu begründen, welchen Inhalt die aktualisierte Bindung an die Verfassung in ihrer gegenwärtigen Bedeutung hat. Dies erscheint mir - auf der Grundlage eines liberalen, nichtpositivistischen Vörverständnisses - die überzeugendere Lösung zu sein. Festzuhalten ist, daß es keineswegs von vornherein die demokratischere Lösung darstellt, allein auf die historische Bedeutung der Verfassung abzustellen. Intentionalismus ist ein Versuch, die Flexibilität der „lebendigen Verfassung", ihre Orientierung auf Gegenwart und Zukunft, durch Statik und Vergangenheitsorientierung zu ersetzen, wie es Scalia erfreulich klar ausgesprochen hat. Die Frage, wieviel traditionelle Bedeutung die Verfassung überhaupt enthalten soll, wie weit historische durch gegenwärtige Bedeutungen abgelöst werden dürfen, wie dynamisch also eine Verfassung sein darf, wie weit sie sich wandeln darf, ist eine überaus komplexe Frage, auf die es keine einfachen Antworten gibt 4 8 0 . Das gilt entsprechend für die institutionelle Seite des Problems, das heißt für die Faktoren, die im Ergebnis darüber bestimmen, wie zurückhaltend oder aktivistisch ein Verfassungsgericht sein sollte 481 . Traditionalisten und Modernisierer tragen hier Argumente vor, die vielfach zu Differenzierung und Kompromissen zwingen. Was allerdings am Intentionalismus wie auch an Scalias historischem Textualismus unangemessen erscheint, ist die Abschottung gegenüber jeglicher Wandlung und Anpassung der Verfassung. Das unumgängliche Maß an Anpassung wird als „Anwendung" historischer Prinzipien verbrämt. In dieser Strategie der Exklusion liegt eine bedenkliche Verabsolutierung des eigenen Standpunktes. Umgekehrt kann der Non-Originalismus historische Bedeutungsschichten der Verfassung durchaus integrieren. Bei der Angemessenheit originalistischer Werte geht es nicht zuletzt um den Konflikt zwischen Positivismus und Nichtpositivismus482. Denn der Originalismus
479 Ebenso Ely, S. 11; Klarman, 11 Va. L. Rev. 770 f. (1991). Zur „toten Hand" vgl. die Beiträge in: Symposium, 19 Harv. J.L. & Pub. Pol'y 243 ff. (1996). 480 Schon deshalb überzeugt es nicht, wenn Bork, The Tempting of America, S. 5, seine Auffassung auf „common sense" gründen will. 481 Mit dieser Polarität arbeitet Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 15 f., 20 ff., 39, 51 ff. Vgl. auch ders., Staat 39 (2000), S. 425 ff., zur zeitlichen Dimension der Verfassungstheorie. 15
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
ist eine positivistische, wertskeptizistische oder -relativistische Theorie, die ein ,,dezisionistisch[es] Verfassungsverständnis 4' beinhaltet und auf einen utilitaristischen Gemeinwohlbegriff zielt 4 8 3 . Darin liegt eine gewisse Parallele zu Elys Theorie. Soweit die noch auszuführende Kritik des Non-Originalismus an Ely diese Aspekte abdeckt, läßt sie sich auch als Kritik am Originalismus lesen 484 . Deshalb ist hier nur der folgende Einwand hervorzuheben, der gegen Ely nicht geltend gemacht werden kann. Im Intentionalismus wird der Wille der „Ratifizierer 4' ohne Rücksicht darauf vollzogen, ob er richtig ist oder nicht. Entsprechendes gilt für den historischen Textualismus. Ein Gerechtigkeitsmaßstab, an dem historische Absichten - etwa zur Sklaverei - gemessen werden können, steht nicht zur Verfügung. Damit werden möglicherweise historische Vorstellungen zum Inhalt der Verfassung, die aus heutiger Sicht ungerecht erscheinen. Auch wenn sich Intentionalisten gegenüber diskriminierenden und patriarchalischen Zügen der ursprünglichen Verfassung auf den Wandel des historischen Verständnisses durch Verfassungsänderungen berufen werden 485 , bleibt es aus nichtpositivistischer Sicht bedenklich, auf einen Gerechtigkeitsmaßstab zu verzichten. Dies zeigt die mehrfach erwähnte Rassentrennung als einem womöglich nicht vorbedachten Anwendungsfall der Gleichheitsklausel. (3) Ergebnis Abgesehen von den Schwierigkeiten im Umgang mit dem historischen Material ist festzuhalten, daß der historische Wille den Verfassungsgeber kaum determiniert und insoweit nicht nennenswert begrenzt. Vor allem der vom Interpreten selbst vorzunehmende Ausgleich zwischen konkreten und abstrakten Vorstellungen trägt zu hoher Unsicherheit bei. Die Theorie des Intentionalismus ist daher undurchführbar. Die intentionalistische Anknüpfung am Willen des Verfassungsgebers, wie sie sich - wenn auch in abgeschwächter Form - bei Bork findet, überzeugt nicht, weil Verfassungsgebung mehr ist als ein Willensakt. Die Bedeutung des Verfassungstextes erschöpft sich nicht in der Intention ihrer Verfasser oder „Ratifizierer". Vorzuziehen ist Scalias Anknüpfung an der objektiven Textbedeutung, die sich so auch bei Ely findet. Jedoch bestehen gegen die Legitimität eines Verfassungshistorismus, wie ihn Borks Intentionalismus und auch Scalias Textualismus beinhalten, durchgreifende Bedenken. Die Verfassung zielt nach nichtpositivistischer Ansicht auf eine flexible und gerechte Ordnung der Gegenwart ab. Maßgeblich ist daher 482 Dazu im vorliegenden Zusammenhang Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 173 ff.; ders., Grundrechte, S. 345 ff. 483 Vgl. Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 176 ff. (Zitat auf S. 177); ders., Grundrechte, S. 352 f. 484 Siehe unten 3. Kap., B. II. 3. c) aa), cc), dd). 485 Vgl. z. B. Am. 13 bis 15 zur Abschaffung von Sklaverei und Rassendiskriminierung und Am. 19 zur Einführung des Frauen Wahlrechts.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
die aktuelle Bedeutung, nicht das historische Verständnis längst verstorbener USAmerikaner. Im Ergebnis ist der Intentionalismus keine anschlußfähige Alternative zu Ely. Allerdings sind damit die von Ely und Bork geäußerten Bedenken gegen eine Ableitung neuer Grundrechte aus der Verfassung nicht erledigt 486 . Eine nichtoriginalistische Theorie muß sich der Frage stellen, warum, auf welcher Grundlage und wie weit das Verfassungsgericht solche Rechte entwickeln darf 487 . 3. Kritik aus der Perspektive des Non-Originalismus Im folgenden wird zunächst das materiale (= substantielle, inhaltliche) Verfassungsverständnis nicht-originalistischer Theorien skizziert (a]). Danach ist auf die Einwände einzugehen, die Ely gegen den Non-Originalismus vorgebracht hat (b]). Schließlich soll die nichtoriginalistische Kritik an Elys Theorie diskutiert werden (c]).
a) Überblick zum materialen Verfassungsverständnis 488 Wie Elys Kritik am Non-Originalismus verrät 489 , kann eine materiale, nichtoriginalistische Deutung der Verfassung am gegenwärtigen Konsens der Bevölkerung oder des Wahlvolks anknüpfen. Unklar bleibt dabei, wie man den maßgeblichen Konsens ermitteln will und auf welchem Abstraktionsgrad die angeblich konsentierten Verfassungsnormen zu formulieren sind. Diese Einwände gegen die Durchführbarkeit erinnern an die Schwierigkeiten des Intentionalismus und sind meines Erachtens unüberwindlich 490 . Was die Angemessenheit angeht, so ist es widersinnig, gegenmehrheitlich konzipierte Grundrechte vermittels eines Konsenses der gegenwärtigen Mehrheit interpretieren zu wollen. Im folgenden wird deshalb nur 486 Im Hinblick auf die Persönlichkeitsrechte ist nachdrücklich an die Abwesenheit einer Art. 2 Abs. 1 GG entsprechenden Bestimmung zu erinnern. 487 Borks Diagnose, daß das Verfassungsgericht in Griswold nicht ein altes Prinzip angepaßt, sondern ein neues aufgestellt habe, trifft im Kern zu, vgl. ders., The Tempting of America, S. 169 f. 488 Die summarische Darstellung soll nicht darüber hinwegtäuschen, daß zwischen den Vertretern einer materialen, nichtoriginalistischen Deutung der Verfassung schwerwiegende Differenzen bestehen. Selbst innerhalb des liberalen Lagers findet man erhebliche Unterschiede. So greifen etwa Rawls, Dworkin und Nozick das Spektrum von Freiheit und Gleichheit auf je unterschiedliche Weise ab. Auf die Kontroverse zwischen universalistischer Moralphilosophie und partikularistisch-relativistischem Kommunitarismus kann hier nur hingewiesen werden. Zum Kommunitarismus vgl. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 67 ff.; aus deutscher Sicht Brüggen AöR 123 (1998), S. 337 ff.; dagegen Haltern, KritV 83 (2000), S. 153 ff. 489 Siehe oben 1. Kap., D.I. 1. 490 Vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 18 Fn. 2, 21 Fn. 16, 309 f. Siehe dazu unten 2. Teil, 4. Kap., F.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
derjenige Zweig des Non-Originalismus betrachtet, den Ely unter den Stichwörtern „Natural Law" und „Reason" angreift. Der folgende Überblick greift damit den liberalen, Rechte-orientierten Ansatz heraus 491 , den Originalismus und CLS aus unterschiedlichen Gründen, jedoch in einem gemeinsamen anti-liberalen Reflex bekämpfen. Ein Kernpunkt von Elys Theorie ist die versuchte positivistische Abschottung gegenüber der Moral. Etwa um die gleiche Zeit wie „Democracy and Distrust" tritt demgegenüber Dworkin in „Bürgerrechte ernstgenommen" für die Verschmelzung von Verfassungsrecht und Moraltheorie ein 4 9 2 . Die Generalklauseln der Verfassung rufen für ihn moralische Begriffe oder Ideen an 4 9 3 . Diese Ideen lassen sich ihm zufolge mit unterschiedlichen Konzeptionen konkretisieren 494. Damit ist ein nichtpositivistischer Rechtsbegriff gewählt, der von Verfassungsrecht auch insoweit spricht, als dieses mit moralischen Gehalten aufgeladen ist. Entscheidend ist, daß mit prinzipiengeleiteten moralischen Erwägungen letztlich Grundrechte begründet werden. Für Dworkin bringen die due process-Klausel und die Gleichheitsklausel moralische Rechte in das Recht ein 4 9 5 . Beim substantiellen Verfassungs Verständnis handelt es sich daher - anders als beim prozeduralen und originalistischen Verfassungsverständnis - um einen Rechte-orientierten Ansatz.
491 Die folgenden Nachweise beschränken sich grds. auf Arbeiten, die einen Bezug zu Elys Theorie aufweisen. Für eine Darstellung und kritische Analyse des substantiellen Ethos der US-Verfassung aus deutscher Sicht sei zunächst auf die verdienstvollen Arbeiten von Brugger verwiesen, vgl. insb. ders., Grundrechte, S. 379 ff., 402 f., 412 f., 415 ff.; ders., ARSP Beih. 37 (1990), insb. S. 182 ff., 186 ff. Vgl. auch den Überblick bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 262 ff. Ein bedeutender Vertreter des Non-Originalismus ist Laurence Tribe, vgl. ders., 89 Yale L.J. 1063 ff. (1980); ders. /Dorf, On Reading the Constitution; Tribe, American Constitutional Law (2. Aufl. 1988; 3. Aufl. 2000). Für eine liberale Deutung der Verfassung steht exemplarisch das Werk Ronald Dworkins, vgl. ders., Bürgerrechte emstgenommen; ders., A Matter of Principle; ders., Law's Empire. Besprechungen dazu bei Brugger, ARSP 71 (1985), S. 123 ff.; ders., ARSP 73 (1987), S. 416 ff. Vgl. auch ders., Das Reich der Rechtszwecke, in: Festgabe Schwartländer, S. 109 ff.; ders., Grundrechte, S. 391 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 41 ff., 63 ff. Vgl. darüber hinaus Richards, 42 Ohio St. L.J. 319 ff. (1981); Leedes, 23 Santa Clara L. Rev. 769 ff. (1983); Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 417 ff. (1981); Brest, 42 Ohio St. L.J. 131 ff. (1981). Hinzuweisen ist auch auf die funktionale Rechtfertigung der nichtoriginalistischen Verfassungsinterpretation in Perrys älterem Schrifttum, vgl. ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 278 ff. (1981). Dieser Aufsatz entspricht dem 4. Kapitel seines Buches „The Constitution, the Courts, and Human Rights" von 1982; dazu Brugger, Grundrechte, S. 387 ff. In neueren Arbeiten vertritt Perry den bereits behandelten flexiblen intentionalistischen Ansatz, vgl. ders., 11 Va. L. Rev. 669 ff. (1991); ders., The Constitution in the Courts, 1994, etwa S. 203 f. 492
Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 251 (zitiert bei Ely, S. 58). Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 230. 494 Zur Unterscheidung von „concept" und „conception" vgl. ibid., S. 227 ff. 49 5 Vgl. ibid., S. 225 f., 248. 493
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Die materiale, nichtpositivistische Deutung der Verfassung bezieht damit Elemente einer moralphilosophisch begründeten Theorie der Gerechtigkeit ein und grenzt sich so von einer positivistischen und wertrelativistischen oder -skeptizistischen Haltung ab. Der Begriff der materialen Theorie bezieht sich dabei weder auf apriorische Wahrheit noch auf ontologische Werte. Gerade prozedurale Theorien der Gerechtigkeit sind aber in diesem weiten Sinne material, als sie zu inhaltlichen Aussagen über unverfügbare Grundrechte kommen, indem sie zum Beispiel auf einen hypothetischen Konsens oder Vertrag rekurrieren 496. Ganz allgemein gesprochen, sieht eine solche substantielle Deutung die US-Verfassung und insbesondere deren Grundrechte auf die Letztwerte Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit verpflichtet 497 . Nach der materialen Ansicht liegt die Letztbegründung der Verfassung darin, daß sie eine gerechte Ordnung bereitstellt. Der Non-Originalismus behauptet keine Eindeutigkeit der Verfassung, sondern läßt eine pluralistische Vielfalt der Meinungen zu. Deshalb ist es kein Widerspruch, daß trotz einer großen Bandbreite an vertretbaren materialen Konzeptionen jede Deutung für sich in Anspruch nimmt, objektiv und richtig zu sein. Hinter materialen Theorien steht die anthropozentrische Idee der Menschenwürde. Zwar darf man deutsche Vorstellungen zu Art. 1 Abs. 1 S. 1 GG nicht ohne weiteres dem amerikanischen Verfassungsrecht überstülpen. Dennoch läßt sich vertreten, daß grundrechtlicher Schutz der Menschenwürde und der Autonomie der Person auch im amerikanischen Kontext einen wichtigen Zweck der Verfassung bildet. Tribe argumentiert in Erwiderung auf Ely sogar ausdrücklich mit dem Konzept der Menschenwürde 498. Auch beim Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht ist der Menschenwürdegehalt deutlich spürbar, selbst wenn Dworkin dies so nicht intendiert haben sollte. Aus dem Konzept der Menschenwürde ergeben sich Konsequenzen für das Menschenbild, das mit einer Verfassungstheorie deskriptiv und normativ unterfangen werden soll 4 9 9 . Der materiale Ansatz beschränkt sich nicht auf politische Selbstbestimmung, sondern bezieht auch die „kommunikative, religiöse, wirtschaftliche, kulturelle und sexuelle Selbstentfaltung" 500 mit ein und ver496
Auch Dworkin hat seine Theorie zunächst als verfahrensorientiert charakterisiert und sich von einem materialen Ansatz abgegrenzt, der allein auf Fundamentalität des betroffenen Interesses abstellt, vgl. ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 502, 510 f. (1981). Dagegen erscheint sein Ansatz stärker material, wenn man die von ihm vorgeschlagene Verfahrenskontrolle, die auf Ausscheidung externer Präferenzen aus dem Gesetzgebungsverfahren zielt (dazu Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 381 ff.), für undurchführbar hält und sich statt dessen unmittelbar auf die inhaltliche Norm der „gleichen Achtung und Rücksicht" bezieht, um Gesetze zu überprüfen. 497 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 380,412 f. 498 Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1069 f., 1077 (1980). Ibid., S. 1070, findet sich sogar die Objektformel wieder (dazu z. B. Kunig, in: GGK, Art. 1 Rdnr. 22 f.). Vgl. auch Brest, 42 Ohio St. L.J. 141 (1981); ferner Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 588 Fn. 86. 499 Es wäre allerdings verfehlt anzunehmen, daß man Fragen des Schutzbereichs und der Schranken der Grundrechte im voraus lösen kann, indem man nur ein hinreichend detailliertes Menschenbild zeichnet.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
folgt das „Leitbild einer eigenständigen, sinnhaften und verantwortlichen Lebensführung" 501 in der Gemeinschaft. Von dieser gemeinsamen Basis ausgehend, kann der vorausgesetzte Grad an Gemeinschaftsbezogenheit freilich höchst unterschiedlich ausfallen. Diese Arbeit will Elys Theorie bewerten, nicht aber eine eigene Konzeption zur materialen Deutung der US-Verfassung entwickeln 502 . Festzuhalten ist im vorliegenden Zusammenhang, daß zu einer solchen inhaltlichen Auseinandersetzung um die gegenwärtige Bedeutung der normativ verbindlichen Verfassung keine Alternative besteht, wenn man den von Tushnet erwogenen Abschied von der Verfassungsgerichtsbarkeit herkömmlichen Zuschnitts für eine unangemessene Lösung hält und weder in Elys Prozeduralismus noch im Originalismus eine durchführbare Alternative sieht. Soweit die unvermeidlich inhaltlichen Entscheidungen zur Bedeutung sowohl der speziellen Grundrechtsbestimmungen als auch der allgemeinen Freiheits- und Gleichheitsklausel den Vorwurf des Elitismus auf sich ziehen 503 , ist dieser um des Grundrechts- und Minderheitenschutzes willen in Kauf zu nehmen. Mit einer materialen Position vereinbar ist es, die historische Bedeutung und den historischen Willen des Verfassungsgebers als Hilfsmittel der Interpretation einzusetzen504. Unter dem Gesichtspunkt der Methodenvollständigkeit ist dies sogar geboten. Auch ist damit nicht der Weg in eine Prozeduralisierung bestimmter Fragen und Bereiche versperrt. Ausgeschlossen ist jedoch eine Reduktion der Verfassung auf Verfahrensfragen, wie sie Ely betreibt.
b) Verteidigung des Non-Originalismus Eine Erwiderung auf Elys Kritik am Non-Originalismus 505 muß auf den Vorwurf fehlender Textanbindung (1), auf die Kopplung von Verfassungstheorie und Moralphilosophie sowie auf die behauptete Demokratiefeindlichkeit nichtoriginalistischer Verfassungsinterpretation (2) und auf deren angebliche Willkür eingehen (3) 5 0 6 . 500 Brugger, ARSPBeih. 37 (1990), S. 183 (Zitat), 187. 501 Ibid., S. 187; ebenso ders., Grundrechte, S. 418. 502
Für einen solchen Versuch Brugger, Grundrechte, S. 407 ff. 503 Vgl. Ely, S. 59; Bork, The Tempting of America, S. 61, 145. 504 Hierzu ist der Interpret sogar verpflichtet, wenn er eine einseitige und ahistorische Bedeutungsermittlung vermeiden will, zutreffend Tribe, American Constitutional Law, S. 48 f., 52, 58. 505 Siehe oben 1. Kap., D.I. 1. 506 Für eine eingehende rechtsphilosophische Verteidigung des Non-Originalismus, die vor allem auf den erkenntnistheoretischen Streit zwischen Skeptizismus und Objektivismus sowie zwischen Relativismus und Universalismus eingehen müßte, ist in dieser Arbeit kein Raum.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
(1) Ernst zu nehmender Non-Originalismus knüpft bei der Interpretation am Text der Verfassung an, auch wenn die Anknüpfung etwa bei der inhaltlichen Deutung der due process-Klausel insofern schwach ist, als sie sich auf ein einzelnes Wort („liberty") bezieht 507 . Um die Legitimität einer nichtoriginalistischen Theorie, die ohne jeden Anknüpfungspunkt im Text auskommen will, geht es hier nicht. Keine anspruchsvolle Verfassungstheorie ignoriert das positiv gesetzte Recht. Fraglich ist vielmehr, welcher Grad an Textanbindung für die Legitimität einer Verfassungstheorie mindestens erforderlich ist und wie man diesen überhaupt bestimmt . Elys übermäßig vereinfachendes Bild von den „vier Ecken" 509 des Verfassungstextes verdeckt dieses komplexe Problem der Sprachphilosophie und der Verfassungstheorie. Deshalb ist auch an seiner Begriffswahl Kritik zu üben. Soweit er von „Non-Interpretivismus" spricht, suggeriert dies, daß Non-Originalismus keine Interpretation der Verfassung sei 5 1 0 . Dies kann man nur vertreten, wenn man ein mechanistisches Bild von Rechtsanwendung und Sprache zugrunde legt, das auf weitgehender textlicher Determinierung beruht und das Ely selbst nicht vertritt 5 1 1 . Mit seiner Begriffswahl versucht er, den Leser von vornherein gegen den Non-Originalismus einzunehmen512. (2) Für Dworkin liegt die politische Moral der Verfassung voraus 513 . Sie liegt damit weder „außerhalb" des Textes, wie dies die Rede vom „Non-Interpretivismus" und von den vier Ecken der Verfassungsurkunde suggeriert, noch „über" dem Text, wie das Bild vom überpositiven Recht nahelegt. Man tut Dworkin Unrecht, wenn man hierin einen sprachlichen Trick sieht, mit dem überpositive Elemente einfach zur Grundlage der Verfassung umgewidmet würden. Vielmehr drückt sich hier die im Zuge der immanenten Kritik an Ely bestätigte Einsicht aus, daß die Verfassung aus sich heraus keine eindeutige Entscheidung ermöglicht, welche Verfassungstheorie und welches Verhältnis von Recht und Moral an sie herangetragen werden soll 5 1 4 . Wenn inhaltliche Entscheidungen zum Vorverständnis durch die Verfassung nicht determiniert sind 515 , kann es nur um die Wahl der über507 Dazu Gerety, 42 Ohio St. L.J. 160 (1981). 508 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 400: „Die Verfassung stipuliert nicht den Grad an Objektivität oder Subjektivität, der für interpretative Urteile erfordert oder verboten ist. Sie legt nicht »ablesbar' fest, was ,noch' oder,nicht mehr' als ,Interpretation' anzusehen ist." 509 Ely, S. 1. 510 Kritisch auch Ortiz, 77 Va. L. Rev. 724 Fn. 9 (1991), der Elys Terminologie für irreführend hält. Vgl. ferner Dworkin, 56 N.Y.U. L. Rev. 471 ff. (1981). 511 Dazu in anderem Zusammenhang Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 744 (1985). 512 Das gilt im übrigen auch für seine eigenwillige Definition des „Interpretivismus", die das historisch Gewollte unter den Tisch fallen läßt. 513 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 215; ders., 56 N.Y.U. L. Rev. 472 (1981). 514 Vgl. Sager, 56 N.Y.U. L. Rev. 442 (1981). Siehe auch oben 3. Kap., B. I. 1. e), und ferner B. I. 4. a). 515 Dazu Brugger, Grundrechte, S. 400 f., 405,414, 452 f.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
zeugendsten Theorie gehen 516 . Eine positivistische Theorie ist hierbei gegenüber einer nichtpositivistischen Konzeption nicht per se vorzugswürdig. Als inhaltlicher Entwurf steht Elys Theorie mit seinen nichtoriginalistischen Konkurrenten auf einer Stufe im argumentativen Wettbewerb. Darüber hinaus ist Elys Lösung nicht von vornherein demokratischer als der Non-Originalismus. Denn das Demokratieprinzip bedarf selbst einer verfassungstheoretischen Unterfütterung, so daß der Bewertungsmaßstab vom Vorverständnis abhängt. In Elys Vorverständnis von Demokratie fließt zum Beispiel der nichtoriginalistische Anschluß an Dworkins Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht ein, weshalb ihm dieses gegenmehrheitliche Grundrecht demokratiekonform erscheint. Aus der Sicht eines mehrheitsbezogenen Demokratieverständnisses erscheint Elys Lösung dem Non-Originalismus allerdings überlegen, weil die repräsentationsoptimierende Theorie nur das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht zugesteht, während das Mehrheitsprinzip im Non-Originalismus durch weitere ungeschriebene Grundrechte eingeschränkt wird. Insofern ist Elys Theorie die demokratischere Lösung. Dies begründet einen vertretbaren Einwand gegen den Non-Originalismus, der damit aber nicht widerlegt ist. Denn weder zwingt die US-Verfassung zu einer strikt majoritären Demokratiekonzeption noch läßt sich mit ihr das Verhältnis von Demokratie und Grundrechten eindeutig bestimmen. Hierauf ist gleich noch näher einzugehen517. Im übrigen sind auch vom Boden des Non-Originalismus aus Bedenken berechtigt, wonach die Verfassungstheorie nicht einfach an die Rechtsphilosophie gekoppelt werden darf 518 . Ausgangspunkt der Interpretation muß die positive Verfassung bleiben. Allerdings haben nichtoriginalistische Theorien keineswegs die Absicht, die Verfassung mit moralphilosophisch begründeten Inhalten zu überspielen. Vielmehr bemühen sich diese Ansätze, ein rechtsphilosophisches und verfassungstheoretisches Vorverständnis zu entwickeln, auf dessen Grundlage die Verfassung kohärent gedeutet und fortgeschrieben werden kann. Wer eine nichtpositivistische Grundrechtstheorie vertritt, konstitutionalisiert damit noch nicht eine bestimmte Moralphilosophie, sei es die von Rawls, Dworkin oder eines anderen. Deshalb geht die Entscheidung über den Inhalt der Verfassung nicht etwa in die Hände von Rechtsphilosophen über. Jedoch entgeht nur eine verantwortliche Rezeption durch die Juristen dem Vorwurf des Dilettantismus wie auch des Eklektizismus. Elys Kritik, wonach Juristen normalerweise keine Rechtsphilosophen seien 519 , ist zwar berechtigt, führt aber in der Sache nicht weiter. Denn rechtsphilosophische Vorentscheidungen sind in jedem Fall unvermeidbar, wie Elys Versuch, ihnen auszuweichen, in aller Deutlichkeit vor Augen geführt hat.
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Vgl. die Kriterien bei Brugger, Grundrechte, S. 408. 517 Siehe unten 3. Kap., B. II. 3 c) aa). 518 Vgl. Ely, S. 58; Nagel, 56 N.Y.U. L. Rev. 519, 522 (1981). 519 Vgl. aber Richards, 42 Ohio St. L.J. 323, 329 (1981).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
(3) Ely kritisiert die substantielle Deutung der Verfassung als willkürlich. Er unterscheidet dabei grob drei Ebenen der Erkenntnismöglichkeit, nämlich absolute Wahrheit, rationalen Diskurs und willkürlichen Intuitionismus, wie eine Rekapitulation seiner Wertkritik ergibt: Ely hält die Entdeckung absoluter ethischer Wahrheit für ausgeschlossen, bestreitet aber nicht, daß moralische Urteile rational begründbar seien. Er weiß also, daß fehlende textliche Determiniertheit nicht Irrationalität des Diskurses bedeutet. Seine eigene Verfassungstheorie präsentiert sich weder als absolute Wahrheit noch als intuitive Deutung des Wesens der Demokratie, sondern ist als rationaler Entwurf der mittleren der drei genannten Ebenen zuzuordnen. Auch bei Dworkins Rechte-orientiertem Non-Originalismus handelt es sich aber weder um einen Versuch, absolute, das heißt objektive und apriorische Wahrheit zu entdecken, noch um eine intuitive - und in diesem Sinne beliebige - Weiteschau. Vielmehr ist sie ein rationaler, weil prinzipiengeleiteter Versuch, die Verfassung zu konkretisieren 5 2 0 . Wenn das Fehlen objektiver Wahrheit nach Elys eigenem erkenntnistheoretischem Standpunkt kein Hinderungsgrund ist, Verfassungstheorie zu betreiben, darf analog dazu das Fehlen eines „erkennbaren und objektiv gültigen Bestands moralischer Prinzipien" 521 auch kein Grund sein, auf moralphilosophische Argumentation zu verzichten. Daß hinsichtlich der Auswahl der richtigen Werte oder Rechte und ihrer Anwendung im Einzelfall stets Streit bestehen wird, bedeutet nicht, daß eine vernünftige Entscheidung zugunsten einer für richtig erachteten Theorie unmöglich ist 5 2 2 . Wenn Ely aus der Streitigkeit moralphilosophischer Positionen auf die Sinnlosigkeit des Diskurses schließen würde, dürfte er auch seine eigene Theorie nicht vertreten. Denn im Widerspruch zu seiner eigenen Kritik leitet er aus dem abstrakten Recht auf gleiche Achtung und Respekt eine konkrete Folgerung ab, nämlich das verfassungsmäßige Verbot von Vorurteilen. Seine Position unterscheidet sich deshalb zwar quantitativ, nicht aber qualitativ von einem umfassenderen Non-Originalismus 523. Entgegen Ely ist somit im Ergebnis festzuhalten, daß Non-Originalismus im Einklang mit dem Text der US-Verfassung möglich ist. Der Non-Originalismus schränkt zwar das Mehrheitsprinzip durch ungeschriebene Grundrechte in stärkerem Umfang als Elys Theorie ein, was ihn jedoch angesichts der Offenheit der USVerfassung für unterschiedliche Demokratiekonzeptionen nicht widerlegt. Gemes520 Vgl. ibid., S. 322. 521 Ely, S. 54. 522 Vgl. Richards, 42 Ohio St. L.J. 321, 325 (1981); Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 187; ders., Grundrechte, S. 395, 397. 523 Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 404: „Wenn man, wie dies Ely tut, überhaupt verfassungsrechtliche Gleichheits- und Gerechtigkeitsforderungen anerkennt, die von der Verfassung zwar nicht festgelegt, aber vorausgesetzt oder anvisiert und verfassungsgerichtlich durchsetzbar sind, dann begleiten und leiten diese Kriterien den ganzen Prozeß der Verfassungsauslegung und lassen sich nicht vorgängig auf politische Mitwirkungsrechte reduzieren."
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
sen an Elys eigenen Maßstäben kann der Non-Originalismus nicht als willkürlich kritisiert werden.
c) Kritik des Non-Originalismus an Elys Theorie Auf nichtoriginalistischer Grundlage läßt sich Kritik an der Angemessenheit von Elys Theorie üben. Diese betrifft seinen majoritären Demokratiebegriff (aa]), das prozeduralistische Verfassungsverständnis (bb]), den utilitaristischen Gemeinwohlbegriff (cc]), die Ablehnung von Persönlichkeitsrechten (dd]) und den Minderheitenschutz (ee]). aa) Primat demokratischer
Selbstbestimmung
Im Verhältnis von mehrheitsbezogener, repräsentativer Demokratie und Grundrechten sind verschiedene Vörrangrelationen möglich, wobei hier nicht die Kollision einer konkreten Mehrheitsentscheidung mit einem Grundrecht, sondern die abstrakte Zuordnung der beiden Verfassungsprinzipien in einer Verfassungstheorie betrachtet wird 5 2 4 . Zu denken ist an einen Primat von Demokratie und Völkssouveränität einerseits, einen Primat von positivierten Grundrechten und vorkonstitutionellen Menschenrechten andererseits sowie an eine abstrakte Gleichordnung von Demokratie und Grundrechten bzw. von Völkssouveränität und Menschenrechten. Auf eine solche Gleichordnung laufen im wesentlichen auch Ansätze hinaus, die Grundrechte in den Demokratiebegriff hineinverlagern, Grundrechte und Demokratie „gleichursprünglich" begründen 525 oder über ein komplexes Menschenbild zu einer Synthese gelangen 526 . Elys Theorie fühlt sich der erstgenannten Variante verpflichtet 527 . Auf der Ebene der Verfassungsgebung gilt ein strikter Vorrang der majoritären Demokratie, weil es für ihn Grundrechte nur nach Maßgabe des Verfassungsgebers bzw. des verfassungsändernden Gesetzgebers geben kann. Im Verfassungsalltag gilt immerhin ein schwacher Vorrang der repräsentativen Mehrheitsdemokratie, weil die verfassungsgerichtliche Grundrechtskontrolle grundsätzlich auf spezifisches Verfassungsrecht und funktionelle Mängel des Verfahrens begrenzt ist 5 2 8 . 524 Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 172 ff., zur Diskussion entlang der Achse Konstitutionalismus / Demokratie. 525 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 151 ff., 155 m. Zitat. 526 Solche Theorien spiegeln das Verhältnis von Demokratie und Grundrechten letztlich angemessener wider als eine einseitige Auflösung der Polarität. Bedenklich ist es allerdings, wenn die Synthese so komplex gerät, daß die ursprüngliche Dichotomie von Mehrheitsdemokratie und Grundrechten nicht mehr sichtbar ist. Im Interesse einer Kontrastierung ist es sinnvoll, wie im Text zu unterscheiden. 527 Vgl. Ely, S. 75 Fn. *. Damit ist Elys Selbstverständnis umschrieben, das die Konsequenzen aus dem Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht nicht zieht.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Non-Originalismus hält den Primat der Demokratie bzw. der Volkssouveränität vor den Grund- und Menschenrechten für unangemessen. Die abstrakte Gleichrangigkeit von Mehrheitsprinzip und Grundrechten hat i m Hinblick auf die bestehende US-Verfassung beispielsweise Sager vertreten 5 2 9 . Partizipation sei zwar als Wert anzuerkennen, aber nicht als Höchstwert 5 3 0 . Ely sei einem einseitigen Demokratieverständnis verfallen 5 3 1 . Die Konzentration auf das Mehrheitsprinzip stelle nur eine von mehreren möglichen Demokratiekonzeptionen dar. Die Idee der Menschenrechte sei spätestens seit 1945 auch zu einem A x i o m geworden 5 3 2 . Grundrechte seien deshalb bereits in den Begriff der Demokratie einzubinden. Es sei eine unzulässige Verkürzung, Verfassungstheorie wie Ely an einem einzigen Kriterium zu messen, nämlich am Prinzip der repräsentativen Mehrheitsdemokratie 5 3 3 . Dies vernachlässige den pluralistischen Charakter der Verfassung, die viele verschiedene, einander widersprechende Prinzipien und Werte beherberge 534 . Ein Primat der Grundrechte klingt demgegenüber bei Dworkin an, wenn er Grundrechte als „Trümpfe" über den demokratischen Prozeß bezeichnet 5 3 5 .
528 Vgl. auch Ackerman, We The People I, S. 7 ff., der hier Parallelen zum britischen Modell parlamentarischer Souveränität sieht. 529 Vgl. Säger, 56 N.Y.U. L. Rev. 444 f. (1981), der in Dworkins Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht das „common seminal principle" sieht. 530 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 3, 373 f. 531 Vgl. Tushnet, Red, White, and Blue, S. 71; Brugger, Grundrechte, S. 373 f., 412. 532 Vgl. Perry, 11 Va. L. Rev. 671 (1991). 533 Brugger, Grundrechte, S. 378, sieht hier die Gefahr, daß Elys Theorie „die Verfassung im ganzen dem einmal gewählten Ausgangspunkt unterwirft und instrumentalisiert". Dieses Risiko sei allerdings beim Non-Originalismus noch größer. Demgegenüber habe die „beste Verfassungstheorie" möglichst viele „Substanz-, Prozeß- und Formwerte" zu thematisieren und zu integrieren: ,,[K]ein Wert darf von vornherein wegfallen." (ibid., S. 405) 534 Vgl. Tribe/Dorf, On Reading the Constitution, S. 24 ff., insb. 26 f. Tribe vertritt einen pragmatischen, integrativen Ansatz und argumentiert gegen eine Verengung des Verfassungsrechts auf ein einzelnes Paradigma, vgl. ders., American Constitutional Law, S. 3 f., 21: „American constitutional law simply doesn't look, feel, or work like a readily unified or genuinely unifiable field, whether the organizing theme is a liberal theory of justice or a version of civic republicanism or a theory of representation-reinforcement." (ibid., S. 3) Zu Recht hält er fest, daß auch Freiheitsschutz nicht der einzige Zweck der Verfassung sei, vgl. ibid., S. 19: „The Constitution [ . . . ] is a means to the realization of encompassing procedural and substantive ends (not just liberty)". 535 Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 14, versteht Grundrechte als Positionen, die gegenüber Nutzenkalkulationen des Gemeinwohls immun sind, nicht als optimierungsbedürftige Prinzipien, die mit anderen Verfassungsgütern in einen verhältnismäßigen Ausgleich zu bringen sind. Zur Unterscheidung von deontologischen Prinzipien und teleologischen Werten vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff., mit Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff. Soweit Dworkin später Grundrechte in den Demokratiebegriff hineinverlagert hat (dazu ausführlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 188 ff. m. Nachw.), ändert dies nichts an seiner nichtpositivistischen Position, aus der jedenfalls ein qualifizierter Vorrang der Grundrechte folgt.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Ob von einem Primat der Menschen- und Grundrechte auszugehen ist, oder ob nicht doch die abstrakte Gleichordnung im erwähnten Sinne die angemessenere Lösung darstellt, ist hier nicht zu verfolgen. Auf der Grundlage einer nichtpositivistischen, liberalen Deutung der bestehenden US-Verfassung ist jedenfalls ein Primat der Mehrheitsdemokratie unangemessen, weil er die Grundrechte als in der Verfassung angelegte gegenmehrheitliche Position von vornherein vernachlässigt und marginalisiert. bb) Prozeduralistisches
Verfassungsverständnis
Elys Prozeduralismus führt aus materialer Sicht zu einer Verarmung des Bedeutungsgehalts der Verfassung. Insbesondere gründe sich die Formel „Eine Person eine Stimme" auf das inhaltliche Prinzip des gleichen Respekts536. Wenn sie als rein prozeduraler Standard im Sinne einer Zweckmäßigkeitsregel mißverstanden werde, liege dies daran, daß die zugrundeliegenden materialen Werte allseitig konsentiert seien 537 . Darüber hinaus baue das Prinzip des gleichberechtigten, offenen Zugangs zum politischen Prozeß auf einer inhaltlichen Konzeption von Menschenrechten auf 5 3 8 . Ein rassistisches Vorurteil sei nicht lediglich ein technisch-prozeduraler Defekt in der Funktion des politischen Prozesses, sondern ein Mangel, der inhaltliche Gleichheit und Gerechtigkeit tangiere 539 . Aus materialer Sicht besteht die Funktion der Verfassung auch darin, den Bürgern und deren Repräsentanten inhaltliche Maßstäbe für ihr Handeln zu geben 540 . Die auf Verfahrensregeln reduzierte Verfassung sei außerstande, den Inhalt öffentlicher Diskussion und staatlicher Entscheidungen zu informieren. Eine auf die Öffnung der politischen Kanäle fixierte Theorie könne darüber hinaus den prägenden Einfluß staatlichen Handelns auf die Gesellschaft nicht erfassen, der bei der Rede von einem sich selbst regulierenden politischen Marktgeschehen unterschlagen werde 541 . cc) Demokratie als „angewandter Utilitarismus
u
Der in Elys Theorie nachweisbare Utilitarismus, demzufolge der politische Prozeß bei seiner Nutzenmaximierung nur den in der Verfassung spezifisch festgelegten Einschränkungen sowie den besonderen Anforderungen der Partizipations- und Repräsentationsoptimierung unterliegt, stellt aus der liberalen, Rechte-orientierten 536 537 538 539 540
So Tribe , 89 Yale L.J. 1072 Fn. 41 m. Text (1980), der hier Dworkin zitiert. Dazu Ortiz, 77 Va. L. Rev. 729,742 (1991). Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1077 f. (1980). Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 425. Vgl. Tribe, 89 Yale L.J. 1079 (1981); fragend Brugger, Grundrechte, S. 377.
541 Dazu Tribe, 89 Yale L.J. 1078 f. (1980): „Der Staat formt die Gesellschaft fast so sehr, wie die Gesellschaft den Staat formt" (ibid, S. 1078).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
Perspektive, wie sie zum Beispiel Dworkin verficht, eine ungenügende Anwort auf die Frage nach den Grundrechten („Trümpfen") des Einzelnen gegen den Staat dar. Davon abgesehen strebt der Bürger in Elys pluralistischem Politikverständnis überwiegend nach „Maximierung individueller Wahl und Interessenbefriedigung" 5 4 2 . Brugger bezweifelt, daß dieses „Menschenbild des ,rational, selfish actor' das Sozialethos des amerikanischen Bürgers" wie auch das substantielle Ethos der US-Verfassung ausschöpfe 543. Er kritisiert weiter, daß Elys Konzeption der Ordnung des Gemeinwesens tendenziell zu egoistischer Durchsetzung der Einzelinteressen führe 544 . In der Tat verzichtet Elys Theorie auf jeglichen normativen Anreiz für die Berücksichtigung von grundrechtlichen Werten und Bürgertugenden 5 4 5 . dd) Kein Recht auf Persönlichkeitsentfaltung? Die inhaltliche Deutung der due process-Klausel ist einer der umstrittensten Bereiche des amerikanischen Verfassungsrechts. Mit ihr erhalten höchstpersönliche Entscheidungen über Sexualität, Familie, Fortpflanzung, Abtreibung sowie den eigenen Tod als fundamentale Freiheitsinteressen grundrechtlichen Schutz 546 . Nichtoriginalistische, Rechte-orientierte Ansätze wirken sich vor allem hier praktisch auf das Verfassungsrecht aus 547 . Ely lehnt neue, ungeschriebene Freiheitsrechte als Erfindung des Supreme Court rigoros ab 5 4 8 . Es gibt für ihn kein Grundrecht auf Abtreibung 549 oder auf freie Persönlichkeitsentfaltung. Solange der Gesetzgeber die Freiheit diskriminierungsfrei einschränkt und hierfür ein rationaler Grund spricht 550 , gilt für Ely: „Parliament can do no wrong."
542
Brugger, Grundrechte, S. 415 (Hervorh. weggelassen). Siehe oben 2. Kap., G. II. 1. 543 ibid., S. 377 m. Zit., 418 ff.; ähnlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 261. 544 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 376 f. 545 Hier steht nicht der Utilitarismus als individuelle Ethik in Rede, sondern die von Ely unterstellte grundsätzlich utilitaristische Ausrichtung des politischen Systems in toto. Um die Moral des Einzelnen, der sein Handeln an utilitaristischen oder anderen Maximen ausrichtet, geht es Ely nicht, weil dies als Privatangelegenheit außerhalb der Reichweite seiner Verfassungstheorie liegt. Vgl. ders., On Constitutional Ground, S. 16. Deshalb kann man den Utilitarismus in diesem Zusammenhang nicht damit verteidigen, daß er den einzelnen immerhin dazu zwinge, das Gesamtwohl als Zielgröße zu berücksichtigen, während eine rein egoistisch-individualistische Ethik nur die Maximierung des eigenen Nutzens anstrebt. 546 Vgl. Brugger, Grundrechte, S. 104 ff.; ders., Persönlichkeitsentfaltung; Schefer, Konkretisierung, S. 73 ff.; aus neuester Zeit Sunstein, One Case at ATime, S. 75 ff., 137 ff. 547 Zu den Konsequenzen von Elys Theorie für Persönlichkeitsrechte und Abtreibung siehe oben 1. Kap., E. I. und II. 548 Vgl. Ely, S. 102 Fn. *; ders., 11 Va. L. Rev. 834 Fn. 4 (1991). 549 Vgl. Ely, 82 Yale L.J. 920 ff. (1973). 550 Dieses minimale Erfordernis ist Ausfluß der „low level review".
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Persönlichkeitsrechte sind in den USA schwieriger zu begründen als in Deutschland, weil sie im Text der Verfassung nicht ausdrücklich erwähnt sind 551 . Immerhin spricht die due process-Klausel von „liberty" und das 9. Amendment von weiteren Grundrechten, die dem Volk zustehen. Kritiker wie Ely fassen jedoch „substantive due process" als Widerspruch in sich auf und weisen darauf hin, daß das 9. Amendment keine Blankovollmacht für höchstrichterliche Ersatzverfassungsgebung im Bereich der Grundrechte bieten könne. Das Argument der Fundamentalität oder Wichtigkeit sei als Begründung für Persönlichkeitsrechte willkürlich und undemokratisch. Eine Begründung von Persönlichkeitsrechten anhand der Freiheitsklausel könne sich nicht von der allseits als Kompetenzüberschreitung empfundenen Lochner-Rechtsprechung absetzen, die ebenfalls im Wege einer inhaltlichen Konkretisierung der due process-Klausel die unternehmerische Vertragsfreiheit überbetont und so die sozialstaatliche Eindämmung des Laissez-faire-Kapitalismus blockiert habe 552 . Die Probleme einer inhaltlichen Deutung der allgemeinen Freiheitsklausel sind zu vielschichtig, um sie hier umfassend behandeln zu können. Im folgenden wird zunächst gezeigt, wie unbenannte Persönlichkeitsrechte in der US-Verfassung verankert werden können. Sodann ist die Angemessenheit eines Verzichts auf unbenannte Freiheitsrechte zu bewerten. Als verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkte für unbenannte Freiheitsrechte kommen beispielsweise in Betracht: (1) Eine der Verfassung und insbesondere den Grundrechten unterliegende Idee der Menschenwürde 553; (2) der Schutz einzelner, fundamental wichtiger Persönlichkeitsinteressen durch die „Freiheit" der due process-Klausel; (3) eine Analogie zu Einzelgrundrechten, die Aspekte der Persönlichkeit schützen 554 ; (4) eine inhaltliche Konzeption von Gleichheit und (5) das schon erwähnte 9. Amendment. Auf Variante (1) zielt es, wenn Richards unter Berufung auf die allen Menschen gleichermaßen zustehende personale Autonomie ausdrücklich die Anerkennung eines Rechts auf Privatsphäre fordert 555 . Die Varianten (2) und (3) sind aus Griswold bekannt 556 . Den von Variante (4) vorgezeichneten Weg beschreitet Dworkin. Demgegenüber vermeiden es materiale Ansätze
551 Vgl. demgegenüber Art. 1 Abs. 1 S. 1, Art. 2 Abs. 1 und Art. 4 Abs. 1 GG. 552 Vgl. Ely, Commentary, 56 N.Y.U. L. Rev. 532 (1981): „ I don't think Lochner and Roe can be distinguished." Vgl. aber Ely, The Wages of Crying Wolf, in: ders., On Constitutional Ground, S. 290 ff., der auf signifikante Unterschiede hinweist. Vgl. auch Gerety, 42 Ohio St. L.J. 159 ff. (1981). 553 Vgl. auch Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, S. 32 Fn. 60. 554 Dieser Ansatz läßt sich nicht nur als Analogie, sondern auch als Ausfluß „struktureller" (d. h. systematischer i.w.S.) Auslegung begreifen, vgl. Tribe, American Constitutional Law, S. 40 ff., 43, der überzeugend argumentiert, daß die strukturelle Auslegung nicht nur auf staatsorganisationsrechtliche, sondern auch auf grundrechtliche Fragen anzuwenden sei. 555 Vgl. Richards, 42 Ohio St. L.J. 332 (1981). 556 Siehe oben l.Kap.,E.I. 1.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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zumeist, isoliert auf das schwierig zu konkretisierende 9. Amendment abzustellen. Variante (5) hat deshalb nur eine Hilfsfunktion. Ob ein Verzicht auf unbenannte Freiheitsrechte angemessen ist, hängt nicht zuletzt von der Schutzwürdigkeit des Einzelnen gegenüber nicht-diskriminierenden staatlichen Beschränkungen ab. Ely versucht im Schlußwort, Bedenken gegen die parlamentarische Souveränität zu zerstreuen. Dort diskutiert er ein Gesetz, das außer bei Lebensgefahr die Entfernung von Gallenblasen verbietet 557 . Er vertraut aber darauf, daß der politische Prozeß keine absurden Gesetze beschließen werde 5 5 8 . Die gleiche Sorglosigkeit spricht aus seiner Ablehnung eines Grundrechts auf nicht konformes Verhalten 559 : „Das »Recht, anders zu sein' ist grundsätzlich, wenn auch offensichtlich nicht zwangsläufig, ein Recht der oberen Mittelklasse: Es ist, wenn man will, das Recht meines Sohnes, sein Haar so lang zu tragen, wie es ihm gefällt." 560
In anderen Fällen treten jedoch erhebliche Gefahren für die freie Persönlichkeitsentfaltung zutage. Zu denken ist etwa an umfassende polizeistaatliche Uberwachungsmaßnahmen, die der Gesetzgeber zum Schutz vor Kriminalität allen gleichmäßig ohne Diskriminierung auferlegt 561 . Nach einem Beispiel von Justice Goldberg in Griswold v. Connecticut ist auch die mehrheitlich beschlossene und diskriminierungsfrei anwendbare Zwangssterilisation zur Eindämmung des Bevölkerungswachstums ein Eingriff in die Privatsphäre im weitesten Sinne 562 . Bejaht man - wie etwa Klarman 563 - die Kompetenz der Mehrheit, ein Gesetz zur Zwangssterilisation zu beschließen, durch das niemand diskriminiert wird, so stehen im Grenzfall 49 von 100 Bürgern als Angehörige der überstimmten Verlierer-Gruppe vor einem massiven Eingriff in ihre persönliche Integrität, dem sie oder „ihre" Repräsentanten nie zugestimmt haben 564 . Ein Angehöriger der GewinnerGruppe, der sich der Mehrheitskoalition im Parlament verbunden fühlt, ist nach 557
Ely, S. 182 f. Das Beispiel macht allerdings nur Sinn, wenn man unterstellt, daß das Gesetz nicht völlig irrational ist, weil es sonst schon bei „low level review" verfassungswidrig wäre. 558 Immerhin behält er sich aber für den Extremfall ein Recht auf zivilen Ungehorsam vor, vgl. Ely, S. 182 f. Dazu allg. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 337 ff. 559 Vgl. Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 399 (1981). 560 ibid., S. 405. Dazu Kelley v. Johnson, 425 U.S. 238 (1976) (Haarerlaß für Polizisten verfassungsgemäß). 561 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 826 m. Fn. 347 (1991), der - ganz im Sinne Elys - die Zulässigkeit solcher Maßnahmen bejahen würde, weil die Kosten nicht einer Minderheit auferlegt, sondern auf die Allgemeinheit verteilt würden. 562 381 U.S. 479,496 (1965) (Goldberg, J., concurring). 563 77 Va. L. Rev. 826 f. (1991). Vgl. auch Skinner v. Oklahoma, 316 U.S. 535 (1942). 564 Unterstellt sei hier, daß die Kontrolle des Bevölkerungswachstums einen rationalen Zweck darstellt und daß das Verfahren angemessen ausgestaltet ist, so daß weder die prozedurale Dimension der due process-Klausel noch der Rationale-Basis-Test der Maßnahme entgegenstehen. 16 Riecken
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Elys Vorstellung von Repräsentation erst recht nicht schutzwürdig. Wieso aber sollte der Bürger für jedweden Eingriff in seine persönliche Integrität haften, den ihm „sein" Repräsentant auferlegt hat? Im Bereich der Persönlichkeitsrechte wird bei Ely unwiderleglich vermutet, daß die Interessen der Repräsentanten mit denen der Repräsentierten übereinstimmen. Damit bringt Ely den Begriff der Repräsentation gegen Abwehrgrundrechte in Position. Durch dieses fragwürdige Verständnis von Repräsentation gerät die potentielle Bedrohung von Freiheitsinteressen durch das Parlament, das auch in der Demokratie Teil der Staatsgewalt ist, tendenziell aus dem Blick. Die Gefährdung der Privatsphäre durch den Gesetzgeber wird deutlich, sobald man von der Achse Mehrheit / Minderheit auf die Polarität Staat/Individuum übergeht. Warum sollte man bei Verzicht auf umfassenden Rechte-Skeptizismus den Gesetzgeber - als den im Vergleich zum Verfassungsgericht gefährlicheren Teil der Staatsgewalt - zum Hüter der grundrechtlichen Freiheit des Individuums machen? Aus liberaler Sicht ist die Judikative immer noch die „least dangerous branch" (Bickel). Gegen die Unterordnung des Verfassungsgerichts hat Dworkin zwei Argumente genannt 565 : Zum einen sei es unfair, den Gesetzgeber im Hinblick auf die Verletzung von Persönlichkeitsrechten zum Richter in eigener Sache zu machen. Zum anderen könne man nicht davon ausgehen, daß der Gesetzgeber hier zu richtigeren Ergebnissen als das Verfassungsgericht gelange. Lehnt man die Unterordnung des Verfassungsgerichts mit diesen Argumenten ab, so ist Elys Einwand entkräftet, wonach eine materiale Deutung der Freiheitsklausel undemokratisch sei. Der Willküreinwand gegen den NonOriginalismus wurde bereits zurückgewiesen 566. Entgegen Ely ist somit festzuhalten, daß das Individuum nicht nur im Bereich der politischen, sondern auch in seiner persönlichen Autonomie schutzwürdig ist 5 6 7 . Der zentrale Einwand gegen Elys Theorie lautet, daß sie auf die politische Autonomie des Menschen verengt ist. Darin liegt eine verkürzte Sichtweise des Bürgers als Subjekt in der Demokratie. Der Einzelne ist nicht nur partizipierender und repräsentierter Bürger und als solcher Teil der Kollektive „Mehrheit" oder „Minderheit", sondern auch Individuum, dessen Privatsphäre als Grundlage und Voraussetzung seiner politischen Partizipation grundrechtlichen Schutzes bedarf. Richards wirft Elys Konzeption von Gleichheit vor, daß sie auf die Ebene der politischen Entscheidungsfindung beschränkt sei, den personalen Gehalt der Gleichheit vernachlässige und so bei der Umsetzung der eigenen moralischen Prämissen quasi auf halbem Wege stehenbleibe568. Ely geht also für die liberalen Vertreter des Rechte-orientierten Lagers in seiner Begründung individueller Freiheit nicht weit genug. Schefer bemerkt zu Recht, daß Elys Theorie scheitere, soweit es „um Fragen eines zentralen Bereichs intimster menschlicher Bedürfnisse" gehe 569 . 565
Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 239 ff. 566 Siehe oben 3. Kap., B. II. 3. b) (3). 567 Dazu Brugger, Grundrechte, S. 412. 568 Vgl. Richards, 42 Ohio St. L.J. 332 f. (1981).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Die Abgrenzung von Persönlichkeitsschutz und Vertragsfreiheit vom Typ Lochner läßt sich damit begründen, daß nicht alle Aspekte der personalen Autonomie gleich fundamental bzw. wichtig sind. Im übrigen stehen der Gleichsetzung von Lochner und Roe, wie sie Ely betreibt, funktionale Gründe entgegen, weil beide Entscheidungen in höchst unterschiedlichem Umfang in den politischen Prozeß eingreifen. Für die nichtoriginalistische Lösung, die Eingriffsbefugnisse des Gesetzgebers nicht nur an der politischen, sondern auch an der persönlichen Autonomie mißt, spricht auch, daß sie anders als Elys Theorie zu differenzierten Ergebnissen in der Lage ist. Dies ist insbesondere für das schwierige Problem angemessen, inwieweit der Gesetzgeber seine Kompetenz zur Regelung der öffentlichen Moral zulasten der persönlichen Autonomie ausüben darf, wenn vom untersagten Verhalten kein faßbarer Schaden für das Gemeinwohl droht 570 . Elys Theorie versperrt hier von vornherein den Weg zu einer vermittelnden Lösung 571 . Dagegen bestehen selbst dann Bedenken, wenn man berücksichtigt, daß sich die amerikanische Dogmatik wesentlich abwägungsfeindlicher als die deutsche darstellt 572 . Ist der Mensch Selbstzweck, so darf er nicht einfach zum Spielball der Mehrheitsmoral gemacht werden, wie dies nach Elys Theorie geschehen kann. Im Ergebnis verkürzt Elys Theorie die Autonomie des Menschen zu Unrecht auf ihre politische Dimension. Aus materialer Sicht, die eine umfassende Autonomie der Person fordert, sind auch Aspekte der Persönlichkeitsentfaltung grundrechtlich zu schützen. Damit bleibt das Problem bestehen, daß die Grenzen verfassungsgerichtlicher Kontrolle insoweit nicht eindeutig bestimmt sind. Zwar reichen die verfassungsgerichtlichen Befugnisse nicht weiter als der Umfang der personalen Autonomie. Wie weit diese ihrerseits reicht, ist jedoch weiterhin im Streit. Die Diskussion zum Persönlichkeitsrecht zeigt, daß Grenzen als demokratisches und rechtsstaatliches Erfordernis nicht das wichtigste Ziel einer Verfassungstheorie sein dürfen. Stark verkürzt, kann man sagen, daß die mangelnde Begrenzung des Verfassungsgerichts im Bereich unbenannter Persönlichkeitsrechte durch einen Gewinn an personaler Autonomie, Menschenwürde und Freiheit aufgewogen wird. ee) Prozeduraler
Minderheitenschutz
Die Undurchführbarkeit einer prozeduralen Konzeption von Minderheitenschutz zwingt zu einer inhaltlichen Konkretisierung der Gleichheitsklausel. Elys formale, 569 Schefer, Konkretisierung, S. 269. Vgl. auch Leedes, 23 Santa Clara L. Rev. 779 (1983). 570 Vgl. Ely, 56 N.Y.U. L. Rev. 403 ff. (1981). 571 Wenn man Elys Ansatz konsequent fortführt, stellt ein funktionierender politischer Prozeß sogar den Rationale-Basis-Test als inhaltliche Mindestanforderung in Frage. In diese Richtung Klarman, 11 Va. L. Rev. 825 (1991), zur Gleichheitsklausel. 572 Vgl. auch Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 283 (1994): „The issue is not,whether or not to legislate morality 4, but rather what kind of morality may be legislated." 16*
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
auf das Gesetzgebungsverfahren beschränkte Motivationsanalyse verfehlt den springenden Punkt, weil letztlich allein die inhaltliche, werthaltige Frage zählt, wie der Gesetzgeber unterschiedliche Gruppen behandeln darf. Zugespitzt und doch zutreffend stellt Tribe fest: „Jede verfassungsrechtliche Unterscheidung zwischen Gesetzen zulasten von Homosexuellen und Gesetzen zulasten von Exhibitionisten, zwischen Gesetzen zulasten von Katholiken und zulasten von Taschendieben muß von einer materialen Theorie abhängen, die bestimmt, welche Gruppe von Grundrechten Gebrauch macht und welche nicht." 5 7 3
Die Verfassung enthalte inhaltliche Werte, die Vorurteile gegen rassische und religiöse Minderheiten verbieten würden 574 . Rassendiskriminierung sei nicht deshalb unzulässig, weil sie mit der Idee der repräsentativen Demokratie unvereinbar sei, sondern weil man aus inhaltlichen Gründen einen bestimmten Gebrauch des Merkmals Rasse für verfassungswidrig halte 575 . Darüber hinaus ist Elys Konzeption des Minderheitenschutzes unangemessen verkürzt, weil sie auch hier von vornherein auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit ernsthaften moralischen Gründen verzichtet 576 . Im Rahmen einer materialen Gleichheitstheorie wird das Recht auf gleiche Achtung und Rücksicht dagegen zu einem Prüfstein der moralischen Vorstellungen des Gesetzgebers. Die moralisch begründete Ungleichbehandlung einer Minderheit - wie etwa von Afro-Amerikanern oder Homosexuellen - verletzt dieses Recht, wenn sie die Minderwertigkeit der Gruppenmitglieder impliziert 577 . Schließlich gerät bei Elys Minderheitenschutz das Individuum aus dem Blick, wie dies schon im Hinblick auf unbenannte Freiheitsrechte bemängelt wurde. Ely meint, daß Frauen aufgrund ihrer uneingeschränkten Partizipationsmöglichkeiten selbst schuld seien, wenn sie in Zukunft eine sexuelle Diskriminierung des Gesetzgebers hinnehmen würden 578 . Wenn nun eine einzelne Frau vergeblich gegen eine 573 Tribe , 89 Yale L.J. 1076 (1980). 574 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 740, 746 (1985). 575 So Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 577 (1981): „It is judgments about the permissibility of the use of race, not the call of representative democracy, that trigger judicial concern." 576 Vgl. Nagel, 56 N.Y.U. L. Rev. 520 (1981). Soweit Ely, 1983 Duke L.J. 971 Fn. 42, in Erwiderung auf Brest, 42 Ohio St. L.J. 135 (1981), eine moralische Verteidigung des Mischehenverbots zwischen Weißen und Schwarzen (vgl. dazu Loving v. Virginia, 388 U.S. 1 ff. [1967]) mit dem Argument zurückweist, daß derartige Gesetze eine integrationsfeindliche Tendenz hätten, ist dies nicht überzeugend. Denn die Unterscheidung von Trennung und Integration ist kein sachgerechtes Kriterium. So hält Ely moralisch begründete Strafgesetze für unverdächtig, obwohl sie die Gefangenen vom Rest der Bevölkerung abtrennen. Ely, ibid., will das Verbot homosexueller Handlungen damit rechtfertigen, daß hier neben der moralischen Begründung auch eine assimilierende Tendenz vorliege, die diesen Fall vom Mischehenverbot unterscheidbar mache. Das Problem besteht jedoch gerade darin, daß sich der oder die einzelne gegen die Vereinnahmung durch die heterosexuelle Mehrheitsidentität zur Wehr setzen will. Kritisch Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 281 ff. (1994). 577 Dabei ist die Konkretisierung dieses Rechts nicht auf die Inhalte festgelegt, die es bei Dworkin erhält. Vgl. auch Koppelman, 69 N.Y.U. L. Rev. 283 (1994). 578 Vgl. Ely, S. 169.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
geschlechtsspezifische Benachteiligung gestimmt hat, so hilft es ihr wenig zu erfahren, daß das Gesetz zu Fall gebracht worden wäre, wenn sich nur mehr Frauen engagiert hätten 579 . Aus grundrechtlicher Sicht spielt es keine Rolle, wie sich die Minderheit verhält, der das ungleich behandelte Individuum angehört. Das 14. Amendment spricht im Unterschied zur Fußnote 4 nicht von „Minderheiten", sondern von der „Person", der der gleiche Schutz der Gesetze nicht versagt werden darf. Die individualschützende Funktion der Gleichheitsklausel spricht dagegen, Gleichheit auf Minderheitenschutz zu verkürzen. Allerdings folgt Ely damit weitgehend den Vorgaben der amerikanischen Gleichheitsdogmatik.
d) Ergebnis (1) Elys Primat der demokratischen Selbstbestimmung ist unangemessen. Statt dessen ist zumindest von einer abstrakten Gleichordnung von Demokratie und Grundrechten auszugehen. (2) Ein rein prozeduralistisches Verfassungsverständnis verkürzt den Bedeutungsgehalt der Verfassung und vermag dem politischen Prozeß keine inhaltliche Orientierung zu vermitteln. (3) Ely verengt das Menschenbild der US-Verfassung zu Unrecht auf egoistische Interessenverfolgung. (4) Auf der Grundlage einer umfassenden personalen Autonomie sind auch Persönlichkeitsrechte anzuerkennen. (5) Minderheitenschutz bedarf einer materialen Konzeption der Gleichheit. Gemessen an einem materialen Verfassungsverständnis ist Elys Theorie unangemessen.
4. Liberalismus- und Kapitalismuskritik In der immanenten Kritik klang bereits an, daß sich Armut als ein informelles Hindernis der Partizipation auffassen läßt 580 . Vor allem die kritische Rechtsschule hat dies als externe Kritik am Liberalismus formuliert 581 . Für Parker liegt Elys Theorie die Annahme zugrunde, daß der politische Prozeß im Prinzip fair verlaufe und nur ausnahmsweise an Mängeln leide 582 . Diese Prämisse, auf der auch die Carolene-Entscheidung beruht, meint Parker widerlegen zu können, weil soziale und wirtschaftliche Ungleichheit im Hinblick auf Macht, Reichtum, Status und Bildung zu ungleicher Ausübung der Partizipationsrechte führten 583 . Die politische Inaktivität eines Großteils der Bevölkerung sei keine freiwillige Enthaltung hinsichtlich „voice and vote", sondern Passivität als Folge von Armut und schlechte579 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 141 (1981). 580 Siehe oben 3. Kap., B. I. 5. d). 581 Dazu allg. Brugger, JöR N.F. 42 (1994), S. 573; ders., Grundrechte, S. 200 ff. 582 Vgl. die Übersicht bei Parker, 42 Ohio St. L.J. 240 (1981). 583 Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 242 ff., 252 ff. (1981). Vgl. ferner Tushnet, Red, White, and Blue, S. 103 ff.; ders., 89 Yale L.J. 1051 (1980), jeweils ohne eigene Stellungnahme.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
rer Bildung 584 . Amerikas Politik werde nicht von der Mehrheit der Bevölkerung bestimmt, sondern von mächtigen Minderheitsinteressen („factions"), die den Einfluß der passiven Mehrheit auf die Politik effektiv blockieren würden 585 . Vor allem Wirtschaftsinteressen seien hier bevorzugt und hielten durch Bewußtseinsprägung das gegenwärtige System aufrecht 586 . Damit sei der Begriff der Mehrheitsherrschaft als Grundlage von Elys Theorie problematisch. Wenn Ely die massenhafte Nicht-Partizipation und die wirtschaftliche bzw. soziale Ungleichheit als deren Ursache systematisch ausblende, liefere er eine Apologie des gegenwärtigen Systems587. Eine eingehende Auseinandersetzung mit Parkers Kapitalismus- und Liberalismuskritik 588 würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, weshalb es bei wenigen Anmerkungen bleiben muß. Gegen Parker kann man aus Elys Perspektive einwenden, daß eine massive gerichtliche Umverteilung von Gütern in den von niemandem gewollten Verfassungsgerichtsstaat führt 589 . Der Supreme Court ist nicht der richtige Adressat für die Umgestaltung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, wie sie der Gesetzgeber zum Beispiel durch ein stark progressives Steuersystem vornehmen könnte. Im übrigen garantiert Wohlstand per se auch keine massenhafte Partizipation. Schließlich ist Ely gegen den impliziten Vorwurf zu verteidigen, er sei gegenüber Armut als tatsächlichem Hindernis für die Ausübung eines Grundrechts unsensibel590.
5. Ideologiekritik? Parker meint, daß auch die repräsentationsoptimierende Theorie zugunsten der Werte der gebildeten oberen Mittelschicht voreingenommen sei, obwohl Ely dies seinerseits zeitgenössischen Moralphilosophen wie etwa Rawls und Dworkin vorwerfe 591 . Darin schwingt der Vorwurf mit, daß Elys Verfassungstheorie durch die soziale Stellung ihres Autors bedingt sei. Radikaler gefaßt zielt dies auf die Frage, ob Ely seine Theorie auch dann vertreten würde, wenn er nicht weiß, männlich, 584 Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 242 (1981). 585 Vgl. ibid., S. 241, 255. 586 Vgl. ibid., S. 243 f. 587 Vgl. ibid., S. 241, 244, 253 ff., 257. 588 Überblick aus deutscher Sicht bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 226 f., der auf Otwin Massing und Reinhold Schlothauer eingeht. 589 Brugger, Grundrechte, S. 426, 440, 445, hält fest, daß faktisch ungleiche Grundrechtsausübungschancen in der Rspr. des Supreme Court grundsätzlich unverdächtig seien. 590 Vgl. zu Empfängnisverhütung und Abtreibung Ely, On Constitutional Ground, S. 280 f. zu Griswold und S. 303 f. („Abortion for the Rich" von 1977) zur Finanzierung von Abtreibungen durch öffentliche Gesundheitsfürsorge, die durch Mäher v. Roe, 432 U.S. 464 ff. (1977), eingeschränkt wurde. 591 Vgl. Parker, 42 Ohio St. L.J. 257 (1981), mit Ely, S. 59.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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wohlhabend und gebildet wäre: Würde er auch als Angehöriger einer Minderheit vertreten, daß jede Diskriminierung durch den Gesetzgeber aus „ernsthaften moralischen Gründen" zulässig ist? Eine Antwort auf diese und ähnliche Fragen hätte sicherlich spekulativen Charakter. Man kann zwar mit Tushnet behaupten, daß es ungewöhnlich sei, wenn jemand eine Verfassungstheorie vertrete, die seinen politischen Überzeugungen widerspricht 592 . Damit ist der Nachweis eines Determinismus, der Verfassungstheorie zum Annex des persönlichen politischen Koordinatensystems degradiert, aber noch nicht erbracht. Ely bemüht sich glaubhaft, politisches Wollen und verfassungsrechtliche Erkenntnis so weit wie möglich zu trennen. Mehr wird man nicht verlangen können. Deshalb spielt es letztlich keine Rolle, ob Ely seine Theorie so oder anders vertreten würde, wenn er eine andere soziale Stellung hätte. Gesellschaftlicher Pluralismus schlägt sich nun einmal in unterschiedlichen Deutungen der Verfassung nieder, die alle mit dem Anspruch auf Richtigkeit auftreten, ohne daß die eine oder andere konkurrierende Lösung als objektiv richtig ausgezeichnet werden kann. Auf dieser Grundlage verdient Elys Beitrag zur Verfassungstheorie als eine vertretbare 593 Deutung der US-Verfassung Respekt, auch wenn sie in dieser Arbeit als unangemessen kritisiert wird. Gegenüber Parkers Kritik ist daran zu erinnern, daß sich Verfassungsinterpretation stets auf der Grundlage von komplexen Vorverständnissen vollzieht, von denen sich niemand lösen kann. Eigene Werte des Verfassungsinterpreten bilden den Bezugspunkt normativer Erkenntnis, der ihr Gegenstand nicht einfach vorgegeben ist. Jedes Verstehen, jede Interpretation des Textes der Verfassung beinhaltet Werturteile. Will man dies vermeiden, so müßte man die juristische Auseinandersetzung aufgeben, wie uns dies CLS in unterschiedlichen Varianten empfiehlt. Der juristische Diskurs übernimmt aber im demokratischen, gewaltenteilenden Rechtsstaat eine eigene sinnvolle Funktion, auch wenn er nicht vollständig von politischen Präferenzen und Werten „gereinigt" werden kann. Im Hinblick auf die gebotene Transparenz kann man Ely nicht vorwerfen, daß er sein mehrheitsdemokratisches Vorverständnis nicht deutlich genug gemacht hätte.
6. Ergebnisse zur externen Kritik Die Ergebnisse der externen Kritik lassen sich so zusammenfassen. (1) Die Politisierung des Verfassungsrechts durch die Critical Legal Studies überzeugt weder in deskriptiver noch in normativer Hinsicht. Verfassungstheorie und -recht stehen vor der nicht unmöglichen Aufgabe, mit der im juristischen Diskurs erreichbaren Rationalität inhaltliche Aussagen zur normativen Bedeutung der Verfassung zu machen und dabei den Einfluß politischer und sonstiger Präferenzen möglichst zu minimieren. (2) Originalismus ist als Verfassungstheorie undurchführbar und auf592 Vgl. Tushnet, Taking the Constitution Away from the Courts, S. 156. 593 Urn die interne Kritik geht es hier nicht.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
grund seiner Vergangenheitsorientierung und Unflexibilität unangemessen. Er kommt deshalb als Alternative zu Elys Theorie nicht in Betracht. (3) Aus substantieller, nichtoriginalistischer Sicht ist Elys prozeduraler Ansatz vor allem deshalb unangemessen, weil er einseitig auf eine Konzeption majoritärer Demokratie fixiert ist und die persönliche Autonomie der Person vernachlässigt. (4) Systemund Ideologiekritik gegenüber Elys Liberalismus vermögen letztlich nicht zu überzeugen. Damit stellt sich ein nichtoriginalistischer Ansatz als vorzugswürdig heraus, wobei eine moralphilosophisch abgestützte Grundrechtstheorie einer Anknüpfung am realen Gegenwartskonsens überlegen ist. Zwar können nicht alle gegen den substantiellen Ansatz vorgebrachten Einwände ausgeräumt werden. Vor allem lassen sich die verfassungsgerichtlichen Grenzen nicht sicher im voraus bestimmen. Es scheint, daß Tushnet mit seiner Rede von den „Dilemmata des liberalen Konstitutionalismus" 594 jedenfalls soweit im Recht ist, als die liberale Verfassungstheorie moralphilosophischer Prägung um des Grundrechtsschutzes willen eine gewisse Ausweitung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit in Kauf nimmt. Wenn man die Autonomie der Person sowie ihre Freiheit und Gleichheit als Elemente materialer Gerechtigkeit höher ansetzt als rechtsstaatliche und demokratische Begrenzung des Verfassungsgerichts, ist dennoch der Non-Originalismus die vergleichsweise überzeugendste Lösung.
C. Anschlüsse an Elys prozedurales Modell Es bleibt zu untersuchen, inwieweit in der Literatur Anschlüsse an Elys Theorie erfolgt sind. Dabei wird zunächst eine um den dritten Absatz der Fußnote 4 verkürzte Theorie des politischen Prozesses vorgestellt, die sich im übrigen in der Nachfolge von Ely sieht (I.). Darüber hinaus ist Elys prozeduraler Ansatz auch auf deutscher Seite aufgegriffen und vor allem mit diskurstheoretischen Mitteln fortgeführt worden (II.).
I. Michael Klarmans „Theorie des politischen Prozesses" 1. Mehrheitsdemokratie
ohne spezifischen Minderheitenschutz
Aus dem Symposium der Virginia Law Review von 1991 sticht Klarmans Beitrag heraus, weil er Elys Theorie in Teilen verteidigt 595 . Was Klarman unter dem Namen „Political Process Theory" vertritt, erinnert aus deutscher Sicht an die de594 Tushnet, 42 Ohio St. L.J. 411 (1981) (Titel). 595 Klarman, The Puzzling Resistance to Political Process Theory, 77 Va. L. Rev. 747 ff. (1991).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
mokratisch-funktionale Grundrechtstheorie 596. Sein Ansatz besteht aus folgenden Elementen: (1) Verzicht auf den im dritten Absatz der Fußnote 4 angelegten spezifischen Minderheitenschutz; (2) Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf spezifisches Verfassungsrecht; (3) Strikte gerichtliche Kontrolle von Partizipationsrechten; (4) Verengung der Grundrechte auf ihre politische Funktion. Mit den Elementen (2) und (3) schließt Klarman an Ely an; hinsichtlich (1) und (4) setzt er sich von ihm ab. (1) Ein rein prozedurales Modell des Minderheitenschutzes hält auch Klarman für unmöglich 597 . Ely findet also insoweit selbst im eigenen Lager keine Anhänger 598 . Dennoch lehnt Klarman eine Theorie des Minderheitenschutzes auf inhaltlicher Grundlage wie Ely ab, weil sie in den Non-Originalismus führe. Kurz gesagt will Klarman Minderheitenschutz nur im Rahmen des ersten und zweiten Absatzes der Fußnote gewähren, weil nur diese Lösung mit dem Prinzip der Mehrheitsdemokratie vereinbar sei. Auf Minderheitenschutz, wie ihn der dritte Absatz der Fußnote 4 programmatisch andeutet, will er demgegenüber verzichten. (2) Klarman ist konsequenter Positivist und wie Ely ein erklärter Gegner des Non-Originalismus 599. Das Verfassungsgericht soll angesichts eines funktionierenden demokratischen Prozesses keine inhaltlichen, gegenmehrheitlichen Entscheidungen fällen dürfen, wenn diese nicht auf einer klaren Anweisung der Verfassung beruhen. Nach seinem Verständnis des ersten Absatzes der Fußnote unterliegt die Mehrheit nur den spezifischen Beschränkungen, die sie sich im voraus selbst auferlegt hat („precommitments"), wobei Klarman das Erfordernis sprachlicher Bestimmtheit unterstreicht 600. Diese Selbstbindung kann, muß aber nicht Minderheiten zugute kommen. Da das Prinzip der Mehrheitsherrschaft in der amerikanischen Demokratie unangefochten gelte 601 , seien gelegentliche Übergriffe der Mehrheit hinzunehmen602. (3) Kern seiner Theorie ist der zweite Absatz der Fußnote 4. Das Verfassungsgericht soll Fehlfunktionen des GesetzgebungsVerfahrens kurieren 603 , indem es den 596 Dazu unten 2. Teil, 4. Kap., D. 597 Vgl. ibid., S. 748, 784 (Zitat), 830: ,,[T]here can be no nonsubstantive theory of prejudice." Siehe bereits oben 3. Kap., B. I. 4. b) bb). 598 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 782 ff. (1991). 599 Vgl. ibid., S. 771 f., 824 ff. 600 Vgl. ibid., S. 780 ff., 814 Fn. 298. Darüber hinaus will er die Geltungsdauer der Selbstverpflichtung auf eine Generation beschränken, weil eine Verpflichtung der nachfolgenden Generation undemokratisch sei. Vgl. auch Ely, S. 11 zu Jefferson. Dies würde zu dem inakzeptablen Ergebnis führen, daß die Grundrechte der Bill of Rights keiner verfassungsgerichtlichen Kontrolle mehr unterliegen, weil sie sprachlich unbestimmt sind und ihre Geltungsdauer nicht dem Modell des „intra-generational precommitment" entspricht. 601 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 782 (1991). 602 Vgl. ibid., S. 779 ff., 781 m. Fn. 145. 603 Vgl. ibid., S. 772.
1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Zugang zum politischen Prozeß optimiert. Daher befürwortet Klarman - wie Ely einen strikten Schutz regierungskritischer Rede sowie eine strikte Kontrolle, wenn das Wahlrecht beschränkt oder entzogen wird. Außerdem tritt er für eine strenge Gleichheitsprüfung ein, wenn die Mehrheit eine Gruppe benachteiligt, die keinen ungehinderten Zugang zum politischen Prozeß hat 6 0 4 . Ein Beispielsfall sei die Entscheidung Brown v. Board of Education. Die strikte Gleichheitsprüfung lasse sich aus prozeduraler Sicht rechtfertigen, weil sich die schwarze Minderheit in der Ausübung ihres Wahlrechts behindert sah. Dagegen ist Brown für Klarman eine illegitime Entscheidung, soweit man sie - wie die Non-Originalisten - mit der Ungerechtigkeit der Rassentrennung begründet: „In dem Maße, in dem Brown nicht darauf beruht, daß den Schwarzen im Süden [der USA] das Wahlrecht entzogen war, kann die Entscheidung mit der Theorie des politischen Prozesses nicht gerechtfertigt werden." 605
Klarmans Kernthese besagt, daß effektiver Zugang zum politischen Prozeß für den angemessenen Schutz von Minderheiten genügt. Mit anderen Worten ist der dritte Absatz der Fußnote in Elys Konzeption nicht nur undurchführbar, sondern auch überflüssig. Klarman zufolge hätten volle politische Mitwirkungsrechte für die schwarze Minderheit im wesentlichen die gleichen Resultate wie die mit Brown begonnene und von den Bundesgerichten durchgesetzte Rassenintegration herbeigeführt 606. Er belegt diese These mit zahlreichen historischen Beispielen, in denen die schwarze Minderheit durch ungehinderten Zugang zum politischen Prozeß die negativen Folgen der Rassendiskriminierung habe abschwächen oder sogar ausgleichen können 607 . (4) Die speziellen Grundrechte der Bill of Rights interpretiert Klarman demokratisch-funktional und verengt sie dementsprechend auf ihre politische Funktion. Er kritisiert die Rechtsprechung des Supreme Court nach Carolene Products, soweit sie sich nicht partizipationsoptimierend deuten läßt 608 . Was den Freiheitsschutz angeht, fällt Klarman damit hinter Ely zurück. Denn Ely beschränkt das „spezifische" Verfassungsrecht nicht auf seine politische Funktion, auch wenn er den meisten Grundrechten einen prozeduralen Charakter beilegt. Eine Einschrän604 Vgl. zusammenfassend ibid., S. 831. 605 Ibid., S. 815. Eine originalistische Rechtfertigung lehnt Klarman ebenfalls ab. Außer Kraft setzen will er Brown jedoch auch nicht, obwohl ihm die Begründung hierfür schwer fällt, vgl. ibid., S. 814 f. zu Ackerman und S. 819 Fn. 318. 606 Vgl. ibid., S. 805, 811, 813. 607 Vgl. ibid., S. 789 ff. So bestehe zum Beispiel eine enge Korrelation zwischen aktiver Beteiligung der Schwarzen am politischen Prozeß und ihrer Teilhabe an Leistungen der kommunalen Daseinsvorsorge. 608 im einzelnen greift Klarman, ibid., S. 748 ff., aus seiner Sicht zu weit gehende Entscheidungen zur Gleichheitsklausel, zur Rede- und Religionsfreiheit, zur Persönlichkeitsentfaltung und zu den Justizgrundrechten an. Ein politisch konservativer Standpunkt läßt sich bei ihm ebensowenig wie bei Ely ausmachen. Auch Klarman hält „affirmative action" bzw. umgekehrte Diskriminierung für zulässig, vgl. ibid., S. 751,753.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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kung etwa der Redefreiheit auf politische Inhalte lehnt Ely im Gegensatz zu Klarman mit Hinweis auf den offenen Wortsinn („freedom of speech ") ab 6 0 9 . Hier steht Elys Textualismus und Liberalismus gegen Klarmans konsequenten, aber Freiheit auf die politische Freiheit verkürzenden Funktionalismus. Zusammengefaßt vertritt Klarman ein auf den partizipationsorientierten Zweig von Elys Theorie reduziertes Modell starker Mehrheitsdemokratie ohne spezifischen Minderheitenschutz, das mit einer weitgehenden Begrenzung verfassungsgerichtlicher Grundrechtskontrolle einhergeht.
2. Kritik Die von Klarman bemühten Beispiele, in denen die schwarze Minderheit aufgrund uneingeschränkter Partizipationsrechte in der Lage war, ihre Interessen wirksam zu vertreten, weisen zu Recht auf einen ungewohnten Aspekt in der Geschichte der US-amerikanischen Rassendiskriminierung hin. Nicht ohne Grund hat Ely jedoch schon in „Democracy and Distrust" festgestellt, daß das pluralistische Modell für den Schutz der afro-amerikanischen Minderheit nicht genüge 610 . Politische Teilhaberechte verhindern nicht immer, daß eine rassistische Mehrheit eine Minderheit systematisch unterdrückt. Klarmans Theorie kann nicht erklären, warum sich eine Gruppe trotz ihres gleichberechtigten Zugangs zum politischen Prozeß doch im „Paria-Status" (Ackerman) wiederfinden kann. Klarman unterschätzt bei der Analyse des politischen Prozesses die Bedeutung des Vorurteils. Darüber hinaus stimmt es nachdenklich, daß große Teile der schwarzen Minderheit in wirtschaftlicher und sozialer Hinsicht auch heute noch benachteiligt sind, obwohl sie seit geraumer Zeit gleichberechtigt partizipieren können 611 . Diese Tatsache scheint der These Klarmans zu widersprechen, wonach volle politische Mitwirkungsrechte der Schwarzen zumindest zum gleichen Ergebnis wie Brown geführt hätten. Es ist jedoch in der Tat nicht ausgeschlossen, daß die schwarze Minderheit ohne den Eingriff des Supreme Court in den politischen Prozeß zu einem Maß an Gleichbehandlung gelangt wäre, das dem von Brown entspricht oder sogar darüber hinausgeht. Man kann nicht einmal ohne weiteres ausschließen, daß die gerichtliche Intervention den Integrationswillen des politischen Prozesses gebremst hat. Die empirische Frage ist also nicht einfach zugunsten oder zulasten von Klarman zu entscheiden. 609 Vgl. Ely, S. 94, wo er der Versuchung einer demokratisch-funktionalen Engführung mit sichtbarer Mühe widersteht, mit Klarman, 77 Va. L. Rev. 753 ff., 827 f. (1991). 610 Vgl. Ely, S. 135, 152, 161 m. Fn. *. Cover, 91 Yale L.J. 1296 f., 1300 (1982), erinnert daran, daß die Beseitigung des Apartheid-Systems massive Eingriffe in den „freien" politischen Prozeß erforderte.
611 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 745 (1985): „Despite their political gains, blacks still suffer under the weight of grossly disproportionate economic, educational, and social disadvantage, as well as sheer racial prejudice." (Fn. weggelassen)
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Der Verzicht auf den Minderheitenschutz im Paradigma des dritten Absatzes der Carolene-Fußnote ist jedoch aus der Sicht eines materialen Verfassungsverständnisses unangemessen, weil auch eine hochgradig ungerechte Behandlung der Minderheit hinzunehmen ist, wenn nur der politische Prozeß formal ordnungsgemäß funktioniert hat. Wenn Klarman meint, daß eine gelegentliche Tyrannei der Mehrheit immer noch vorzugswürdiger als die Tyrannei des Verfassungsgerichts sei 6 1 2 , so erscheint diese Alternative falsch gewählt. Das Verfassungsgericht kann seine gegenmehrheitlichen Eingriffe in den Mehrheitswillen mit Grundrechten rechtfertigen. Demgegenüber fällt es schwer, eine inhaltliche Rechtfertigung des Gesetzgebers zu finden, die es erlaubt, Mitglieder einer Minderheit als Menschen zweiter Klasse zu behandeln. Nach Klarmans Modell liegt allerdings gar keine Fehlfunktion des politischen Prozesses vor, wenn dieser die Vorurteile, Stereotypen und Präferenzen des Volkes zutreffend widerspiegelt 613. Auch eine rassistische Gesellschaft funktioniert in dieser Sicht einwandfrei, wenn alle Gruppen am politischen Prozeß beteiligt sind. Diese auf Effizienzgesichtspunkte reduzierte, funktionalistische Sicht des demokratischen Prozesses ist durch ihre positivistische Engführung außerstande, Fragen der Gerechtigkeit zu thematisieren. Aus materialer Sicht wurde Brown richtig entschieden, weil Gleichheit als ein Aspekt der materialen Gerechtigkeit die Rassentrennung verbietet 614 . Daher mag Klarmans Analyse zum kompensierenden Einfluß gleichberechtigter politischer Partizipation der Schwarzen in empirischer Sicht zutreffen oder nicht: In jedem Fall rechtfertigt bereits der Zugewinn an materialer Gerechtigkeit bzw. an Fairneß die gerichtlich angeordnete Rassenintegration auf der Grundlage der Gleichheitsklausel. Klarman will anhand von Funktionsstörungen des politischen Prozesses in wertneutraler Weise eng umgrenzte Sachbereiche identifizieren, in denen das Verfassungsgericht korrigierend eingreifen darf. Sind diese Sachbereiche identifiziert, so dürfe das Verfassungsgericht zur Optimierung des politischen Prozesses auch inhaltliche Entscheidungen treffen 615 . Dies entspricht im wesentlichen Elys revidierter Position zur Wertneutralität seines Ansatzes 616. Klarman will nun anders als Ely die Gleichheitsklausel nicht mit dem dritten, sondern mit dem zweiten Absatz der Fußnote 4 konkretisieren, um Minderheitenschutz zu gewährleisten. Offenbar verspricht er sich davon, die Probleme des dritten Absatzes zu umgehen 617 . Dies 612 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 781 m. Fn. 145 (1991). Vgl. auch ibid., S. 779. 613 Vgl. ibid., S. 752. 614 Vgl. Brest, 42 Ohio St. L.J. 140 (1981): „The tightness of Brown lies in the fact that (we believe) the Court made the right choice." Deshalb kommt es nicht darauf an, daß in der damaligen Gesellschaft kein Konsens zur Frage der Rassentrennung bestand. Vgl. aber Klarman, 11 Va. L. Rev. 817 f. (1991). 615 Vgl. ibid., S. 783 f. 616 Siehe oben 3. Kap., B. I. 4. b) ee). 617 Zutreffend Ortiz, 77 Va. L. Rev. 729 Fn. 32 (1991): „His approach has paragraph three's scope but with paragraph two's less controversial rationale. He would seek the scope of paragraph three without paying its costs."
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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ist jedoch ein Trugschluß, weil sich Klarman die gleichen Bedenken vorhalten lassen muß, die im Hinblick auf Wertneutralität und Begrenzung des Gerichts gegen Elys revidierte Position angemeldet worden sind. Warum soll sich bei ungleichem Zugang zum politischen Prozeß aus der strengen Gleichheitsprüfung eine Pflicht zur Rassenintegration ergeben, wenn Klarman hierfür keinen inhaltlichen Maßstab hat 618 ? Auf strikt pluralistischer Grundlage müßte er fragen, wie die schwarze Minderheit gestanden hätte, wenn sie vor Brown gleichberechtigten Zugang zum politischen Prozeß gehabt hätte. Voraussagen dieser Art sind aber wie erwähnt unsicher. Damit ist die Wahl der inhaltlichen Rechtsfolge in das subjektive Ermessen des Gerichts gestellt, für dessen wertneutrale Ausübung Klarmans Theorie keine Kriterien bereitstellt 619 . Soweit er inhaltliche Entscheidungen bei der Anwendung seines Ansatzes zugesteht, räumt er die ungenügende Begrenzung des Verfassungsgerichts selbst ein. Dieser Einwand wiegt schwer, weil Klarman gerade angetreten ist, die verfassungsgerichtlichen Befugnisse einzuschränken. Wie Ely will Klarman offenbar nur staatliche Beschränkungen des Wahl- und Rederechts als relevant ansehen620. Gerade eine rein partizipationsorientierte Theorie darf aber private Macht, die Klarman durchaus zur Kenntnis nimmt 6 2 1 , als Zugangshindernis zum politischen Prozeß nicht vernachlässigen. Klarman verschärft das Problem noch, indem er mit dem Vorurteil den einzigen nicht-staatlichen Mechanismus ausblendet, den Ely überhaupt untersucht. Schließlich ist die Einengung grundrechtlicher Freiheit auf ihre politische Funktion eine selektive Lesart der Verfassung. Klarman betrachtet hier die Verfassung durch die Linse eines demokratisch-funktionalen Vorverständnisses, was zu einer reduktionistischen Sicht ihres Bedeutungsgehalts führt.
3. Ergebnis Michael Klarmans Theorie des politischen Prozesses führt Elys Positivismus und Funktionalismus verschärft fort. Seine rigide Form von verfassungsgerichtlicher Beschränkung vermag nicht zu überzeugen, weil es unangemessen erscheint, unter Verzicht auf Gerechtigkeitsmaßstäbe den Minderheitenschutz allein dem pluralistischen Prozeß anzuvertrauen. Ungeachtet ihrer Undurchführbarkeit ist es gerade das besondere Verdienst von Elys Theorie, die Notwendigkeit eines spezifi618 Klarman, 11 Va. L. Rev. 819 Fn. 317 (1991), begründet die in Brown gewählte Rechtsfolge der Rassenintegration damit, daß angesichts der systematischen Verletzungen des 15. Amendment in den Südstaaten eine weniger einschneidende Maßnahme - wie etwa eine Aufhebung von Wahlrechtsbeschränkungen - ohne Erfolg gewesen wäre. 619 Ebenso Ortiz, 11 Va. L. Rev. 729 f. Fn. 32 (1991). 620 Vgl. Klarman, 11 Va. L. Rev. 813 Fn. 294 (1991). Falls sein Ansatz auch private Behinderung der Ausübung von Partizipationsrechten erfassen sollte, hat er jedenfalls keine Maßstäbe für die gerichtliche Intervention angegeben. 621 Vgl. etwa Klarman, 11 Va. L. Rev. 808 (1991).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
sehen Minderheitenschutzes in der Demokratie nachgewiesen zu haben. Der Verzicht auf Minderheitenschutz im Rahmen des dritten Absatzes der Fußnote 4 entkräftet zwar einen zentralen Einwand gegen die Durchführbarkeit von Elys Theorie. Dafür setzt sich Klarmans Gleichheitsprüfung auf partizipatorischer Grundlage ähnlichen Einwänden aus. Die Kritik an Klarman zeigt, daß man Elys Theorie nicht etwa dadurch retten kann, daß man auf ihre undurchführbaren Teile verzichtet und im übrigen den Positivismus und Funktionalismus umso konsequenter vertritt. Auch als „Rumpfversion" ist Elys Theorie nicht zukunftsfähig. II. Anschlüsse durch prozedurale Theorien in Deutschland Rezeption und Zuspruch hat Elys Theorie auf deutscher Seite zuerst durch Helmut Goerlich erfahren 622, der auf wertskeptizistischer Grundlage 623 die „Verfassung als Verfahrensordnung" begreift 624 . Auch wenn sein Verfassungsverständnis mit dem Elys nicht identisch ist, weil materiale Grundrechtsgehalte nicht geleugnet werden und in seinem „weiten Verfahrensbegriff 4 Inhalt und Verfahren ineinander übergehen 625, besteht doch eine deutliche Affinität 626 . Dabei führt sein Ansatz zu einer gewissen Begrenzung des Verfassungsgerichts: „Die funktionell-rechtliche Wirkung der Grundrechte als Verfahrensgarantien erlaubt vor allem, der Gesetzgebung zur Ausübung ihrer Aufgabe und zur selbständigen Auswahl unter alternativen Optionen in eigener Verantwortung Raum zu lassen." 627
Die vom BVerfG initiierte Diskussion um Grundrechtsschutz durch Verfahren ist eine wichtige Etappe in der Entwicklung des prozeduralen Grundrechtsverständnisses in Deutschland628. Ein weiterer wichtiger Schritt ist die Übertragung 622 Vgl. die Buchbesprechung bei Goerlich, Staat 20 (1981), S. 454 ff. Soweit dabei die Anwendungsbedingungen der repräsentationsoptimierenden Theorie im US-amerikanischen Recht außer Betracht bleiben, vermag das Lob für die von Ely in Gang gesetzte Prozeduralisierung des Verfassungsrechts an den Ergebnissen der Kritik nichts zu ändern. So geht Goerlich, ibid., S. 457, auf die Probleme des Minderheitenschutzes nicht ein. 623 Vgl. bereits Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, 1973. 624 Vgl. ders., Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981, etwa S. 137 ff. (Zitat auf S. 137). Die Arbeit berücksichtigt „Democracy and Distrust" aufgrund des Zeitpunktes ihrer Publikation nur in den Fußnoten. Umso erstaunlicher ist diese deutsch-amerikanische Parallelität in der Prozeduralisierung des Verfassungsrechts. 625 Vgl. ibid., S. 19 ff. (Zitate auf S. 21): „Nach dem dieser Arbeit zugrundeliegenden Verständnis sind materielles und Verfahrensrecht nicht scharf zu trennen. Materielle Befugnisse und Verfahrensgestaltungen sind vielmehr als Extreme eines kontinuierlichen Spektrums rechtlicher Normierung zugrundegelegt." Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 428. 626 Vgl. z. B. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. 375 f., 383 f. 627 Ibid., S. 390. 628 Vgl. etwa BVerfGE 53, 30 (65) - Mülheim-Kärlich (1979). Vgl. dazu auch allg. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 428 ff., der es seinerseits bei einem Hinweis auf Ely beläßt (vgl. ibid., S. 428).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
255
diskurstheoretischer Erkenntnisse auf die Verfassungstheorie. Im Vordergrund soll hier der Ansatz von Jürgen Habermas stehen, der sich 1992 in „Faktizität und Geltung" wiederholt auf Ely bezogen hat 6 2 9 . Habermas versteht seinen Ansatz verfassungsgerichtlicher Kontrolle als Rekonstruktion oder zumindest als Fortführung von Elys Theorie 630 , auch wenn er an ihr Kritik übt 6 3 1 . Welchen Umfang dieser Anschluß hat, zeigt sich, wenn man beide Ansätze vergleicht 632 . Ubereinstimmung zeigt sich zunächst in der aktivistischen Kontrolle des demokratischen Prozesses, die Ely vor allem auf Offenheit und (minimale) Fairneß bezieht, während Habermas im Diskursmodell die Verfahrensbedingungen meint, „die für den demokratischen Prozeß im ganzen die Vermutung begründen, vernünftige Ergebnisse zu ermöglichen" 633 . Während das Verfassungsgericht bei Ely als „Wachhund der Demokratie" fungiert 634 , kommt ihm bei Habermas die spezifischer gefaßte Rolle eines „Hüters deliberativer Demokratie" zu 6 3 5 . Das von beiden Autoren entworfene prozedurale Modell verfassungsgerichtlicher Kontrolle 636 führt zu einer Begrenzung des Verfassungsgerichts 637. Habermas teilt mit Ely die Ablehnung einer Werte-orientierten Judikatur, durch die Rechte an Werte „assimiliert" würden 638 . Elys Gerichtsskeptizismus wende sich zu Recht gegen ein „paternalistisches Verständnis der Verfassungsgerichtsbarkeit" 639. Wie bei Ely stehen der begrenzende und der aktivistische Teil von Habermas' Theorie in 629 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 313, 321, 333, 338, 569. Vgl. auch Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie, S. 84 ff. Kritisch dazu die Bspr. von Möllers, Staat 38 (1999), S. 121 ff. 630 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 323, zu Elys inkonsequentem Skeptizismus. 631 Vgl. ibid., S. 333: „Wenn wir mit einem »republikanisch' geschärften Sinn für die deliberative Komponente des Gesetzgebungsprozesses zur Frage der Legitimität der Verfassungsrechtsprechung zurückkehren, können wir Ely's prozeduralistischen Vorschlag spezifischer fassen." 632 Siehe zum folgenden bereits oben 2. Kap., G. II. 3. 633 ibid., S. 347. Vgl. auch S. 340: Im Interesse des demokratischen Verfahrens und der deliberativen Politik sei „offensive Verfassungsrechtsprechung" normativ gefordert. 634 Ausdruck bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 259 m. Fn. 320. 635 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 334, 335 (Zitat), 340. 636 Vgl. ibid., S. 320, 529 f. 637 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 322 (zum „judicial self-restraint" bei Ely) mit S. 529 f. (zur restriktiven Rolle des Verfassungsgerichts im prozeduralistischen Rechtsverständnis). Weitergehend Calliess, Prozedurales Recht, S. 271, der für verfassungsgerichtliche „Selbstbeschränkung in inhaltlichen Fragen" plädiert, „soweit nicht offensichtliche Verfassungsverstöße in Rede stehen." (Hervorhebung von J. R.) Dies läuft auf die Thayersche „rule of clear mistake" hinaus. 638 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff. (Zit. auf S. 309) u. Kap. V; vgl. andererseits etwa Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff., der seine Prinzipientheorie als eine von unhaltbaren Annahmen gereinigte Werttheorie versteht. 639 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 323 (Hervorhebung weggelassen), vgl. auch S. 338; zust. Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 259. Vgl. auch Calliess, Prozedurales Recht, S. 113.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
einem symbiotischen Verhältnis, das sich aus der zentralen Rolle des Verfahrens erklärt. Die Verlagerung des verfassungsrechtlichen Diskurses in die Zivilgesellschaft und die korrespondierende Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle liegen in den USA gegenwärtig im Trend, wie Tushnets Populismus und Sunsteins Minimalismus zeigen 640 . Demgegenüber bestehen beim Politikverständnis deutliche Unterschiede. Habermas zentriert sich zwischen dem liberalen und dem zivilrepublikanischen Politikverständnis 641, während Elys Theorie ganz dem liberalen Paradigma verhaftet ist 6 4 2 . Ely vertritt keine Konzeption deliberativer Demokratie und konzentriert sich mit Parlament und Verfassungsgericht auf eine institutionelle Sichtweise des politischen Prozesses, während die Zivilgesellschaft bei Habermas eine zentrale Stelle im diskurstheoretischen Modell einnimmt. Sie ist das Substrat deliberativer Politik, die sich durch vernünftiges Abwägen von Gründen und Gegengründen im institutionalisierten wie im informellen Raum auszeichnet643. Bürgerliche Partizipation am politischen Leben und horizontale Verständigung in der Zivilgesellschaft rükken im zivilrepublikanischen wie im diskurstheoretischen Verständnis als konstitutive Bestandteile der Politik in den Mittelpunkt des Interesses. Der diskurstheoretische Ansatz inkorporiert damit Teile des zivilrepublikanischen Politikverständnisses, auch wenn sich Habermas seinerseits von dessen „Tugendzumutung" scharf abgrenzt 644. Eine augenfällige Differenz zwischen beiden Prozeduralisten ergibt sich daraus, daß Ely vom Primat der demokratischen Selbstbestimmung nach dem Mehrheitsprinzip und letztlich der Volkssouveränität ausgeht. Für ihn sind Grundrechte allenfalls als temporäre Selbstbindung des souveränen Volkes denkbar 645 . Politische Grundrechte wie das Wahlrecht und die Redefreiheit erscheinen zwar aufgrund ihrer Funktion für die Demokratie privilegiert; eine Bindung des verfassungsgebenden Gesetzgebers scheint hieraus aber nicht zu erwachsen. Die private Autonomie des Menschen ist bei Ely nicht besonders geschützt, weil sie für sein Demokratieverständnis nicht konstitutiv ist.
640 Siehe oben 3. Kap., B. II. 1. d). 641 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 359 ff., wo die Diskurstheorie jeweils zwischen liberaler und republikanischer Auffassung steht. Zu Ely siehe oben 2. Kap., G. I. 642 Dazu kritisch Habermas, ibid., S. 156, 306, 319 f., der eine Beschränkung auf das liberale Grundrechtsverständnis ablehnt. 643 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, Kap. 7 u. 8, zusammenfassend S. 359 f., 533; Calliess, Prozedurales Recht, S. 109 ff. 644 Habermas lehnt die „Tugendzumutung" sowie die - in kommunitaristisches Fahrwasser führende - Orientierung am herrschenden partikularen Sozialethos als eine ,,ethisch[e] Engführung politischer Diskurse" ab, vgl. ders., Faktizität und Geltung, S. 337 ff., 340, 359 ff. (Zitate auf S. 338 u. 340). Statt dessen betont er die Bedeutung der Politik als eines moralischen Diskurses mit universalistischem Anspruch. 645 Vgl. Ely, 11 Va. L. Rev. 834 Fn. 4 (1991).
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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Im Unterschied dazu versucht Habermas, in seiner diskurstheoretischen Begründung die Spannung zwischen Demokratie und Grundrechten zu überwinden 646 . Bei Habermas setzen sich öffentliche und private Autonomie des Menschen wechselseitig voraus, weshalb er von „Gleichursprünglichkeit" spricht 647 . Volkssouveränität, Menschenrechte und Rechtsstaatlichkeit werden auf der Grundlage des Diskursprinzips als zusammengehörige Ideen aufgefaßt 648: „Der Selbstbestimmungspraxis der Bürger ist nichts vorgegeben außer dem Diskursprinzip, das in Bedingungen kommunikativer Vergesellschaftung überhaupt angelegt ist, auf der einen und dem Rechtsmedium auf der anderen Seite. Das Rechtsmedium muß in Anspruch genommen werden, wenn das Diskursprinzip mit Hilfe gleicher Kommunikationsund Teilnahmerechte als Demokratieprinzip im Gesetzgebungsverfahren implementiert werden soll." 6 4 9
Die Kommunikations- und Teilhaberechte als Ausprägung der öffentlichen Autonomie gehen dabei nicht zulasten höchstpersönlicher, nicht-politischer Grundrechte, sondern erlauben die Ausgestaltung der privaten Autonomie 650 . Die Diskurstheorie könnte als Theorie prozeduraler Gerechtigkeit wohl kaum auf Elys Zustimmung zählen, der vernunftrechtliche Ansätze generell abzulehnen scheint. Vor allem ist nachdrücklich an das utilitaristische und in der Tendenz skeptizistische Korsett zu erinnern, in dem seine Theorie trotz ihrer materialen, Rechteorientierten Einsprengsel steckt. Diese epistemologische Basis verschließt sich einem objektivistischen Ansatz, wie ihn die Diskurstheorie trotz ihres Werte-Skeptizismus verficht. Der von Habermas in „Faktizität und Geltung" vollzogene Anschluß an Elys Theorie ist daher einerseits mit Vorsicht zu bewerten, weil er zu dem Mißverständnis einlädt, Elys Theorie im Rückblick als Frühstadium eines diskurstheoretischen Ansatzes zu sehen 651 . Infolge rechtsphilosophischer und gesellschaftstheoretischer Differenzen und aufgrund eines unterschiedlichen Politikverständnisses besteht zu Elys Theorie mehr äußerliche Ähnlichkeit als inhaltliche Übereinstimmung, weshalb die Diskurstheorie als Fortsetzung des prozeduralen Gedankens hier nicht zu vertiefen ist 6 5 2 . Andererseits lenkt Habermas den Blick zu Recht auf die Tatsache, daß Elys Theorie eine Keimzelle des prozeduralistischen 646
Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 151 ff., 154 f., 161 f. Zusammenfassung bei Calliess, Prozedurales Recht, S. 112 ff. Vgl. auch Gerstenberg, Bürgerrechte und deliberative Demokratie. 647 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 112, 161 m. Zitat. 648 Vgl. ibid., S. 161. Zur Prozeduralisierung der Volkssouveränität vgl. S. 364 ff., 600 ff. 649 ibid., S. 161 f. Zum Diskursprinzip vgl. S. 138. 650 Vgl. Habermas, Faktizität und Geltung, S. 159; Calliess, Prozedurales Recht, S. 114. 651 Diesem Mißverständnis erliegt Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 133, wenn er meint, „daß sich Elys Theorie auch als Umsetzung einer prozeduralen rechtsphilosophischen Theorie verstehen läßt" (Fn. weggelassen; Hervorhebung von J.R.). Calliess, Prozedurales Recht, S. 114 m. Fn. 139, spricht im Hinblick auf Habermas zutreffend von „Anlehnung" an Ely. 652 Vgl. dazu z. B. Calliess, Prozedurales Recht. 17 Riecken
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
Rechtsparadigmas ist 6 5 3 . Bemerkenswert ist, daß auch Habermas' diskurstheoretisches Modell die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit als Problem begreift 6 5 4 An die Diskursethik anschließend, hat uns Martin Vocke Elys Theorie nahezu uneingeschränkt als „Grundlegung zu einer prozeduralen Theorie der Verfassungsgerichtsbarkeit" empfohlen, wobei er auf die Kritik an Ely nicht näher eingeht 655 : „Aufgabe [der Verfassungsgerichtsbarkeit - J.R.] ist weder die Verteidigung geschichtsphilosophischer oder theologischer Wertideen gegenüber den aktuellen Wertvorstellungen der Gesellschaft, noch die Verteidigung des gesellschaftlichen Selbstverständnisses gegenüber individuellen Rechten. Aufgabe ist vielmehr die »Sicherung des Prozesses politischer Mitwirkung und fairer Repräsentation* (Ely)." 6 5 6
Der Angriff auf die „Wertideen" gilt der materialen Wertethik und der Menschenwürde 657. Vockes Vorschlag ist wohl als Beitrag zur politischen Philosophie zu verstehen, wenn man die von ihm abgelehnte „Verkündung der Bedeutung und des Inhalts oberster Verfassungsweite" 658 zu den verfassungsmäßigen Aufgaben des BVerfG zählt. Bedenklicher als die fehlende Anschlußfähigkeit im Hinblick auf die grundgesetzliche Ordnung erscheint es, daß seine Untersuchung mit dem genannten Zitat endet. Zum einen will nicht einleuchten, warum seine informierte Diskussion von Liberalismus, Kommunitarismus und Diskurstheorie ausgerechnet auf Elys Theorie führen soll. Zum anderen läßt er die alles entscheidende Frage offen, was faire Repräsentation beinhaltet. Damit tut sich wie bei Ely ein Widerspruch zwischen der Notwendigkeit objektiver materialer Maßstäbe659 einerseits und skeptizistischer Wert- und Erkenntniskritik andererseits auf 6 6 0 . Auf dieser Grundlage kann sein Anschluß nicht überzeugen. 653 Dazu Habermas, Faktizität und Geltung, S. 516 ff. 654 Begrenzung erzielt Habermas zum einen durch den Rückzug auf die Kontrolle der Diskursbedingungen. Zum anderen beschränkt er das Verfassungsgericht auf Normanwendungsim Gegensatz zu Normbegründungsdiskursen, vgl. ibid., S. 318. Verortet man den Diskurs dagegen mit Michelman und Alexy primär im Verfassungsgericht, so stellt sich dessen Begrenzung nicht mehr als vordringliches Problem dar. 655 Vgl. Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 133. Das Zitat gibt den Untertitel der Arbeit wieder. 656 ibid., S. 145 f. (Fn. weggelassen). Ähnlich S. 1, 133,141. 657 Vgl. ibid., S. 144. Vgl. auch S. 106. 658 ibid., S. 1. 659 Vgl. auch Vocke selbst, ibid., S. 144: „Bei konsequentem Verzicht auf jedes normative Kriterium würde das partizipatorische Konzept jedoch in einen radikalen Relativismus münden." (Fn. weggelassen) 660 Das Dilemma des Prozeduralisten, der auf materiale Maßstäbe letztlich doch nicht verzichten kann, wird auch in folgender Passage zum Vorurteil in Elys Theorie deutlich: „Zumindest in Fällen schwerwiegender Diskriminierung, etwa der Sklaverei und der Segregation der Schwarzen in den USA oder der Judenverfolgung im Dritten Reich, ergibt sich die Unrechtmäßigkeit entsprechender Gesetze, ohne daß es substantieller Begründungen bedarf." (ibid., S. 132 - Hervorhebung von J.R.)
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
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D. Die Zukunft der Fußnote 4 Welche Zukunft hat Fußnote 4, wenn man eine rein prozedurale Lesart - die ihr Text so nicht nahelegt - für gescheitert hält? (1) Möglich bleibt zunächst eine moderat intentionalistische Deutung, die sich am historisch Gewollten zu orientieren versucht und Schutz nur für rassische, ethnische und religiöse Minderheiten vorsieht. (2) Estreicher hält es für möglich, Fußnote 4 auch auf der Grundlage eines substantiellen, Rechte-orientierten Ansatzes zu einer Theorie gerichtlicher Zurückhaltung auszubauen. Dabei könne man auf Elys Überlegungen zu funktionalen Mängeln des politischen Prozesses zurückgreifen, um zu bestimmen, wann entschlossenes Eingreifen des Verfassungsgerichts erforderlich sei 661 . Wie Dworkin kritisch angemerkt hat, ist eine solche Theorie nicht einfach zu begründen. Denn sie müßte unter anderem die Frage beantworten, warum es zu richtigeren Ergebnissen führen oder warum es fairer sein soll, wenn grundsätzlich der Gesetzgeber anstelle des Verfassungsgerichts über die gegenmehrheitlich konzipierten Grundrechte entscheidet662. (3) Allerdings erscheint es nicht zwingend, Fußnote 4 überhaupt mit gerichtlicher Zurückhaltung zu verknüpfen. So hat etwa Ackerman eine originalistische oder restriktive Deutung der Fußnote 4 abgelehnt und ihre Fortschreibung auf der Grundlage eines materialen VerfassungsVerständnisses gefordert 663. Folgt man dem, so integriert der übergreifende materiale Ansatz Elys plausible Begründung für die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Offenheit des demokratischen Prozesses und der politischen Grundrechte. Der dritte Absatz der Fußnote müßte dann durch eine inhaltliche Konzeption von Gleichheit flankiert werden. Der von Akkerman vorgeschlagene Weg deckt sich teilweise mit dem hier befürworteten materialen Verfassungs Verständnis. (4) Die Essenz der Fußnote ist nach alldem nicht ihre prozedurale, sondern ihre funktionale Komponente. Der zweite und der dritte Absatz enthalten eine nicht abschließende Aufzählung von Fällen, in denen funktionell begründetes Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber die Vermutung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes entfallen läßt. Diese Begründung für strikte verfassungsgerichtliche Kontrolle ist für höchst unterschiedliche Theorien anschlußfähig. 661 Vgl. Estreicher, 56 N.Y.U. L. Rev. 579 ff. (1981). In diese Richtung einer nichtoriginalistischen Theorie verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung, die aber im Hinblick auf spezifische Grundrechte, die Offenheit des politischen Prozesses und den Minderheitenschutz gerichtliche Kontrolle legitimiert, scheint Elys modifizierte Position zu zielen. Für eine materiale Theorie des Vorurteils müßte er allerdings von seinem Rechte-Skeptizismus Abstand nehmen. Damit würde von Elys Position, wie er sie in „Democracy and Distrust" vertreten hat, nicht viel übrig bleiben. 662 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 239 ff. 663 Vgl. Ackerman, 98 Harv. L. Rev. 743 f. (1985). 17*
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
(5) Die wichtigste Bedeutung der Fußnote 4 liegt vielleicht auch in der Zukunft darin, daß sie einen bildlichen Ausdruck im Sinne eines „Tropus" (Tushnet) 664 für eine liberale Grundrechtstheorie bereitstellt, die sich in der Formel „Spezifische Grundrechte plus offener politischer Prozeß plus Minderheitenschutz" verdichten läßt. Soweit diese Formel reicht, ist das Problem der Gegenmehrheitlichkeit und die unvollkommene Begrenzung des Verfassungsgerichts im Interesse von Freiheit und Gleichheit jedenfalls hinzunehmen.
E. Gesamtergebnis Im Ergebnis steht die vorliegende Arbeit Elys Theorie der Repräsentationsoptimierung, Tushnets Ansatz der kritischen Rechtsschule, dem Originalismus, wie ihn Bork und Scalia vertreten, sowie Klarmans Theorie des politischen Prozesses als einer spezifischen Form verfassungsgerichtlicher Beschränkung kritisch gegenüber. Sie vertritt demgegenüber ein nichtoriginalistisches, materiales Verfassungsverständnis. Die verfassungsgerichtlichen Grenzen bleiben im nichtoriginalistischen Ansatz unbestimmt. Dies ist der - auf der Grundlage eines liberalen Vorverständnisses nicht zu hohe - Preis, der für den umfassenden Schutz von Autonomie, Freiheit und Gleichheit der Person zu zahlen ist. Angesichts durchgreifender Einwände gegen die Durchführbarkeit von Elys Theorie und schwerer - wenn auch nicht zwingender - Bedenken gegen ihre Angemessenheit führt kein Weg an der Schlußfolgerung vorbei, daß sie als solche nicht anschlußfähig ist. Die hier untersuchten Bedenken haben dazu geführt, daß Elys Theorie in den USA, soweit ersichtlich, von niemandem außer ihm selbst ernsthaft vertreten wird. Allerdings belegen Qualität und Herkunft der Kritik den hohen Rang, den „Democracy and Distrust" als Werk der US-amerikanischen Verfassungstheorie einnimmt. Die Carolene-Fußnote hat dagegen die Kritik an Ely weitgehend unversehrt überstanden, auch wenn ihre repräsentationsoptimierende Deutung nicht anschlußfähig ist. Es ist uneingeschränkt zu begrüßen, daß Ely die Verantwortung des demokratischen Gesetzgebers ernst nimmt. Auch den gerichtlichen Schutz partizipatorischer Grundrechte begründet er überzeugend. Darüber hinaus ist Elys Theorie ein erstaunlich früher, höchst origineller und konsequent durchgeführter Versuch einer Prozeduralisierung des Verfassungsrechts auf der Grundlage einer starken Demokratiekonzeption. Eine Prozeduralisierung im großen Stil, wie sie Ely unternommen hat, vermag allerdings nicht zu überzeugen. Dies schließt jedoch nicht jedwe664 Ausdruck bei Tushnet, 11 Va. L. Rev. 638 f. (1991), nach dessen - von mir nicht geteilten - skeptizistischen Ansatz sich Verfassungstheorie in der rhetorischen Beschwörung von Tropen erschöpft.
3. Kap.: Zur Kritik von „Democracy and Distrust"
261
de Prozeduralisierung im Verfassungsrecht aus. Für die Fortführung des prozeduralen Konzepts durch diskurstheoretische Ansätze ist Elys Theorie mehr Gedankenanstoß als theoretisches Fundament, weil jeweils unvereinbare Prämissen zugrunde liegen.
Viertes Kapitel
Schlußfolgerungen für den Untersuchungsansatz im deutschen Verfassungsrecht Abschließend ist zu fragen, welche Einsichten sich aus Elys Theorie gewinnen lassen, wenn man das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen in Deutschland untersucht. Zunächst könnte man daran denken, Elys Theorie im ganzen oder wenigstens einzelne Bestandteile derselben auf das deutsche Verfassungsrecht zu übertragen (A.). Sollte dieser Weg nicht gangbar sein, so könnte sich eine Untersuchung der Grenzproblematik immerhin an den restriktiven Elementen von Elys Theorie orientieren (B.).
A. Anschluß an Elys Theorie? Kann man das BVerfG begrenzen, indem man Elys Theorie auf das deutsche Verfassungsrecht überträgt? Auch wenn zwischen beiden Verfassungsordnungen eine Vielzahl von Gemeinsamkeiten besteht1, ist Elys Verfassungstheorie doch so weit auf US-amerikanische Besonderheiten abgestimmt, daß ein schlichter Transfer unmöglich erscheint. Besonders deutlich wird dies, wenn man den Unterschied zwischen der due process-Klausel und dem Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) betrachtet. Die ausdrückliche Normierung des Persönlichkeitsrechts im Grundgesetz läßt keinen Raum für eine entsprechende Begrenzung des BVerfG mit Hilfe von Elys Theorie, obwohl deren limitierende Wirkung im US-amerikanischen Recht gerade an dieser Stelle besonders hoch ist. Im übrigen wäre es bedenklich, an eine Theorie anschließen zu wollen, die sich in zwei Kernpunkten, nämlich im Hinblick auf die Prozeduralisierung des Verfassungsrechts und den Minderheitenschutz mit Hilfe der Gleichheitsklausel, als undurchführbar herausgestellt hat. Sinnvollerweise kann es also nur darum gehen, einzelne Elemente aus Elys Ansatz zu übernehmen. Hierbei ist zwischen aktivistischer Partizipations- und Repräsentationsoptimierung einerseits (I.) sowie restriktiven Komponenten andererseits zu unterscheiden (II.).
i Vgl. Kommers , Staat 37 (1998), S. 338. Unterschiede betont dagegen K Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 29 f.
4. Kap.: Schlußfolgerungen für das deutsche Verfassungsrecht
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I. Aktivistische Partizipations- und Repräsentationsoptimierung Elys aktivistische Erwägungen zur verfassungsgerichtlichen Optimierung des politischen Prozesses, die ihren Ausgangspunkt im zweiten und dritten Absatz der Carolene-Fußnote haben, dienen in erster Linie der Rechtfertigung intensiver gerichtlicher Kontrolle. Zu einer Begrenzung des Verfassungsgerichts tragen sie nur bei, wenn man sie mit einer limitierenden Theorie gerichtlicher Kontrolle im Hinblick auf „spezifisches" Verfassungsrecht verbindet, die Ely jedoch nicht anbietet. Seine Theorie kann deshalb nicht ohne weiteres als Pendant zum funktionell-rechtlichen Ansatz2 bezeichnet werden, wie er in Deutschland vornehmlich mit dem Ziel einer Begrenzung des BVerfG vertreten wird 3 . Auch wenn Partizipations- und Repräsentationsoptimierung mangels einer restriktiven Wirkung im folgenden kaum eine Rolle spielen werden, weisen sie doch interessante Berührungspunkte zum deutschen Verfassungsrecht auf, die hier kurz erwähnt werden sollen. Mit Ely läßt sich das BVerfG als Hüter 4 des politischen Prozesses auffassen. Gleicher Zugang zum offenen politischen Prozeß wird durch die verfassungsbeschwerdefähigen Wahlrechtsgrundsätze (Art. 38 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG), „politische" Grundrechte wie zum Beispiel die Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit (Art. 5, 8 und 9 GG) und über die Freiheit und Gleichberechtigung der Parteien geschützt (Art. 21 Abs. 1 und Art. 3 Abs. 1 GG). In diesem Sinne kommt auch dem BVerfG die Aufgabe der Partizipationsoptimierung zu 5 . Problematisch ist dagegen, ob sich die Repräsentationsoptimierung, worunter hier allgemein die verfassungsgerichtliche Durchsetzung „fairer Repräsentation" zu verstehen ist, in das deutsche Verfassungsrecht integrieren läßt6. Ohne Zweifel ist das Konzept der Repräsentation in Art. 38 Abs. 1 S. 2 GG verankert 7. Es ist jedoch höchst zweifelhaft, ob sich damit eine verfassungsgerichtlich sanktionierte Pflicht des oder der Abgeordneten zur Repräsentation von Minderheiten begründen ließe8. Wie sich anhand des von Ely übernommenen Rechts auf gleiche Achtung 2 Dazu unten 2. Teil., 5. Kap., C. 3
Anders Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 326, 379 (zu Nr. 26 ff.). Zur neueren Diskussion um den Begriff des „Hüters" vgl. die Beiträge im Sammelband von Guggenberger/Würtenberger (Hrsg.), Hüter der Verfassung oder Lenker der Politik?, 1998. 5 Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 142, mit Hinweis auf Ely. 6 So der Vorschlag von Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 146. 7 Vgl. etwa v. Münch, in: GGK, Art. 38 Rdnr. 66 ff. Vgl. allg. Hofmann, Repräsentation, 1998. Vgl. auch Art. 20 Abs. 2 GG. 8 Hier geht es nicht darum, den Abgeordneten zum Vertreter einer Minderheit zu machen, was Art. 38 Abs. 1 S. 2, 1. HS. GG eindeutig widersprechen würde, wonach die Abgeordneten „Vertreter des ganzen Volkes" sind. Vielmehr geht es um die ausdrückliche oder implizite Weigerung von Volksvertretern, eine Minderheit als Teil des „ganzen Volkes" zu repräsentieren. 4
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
und Rücksicht gezeigt hat, wirft es schwierige Fragen auf, wenn der Begriff der Repräsentation mit einem Fairneß-Maßstab aufgeladen wird. Dem Konzept der Repräsentationsoptimierung im wörtlichen, auf die Repräsentation im Parlament bezogenen Sinn ist wie schon im US-amerikanischen Recht ein grundrechtlich bewirkter Minderheitenschutz vorzuziehen, der an die von der Verfassung gewährleistete Freiheit und Gleichheit anknüpft. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob dem BVerfG eine minderheitenschützende Funktion zukommt, wie sie Ely für den Supreme Court vorsieht 9. Vor allem pluralistische Ansätze gelangen in Deutschland zu einer Funktion des Verfassungsgerichts, die an den zweiten und dritten Absatz der Carolene-Fußnote erinnert. So hat etwa Häberle vorgeschlagen, das BVerfG zum Sachwalter der „nicht repräsentierten und nicht repräsentierbaren Interessen" zu machen10. Solche Parallelen bis in die Formulierungen hinein sind kein Zufall, da auch Elys Ansatz pluralistische Wurzeln aufweist 11. Die Schwierigkeiten, die beim gerichtlichen Schutz von nichtoder unterrepräsentierten Gruppen auftreten, sind anhand von Ackermans Analyse zur politischen Macht von „discrete and insular minorities" deutlich geworden 12. Die Feinsteuerung des politischen Prozesses müßte das BVerfG letztlich überfordern. Eine minderheitenschützende Funktion kommt ihm deshalb lediglich nach Maßgabe der Grundrechte zu 1 3 , während eine selbständige funktionale Kompetenz zum Minderheitenschutz nicht besteht14. Im Ergebnis ist zu den aktivistischen Komponenten von Elys Theorie festzuhalten, daß in Deutschland die Kontrolle der Offenheit des politischen Prozesses und der Minderheitenschutz im Rahmen der Grundrechte anerkannte verfassungsgerichtliche Funktionen sind. Zur Begrenzung des Verfassungsgerichts trägt dies wie 9 Vgl. Ely, S. 135 ff. (6. Kap.). 10 Häberle, JZ 1975, S. 303 f., der als Beispiele für solche Interessen den Verbraucherund Umweltschutz nennt. Siehe zu Häberle noch unten 2. Teil, 2. Kap., zu E., und 4. Kap., zu F. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II, S. 98, spricht davon, daß Verfassungsgerichte „neuen oder kleinen politischen Gruppen ihre Rechte erhalten" und „durchsetzungsschwache Interessen" verstärken. Vgl. auch Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 328 f., 347; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 183 (vgl. auch S. 141 ff.); v. Arnim, Staatslehre, S. 389 f. (dazu Simons, Grundrechte und Gestaltungsspielraum, S. 326 ff.); Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 430 f. Vgl. auch die Darstellung bei K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 113. 11
Siehe dazu oben 2. Kap., G. II. Jedoch dient der Konsens in Elys Theorie an keiner Stelle als Richtschnur oder „Anker" der Verfassungsinterpretation. 12 Siehe oben 3. Kap., B. I. 6. e). 13 Zu denken ist an den minderheitenschützenden Gehalt der Freiheitsgrundrechte und vor allem an die speziellen Diskriminierungsverbote, insbesondere aus Art. 3 Abs. 3 GG. 14 So aber Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 347. Ablehnend wie hier Isensee, JZ 1996, S. 1092: „Das BVerfG hat kein besonderes Mandat, Opposition zu ermöglichen, Minderheiten zu schützen oder soziale Schwäche auszugleichen." Ahnlich K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 114, der jedoch eine problematische Begründung wählt, wenn er auf die mittlerweile fehlende Berechtigung des Mißtrauens gegenüber dem Gesetzgeber abstellt (vgl. ibid., S. 158 Fn. 1).
4. Kap.: Schlußfolgerungen für das deutsche Verfassungsrecht
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schon im US-Verfassungsrecht nichts bei, weil eine Beschränkung auf diese beiden Funktionen nicht in Frage kommt und die Reichweite der eigentlichen Grundrechtsinterpretation und -kontrolle offen bleibt. Eine Untersuchung verfassungsgerichtlicher Grenzen hat sich daher dem restriktiven Teil von Elys Theorie zuzuwenden.
II. Restriktive Elemente in Elys Verfassungstheorie Wichtige restriktive Elemente in Elys Verfassungstheorie sind sein Prozeduralismus (1.), das schon in der Carolene-Fußnote nachweisbare Konzept des „spezifischen" Verfassungsrechts (2.) und sein Skeptizismus (3.). Fraglich ist, ob und inwieweit diese Elemente für eine Begrenzung des BVerfG in Betracht kommen.
1. Prozedurales
Verfassungsverständnis
Im Sinne von Elys ursprünglicher Theorie wäre zunächst an eine umfassende Prozeduralisierung des Verfassungsrechts zu denken. Hierfür ist fast zeitgleich mit Ely Goerlich eingetreten, der in der Verfassung eine Verfahrensordnung sieht 15 . Das Grundgesetz enthält jedoch eindeutig materiale Entscheidungen, etwa zugunsten der Menschenwürde, des Persönlichkeitsrechts und des Sozialstaatsprinzips16. Grundrechte sind mit Alexy nicht lediglich prozedural faßbar, weil sie dem Gesetzgebungsverfahren inhaltliche Grenzen setzen17. Auch Goerlich bestreitet nicht, daß Grundrechte „materielle Rechte" enthalten, die Freiheit im Sinne von originären, personalen Befugnissen der Selbstbestimmung sichern 18. Ein Rückzug auf Verfahrensfragen ist daher im Grundgesetz noch weniger als in der US-Verfassung durchzuhalten. Goerlich legt deshalb einen überaus weiten Verfahrensbegriff zugrunde, der materiale Elemente einschließt. Anstelle einer radikalen Prozeduralisierung kann man versuchen, materiale Anforderungen ein Stück weit zu prozeduralisieren, wodurch sich immer noch eine Begrenzung des Verfassungsgerichts ergibt 19 . Hierfür kann man sich auf Ely als einen frühen Vertreter des prozeduralen Gedankens berufen. Darin liegt jedoch kein echter Anschluß, da Ely eine Prozeduralisierung der eigentlichen Grundrechtsinterpretation nicht bzw. nicht überzeugend vornimmt 20 . 15 Siehe oben 3. Kap., C. II. 16 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 77: „Das Grundgesetz ist eine materiale Verfassung. " Vgl. auch Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 260. Siehe noch unten 2. Teil, 4. Kap., zu B. 17 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 473 ff. 18 Vgl. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, S. 20 f. (Zitat auf S. 20). 19 Siehe unten 2. Teil, 4. Kap., G., und 5. Kap., C. II. 3. b) dd) (1) u. (3). 20 Siehe bereits oben 3. Kap., C. II.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
2. Rückzug auf die Kontrolle spezifischen Verfassungsrechts? Darüber hinaus ist an eine Begrenzung des Verfassungsgerichts durch den Rückzug auf „spezifisches" Verfassungsrecht zu denken, was an Elys Deutung des ersten Absatzes der Carolene-Fußnote erinnert. Als unspezifisch wären demgegenüber „Generalklauseln" aufzufassen, denen die Justiziabilität oder sogar die Rechtssatzqualität abzusprechen wäre 21 . So könnte man die besonders schwierig zu konkretisierende Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG), das Grundrecht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit (Art. 2 Abs. 1 GG) sowie den allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG) als Generalklauseln auffassen. Andererseits leuchtet es nicht ein, gerade diese fundamentalen Prinzipien von vornherein als unverbindlich zu behandeln. Ein solcher Ansatz, der Parallelen zu Forsthoffs Umgang mit dem Sozialstaatsprinzip aufweist 22, würde Kernbestandteile der Verfassung in unverbindliche Appelle umwidmen 23 . Davon abgesehen sind Grundrechtsnormen typischerweise durch Offenheit und Weite charakterisiert. Aus sprachlicher und methodischer Perspektive liegt es daher nahe, die meisten Grundrechte als unspezifisch zu bezeichnen und nicht nur einige wenige Generalklauseln. Daraus folgt aber keineswegs ihre Unverbindlichkeit. Aus der Sicht der Grundrechtsbindung (Art. 1 Abs. 3 GG) ist vielmehr der umgekehrte Schluß geboten, alle Grundrechte als dahingehend „spezifisch" anzusehen, daß es sich bei ihnen um justiziable Rechtssätze handelt24. Somit ist eine Einteilung der Grundrechte in gerichtlich überprüfbares spezifisches Recht einerseits und unverbindliche Generalklauseln andererseits unangemessen. Als Alternative kommt womöglich in Frage, eine Grundrechtsnorm in einzelnen Bereichen für „unspezifisch" zu erklären. Gegen die so verstandene Kategorie des spezifischen Rechts sind jedoch schon in der Kritik an Elys methodischen Prämissen Bedenken entwickelt worden 25 . Danach leuchtet es jedenfalls im Normalfall nicht ein, für die behauptete Spezifität einer Grundrechtsnorm an die sprachliche Fassung der Bestimmung anzuknüpfen 26. Deshalb ist auch der Begriff der Regelungsdichte problematisch 27. Auf methodischer Grundlage könnte als spezifisch 21
Vgl. zum folgenden auch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 489 f.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 95. 22 Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 48 f., spricht dem Sozialstaatsprinzip einen normativen Gehalt ab. Wenn man die Verfassung - wie von ihm ibid., S. 36, verlangt - als Gesetz ernst nimmt, hat jedoch auch das Sozialstaatsprinzip einen durch Interpretation zu ermittelnden Bedeutungsgehalt. Kritisch Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 300. 23 24
Dagegen spricht auch die Bestandsgarantie aus Art. 79 Abs. 3 i.V.m. Art. 1 und 20 GG. Nicht gemeint ist mit dieser Spezifität, daß die Interpretation weitgehend determiniert
wäre. 2 5 Siehe oben 3. Kap., B. I. 2. (1). 2 6 Siehe näher unten 2. Teil, 3. Kap., B. I. 2
? Dazu unten 2. Teil, 5. Kap., C. II. 1.
4. Kap.: Schlußfolgerungen für das deutsche Verfassungsrecht
267
derjenige Bereich der Norm gelten, in dem einigermaßen klare Ergebnisse von grammatischer, genetischer und im engeren Sinne systematischer Auslegung möglich sind 28 . Einer solchen Auffassung von der Bedeutung einer Norm liegt eine restriktive methodische und verfassungstheoretische Konzeption zugrunde, die noch näher zu untersuchen sein wird 2 9 . Für eine derartige Begrenzung könnte man sich jedoch nicht auf den restriktiven Teil von Elys Theorie berufen, weil Ely eine Beschränkung der Interpretation auf historisch gewollte oder eindeutige Auslegungsergebnisse ablehnt und sowohl „spezifische" Grundrechte als auch Generalklauseln wie das Gleichheitsgebot teleologisch auslegt. Das Konzept der Spezifität läßt sich womöglich im Rahmen der Dichotomie von Regeln und Prinzipien berücksichtigen. Auf diese Unterteilung ist noch zurückzukommen 30. Man kann Regeln für spezifische Normen halten, weil sie sich im konkreten Fall ohne Abwägung anwenden lassen. Allerdings wäre es unangemessen, die Grundrechte nur in bezug auf ihren Regelgehalt als justiziable Rechtssätze anzusehen, weil damit der Grundrechtsschutz unangemessen stark reduziert und die Grundrechtsbindung verletzt würde 31 . Auch der Prinzipiengehalt der Grundrechte hat Rechtsnormcharakter und unterliegt gerichtlicher Kontrolle.
3. Skeptizismus Man kann Elys Theorie als eine Kombination von verfassungsgerichtlicher Begrenzung, Offenheit des politischen Prozesses und Minderheitenschutz auffassen 32 . Als Kern der Begrenzung hat sich bei Ely sein Skeptizismus gegenüber nichtspezifischen Grundrechten und gegenüber dem Verfassungsgericht herausgestellt 33 . Deshalb ist für ihn die Erfindung neuer Grundrechte unzulässig, woraus sich insgesamt eine Beschränkung verfassungsgerichtlicher Rechtsfortbildung ergibt. Daß sich Elys Skeptizismus als inkonsequent herausgestellt hat, schadet im vorliegenden Zusammenhang nicht, wenn es nur gelingt, eine widerspruchsfreie Position zu entwickeln. Elys skeptizistische Kritik am Non-Originalismus ist für ein deutsches Verfassungsverständnis relevant, das auf Werte, Konsens oder 28
Dazu Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, S. 22 ff., kritisch S. 56 f. Vgl. auch ders., Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 332; ders., JöR N.F. 42 (1994), S. 584. 29 Siehe zu Forsthoff unten 2. Teil, 2. Kap., A., und 4. Kap., B., sowie zur subjektiven Theorie der Interpretation unten 2. Teil, 3. Kap., C. II. 2. (1). 30 Näher dazu unten 2. Teil, 2. Kap., F. I. 31 Nach Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 27, führt die Beschränkung richterlicher Kontrolle auf dasjenige, was an den Grundrechten inhaltsgewiß und „richterlicher Kognition im herkömmlichen Sinn zugänglich" sei, dazu, daß Grundrechte „zu bloßen Zielnormen" werden, die nur auf „willkürliche Außerachtlassung" kontrollierbar seien. 32 Siehe oben 1. Kap., D. I. - III., sowie 3. Kap., B. II. 1. d) am Ende. 33 Siehe oben 2. Kap., F.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
vernunftrechtliche Argumentation zurückgreift. Die Kritik an Werten, an einer objektiven Weitordnung sowie am Prinzipiencharakter der Grundrechte vereint so unterschiedliche Autoren wie etwa Carl Schmitt, Ernst Forsthoff, Ernst-Wolfgang Böckenförde, Helmut Goerlich und Jürgen Habermas 34. Wie bei Ely führt der Wertskeptizismus bei diesen Autoren ungeachtet aller Differenzen im übrigen zu restriktiven Konzeptionen von Verfassungsgerichtsbarkeit, von denen im zweiten Teil der Arbeit einige diskutiert werden sollen 35 .
4. Ergebnis Im Ergebnis läßt sich Elys Theorie als solche nicht auf das deutsche Verfassungsrecht übertragen. Selbst an die restriktiven Elemente seiner Theorie kann man nicht ohne weiteres anschließen. (1) Eine umfassende Prozeduralisierung des deutschen Verfassungsrechts kommt ebensowenig wie im US-Recht in Betracht. Für letzteres hat dies Ely in Abkehr von seiner ursprünglichen Position selbst anerkannt. Eine teilweise Prozeduralisierung materialer Anforderungen schließt dies nicht aus. (2) Man kann versuchen, die Verfassungsinterpretation auf das einigermaßen spezifisch Gesagte oder Gewollte zu beschränken. Für eine solche Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf spezifisches Verfassungsrecht dürfte man sich jedoch nicht auf Ely berufen. (3) Auf Skeptizismus gegenüber ungeschriebenen Grundrechten und gegenüber dem Verfassungsgericht läßt sich eine Konzeption verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung gründen. Im Hinblick auf den kritischen Teil von Elys Theorie besteht eine Parallele zur deutschen Literatur, soweit diese eine wertskeptizistische Position vertritt.
B. Elemente einer Begrenzung des Verfassungsgerichts Wenn damit eine Übertragung der restriktiven Elemente von Elys Theorie auf das deutsche Verfassungsrecht scheitert, so sind diese doch für eine Untersuchung verfassungsgerichtlicher Grenzen von Bedeutung. Elys Theorie enthält mehrere restriktive Topoi, an denen sich die Untersuchung der deutschen Verfassungsgerichtsbarkeit orientieren kann. Zu nennen sind (1) der Textualismus, worunter im vorliegenden Zusammenhang ein starkes Vertrauen auf die begrenzende Wirkung des Verfassungstextes für die Interpretation zu verstehen ist; (2) das Demokratieprinzip als zentraler Anknüpfungspunkt einer verfassungsgerichtlichen Begren34 Vgl. C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff.; Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS Schmitt, S. 35 ff.; Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beih. 37 (1990), S. 33 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 140 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff. Vgl. auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 76 ff. 35 Siehe unten 2. Teil, 4. Kap., B., C. und F.
4. Kap.: Schlußfolgerungen für das deutsche Verfassungsrecht
269
zung; (3) Funktionalismus, den man im deutschen Kontext anders auffassen kann, als dies die Carolene-Fußnote nahelegt; (4) Prozeduralismus und (5) Skeptizismus als Gegenspieler materialer Wertentscheidungen des Verfassungsgerichts. Wenn insoweit das bei Ely nachweisbare Interesse an einer Begrenzung des Verfassungsgerichts die vorliegende Arbeit anleitet, soll damit nicht die erhebliche inhaltliche Differenz zu seiner Theorie verdeckt werden, wie sie vor allem in der Stellungnahme zugunsten des Non-Originalismus zutage getreten ist 36 . Auch im deutschen Verfassungsrecht wird die vorliegende Arbeit zu Schlußfolgerungen gelangen, denen Ely kaum zustimmen würde. Der verfassungstheoretischen Position dieser Arbeit, die im Verlauf des zweiten Teils der Untersuchung entwickelt wird, liegt ein liberales, nichtpositivistisches Vorverständnis zugrunde, wie es schon im US-amerikanischen Kontext angesprochen wurde 37 . In konstruktiver Hinsicht fühlt sich die vorliegende Arbeit dem noch eingehend zu besprechenden Regel-PrinzipienModell Alexys verbunden. Auf dieser Grundlage, die aus Elys Sicht als nichtoriginalistisch zu bezeichnen ist, stellt sich die Frage umso dringlicher, inwieweit es noch Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit gibt. Im zweiten Teil der Arbeit sollen darum methodische, verfassungstheoretische und funktionale Elemente zur Begrenzung verfassungsgerichtlicher Kontrolle untersucht werden, wie es schon in der Einführung dargelegt wurde 38 .
I. Methodische Grenzen Aus dem weiten Feld der Methodenlehre sollen die grammatische und die genetische Auslegung herausgegriffen werden, weil sie die vergleichsweise größte limitierende Wirkung versprechen. Untersucht wird zum einen, welche Begrenzung der Text der Verfassung für die Interpretation enthält. Ely sieht die Interpretation der „spezifischen" Grundrechte durch den Text begrenzt 39. In Deutschland diskutiert man dieses Problem im Hinblick auf die sogenannte „Wortlautgrenze". Zum anderen ist zu klären, ob ein originalistischer Ansatz im deutschen Verfassungsrecht zu einer Begrenzung beitragen kann. In deutscher Terminologie geht es dabei um die Grenzwirkung der genetischen Auslegung, wenn diese in den Dienst der subjektiven, das heißt auf den Willen des Normgebers gerichteten Theorie der Interpretation gestellt wird. In diesem Zusammenhang ist auch auf die Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht einzugehen.
36 Siehe oben 3. Kap., B. II. 3. d), B. II. 6., und E. 37
Damit ist kein wirtschafts-, sondern ein verfassungsliberales Vorverständnis gemeint. Zu dieser Terminologie und einer möglichen Konzeption von Verfassungsliberalismus Brüggen JZ 1987, S. 633 ff. (637 ff.). 38 Siehe oben Einführung, B. II. 39 Siehe dazu oben 3. Kap., B. I. 2. (1) und (2).
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
II. Verfassungstheoretische Grenzen Unterzieht man die in Deutschland vertretenen restriktiven Verfassungs- und Grundrechtstheorien einer Durchsicht, so stößt man in der älteren Literatur auf den formalen Rechtsstaatsbegriff Forsthoffs, der vor dem Hintergrund der Kontroverse zwischen Positivismus und Nichtpositivismus den Wertbezug der Grundrechte bestreitet. Eine auch aus demokratischen Gründen restriktive Verfassungstheorie hat Böckenförde mit seinem Verständnis der Verfassung als Rahmenordnung angeboten. Dabei ergibt sich eine Affinität zum US-amerikanischen Grundrechtsverständnis, wenn er der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte kritisch gegenübersteht. In den USA ist eine objektiv-rechtliche Dimension in dieser Form unbekannt 40 . Zu denken ist auch an die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie, die Grundrechte über ihre politische Funktion definiert, wie dies in den USA von Klarman, nicht aber von Ely vertreten wird 4 1 . Darüber hinaus ist auf die sog. enge Tatbestandstheorie einzugehen, deren Vertreter in bestimmten Fallgruppen zu einer restriktiven Fassung grundrechtlicher Schutzbereiche gelangen. Ferner ist zu fragen, ob sich die Verfassungsinterpretation oder das BVerfG mit Hilfe konsensualer Ansätze begrenzen läßt. Dabei kann zum Teil an Elys Kritik angeschlossen werden. Aus den schon erwähnten 42 Gründen ist schließlich auf die Begrenzung durch Prozeduralisierung einzugehen.
I I I . Funktionale Grenzen Eine wichtige Begrenzung stellen funktionell-rechtliche Ansätze dar, die auf unterschiedliche Weise Spielräume des Gesetzgebers erzeugen. Diese kommen bei Ely nur indirekt in den Blick, nämlich als Reflex des materialen Grundrechts, das etwa im Fall der due process-Klausel restriktiv ausgelegt wird. Für die deutsche Diskussion ist stärker zwischen Anforderungen des materialen Verfassungsrechts und dessen Justiziabilität zu unterscheiden. Die dogmatische Umsetzung dieser Spielräume spielt eine nicht unerhebliche Rolle, wenn man über schlichte verfassungsgerichtliche Zurückhaltung hinausgelangen will. Auch im Rahmen der funktionell-rechtlichen Ansätze kann man schließlich eine begrenzte Prozeduralisierung von grundrechtlicher Richtigkeit zugunsten des Gesetzgebers versuchen.
IV. Institutionelle Grenzen Institutionelle Grenzen sollen wie bei Ely nur am Rande behandelt werden. Das BVerfG unterliegt allgemein anerkannten43 Schranken aus der Gerichtsförmigkeit 40 Vgl. Brugger, ARSPBeih. 37 (1990), S. 191. 41 Siehe oben 3. Kap., C. I. 1. 42 Siehe oben 4. Kap., A. II. 1.
4. Kap.: Schlußfolgerungen für das deutsche Verfassungsrecht
271
seines Verfahrens (vgl. Art. 92 GG), von denen es die meisten mit den übrigen Gerichten teilt. Hierzu werden vor allem gezählt44: (1) Bindung an das Gesetz, soweit damit das Fehlen eines politischen Gestaltungsspielraums gemeint ist, wie ihn der Gesetzgeber besitzt; (2) Antragserfordernis; (3) Beschränkung auf enumerierte Verfahrensaiten; (4) übrige Zulässigkeitsvoraussetzungen; (5) begrenzte Arbeitskapazität des Verfassungsgerichts 45; (6) fehlende Durchsetzungsmacht. Insgesamt ergibt sich daraus eine „reaktiv-nachträgliche, punktuelle, kontrollierende Rolle" 4 6 des Verfassungsgerichts. Einige Autoren sehen in der Gerichtsförmigkeit immerhin die wichtigste Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit. So meint Heun, daß das BVerfG überhaupt nur durch die positiv-rechtlichen Begrenzungen in seiner Entscheidungskompetenz beschränkt sei 47 . Antragserfordernis, Kassationsprinzip 48 und fehlende Durchsetzungsmacht seien wirkungsvoller als methodische Erwägungen. Wenn sich die tendenziell allumfassende Verfassungsgerichtsbarkeit allerdings trotz dieser Schranken herausgebildet hat, deutet dies darauf hin, daß ihnen nur eine geringe Tragweite zukommt 49 . Inwieweit im übrigen noch Grenzen aufgewiesen werden können, ist damit zwar noch nicht entschieden, lohnt aber genaueres Hinsehen. Mittelbar hängt mit der Gerichtsförmigkeit des BVerfG auch seine Begrenzung durch Präjudizien 50, Dogmatik und argumentative Anschlußzwänge51 zusammen. Auch diese - überwindbaren - Bindungen sind einerseits unbestritten, andererseits aber keine ausreichende Antwort auf die Frage nach den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit.
V. Thematische Eingrenzung Im Zentrum der Untersuchung steht das Verhältnis von Verfassungsgericht und Gesetzgeber52. Die Untersuchung bezieht sich auf die materielle Normenkontrolle,
43
Vgl. nur Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 312. Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 476; Isensee, JZ 1996, S. 1091; Heun, Schranken, S. 13. 4 5 Vgl. Roellecke, in: HStR, § 53 Rdnr. 36. 4 6 Schiaich, BVerfG, Rdnr. 476. 47 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 207 f. Vgl. auch Schiaich, BVerfG, Rdnr. 469 a.E., der aber neben der Gerichtsförmigkeit vor allem auf die Bindung an den Kontrollmaßstab abstellt. 44
48 Dazu Heun, Schranken, S. 13, 67 f.; ders., AöR 116 (1991), S. 208. Siehe näher unten 2. Teil, 5. Kap., C. II. 2. c). 49 Siehe bereits oben Einführung, B. II. 50 Zur Präjudizienbindung vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 243 ff.; ders., in: HStR, § 110 Rdnr. 29 ff. (30); Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 504 ff.; Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 78 f.; Heun, AöR 116 (1991), S. 208. 51 Dazu Roellecke, in: HStR, § 53 Rdnr. 40.
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1. Teil: „Democracy and Distrust" - John Hart Elys Theorie
wie sie typischerweise aus Anlaß eines abstrakten oder konkreten Normenkontrollverfahrens oder einer Verfassungsbeschwerde erfolgt 5 3 . Das Verhältnis zwischen BVerfG und den Fachgerichten wird ausgespart 54 . Eine Veränderung der organisationsrechtlichen oder verfassungsprozessualen Rahmenbedingungen der Verfassungsgerichtsbarkeit wird hier ebenfalls nicht diskutiert. Solche Vorschläge, die etwa das Verfahren der Richterwahl oder die Einführung eines Quorums betreffen 55 , bieten ebenso wie institutionelle Grenzen keine Lösung für die hier behandelten methodischen und verfassungstheoretischen Fragen 5 6 .
52 Die Lit. zu diesem Thema ist unübersehbar. Die folgenden Nachweise beschränken sich daher auf eine Auswahl. Vgl. Stern, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, in: FS Kriele, S. 411 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, 1985; Kriele, Grundrechte und demokratischer Gestaltungsspielraum, in: HStR, § 110, S. 101 ff.; Korinek/J. P. Müller/Schiaich, Die Verfassungsgerichtsbarkeit im Gefüge der Staatsfunktionen, VVDStRL 39 (1981), S. 8 ff.; Scheuner, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, DÖV 1980, S. 473 ff.; Roellecke, Aufgaben und Stellung des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsgefüge, in: HStR, § 53, S. 665 ff.; ders., Verfassungsgerichtsbarkeit, Gesetzgebung und politische Führung, 1980; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, 1987; Landfried, Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber, 1984; Säcker, Gesetzgebung durch das BVerfG?, in: Piazolo (Hrsg.), Das Bundesverfassungsgericht, S. 189 ff. 53 Ähnlicher Ansatz bei Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 13, und K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 6 ff. (8). 54 Dazu z. B. Roellecke, Aufgabe und Stellung des Bundesverfassungsgerichts in der Gerichtsbarkeit, in: HStR, § 54, S. 683 ff.; Starck, Verfassungsgerichtsbarkeit und Fachgerichte, JZ 1996, S. 1033 ff. 55 Vgl. z. B. Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 161 ff. Kritisch Danwitz, JZ 1996, S. 481 ff.; Isensee, JZ 1996, S. 1092; Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), S. 30 f. 56 Vgl. Vogel, NJW 1996, S. 1511; auch Stern, in: FS Kriele, S. 429.
Zweiter Teil
Zur Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG durch Methodik, Verfassungstheorie und funktionell-rechtliche Ansätze Dieser Teil der Arbeit untersucht die Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG durch Methodik, Verfassungstheorie und funktionell-rechtliche Ansätze. Der Gang der Darstellung ist in der Einführung und vor allem in den vorstehenden Schlußfolgerungen zum Untersuchungsansatz im deutschen Verfassungsrecht eingehend erläutert worden 1. Deshalb ist hier nur ein kurzer Überblick zu geben. Das erste Kapitel des vorliegenden Teils dient dazu, in die Problematik verfassungsgerichtlicher Grenzen einzuführen. Im zweiten Kapitel sind Ansätze der Literatur zu diskutieren, die in methodischer, rechts- und verfassungstheoretischer Hinsicht zu einer Ausweitung der Wertungsspielräume für den Verfassungsinterpreten und insoweit auch zu einer Verschiebung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit beigetragen haben. Im dritten, vierten und fünften Kapitel sind methodische, verfassungstheoretische und funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit zu untersuchen.
Erstes Kapitel
Einführung in die Problematik verfassungsgerichtlicher Grenzen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit lassen sich als Gebote des positiven Verfassungsrechts darstellen (A.). Die Rechtsprechung des BVerfG läßt jedoch keine Theorie verfassungsgerichtlicher Kontrolle erkennen, aus der sich die Grenzen seiner interpretativen Befugnisse klar ergeben würden. Vielmehr scheint das BVerfG über den Verlauf seiner Grenzen zu einem wesentlichen Teil selbst zu entscheiden. Dies könnte zu dem Schluß verleiten, dem BVerfG stehe insoweit eine Kompetenz-Kompetenz zu (B.). Die unterschiedlichen Problemfelder verfassungsgerichtlicher Grenzen erschließen sich, wenn man einen Blick auf die Kritik am BVerfG wirft, die den Verdacht vielfältiger Grenzüberschreitungen äußert (C.). Zui Siehe oben Einführung, B. II., und 1. Teil, 4. Kap., B. I. - III. 18 Riecken
274
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
weilen geht die Kritik so weit, von einem drohenden oder bereits verwirklichten Jurisdiktionsstaat zu sprechen (D.).
A. Grenzen als Gebote positiven Verfassungsrechts Unter dem Grundgesetz lassen sich eine Reihe verfassungsrechtlicher Gründe nennen, warum die Verfassungsgerichtsbarkeit Grenzen unterliegen muß. Zu denken ist an die rechtsstaatliche und demokratische Verfassungsbindung des Gerichts (I.), die grundgesetzliche Gewaltenteilung (II.), die fehlende demokratische Verantwortlichkeit des Verfassungsgerichts (III.) und das Demokratieprinzip als Legitimationsquelle gesetzgeberischer Kompetenzen (IV.).
I. Verfassungsbindung Positiv-rechtlich wird eine normative Bindung des Verfassungsgerichts an die Verfassung in Art. 20 Abs. 3 GG und Art. 1 Abs. 3 GG angeordnet, wonach die Rechtsprechung an Gesetz und Recht und insbesondere an die Grundrechte gebunden ist. Zusätzlich kann man die Verfassungsbindung als Bestandteil des Rechtsstaatsprinzips auffassen, aber auch ihren Bezug zur Gewaltenteilungslehre und zum Demokratieprinzip hervorheben 2. Die Verfassungsbindung soll in der Konzeption des Grundgesetzes die fehlende demokratische Verantwortlichkeit des Verfassungsgerichts ausgleichen. Die genannten Normen sagen allerdings nur, daß eine Bindung besteht. Wie sie zu realisieren ist und welches Maß sie haben soll, wird durch die Verfassung nicht determiniert 3. Die Entscheidung für eine starke oder eine schwache Beschränkung des Verfassungsgerichts läßt sich aus Art. 20 Abs. 3 GG nicht einfach „ableiten". Gesollt sein kann im übrigen nur ein durchführbares Konzept der Verfassungsbindung. Dieses zu entwickeln, ist Aufgabe der Methodenlehre und der Verfassungstheorie.
II. Gewalten- und Funktionsteilung Das Grundgesetz unterscheidet in Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG nicht nur organisationsrechtlich, sondern auch funktional zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung4. Rechtsprechende Tätigkeit ist - trotz aller Abgrenzungsschwierigkeiten 2 Vgl. Depenheuer, DVB1. 1987, S. 811; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 164. Vgl. allg. Roellecke/Starck, Die Bindung des Richters an Gesetz und Verfassung, VVDStRL 34 (1976), S. 7 ff., 43 ff.; Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, 1988. 3 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 2 f. 4 Zu Normenkontrolle und Gewaltenteilung vgl. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 34 ff.
1. Kap.: Einführung in die Problematik
275
auf Bedeutungsermittlung, nicht dagegen auf die Setzung von einfachem Recht oder auf Verfassungsgebung gerichtet. Allerdings sagt die Trennung der rechtsetzenden von der rechtsprechenden Gewalt nichts darüber aus, wie groß der schöpferische Anteil der gerichtlichen Verfassungsinterpretation legitimerweise sein darf. Dennoch stellt die Beschränkung auf rechtsprechende Tätigkeit in der normativen Konzeption des Grundgesetzes eine weitere Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit dar. Zutreffend betont etwa Simon: „Die Entscheidung des Grundgesetzes für eine gewaltenteilende Demokratie verwehrt eine ungezügelte Verfassungsauslegung, die - ohne den Anforderungen an eine Verfassungsänderung zu genügen - die Grenzen zwischen Normauslegung und Normgebung verwischt und unmerklich den Hüter der Verfassung zu ihrem Herrn werden läßt."5
I I I . Fehlende demokratische Verantwortlichkeit des BVerfG Die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle anhand von Grundrechten ist im Grundgesetz ausdrücklich vorgesehen (vgl. zum Beispiel Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Art. 100 Abs. 1 GG). Sie darf daher nicht in einen künstlichen Widerspruch zum Demokratie- und Mehrheitsprinzip gesetzt werden. Schon deshalb wäre es verfehlt, an die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland mit einem Vörverständnis heranzugehen, das diese als demokratiefeindliche Institution erscheinen läßt6. Dennoch läuft die verfassungsgerichtliche Normenkontrolle dem Willen der politisch verantwortlichen Parlamentsmehrheit normalerweise zuwider. Die „countermajoritarian difficulty" 7 besteht also auch in Deutschland als ein von der Verfassung selbst angelegter Konflikt. Das Spannungsverhältnis zwischen verfassungsgerichtlicher Normenkontrolle und dem formalen Mehrheitsprinzip ist vor dem Hintergrund der unterschiedlichen Legitimation von BVerfG und Gesetzgeber zu sehen. Das Parlament - und mit ihm die Regierung - ist im Gegensatz zum BVerfG abwählbar und damit demokratisch verantwortlich 8. Außerdem kommt dem gewählten Parlament die vergleichsweise höhere demokratische Legitimation zu, auch wenn das Grundgesetz keinen automatischen Vorrang zugunsten unmittelbar legitimierter Verfas5 Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 55. 6
Daher sollte in diesem Zusammenhang nicht von Aporie die Rede sein; jedoch läßt sich von einem Spannungsverhältnis oder einer Antinomie sprechen. Zum Verhältnis von Demokratie einerseits sowie Grundrechten, Konstitutionalismus und Verfassungsgerichtsbarkeit andererseits vgl. z. B. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 56 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 180 ff. 7 Dazu Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 186 f., auch S. 176 f., 185; ders., JöR N.F. 45 (1997), S. 72 m. Fn. 183. 8 Deshalb würde auch eine - einmalige - unmittelbare Wahl der Mitglieder des BVerfG nichts am Problem der Gegenmehrheitlichkeit ändern. Die fehlende politische Verantwortlichkeit der Mitglieder des Gerichts macht demgegenüber den Kern richterlicher Unabhängigkeit aus. Vgl. dazu Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II, S. 97. 1*
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
sungsorgane kennt9. Die legitimatorische Differenz zwischen BVerfG und Gesetzgeber ist für die Verfassungsinterpretation von Bedeutung, weil Demokratie und Grundrechte im Grundgesetz unterschiedlich zugeordnet werden können. Dabei kann der gegenmehrheitliche Charakter der Verfassungsgerichtsbarkeit verschieden stark berücksichtigt werden. Dies gilt zum Beispiel für das Problem, wie weit das BVerfG durch seine Kontrolltätigkeit auch Gestaltungswirkungen herbeiführen darf. Somit ergeben sich Grenzen des Verfassungsgerichts vor allem aus seiner fehlenden demokratischen Verantwortlichkeit, daneben auch aus der im Vergleich zum Gesetzgeber schwächeren demokratischen Legitimation, ohne daß daraus eine konkrete Konzeption der Begrenzung folgen würde.
IV. Demokratieprinzip Fraglich ist, wie das Demokratieprinzip 10 aufzufassen ist, wenn es dem BVerfG Grenzen setzen soll. Zum einen erschöpft sich das Demokratieprinzip nicht in den ausdrücklich geregelten Kompetenzen des Gesetzgebers11 und auch nicht in dem Kompetenzumfang, den die verfassungsgerichtliche Kontrolle für den Gesetzgeber übrig läßt. Eine so schwache Konzeption würde im Widerspruch zu Art. 79 Abs. 3 GG stehen, der auf das Demokratieprinzip als einen der „Grundsätze" aus Art. 20 Abs. 1 GG Bezug nimmt. Der normative Gehalt des Demokratieprinzips darf deshalb nicht ausschließlich negativ umschrieben werden 12. Zum anderen ist im Auge zu behalten, daß ein Demokratieverständnis, das sich nicht am Grundgesetz orientiert, unzulässig wäre 13 . Eine theoretische Überfrachtung muß also ebenso wie eine tautologische Entleerung vermieden werden. Man kann das Demokratieprinzip konkretisieren, indem man ihm die Befugnis des Gesetzgebers zur Gestaltung des Gemeinwesens entnimmt. Gestaltung bildet dabei den Gegenpol zur verfassungsgerichtlichen Kontrolle 14 . Daraus folgt eine 9
Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 111. Vgl. aus der Lit. z. B. Böckenförde, Demokratie als Verfassungsprinzip, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 289 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 127 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 49 ff.. Vgl. aus politikwissenschaftlicher Sicht z. B. Schmidt, Demokratietheorien, 1997. 11 „Gesetzgeber" sind Bundestag, Bundesrat, Bundesregierung und Bundespräsident in ihrem Zusammenspiel, vgl. Art. 76 ff., 82 GG. Die wichtigste Rolle kommt der Bundesregierung und dem Bundestag zu. Vgl. dazu Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II, S. 105 f.; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 8 Fn. 1; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 97. 12 Vgl. Häberle, JZ 1975, S. 305. 10
13 Vgl. Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 53. 14 Zu diesem Ausgangspunkt des funktionell-rechtlichen Ansatzes unten 5. Kap., C. II. 2. b).
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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Begrenzung des BVerfG, die freilich vage bleibt. Eine weitere positive Umschreibung des Demokratieprinzips, die an Formulierungen zur Wesentlichkeitslehre und zum Parlamentsvorbehalt erinnert, hat Alexy vorgeschlagen: ,,[D]er demokratische Gesetzgeber [soll] die für die Gemeinschaft wichtigen Entscheidungen treffen 4'15. Als sog. Optimierungsgebot gebietet das Demokratieprinzip seine Realisierung in möglichst hohem Maße, soweit es rechtliche und tatsächliche Gegengründe zulassen16. Insofern läßt sich von Demokratieoptimierung im wörtlichen Sinne sprechen. Demgegenüber hat das Demokratieprinzip keinen absoluten Vorrang im Verfassungsgefüge, da es anderen Prinzipien zum Beispiel grundrechtlicher Art verhältnismäßig zuzuordnen ist 17 . Es gebietet in diesem Verständnis, dem Gesetzgeber möglichst große Spielräume zu lassen, soweit dies mit der Verfassung, insbesondere mit den Grundrechten vereinbar ist. Statt dem Verfassungsgericht eine bestimmte aktivistische oder zurückhaltende Rolle zuzuweisen, ist es in dieser Deutung ein limitierendes Prinzip des Verfassungsrechts, das das BVerfG bei der Interpretation der Grundrechte zu beachten hat. Auf diese Weise stellt das Demokratieprinzip eine Grenze der Interpretation dar, deren genaue Funktionsweise freilich noch zu klären ist 18 .
V. Ergebnis Die Verfassungsbindung, das Prinzip der Gewaltenteilung, das Demokratieprinzip und legitimatorische Differenzen zwischen BVerfG und Gesetzgeber sind normative Gründe für Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Sie lassen sich als in der Verfassung angelegte Grenzen auffassen, ohne jedoch deren genauen Verlauf deutlich zu machen. Wo die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit liegen, läßt sich aus dem Grundgesetz nicht einfach „ablesen". Die vorstehenden Überlegungen zum positiven Recht ersetzen deshalb kein methodisches, verfassungstheoretisches und funktionales Programm zur Begrenzung des Verfassungsgerichts.
B. Zum Zusammenhang von verfassungsgerichtlichen Grenzen und weiten Kompetenzen des BVerfG Wie der vorstehende Abschnitt gezeigt hat, fordert die Verfassung Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit. Diese normative Anforderung steht in einem Spannungsverhältnis zur weiten Kompetenz des BVerfG in Fragen der Verfassungsinter15 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120. 16 Vgl. allg. Alexy, ibid., S. 75. Dazu unten 5. Kap., C. II. 3. b) aa). 17 Vgl. allg. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 71 f.; auch Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 51. 18 Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b).
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
pretation, die sich einer Begrenzung weitgehend zu entziehen scheint. Das Problem läßt sich wie folgt umreißen 19: Das BVerfG entscheidet selbst über die von ihm angewendete Methode der Verfassungsinterpretation und wählt seine eigene Grundrechts- und Verfassungstheorie. Diese Interpretations- und Entscheidungskompetenz hat angesichts des allgemein anerkannten offenen, weiten und unbestimmten Charakters der Grundrechtsnormen 20 außerordentlich großen Umfang. Besonders deutlich wird die Spannweite der gerichtlichen Kompetenz am Grundverständnis der Verfassung, das zu entwickeln man mit Lerche für die genuine Aufgabe des Verfassungsgerichts halten kann 21 . Darüber hinaus entscheidet das BVerfG in Fragen der Verfassungsinterpretation in letzter Instanz, wenn man das Verhältnis zum EuGH und die Möglichkeit einer Verfassungsänderung einmal ausklammert. Es unterliegt also keiner institutionalisierten Kontrolle mehr 22 . Damit legt das BVerfG die inhaltlichen Grenzen seiner Verfassungsinterpretation und seiner Grundrechtskontrolle zu einem wesentlichen Teil selbst fest. Aus diesem Befund hat Böckenförde den Schluß gezogen, daß das BVerfG insoweit über „ein Stück Kompetenz-Kompetenz" verfüge 23. Schiaich spricht demgegenüber von faktischer, nicht rechtlicher Kompetenz-Kompetenz24. In kritischen Stellungnahmen wird das BVerfG zuweilen als „Herr der Verfassung" bezeichnet 25 . In eine ähnliche Richtung scheint es zu zielen, wenn die Verfassungsrechtsprechung als Teilhabe an der verfassungsgebenden und -ändernden Gewalt qualifiziert wird 2 6 . Schließlich ist sogar davon die Rede, daß das BVerfG einen „Zipfel der Souveränität" in der Hand halte 27 . Werden die Begriffe der Kompetenz-Kompetenz, der Teilhabe an der verfassungsgebenden Gewalt und der Souveränität ohne Einschränkung gebraucht, so scheinen sie nahezulegen, daß das BVerfG überhaupt keinen verfassungsrechtlichen Grenzen unterliegt. Dies würde dem zuvor gezogenen Schluß widersprechen, 19
Vgl. auch Böckenförde, NJW 1999, S. 12, der auf den Vorrang der Verfassung als Grundstein der verfassungsgerichtlichen Problematik hinweist. Dazu Wahl, Staat 20 (1981), S. 485 ff. 20 Vgl. etwa Hesse, Grundzüge, Rdnr. 19 ff., 36 ff., 50; Böckenförde, NJW 1999, S. 12; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 58. 21 Vgl. Lerche, BayVBl. 1997, S. VI. 22 Vgl. Böckenförde, NJW 1999, S. 16: „Verfassungsgerichtsbarkeit kontrolliert, wird aber ihrerseits nicht mehr kontrolliert." 23 Böckenförde, NJW 1999, S. 13, im Anschluß an Lerche, BayVBl. 1997, S. VI. 24 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 470; ebenso Brenner, AöR 120 (1995), S. 257. Vgl. auch Höffe, Staat 38 (1999), S. 179. 25 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 31; ders., NJW 1999, S. 13; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 55; Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 33. 26 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 29 f.; ders., NJW 1999, S. 12 f.; Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57, 76. 27 Böckenförde, NJW 1999, S. 13. Vgl. auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57; sowie Püttner, Der schwierige Weg der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 573: „Souverän ist, wer über die Verfassungsinterpretation gebietet [ . . . ] . "
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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wonach solche Grenzen ein Gebot des geltenden Verfassungsrechts sind. Deshalb ist im folgenden der Frage nachzugehen, welche Einschränkungen der zuvor genannten Begriffe aus verfassungsrechtlicher Sicht geboten sind.
I. Kompetenz-Kompetenz des BVerfG? Das BVerfG hat die implizit verliehene Kompetenz, eine Methode der Verfassungsinterpretation zu wählen. Denn für die verfassungsmäßige Aufgabe der Normenkontrolle ist Interpretation erforderlich, die wiederum ohne eine Methode nicht geleistet werden kann. Da die Methodenwahl im Grundgesetz nicht determiniert ist, bleibt nur der Schluß auf eine entsprechende Kompetenz des Gerichts. Eine Methode reicht jedoch für sich allein zur Interpretation der Grundrechte nicht aus 28 . Deshalb muß das Gericht auch die Kompetenz haben, eine mit dem Grundgesetz kompatible Grundrechtstheorie zu entwickeln. Ein Verfassungsgericht, dem so weitreichende Interpretationsbefugnisse anvertraut sind, kann schließlich nicht umhin, im Zuge seiner Rechtsprechung ein Grundverständnis (Lerche) der Verfassung zu entwickeln 29 . Eine Kompetenz-Kompetenz des BVerfG ist dabei insoweit nicht zu leugnen, als das BVerfG mit seiner Entscheidung für die eine oder andere Methode oder Theorie bzw. für ein bestimmtes Verfassungs- und insbesondere Grundrechtsverständnis durchaus die Grenze seines rechtlichen Könnens, nämlich seiner Interpretation, im Bereich der Grundrechte festlegt und auch festlegen darf 30 . Allerdings ist der Umfang der verfassungsgerichtlichen Kompetenz-Kompetenz beschränkt. Zum einen ist das Verhältnis des BVerfG zum Verfassungsgeber bzw. zum verfassungsändernden Gesetzgeber keineswegs das der Gleichordnung. Der verfassungsändernde Gesetzgeber kann in den Grenzen von Art. 79 Abs. 3 GG jederzeit neues Verfassungsrecht setzen und so das BVerfG übertrumpfen. Zum anderen ist die Verfassung als solche für das BVerfG nicht disponibel. Das BVerfG hat keine Kompetenz zur beliebigen Verfassungsinterpretation und -fortbildung. Insofern ist es nicht nur eine formale Erwägung, daß das Gericht als Teil der Judikative an das Grundgesetz gebunden ist (Art. 20 Abs. 3 GG). Über diese äußerste Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit besteht der Sache nach Einigkeit. So soll die Kompetenz des BVerfG nicht so weit gehen, daß es seine eigene Ermächtigungsgrundlage beliebig umbilden dürfe. Das Verfassungsgericht stehe nicht über der Verfassung 31. Aufgrund der demokratischen Staatsorganisation dürfe es sich nicht von „einem Organ der Sicherung der gegebenen und bestehenden Verfassung zu einem Organ der Verfassungsgesetzgebung, letztlich zum »Herrn4 der Verfassung" aufschwingen 32. Diese Einschränkungen werden zutreffend wahrgenommen, 28
Dazu unten 3. Kap., zu F., und 4. Kap., A. 29 Vgl. Lerche, BayVBl. 1997, S. VI. 30 Ebenso Böckenförde, NJW 1999, S. 13. 31
So Hesse, Grundzüge, Rdnr. 50. 32 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 89.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
wenn Böckenförde vorsichtig von einem „Stück" Kompetenz-Kompetenz des BVerfG spricht. Eine Kompetenz des BVerfG zur beliebigen Verfassungsänderung soll damit gerade nicht behauptet werden. Wenn man sich diese Einschränkung deutlich vor Augen führt, ist die Verwendung des Begriffs vertretbar 33. Ohne die bei Böckenförde nachweisbare Differenzierung suggeriert der Begriff dagegen, daß das BVerfG über die Verfassung im ganzen als Grundlage seines rechtlichen Könnens verfügen könne. Um den Anschein eines solchen Fehlschlusses zu vermeiden, ist es vorzugswürdig, auf den Begriff der Kompetenz-Kompetenz zu verzichten und statt dessen schlicht von einer sehr weiten Kompetenz des Gerichts im Hinblick auf Methodenwahl, Verfassungstheorie und Verfassungsverständnis zu sprechen. II. Teilhabe des BVerfG an der verfassungsgebenden Gewalt? Fraglich ist, ob aus der weiten Kompetenz des BVerfG im Bereich der Verfassungsinterpretation eine begrenzte Teilhabe an der verfassungsgebenden oder -ändernden Gewalt folgt, wie dies Böckenförde annimmt. Dies hängt davon ab, ob und inwieweit man der Verfassungsinterpretation des BVerfG Verfassungsrang beimißt 34 . Faktisch gilt die Verfassung so, wie sie das Verfassungsgericht interpretiert. Stellt man auf diese Wirkung verfassungsgerichtlicher Rechtsprechung ab, so scheint der Schluß auf eine Beteiligung an der verfassungsgebenden Gewalt nahezuliegen. Gegen diese Sichtweise sprechen aber mehrere Einwände35. Zum einen entscheidet das Gericht in der Normenkontrolle über die Vereinbarkeit eines einfachen Gesetzes mit der Verfassung. Demgegenüber zielt die Normenkontrolle als konkretes Verfahren nicht darauf ab, den Inhalt der Verfassung auf Dauer und mit allseitiger Wirkung verbindlich festzulegen 36. Zum anderen darf der Inhalt der objektiven Verfassung nicht mit dem vom BVerfG subjektiv erkannten Verfassungsrecht gleichgesetzt werden, auch wenn die Rechtsprechung das Verfassungsrecht entscheidend prägt. Andernfalls müßte auch eine eindeutig irrige Ansicht des BVerfG Verfassungsrang genießen und ebenso wie eine ausdrücklich angeordnete Verfassungsnorm binden. Eine so weitreichende Kompetenz des BVerfG, die eine Kompetenz zur Verfassungsänderung einschließen würde, kann mangels einer ausdrücklichen Anordnung in der Verfassung nicht unterstellt werden. Aus dem gleichen Grund besteht auch keine Kompetenz zu authentischer Verfassungsinterpretation 37 . Im Ergebnis ist eine Teilhabe des BVerfG an der verfassungsgebenden oder -ändernden Gewalt abzulehnen. 33 Ablehnend dagegen Stern, in: FS Kriele, S. 417 Fn. 28. 34 Vgl. dazu Hoffmann, in: FS Wolf, S. 214 f., 218, der vom Verfassungsrang des Verfassungsrichterrechts ausgeht. 35 Vgl. zum folgenden Heun, Schranken, S. 58 ff. 36 Vgl. Heun, ibid., S. 59; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 464. 37 Ablehnend auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 72; Heun, Schranken, S. 81 f. Vgl. aber Böckenförde, NJW 1999, S. 12, der von authentischer
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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I I I . Souveränität des BVerfG? Im schillernden Begriff der inneren Souveränität 38 vermischt sich die Kategorie der faktischen Macht mit der juristischen Frage der Kompetenz. Im Hinblick auf das BVerfG kann nicht von unbeschränkter, höchster Macht im Staat die Rede sein, sondern nur von „bereichsweiser" Souveränität, die sich thematisch auf die Verfassungsinterpretation beschränkt. Im übrigen ist das BVerfG selbst in diesem Bereich keineswegs souverän, da seine Macht durch die Möglichkeit einer Änderung der Verfassung oder des BVerfGG beschränkt ist. Man müßte also sagen, das BVerfG sei im Bereich der Verfassungsinterpretation souverän, soweit der (einfache oder verfassungsändernde) Gesetzgeber nicht tätig wird. Damit muß die Unteilbarkeit der Souveränität aufgegeben werden. Begrifflich ist dies vertretbar 39. Jedoch ist kritisch zu fragen, welchen Erkenntniswert das zweifach abgeschwächte Konzept einer thematisch beschränkten und institutionell geteilten Souveränität noch hat. Für die rechtliche Bewertung der Problematik verfassungsgerichtlicher Grenzen scheint der Begriff jedenfalls nicht weiterzuführen 40.
IV. Ergebnis Somit besteht im Ergebnis keine Kompetenz-Kompetenz des BVerfG im Hinblick auf die Verfassung als ganzes, wohl aber eine Kompetenz-Kompetenz oder, besser gesagt, eine sehr weite Kompetenz im Hinblick auf die Wahl der Methode, der Grundrechts- und Verfassungstheorie und des Verfassungsverständnisses, die für die Interpretation des Grundgesetzes verwendet werden. Man kann sogar von einer beschränkten und geteilten Souveränität des Verfassungsgerichts im Bereich der Verfassungsinterpretation sprechen, nicht dagegen von einer Teilhabe des BVerfG an der verfassungsgebenden oder -ändernden Gewalt. Eine beschränkte Kompetenz-Kompetenz oder Souveränität widerspricht nicht dem Ergebnis des vorigen Abschnitts, wonach das Grundgesetz Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit fordert. Es wäre allerdings keine ausreichende Bindung verfassungsgerichtlicher Gewalt, wenn man diese allein darin sehen würde, daß das Verfassungsgericht bestimmten institutionellen und insbesondere verfassungsVerfassungsinterpretation „der Wirkung nach" spricht. Vgl. auch ders., Staat 29 (1990), S. 30; ders., Methoden, in: Staat, Verfassung, Demokratie, S. 87 Fn. 113; sowie C. Schmitt, Der Hüter der Verfassung, S. 45 ff. 38 Dazu z. B. Fleiner-Gerster, Allgemeine Staatslehre, S. 145 ff., 170 ff., 182 ff. Vgl. auch C. Schmitt, Politische Theologie. Vier Kapitel zur Lehre von der Souveränität, S. 11 ff.; ders., Das Reichsgericht als Hüter der Verfassung (1929), in: ders., Verfassungsrechtliche Aufsätze, S. 81. 39 Vgl. Hoffmann, in: FS Wolf, S. 220, für den das BVerfG neben Bundestag und Bundesrat den höchsten Rang im Staat einnimmt und deshalb Mitinhaber der inneren Souveränität ist. 40 Ablehnend auch Stern, in: FS Kriele, S. 417 Fn. 28.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
prozessualen Grenzen unterliegt 41 , dem verfassungsändernden Gesetzgeber untergeordnet ist und den Verfassungstext nicht ändern kann. Denn damit wäre offen gelassen, welchen Grenzen die Grundrechtsinterpretation an sich unterliegt. Zu einer weiteren Begrenzung und Kontrolle der verfassungsgerichtlichen Interpretation der Grundrechte können methodische, verfassungstheoretische und funktionelle Grenzen beitragen. Zwar hängt diese weitergehende Begrenzung des BVerfG in ihrer praktischen Wirksamkeit von der Zustimmung seiner Mitglieder ab. Dies schließt es jedoch nicht aus, verfassungsgerichtliche Grenzen als ein verbindliches Gebot des Verfassungsrechts anzusehen.
C. Kritik an aktivistischer Grundrechtsjudikatur Verfassungsgerichtliche Grenzen werden praktisch relevant, wenn sie aus methodischen, verfassungstheoretischen oder funktionell-rechtlichen Gründen eine bestimmte Grundrechtsinterpretation als verfassungswidrig ausschließen. Daher ist es lohnend, die Kritik der Literatur an der Grundrechtsjudikatur des BVerfG unter dem Gesichtspunkt der Verletzung verfassungsgerichtlicher Grenzen auszuwerten. Auf diese Weise läßt sich bestimmen, wo die Problemfelder verfassungsgerichtlicher Grenzen liegen. Die Kritik am BVerfG hat eine bewegte Geschichte42 und ist nach kontroversen Entscheidungen in den neunziger Jahren wieder besonders heftig entbrannt 43. Sie ist mittlerweile zum Gegenstand eigener Untersuchungen geworden 44. Im Mittelpunkt soll hier der ausdrücklich oder implizit erhobene VorDazu oben 1. Teil, 4. Kap., B. IV. 42 Vgl. Vogel, Videant judices! Zur aktuellen Kritik am Bundesverfassungsgericht, DOV 1978, S. 665 ff.; Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1979; Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, 1984, S. 5. Vgl. auch Benda, NJW 1995, S. 2470, zur Anciennität der Begriffe „Oberregierung", „Konterkapitäne", „Uber-" und „Ersatzgesetzgeber". 43 Vgl. z. B. Großfeld, Götterdämmerung? Zur Stellung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1995, S. 1719 ff.; dagegen Benda, Wirklich Götterdämmerung in Karlsruhe?, NJW 1995, S. 2470 ff.; H.-P. Schneider, Acht an der Macht! Das BVerfG als „Reparaturbetrieb" des Parlamentarismus?, NJW 1999, S. 1303 ff. Ausgewogener Isensee, Bundesverfassungsgericht - quo vadis?, JZ 1996, S. 1085 ff.; Vogel, Gewalten Vermischung statt Gewaltenteilung?, NJW 1996, 1505 ff.; Stern, in: FS Kriele, S. 411 ff.; Scholz, Das Bundesverfassungsgericht: Hüter der Verfassung oder Ersatzgesetzgeber?, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, B 16/99, S. 3 ff. Als Institution wird das BVerfG in Deutschland seltener in Frage gestellt als in den USA. Vgl. aber Lietzmann, „Reflexiver Konstitutionalismus" und Demokratie, S. 233 ff. (259 ff.). Den äußerlich gelassenen Standpunkt des BVerfG verdeutlicht z. B. Limbach, Das Bundesverfassungsgericht und die Fortentwicklung des Grundgesetzes, BRAK-Mitt. 3/1999, S. 103 ff. 44 Vgl. Lamprecht, Zur Demontage des Bundesverfassungsgerichts, 1996; Fricke, Zur Kritik an der Staats- und Verfassungsgerichtsbarkeit im verfassungsstaatlichen Deutschland, 1995. Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 1 ff., gelangt zu dem Schluß, daß das BVerfG „immer seltener abschließende, friedenstiftende, von den Vorinstanzen gleichsam übersehene Antworten finden könn[e], die den Konsens aller oder doch der großen Mehrheit finden", weshalb zunehmende Kritik am
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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wurf des verfassungsgerichtlichen Aktivismus (,judicial activism") stehen45, weil er auf eine mögliche Grenzüberschreitung hinzudeuten scheint. Wie schon die USamerikanische Diskussion zur due process-Klausel und zum Recht auf Privatsphäre gezeigt hat 46 , beinhaltet Aktivismus nicht per se ein verfassungswidriges Verhalten des Gerichts. Inwieweit verfassungsgerichtlicher Aktivismus gerechtfertigt sein kann, will die folgende Bestandsaufnahme noch nicht klären. Hier geht es lediglich darum, mögliche Grenzüberschreitungen zu identifizieren. Zu diesem Zweck wird im folgenden in erster Linie fremde Kritik referiert, aber auch eigene Kritik entwickelt, ohne damit bereits in eine Diskussion einzutreten. Die Kritik an der aktivistischen Interpretation der Grundrechte behauptet, daß das BVerfG in Einzelfällen den klaren Wortlaut der Verfassung mißachte (I.), Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht zulasten des verfassungsändernden Gesetzgebers betreibe (II.) und legislative Spielräume übermäßig einenge (III.). Schließlich kann man bestimmte Aspekte der gerichtlichen Verfassungsinterpretation als „willkürlich" angreifen, wenn man diesen Vorwurf hinreichend differenziert (IV.).
I. Verstoß gegen die eindeutige Bedeutung der Verfassung Man kann es als Verletzung der Verfassungsbindung auffassen, wenn das BVerfG differenzierte Schrankenvorbehalte überspielt und so die eindeutige Wortoder Textbedeutung mißachtet. Ein Beispiel ist die Freiheit der Berufswahl, die einem Schrankenvorbehalt unterstellt wird, den Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG eindeutig nicht vorsieht. Auch außerhalb der Schrankendogmatik werden Abweichungen vom eindeutigen Textsinn gesehen. Dies gilt zum Beispiel für die ungleiche Dauer von Wehr- und Ersatzdienst, die das BVerfG 47 entgegen Art. 12 a Abs. 2 S. 2 GG gebilligt hat 48 . Fragwürdig ist ferner der grundrechtliche Schutz, den das BVerfG auf Geschäftsräume als „Wohnung" nach Art. 13 Abs. 1 GG ausdehnt, obwohl in Büros, Fabrikhallen oder Werkstätten keineswegs gewohnt wird. Diese und ähnliche 49 Fälle werfen die Frage auf, ob das BVerfG hier unzulässigerweise die eigene Kompetenzgrundlage umgebildet hat, ob der Text der Verfassung mehr als ein unBVerfG „ebenso unvermeidlich wie normal" sei (ibid., S. 25). Vgl. auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 59 f. 45 Dazu H.-P. Schneider, NJW 1999, S. 1305. 46 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 3. c) dd). 47 Vgl. BVerfGE 69, 1 (28 ff.); zustimmend Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 26. 48 Kritisch die abw. M. der Richter Mahrenholz u. Böckenförde, BVerfG 69, 1 (57 ff.); Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 188 f.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 330 f.; H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 915; dersNJW 1999, S. 1305. 49 Ein weiteres Beispiel ist die Ausdehnung der Freiheit der Berichterstattung durch Rundfunk und Film auf die volle Programmfreiheit (vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG). Kritisch Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 11.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
verbindlicher Anhaltspunkt der Interpretation ist und welchen Widerstand er aktivistischer Interpretation überhaupt entgegensetzen kann 50 .
II. Verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht ist der Sache nach Ersatzverfassungsgebung 51 , wenn das BVerfG neue Grundrechte erfindet. Ersatzverfassungsgebung greift dem verfassungsändernden Gesetzgeber vor und engt den einfachen Gesetzgeber mit neuen verfassungsrechtlichen Anforderungen ein 52 . Deshalb kann man kritisieren, daß das BVerfG in Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG die Grundlage eines allgemeinen Persönlichkeitsrechts sieht 53 , obwohl die Verfassung hiervon nicht ausdrücklich spricht 54. Man könnte es auch dem einfachen Gesetzgeber überlassen, die einzelnen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts auszuformen. Kritik hat auch die allgemeine Handlungsfreiheit, die im Grundgesetz nicht ausdrücklich gewährleistet ist, auf sich gezogen55. Ein wichtiger Einwand gegen diese Rechtsfortbildung ist die Ausweitung der Verfassungsbeschwerde auf Verstöße gegen das gesamte objektive Verfassungsrecht, wodurch der einfache Gesetzgeber zumindest einem einklagbaren Vorbehalt der Verhältnismäßigkeit unterworfen wird. Sein Gestaltungsspielraum wird so im Wege der Verfasssungsbeschwerde zusätzlich verengt 56. Dadurch verstärkt sich die Verrechtlichung der gesellschaftlichen Lebensbereiche. Auf die Frage, wo die Grenze der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht liegt, erhält man vom BVerfG schon deshalb keine Antwort, weil es diesen Terminus vermeidet 57.
50
Siehe dazu unten 3. Kap., B. Zur Verfassungsgerichtsbarkeit als „Ersatzverfassungsgeber" v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 170 ff. Vgl. auch Stern, in: FS Kriele, S. 423, der vom „Ersatz-Verfassungsänderungsgesetzgeber" spricht. 52 Die Einschränkung des einfachen Gesetzgebers kann auf grundrechtlichen Vorgaben für die Gestaltung einfachen Rechts sowie indirekt auf der Ausstrahlungswirkung der Grundrechte im Rahmen der verfassungskonformen Auslegung und der mittelbaren Drittwirkung beruhen. Vgl. dazu Stern, in: FS Kriele, S. 420 ff. Siehe noch unten 1. Kap., C. III. 4. 53 Vgl. BVerfGE 65, 1 - Volkszählung. 54 Immerhin knüpfte das BVerfG für das Recht auf informationelle Selbstbestimmung im Volkszählungsurteil am Wortlaut von Art. 2 Abs. 1 GG an, indem es auf die freie Entfaltung der Persönlichkeit abstellte, vgl. BVerfGE 65, 1 (43). Ersatzverfassungsgebung bejaht in diesem Fall v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 171. 55 Vgl. z. B. Knies, in: FS Stern, S. 1172 ff., Hesse, Grundzüge, Rdnr. 426 ff.; abw. M. Grimm, in: BVerfGE 80, 164 ff. - „Reiten im Walde". 56 Allerdings könnte der Verfassungsverstoß auch im Zuge eines „objektiven" Verfahrens wie der abstrakten Normenkontrolle vom BVerfG kontrolliert werden. 57 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 206 m. Fn. 129. 51
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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Eine Rechtsfortbildung mit besonders weitreichenden Folgen für den Gesetzgeber stellt die Erfindung neuer 58 Grundrechtsfunktionen dar, wie sie das BVerfG mit dem Ausbau der objektiven Dimension der Grundrechte seit der Lüth-Entscheidung59 von 1958 ins Werk gesetzt hat. Die neuen Funktionen stellen einen gewichtigen Teil des schon erwähnten „Grundverständnisses" der Verfassung dar, das nicht oder kaum revisibel ist 6 0 Als neu wird hier jede Grundrechts Wirkung bezeichnet, die über das staatsgerichtete Abwehrgrundrecht hinausgeht. In Frage kommen zum einen objektive Grundrechtswirkungen und zum anderen Grundrechte als Leistungsrechte. Unter der objektiv-rechtlichen Dimension oder Funktion der Grundrechte 61 im eigentlichen Sinne sind die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf einfaches Recht, dessen grundrechtskonforme Auslegung und die „mittelbare Drittwirkung" der Grundrechte, grundrechtliche Schutzpflichten sowie Grundrechte als Maßstab für Organisation und Verfahren zu verstehen. Teilweise sind diese Funktionen einer „Resubjektivierung" 62 zugänglich. Dies gilt zum Beispiel für Ansprüche auf Schutz oder auf den Erlaß von Verfahrensnormen. Solche subjektiven Rechte sollen hier ebenfalls unter die objektiv-rechtliche Dimension gefaßt werden, um den Unterschied zu den Abwehrgrundrechten deutlich zu machen. Zu nennen sind schließlich Grundrechte auf Teilhabe und Leistung 63 . Diese fallen zwar in die subjektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte 64, unterschei58 Unter der Weimarer Reichsverfassung war eine objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte unbekannt. Im übrigen wird die geschichtliche Entwicklung der Grundrechtsfunktionen nicht einheitlich beurteilt, vgl. einerseits Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 2 ff., 23 Fn. 92, und andererseits Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 224 ff. 59 Vgl. BVerfGE 7, 198 ff. 60 Vgl. Lerche, BayVBl. 1997, S. V I f.
61 Vgl. aus der unübersehbaren Lit. Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, 2000; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, insb. S. 237 ff.; Stern, Staatsrecht I I I / l , § 69, S. 890 ff.; Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 505 ff.; ders., in: Dreier, Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 43, 55 ff.; Sachs, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 31 ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 73 ff., 88 ff.; Jeand'Heur, Grundrechte im Spannungsverhältnis zwischen subjektiven Freiheitsgarantien und objektiven Grundsatznormen, JZ 1995, S. 161 ff.; Alexy, Grundrechte als subjektive Rechte und als objektive Normen, Staat 29 (1990), S. 49 ff.; ders., Theorie der Grundrechte, S. 395 ff. (9. Kap.); Hesse, Bedeutung der Grundrechte, in: HdBVerfR, § 5 Rdnr. 17 ff., 24 ff.; Ossenbiihl, Die Interpretation der Grundrechte in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, NJW 1976, S. 2100 ff.; Jarass, Grundrechte als Wertentscheidungen bzw. objektivrechtliche Prinzipien in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 110 (1985), S. 363 ff.; ders., Bausteine einer umfassenden Grundrechtsdogmatik, AöR 120 (1995), S. 345 ff.; Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff. 62 Ausdruck bei Dreier, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 56. Vgl. auch Pieroth/ Schlink, Grundrechte, Rdnr. 84: ,,[0]bjektiv-rechtliche Funktion der Grundrechte als Geburtshelfer neuer subjektiver Rechte." 63 Vgl. z. B. Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: HStR, § 112, S. 243 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, § 67, S. 690 ff. 64 Vgl. Dreier, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 44, 50 f.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
den sich aber von den auf Unterlassen gerichteten Abwehrrechten. Aus Vereinfachungsgründen sind mit der objektiven Dimension der Grundrechte i m folgenden auch die Teilhabe- und Leistungsrechte gemeint, wenn nichts anderes gesagt wird65. Die Kritik greift zum einen den Wert-, Prinzipien- bzw. Grundsatzcharakter der Grundrechte als Voraussetzung der objektiven Grundrechtswirkungen a n 6 6 . In neuerer Zeit ist hier insbesondere Böckenförde hervorgetreten 67 . Z u m anderen wird aus funktionell-rechtlicher Sicht Kritik an der objektiven Dimension geübt 6 8 . Die vorliegende Arbeit konzentriert sich auf die grundrechtlichen Schutzpflicht e n 6 9 sowie auf die grundrechtlichen Ansprüche des Bürgers auf staatlichen Schutz (im folgenden „grundrechtliche Schutzrechte" oder einfach „Schutzrechte" 7 0 ), wie
65 Ungeachtet dieser aus Zweckmäßigkeitsgründen vereinfachenden Terminologie ist inhaltlich stets zu differenzieren (1) zwischen der Pflicht des Staates und dem Anspruch des Bürgers, (2) zwischen staatlichem Tun und Unterlassen als Rechtsfolge von grundrechtlichen Pflichten und Ansprüchen sowie (3) zwischen dem Verhältnis Bürger/Staat einerseits und Bürger/Bürger andererseits. 66 Siehe zum Weitskeptizismus bereits oben 1. Teil, 4. Kap., A. II. 3., sowie unten 1. Kap., C.IV. 67 Vgl. Böckenförde, Grundrechte als Grundsatznormen, Staat 29 (1990), S. 1 ff. (30), der eine Umgehung oder Ersetzung des demokratischen politischen Prozesses befürchtet, auf dessen Lösungen man nicht mehr entscheidend angewiesen sei. Dazu näher unten 4. Kap., C. 68 Vgl. Heun, Schranken, S. 66 ff. (69); Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 109; Schuppen, DVB1. 1988, S. 1195; Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 553 ff.; BVerfGE 39, 68 (72) - abw. M. Rupp-v. Brünneck u. Simon. Siehe dazu unten 5. Kap., C. II. 2. c) und 3. b) bb) sowie C. III. 1.
69 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 ff.; Hermes, Das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit, 1987; Isensee, Das Grundrecht als Abwehrrecht und als staatliche Schutzpflicht, in: HStR, § 111 Rdnr. 1 ff., 77 ff.; Dietlein, Die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, 1992; Robbers, Sicherheit als Menschenrecht, S. 121 ff.; Lübbe-Woljf, Die Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff.; Unruh, Zur Dogmatik der grundrechtlichen Schutzpflichten, 1996; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 237 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 351 ff.; Stern, Staatsrecht III/1, S. 728 ff., 931 ff., 978 ff.; Dreier, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 62 ff. Vgl. auch H. H. Klein, Die grundrechtliche Schutzpflicht, DVB1. 1994, S. 489 ff.; E. Klein, Grundrechtliche Schutzpflicht des Staates, NJW 1989, S. 1633 ff.; Wahl/Masing, Schutz durch Eingriff, JZ 1990, S. 553 ff.; Preu, Freiheitsgefährdung durch die Lehre von den grundrechtlichen Schutzpflichten, JZ 1991, S. 265 ff.; Hesse, Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: FS Mahrenholz, S. 541 ff.; Dreier, Subjektiv-rechtliche und objektiv-rechtliche Grundrechtsgehalte, Jura 1994, S. 505 (512 f.); Enders, Die Privatisierung des Öffentlichen durch die grundrechtliche Schutzpflicht und seine Rekonstruktion aus der Lehre von den Staatszwecken, Staat 35 (1996), S. 351 ff.; Jarass, AöR 110 (1985), S. 363 ff. (378 ff.); ders., AöR 120 (1995), S. 345 ff. (351 ff.); Pietrzak, Die Schutzpflicht im verfassungsrechtlichen Kontext, JuS 1994, S. 748 ff. 70 Zur Terminologie Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 410 f.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 237 f.
1. Kap.: Einführung in die Problematik
287
sie das BVerfG seit dem ersten Abtreibungsurteil entwickelt hat 71 . Problematisch sind Schutzrechte schon deshalb, weil sie - von hier nicht weiter interessierenden Ausnahmen abgesehen72 - im Text der Verfassung nicht ausdrücklich verankert sind. Darüber hinaus schnüren sie den politischen Handlungsspielraum des Gesetzgebers besonders stark ein. Denn ihre Wirkung geht über die der herkömmlichen Abwehrgrundrechte, die auf Unterlassung staatlicher Eingriffe gerichtet sind, hinaus, indem sie den Gesetzgeber auf positive Schutzmaßnahmen verpflichten 73. Wahrend beim staatsgerichteten Abwehranspruch der Anspruchsinhalt bestimmt ist (Unterlassen oder Folgenbeseitigung), ist die Leistungspflicht ihrem Inhalt nach unspezifisch 74. Schutzrechte verschieben so die grundgesetzliche Gewaltenteilung, weil sie eine massive und in ihrem genauen Umfang ungeklärte Erweiterung verfassungsgerichtlicher Kontrollbefugnisse zulasten des Gesetzgebers bewirken. So kritisiert Heun, daß dem BVerfG durch grundrechtliche Schutzpflichten prinzipiell ein „unbegrenzter Gestaltungsspielraum" zuwachse75. Schutzrechte entziehen dem politischen Prozeß wesentliche Fragen, die nunmehr nach verfassungsrechtlichen Maßstäben von einem Gericht entschieden werden. Ein Beispiel ist der Schutz des ungeborenen Lebens. Der politische Prozeß sieht sich insoweit der Verantwortung für das Ergebnis enthoben. So kann man mit Brugger von einer „Depotenzierung der Möglichkeiten und eigentlichen Aufgaben von demokratischer Mitbestimmung und parlamentarischer Entscheidung" sprechen76.
I I I . Einengung des einfachen Gesetzgebers Nicht nur die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht, sondern auch die verfassungsgerichtliche Konkretisierung der Grundrechtsnormen (1.) und das Verfahren der Abwägung (2.) führen dazu, daß der einfache Gesetzgeber eingeengt wird. Darüber hinaus können verfassungsgerichtliche Entscheidungen erhebliche Einschränkungen für die Haushaltskompetenz des Gesetzgebers nach sich ziehen (3.). Schließlich führt es zu einer Beschränkung des Gesetzgebers, wenn das BVerfG Vorgaben für die Gestaltung und Auslegung des einfachen Rechts aufstellt (4.). Siehe dazu unten 5. Kap., C. III. Ausdrückliche Schutzpflichten statuiert das Grundgesetz lediglich in Art. 1 Abs. 1 S. 2 sowie in Art. 6 Abs. 1 und 4. 73 Positive staatliche Handlungspflichten können auch aus anderen objektiven Funktionen der Grundrechte entstehen und beziehen sich z. B. auf die Gewährung von Leistungen und Teilhabe oder auf den Erlaß von Verfahrens- und Organisationsnormen. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 181. 72
74 Mit Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 238, läßt sich festhalten, daß für verfassungswidriges Unterlassen „kein definites verfassungsmäßiges Gegenteil, sondern nur eine indefinite Vielzahl verfassungsmäßiger Alternativen" existiert. Vgl. auch Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 13. 7 5 Heun, Schranken, S. 69. ™ Ders., ARSPBeih. 37 (1990), S. 191.
288
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
1. Konkretisierung Für Böckenförde führt die Konkretisierung durch das Verfassungsgericht zu einer immer größeren Dichte der verfassungsrechtlichen Vorgaben an den Gesetzgeber, dessen politischer Gestaltungsspielraum zunehmend aufgehoben werde 77. Wahl formuliert treffend, daß der Konkretisierung „eine Tendenz zur Aufsaugung der Spielräume im Interesse der richtigen Konkretisierung der Verfassung immanent" sei 78 . Auf Kritik stoßen insbesondere solche Konkretisierungen, die zahlenmäßige Festlegungen beinhalten79.
2. Abwägung 80 Im Wege der Abwägung kann das BVerfG den Gesetzgeber „punktgenau" auf eine bestimmte verhältnismäßige Zuordnung festlegen. Die Kritik 8 1 bezweifelt, daß dies dem demokratisch begründeten Spielraum des Gesetzgebers gerecht werde. Primär sei der Gesetzgeber zur Abwägung berufen. Es bestehe immer die Gefahr, daß das Verfassungsgericht „lediglich seine Abwägung von diversen und für sich genommen legitimen Gerechtigkeits- und Gemeinwohlgesichtspunkten an die Stelle der legislativen Abwägung setzt", was „die starke Vermutung der Legitimation durch einen fairen politischen Prozeß" nicht zu widerlegen vermöge 82.
77 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 29 f.; ders., Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 79. Vgl. auch Stern, in: FS Kriele, S. 422. 78 Wahl, Staat 20 (1981), S. 507. 79 Vgl. H.-P. Schneider, NJW 1999, S. 1303 ff. (1305), zur Familienbesteuerung. 80
Vgl. aus der unübersehbaren Lit. Alexy, Theorie der Grundrechte, insb. S. 78 ff., 100 ff., 143 ff.; Lerche, Ubermaß und Verfassungsrecht, 1961; Grabitz, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, AöR 98 (1973), S. 568 ff.; Hirschberg, Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, 1981; Dechsling, Das Verhältnismäßigkeitsgebot, 1989; Ossenbühl, Abwägung im Verfassungsrecht, DVB1. 1995, S. 904 ff.; Erbguth u. a. (Hrsg.), Abwägung im Recht - Symposium f. W. Hoppe, 1996; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 253 ff.; Heun, Schranken, S. 63 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 115 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 193 ff.; Jansen, Die Struktur rationaler Abwägungen, ARSP Beih. 66 (1997), S. 152 ff.; ders., Die Abwägung von Grundrechten, Staat 36 (1997), S. 27 ff. 81 Vgl. insb. Schlink, Abwägung im Verfassungsrecht, 1976; ders., EuGRZ 1984, S. 461 f.; Leisner, „Abwägung überall" - Gefahr für den Rechtsstaat, NJW 1997, S. 636 ff.; ders., Der Abwägungsstaat, 1997; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 19 ff., 29 ff.; Knies, in: FS Stern, S. 1178. S2 Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 191, im Zusammenhang mit dem US-amerikanischen Verfassungs Verständnis.
1. Kap.: Einführung in die Problematik
3. Haushaltswirksame
289
Gerichtsentscheidungen
Eine verfassungsgerichtliche Einengung der Haushaltskompetenz des Gesetzgebers läßt sich am Beispiel des Urteils zum steuerlichen Existenzminimum der Familie beobachten83. Nach Hans-Peter Schneider machen die von ihm mit 20 Mrd. DM bezifferten Folgekosten des Urteils nahezu 5% des gesamten Bundeshaushaltes aus. Er kritisiert, daß das BVerfG über einen solchen Betrag nicht habe verfügen dürfen 84.
4. Grundrechte und einfaches Reckt 85 Der Gesetzgeber wird nach Auffassung der Kritik auch dadurch übermäßig eingeschränkt, daß Grundrechte auf einfaches Recht einwirken. Die in der Literatur kritisierte 86 Verschränkung von Grundrechten und einfachem Recht vollzieht sich auf mehreren Ebenen87. (1) Wie schon erwähnt, ist der einfache Gesetzgeber infolge der verfassungsgerichtlichen Konkretisierung und Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht einem immer dichteren System grundrechtlicher Anforderungen unterworfen, die er bei seiner Normsetzung beachten muß 88 . (2) Vom materiell-rechtlichen Einfluß der Grundrechte auf das einfache Recht im Rahmen der Ausstrahlungswirkung und der verfassungskonformen Auslegung war ebenfalls schon die Rede. Grundrechte beeinflussen hier unmittelbar den Inhalt des einfachen Rechts. (3) Von dieser unmittelbaren Wirkung kann man Aufträge des BVerfG an den Gesetzgeber zur Setzung von einfachem Recht unterscheiden. Materiell-rechtlich entspringen solche Gesetzgebungsaufträge insbesondere der objektiven Dimension der Grundrechte, weil diese den Erlaß von Schutznormen, von Organisations- und Verfahrensrecht sowie von Vorschriften für die Teilhabe an staatlichen Leistungen verlangen kann. Prozessual finden sie sich insbesondere in Appellentscheidungen 89 und in obiter dicta, wobei letztere verfassungsgerichtliche Vorgaben enthalten, die vom materiellen Recht nicht geboten sind 90 . (4) Im Einzelfall kann es zu 83 Vgl. BVerfGE 99, 216; 99, 246; 99, 268; 99, 273. 84 Vgl. H.-R Schneider, NJW 1999, 1303, 1305. Vgl. aber zum Prinzip der Haushaltskompetenz Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 466. 85
Vgl. aus der umfangreichen Lit. zum Verhältnis von Verfassungs- und einfachem Recht beispielsweise Canaris, Grundrechte und Privatrecht, AcP 184 (1984), S. 201 ff.; Heun, Schranken, S. 55 ff.; Stern, Staatsrecht I I I / 1 , S. 923 ff.; Oeter, „Drittwirkung" der Grundrechte und die Autonomie des Privatrechts, AöR 119 (1994), S. 529 ff.; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 8 ff., 23 f. 86 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 28 ff.; Wahl, Staat 20 (1981), S. 486 f., 502, 507; ders., NVwZ 1984, S. 401 ff.; Stern, in: FS Kriele, S. 423. 87 Vgl. zum folgenden die Systematisierungsversuche bei Stern, in: FS Kriele, S. 420 ff.; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 166 ff. 88 Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 167 f. 89 Dazu Stern, in: FS Kriele, S. 427; v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 166 f. 19 Riecken
290
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
verfassungsgerichtlicher Ersatzgesetzgebung91 kommen, bei der das BVerfG unter Berufung auf grundrechtliche Anforderungen selbst Maßstäbe des einfachen Rechts aufstellt, ohne daß diese noch eines Umsetzungsakts durch den Gesetzgeber bedürfen. Es handelt sich hier um verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im einfachen Recht. Praktisch gehen diese Fallgruppen ineinander über 92 , wie das zweite Abtreibungsurteil von 199393 zeigt. Dort hat das BVerfG umfangreiche schutzrechtliche Handlungsanforderungen aufgestellt und in tragenden Gründen eine bestimmte Lösung als verfassungsrechtlich zwingend geboten vorgeschrieben, wodurch der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers zum Teil auf Null reduziert wurde 94 . Die Vorgaben seien so konkret gewesen, daß das Gesetz vorweggenommen worden sei 95 . Dies hat dem BVerfG den Vorwurf eingetragen, sich zum „Ersatzgesetzgeber" aufzuschwingen und „eine Art legislativer ,Not'- oder »Ausfallkompetenz'" in Anspruch zu nehmen96. Dabei verkennt die Kritik nicht, daß sich der Gesetzgeber vielfach seiner Aufgabe entzieht und stillschweigend auf eine verfassungsgerichtliche Problemlösung vertrauen mag 97 .
IV. Willkürkritik? Willkür im engeren Sinne von Irrationalität, die dem Rechtsstaatsgebot und der Bindung an die Verfassung (Art. 20 Abs. 3, 28 Abs. 1 S. 1, 97 Abs. 1 GG) widersprechen würde, läßt sich dem BVerfG nicht ernstlich vorhalten. Auch kann keine Rede davon sein, daß verfassungsgerichtliche Entscheidungen durch parteipolitische Präferenzen determiniert würden 98 . Darüber hinaus müßte man einen verkürzten Determinismus vertreten, um zu behaupten, daß das richterliche Entscheidungsverhalten vollständig durch die jeweilige Biographie bestimmt sei 99 . Ande90 Kritisch Vogel DÖV 1978, S. 667 f.; ders., NJW 1996, S. 1510. 91 Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 168 ff. 92 Die enge Verwandtschaft von unmittelbarer und mittelbarer verfassungsgerichtlicher Rechtsbildung betont Stern, in: FS Kriele, S. 427 f. 93 BVerfGE 88, 203. 94 Näher dazu unten 5. Kap., C. 6. 95 Vgl. v. Brünneck, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 169. 96 H.-P. Schneider, NJW 1999, S. 1305. Kritisch auch Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 562 f., 568. Kritik am „Ersatzgesetzgeber" bei Rupp-v. Brünneck, AöR 102 (1977), S. 24 f. Vgl. aber auch Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 315 f., der für eine solche Notkompetenz des BVerfG argumentiert. 97 Vgl. z. B. Stern, in: FS Kriele, S. 425 f.; Knies, in: FS Stern, S. 1179. 98 Vgl. Vogel, DÖV 1978, S. 666 („vordergründige Polemik"); Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 16 ff. Kritisch demgegenüber Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 65 f. 99 Vgl. dazu Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 28 ff.; Großfeld, NJW 1995, S. 1719. Vgl. allg. Großfeld/Roth (Hrsg.), Verfassungsrichter, 1995.
1. Kap.: Einführung in die Problematik
291
rerseits ist es unvermeidbar, daß persönliche Überzeugungen das Vorverständnis prägen. Juristische Entscheidungen sind nicht bis zum letzten rationalisierbar; es kommt mit Hesse auf die mögliche Rationalität an 1 0 0 . Interpretation enthält immer auch Wertungen 101, die so weit wie möglich rational zu strukturieren und transparent zu machen sind, damit sie nachvollziehbar und kontrollierbar werden. Kritik an angeblicher verfassungsgerichtlicher Willkür richtete sich in der Vergangenheit zumeist gegen die sog. „objektive Wertordnung" 102 . Angegriffen wurde sowohl der Rekurs auf Werte an sich als auch die Vorstellung einer festen Rangordnung dieser Werte 103 . In neuerer Zeit wird die Kritik auch auf den vor allem von Alexy entwickelten Prinzipiencharakter der Grundrechte erstreckt 104. Die Kritik beklagt den Verlust von Rechtssicherheit und die durch den Wertbezug verstärkte Abhängigkeit der Verfassung vom Zeitgeist 105 . Die Werttheorie habe „dem Einströmen auch subjektiver und zeitbedingter Wertauffassungen und Werturteile das Tor geöffnet" 106 . Damit soll jedoch nicht ein Mindestmaß an Dynamik und Flexibilität der Verfassung bestritten werden. Eine so rigide Position, wie sie sich etwa im Originalismus bei Scalia oder Bork findet, wird in Deutschland - soweit ersichtlich - nicht vertreten. Darüber hinaus wird die Abwägung im Verfassungsrecht als willkürlich kritisiert 107 . In der Abwägung entscheiden letztlich subjektive Wertungen im Hinblick auf die „Wichtigkeit" eines Interesses oder Prinzips über den konkreten Fall. Die mangelnde Kontrollierbarkeit dieser Wertungen war auch ein Kritikpunkt am nichtoriginalistischen Ansatz 108 . Da die Abwägung vom Einzelfall abhängig ist, ist ihr Ergebnis vielfach nicht voraussehbar. Darin sehen die Kritiker ein rechtsstaatliches Defizit. 100 Vgl. ders., Grundzüge, Rdnr. 76. 101 Vgl. z. B. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 25 ff., 498 f. 102 BVerfGE 7, 198 (205) - Lüth. Vgl. dazu Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 13; ders., Prozedurales Verfassungsverständnis und Grundwerte, in: Dialektik 1994/1, S. 65 ff. 103 Vgl. C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff.; Forsthoff, Die Umbildung des Verfassungsgesetzes, in: FS Schmitt, S. 35 ff.; Böckenförde, Grundrechtstheorien, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 129 ff.; ders., Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beih. 37 (1990), S. 33 ff.; Goerlich, Wertordnung und Grundgesetz, S. 140 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 76 ff. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff., 134 ff. 104 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 1 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 59 f.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff. 105 Vgl. Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 46. Vgl. auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 66 ff.; ders., Zeitgeist und Recht, 1991; Schulze-Fielitz, Das Bundesverfassungsgericht in der Krise des Zeitgeists, AöR 122 (1997), S. 16 ff. 106 Vogel, DÖV 1978, S. 667. 107 Vgl. z. B. Schlink, EuGRZ 1984, S. 461 f.; Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 133; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 315 f. los Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 3. c) dd). 19*
292
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Auf der Grundlage eines an Ely erinnernden erkenntnistheoretischen Skeptizismus oder Relativismus kann man schließlich natur- oder vernunftrechtliche, überpositive bzw. moralphilosophische Maßstäbe und Begründungen des Verfassungsrechts bestreiten 109. Lietzmann geht dabei so weit, dem BVerfG ein fundamentalistisches, obrigkeitsstaatliches, antipluralistisches und antidemokratisches Verfassungsverständnis vorzuwerfen 110. V. Thematische Eingrenzung Angesichts der thematischen Breite der Kritik ist eine Eingrenzung erforderlich. Die Arbeit konzentriert sich auf den Text der Verfassung als Grenze der Interpretation 1 1 1 , auf die Reichweite zulässiger Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht 112, auf die objektive Dimension der Grundrechte 113 am Beispiel schutzrechtlicher Handlungsanweisungen114 und auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte einschließlich Konkretisierung und Abwägung 115 . Demgegenüber bleibt das Verhältnis der Grundrechte zum einfachen Recht im folgenden außer Betracht.
D. Deutschland als Jurisdiktionsstaat? Die Kritik am BVerfG gipfelt in der zuweilen polemisch vorgetragenen Warnung, daß Deutschland zum Justiz-, Jurisdiktions- oder Richterstaat geworden sei oder sich jedenfalls auf dem Weg dorthin befinde. Diese Schlagwörter sind keineswegs neu 116 , werden aber auch in neuerer Zeit wieder verwendet. So kritisierte 117 109
Vgl. z. B. Lietzmann, „Reflexiver Konstitutionalismus" und Demokratie, S. 236, 253 (m. nachf. Zitat), 258 f.: „,Ewige Wahrheiten' - und seien sie noch so säkular, rational und reflexiv begründet - sind in einer pluralistischen und auf politische Beteiligung drängenden Gesellschaft nicht mehr mit Anspruch auf eine homogene und gleichsinnige Rezeption autoritär verkündbar." ho Vgl. ibid., S. 233 ff., insb. 240 f., 250. in Siehe unten 3. Kap., B. 112 Siehe unten 3. Kap., E. 113 Siehe unten 4. Kap., C. II. 4. 114 Siehe unten 5. Kap., C. III. Iis Siehe unten 2. Kap., F., und 4. Kap., C. II. 1. - 3. 116 Vgl. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 47; ders., Die Bindung an Gesetz und Recht (Art. 20 Abs. 3 GG). Strukturanalytische Bemerkungen zum Übergang vom Rechtsstaat zum Justizstaat, DÖV 1959, 41 ff.; ders., Rechtsstaat oder Richterstaat? Die Gefährdung der Rechtssicherheit durch die Rechtsprechung, S. 7 ff. Dazu Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 246 f. 117
Böckenförde streitet mit seinem Verfassungsverständnis einer Rahmenordnung gegen den Prinzipiencharakter der Grundrechte und den damit in Verbindung gebrachten „Jurisdiktionsstaat", vgl. ders., Staat 29 (1990), S. 25, 31. Deshalb trifft es nicht zu, daß er lediglich Alternativen aufzeigen will. Anders Stern, Staatsrecht III/2, S. 1688, wonach Böckenförde keine eigene Entscheidung treffe.
1. Kap.: Einführung in die Problematik
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Böckenförde das Verhältnis von Gesetzgeber und Verfassungsgerichtsbarkeit im Jahre 1990 als einen ,,gleitende[n] Übergang vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat" 118. Mit dieser Kritik verbindet sich die Vorstellung, daß die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit fehlen oder jedenfalls zu schwach ausgebildet sind 119 . Andererseits fehlt es nicht an Gegenstimmen. Isensee gelangt zur entgegengesetzten Einschätzung, wenn er zwischen dem BVerfG einerseits sowie Parlament und Regierung als den Faktoren des politischen Prozesses andererseits Normalität konstatiert: „Die Gewaltenteilung zwischen tätigen und kontrollierenden Organen ist intakt." 120 . Klagen der Politik über den Jurisdiktionsstaat hält er für unbegründet, da die Politik wisse, wie sie sich den verfassungsgerichtlichen Bindungen entziehen könne 121 . Schon Hollerbach entgegnete auf Forsthoff, daß von einer Ablösung des Rechtsstaates durch den Justizstaat keine Rede sein könne 122 . Zu begrüßen ist, daß die Kritik am Jurisdiktionsstaat die Aufmerksamkeit auf das Problem lenkt, was verfassungsgerichtliche Grenzen sind und wo sie verlaufen. Auch setzt die Kritik zutreffend voraus, daß der Jurisdiktionsstaat kein „verfassungsstaatliches Ideal" sei 1 2 3 . Dennoch bestehen gegenüber dem Begriff inhaltliche Bedenken. Zum einen ist der Machtanteil des BVerfG im Vergleich zu Regierung und Gesetzgebung immer noch gering. Deutschland wird keineswegs von einer im BVerfG angesiedelten Richterelite regiert. Die politische Leitung liegt weiterhin zu wesentlichen Teilen beim Bundestag und bei der Bundesregierung 124. Daher wäre es unzutreffend, die Bundesrepublik im ganzen als Jurisdiktionsstaat zu beschreiben. Zum anderen kommt dem BVerfG zwar das Letztentscheidungsrecht über die Interpretation der Verfassung zu. Dies stellt aber eine normale Funktionsbedingung umfassender Verfassungsgerichtsbarkeit dar, die in ihrer Kompetenzfülle vom Grundgesetz eingerichtet worden ist 1 2 5 . Die Kritik am Jurisdiktionsstaat gerät hier in Gefahr, den englischen Parlamentarismus als außerverfassungsrechtliches Idealbild zugrundezulegen. Schließlich hat sich schon bei der Diskussion der begrenzten Kompetenz-Kompetenz des BVerfG gezeigt, daß die Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland durchaus Grenzen unterliegt. Iis Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 25. Vgl. auch Knies, in: FS Stern, S. 1178, der im Zusammenhang mit der verfassungsgerichtlichen Abwägung festhält: ,,[D]ie Schwelle vom parlamentarischen Gesetzgebungsstaat zum verfassungsgerichtlichen Jurisdiktionsstaat ist überschritten." 119 Vgl. R. Dreier, Problematik, S. 15, der mit Justizstaat die „juristisch unkontrolliert[e] Auslieferung der Verfassung an den Richter" meint. 120 Vgl. Isensee, JZ 1996, S. 1087 f. (Zitat auf S. 1088); ähnlich Vogel, NJW 1996, S. 1511. 121 Vgl. Isensee, JZ 1996, S. 1088. 122 Vgl. Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 267, 251 f. 123 Stern, in: FS Kriele, S. 429. 124 Dies schließt es nicht aus, dem BVerfG einen begrenzten Anteil an der Staatsleitung zuzugestehen, vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 669. 125 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 207.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Im Ergebnis läßt sich die Bundesrepublik nicht als Jurisdiktionsstaat beschreiben. Die Verfassungsgerichtsbarkeit des Grundgesetzes darf nicht gegen ein dem Grundgesetz fremdes Idealbild parlamentarischer Demokratie ausgespielt werden. Der Vorwurf einer grenzenlosen Verfassungsgerichtsbarkeit wäre ebenfalls nicht haltbar. Die Warnung vor einem Jurisdiktionsstaat läßt sich daher nur als ein plakativer Topos verstehen, mit dem die Kritik spezifische Phänomene aktivistischer Verfassungsinterpretation als Kompetenzüberschreitung bzw. als Verletzung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit angreift 126 . Solche Kritik kann allerdings einseitig sein 127 , weil die so kritisierte Entwicklung von vornherein als illegitim abgestempelt wird, wenn man dem Jurisdiktionsstaat den demokratischen Gesetzgebungsstaat gegenüberstellt. Man muß jedoch den Begriff des parlamentarischen Gesetzgebungsstaats nicht so eng auffassen, daß die Grundrechtsjudikatur des BVerfG damit unvereinbar erscheint.
E. Fazit Die bisherigen Überlegungen haben gezeigt, daß sich Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit als ein Gebot des geltenden Verfassungsrechts begreifen lassen, ohne daß daraus schon ein konkretes Programm der Begrenzung resultieren würde. Ausgangspunkt des Problems verfassungsgerichtlicher Grenzen ist, daß dem BVerfG eine sehr weite Kompetenz im Hinblick auf die Auswahl einer Methode und die seiner Verfassungsinterpretation zugrundeliegende Verfassungstheorie zusteht. In der Literatur findet sich vielfältige Kritik an der aktivistischen Art und Weise, wie das BVerfG diese Kompetenz ausübt. Zuweilen wird Deutschland sogar als Jurisdiktionsstaat bezeichnet, was jedoch übertrieben erscheint. Die Kritik zeigt, daß die Frage, wo und wie die Grenzen des BVerfG bei der Grundrechtskontrolle verlaufen, keine einfache Antwort zuläßt. Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dürfen mit Ausnahme des Verfassungstextes und der institutionellen Rahmenbedingungen nicht als vorfindlich vorausgesetzt werden. Vielmehr ist mit Argumenten zu begründen, welche methodischen, verfassungstheoretischen und funktionell-rechtlichen Begrenzungen am besten zur normativen Ordnung des Grundgesetzes passen. Dies läßt in einem rationalen Diskurs unterschiedliche Lösungen zu.
126 Bei Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 1 ff., geschieht dies mit der Kritik am Prinzipiencharakter und an der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte. Auch Knies, in: FS Stern, S. 1178, geht so vor, wenn er den „Jurisdiktionsstaat" auf die verfassungsgerichtliche Abwägung bezieht. 127 Dies gilt besonders dann, wenn man wie Bettermann, Hypertrophie der Grundrechte, S. 6, 14, in polemischer Zuspitzung eine Entwicklung zum ,,total[en] Rechtsstaat" und zum „totalen Richterstaat" kritisiert.
Zweites Kapitel
Zur Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation in der verfassungsrechtlichen Methodenlehre Analysiert man die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, so darf man bei der Judikatur des BVerfG nicht stehenbleiben. Vielmehr sind auch diejenigen Ansätze in der Literatur in die Untersuchung einzubeziehen, die zu einer Vergrößerung der Wertungsspielräume des Verfassungsinterpreten beigetragen haben. Auf diese Weise erschließen sich wichtige methodische und verfassungstheoretische Gründe für eine Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation. Im vorliegenden Kapitel soll das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen vor allem im Hinblick auf die Methoden der Verfassungsinterpretation näher beleuchtet werden. Ein vollständiger Uberblick über die Methoden der Verfassungsinterpretation ist ebensowenig beabsichtigt wie eine umfassende Katalogisierung der zahlreichen Einwände und Gegeneinwände, zumal hierzu an kritischen Analysen kein Mangel besteht1. Darüber hinaus soll dieses Kapitel zur Begründung der eigenen methodischen und verfassungstheoretischen Position beitragen, auf deren Grundlage in den nachfolgenden Kapiteln Stellung bezogen wird. Deshalb soll das Regel-Prinzipien-Modell Alexys, das dieser Arbeit in konstruktiver Hinsicht zugrundeliegt, ausführlicher gewürdigt werden. Die folgende Diskussion geht zunächst auf die von Forsthoff vertretene „klassische" Auslegungsmethode ein (A.). Forsthoff soll damit nicht etwa als Vertreter aktivistischer Verfassungsinterpretation porträtiert werden. Es läßt sich aber zeigen, daß schon diese Methode, die ihrer Intention gemäß begrenzend wirken soll, 1 Vgl. insb. Böckenförde, Die Methoden der Verfassungsinterpretation, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 53 ff.; R. Dreier/Schwegmann (Hrsg.), Probleme der Verfassungsinterpretation, 1976; Fr. Müller, Juristische Methodik, insb. Rdnr. 75 ff.; Schlothauer, Zur Krise der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1979; Schlink, Bemerkungen zum Stand der Methodendiskussion in der Verfassungsrechtswissenschaft, Staat 19 (1980), S. 73 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 49 ff.; Starck, Die Verfassungsauslegung, in: HStR, § 164, insb. Rdnr. 16 ff.; E. Stein, Methoden der Verfassungsinterpretation und der Verfassungskonkretisierung, in: AK-GG, Bd. I, Einl. II, S. 92 ff.; Pestalozza, Kritische Bemerkungen zu Methoden und Prinzipien der Grundrechtsauslegung in der Bundesrepublik Deutschland, Staat 2 (1963), S. 425 ff.; Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, § 95 (Die Auslegung der Grundrechte), insb. S. 1655 ff.; Larenz, Methodenlehre, 360 ff.; Lerche, Stil, Methode, Ansicht, DVB1. 1961, S. 690 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 84 ff., 122 ff.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
296
in Wirklichkeit zu einer beachtlichen Freisetzung von interpretatorischen Spielräumen führt. Der Schwerpunkt dieses Kapitels liegt demgegenüber auf aktivistischen methodischen Ansätzen, die die Wertungsspielräume des Interpreten bewußt machen oder auch vergrößern wollen. Im Hinblick auf ihre begrenzende Wirkung für die Verfassungsinterpretation werden in diesem Kapitel die teleologische Auslegung (B.) sowie die Ansätze von Horst Ehmke (C.), Martin Kriele (D.), Peter Häberle (E.) und Robert Alexy (F.) untersucht. Das aktivistische Element dieser Ansätze liegt zunächst darin, daß ihre Flexibilität und Offenheit die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht erleichtert. Zugleich erhält anstelle formaler und insbesondere logischer Erwägungen die Diskussion inhaltlicher Gründe, Zwecke, Wichtigkeiten, Folgen etc. einen hohen Stellenwert. Darüber hinaus läßt sich eine Tendenz feststellen, die Verfassungsinterpretation als rationalen Diskurs zu führen. Diese Entwicklung kann man aus verschiedenen Gründen begrüßen. Teilweise mag sie sogar unvermeidlich sein. Im Hinblick auf das Thema der vorliegenden Untersuchung ist jedoch problematisch, daß die genannten aktivistischen Ansätze nicht klar zu erkennen geben, wo die Grenzen der Verfassungsinterpretation verlaufen.
A. „Klassische44 Auslegung der Verfassung (ForsthofF) Nach Forsthoff soll die Verfassung im wesentlichen wie ein Gesetz ausgelegt werden. Hierfür steht lediglich der klassische Kanon der grammatischen, logischen, historischen und systematischen Auslegung zur Verfügung. Damit wird die Begrenzung der Verfassungsinterpretation bezweckt.
I. Darstellung Forsthoff kritisiert die von ihm abwertend so genannte „geisteswissenschaftlichwerthierarchische Methode"2, die zur Offenheit der Verfassungsnormen führe, und schließt damit an die Kritik des Positivismus an einem wertbezogenen Verfassungsverständnis an3. Demgegenüber besteht er auf der „Gesetzesform der Verfassung", die eine wesentliche Errungenschaft der Rechtsstaatlichkeit sei, auch wenn die Verfassung gegenüber einfachen Gesetzen durchaus Unterschiede aufweise 4. Die Gesetzesform verleihe der Verfassung „Evidenz und Stabilität"5. Seine zentrale These besagt, daß die Verfassung als Gesetz wie ein Gesetz ausgelegt werden 2 Forsthoff, 3
in: FS Schmitt, S. 51, 55.
Zum formellen Rechtsstaatsbegriff bei Forsthoff als Grundlage seiner methodischen Position siehe unten 4. Kap., B. 4 Vgl. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 36 f. (Zitat auf S. 36). 5 Ibid., S. 36.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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müsse6. Demgegenüber lasse die geisteswissenschaftliche, wertbezogene Interpretation dem Interpreten zu viel Freiheit 7. Maßgebliche Auslegungsmethode seien die „alten, bewährten Regeln der juristischen Hermeneutik" im Sinne des von Savigny aufgestellten Methodenkanons8. Deshalb beschränkt Forsthoff die Verfassungsinterpretation auf die grammatische, logische, historische und systematische Auslegung, wobei er diese Reihenfolge für zwingend hält 9 . Daraus läßt sich schließen, daß die Auslegung nach dem Sinn und Zweck der Norm im Verfassungsrecht unzulässig sein soll, soweit sie sich nicht im Rahmen der übrigen Auslegungselemente hält 10 . Gesetzesauslegung ist für Forsthoff stets „die Ermittlung der richtigen Subsumtion im Sinne des syllogistischen Schlusses"11. Durch die „klassische" Auslegung der Verfassung werde diese „in ihrem Sinne erweisbar und in ihrem Vollzug kontrollierbar" 12.
II. Kritik 1 3 1. Die Gesetzesform der Verfassung Unter methodischen Gesichtspunkten hat Böckenförde die von Forsthoff vorgenommene Gleichsetzung von Verfassung und Gesetz kritisiert. Unter Gesetz im Sinne der klassischen Interpretationsregeln versteht Böckenförde nur solche Rechtssätze, die erstens ein „relativ hohes Maß an inhaltlicher Bestimmtheit, Sinn6
Vgl. ibid. Forsthoff will jedoch Unterschiede zwischen Gesetzes- und Verfassungsinterpretation nicht bestreiten. Vgl. ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 37: „Niemand wird noch im Ernst behaupten wollen, daß ein Verfassungsgesetz ebenso ausgelegt werden müßte (oder auch nur könnte) wie ein Gesetz über Fieberthermometer." 7 Vgl. dazu Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 39 f. 8 Ibid., S. 34. Vgl. dazu C. F. v. Savigny, System des heutigen römischen Rechts, Bd. 1, 1840, S. 200 ff. 9 Vgl. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 39 f.; ders., in: FS Schmitt, S. 36,40 f. Zustimmend Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 55 Fn. 196. 10 Vgl. auch Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 256 f. In seinem Mißtrauen gegenüber der teleologischen Auslegung steht Forsthoff dem Originalismus Robert Borks nahe (dazu oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b] bb]), ohne jedoch wie dieser eine historisierende Verfassungsdeutung zu betreiben. 11 Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 41. Gerichte sollen diesen Schluß anhand des konkreten Falles vollziehen, während „die wissenschaftliche Auslegung die zulässigen Möglichkeiten und Grenzen dieses syllogistischen Schlusses zu ermitteln" habe (ibid.). Vgl. aber abschwächend ders., Staat 8 (1969), S. 525. Dazu gleich im Text unter A. II. 2. 12 Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 36.
13 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 56 ff.; Hollerbach, Auflösung der rechtsstaatlichen Verfassung?, AöR 85 (1960), S. 241 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 67 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 87 ff.; Lerche, DVB1. 1961, S. 690 ff.; Ehmke, Wirtschaft und Verfassung, S. 45 ff.; ders., VVDStRL 20 (1963), S. 64; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 122 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1676 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 53, 55 f.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
entschiedenheit und normativ-begrifflicher Durchbildung" aufweisen und die sich zweitens „in einen Kosmos schon bestehender strukturgleicher Regelungen" einfügen 14 . Das Grundgesetz erfülle im Hinblick auf die Grundrechtsnormen keine dieser beiden Voraussetzungen15.
2. Beschränkung aufSavignys Auslegungskanon Auf rein methodischer Ebene ist es nicht ausgeschlossen, Inspiration auch bei Savigny zu suchen. Allerdings bestehen zumindest Zweifel, ob Savigny seine Methode der Gesetzesauslegung gerade für eine geschriebene Verfassung wie das Grundgesetz befürwortet hätte 16 . Wie Forsthoff die vier Elemente der Gesetzesauslegung bei Savigny genau versteht, bleibt offen. Savignys Darstellung im System des heutigen römischen Rechts hält Kriele ebenfalls für dunkel 17 . In Krieles Rekonstruktion haben die vier Elemente zudem einen wesentlich engeren Gehalt, als man ihnen heute üblicherweise beilegt 18 . Zu ihrer Leistungsfähigkeit hält Kriele fest: ,,[F]ast alle entscheidenden Fragen bleiben offen" 19 . Daher löse kein Verfassungsinterpret verfassungsrechtliche Streitfälle allein mit Savignyscher Gesetzesauslegung20. Forsthoffs Hinweis auf Savigny läßt sich daher nur als Appell an den Interpreten auffassen, sich bei der Interpretation der Verfassung ausschließlich auf Wortlaut, Systematik im engeren Sinne und historische Auslegung sowie auf rein logische Argumente zu verlassen. Auch dann ist jedoch keineswegs klar, wie man die genannten Auslegungskriterien im einzelnen verstehen soll und in welchem Verhältnis sie zueinander stehen21. Selbst wenn man sich hier festlegen würde, wäre die Interpretation mit ihnen allein in der Regel nicht zu bewältigen22. Der Grund hierfür ist, daß Wort- und Textsinn sowie Logik, Systematik und das historische Material die Interpretation nur sehr selten determinieren. Bricht man in Fällen mangelnder Determination die Interpretation ab, so entstehen unbefriedigende Ergebnisse, weil die Verfassung dann kaum Inhalt hätte. Im übrigen wäre der Abbruch willkürlich, weil 14
Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 57. 15 Vgl. Böckenförde, ibid., S. 58; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 98. Vgl. aber auch Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 17. 16 Vgl. insb. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 67 ff., 77 ff. (79); Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 59; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 90,92. 17
Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 81. 18 Vgl. ibid., S. 81 ff. 19 Ibid., S. 84. 20 Vgl. ibid., S. 81, und Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 95. 21 Das Problem einer Rangordnung der Auslegungselemente wird hier ausgeklammert. Siehe dazu unten 3. Kap., D. II. 22 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 57, 59.
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der Interpret angesichts des nicht eindeutigen Materials selbst bestimmen kann, wie weit er die Sinnfindung und -Schöpfung vorantreibt und wann er die Auslegung für abgeschlossen erklärt. Will sich der Interpret mit dem Abbruch der Interpretation nicht begnügen, so bleibt nur der Weg in die versteckte Willkür oder Dezision, weil für die Fortsetzung der Interpretation keine Kriterien bereit stehen23. Später hat Forsthoff seine Position dahingehend abgeschwächt, „daß der geistige Prozeß der Auslegung die von Savigny bezeichneten Stadien jedenfalls durchlaufen müsse, ohne damit zu behaupten, daß das Kriterium der Entscheidung notwendig in diesen Stadien gefunden werden müsse."24 Dies wird von Böckenförde als „Resignation" oder zumindest als „Eingeständnis der uneingeholten offenen Flanke der eigenen Position" gewertet 25.
3. Die Fiktion des syllogistischen Schlusses Die beschränkende Wirkung von Forsthoffs Ansatz beruht auf der impliziten Annahme, daß ein Großteil der Interpretation determiniert sei. Diese Prämisse muß mit der modernen Methodenlehre als widerlegt gelten. Im einzelnen greift die Kritik die Vorstellung an, Grundrechtsinterpretation sei ein syllogistischer Schluß, bloße Anwendung der Verfassung, wertneutral durchführbar, weitestgehend unabhängig von der Wirklichkeit und überwiegend berechenbar. (1) Der von Forsthoff behauptete syllogistische Schluß läßt sich als eine juristische „Lebenslüge"26 kritisieren, die den wahren Vorgang der Konkretisierung verdeckt 27 . Voraussetzung für einen logischen Schluß sind Obersätze, als die sich Grundrechte jedoch grundsätzlich nicht begreifen lassen28. Der Obersatz sei der Interpretation nicht ohne weiteres vorgegeben, sondern müsse erst formuliert werden 29 . Die Verfassung sei kein lückenloses, geschlossenes System, aus dem sich formal-logisch deduzieren ließe 30 . Interpretation sei gerade keine Subsumtion31, 23 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 60: „Das Ungenügen der klassischen Auslegungsregeln [ . . . ] schafft eine offene Flanke, die vom Ausgangspunkt der eigenen Position methodisch nicht mehr eingeholt werden kann." 24 Forsthoff, Staat 8 (1969), S. 525. 25 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 60. 26 Begriff bei Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 483, und Hesse, Grundzüge, Rdnr. 76. 27 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 50 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 90 f., 471; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 56. 28 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 90. 29 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 50, 52. 30 Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 55. In diese Richtung zielte die Juristische Methode" des staatsrechtlichen Positivismus, wie ihn Gerber und Laband vertraten. Vgl. dazu etwa Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 84 ff., 87 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 77 ff.
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keine mechanistische, rein logische, unkreative Rechtsanwendung, sondern zwangsläufig ein schöpferischer Vorgang 32. Deshalb dürfe man das Ziel der Auslegung nicht als real präexistent behandeln33. (2) In die Irre führen kann daher auch die Aussage, wonach das Recht vom Gericht lediglich „anzuwenden" sei, wenn damit nicht der Gegensatz zwischen Normermittlung und Normsetzung gemeint ist, sondern eine weitgehende Determination des Interpreten behauptet wird, die im Bereich der Grundrechte ein Ausnahmefall ist 34 . (3) Der mit dem Anschein hoher Objektivität auftretende syllogistische Schluß verdeckt das Vörverständnis des Interpreten 35. Wer rein logisch zu deduzieren vorgibt, legt seine eigenen verfassungstheoretischen, politischen etc. Prämissen nicht oder nur ungenügend offen. (4) Wird die Interpretation in zwei strikt voneinander zu trennende Stadien der „Auslegung des Textes" einerseits und der „Anwendung des Rechts auf die Realität" andererseits aufgespalten, begünstigt dies eine mangelnde Problem- und Wirklichkeitsorientierung, da die Lösung des Problems abstrakt in der Textexegese gesucht wird 36 . Demgegenüber lassen sich die Interpretation der Norm und ihre Anwendung auf den Fall nicht trennen 37. Forsthoff verharre in einem streng dualistischen Verständnis von Recht und Wirklichkeit, da diese „nicht im Verhältnis einer echten korrelativen Zuordnung, einer polar-dialektischen Spannung und Verschränkung" 38, sondern als sich gegenüberstehende, „festgefügte Blöcke" 39 gesehen würden. (5) Forsthoff hält der wertorientierten Verfassungsinterpretation entgegen, daß an die Stelle von voraussagbaren Normen unberechenbare Kasuistik trete und daß die Aufgabe der klassischen Auslegungsmethode zu einem Verlust an Evidenz der Verfassung führe 40 . Diese Evidenz war aber, von Ausnahmen abgese31 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 56; eingehende Kritik am „Subsumtionsideal" bei Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 47 ff. (2. Kap.), 62. Vgl. aber auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 161, der in eingeschränkter Form am Subsumtionsideal festhalten will. 32 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 60. 33 Vgl. ibid., Rdnr. 56, sowie Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 90: „Fragen der Konkretisierung lassen sich nicht durch »Anwendung4 fertiger Vorschriften, präexistenter Willensentscheidungen meistern; auch nicht - von Grenzfällen abgesehen - durch ,Subsumtion4 und syllogistischen Schluß mit Hilfe der Savignysehen canones." 34 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 121: „Zulässige juristische Argumentation, die rechtmäßige juristische Fallösung müssen am Normtext noch zu legitimieren sein. Nicht dagegen sind sie durch den Wortlaut der Rechtsregei positiv determiniert, nicht müssen sie ,aus dem Wortlaut abgeleitet werden können'. Das war die nicht einlösbare Illusion des Gesetzespositivismus." Dabei geht es Müller um den „methodischen Rechtspositivismus, den Positivismus der Normbehandlung" (ibid., Rdnr. 76, Hervorh. weggelassen). 3 5 Dazu allg. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 62 f. 36 Zur Problem- und Fallorientierung der Interpretation Hesse, ibid., Rdnr. 53, 64, 67, 69: „Es gibt keine von konkreten Problemen unabhängige Verfassungsinterpretation" (ibid., Rdnr. 64). Vgl. auch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 471, zum Zerrbild der Norm als „logischer Falle", die zuschnappt, sobald sich ihr ein passender Fall nähert. 37
Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 64. Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 248 (Nachw. weggelassen). 3 9 Ibid., S. 266. 38
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hen, im Hinblick auf die Grundrechte noch nie vorhanden 41. Wie die Diskussion des Originalismus gezeigt hat 42 , führt selbst der Rückzug auf das historisch Gewollte nicht zu einfacher und berechenbarer Inhaltsermittlung. Evident ist allenfalls die Oberfläche des Textes; sich hierauf zu beschränken, ist nur um den Preis einer inhaltlichen Verarmung der Verfassung möglich. Die Offenheit und Weite der Grundrechte sind nicht die Folge einer verfehlten Methodenlehre. Berechenbarkeit der Grundrechtsinterpretation kann es schon wegen der Möglichkeit von Grundrechtskollisionen nicht geben. Für die Rechtssicherheit der Verfassungsrechtsprechung ist man im wesentlichen auf die verfassungsgerichtliche Selbstbindung an die Präjudizien angewiesen, wie sie das BVerfG praktiziert 43.
I I I . Fazit Im Bereich der Grundrechte überzeugt es nicht, Gesetz und Verfassung in methodischer Hinsicht gleichzusetzen, wie Böckenförde zu Recht kritisiert hat. Dennoch sind grammatische, logische, systematische und genetische Auslegung unverzichtbare Bestandteile hermeneutischen Verstehens der Verfassung. Zutreffend bemerkt Stern: „Auch für das Verfassungsrecht gilt zunächst einmal der Kanon der seit C. F. von Savigny entwickelten klassischen Auslegungsmittel/ 444 Forsthoffs methodischer Vorschlag ist jedoch undurchführbar, soweit sich Verfassungsinterpretation mit diesen Auslegungselementen allein nicht bewältigen läßt, was im Bereich der Grundrechtsinterpretation der Regelfall ist. Wird in diesen Fällen die Interpretation nicht abgebrochen, so droht mangels inhaltlicher Maßstäbe verfassungsgerichtliche Dezision. Dies hat schon Böckenförde kritisiert 45 . Die von Forsthoff vertretenen methodischen Prämissen widersprechen den Erkenntnissen der modernen Methodenlehre über den wertenden und schöpferischen Anteil der Interpretation und über die schrittweise Annäherung von Norm und Wirklichkeit. Die unvermeidlichen Wertungen des Verfassungsinterpreten werden durch Forsthoffs Methode nicht kontrolliert. Im Ergebnis trägt daher die „klassische" Auslegungsmethode Forsthoffs trotz gegenteiliger Intention kaum zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation bei 46 .
40 Vgl. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 47, 55. 41 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 258 f. 42 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 43 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 157, 504 ff. 44 Stern, in: FS Kriele, S. 417 (Hervorh. weggelassen). Auch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 475, 480, betont, daß an den vier Auslegungselementen Savignys in einer demokratischen, geschriebenen Rechtsordnung grundsätzlich festzuhalten sei. Larenz, Methodenlehre, S. 363, will die allgemeinen Auslegungsgrundsätze prinzipiell auch auf die Verfassungsinterpretation anwenden. 45 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 60.
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B. Teleologische Auslegung Die teleologische Auslegung ist für sich genommen nur ein Auslegungskriterium, nicht eine Methode. Sie fragt nach dem Sinn und Zweck der Norm 47 , für den sich Anhaltspunkte aus dem Wortlaut, aus der Systematik, der genetischen Auslegung, aber auch aus sonstigen Erwägungen ergeben können. Selbst Kritiker der teleologischen Auslegung gestehen zu, daß sie „eine wesentliche Fragerichtung anzuzeigen" vermag 48. Mit teleologischer Fragestellung lassen sich fallrelevante Topoi aufspüren. So groß die dogmatischen Schwierigkeiten bei der rationalen Bestimmung des maßgeblichen Sinn und Zwecks sind, so unverzichtbar ist sie, wenn man sich nicht in versteckte Dezision flüchten will. Eine Methode der Verfassungsinterpretation, die auf die teleologische Auslegung vollständig verzichten will, ist undurchführbar. Wie sich schon bei Elys repräsentationsoptimierender Deutung der Gleichheitsklausel gezeigt hat 49 , ist die teleologische Auslegung Einfallstor für Verfassungsund Grundrechtstheorie, Vorverständnis und persönliche Uberzeugungen, ohne diese Faktoren zu begrenzen. Daher ist die Kritik 5 0 an ihr nicht überraschend. Hesse moniert, daß die Aufgabe der Interpretation, „das verfassungsmäßig »richtige4 Ergebnis in einem rationalen und kontrollierbaren Verfahren zu finden" und zu begründen, durch sie nicht erfüllt werde 51 : „»Teleologische Interpretation 4 ist kaum mehr als ein Blankett, weil mit der Regel, daß nach dem Sinn eines Rechtssatzes zu fragen ist, nichts für die entscheidende Frage gewonnen ist, wie dieser Sinn zu ermitteln sei. 4 ' 52
Dies gilt umso mehr, als der Zweck der Normen gerade im Verfassungsrecht offen und die Gewichtung konkurrierender Zwecke streitig sein wird. Zur Auswei46 Zugespitzt Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 64, 100, für den Forsthoffs Ansatz kein weiterführender hermeneutischer Beitrag, sondern ein Rückzug „in das Wetterhäuschen des Positivismus44 ist. 47
Mit teleologischer Auslegung sind teilweise auch die Vermeidung von Wertungswidersprüchen, die Erzielung von Sachgerechtigkeit und die Beziehung der Norm auf die Wirklichkeit gemeint. Darüber hinaus kann man zwischen rechtsethischen und rechtspolitischen Zwecken unterscheiden und so an Gerechtigkeit und Zweckmäßigkeit als Zielen des Rechts anknüpfen. Vgl. zum ganzen Larenz, Methodenlehre, S. 333 ff.; Brugger, AöR 119 (1994), S. 27 ff., 34; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 113 ff.; Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 21, 23. Diese Aspekte lassen sich teilweise auch als systematische Auslegung qualifizieren, vgl. Brugger, ibid., S. 24 f. 48
Hesse, Grundzüge, Rdnr. 68. 9 Siehe oben 1. Teil, 2. Kap., B. II. so Vgl. Schlink, Staat 19 (1980), S. 90; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 96, 364; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 169 ff., 221 ff.; implizit auch Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 51; ders., Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 40. 4
51 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 51. 52 Ibid., Rdnr. 57.
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tung interpretatorischer Spielräume trägt weiter bei, daß mit dem Zweck einer Norm womöglich andere Auslegungskriterien überspielt werden können, selbst wenn sie klare Aussagen zum Norminhalt zulassen53. Im Ergebnis vergrößert die teleologische Auslegung die Spielräume des Verfassungsinterpreten erheblich, weil sie die Auswahl und Gewichtung der Ziele und Zwecke von Grundrechtsnormen aus sich heraus nicht zu begrenzen vermag. Dies ändert jedoch nichts daran, daß sie ein unverzichtbarer Bestandteil der Verfassungsinterpretation ist.
C. Topik (Ehmke) I. Darstellung Die Topik 54 , wie sie Ehmke im Jahre 1961 als Methode der Verfassungsinterpretation vorgeschlagen hat 55 , lehnt die Deduktion aus Systemen ab 56 . Statt dessen müsse der Interpret vom Problem ausgehen57 und alle für den Fall relevanten Gesichtspunkte (Topoi) rechtlicher und tatsächlicher Art berücksichtigen und abwägen. In Ehmkes Darstellung wird die fallentscheidende Norm aktiv-problemlösend gebildet und nicht etwa statisch-deduktiv ermittelt 58 . Die klassischen Auslegungselemente verabsolutierten zu Unrecht einzelne Gesichtspunkte59. Allenfalls lieferten sie einen Topoikatalog allgemein, das heißt ohne konkreten Problembezug relevanter Gesichtspunkte, unter denen sich aber keine abstrakte Rangordnung aufstellen lasse60. Angesichts eines freien argumentativen Spiels der Gesichtspunkte fällt für Ehmke die Vorentscheidung in schwierigen Fällen stets durch das verfassungstheoretische Vorverständnis 61. Dieses koppelt er wiederum an den Konsens: 53 Siehe dazu unten 3. Kap., B. III. 4. d), und D. II. 54
Darstellung und Kritik der Topik im Verfassungsrecht bei Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 114 ff.; Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 61 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 112 ff., 118 ff., 129; R. Dreier, Problematik, S. 27 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 124 ff.; Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 24; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 175 f.; Stein, in: AK-GG, Bd. 1, Einl. II, Rdnr. 16. 55 Vgl. Ehmke, Prinzipien der Verfassungsinterpretation, VVDStRL 20 (1963), S. 53 ff., 62, 99, der sich ibid., S. 54 f., auf Viehweg, Topik und Jurisprudenz, 1953, sowie Esser, Grundsatz und Norm in der richterlichen Fortbildung des Privatrechts, 1956, beruft. Dazu Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 131 f. Ausdrücklich topisches Vorgehen auch bei Hesse, Grundzüge, Rdnr. 67,76. 56 57 58 59 60
Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 55. Vgl. ibid., S. 55, 60, 62,99, auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 64. Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 67, 101. Vgl. ibid., S. 60. Vgl. ibid., S. 59, 100.
61 Vgl. ibid., S. 70, 101.
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„Darüber, welches verfassungstheoretische Vorverständnis »richtig' im Sinne von überzeugend ist, entscheidet nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern der Konsens ,aller Vernünftig- und Gerecht-Denkenden'." 62
Die Vernünftig-Denkenden sind für Ehmke „vor allem die Rechtslehrer und die Richter", das heißt herrschende Lehre und ständige Rechtsprechung63. Die Gerecht-Denkenden seien das „ganze Gemeinwesen"; ihnen komme eine „mehr kontrollierend^] Funktion" zu 64 .
II. Vorzüge Der topische Ansatz weist Vorzüge auf, weshalb er auch auf Zustimmung gestoßen ist 65 . Positiv hervorzuheben ist die Problemorientierung der Topik 66 , ihre Ausrichtung auf Sachargumente und die von ihr geforderte Diskursivität der Verfassungsinterpretation, die sich im nachfolgend darzustellenden Ansatz Krieles noch verstärkt und schließlich bei Alexy ihren Höhepunkt erreicht.
I I I . Kritik Gegen Ehmke läßt sich kritisch einwenden, daß der topische Ansatz die Normbindung abschwächt und auf diese Weise die Spielräume des Interpreten ausweitet 67 . Der Primat des Problems wird kritisiert, weil er dazu führe, den Normtext lediglich als einen Topos unter anderen aufzufassen 68. Die Methodik hat bei Ehmke eine reine Hilfsfunktion, weil sie nichts entscheidet, sondern nur zum Auffinden relevanter Topoi dient. Hesse als Vertreter eines topischen Ansatzes sieht die hier entstehende Gefahr einer nur ungenügend begrenzten Verfassungsinterpretation durchaus und will deshalb im Rahmen der Konkretisierung keine „reine" Topik zulassen69. Statt dessen spricht er von „normativ gelenktem und begrenztem, d. h. aber normativ gebundenem ,topischen' Vorgehen" 70. 62 ibid., S. 101. 63 Ibid., S. 71. 64 Ibid., S. 72. Nach Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 129, ist der Konsens nicht als „psychologische Meinungsforschung, sondern im Sinn rationaler Debatte der Einzelergebnisse der Verfassungstheorie" zu verstehen. 65 Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 24 a.E., befürwortet gemäßigte Topik immerhin als „brauchbare Erweiterung der Auslegungscanones". Vgl. auch Stein, in: AK-GG, Bd. 1, Einl. II, Rdnr. 16 m. Fn. 8. 66 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 114 a.E. 67 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 80; Koch/ Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 175 f. 68 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 114; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1675. 69 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 67 Fn. 24, 77 f.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Kritik an der Topik kann sich darüber hinaus auf die Rolle des Konsenses für die Verfassungsinterpretation beziehen. Inwieweit der Konsens die Interpretation begrenzen kann und soll, ist an anderer Stelle zu erörtern 71. Hier genügt es, mit Böckenförde festzuhalten, daß er von der topischen Methode nicht hervorgebracht, sondern vorausgesetzt wird 7 2 . Bei unterschiedlichen Vorverständnissen kann es daher zu einem Dissens über die Auswahl und Gewichtung der Topoi kommen, den die Methode selbst nicht auflösen kann.
IV. Fazit Als Fazit läßt sich festhalten, daß die Kritik an reiner Topik berechtigt ist, weil sie zu große Spielräume für den Interpreten schafft und die Normbindung auflöst. In einem freien Spiel der Argumente lassen sich Grenzen der Verfassungsinterpretation kaum noch aufweisen, auch wenn die Topik den diskursiven Aspekt der Interpretation offener und weiter Grundrechtsnormen im Ansatz zutreffend erfaßt.
D. Theorie der Rechtsgewinnung (Kriele) I. Darstellung Kriele setzt bei der Analyse der „Wirklichkeit der juristischen Praxis" an 73 , um aus ihr Rückschlüsse für die normativ gebotene Art und Weise der Rechtsgewinnung zu ziehen. Daraus folgt wie in der Topik eine starke Problemorientierung seiner Theorie 74 . Am Anfang stehe der Fall und nicht etwa der Gesetzestext, auch wenn das Problem ohne Textbezug nicht richtig gelöst werden könne 75 . Die Rechtserzeugung erfolge in einem doppelten „Hin- und Herwandern des Blikkes" 76 , zum einen zwischen Lebenswirklichkeit und der vom Interpreten versuchsweise am Fall formulierten „Normhypothese" 77 und zum anderen zwischen der 70 Ibid., Rdnr. 67 (Nachw. weggelassen), vgl. auch Rdnr. 76. Als zirkulär kritisiert diese Rückbindung an die Verfassung Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 76 f. 71 Siehe unten 4. Kap., F. 72 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 69. 7 3 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 157 ff. (Zitat auf S. 161). 74 Vgl. ibid. S. 159, 212, 225 f. Auch Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 64, ordnet Kriele dem „Umkreis von Topik und Problemdenken" zu. 75 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 159 f. 76 Vgl. Kriele, ibid., S. 161 m. Fn. 6, 197. Zitat bei Engisch, Logische Studien zur Gesetzesanwendung, S. 14 f. 77 Unter Normhypothese versteht Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 163 f., einen vom Interpreten experimentell formulierten Rechtssatz, der zur Lösung des konkret zu ent20 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Normhypothese und den einschlägigen Sätzen des positiven Rechts78. Neben den verbindlichen Entscheidungen des Verfassungs- und Gesetzgebers erkennt Kriele den Präjudizien eine „präsumtive Verbindlichkeit" zu 7 9 . Bei der Frage, ob eine vom Interpreten entwickelte Normhypothese in das Recht einzuschließen sei, müsse man prüfen, wohin sie führe, das heißt welche rechtspolitischen Folgen sie haben könne 80 . Erforderlich sei eine Einschätzung der über den Einzelfall hinausreichenden Folgen, denn der Jurist entscheide nicht nur über den konkreten Fall, sondern setze eine „einstweilen gültige Norm" 8 1 . Die so bestimmten Folgen seien vom Gericht wie in der verfassungspolitischen Argumentation in einem rationalen Diskurs zu bewerten 82. Dabei sei diejenige Normhypothese zu wählen, die das Allgemeininteresse oder das fundamentalere von mehreren Partikularinteressen am besten berücksichtige 83. Kriele zufolge endet die Argumentation, sobald man sich über das Allgemeininteresse oder - bei Gruppen- und Einzelinteressen - über das eindeutig fundamentalere Interesse klar geworden sei 84 . Diese Einigung beruhe auf der „Macht des Arguments", nicht auf politischem Tauschhandel über Interessen85. Entscheidend ist damit, ob sich die Normhypothese im Einklang mit den verbindlichen Vorgaben in Verfassung und Gesetz und unter Beachtung der Präjudizien durch rechtspolitische, gerechtigkeitsbezogene Folgenabwägung rechtfertigen läßt. Die Methodik hat für Kriele eine zweitrangige Funktion 86 , weil die Gerechtigkeit selbst die Interpretation leite und bestimme87. Halte man eine Beschränkung der vorbehaltlos gewährten Berufswahlfreiheit (vgl. Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG) aufgrund des Allgemeininteresses an der Qualität des Gesundheitswesens für notwenscheidenden Falls aufgestellt wird und dessen Vereinbarkeit mit dem positiven Recht vom Interpreten erst noch ermittelt werden muß. 78 Vgl. dazu Kriele, ibid., S. 197 ff. (Sachverhalt und Rechtsnorm), 203 ff. (Normhypothese und positives Recht), Zusammenfassung auf S. 162 f., 205. Angesichts der produktiven Rolle des Interpreten bei der Aufstellung der Normhypothese gesteht Kriele dem Gesetzgeber kein Rechtsetzungsmonopol, sondern nur eine entsprechende Prärogative (Vorrecht) zu. Vgl. ibid., S. 160,196. 79 Ibid., S. 160 f., 164 ff., 243 ff. Vgl. auch Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 29 ff. so Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 203 f., 208, 214 f., 221. 81 Ibid., S. 203. 82 Für Kriele dominieren rationale Gründe sowohl im politischen Prozeß als auch in der gerichtlichen Praxis, vgl. ibid., S. 177 ff. (194), 195 ff. Zu Einschränkungen der Rationalität im politischen Prozeß, den Kriele hierdurch „korrumpiert" sieht, ibid., S. 186 ff. (Zitat auf S. 186). Im übrigen unterscheiden sich parlamentarische und gerichtliche Rechtserzeugung nur durch die Gesetzes- und Präjudizienbindung. 83 Vgl. ibid., S. 179, 198. Mit der vernunftgeleiteten Argumentation über die „Fundament a l s t " von Interessen besteht eine begriffliche und inhaltliche Parallele zur nichtoriginalistischen Verfassungstheorie. Dazu oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 3. c) dd). 84 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 179, 183. 85 Vgl. ibid., S. 183 f. (Zitat auf S. 184). 86 Vgl. ibid., S. 213, 218, 221, 224; Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 42, 50 a.E. 87 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 225.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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dig, so mache es keinen Unterschied, auf welchem dogmatischen Weg dies geschehe88. Die klassischen Auslegungselemente würden vielfach die eigentlichen Gründe der Entscheidung verschleiern, während Kriele zu den wahren, gerechtigkeitsbezogenen Gründen vordringen möchte89. Kriele spricht von der „sekundären Legitimierung des Ergebnisses am Gesetzestext"90. Jedoch soll es nicht darum gehen, einer frei gefundenen Entscheidung durch den Text nachträgliche Scheinlegitimation zu verleihen 91. Vielmehr seien die Dezisionen des Verfassungsgebers für die richterliche Rechtsgewinnung stets verbindlich 92 . Allerdings seien eindeutige Antworten des positiven Rechts ein Ausnahmefall 93.
II. Vorzüge Positiv zu bewerten ist, daß Krieles Modell der Rechtsgewinnung dazu beigetragen hat, das Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung94 zugunsten eines diskursiven Interpretationsansatzes zu verabschieden, in dem mit der Wichtigkeit der beteiligten Interessen ein zentraler Gesichtspunkt der Interpretation offengelegt wird. Darüber hinaus lenkt sein Ansatz die Aufmerksamkeit des Interpreten zu Recht auf die Folgen einer bestimmten Konkretisierung. Wenn dem Interpreten bei der Konkretisierung von Grundrechtsnormen ein erheblicher Wertungsspielraum zusteht, liegt es nahe, die Folgen der einen oder anderen Normhypothese zu berücksichtigen. Beispielsweise ist es für die Interpretation des Grundrechts aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG von großer Bedeutung, wie sich eine vom Interpreten mehr oder weniger streng gefaßte schutzrechtliche Anforderung auf das ungeborene Leben auswirkt. Für eine folgenorientierte Interpretation spricht auch, daß die Methodik im Bereich der Grundrechte besonders schnell an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit stößt. Einzelne Begriffe wie „Leben", „Meinung" und „Kunst" 95 lassen sich mit der grammatischen, historischen, systematischen Auslegung in Problemfällen nicht hinreichend konkretisieren, während die teleologische Auslegung, wie schon gezeigt96, nicht hinreichend begrenzt erscheint. Auch Grundrechtskollisionen sind mit herkömmlichen methodischen Mitteln nicht zu bewältigen, weil sie eine verhältnismäßige Zuordnung erforderlich machen. 88 Kriele, ibid., S. 218 ff., zählt nicht weniger als 11 verschiedene, in Lit. u. Rspr. vertretene Begründungsmöglichkeiten auf. S9 Vgl. ibid., S. 197. 90 Ibid., S. 196.
91 Vgl. ibid., S. 160. 92 Vgl. ibid., S. 160, 165 f., 209, 212, 226. Die Dezision hat für Kriele die Aufgabe, Kontroversen abzuschneiden, vgl. ibid., S. 191 ff., 202, 209. 93 Vgl. ibid., S. 202. 94 Siehe oben 2. Kap., A. I. und II. 3. 95 Vgl. Art. 2 Abs. 2 S. 1, Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. 96 Siehe oben 2. Kap., B. 20*
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
III. Kritik 9 7 Man hat Kriele vorgeworfen, die methodische Kontrolle der Interpretation zu vernachlässigen98. Schlink kritisiert, daß Kriele „eine Theorie der Rechtsgewinnung ohne Methode der Rechtsgewinnung präsentiert" habe99. Die Frage der Gesetzesbindung werde auf Richterethos und Judiz verlagert 100 . Gegen Krieles ausgeprägten Methodenskeptizismus läßt sich meines Erachtens zweierlei einwenden. Zum einen gibt es entgegen Kriele methodische und dogmatische Wege, die mehr oder weniger als andere überzeugen 101. Auch produzieren nicht alle Wege und Konstruktionen dasselbe Ergebnis. Im Hinblick auf die methodische Begründung eines Ergebnisses mag dem Interpreten ein beträchtlicher Spielraum zustehen; sie ist aber deshalb nicht beliebig. Zum anderen geraten Vorentscheidungen im positiven Recht aus dem Blick, wenn es nur auf das vernunftrechtlich bereits gefundene Ergebnis ankommen soll. Gegenüber der rationalen Folgenabwägung erscheint der Verfassungstext zweitrangig 102 . So wird das positive Verfassungsrecht in den Hintergrund gedrängt 103. Ein weiterer Einwand richtet sich gegen die Folgenabwägung zwischen allgemeinen und fundamentalen Interessen. Bemängelt wird insbesondere, daß Kriele für die Folgendiskussion keine Kriterien zur Verfügung gestellt habe 104 . Gegen die gerechtigkeits- und vernunftorientierte Argumentation läßt sich der Vorwurf des Subjektivismus erheben, wie er auch gegen den US-amerikanischen Non-Originalismus vorgebracht wird 1 0 5 . Dieser Vorwurf besagt im vorliegenden Zusammenhang, daß nach Krieles Ansatz individuell verschiedene subjektive Einschätzungen über Wichtigkeit und Fundamentalität eines Interesses über den Grundrechtsfall 97
Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 64 ff.; Forsthoff, Staat 8 (1969), S. 523 ff.; Schlink, Staat 19 (1980), S. 76 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 132 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 142 ff. Teilweise zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 364 f.; R. Dreier, Problematik, S. 31 f. 98 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 133, 136; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 144. 99 Schlink, Staat 19 (1980), S. 77. Die traditionelle Methodenlehre erhalte „zwar eine dekorative, aber keine instrumentale und damit keine echte Funktion." (ibid., S. 78). 100 Vgl. ibid., S. 79. 101 Problematisch ist z. B. der Versuch, die Schranken aus Art. 2 Abs. 1 GG auf andere Grundrechte zu übertragen, weil damit die im Grundgesetz ausdrücklich angelegte Differenzierung unterlaufen wird. Dazu Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 219 (zu 4.). Ablehnend BVerfGE 30, 173 (192 f.) - Mephisto. Differenzierend Dürig, in: Maunz/Dürig, Grundgesetz, Art. 2 Abs. 1, Rdnr. 12 ff., 72, der eine unmittelbare Übertragung der Schrankentrias ablehnt. i° 2 Dazu kritisch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 136. i° 3 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 66, kritisiert, daß die Verfassung bei Kriele zu einem Topoikatalog herabgestuft werde. 104 Vgl. Schlink, Staat 19 (1980), S. 79, 103. 105 Siehe oben 1. Teil, 1. Kap., D. I. 1.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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entscheiden. Eine derartig unterstrukturierte Folgenabwägung ist auch deshalb bedenklich, weil sie den Blick sofort auf das Ergebnis richtet. Der Durchgriff auf das Ergebnis birgt das Risiko, vom juristischen Diskurs in moralische, politische, religiöse usw. Diskurse zu fallen, was die Befriedungsfunktion des Rechts gefährdet. Zwar hat Kriele später versucht, die vernunftrechtliche Folgenabwägung mit Hilfe von Kriterien zu strukturieren. Zu nennen ist etwa das Argument der „Personnähe", mit dem er zu einer Abstufung der Fundamentalität höchstpersönlicher, politischer und wirtschaftlicher Freiheitsrechte gelangt 106 . Jedoch läßt dieses Kriterium dem Interpreten immer noch beträchtliche Wertungsspielräume, wie die Abstufung zwischen verschiedenen Grundrechten und verschiedenen Grundrechtsträgern vorzunehmen ist. Diese Wertungspielräume sind grundsätzlich hinzunehmen, wenn man davon ausgeht, daß die Grundrechtsinterpretation auf Aussagen zur Wichtigkeit der im einzelnen Fall betroffenen grundrechtlichen Prinzipien nicht verzichten kann 107 . Dabei sollte jedoch im Interesse einer Begrenzung der Interpretation der Zugriff des Verfassungsinterpreten auf unmittelbar gerechtigkeitsbezogene Aussagen so weit wie möglich vermieden werden.
IV. Fazit Krieles Ansatz fördert eine diskursive und folgenorientierte Grundrechtsinterpretation, was einen Fortschritt gegenüber Forsthoffs formal-deduktiver Methode darstellt. Allerdings vergrößert dieser Ansatz zugleich die Wertungsspielräume des Interpreten. Zum einen trägt Kriele durch eine Vernunft- und gerechtigkeitsorientierte Folgenabwägung, die nicht hinreichend strukturiert erscheint, in erheblichem Umfang zur Ausweitung dieser Spielräume bei. Zum anderen weist er der Methodik für die Grundrechtsinterpretation lediglich ein Schattendasein zu. Dadurch verzichtet dieser Ansatz auf einen möglichen Zugewinn an Begrenzung. Welches Maß diese Begrenzung haben kann, ist zwar im methodischen Teil dieser Arbeit noch näher zu untersuchen. Ein umfassender Methodenskeptizismus erscheint jedoch unberechtigt, weil die Art und Weise der methodischen Begründung nicht beliebig ist.
E. Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten (Häberle) I. Darstellung Mit Häberles „offener Gesellschaft der Verfassungsinterpreten" verbindet sich ein pluralistischer, prozeduraler und konsensorientierter Ansatz der Verfassungsin106 Vgl. Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 38, 40 f. 107 Dazu unten 2. Kap., F.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
terpretation 108, der sich mit Böckenförde in folgende Schritte gliedern läßt 1 0 9 : (1) Der Kreis der Verfassungsinterpreten soll unbegrenzt sein. Alle „Staatsorgane, alle öffentlichen Potenzen, alle Bürger und Gruppen" seien in die Verfassungsinterpretation legitimerweise eingeschaltet110. (2) Damit geht eine Entgrenzung des herkömmlichen Interpretationsbegriffes einher. Wer die Norm lebe, interpretiere sie zugleich 111 . Häberle verlangt die Personalisierung, Pluralisierung und radikale Demokratisierung der Verfassungsinterpretation aufgrund der Einbeziehung der Wirklichkeit in den Interpretationsvorgang 112. (3) Verfassung sei verfaßte Wirklichkeit und Öffentlichkeit, daher selbst ein öffentlicher Prozeß 113. Der pluralistischen Öffentlichkeit komme „normierende Kraft" zu 1 1 4 , und zwar nicht nur in den seltenen Momenten der Verfassungsgebung, sondern gerade auch im Verfassungsalltag.
II. Vorzüge Häberle bemerkt zu Recht, daß Verfassungsinterpretation die ganze Gesellschaft angeht und nicht alleinige Sache einer „geschlossenen Gesellschaft" der „,zunftmäßigen' juristischen Verfassungsinterpreten" sein sollte 115 . Mit gutem Grund begreift er Demokratie weder als linearen Prozeß noch ausschließlich als Sache des Wahlaktes116. So kommt der politische Prozeß in seiner ganzen Komplexität in das Blickfeld der Verfassungstheorie. I I I . Kritik Die Kritik 1 1 7 an Häberle soll hier nur im Hinblick auf die Ausweitung der Spielräume für die Verfassungsinterpretation verfolgt werden. Ob der Konsens in sei108 Vgl. Häberle, Die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, JZ 1975, S. 297 ff.; ders., Zeit und Verfassung, ZfP 21 (1974), S. 111 ff.; ders., Verfassungsinterpretation als öffentlicher Prozeß - ein Pluralismuskonzept, in: ders., Verfassung als öffentlicher Prozeß, Berlin 1978, S. 121 ff.. 109 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 66 f. Zum Kritischen Rationalismus Poppers als erkenntnistheoretischem Hintergrund von Häberles Ansatz vgl. ders., JZ 1975, S. 302 Fn. 68; ders., ZfP 21 (1974), S. 132 f. Dazu Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 86 f. ho Häberle, JZ 1975, S. 297. in Vgl. ibid., S. 297. 112 Vgl. ibid., S. 297, 300. 113 Vgl. ibid., S. 301. 114 Ibid., S. 303. Iis Ibid., S. 297. 116 Vgl. ibid., S. 301 f. m. Fn. 68. 117 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 66 ff.; Schlink, Staat 19 (1980), S. 82 ff.; Stern, in: FS Kriele, S. 417; Starck, in: HStR, § 164
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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nem pluralistischen Ansatz eine legitime Rolle spielt, ist an anderer Stelle zu diskutieren 118 . Kritisiert wird, daß die Methodik in Häberles Ansatz keine Rolle spiele 119 . Im Zusammenhang mit der juristischen Verfassungsinterpretation hält Häberle fest: „Interpretationslehren überschätzen immer wieder die Bedeutung des Textes." 120 Für Schlink hat der „konsensualistische Ansatz" damit „die letzte, durch den Text gebildete Fessel abgeworfen." 121 Inwieweit der Text die Interpretation überhaupt zu begrenzen vermag, ist noch eingehend zu untersuchen 122. An dieser Stelle genügt es jedoch festzuhalten, daß Häberle keinerlei Methode anbietet, um interpretatorische Spielräume zu begrenzen. Das BVerfG soll die normierende Kraft der pluralistischen Öffentlichkeit lediglich „öffentlichkeitsaktualisierend" interpretieren 123. Methode im Sinne juristischer Verfassungsinterpretation beschränkt sich bei Häberle darauf, der pluralistischen Öffentlichkeit und Wirklichkeit eine Stimme zu verleihen. Zwar soll die juristische Verfassungsinterpretation dabei als „Filter" wirken, indem die „vielfältigen Formen der Einwirkung verschiedener Beteiligter" kanalisiert und diszipliniert werden 124 . Wie dies geschehen soll und ob die Verfassung dabei noch einen eigenständigen Bedeutungsgehalt behält, bleibt jedoch offen. Böckenförde hat kritisiert, daß Häberles Thesen zur „nahezu vollständigen Auflösung der Verfassung als Norm" führten 125 . Die strukturelle Offenheit der Verfassung bedinge bei Häberle ihre „permanente Unbestimmtheit und Wandlungsfähigkeit", die im Wege der Interpretation nicht mehr einzuholen sei 1 2 6 .
IV. Fazit
Im Ergebnis ist festzuhalten, daß Grenzen der Verfassungsinterpretation in Häberles Ansatz kaum noch wahrnehmbar sind, weshalb die vorliegende Arbeit diesem Ansatz nicht folgen kann. Das Ansinnen dieser Untersuchung, Grenzen der Interpretation und des Verfassungsgerichts aufzuweisen, widerspricht geradezu dem Rdnr. 25; Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 48, der auch auf die Polarität von offener Verfassung und dem Verfassungsverständnis der Rahmenordnung eingeht. Zur „Rahmenordnung" bei Böckenförde siehe unten 4. Kap., C. H8 Siehe unten 4. Kap., F. 119 Vgl. Schlink, Staat 19 (1980), S. 82, für den Methode bei Häberle „einfach abwesend" ist. 120 Häberle, JZ 1975, S. 303. 121 Schlink, Staat 19 (1980), S. 84. 122 Siehe unten 3. Kap., B. 123 Häberle, JZ 1975, S. 303. 124 ibid. 125 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 66. Ähnlich Stern, Staatsrecht III/2, S. 1676: „Nichts ist mehr fixiert, alles ist offen." Vgl. auch Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 25: „Hier wird die Topik vollständig entgrenzt." 126 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 68.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Konzept offener Verfassungsinterpretation, das auf eine Ausweitung des Interpretationsbegriffs wie auch des Kreises der Verfassungsinterpreten zielt und das der Methodik lediglich eine untergeordnete Rolle zuweist.
F. Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechte (Alexy) I. Darstellung 127 Das Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechte, wie es Alexy 1985 in seiner „Theorie der Grundrechte" vorgestellt hat, will die Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG einschließlich der objektiven Grundrechtsfunktionen und das Verfahren der Abwägung im Sinne der verhältnismäßigen Zuordnung kollidierender Grundrechte und Verfassungsprinzipien auf eine tragfähige konstruktive Grundlage stellen. Grundrechtsbestimmungen 128 enthalten nach Alexy zwei verschiedene Arten von Normen, nämlich entweder Regeln oder Prinzipien 129 . Prinzipien definiert er als Optimierungsgebote, weil sie „gebieten, daß etwas in einem relativ auf die rechtlichen und tatsächlichen Möglichkeiten möglichst hohen Maße realisiert wird" 1 3 0 . Kollisionen widerstreitender Prinzipien müssen durch Abwägung aufgelöst werden. Unter Regeln versteht Alexy „Normen, die stets nur entweder erfüllt oder nicht erfüllt werden können" 131 . Regeln finden sich in den abwägungsfrei anwendbaren Festsetzungen im Schutzbereich oder in den Schranken der Grundrechte 132 . Regeln gelten, oder sie gelten nicht, weshalb es eine von den Umständen des Einzelfalls abhängige Mittellösung wie bei der Prinzipienabwägung nicht geben könne 133 . Bei Prinzipien wird der Bereich des rechtlich Möglichen zum einen durch gegenläufige Prinzipien und zum anderen durch Regeln bestimmt 134 . Gegenüber 127 Vgl. zum folgenden Alexy, Theorie der Grundrechte, insb. S. 71 ff.; ders., Theorie der juristischen Argumentation, 1996; ders., Recht, Vernunft, Diskurs, 1995. Zu Verfeinerungen und Fortentwicklungen des Prinzipienmodells Sieckmann, Das System richterlicher Bindungen und Kontrollkompetenzen; ders., Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, 1990; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, 1998. Vgl. auch die Darstellung bei Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 176 ff. ™ Zum Begriff Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 54 ff. (56). ™ Vgl. ibid., S. 72, 77, 122. 130 Ibid., S. 75. Vgl. dazu Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 44, und ders., Regelmodelle und Prinzipienmodelle des Rechtssystems, S. 63 ff. (65), der stärker zwischen Prinzipien als Geboten idealen Sollens und dem Optimierungsgebot als Regel differenziert. Vgl. zu Sieckmann Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 180 ff. 131 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 76. 1 32 Vgl. ibid., S. 106. 1 33 Vgl. ibid., S. 77 f.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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kollidierenden Prinzipien wird das Prinzip in der Abwägung durch verhältnismäßige Zuordnung beschränkt. Die Abwägung sei das Erkennungsmerkmal des Prinzips 135 . Als gegenläufige Prinzipien kommen nach Alexy sowohl Grundrechte als auch kollektive Güter in Betracht 136 . Ein von Alexy verwendetes Beispiel für eine Grundrechtskollision ist die Lebach-Entscheidung des BVerfG 137 . Dort sprach der Schutz der Persönlichkeit (Art. 1 Abs. 1 i.V.m. Art. 2 Abs. 1 GG) für das Verbot einer Fernsehsendung, die die Resozialisierung eines verurteilten Straftäters durch dessen namentliche Nennung gefährdete. Demgegenüber sprach die Freiheit der Berichterstattung durch den Rundfunk (Art. 5 Abs. 1 S. 2 GG) für eine Erlaubnis der Sendung. Als Ergebnis der Abwägung im konkreten Fall entstehe eine bedingte Vörrangrelation zwischen den kollidierenden Prinzipien. Sie gebe die Bedingungen an, unter denen ein Prinzip einem anderen Prinzip vorgehe 138 . Die Abwägung führt also dazu, daß eines der beteiligten Prinzipien beschränkt wird und zurücktreten muß. Das zurücktretende Prinzip wird aber deshalb weder für ungültig noch für verletzt erklärt 139 . Wie man kollidierende Prinzipien im Rahmen der Abwägung gewichte, sei keine Frage ihrer Geltung 140 . Prinzipien sind für Alexy prima facie-Gebote, die er einer Welt des idealen Sollens zuordnet 141 : „Daraus, daß ein Prinzip in einem Fall einschlägig ist, folgt nicht, daß das, was das Prinzip in diesem Fall verlangt, im Ergebnis gilt. Prinzipien stellen Gründe dar, die durch gegenläufige Gründe ausgeräumt werden können. Wie das Verhältnis zwischen Grund und Gegengrund festzusetzen ist, wird durch das Prinzip nicht entschieden."142
Vom grundrechtlichen Prinzip als einem prima facie-Gebot sind definitive grundrechtliche Gebote zu unterscheiden, die erst entstehen, nachdem das Prinzip in der Abwägung mit kollidierenden Prinzipien beschränkt worden ist. In der von Alexy vertretenen Außentheorie, die zwischen dem Recht an sich und dem eingeschränkten Recht unterscheidet, wird so der „überschießende" Gehalt des prima facie-Gebots beschränkt 143.
134 Vgl. ibid., S. 76. 135 Vgl. ibid., S. 100 f. 136 Vgl. ibid., S. 98, 118 f. 137 Vgl. BVerfGE 35, 202. Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 84 ff. 138 Unter die so zugeordnete Grundrechtsnorm mit Regelcharakter könne der Fall subsumiert werden. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79 ff. (81), 84 ff. (87). 139 Vgl. ibid., S. 78 f., 85; auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 192 f. 140 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 79. 141 Vgl. ibid., S. 87 f., 90 ff., 120. 142 ibid., S. 88. 143 Vgl. ibid., S. 249 ff. (253). Dazu ausführlich Borowski, Grundrechte als Prinzipien: Die Unterscheidung von Prima-facie-Position und definitiver Position als fundamentaler Konstruktionsgrundsatz der Grundrechte, 1998.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Grundsätzlich gehen für Alexy die Festsetzungen auf der Regelebene den alternativ möglichen Festsetzungen der Prinzipienebene vor 1 4 4 . Soll im Einzelfall oder in einer Gruppe von Fällen von einer Regel abgewichen werden, sei es erforderlich, eine Ausnahme in die Regel einzufügen 145. Die Ausnahme müsse ihrerseits wieder in Regelform formuliert sein, um den Regelcharakter der von der Ausnahme betroffenen Norm zu erhalten. Die strikte Trennung von Regeln und Prinzipien weicht Alexy jedoch in zweierlei Hinsicht auf, auch wenn er ein reines Prinzipienmodell ablehnt, weil es den Wortlaut der Verfassung nicht ernst nehme 146 . Zum einen besteht die Möglichkeit, anhand eines neues Falles ad hoc eine Ausnahme zur Regel zu bilden. Hierdurch verliert die Regel ihre ursprüngliche Rigidität und nähert sich ein Stück weit dem Prinzip an. Alexy besteht jedoch darauf, daß es wesentlich leichter sei, ein Prinzip durch Abwägung zu überwinden, als eine Regel mit Hilfe einer Ausnahme einzuschränken 147. Zur Überwindung der Regel sei nämlich nicht nur ein gegenläufiges inhaltliches Prinzip erforderlich, dem größeres Gewicht zukommen müsse als dem inhaltlichen Prinzip, das hinter der Regel stehe. Vielmehr müsse zusätzlich noch ein formelles Prinzip überwunden werden, das die Einhaltung von Regeln aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen gebiete 148 . Zum anderen können Regeln und ihre Ausnahmen auf Prinzipien verweisen. Dies sei etwa bei differenzierten Gewährleistungstatbeständen sowie bei Schrankenklauseln der Fall, die verbindliche „Festsetzungen relativ auf die Anforderungen gegenläufiger Prinzipien" enthalten 149 . Bei solchen „unvollständigen" Regeln ist die Anwendungssicherheit der Regel stark abgeschwächt150. Da Grundrechtsbestimmungen Prinzipien und Regeln enthalten, kann man schon insofern von einem Regel-Prinzipien-Modell sprechen. So wird der Begriff in der vorliegenden Arbeit benutzt. Alexy verwendet diese Bezeichnung jedoch enger, wenn er von einem Doppelcharakter der Grundrechtsnorm ausgeht. Dieser kommt erst dadurch zustande, daß in jede Grundrechtsnorm eine „prinzipien- und damit abwägungsbezogene Schrankenklausel" eingefügt wird 1 5 1 . Diese implizite Schranke bestimme als Regel, daß jedes grundrechtliche Prinzip nur so weit geschützt sei, wie nicht gegenläufige Prinzipien nach dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit etwas anderes fordern 152 . Dies gilt unabhängig von den expliziten Festsetzungen, die sich auf der Regelebene zum Schutzbereich und zu den Schranken finden. 144 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 121 f. 145 Vgl. ibid., S. 77, 88 f. 146 Vgl ibid., S. 104 ff., 117. 147 Vgl. ibid., S. 89 f. 148 Vgl. ibid., S. 89, auch S. 76 Fn. 24. 149 ibid., S. 121. 150 Vgl. ibid. 151 Vgl. ibid., S. 122 ff. (Zitat auf S. 123). 152 Vgl. ibid., S. 124.
2. Kap.: Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Alexys „Theorie der Grundrechte" will eine Rekonstruktion der Rechtsprechung des BVerfG auf der Grundlage der analytischen Rechtstheorie mit einer anspruchsvollen normativen Grundrechtstheorie verbinden 153 . Ein wichtiger Bestandteil dieser normativen Theorie ist eine Argumentationslast zugunsten der Prinzipien der rechtlichen Freiheit und der rechtlichen Gleichheit 154 . Eine Argumentationslast führt dazu, daß sich in der Abwägung mangels besserer Gründe zugunsten gegenläufiger Prinzipien bzw. im Zweifel über das richtige Ergebnis das Prinzip durchsetzt, zu dessen Gunsten die Argumentationslast besteht 155 . Dabei stellt sich Alexy ausdrücklich in die Nähe des Grundsatzes „in dubio pro libertate" 156 . Als Argumentationslast, die sich nach Alexy auch als prima facie-Vorrang 157 des betreffenden Prinzips auffassen läßt, lasse der Grundsatz jedoch durchaus Raum für Differenzierung 158. Auch bleibe eine Beschränkung der Freiheit durch überwiegende Gründe möglich, weshalb von einem anarchistischen Freiheitsbegriff keine Rede sein könne 159 . Grundrechtsinterpretation im Regel-Prinzipien-Modell steht bei Alexy auf diskurstheoretischer Grundlage, wobei der juristische Diskurs als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses aufgefaßt wird 1 6 0 .
I I . Vorzüge
Alexys Theorie weist eine Reihe von Vorzügen auf. Dies gilt zunächst für die konstruktiv-dogmatische Ebene. Mit Hilfe des Regel-Prinzipien-Modells gelingt es Alexy, die Grundrechtsinterpretation des BVerfG zu rekonstruieren. Der Prinzipiencharakter kann insbesondere die objektiven Grundrechtsfunktionen erfassen und kohärent deuten 161 . Eine zutreffende Rekonstruktion dieser vielfältigen Wir153 Vgl. ibid., etwa S. 32, 38. Zur analytischen, empirischen und normativen Dimension von (Grundrechts-) Theorien ibid., S. 23 ff. 154 Vgl. ibid., S. 517.
155 Vgl. ibid., S. 89 f. 156 Vgl. ibid., s. 517. Dazu P. Schneider, In dubio pro libertate, in: FS Deutscher Juristentag, Bd. II, S. 263 ff.; ders., VVDStRL 20 (1961), S. 31 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 252 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 157 ff. Ablehnend z. B. Ehmke, Prinzipien, S. 86 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 394. Siehe auch unten 3. Kap., B. III. 4. c) bb). 157 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 517, verwendet beide Bezeichnungen synonym. Der prima facie-Vorrang im Sinne einer Argumentationslast ist vom Prinzip als prima facieGebot zu unterscheiden, weil der prima facie-Vorrang die Abwägung unter Unsicherheit vorentscheidet. iss Vgl. ibid., S. 517. 159 Vgl. ibid., S. 518. 160 Vgl. ibid., S. 498 ff., sowie Alexy, Theorie der juristischen Argumentation. 161 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 395 ff. (9. Kap.), 475 ff. Dies gestehen auch Kritiker zu, vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 21: Der Prinzipiencharakter könne „alle Grundrechtsfunktionen überdachend in sich aufnehmen".
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
kungen ist keine geringe Leistung. Das Verfahren der Abwägung erhält im RegelPrinzipien-Modell zu Recht eine zentrale Stellung, wenn man davon ausgeht, daß sich Grundrechtskollisionen nicht anders bewältigen lassen. Auf diese Frage ist sogleich zurückzukommen 162. Die Fallösung durch verhältnismäßige Zuordnung führt in einen problembezogenen Diskurs über die beste Lösung, in dem auf die Kraft des besseren Arguments vertraut wird. Das offene „Spiel von Grund und Gegengrund" 163 führt zu einem Zugewinn an Transparenz und Rationalität.
I I I . Kritik
Die Kritik an Alexys Theorie ist ein Thema für sich, das in rechtstheoretische und -philosophische Probleme hineinführt, auf die diese verfassungstheoretisch angelegte Arbeit nicht im einzelnen eingehen kann. Hier sollen nur einige wichtige Einwände skizziert werden. Diese betreffen den Prinzipiencharakter der Grundrechte, die Rolle der Methodik, die Bedeutung der Regelebene, die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht, das Verhältnis von BVerfG und Gesetzgeber und schließlich die Abwägung. (1) Der Prinzipiencharakter der Grundrechte ist eine folgenschwere verfassungstheoretische Prämisse, die sich dem Grundgesetz nicht ausdrücklich entnehmen läßt. Der Versuch, den Prinzipiencharakter aus der Abwägung und umgekehrt die Abwägung aus dem Optimierungsgebot der Prinzipien zu begründen, wirkt zirkulär. (2) Die Methodik bleibt in der „Theorie der Grundrechte" ganz im Hintergrund. Dabei ist keineswegs klar, was die Prinzipien des Grundgesetzes sind, welchen Inhalt und welchen Abstraktionsgrad sie haben. Beispielsweise läßt sich fragen, ob Art. 13 Abs. 1 GG nur die Wohnung oder daneben auch die Privatsphäre und deshalb auch Geschäftsräume schützt. Die Problematik erinnert an die Schwierigkeit, den richtigen Abstraktionsgrad des vom Verfassungsgeber gewollten historischen Prinzips zu bestimmen 164 . Zwar kann auch die herkömmliche Methodik diese Frage nicht autoritativ entscheiden. Jedoch besteht bei Alexy eine Tendenz, das Prinzip so abstrakt und so weit wie möglich zu fassen 165. Darüber hinaus ist problematisch, welche Bestimmungen außerhalb der Grundrechte als Sitz eines verfassungsrechtlichen Prinzips anzusehen sind. Läßt man auch Kompetenznormen als Anknüpfungspunkte zu, führt dies zu einer unbestimmten Anzahl abzuwägender Verfassungsprinzipien unbestimmten Inhalts 166 . 162 Siehe unten 2. Kap., F. IV. (1) und V. 163 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 469. 164 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 165 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290 ff. Zur weiten Tatbestandstheorie näher unten 4. Kap., E. 166 Zweifelnd Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 118. Ablehnend Schlink, EuGRZ 1984, S. 464 f.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 250. Ausführlich aus neuester Zeit Winkler, Kol-
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(3) Im Regel-Prinzipien-Modell läßt sich eine Schwächung der Regelebene kritisieren. Diese beruht darauf, daß der Regelvorrang stets überwindbar ist, weil er seinerseits auf abwägungsfähigen Prinzipien beruht und Ausnahmen zur Regel auch ad hoc eingeführt werden können. Die Rigidität der Regelebene mit ihren rechtsstaatlichen Vorzügen der Voraussehbarkeit und Anwendungssicherheit wird dadurch abgeschwächt. Der Prinzipiencharakter der Grundrechte begünstigt zudem die Mißachtung des spezifisch Gesagten. Denn auch vom eindeutigen Textsinn darf abgewichen werden, wenn die dafür sprechenden Gründe nur von hinreichendem Gewicht sind 167 . Schließlich sind ausdrückliche Schranken tendenziell überflüssig, wenn jede Grundrechtsnorm von vornherein der Beschränkung durch kollidierende Prinzipien unterliegt. Die konkrete Formulierung von Schutzbereich und Schranken wird so zu einem bloßen Topos. Im ganzen dominiert bei Alexy der Prinzipiencharakter der Grundrechtsnormen gegenüber der Regelebene so sehr, daß sein Ansatz in die Nähe eines reinen Prinzipienmodells rückt 1 6 8 . (4) Grundrechtliche Optimierungsgebote und die zugunsten der rechtlichen Freiheit bestehende Argumentationslast erscheinen als treibende Kraft für die Ausdehnung von Schutzbereichen, für die Erfindung neuer Grundrechtsdimensionen und allgemein für die verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im Bereich der Grundrechte. Alexys Theorie scheint damit einer aktivistischen Verfassungsinterpretation Vorschub zu leisten. (5) Die auf Optimierung angelegte und in diesem Sinne lückenschließende Tendenz der Prinzipien bewirkt eine hohe Verrechtlichung des Verfassungslebens, die den politischen Gestaltungsspielraum der Legislative einengt. Aufgrund des Prinzipiencharakters der Grundrechtsnormen und deren objektiver Dimension gibt es schließlich keine gesellschaftliche Frage mehr, die verfassungsrechtlich irrelevant wäre. Es besteht eine Tendenz nicht zum rechtsstaatlichen, wohl aber zum prinzipienorientierten „Verfassungsvollzug" 169, weil für alle gesellschaftlichen Lebensbereiche Verfassungsprinzipien bereitstehen und stets genau eine von Verfassungs wegen richtige Lösung ermittelt werden kann. Auf diese Weise geht der Prinzipiencharakter der Grundrechte mit einer Ausweitung verfassungsgerichtlicher Kompetenzen einher.
lisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, insb. S. 53 ff., 90 ff., 107 ff., zusammenfassend S. 383 f., der zu Recht meint, daß die bloße Nennung im Grundgesetz nicht ausreiche, um ein Verfassungsprinzip zu begründen. Es wäre daher nicht überzeugend, jede Kompetenznorm zum Sitz eines Verfassungsprinzips zu machen. 167 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 116, erstreckt den Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG auf gewerbliche Räume und beruft sich dabei auf ein ,,Prinzi[p] des Schutzes des räumlichen Bereichs der individuellen Persönlichkeitsentfaltung". 168 Alexy, ibid., S. 117, vertritt demgegenüber den Anspruch einer gelungenen Synthese aus Regel- und Prinzipienmodell. 169 Dazu kritisch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 68 ff., 70 ff., 76 ff. Zum rechtsstaatlichen Verfassungsvollzug Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 36; C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
(6) Von der Kritik am Verfahren der Abwägung war schon im ersten Kapitel die Rede 170 . Dort wurde festgehalten, daß die Abwägung zur Einengung des Gesetzgebers beiträgt, wenn dieser auf eine bestimmte Lösung festgelegt wird, die das BVerfG für verhältnismäßig hält. Darüber hinaus wird die Abwägung als Dezisionismus kritisiert, da sie notwendig subjektiv sowie methodisch und dogmatisch nicht kontrollierbar sei 1 7 1 . Auch wird die Kritik an einem wertbezogenen Verfassungsverständnis und an einer Wertrangordnung als Voraussetzung rationaler Abwägung auf Alexy erstreckt 172. Noch weiter ausgreifend kann man die Rationalität der juristischen Argumentation und die zugrundeliegenden diskurstheoretischen Prämissen bezweifeln, auf denen Alexys Theorie aufbaut 173 . Das Regel-Prinzipien-Modell scheint damit die aktivistische Grundrechtsrechtsprechung des BVerfG, wie sie oben als Gegenstand der Kritik dargestellt wurde 1 7 4 , verfassungstheoretisch abzusichern. Zugespitzt könnte man sagen, daß dieses Modell die Mißachtung der Wortlautgrenze erleichtert, die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht vorantreibt, zu einer Einengung der Spielräume des Gesetzgebers beiträgt und subjektivistische Züge aufweist. Aus der Sicht der Kritik stellt das Regel-Prinzipien-Modell einen entscheidenden Schritt zu einer Ausweitung interpretatorischer Spielräume dar.
IV. Verteidigung Gegen eine Reihe der gerade genannten Kritikpunkte am Regel-Prinzipien-Modell hat sich Alexy schon in der „Theorie der Grundrechte" verteidigt. Im folgenden ist auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte, die dagegen gerichtete Wertkritik und die Kritik am Verfahren der Abwägung einzugehen. (1) Der Prinzipiencharakter der Grundrechte läßt sich zwar nicht zwingend beweisen, wohl aber überzeugend begründen. Für ihn spricht vor allem, daß ein reines Regelmodell der Grundrechte nicht angemessen durchführbar ist 1 7 5 . Nach Alexy kann die Grundrechtsinterpretation nicht auf Abwägungen verzichten, wenn sie sinnvolle Ergebnisse erzielen will. Löse man Grundrechtskollisionen wie einen reinen Regelkonflikt 176 , so müsse man nach dem Alles-oder-Nichts-Prinzip zugunsten der einen oder anderen Regel entscheiden. Dann wären vorbehaltlose Grund170 Siehe oben 1. Kap., C. III. 2. und IV. 171 Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, S. 461 f.; ähnlich Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 133. 172 Siehe oben l.Kap.,C.IV. 173 Vgl. z. B. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 212 ff., 280 ff. m. w. Nachw. Siehe ferner oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 1. a). 174 Siehe oben 1. Kap., C. I. - IV. 175 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 106 ff., 117. 176 Dazu A l e x y , ibid., S. 77 f.
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rechte in keiner Weise beschränkbar, obwohl dieses Ergebnis von niemandem gewollt sei 1 7 7 . Wie weit vorbehaltlose Grundrechte durch kollidierende Grundrechte Dritter und durch Verfassungsprinzipien eingeschränkt werden dürfen, könne man nur im Wege der Abwägung ermitteln. Auch ungeschriebene, immanente Tatbestandsbegrenzungen und Schranken seien letztlich auf Abwägungen angewiesen, die das Gewicht des Grundrechts einerseits und das Gewicht der Begrenzung bzw. Schranke andererseits zueinander ins Verhältnis setzten178. Angeblich abwägungsfreie Kriterien würden lediglich das Ergebnis besonders eindeutiger Abwägungen in Form eines Präferenzsatzes formulieren. In Zweifelsfällen müsse jedoch erneut abgewogen werden, indem auf die hinter dem Präferenzsatz stehenden widerstreitenden Prinzipien zurückgegriffen werde 179 . Umgekehrt würden Grundrechte unter einfachem Gesetzesvorbehalt bis zur Grenze des absoluten Wesensgehalts leerlaufen, wenn man sie als abwägungsfreie Regeln auffasse 180. Will man hier Mittellösungen zulassen, ist man nach Alexy auf Abwägungen angewiesen. (2) Die Verwandtschaft von Wert und Prinzip hat Alexy selbst betont 181 . Sie führt dazu, daß ein Teil der Wertkritik auch die Prinzipientheorie trifft. Gegen diese Kritik lasse sich das Prinzipienmodell jedoch erfolgreich verteidigen. Alexy bezeichnet die Prinzipientheorie als eine „von fragwürdigen ontologischen und epistemologischen Annahmen gereinigt[e] Werttheorie" 182 . Es gehe nicht um metaphysische Spekulation über apriorische oder außerrechtliche Werte, sondern um die Prinzipien des Grundgesetzes. Die abzuwägenden Prinzipien würden nicht in einem irrationalen Verfahren, nämlich durch intuitionistische „Wertschau oder Evidenzerlebnis" entdeckt, wie dies bei älteren Werttheorien der Fall war 1 8 3 . Sie seien statt dessen Bewertungskriterien, deren Geltung im Diskurs begründet werden müsse 184 . (3) Die Abwägung läßt sich auch dann als ein rationales Verfahren auffassen, wenn sie keine eindeutigen Ergebnisse produziert 185 . Eine objektive „Messung" des „Gewichts" des betroffenen Prinzips kann es zwar richtigerweise nicht geben 1 8 6 . Doch geht es andererseits nicht um subjektive Bevorzugung des einen oder anderen Prinzips, sondern um eine strukturierte Begründung, wie sie Alexy mit 177 178 179 180
Vgl. Vgl. Vgl. Vgl
ibid., ibid., ibid., ibid.,
S. 107. S. 107 ff. S. 110,113. S. 112 f.
181 Vgl. ibid., S. 125. Zum Unterschied zwischen Prinzipien und Werten ibid., S. 133 f. 182 Ibid., S. 137. 183 Vgl. ibid., S. 136 f. (Zitat S. 136). Zu den Werttheorien Max Schelers und Nicolai Hartmanns Böckenförde, Zur Kritik der Wertbegründung des Rechts, ARSP Beih. 37 (1990), S. 33 ff. 184 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 130 f., 137. 185 Vgl. zum folgenden ibid., S. 143 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 199 ff. 186 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 149.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
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dem sog. Abwägungsgesetz fordert. Danach „hängt das zulässige Maß der Nichterfüllung oder Beeinträchtigung des einen Prinzips vom Wichtigkeitsgrad der Erfüllung des anderen ab." 1 8 7 Hiernach muß der Beeinträchtigungs- und Wichtigkeitsgrad des jeweiligen Prinzips rational begründet werden 188 . Damit wird die Abwägung so weit wie möglich in einen rationalen Diskurs über die konkreten Folgen und deren verfassungsrechtliche Bewertung eingebettet189. Es bleibt der Einwand, daß auf der letzten Stufe der Fallentscheidung doch subjektive Einschätzungen zur Wichtigkeit oder Fundamentalität den Ausschlag geben, wodurch das individuelle Vorverständnis über den Fall mitentscheidet. Immerhin werden aber im Rahmen der Abwägung die für den konkreten Fall entscheidenden Gründe offengelegt. Dies führt zu hoher Transparenz. Gegner der Abwägung müssen die in jedem Fall erforderlichen Abwägungen versteckt vornehmen. Im übrigen bestreitet Alexy nicht, daß die Abwägung in besonderem Maße auf Wertungen angewiesen sei, ohne diese kontrollieren zu können 190 . Er spricht von der Abwägung als einem offenen Verfahren, das nicht „in jedem Fall zu genau einer Lösung führt" 1 9 1 . Soweit hier eine „beträchtliche Rationalitätslücke" verbleibt, wird diese durch den grundrechtlichen Diskurs geschlossen192. Angesichts der Offenheit dieses Diskurses ist letztlich eine autoritative Entscheidung des BVerfG notwendig 193 . Diese Entscheidung sei aber angesichts der Rationalität juristischer Argumentation nicht mit einer irrationalen Dezision gleichzusetzen194. Entgegen der zumeist älteren Wertkritik 195 setzt Abwägung keine abstrakte Rangordnung der grundrechtlichen Prinzipien oder Werte voraus und ist auch ohne diese rational zu bewältigen 196 . Prinzipien ermöglichen durch Abwägung komparative Werturteile 197 . Dabei geht es nicht um abstrakte, sondern um bedingte, das heißt fallbezogene Vorrangrelationen. Abwägung sei „alles andere als ein abstraktes oder pauschales Verfahren" 198 . Alexy versucht im übrigen selbst nachzuweisen, daß eine „harte" Rangordnung grundrechtlicher Prinzipien unmöglich ist 1 9 9 . 187 Ibid., S. 146. 188 Vgl. ibid., S. 150. 189 Vgl. ibid., S. 144 f., 154, auch 498 ff. Von der Topik unterscheidet sich die Prinzipientheorie nach Alexy, ibid., S. 516, dadurch, daß Prinzipien nicht beliebig herangezogen werden dürften. Anders als ein Topos sei ein einschlägiges Prinzip immer zu berücksichtigen und ggfs. abzuwägen. 190
So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 494. 191 Ibid., S. 494, vgl. auch S. 143. 192 Vgl. ibid., S. 520 m. Zitat. 193 Vgl. ibid., S. 521. 194 Vgl .ibid., S. 151, 500 f. 195 Vgl. C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff.; Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 38, 51 f., 55; Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Demokratie, Verfassung, S. 132 f.; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 38 ff. 196 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138 ff., 142. 197 Vgl. ibid., S. 128 f., 132.
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V. Fazit
Einem Teil der unter III. vorgetragenen Kritik am Regel-Prinzipien-Modell läßt sich die Berechtigung nicht absprechen. Es bleibt dabei, daß die Methodik nur von geringer Bedeutung ist und die Regelebene verhältnismäßig leicht überspielt werden kann. Grundrechtliche Optimierungsgebote und die Argumentationslast zugunsten der rechtlichen Freiheit bewirken einen konstanten Drang zur Rechtsfortbildung, deren zulässige Reichweite bei Alexy offen bleibt. Aus dem Prinzipiencharakter und insbesondere aus der objektiven Dimension der Grundrechte folgt ein erheblicher Machtzuwachs für das BVerfG, der zulasten des Gesetzgebers geht. Die verbliebenen Kritikpunkte führen dazu, daß im Regel-Prinzipien-Modell keine fest umrissenen Grenzen der Grundrechtsinterpretation oder der Verfassungsgerichtsbarkeit wahrzunehmen sind. Zu einem wesentlichen Teil scheinen diese Grenzen allein in der weitgehend ergebnisoffenen Rationalität des juristischen Diskurses zu liegen. Keiner dieser berechtigten Einwände zwingt jedoch dazu, das Regel-PrinzipienModell als solches aufzugeben. Im Gegenteil scheint es zu diesem Modell als Strukturtheorie derzeit keine Alternative zu geben, die die Abwägung und die objektiven Grundrechtsfunktionen auf eine gleichermaßen überzeugende konstruktive Grundlage stellt. Daß sich im Regel-Prinzipien-Modell objektive Grundrechtsfunktionen überzeugend rekonstruieren lassen, wird unten am Beispiel der grundrechtlichen Schutzrechte näher erläutert werden 200 . Im übrigen stellt Alexys Theorie mit Hilfe des Prinzipiencharakters der Grundrechte die rechtstheoretischen Voraussetzungen für eine rationale Abwägung im Verfassungsrecht her. Die vorliegende Arbeit schließt sich der von Alexy vertretenen Auffassung an, wonach Abwägungen im Sinne von verhältnismäßiger Zuordnung für die Grundrechtsinterpretation von zentraler Bedeutung und für eine angemessene Interpretation unverzichtbar sind. Entscheidend hierfür ist die Überlegung, daß die Zuordnung verfassungsrechtlicher Prinzipien nicht im Wege des Alles-oder-Nichts erfolgen darf. Die Grenzen der Freiheit des einzelnen gegenüber den Grundrechten anderer und gegenüber verfassungsrechtlich geschützten Gemeinschaftsinteressen sind durch die Verfassung nicht starr festgelegt. Das übergreifende Prinzip in diesem flexiblen Gefüge der zwei- und mehrstelligen Relationen ist der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit, der gleichbedeutend mit dem Grundsatz praktischer Konkordanz ist und der auf die materielle Einheit der Verfassung abzielt 201 . Durch ihn wird die Interpretation auf ausgleichende Lösungen verpflichtet. 198 Ibid., S. 151. 199 Das ist hier nicht im einzelnen nachzuvollziehen. Vgl. dazu Alexy, ibid., S. 138 ff. (142), der nur eine „weiche" Ordnung mit Hilfe von Argumentationslasten für möglich hält, vgl. ibid., S. 142 f. 200 Siehe unten, 5. Kap., C. III. 4. und 5. 201 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 71 f., und auf Hesse Bezug nehmend Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 152 Fn. 152 mit Text. 21 Riecken
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Damit steht man vor der nicht einfachen Aufgabe, Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit innerhalb des Regel-PrinzipienModells zu verwirklichen. Mögliche Ansatzpunkte ergeben sich aus der bislang nicht widerlegten Kritik. Zu klären ist daher, inwieweit die Methodik oder einzelne Auslegungselemente die Interpretation überhaupt begrenzen können. Dazu sind im dritten Kapitel insbesondere die Wortlautgrenze und die genetische Auslegung zu untersuchen. Im gleichen Kapitel wird auch den methodischen und verfassungstheoretischen Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht nachgegangen. Ferner soll aus verfassungstheoretischer Sicht eine mögliche Stärkung der Regelebene erörtert werden. Hierauf ist im vierten Kapitel im Zusammenhang mit der engen Tatbestandstheorie zurückzukommen. Schließlich sind im fünften Kapitel funktionell-rechtliche Spielräume des Gesetzgebers in den Blick zu nehmen.
G. Schlußfolgerung zu den Grenzen der Verfassungsinterpretation Will man die in diesem Kapitel diskutierten Theorien im Hinblick auf die Begrenzung der Verfassungsinterpretation bewerten, so kann als Ausgangspunkt Bökkenfördes These aus dem Jahr 1976 dienen, der unter anderem zu den Ansätzen von Forsthoff, Ehmke, Kriele und Häberle festhielt: „Alle behandelten Interpretationsmethoden tragen im Ergebnis [ . . . ] zum Abbau der Normativität der Verfassung bei." 2 0 2 Die inhaltliche Unbestimmtheit der Verfassungsnormen werde durch sie noch erweitert und verstärkt 203 . Zutreffend ist daran, daß die teleologische Auslegung, die topische Methode, die vernunftorientierte Folgenabwägung, das Konzept einer offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten und auch das Regel-Prinzipien-Modell die zulässige Reichweite der Interpretation und der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht nicht klar erkennen lassen. Soweit diese Ansätze letztlich auf Konsens, Vernunft oder den rationalen Diskurs rekurrieren, trägt dies nicht zu einer klaren Grenzziehung bei. Deshalb läßt sich bei diesen Ansätzen eine beträchtliche Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation feststellen. Auch Forsthoffs „klassische" Methode vermag die Interpretation trotz gegenteiliger Intention nicht wirklich zu begrenzen. Von einem „Abbau" der Grenzen kann man bei diesen Ansätzen jedoch nur sprechen, wenn und soweit die Ausweitung der Spielräume des Verfassungsinterpreten nicht unvermeidbar ist, sondern vielmehr im Interesse der verfassungstheoretischen Ziele der jeweiligen Theorie in Kauf genommen wird. Wie zu Forsthoff festgehalten, läßt sich ein Mangel an methodischer Determination und Subsumtionsfähigkeit im Bereich der offenen und weiten Grundrechte nicht vermeiden. In202
Böckenförde, 03 Vgl. ibid.
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Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 80.
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soweit kann man den Ansätzen von Ehmke, Kriele, Häberle und Alexy nicht vorwerfen, daß sie Wertungsspielräume des Interpreten nachweisen. Die moderne Methodenlehre setzt sich von einem Modell formaler, ausschließlich regelgeleiteter „Anwendung" des Rechts nach dem Vorbild logischer Subsumtion ab. Die Auseinandersetzung mit der „Subsumtionsideologie" und der Vorstellung quasi-mechanistischer Rechtsanwendung scheint inzwischen ausgefochten zu sein 204 . Grundrechte lassen sich nicht ausschließlich als Regeln auffassen. Eine Selbstbeschränkung der Interpretation auf den durch Wortlaut, Entstehungsgeschichte und Textzusammenhang determinierten Bereich ist als normativ ungenügend anzusehen. Da der determinierte Bereich transzendiert werden muß, ist eine umfassende Begrenzung der Interpretation, die Wertungsspielräume des Interpreten im wesentlichen ausschließt, nicht möglich. Insoweit kann es auch nicht darum gehen, den „Abbau" der so gar nicht vorhandenen Normativität der Verfassung rückgängig zu machen. Man kann allerdings fragen, ob und inwieweit die Grenzen der Verfassungsinterpretation im nicht determinierten Bereich enger gefaßt werden können, als das bei den in diesem Kapitel behandelten Autoren der Fall ist. Als Gemeinsamkeit hat sich bei Ehmke, Kriele, Häberle und Alexy herausgestellt, daß sie der herkömmlichen Methodik ein Schattendasein zuweisen. Dies provoziert die Frage, inwieweit die Interpretation überhaupt an methodische Grenzen gebunden werden kann. Als eigentliche Herausforderung erscheint heutzutage die skeptizistische Sicht, wonach eine methodische Begrenzung der Interpretation undurchführbar sei. Ein Skeptiker wird zugeben, daß die Interpretation nicht völlig beliebig sei und daß der Verfassung nicht jeglicher Inhalt zugewiesen werden könne. Gleichwohl wird er darauf bestehen, daß diese letzte Grenze angesichts der unvermeidlichen Wertungsspielräume des Interpreten praktisch irrelevant sei. Das folgende dritte Kapitel wird darum insbesondere am Beispiel der Wortlautgrenze und der genetischen Auslegung der Frage nachgehen, inwieweit die Methodik eine den Verfassungsinterpreten begrenzende Wirkung entfalten kann. Soweit sich Ehmke, Kriele, Häberle und Alexy im Ausnahmefall selbst über das eindeutig Gesagte und Gewollte hinwegsetzen wollen, ist die damit verbundene Ausweitung der interpretatorischen Spielräume offenbar nicht zwingend vorgegeben. Vielmehr wird sie in Kauf genommen; sie mag sogar gewollt sein. Auch die Entscheidung zugunsten der objektiven Dimension der Grundrechte, die mit einer erheblichen Ausweitung der interpretatorischen Spielräume verbunden ist, ist durch die Verfassung nicht einfach vorgegeben. Insoweit kann man zu Recht von einem „Abbau" der Grenzen der Verfassungsinterpretation sprechen. Allerdings lassen sich für diese Ausweitung interpretatorischer Wertungsspielräume bestimmte verfassungstheoretische Ziele anführen. Geht man zum Beispiel davon aus, daß die objektive Dimension der Grundrechte der Optimierung von Freiheit und Gleichheit dient 205 , so gibt es inhaltliche Gründe für den mit der Vermehrung 204 Siehe auch oben 2. Kap., A. II. 3. 205 Siehe näher unten 4. Kap., C. II. 4.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
der Grundrechtsfunktionen verbundenen „Abbau" der Grenzen, der dann nicht einseitig als Verlust an Normativität beklagt werden darf. Normativität darf aus dieser Sicht nicht auf die positivistischen Leitwerte Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Voraussagbarkeit verkürzt werden. Welches Gewicht die Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit in einer Verfassungstheorie haben sollten, ist eine Frage, die unterschiedliche Antworten zuläßt. Es wäre deshalb eine unzulässige Verkürzung, wenn man die in diesem Kapitel behandelten Ansätze lediglich anhand des einen Kriteriums bewerten würde, inwieweit sie Spielräume des Interpreten zulassen bzw. begrenzen. Im Hinblick auf die Grenzproblematik ist damit nur ein vorläufiges Fazit möglich. Alle hier behandelten Ansätze tragen zur Ausweitung von interpretatorischen Spielräumen bei. Insoweit ist Böckenfördes Kritik zuzustimmen. Jedoch sind Spielräume des Interpreten ein Stück weit unvermeidlich, weil die Interpretation durch die Verfassung nicht determiniert wird. Dies will Böckenförde auch sicherlich nicht bestreiten. Inwieweit der bei Ehmke, Kriele, Häberle und Alexy nachweisbare Methodenskeptizismus berechtigt ist, muß das folgende dritte Kapitel klären, das methodische Grenzen der Verfassungsinterpretation behandelt. Soweit die in diesem Kapitel behandelten Ansätze aus verfassungstheoretischen Gründen die Grenzen der Verfassungsinterpretation ausweiten, läßt sich die Diskussion am besten fortführen, indem man den Blick auf mögliche Alternativen richtet und zu diesem Zweck restriktive verfassungstheoretische Gegenentwürfe untersucht. Dies wird im vierten Kapitel unternommen, dessen Thema die verfassungstheoretischen Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit sind.
Drittes Kapitel
Methodische Grenzen der Verfassungsinterpretation Nach einer Vorbemerkung zum Verhältnis von Methode und Verfassungstheorie (A.) sind als Elemente methodischer Begrenzung die sog. „Wortlautgrenze" (B.) und die genetische Auslegung zu behandeln (C.). Darüber hinaus ist der Ansatz Friedrich Müllers zu untersuchen, der sich in besonderem Maße für eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch Methodik eingesetzt hat (D.). Schließlich ist auf mögliche Grenzen der Rechtsfortbildung einzugehen, wobei der methodische Kontext nur einen Aspekt dieses Problems darstellt (E.).
A. Vorbemerkung Grundsätzlich gilt auch für die Verfassungsinterpretation: „Die Regeln der juristischen Methode sind Kunstregeln" 1. Soweit jedoch methodische Regeln auf verfassungsrechtliche Gebote zurückgeführt werden können, verlieren sie diesen unverbindlichen Charakter. Daß das Grundgesetz über die maßgebliche Methode der Verfassungsinterpretation schweigt, heißt nicht, daß die Methodenwahl beliebig wäre. Es gilt, die Methode zu finden, die mit den Wert- und Strukturentscheidungen des Grundgesetzes am besten in Einklang steht. Das Demokratie- und Rechtsstaatsprinzip wie auch die Grundrechte sind allerdings weit davon entfernt, die Methodenwahl zu determinieren. Deshalb lassen sich methodische Fragen kaum unter Berufung auf positives Verfassungsrecht entscheiden. Es verwundert nach allem nicht, daß es auch in Deutschland keine allgemein anerkannte Methode der Verfassungsinterpretation gibt, obwohl sich die Diskussion verglichen mit den USA durch geringere Polarisierung auszeichnet2. Das vorliegende Kapitel konzentriert sich auf methodische Fragen der Grenzproblematik. Dennoch kommt die Verfassungstheorie in zweierlei Funktion zur Sprache. Zum einen liefert sie die Anleitung und Rechtfertigung für methodische Weichenstellungen. Zum anderen ist die Verfassungsinterpretation auf sie zurück1 Roellecke, in: HStR, § 53 Rdnr. 28; ähnlich Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 304: „[Methodologische Verfahren [sind] als rechtspraktische und rechtswissenschaftliche Kunstregeln nicht normativ". 2 Dazu unten 3. Kap., C., vor I.
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verwiesen, sobald der methodische Kontext für die Fallösung nicht ausreicht. Davon abgesehen besteht zwischen Methode und Verfassungstheorie stets ein untrennbarer „wechselseitiger Zusammenhang"3. Die Wechselbezüglichkeit entspringt letztlich dem hermeneutischen Zirkel, womit die „konstitutiv[e] Bedeutung des Vorverständnisses für den Verstehensprozeß" gemeint ist 4 . Die Verfassungstheorie, die die „richtige" Methode auswählen soll, muß ihrerseits mit einer „vorläufigen Methode" gewonnen werden. Umgekehrt spielt schon bei der bloßen Lektüre der Verfassung das jeweilige Vorverständnis eine Rolle. Eine „methodenreine" Verfassungstheorie kann es daher ebensowenig wie ein „unbefangenes" Studium der Verfassung geben, das von verfassungstheoretischem Vorverständnis frei wäre. Wechselbezüglichkeit von Theorie und Methode bedeutet freilich nicht Gleichrangigkeit. Letztlich entscheiden Verfassungs(vor)verständnis und Verfassungstheorie darüber, welcher Methode man folgt. Denn inhaltliche Fragen hinsichtlich der Auswahl und des Gewichts methodischer Elemente, worunter insbesondere der Normtext, der Wille des Normgebers, die Systematik und der Sinn und Zweck der Norm zu verstehen sind, können nur im Rahmen eines verfassungstheoretischen Diskurses abgewogen und entschieden werden. Dies ist unabhängig davon, ob man Theorie nur zur „Begründung des Vor-Verständnisses" verwenden will 5 oder ob man in ihr den primären Ausgangs- und Bezugspunkt der Interpretation sieht6. Es besteht also ein Primat der Verfassungstheorie über die Methodenlehre. Zugespitzt, aber im Kern zutreffend formuliert Ralf Dreier: „Welche Auslegungstheorie man wählt, hängt davon ab, welche Rechts- und Staatsphilosophie man hat." 7 Diese Einsicht hat sich anhand der Untersuchung von Elys Theorie ein weiteres Mal bestätigt, da Elys verfassungstheoretische Position von seiner Methode der Verfassungsinterpretation reflektiert wird 8 . Wenn man also methodische Fragen nicht vom verfassungstheoretischen Kontext abkoppeln darf, so schließt dies doch eine Abschichtung nicht aus, wie sie im folgenden versucht wird. Für den Versuch, die Verfassungsinterpretation mit methodischen Mitteln zu begrenzen, sprechen folgende Gründe: (1) Rationale Methodik verspricht rechtsstaatliche Verfassungsbindung, die wiederum ein Gebot des geltenden Verfassungsrechts ist 9 . Inwieweit dieses Versprechen eingelöst werden kann, wird anhand der Wortlautgrenze und der genetischen Auslegung untersucht. (2) Auch wenn man die Grenzproblematik an die Verfassungstheorie überweist, stellt dies keine einfache Lösung in Aussicht. Ralf Dreier bezeichnete es schon 3
Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 82. Kritisch Schlink, Staat 19 (1980), S. 96 f. 4 R. Dreier, Problematik, S. 29 f., 42 f. (Zitat auf S. 29). 5 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 63 (Zitat), 65. 6
So Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 62 ff. 7 R. Dreier, Problematik, S. 25. 8 Siehe oben 1. Teil, 2. Kap., B. 9 Vgl. Art. 20 Abs. 3 GG. Siehe dazu oben 1. Kap., A. I.
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1976 als „das zentrale Dilemma der Verfassungsinterpretation", daß „einerseits die unaufhebbare Verwiesenheit der Verfassungsinterpretation auf eine materiale Verfassungstheorie und folgeweise auf eine materiale Staats- und Gesellschaftstheorie immer offenkundiger wird und andererseits ebenso offensichtlich ist, daß es eine konsensfahige Theorie dieser Art zur Zeit nicht gibt." 1 0 (3) Juristische Interpretation ist in ihrer praktischen Funktionsweise und in ihrem Erkenntnisinteresse von allen anderen Interpretationsarten unterscheidbar 11. Auch wenn sich die juristische Methodenlehre sprachphilosophischen, rechtslinguistischen und rechtssoziologischen Erkenntnissen öffnen muß, geht sie in diesen Feldern nicht auf. Insofern stellt sie einen genuin juristischen Beitrag zur Grenzproblematik dar.
B. Wort- und Textbedeutung als Grenzen der Verfassungsinterpretation Eine geschriebene Verfassung zwingt dazu, die Interpretation mit sprachlicher Sinnerfassung zu beginnen12. Nur am Rande soll es im folgenden um die schwache Bindung an die Verfassung gehen, die sich daraus ergibt, daß die Interpretation den Text der Verfassung überhaupt zu berücksichtigen hat. Die grammatische Auslegung, die diese Bindung methodisch umsetzt, wird vom BVerfG 13 und in der Lehre einhellig anerkannt 14. Ihr Ziel ist die Ermittlung des möglichen Wort- und Textsinns15. Auf diese Weise entfaltet der Text eine unverzichtbare und unbestrittene Leitwirkung für die Interpretation 16. Hier soll vielmehr die Frage im Mittelpunkt stehen, ob der Text der Verfassung auch eine starke Bindung vermitteln kann und ggfs. soll, wie es die Rede von der „Wortlautgrenze" der Interpretation suggeriert. 10 R. Dreier, Problematik, S. 40. 11 Die Unterschiede beruhen vor allem auf dem Fallbezug juristischer Interpretation und darauf, daß es um die Interpretation von Sollensgeboten geht. Literaturwissenschaftliche Interpretation und historische Quellenexegese sind weder zur Fallösung verpflichtet noch haben sie mit Normtexten zu tun. Am ehesten lassen sich Parallelen zur theologischen Interpretation ziehen. 12 Vgl. auch Larenz, Methodenlehre, S. 321 (Auslegung des Wortsinns setze den Prozeß des Verstehens im hermeneutischen Zirkel in Gang). Vgl. allg. Hilf, Die sprachliche Struktur der Verfassung, in: HStR, § 161, S. 79 ff., sowie Isensee, Staat im Wort. Sprache als Element des Verfassungsstaates, S. 571 ff. 13 Vgl. BVerfGE 11, 126 (130). 14 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 166, 188 ff.; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 39 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 351, 354 ff., insb. 358; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 501 ff. 15 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 322; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 39 f. 16 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 324; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 308, 480, der von „Indizwirkung" spricht. Vgl. auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 191, mit der zutreffenden Feststellung, daß sprachliche Unbestimmtheit zumeist nicht Gehaltlosigkeit sei.
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Soweit die Arbeit diese Bezeichnung verwendet, ist stets die begrenzende Funktion der Wort- oder Textbedeutung für die Interpretation gemeint. Dabei sind zwei Probleme strikt voneinander zu unterscheiden. Zum einen ist zu klären, ob es die Grenzfunktion in sprachlicher Hinsicht überhaupt gibt. Dies ist Voraussetzung dafür, sie aus verfassungsrechtlichen Gründen als Grenze der Interpretation einzufordern oder sie auch nur für die Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung 17 heranzuziehen. Zum anderen ist fraglich, ob und inwieweit eine sprachlich vorhandene Grenzfunktion aus verfassungsrechtlichen und -theoretischen Gründen als Grenze der Interpretation anerkannt werden sollte.
I. Eindeutigkeit der Sprache als Ausnahmefall Nach allgemeiner Auffassung ist sprachliche Determination ein Ausnahmefall. Die Uneindeutigkeit der Sprache zeigt sich schon im praktischen Umgang mit der grammatischen Auslegung. Lexika enthalten in der Regel mehrere anerkannte Gebrauchsweisen ein- und desselben Wortes 18. Außerdem stößt die grammatische Auslegung auf verschiedene Sprachebenen. In Frage kommen zumindest der alltägliche, ein allgemein juristischer sowie ein speziell verfassungsrechtlicher Sprachgebrauch 19. Darüber hinaus kann man auf den heutigen oder den historischen Sprachgebrauch abstellen. Welche Ebene maßgeblich ist, kann die grammatische Auslegung nicht entscheiden20. Diese Wahlmöglichkeiten verhindern bereits unabhängig von sprachphilosophischen Gründen einen eindeutigen Wortsinn, was die herkömmliche Methodenlehre auch durchaus zur Kenntnis nimmt 21 . Für Larenz führen die „Flexibilität, der Nuancenreichtum und die Anpassungsfähigkeit der allgemeinen Sprache" dazu, daß sich aus dem Sprachgebrauch allein kein eindeutiger Wortsinn ergibt 22 . Koch/Rüßmann unterscheiden Mehrdeutigkeit, Vagheit, Porosität und Inkonsistenz, um verschiedene Phänomene fehlender Eindeutigkeit von Sprache zu beschreiben23. Für Zippelius läßt der Wortlaut „gewöhnlich einen Spielraum möglicher Wortbedeutungen offen", den er als „Bedeutungsspielraum" bezeichnet24. Nochmals betont sei, daß keine der angesprochenen Auffassungen die Eindeutigkeit von Sprache als Regelfall behauptet 25 . Dies ist der Grund dafür, daß die grammatische Auslegung im Regelfall nicht 17 Siehe unten 3. Kap., E. I. (1). 18
Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 40. 19 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 320 ff., 324; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 166; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 105. 20 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 358,480. 21 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 166, 189. 22 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 320 f. (Zitat auf S. 320). 23 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 150 (zu Porosität), 191 ff. (zu Mehrdeutigkeit und Inkonsistenz), 194 ff. (zu Vagheit). 24 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43.
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„die" Bedeutung, sondern nur den möglichen Wort- oder Textsinn bzw. das „Bedeutungspotential"26 ermitteln kann. Nur im Ausnahmefall sprachlicher Determination (Bestimmtheit, Eindeutigkeit) genügt also die grammatische Auslegung für die Konkretisierung, falls zusätzlich der Fall entsprechend einfach strukturiert ist 27 . In aller Regel kann man allein aus der grammatischen Auslegung die vollständig konkretisierte Norm noch nicht entwickeln. Es bedarf weiterer interpretativer Schritte der systematischen, historischen und teleologischen Auslegung, bis die Norm bzw. das „Normprogramm" hinreichend konkrete Gestalt erhält 28 . Soweit diese zusätzlichen Auslegungselemente bereits in das Sprachverständnis einfließen, ist eine Beschränkung auf die grammatische Auslegung aus sprachlicher Sicht undurchführbar. Wenn Sprache im Regelfall nicht eindeutig ist, bedeutet dies, daß eine umfassende Bindung richterlicher Gewalt auf Sprache allein nicht gestützt werden kann. Da die grammatische Auslegung aus sich heraus nicht zu erkennen gibt, inwieweit sie überhaupt eine Grenzfunktion trägt, muß von der methodischen auf die sprachphilosophische Ebene gewechselt werden. Die folgenden Ausführungen beschränken sich auf einige juristische Beiträge zur Wortlautgrenze aus neuerer Zeit. Für eine eingehende Diskussion der sprachphilosophischen Grundlagen ist auf die reichlich vorhandene monografische Spezialliteratur zu verweisen 29. Für die grammatische Auslegung muß eine Analyse der Gebrauchsweisen, der Verwendung(en) eines Wortes oder Textes den Dreh- und Angelpunkt bilden 30 . Für diese sog. Gebrauchstheorie der Bedeutung, die an die pragmatische Sprachphilosophie des späten Wittgenstein anschließt, darf die Bedeutung eines Wortes weder 25
Daher ist die Kritik Fr. Müllers, Juristische Methodik, Rdnr. 166 f., wonach die vorherrschende Sprachauffassung der Juristen von bestimmten Begriffen ausgehe, m.E. überzogen. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 237 f. m. Fn. 47 (nachf. Zitat auf S. 238), beanstandet zu Recht, daß die Strukturierende Rechtslehre der herkömmlichen Lehre eine „bouche-de-la-loi-Mentalität" unterstelle, die nicht mehr vertreten werde. 2
Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 244. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 265, weist darauf hin, daß man das Muster der Bundesflagge nach Art. 22 GG nur durch Rückgriff auf den Kontext bestimmen könne. Selbst diese einfache Norm läßt sich also allein mit Hilfe des Textes nicht verstehen. Vgl. zu diesem Bsp. auch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 354; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 104 f., 107. 27
2 « Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 308,480; Larenz, Methodenlehre, S. 320 f.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 110; H.-P. Schneider, Richterrecht, S. 20. 29 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, 1995; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, 1988; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, 1982; Sang-Don Yi, Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung, 1992; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979; Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982. Einführungen in die Sprachphilosophie z. B. bei Prechtl, Sprachphilosophie, 1999; und Franz v. Kutschera, Sprachphilosophie, 1993. 30 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 358; insoweit auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 189: Intensionsbestimmung „grundsätzlich nur über den »Umweg4 einer Extensionsermittlung".
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abstrakt definiert noch intuitiv erfaßt werden. Bedeutung kommt den Worten nach dieser Theorie nur im Gebrauch zu. Die Bedeutung hängt damit vom konkreten Kontext des sprachlichen und außersprachlichen Sprecherverhaltens ab 31 . Allen in der Rechtstheorie und Methodenlehre gegenwärtig vertretenen Ansätzen ist gemeinsam, daß sie sich gegenüber einer Gegenstandstheorie der Bedeutung absetzen, derzufolge in begriffsrealistischer oder -naturalistischer Spielart „ein natürlicher Zusammenhang zwischen einem sprachlichen Zeichen und seiner Bedeutung bestehen soll" 32 . Auf Ablehnung stößt auch die platonische Lehre, die Bedeutungen als ideale, unwandelbare Entitäten versteht 33. Wenn Normtexte keine Gedanken repräsentieren, ist es aus sprachlichen Gründen verfehlt, den Normtext als Stellvertreter für die eine wahre Bedeutung des Wortes bzw. der Verfassung zu behandeln34. In der Methodenliteratur hat besonders nachdrücklich Friedrich Müller die Existenz einer vorfindlichen, objektiven Aussage des Normtextes bestritten 35: „Die normative Anweisung ist nicht im Normtext substantiell »vorhanden' oder »enthalten*; diese These gehört zu den irrigen Glaubenssätzen des Gesetzespositivismus. Juristische Begriffe können sowenig wie andere ihre Aussagen verdinglichen. Sie können nur auf ihre Gebrauchsweise hin untersucht werden; sie haben Zeichenwert." 36
In sprachlicher Hinsicht besteht das Problem der Wortlautgrenze darin zu sagen, wieviel Bedeutungssicherheit es unter diesen uneindeutigen Bedingungen von Sprache überhaupt noch geben kann.
II. Sprachliche Bedingungen der Wortlautgrenze Wenn man mit der „Wortlautgrenze" die Grenzen der möglichen Bedeutung untersuchen will, muß man zunächst fragen, wodurch Worten Bedeutung verliehen wird. Dabei lassen sich als Ansatzpunkte grob vereinfachend Intention, Konvention und Gebrauch unterscheiden. Der Gebrauch der Sprache spielt vor allem in den pragmatischen Ansätzen eine zentrale Rolle. Aber auch Intention und Konvention bedürfen einer Manifestation im Gebrauch, um bedeutungsverleihend wirken zu können. Umgekehrt können auch pragmatische Ansätze davon ausgehen, daß im Gebrauch Konventionen über die richtige Verwendung der Sprache festgesetzt werden. Schließlich kann die Intention des Sprechers in seiner historischen Lage 31 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 52 ff., 193 f., 241, 289; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 38 ff. Kritisch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 136 ff. 32 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 133 ff., 159 mit Zitat (Hervorh. weggelassen), 163. Vgl. zum frühen Wittgenstein Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 22 ff. 33 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 53 m. Fn. 196, 289. 34 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 190. 35 Vgl. Fr Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 471,483,494, 505 f. 36 Ibid., Rdnr. 480.
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ein wichtiges Element im pragmatischen Kontext eines Sprachgebrauchs sein. Die drei genannten Ansatzpunkte schließen sich also gegenseitig nicht zwangsläufig aus. Je nach Gewichtung gelangt man zu unterschiedlichen Schlußfolgerungen hinsichtlich der Grenzfunktion des Normtextes, die durch den (noch) möglichen Wortund Textsinn gebildet wird. Auf den Intentionalismus als Grenze der Interpretation ist im Zusammenhang mit der genetischen Auslegung zurückzukommen 37. Auf stärker konventionaler Grundlage hält die herkömmliche Methodenlehre das Konzept der Wortlautgrenze für funktionsfähig (1.), während die im Vordringen befindliche pragmatische Sicht die Wortlautgrenze im wesentlichen ablehnt (2.).
1. Herkömmliche Lehre a) Larenz' Methodenlehre Larenz faßt den möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung auf 38 . Unter ihn falle alles, „was nach dem allgemeinen oder dem jeweils als maßgeblich zu erachtenden Sprachgebrauch dieses Gesetzgebers [ . . . ] noch als mit diesem Ausdruck gemeint verstanden werden kann." 39 Offenbar faßt Larenz den möglichen Wortsinn nicht als definierbar auf, da er auf den Sprachgebrauch abstellt40. Die Grenzfunktion wird also nicht auf eine dem Normtext kraft sprachlicher Eigenart innewohnende Grenze und Bedeutung bezogen. Allerdings kann auch der bloße Sprachgebrauch die Grenzfunktion nicht allein tragen. Der empirisch belegbare Nichtgebrauch einer bestimmten Sprachverwendung (zum Beispiel des Zeichens „Mann" für eine Frau) zeigt in weniger klaren Fällen noch nicht, ob diese Verwendung bloß unbekannt ist (neuer Fall, neue Verwendungsmöglichkeit) oder unzulässig (falsche Verwendung). Die Unzulässigkeit einer bestimmten Verwendungsweise kann nur eine Konvention oder das Sprachverständnis erweisen, nicht der bloße empirische Nichtgebrauch. In diese Richtung scheint auch Larenz zu tendieren, wenn er seiner Position folgende Erläuterung hinzufügt: „Daß eine bestimmte Bedeutung nach dem allgemeinen Sprachgebrauch nicht mit diesem Ausdruck verbunden werden kann, ist für jeden Sprachkundigen ohne weiteres einsehbar, ohne daß es dafür einer exakten Begriffsbestimmung bedürfte. Damit kann von Fall zu Fall festgestellt werden, ob eine bestimmte Deutung die Grenze der möglichen Wortbedeutung überschreitet oder nicht." 41
37 Siehe unten 3. Kap., C. II. 38 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 322 ff., 343, der jedoch Analogie und Rechtsfortbildung über den Wortlaut hinaus unter bestimmten Voraussetzungen für zulässig hält, vgl. ibid., S. 322 f., 366 ff. 39 Ibid., S. 322, vgl. auch S. 343. 40 Vgl. ibid., S. 322 Fn. 19 a, wo für die Anwendung der Wortlautgrenze auf eine „exaktfe] Begriffsbestimmung" verzichtet wird. 41 Ibid., S. 322 Fn. 19 a.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Entscheidendes Kriterium ist damit offenbar das Sprachverständnis des Interpreten als „native speaker". Die Testfrage des Interpreten müßte lauten, ob eine bestimmte Verwendung des Wortes X nach dem Sprachverständnis ausgeschlossen ist. Auf der Grundlage einer „typologisch verstandenen Unterscheidung" hält es Larenz in den „weitaus meisten Fällen" für möglich, anhand des Sprachgebrauchs den möglichen vom unmöglichen Wortsinn abzugrenzen42. Dabei beschränkt er die Funktion der Wortlautgrenze nicht auf eindeutige Fälle. Als Beispiel nennt er jedoch nur den Bedeutungsunterschied von „Mann" und „Frau" 43 . Ob dagegen die Abgrenzung in problematischen Fällen wirklich gelingt, bleibt bei Larenz offen.
b) Semantischer Konventionalismus (Koch / Rüßmann) Koch und Rüßmann gehen davon aus, daß sich die Wort- und Textbedeutung auf sprachliche Konventionen stütze, deren Inhalt vom Interpreten ermittelt werden könne 44 . Die Grenzfunktion hat in diesem Ansatz eine vergleichsweise große Bedeutung. Sie läßt sich einigermaßen zuverlässig feststellen und leistet relativ großen Widerstand gegenüber „Verschiebungen" und Veränderungen der Bedeutung durch neuen Sprachgebrauch und Zweifel in der Sprachgemeinschaft. Auf diesen Ansatz haben sich zum Beispiel Larenz und Alexy bezogen45. Koch/Rüßmann begreifen den Wortsinn als die „durch geltende sprachliche Konventionen fixiert[e]" 46 Bedeutung eines sprachlichen Zeichens. Diese Bedeutung lasse sich grundsätzlich ermitteln, indem man beispielsweise für die Feststellung des allgemeinen Sprachgebrauchs auf Wörterbücher oder die eigene Sprachkompetenz zurückgreife 47. Was das Verhältnis von sprachlichen Zeichen, ihrer Bedeutung und den Objekten, die von dieser Bedeutung erfaßt werden, angeht, berufen sich Koch/Rüßmann auf Rudolf Carnap und die Figur des semiotischen Dreiecks 48. Für jedes sprachliche Zeichen könne eine Intensión (= Begriff, Bedeu42
Ibid., S. 322 f. Zur Typenlehre Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 65 ff. Kritisch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 72 f.; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 253 Fn. 90. 43 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 323; vgl. auch Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 236 Anm. 81 c). Vgl. andererseits Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 38 f. 44 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 126 ff., 158 ff., 163, 188 ff. Vgl. auch Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 40, 43 f. 4 5 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 320 Fn. 17; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 502 Fn. 103. Vgl. auch Ebsen, Selbstregulierung, S. 40 f. m. Fn. 108; Schlink, Staat 19 (1980), S. 100 f. 46 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 166. Vgl. zum Begriff der Konvention ibid., S. 159 ff., 163. Kennzeichen der Konvention ist, daß sie eine soziale Norm schafft, deren Nichtbefolgung durch gesellschaftlichen Tadel (z. B. Kopfschütteln) sanktioniert wird. Kritisch Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 84 ff. 47 4
Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 188 ff., 190 f. « Vgl. ibid., S. 128 ff.
3. Kap.: Methodische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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tung) ermittelt werden, die durch Eigenschaften (bzw. Begriffsmerkmale) diejenigen Gegenstände im Sinne der Extension bestimme, auf die das sprachliche Zeichen anwendbar sei 49 . Die Begriffsmerkmale gewinnen Koch/Riißmann induktiv aus der Extension, das heißt aus - zweifelsfreien - Gebrauchsbeispielen, womit der Sprachgebrauch zur Grundlage der Bedeutungsermittlung wird 5 0 . Sprachgebrauch und Sprachkonvention sind nicht identisch, da der Konvention wie einer sozialen Norm Regelcharakter zukommt; dennoch kann von einem herrschenden Sprachgebrauch auf das Bestehen einer Konvention geschlossen werden. Auch wenn der semantische Konventionalismus am Gebrauch der Sprache anknüpft, ist er dennoch kein pragmatischer Ansatz, von dem sich Koch/Rüßmann abzugrenzen versuchen 51. Der Unterschied zur Pragmatik zeigt sich daran, daß die konventionsgestützten Sprachregeln ein Stück weit vom tatsächlichen Sprachgebrauch abgelöst werden. Der ermittelte Bedeutungsumfang ist nicht einfach die Summe der bereits bekannten Kontextbedeutungen eines Wortes, sondern hat Erkenntniswert auch für zukünftige Fälle, da die Intension den Charakter einer (wenn auch vorläufigen, wandelbaren) Definition aufweist. Damit lassen sich - unabhängig vom konkreten Gebrauch und Kontext - zulässige von unzulässigen Bedeutungen abgrenzen. Koch/Rüßmann unterscheiden bei der Ermittlung möglicher Bedeutungen vager Begriffe zwischen positiven, neutralen und negativen Kandidaten52. (1) Gegenstände, die die Eigenschaften der Intension unzweifelhaft erfüllen, fallen als positive Kandidaten unter das Zeichen und bilden dessen Extension53. (2) Negative Kandidaten erfüllen eine hinreichende Bedingung, die es jedenfalls ausschließt, sie als Extension des Zeichens anzusehen54. Voraussetzung ist eine Konvention, die diesen Gebrauch ausschließt. (3) Neutrale Kandidaten erfüllen keine hinreichende Bedingung, die es erlaubt, sie entweder als positive oder als negative Kandidaten einzuordnen 55. Sie werden daher mittels weiterer Auslegungselemente den positiven oder negativen Kandidaten zugeordnet, wobei dies keine Ermittlung, sondern Festsetzung des Sprachsinns sei 56 . 49 Vgl. ibid., S. 129 f. so Vgl. ibid., S. 189 f.; Bsp. auf S. 128 f.: Der BGH (vgl. JZ 1961, 494 ff.) hatte zu entscheiden, ob eine mit Glasbausteinen gefüllte Maueröffnung ein Fenster ist. Kommt man anhand von Gebrauchsbeispielen zu dem Ergebnis, daß das entscheidende Begriffsmerkmal eines Fensters die Lichtdurchlässigkeit, nicht aber die Offnungsmöglichkeit, Durchsichtigkeit und Geräuschdämmung ist, so bilden Glasbausteine in Maueröffnungen eine Extension des Zeichens „Fenster". Kritisch aus pragmatischer Sicht Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 245 ff. 51
52 53 54 55 56
Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 151 ff. Vgl. ibid., S. 195. Vgl. ibid. Vgl. ibid., S. 195, 197. Vgl. ibid., S. 194 f., 199. Vgl. ibid., S. 200.
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Man darf die Wortlautgrenze nach dieser Ansicht nicht zwischen positiven und neutralen Kandidaten ziehen, weil man damit die Sprache auf dem Stand der bereits anerkannten Anwendungsfälle fixieren würde. Der neutrale Kandidat ist dadurch gekennzeichnet, daß sprachliche Konventionen gegen den beabsichtigten Gebrauch noch nicht oder nicht mehr existieren. Es besteht also aus konventionaler Sicht kein sprachlich zwingender Grund, neutrale Kandidaten aus dem möglichen Wortsinn auszuschließen57. Die Wortlautgrenze kann deshalb nur zwischen neutralen und negativen Kandidaten liegen. Damit hat die Wortlautgrenze selbst nach dieser optimistischen Auffassung einen begrenzten Anwendungsbereich, weil sich ihre Ausschlußwirkung auf negative Kandidaten beschränkt. Darüber hinaus darf bei positiven Kandidaten die Erfüllung des Tatbestandes nicht bestritten werden. Die relative Unergiebigkeit der grammatischen Auslegung in vielen verfassungsgerichtlichen Streitfällen legt nahe, daß sehr häufig neutrale Kandidaten im Streit sind, für die die Grenzwirkung folgenlos bleibt. Dennoch scheinen Koch/Rüßmann ihr Modell der Bedeutungsermittlung grundsätzlich für funktionstüchtig zu halten 58 . Denn im Regelfall soll es möglich sein, anhand der Intension eine Entscheidung für oder gegen den neuen Anwendungsfall zu treffen. Koch / Rüßmann gehen also offenbar davon aus, daß sich die Wortlautgrenze als Grenze der Interpretation einigermaßen sicher festlegen läßt.
c) Kritik Die Darstellung der Kritik kann hier kurz gefaßt werden, weil sich die sogleich darzustellende Gegenansicht zu einem wichtigen Teil als Kritik an der herkömmlichen Lehre präsentiert. Gegen Koch/Rüßmann ist von Vertretern der Strukturierenden Rechtslehre eingewandt worden, daß im Bereich der Intension intuitive Vorentscheidungen über die Wortbedeutungen erfolgten, die nachträglich als ermittelte Eigenschaften deklariert würden 59 . Das Modell funktioniere nur im Rahmen einer Ideal- oder Kunstsprache60. Indem ein Begriffskern eindeutiger Ergebnisse angenommen werde, halte man das „begriffsjuristische Paradigma" des Positivismus aufrecht 61. Positive und negative Kandidaten ließen sich demgegenüber nie klar vom Vagheitsbereich trennen 62. 57 Vgl. Koch/Rüßmann, ibid., S. 200 m. nachf. Zitat, die das „Postulat vom möglichen Wortsinn als Grenze der Auslegung" so formulieren: „Nach der Feststellung des Wortsinns darf bei vagen Begriffen die Auslegung mit Hilfe der anderen juristischen Auslegungsregeln nurmehr die neutralen Kandidaten betreffen; diese dürfen den positiven oder negativen zugeordnet werden." 58 Vgl ibid., S. 188 ff. (191). 59 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 75. 60 Vgl. ibid., S. 76.
61 Ibid. 62 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 184, 213; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 223.
3. Kap.: Methodische Grenzen der Verfassungsinterpretation
2. Im Vordringen
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befindliche Lehre
Die Wortlautgrenze wird von einer im Vordringen befindlichen Lehre kritisiert. Aus der Kritik 6 3 seien hier die Strukturierende Rechtslehre (a]) sowie eine Reihe von Kritikern aus der Wittgenstein-Rezeption herausgegriffen (b]).
a) Strukturierende Rechtslehre (Fr. Müller, Christensen) Friedrich Müller und ihm folgende Vertreter der Strukturierenden Rechtslehre 64 sehen in der Möglichkeit der pragmatischen Bedeutungsverschiebung nicht eine randläufige Unsicherheit, sondern den Kern des Problems im Umgang mit Sprache. Sprache ist danach durch und durch unbestimmt, es gibt nach dieser Auffassung keinen sicheren Bereich der Bedeutung, den man ermitteln könnte. Selbst die einfachste Anwendung eines Wortes auf einen Fall stelle die Regel in Frage, die in jedem Fall erneut durch eine Entscheidung bestätigt werden müsse65. Zwar sei der Gebrauch von Sprache nicht beliebig, da ein Normtext stets in Kontexte eingebunden sei 66 . Auch könne eine Rechtsnorm durch das Ergebnis der grammatischen Auslegung determiniert sein. Diese Bestimmungswirkung spielt aber praktisch keine Rolle, weil sie nur auf Termin- und Fristenbestimmungen bezogen und auch dann nur in besonders einfachen Fällen bejaht wird 6 7 . Im übrigen gebe es keine sprachinternen Fixpunkte, an die man für die Ermittlung der Wortlautgrenze anknüpfen könnte, die deshalb für Müller konsequenterweise eine sprachexterne Grenze ist: „Die »Wortlautgrenze' ist überhaupt keine, die durch die Sprache selbst vorgegeben wäre. In der Sprache tragen Wörter und Sätze keine Grenzen mit sich herum." 68 63 Vgl. auch Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, 1982; Wank, Die juristische Begriffsbildung, 1985, S. 23 ff., 31 ff.; Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, 1979; Sang-Don Yi, Wortlautgrenze, Intersubjektivität und Kontexteinbettung, 1992; Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, S. 270 (Nr. 46 ff.); Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 221 ff. (223). 64 Zu dieser Schule werden Dietrich Busse, Ralph Christensen, Bernd Jeand'Heur, Michael Sokolowski und Rainer Wimmer gezählt. Nachw. zum umfangreichen Schrifttum dieser Autoren erschließen sich über die Bibliographie von Fr. Müllers „Juristischer Methodik". Vgl. z. B. Busse, Juristische Semantik, 1993; ders., Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Fr. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff. Überblick bei Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 203 ff. 65 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 184. 66 Vgl. ibid., Rdnr. 182, 211. Zur entsprechenden Problematik der Sprach- und Literaturtheorie vgl. ibid., Rdnr. 339 ff. Nach Müller geht weder die pragmatische noch die dekonstruktivistische Texttheorie noch Umberto Ecos Konzept der „intentio operis" von einem objektiven, feststehenden und ermittelbaren Sinn des Textes aus. Andererseits meine nur die Pragmatik, daß die Textbedeutung beliebig zuweisbar sei.
67 Vgl. ibid., Rdnr. 308 f. 68 Ibid., Rdnr. 533.
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Die Wortlautgrenze werde der Interpretation von außen mit Gewalt aufgezwungen 69 . Ein auf die Grenzfunktion des Wortlauts gestütztes verfassungsgerichtliches Urteil halte den Diskurs an, obwohl sich rein sprachlich betrachtet der Diskurs als das Spiel von Argument und Gegenargument nicht anhalten lasse. Denn jeder Text werde durch andere Texte in einen unablässigen, unabbrechbaren Semantisierungsvorgang hineingezogen. Die semantischen Kämpfe ließen sich auch durch verfassungsgerichtliches Urteil nicht beenden, weil sich der Diskurs außerhalb des konkreten Verfahrens durch Rezensionen, Kommentare, usw. fortsetze 70. Neben Müller hat insbesondere auch Christensen die Vorstellung zurückgewiesen, man könne den möglichen Wortsinn empirisch bestimmen71. Es gelte, sich vom Konzept einer Wortlautgrenze zu verabschieden, „bei der dem Normtext eine vorgegeben begrenzende Kraft sei es naturhaft mit der Sprache, sei es sozial durch ,den' Sprachgebrauch, sei es autoritär durch die Expertise der Sprachwissenschaft zuweisbar wäre." 72 Damit sind alle drei „Instrumente" bezeichnet, mit denen im oben dargestellten herkömmlichen Verständnis die Grenze zwischen dem möglichen und dem nicht mehr möglichen Wortsinn gefunden werden soll 73 : (1) muttersprachlich-intuitives Sprachverständnis des Sprechers 74; (2) empirisch festzustellender herrschender Sprachgebrauch 75; (3) herrschende Sprachkonvention als soziale Norm 76 .
Die von Christensen geäußerten Einwände sollen kurz nachgezeichnet werden, weil von ihnen die Funktionsfähigkeit der Wortlautgrenze abhängt. aa) Wörterbücher Die Benutzung von Wörterbüchern wie einem Bedeutungslexikon wird als Hilfsmittel der grammatischen Auslegung vielfach befürwortet 77. Ein Wörterbuch 69 Dazu ibid., Rdnr. 512, 515 ff. 70 Vgl. ibid., Rdnr. 506, 514, 516. 71 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 77 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 532 ff. 72 Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 535 (Fn. weggelassen). 73 Vgl. dazu Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 77 f. Zur Veranschaulichung werden im folgenden die dem jeweiligen Ansatz entsprechenden „Testfragen" formuliert, auf die der Interpret im Zuge seiner grammatischen Auslegung antworten müßte. Der hier gewählte Beispielsfall findet sich auch bei Larenz, Methodenlehre, S. 323. 74 75
„Meine ich als ,native Speaker', daß sich ein Mann als ,Frau' bezeichnen läßt?" „Wird ein Mann im herrschenden Sprachgebrauch tatsächlich (auch) als ,Frau4 bezeich-
net?" 76 „Ist es nach herrschendem Sprach Verständnis möglich, einen Mann als ,Frau' zu bezeichnen, ohne regelmäßig soziale Mißbilligung zu erfahren?" 77
Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 190 f.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 5. Vgl. auch Christen-
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nimmt dem Juristen die Verantwortung dafür ab, welcher Sprachgebrauch „herrschend" ist. Auch könne man den jeweiligen Sprachgebrauch mit Hilfe des allgemeinen juristischen und verfassungsrechtlichen Schrifttums feststellen 78. Die Kritik Christensens richtet sich nicht gegen diese Funktionsbeschreibung der grammatischen Auslegung, sondern gegen die Vorstellung, daß sich die Wortlautgrenze durch Nachschlagen im Wörterbuch ergründen lasse79. Wer dies versuche, gehe von einer statischen Wortbedeutung aus 80 . Ein Wörterbuch enthalte als Momentaufnahme des Sprachgebrauchs nur eine Liste von derzeit bekannten Kontextbedeutungen. Als „offene Aufzählung von Beispielen"81 könne es keine abschließende Wirkung für zukünftige Kontextbedeutungen entfalten. Diese Kritik überzeugt, weil man die Verfassung nicht auf dem Stand des aktuell bekannten Sprachgebrauchs, der bekannten Verwendungsweisen oder Bedeutungszusammenhänge gleichsam „einfrieren" kann, ohne die Dynamik der Sprache zu ignorieren. Der bekannte Sinn eines Wortes ist mit dessen möglichem Sinn nicht notwendigerweise identisch. Deshalb würde zum Beispiel das Ergebnis einer Umfrage, wonach niemand das Wort „Ehe" im Sinne von „gleichgeschlechtlicher Ehe" benutzt, nichts darüber aussagen, ob ein solcher Gebrauch sprachlich zulässig ist. Wörterbücher sind also kein geeignetes Hilfsmittel, um die Wortlautgrenze zu bestimmen. bb) Sprachgefühl Das Sprachgefühl mag sinnvoll sein, um „Hypothesen über den Sprachgebrauch" aufzufinden 82. Kritisieren läßt sich jedoch der spekulative, nicht-diskursive Charakter dieser sog. „Lehnstuhlmethode". Im übrigen ist das Sprachverständnis individuell verschieden. Für Christensen besinnt man sich auf den Wert des Zeichens im Sprachsystem, wenn man sein eigenes Sprachverständnis befragt. Zweifelsfreie Festlegungen seien nicht möglich, da das System der sprachlichen Möglichkeiten als solches der Erkenntnis nicht offenstehe 83. Zeichen hätten nur in einem geschlossenen Sprachsystem, in dem die Gebrauchsmöglichkeiten wie in einem Schachspiel umfassend definiert seien, feste Werte. Dem widerspreche das auf Derrida zurückgehende differentielle Verständnis der Bedeutung eines Begriffs sen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 79: Benutzung von Wörterbüchern sei nützlich, um „Anregungen für bisher nicht bedachte Verständnisvarianten und Hinweise auf vorher vielleicht übersehene Kontexte" zu finden. 78 So z. B. Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 107. 79 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 78 f.; ebenso Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 533. so Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 78. 81 Ibid., S. 79. 82 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 190 (Hervorh. weggelassen). 83 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 80. Riecken
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als der „Gesamtheit der Unterschiede zu den Bedeutungen aller anderen Begriffe" 8 4 . Jede Interpretation könne diese différentielle Bedeutung verändern, ohne daß es eine systemimmanente Grenze für diesen Prozeß gebe85. Dieser Kritik ist zunächst entgegenzuhalten, daß sie nicht hinreichend zu erklären vermag, warum das Sprachverständnis in eindeutigen Fällen eben doch eine zweifelsfreie Orientierung ermöglicht 86. In bekannten Kontexten gibt es eindeutig richtige bzw. falsche Verwendungsweisen der Worte „Mann" und „Frau". Diese Fälle ungestörter Kommunikation sind in der Regel keine „hard cases", machen aber einen Großteil der täglichen Kommunikation in der Sprachgemeinschaft aus. Allerdings ist vom Sprachverständnis des Interpreten in den schwierigen Fällen zweifelhafter Verwendungsweisen in der Tat keine Hilfe zu erwarten 87. Insoweit ist Christensen zuzustimmen. Wenn die Bedeutung der Sprache entscheidend vom Gebrauch abhängt, gibt es einen privilegierten Zugang eines „native speaker" zur Bedeutung eines Wortes nur insofern, als diesem die wichtigsten Verwendungsweisen bekannt sein dürften 88. Die nicht vorhandenen Wesensmerkmale eines Begriffs kann dagegen auch ein Muttersprachler nicht entdecken. Die Verwendbarkeit sprachlicher Zeichen läßt sich nicht abschließend in einem Regelsystem erfassen, das dem Sprachverständnis die Orientierung ermöglichen würde, weil die Zahl der möglichen Gebrauchskontexte unbegrenzt ist. cc) Sprache als soziale Konvention Aus Kosten- und Zeitgründen kommt es selbst für das Verfassungsgericht regelmäßig nicht in Frage, sprachwissenschaftliche Gutachten einzuholen, um empirische Feststellungen über den Sprachgebrauch oder über das Bestehen von sprachlichen Konventionen zu gewinnen89. Christensens Kritik geht jedoch über diesen praktischen Einwand hinaus. Er meint, daß empirische Feststellungen über den Sprachgebrauch nicht zur Falsifizierung einer behaupteten Sprachregel beitragen könnten, da ein regelwidriger Sprachgebrauch als Fehler und nicht als Widerlegung der Regel aufgefaßt werde 90 . Der Konventionsbegriff Eike von Savignys, auf den sich Koch/Rüßmann beziehen91, habe zwar den Vorzug, „ein veränderbares 84 ibid., S. 81 f. 85 Vgl. ibid., S. 82. 86 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 191; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 239, 249 f. Vgl. auch Heun, AöR 116 (1991), S. 204 f., wonach die Wortlautgrenze bestimmte Textverständnisse ausschließen könne. 87 Selbst das Mann/Frau-Beispiel von Larenz verliert in einem schwierigen Kontext seine Eindeutigkeit, etwa wenn sich die Frage stellt, ob man eine transsexuelle Person als Mann oder Frau zu bezeichnen hat. 88 Vgl. dazu auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 190. 89 Ahnlich Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 190. 90 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 84. 91 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 161 ff.
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Moment subjektiver Gestaltung sichtbar" zu machen92. Seine juristische Rezeption zwecks Bestimmung der Wortlautgrenze gehe aber von idealisierten Bedingungen aus. Christensen spricht von der „Voraussetzung einer homogenen Sprache, deren Regeln in der Wiederholung stabil bleiben, und eines endlichen Kontextes"93. Sehe man von diesen unzulässigen Vereinfachungen ab, so ergebe sich, daß eine Äußerung auch dann nicht sprachregelwidrig sei, wenn sie eine soziale Sanktion (Mißbilligung) hervorrufe, solange man sich mit ihr noch verständlich machen könne. Der Versuch einer Korrektur sei vielmehr „ein Normierungskonflikt, der auf bestimmte Standards der Legitimierung verweist" 94 . In der Definition von Sprache würden auch Normierungskonflikte und damit Machtkämpfe ausgetragen95. Damit werde die sprachliche Ebene als objektiver, das heißt dem Streit entzogener Bezugspunkt problematisch. Inhaltliche Fragen der Legitimation könnten auf sprachlicher Ebene nicht thematisiert werden. Die Gegenauffassung entscheide unter dem Mantel der grammatischen Auslegung Machtfragen vorab, indem sie sich auf außerrechtliche Vorfindlichkeiten berufe. Als Beispiel mag wiederum die Frage dienen, ob die Mehrheit der Sprachgemeinschaft festlegen darf, daß Ehe nur eine Verbindung von Mann und Frau sei. Soweit diese Ansicht das Vorhandensein oder die Relevanz von Konventionen (Sprachverwendungsregeln) im pragmatischen Sinn ablehnt, ist dies nicht plausibel. Mit dem Vorliegen einer sozialen Norm läßt sich einleuchtend erklären, warum die Verwendung der Worte Mann/Frau in bekannten Kontexten richtig oder falsch ist. Das schließt nicht aus, die soziale Norm an den Gebrauch der Sprache rückzukoppeln, um einem verselbständigten Umgang mit Konventionen entgegenzuwirken. Allerdings gewinnt die Kritik in schwierigen Fällen an Überzeugungskraft, weil dort die Feststellung von Konventionen mit erheblicher Unsicherheit belastet ist und - wie das Beispiel der gleichgeschlechtlichen Ehe zeigt - der auch in der Sprache ausgetragene inhaltliche Normierungskonflikt mit den Händen zu greifen ist 96 .
92 Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 85. 93 Ibid., S. 85 f. 94 Ibid., S. 86. 95 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 506, 515. Christensen rezipiert hier wie schon mit dem im Text unter bb) erwähnten differentiellen Verständnis der Bedeutung Einsichten aus dem Dekonstruktivismus Derridas. Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 67 Fn. 5; ausführlich Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 507 ff. 96 Wenn die heterosexuelle Mehrheit der homosexuellen Minderheit bestimmte Rechte und Pflichten abstreiten will, die mit der Ehe verbunden sind, so kann sie dies auch tun, indem sie die Bezeichnung „Ehe" ablehnt, die diese Rechte impliziert. 22*
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b) Wittgenstein-Rezeption (Depenheuer, Herbert) Auf pragmatischer Grundlage hat Depenheuer die Grenzwirkung des Wortlauts für das Verfassungsrecht bestritten 97. Wortbedeutung sei Kontextbedeutung98. Aus der Summe der bisher bekannten Kontextbedeutungen erschließe sich die aktuelle Bedeutungsfülle eines Wortes 99. Indes finde eine ständige Bedeutungsverschiebung dadurch statt, daß die sprachliche Grenze fortwährend in Frage gestellt werde. Interpretation nehme neue Kontexte ins Visier. Objektive, das heißt nicht auf die Ermittlung des historischen Bedeutungskontextes gerichtete Interpretation ziele „auf die Herauslösung der normativen Texte aus ihrem historischen Kontext (= „Sprachspiel") und die Hineinstellung in neue, gewandelte Lebenssachverhalte ab" 1 0 0 . Der Wortlaut könne diesen Ausgriff auf neue Kontextbedeutungen nicht verhindern oder begrenzen 101. Es kommt also in dieser Sichtweise nicht zu einer Grenz Überschreitung durch ein mit der grammatischen Auslegung schlechthin unvereinbares Ergebnis, sondern zu einer rekursiven Grenz Verschiebung. An eine ältere Untersuchung Schiffauers anschließend102, hat in neuerer Zeit Manfred Herbert nach eingehender Rezeption der Philosophie Wittgensteins das Konzept der Wortlautgrenze zurückgewiesen, das seine „Rolle als Legitimationskriterium und als Disziplinierungsinstrument" nicht spielen könne 103 . Das Vertrauen auf die Wortlautgrenze sei ein Aberglaube, der auf falschen Vorstellungen von der Funktion der Sprache beruhe 104 . Herbert stützt sich dabei auf das von ihm so genannte Offenheits-, das Gestaltungs- und das Kontextabhängigkeitsargument 105. Mit dem zuerst genannten Argument betont er die Offenheit und Wandelbarkeit der Konventionen 106 . Daraus schließt er wie Schiffauer und Depenheuer auf die Unbrauchbarkeit der Wortlautgrenze, weil in Zweifelsfällen keine sprachliche Konvention feststellbar sei 1 0 7 . Dem Gestaltungsargument zufolge läuft die Wortlautgrenze leer, weil „die Sprachteilnehmer ihre Sprachkonventionen aktiv gestal97 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 38 ff., S. 59 (Thesen Nr. 8 u. 9). Dazu Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 194 ff. 98 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 39 f. 99 Vgl. ibid., S. 40. 100 ibid. 101 Vgl. ibid., S. 40: „Sprache ist folglich aus sich heraus unfähig, Interpretationsmöglichkeiten zu begrenzen." 102 Vgl. Schiffauer, Wortbedeutung und Rechtserkenntnis, S. 36 ff., 102 ff., der die Wortlautgrenze in der Praxis für nicht intersubjektiv bestimmbar hält, weshalb sie als Grenze zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unbrauchbar sei. Zustimmend Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 197 ff. (200). 103 aufS. 104 105 106
Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 250 m. Zitat, 256, Zusammenfassung 289 f. Vgl. ibid., S. 250. Vgl. ibid., S. 239 f., 240 f., 241 ff., 290. Vgl. ibid., S. 239 f., Bsp. auf S. 245. Vgl. ibid., S. 2 .
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ten" 1 0 8 . Das Kontextabhängigkeitsargument besagt, daß der konventionell mögliche Wortsinn nur das Bedeutungspotential ergebe und deshalb für eine Grenzwirkung teils zu weit und teils zu eng sei 1 0 9 . Bedeutung könne und müsse kontextbezogen ermittelt werden; dies helfe aber für die Grenzfunktion in Zweifelsfällen nicht weiter. Deshalb erübrige sich auch eine empirische Bedeutungsforschung 110.
3. Stellungnahme Mit der Pragmatik ist davon auszugehen, daß Bedeutungen weder statisch noch unveränderlich sind; vielmehr können sie durch neue Kontexte und Gebrauchsweisen verändert, erweitert bzw. „verschoben" werden. Eine Abweichung von der sprachlichen Regel kann entweder ihre Verletzung oder ihre Fortentwicklung bzw. „Verschiebung" bedeuten. Eine Verschiebung der Grenzfunktion kann vormals negative zu neutralen Kandidaten machen. Zwar ändert nicht jeder neue Sprachgebrauch automatisch den herrschenden Sprachgebrauch, weil Sprache nicht beliebig ist. Deshalb macht die Bedeutungsverschiebung die Bestimmung der Grenzfunktion nicht von vornherein zu einem sinnlosen Unterfangen. Jedoch erschweren die Dynamik, Unübersichtlichkeit und Informalität der Bedeutungsverschiebung sichere Aussagen über konventionale Gebrauchsregeln. Gegen Koch / Rüßmann läßt sich kritisch einwenden, daß das Sprachverständnis des Interpreten in schwierigen Fällen keine sichere Orientierung erlaubt. Darüber hinaus bleibt ungeklärt, inwieweit eine Erweiterung oder Verschiebung der Bedeutung aufgrund neuer Fälle zulässig sein soll 111 . Mit dem Begriff der Porosität 112, worunter man das Potential für Vagheit verstehen kann 113 , wird das Problem von Koch/Rüßmann nur ansatzweise umschrieben. Eine neue und zweifelhafte Gebrauchsweise kommt im Modell des semiotischen Dreiecks als potentielle Extension in den Blick. Ein neuer Sprachgebrauch kann dazu Anlaß geben, die Intensión schrittweise abzuwandeln, beispielsweise indem eine neue Eigenschaft eine alte ersetzt. Das konventionsgestützte Modell legt nahe, daß die bisherige Intensión der Veränderung anfänglich Widerstand entgegensetzen soll, bis sie sich schließlich nachvollziehend wandelt. Wieviel Widerstand der Bedeutungsverschiebung entgegenzusetzen ist, bleibt offen. Damit erhält der Interpret die Kompetenz zur Festlegung von abstrakten Sprachregeln. Diesen Weg vermeidet die pragmatische Bedeutungstheorie, die dem Interpreten keine Definitionsmacht über die Sprache zugesteht. Auch gegenüber der drohenden Ablösung semantischer Regeln vom los Vgl. ibid., S. 240 f., 290 (Zitat auf S. 240). 109 Vgl. ibid., S. 244, 250, 290. ho Vgl. ibid., S. 250. in Herbert, ibid., S. 253, spricht insoweit vom Gestaltungsargument. 112 Vgl. dazu Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 150 Fn. 68 mit Text. 113 Vgl. Christensen, Was heißt Gesetzesbindung?, S. 81.
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Kontext durch die vom Interpreten zu bildende Intensión sind Bedenken angebracht 114 . Hier besteht eine Tendenz zur Begriffsjurisprudenz. Herbert bemängelt zu Recht, daß eine „abstrakt-semantisch[e] Einteilung" die Kontextabhängigkeit der Bedeutung mißachte, wobei er eine Klassifikation auf pragmatischer Grundlage für durchführbar hält 1 1 5 . Somit ist zunächst festzuhalten, daß an der Durchführbarkeit des von Koch/ Rüßmann vorgeschlagenen Modells Zweifel bestehen, weil es sich zu sehr auf das subjektive Sprachgefühl des Interpreten verläßt, die Bedeutungsverschiebung nicht kontrollieren kann und den Kontext des Sprachgebrauchs zu vernachlässigen droht. Bedenken bestehen andererseits auch gegen die umfassende Verunsicherung der Sprache, wie sie die Strukturierende Rechtslehre unter Zuhilfenahme dekonstruktivistischer Einsichten behauptet. Soweit die Kritik Müllers und Christensens jegliche Sicherheit im Umgang mit Sprache leugnet, alles für unsicher und verschiebbar erklärt, unterschlägt sie die zahlreichen Normalfälle ungestörter Kommunikation. Der sich darin ausdrückende radikale Skeptizismus ist überzogen. Es gibt auf der Grundlage eines pragmatischen und konventionsgestützten Sprachverständnisses Fälle, in denen ein Wort eindeutig unrichtig gebraucht wird 1 1 6 . Wenn deshalb die Wortlautgrenze in eindeutigen Fällen anzuerkennen ist, geht es zu weit zu sagen, daß sich positive und negative Kandidaten nie klar vom Vagheitsbereich trennen ließen. Allerdings scheint mit der Feststellung, daß es die Wortlautgrenze zumindest in eindeutigen Fällen gibt, für schwierige Fälle nichts gewonnen zu sein. Dies zeigt schon die praktische Erfahrung, wonach sich unterschiedlichste verfassungsrechtliche Auffassungen mit Erfolg auf verschiedene Lesarten der Verfassung berufen 117 . Eine verläßliche Anwendung der Wortlautgrenze wird dadurch in Frage gestellt, daß es in schwierigen Fällen zumeist umstritten sein wird, ob eine bestimmte Konvention noch besteht oder schon in Auflösung begriffen ist, welche von einander widersprechenden Konventionen maßgeblich ist oder ob sich überhaupt noch keine Konvention gebildet hat 1 1 8 . Die Möglichkeit der Bedeutungsverschiebung durch neue Kontextverwendungen erzeugt Unsicherheit, die zulasten der für einen negativen Kandidaten erforderlichen Eindeutigkeit geht. Für die praktische Anwendung der Wortlautgrenze ist damit die Frage entscheidend, wann die Verunsicherung in der Sprachgemeinschaft so groß ist, daß die U4 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 245 ff., der auf den von Koch /Rüßmann diskutierten Glasbaustein-Fall eingeht. 115 Ibid., S. 253. 116 Ebenso Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 239 (mit nachf. Zitat), 253: „Man kann einen ,Hasen4 nicht einen ,Iger nennen. Die unter normalen Umständen unter den Sprachteilnehmern bestehende Übereinstimmung über die richtige bzw. über die falsche Sprachverwendung ist eine Bedingung der Möglichkeit des Gelingens sprachlicher Kommunikation." 117 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 41. Iis Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 240, 290.
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Möglichkeit einer Bedeutungsverschiebung nicht länger auszuschließen ist. Einerseits darf nicht jeder Zweifel an der Eindeutigkeit des Sprachgebrauchs und der entsprechenden Konvention eine Anwendung der Wortlautgrenze ausschließen. Dann wäre sie in das freie Belieben des einzelnen bzw. der Prozeßparteien gestellt. Andererseits kann eine Meinungsverschiedenheit schon das Vorhandensein unterschiedlicher Konventionen anzeigen, so daß eine eindeutige Feststellung aus sprachlichen Gründen ausscheidet. Um zu verhindern, daß das Sprachgefühl unbewußt von juristischen und sonstigen Vorverständnissen gelenkt wird, sollten die Anforderungen an den Wegfall der Eindeutigkeit nicht zu hoch gelegt werden. Deshalb ist den Vertretern der im Vordringen befindlichen Lehre zuzustimmen, wonach sich der Interpret bei ernsthaften Zweifeln nicht mehr auf die Wortlautgrenze berufen darf. Eine Diskussion in der Öffentlichkeit kann also durchaus dazu führen, daß eine bislang unangefochtene Wortlautgrenze „zerredet" wird. Auch wenn der neue Sprachgebrauch noch keineswegs herrschend ist, kann er dazu führen, daß die Eindeutigkeit einer Sprachkonvention verloren geht. Der Sprachgebrauch von Minderheiten und im Vordringen befindliche Gebrauchsweisen von Sprache könnten sich dadurch als „Sperrminorität" gegen die Bildung oder den Fortbestand einer herrschenden Sprachkonvention im Hinblick auf einen bislang negativen Kandidaten auswirken. Die Wortlautgrenze kann sich also durch Wegfall der Eindeutigkeit bereits aufgelöst haben, bevor sich eine rekursive Bedeutungsverschiebung im allgemeinen Sprachgebrauch durchgesetzt hat. Ein aktuelles Anschauungsbeispiel liefert der verfassungsrechtliche Sprachgebrauch zur gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaft. Ist die Wortlautgrenze verletzt, wenn man sie als „Ehe" im Sinne von Art. 6 Abs. 1 GG bezeichnet119? Hier ist die Gefahr groß, daß man die Frage nicht aus sprachlichen, sondern aus politischen, historischen, verfassungsrechtlichen, religiösen oder moralischen Gründen bejaht. Immerhin mag das konventional abgesicherte Sprachverständnis der Mehrheit eine Verletzung der Wortlautgrenze in diesem Fall noch bejahen. Dennoch wäre zu prüfen, ob die Rede von der „Homo-Ehe" und ähnliche Gebrauchsweisen, wie sie in der Öffentlichkeit in zunehmendem Maße präsent sind, diese Eindeutigkeit mittlerweile aufgeweicht oder beseitigt haben. Insistiert man in diesem Fall auf dem Sprachverständnis der Mehrheit, so liefert man sich dem von Christensen vorgetragenen Einwand aus, womöglich unter dem Vörwand sprachlicher Feststellungen, die durch rechtliche Argumente nicht angreifbar sind, Normierungskonflikte zu entscheiden. Allerdings müßte eine nähere Untersuchung dieser Frage auch die unterschiedlichen Kontexte berücksichtigen, in denen das Wort Ehe gebraucht wird. So ist danach zu differenzieren, ob von Ehe in Art. 6 Abs. 1 GG die Rede ist oder von einfach-gesetzlichen Gleichstellungsmaßnahmen. Nicht auszu119 Vgl. zum folgenden auch Risse, Der verfassungsrechtliche Schutz der Homosexualität, S. 203 f.; anders Schimmel, Eheschließungen gleichgeschlechtlicher Paare?, S. 66 ff.; Räther, Der Schutz gleich- und verschiedengeschlechtlicher Lebensgemeinschaften in Europa (im Erscheinen) (MS 49 ff.).
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schließen ist dabei, daß Gebrauchsweisen in einem Kontext auf die Bedeutung in einem anderen Kontext zurückwirken. Ob die hier skizzierten Zweifel genügen, um die Wortlautgrenze aufzulösen bzw. zu verschieben, müßte eine nähere Untersuchung des Problems klären. Damit würde ein neues Thema eröffnet werden, weshalb die Frage hier offen gelassen wird. Wenn ernsthafte Zweifel die Feststellung eines negativen Kandidaten oder sogar das Vorhandensein einer entsprechenden Konvention ausschließen und solche Zweifel in schwierigen Fällen zumeist auftreten werden, so ist insoweit die Funktion der Wortlautgrenze erheblich beeinträchtigt 120. Koch/Rüßmann haben auf die Kritik erwidert, daß die Unschärfe in den Übergangszonen wie auch idealisierte Annahmen nicht die modellhafte Dreiteilung in positive, negative und neutrale Kandidaten an sich entwerten könnten 121 . Diese Verteidigung hilft aber nicht weiter, wenn das Modell in schwierigen Fällen praktisch keine negativen Kandidaten auszeichnen kann. Somit ist im Ergebnis der im Vordringen befindlichen kritischen Sicht der Wortlautgrenze zuzustimmen, wonach es die Grenzfunktion nur so lange gibt, wie sie nicht ernsthaft umstritten ist 1 2 2 . Damit spielt die mögliche Wortbedeutung als Grenze der Interpretation in schwierigen Fällen kaum eine Rolle.
4. Ergebnis Auf der Grundlage einer pragmatischen und konventionsgestützten Bedeutungslehre kann die Verwendung eines Wortes in einem bestimmten Kontext eindeutig unrichtig sein. In unproblematischen Fällen lassen sich deshalb eindeutig negative Kandidaten ermitteln, die von der Wortlautgrenze aus der möglichen Bedeutung ausgeschlossen werden. Solche eindeutigen Feststellungen sind aber in schwierigen Fällen entgegen der herkömmlichen Methodenlehre kaum möglich. Eine auf logische Ableitungen gestützte „Berechnung" der Wortlautgrenze ist undurchführbar, weil ein solches Modell kontextgelöst verfährt und die stets mögliche Bedeutungsverschiebung nicht berücksichtigt. Viele vermeintlich negative Kandidaten erweisen sich bei genauer Betrachtung als neutrale Zweifelsfälle. Ein bislang negativer Kandidat wird zu einem neutralen Kandidaten, wenn ernste Zweifel bestehen, ob die in Aussicht genommene Bedeutung konventional unzulässig ist. Zwar läßt sich nicht jeder negative Kandidat durch Bestreiten oder Anzweifeln in einen neutralen Kandidaten umwandeln, weil Sprache nicht beliebig ist. Jedoch ist es möglich, daß die Wortlautgrenze im Spiel der Argumente zersetzt wird. Im übrigen ist die Schwelle für den Wegfall der Wortlautgrenze auch deshalb niedrig anzusetzen,
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Vgl. auch Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 223, der eine „ganz breite Zone" der Unsicherheit „zwischen zwei schmalen Grenzstreifen" der positiven und negativen Gewißheit erblickt. 121 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 198 f. 1 22 Siehe oben 3. Kap., B. II. 2.
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weil Normierungskonflikte besser mit rechtlichen als mit sprachlichen Argumenten gelöst werden sollten. Eine konventionsgestützte Wortlautgrenze kommt also nur für zweifelsfreie Fälle in Betracht und hat damit einen wesentlich kleineren Anwendungsbereich, als ihre Befürworter in der herkömmlichen Lehre annehmen. In schwierigen Fällen hilft die Wortlautgrenze nicht weiter, weil hier das Vorhandensein bzw. der Fortbestand der sprachlichen Konvention ernsthaft umstritten sein werden.
I I I . Grenzfunktion der eindeutigen Wort- oder Textbedeutung als verfassungsrechtliche Anforderung Während bislang die sprachliche Dimension der Wortlautgrenze untersucht wurde, soll nunmehr gefragt werden, ob und inwieweit sich die Grundrechtsinterpretation auch über den eindeutigen Wort- oder Textsinn hinwegsetzen darf, wenn ein solcher festgestellt werden kann. Dies ist kein methodisches oder sprachphilosophisches, sondern ein verfassungsrechtliches und -theoretisches Problem. Die Frage, ob eine Grundrechtsnorm gegen den klaren Wort- oder Textsinn ausgedehnt bzw. eingeschränkt werden darf, stellt sich auf der Schutzbereichsebene ebenso wie auf der Schrankenebene. Im einfachen Recht kann die Grenzfunktion der eindeutigen Wort- oder Textbedeutung eine verfassungsrechtliche Anforderung sein. So folgt im Strafrecht die Wortlautgrenze als Analogieverbot aus Art. 103 Abs. 2 GG. Für staatliche Eingriffsbefugnisse läßt sich die Wortlautgrenze mit dem Vorbehalt des Gesetzes begründen 123. Im Bereich der Grundrechte ist es dagegen nicht eindeutig, ob und inwieweit ein Analogieverbot, das heißt ein Verbot der ausdehnenden und lückenschließenden Rechtsfortbildung, besteht. Entsprechendes gilt für die Zulässigkeit der teleologischen Reduktion, die man als einschränkende Rechtsfortbildung auffassen kann. Wenn die normative Stellung der Wortlautgrenze nach Rechtsgebieten differenziert beurteilt werden muß, sind Aussagen zur Rechtsfortbildung „contra legem" im einfachen Recht auf das Verfassungsrecht nicht ohne weiteres übertragbar 124. Entsprechendes gilt, wenn man die Überschreitung der Wortlautgrenze als Richterrecht auffaßt. „Verfassungsrichterrecht" kann anderen Voraussetzungen als einfaches Richterrecht unterliegen 125. Auf diese Fra-
123 Vgl. Ebsen, Selbstregulierung, S. 43 (zu R 1). 124 Zu der im einfachen Recht nach überw. Ansicht unzulässigen Rechtsfortbildung „contra legem" Gusy, DÖV 1992, S. 464 ff. (466); H.-P. Schneider, Richterrecht, S. 19 ff. Wann eine Entscheidung „contra legem" ergeht, wird nicht einheitlich beurteilt. Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 235 f., stellt hierfür auf den Verstoß „gegen den eindeutigen Wortlaut und Sinnzusammenhang" (ibid. S. 235) ab. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1670, 1672, hält gesetzeskorrigierendes Richterrecht, bei dem der Richter „offen entgegen Wortlaut und Zweck eines Gesetzes" {ibid., S. 1670) entscheide, für unzulässig. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 255, bezeichnen eine Entscheidung erst dann als contra legem, wenn sie gegen das vom Gesetzgeber Gesagte und Gewollte zugleich verstößt.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
gen ist im Zusammenhang mit möglichen Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht zurückzukommen 126. An dieser Stelle geht es nur darum, den Bezug der Wortlautgrenze zu den benachbarten Problemkreisen des Analogieverbots, der Rechtsfortbildung und des Richterrechts aufzuzeigen. Im folgenden sind zunächst verfassungsrechtliche Argumente zu nennen, die zugunsten der eindeutigen Wort- und Textbedeutung als Grenze der Verfassungsinterpretation sprechen (1.). In der Literatur wird vereinzelt für eine unübersteigbare Wortlautgrenze plädiert (2.). Überwiegend wird diese starre Lösung jedoch abgelehnt (3.). Die verfassungsrechtlich begründeten Ausnahmefallgruppen von der Wortlautgrenze lassen sich systematisieren (4.). Im Anschluß daran ist auf die dogmatische Konstruktion der Wortlautgrenze im Regel-Prinzipien-Modell einzugehen (5.). Abschließend sind einige Beispielsfälle zu diskutieren (6.).
1. Verfassungsrechtliche
Gründe firdie Grenzfunktion
Für eine Grenzfunktion des eindeutigen Wort- oder Textsinns sprechen eine Reihe von verfassungsrechtlichen Prinzipien. Zu nennen sind unter anderem demokratische, funktionale, rechtsstaatliche und freiheitliche Erwägungen, die sich weitgehend mit den im ersten Kapitel genannten Gründen für verfassungsgerichtliche Grenzen decken 127 . (1) Unter demokratischem Aspekt stellt die Grenzfunktion klar, welche Befugnisse die Staatsgewalt - auch das Verfassungsgericht - äußerstenfalls haben könnte, ohne damit schon undifferenziert allen sprachlich möglichen Interpretationsergebnissen die gleiche inhaltliche Legitimität zu verleihen 128 . Dies ist ein Aspekt der „machtbegrenzenden Funktion der Verfassung" 129. 125 Vgl. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57 ff.; Stern, in: FS Kriele, S. 420 ff.; Hoffmann, in: FS Wolf, S. 183 ff., 211 ff.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 105 ff. 126 Siehe unten 3. Kap., E. 127
Siehe oben 1. Kap., A. Vgl. zum folgenden kritisch Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 42 ff., 44,45 f. 12 8 Demgegenüber entwickelt Depenheuer in seiner Untersuchung der Wortlautgrenze die Prämisse, wonach auf der Grundlage der objektiven Theorie der Interpretation , jede mit dem Wortlaut vereinbare Interpretation durch die Norm legitimiert" sei. Vgl. ders., Der Wortlaut als Grenze, S. 7 m. Zitat, 9 f., 42,43 f. Dies führt zu folgendem Schluß: „Wenn alles, was mit dem Wortlaut der Verfassung vereinbar ist, verfassungsrechtlich legitimiert ist, dann folgt daraus, daß verfassungsrechtlich nicht mehr der Weg zum allein richtigen Ergebnis (= Methodik), sondern allein entscheidend ist, ob sich das Ergebnis einer beliebigen Interpretation ,noch im Rahmen der sprachlich möglichen Sinngehalte' hält. M.a.W.: die juristische Interpretation degeneriert zur schlichten grammatikalischen Sprachkontrolle" {ibid., S. 47). Ähnlich Ebsen, Gesetzesbindung, S. 45. Wenn jedoch die Beachtung der Wortlautgrenze nur eine notwendige und keine hinreichende Bedingung für ein erstens methodisch rationales und zweitens legitimes Interpretationsergebnis ist, dann ist die von Depenheuer behauptete Prämisse zu weit gefaßt. Auch die objektive Theorie behandelt nicht alle sprachlich möglichen
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(2) Bei funktionaler Betrachtung bzw. aus der Sicht des Gewaltenteilungsprinzips ist der Text der Verfassung die wichtigste Brücke zur Legitimität rechtsprechender Tätigkeit. Die Mißachtung der Grenzfunktion kann dazu führen, daß gerichtliche Interpretation „ohne" Text oder „außerhalb" des Textes erfolgt. Auch „die beste aller Normkonkretisierungen" 130 taugt aus demokratischer Sicht nichts, wenn sie keine Bindung an den Verfassungstext aufweist. Wird der determinierende Normtext übergangen, kommt dies faktisch einer Verfassungsänderung gleich. Die Setzung, Änderung und Ergänzung des Verfassungstextes ist aber die Prärogative des (Verfassungs-) Gesetzgebers131. Zuweilen wird sogar versucht, die Wortlautgrenze positivrechtlich auf Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG zu stützen 132 . Danach ist nur eine ausdrückliche Änderung oder Ergänzung des Grundgesetzes zulässig. Der maßgebliche Normtext müsse sich aus der Verfassungsurkunde selbst ergeben. Dieses Prinzip werde entwertet, wenn es nur für formelle Verfassungsänderungen gelte. Zwingend ist diese Begründung allerdings nicht. Wenn man die genannte Vorschrift im Umkehrschluß auslegt, so wird der verfassungsgerichtliche Verstoß gegen die Wortlautgrenze von ihr gerade nicht erfaßt. (3) Aus der Sicht des Rechtsstaatsprinzips sprechen insbesondere die Gebote der Rechtssicherheit, Normklarheit, Bestimmtheit und des Vertrauensschutzes für die Grenzfunktion 133. Die Wortlautgrenze verhindert, daß der Verfassung beliebige Bedeutungen zugewiesen werden. Sicherlich ergibt sich der aktuelle „Inhalt" der Verfassung nicht aus dem Verfassungstext allein. Die heutige Bedeutung der Verfassung erschließt sich nur, wenn man die Rechtsprechung des BVerfG zur Kenntnis nimmt 1 3 4 . Immerhin sollte man sich aber darauf verlassen können, daß der Normtext nicht mißachtet wird, soweit er die Interpretation zu determinieren vermag. Darüber hinaus kann man die Beachtung der Wortlautgrenze für eine notwendige Bedingung rationaler Interpretation halten. (4) Auch der Aspekt des Freiheits- und Minderheitenschutzes spricht für die Grenzfunktion, weil sie die Macht der Staatsgewalt gegenüber dem einzelnen beTextbedeutungen als gleichermaßen legitimiert, sondern ist auf weitere methodische und verfassungstheoretische Schritte und Argumente angewiesen, um im Rahmen der Konkretisierung das richtige Ergebnis unter den sprachlich möglichen Lösungen zu finden und zu begründen. 129
Hesse, Grundzüge, Rdnr. 77. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 44. 131 Vgl. auch H.-P. Schneiden DÖV 1975, S. 448. 132 Vgl. Hesse, in: FS Scheuner, S. 139. 133 Auf Rechtssicherheit stellt Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 236, ab. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 113, 311 (m. nachf. Zitat), spricht von den rechtsstaatlichen Anforderungen der Rechtssicherheit, Normklarheit, Tatbestandsbestimmtheit, Methodenklarheit und Publizität sowie von der „Unverbrüchlichkeit der Verfassungsordnung im demokratischen Rechtsstaat". 134 Vgl. z. B. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 161. 130
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
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schränkt 135 . Fehlender Respekt vor dem eindeutigen Wort- und Textsinn macht Freiheitsrechte in Krisenzeiten noch anfälliger für Einschränkungen. Die Grenzfunktion trägt dazu bei, daß die Verfassung nicht zum Herrschaftsinstrument in den Händen der Mehrheit wird 1 3 6 . Hesse meint zu Recht, der Text der Verfassung enthalte „bei aller Interpretationsbedürftigkeit in mehr oder minder großer Dichte Anhaltspunkte, über die trotz gegensätzlicher Interessen und Vorverständnisse nicht gestritten werden kann" und sei so „unverzichtbares Element der Schutzwirkung, die die Verfassung zugunsten der nicht herrschenden Gruppen entfaltet." 137 (5) Schließlich kann eine Verletzung der Wortlautgrenze den Konsens über die Geltung des verbindlichen Verfassungstextes gefährden 138. Insoweit hat die Wortlautgrenze auch eine stabilisierende Wirkung 139 . Die Beachtung der Wortlautgrenze läßt sich somit als ein verfassungsrechtliches Gebot auffassen. Im folgenden ist zu klären, ob die Wortlautgrenze als verfassungsrechtliches Gebot unübersteigbar ist und inwieweit ggfs. Ausnahmen anzuerkennen sind.
2. Unübersteigbare Grenzfunktion Konrad Hesse und Friedrich Müller sehen im eindeutigen Wortsinn der Norm die „unübersteigbare Grenze der Verfassungsinterpretation" 140. Für Hesse liegen die Grenzen der Verfassungsinterpretation dort, „wo eine Lösung in eindeutigen Widerspruch zum Normtext treten würde." 141 Müller drückt die Grenzfunktion des Wortlauts in folgender Regel aus: „Entscheidungen, die den Wortlaut einer Norm offensichtlich überspielen, sind unzulässig." 142 Ein Teil der Literatur stimmt dieser Auffassung zu 1 4 3 .
135 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 31, 77. 136 Vgl. hierzu Hesse, in: FS Scheuner, S. 134. 137 Hesse, in: FS Scheuner, S. 134. 138 Dazu allg. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 15. Vom Konsens über die Geltung des Verfassungstextes ist der Konsens über konkrete Inhalte der Verfassung zu unterscheiden. Der zuletzt genannte Konsens ist in der pluralistischen Gesellschaft zweifelhaft geworden. Siehe unten 4. Kap., F. II., G. IV. 139 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 77; ders., in: FS Scheuner, S. 134. 1 40 Zitat bei Hesse, Grundzüge, Rdnr. 77. Vgl. auch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 310 f., ferner Rdnr. 118. 141
Hesse, Grundzüge, Rdnr. 77. 1 42 Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 311 (Nachw. weggelassen), vgl. auch Rdnr. 480. Dazu Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 31 f., 44. 143 Vgl. H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 448, 450, 452; Schlink, Staat 19 (1980), S. 100 f., 105; Gern, VerwArch 80 (1989), S. 434, 436 (These 2). Nicht hierher gehören Autoren, die von vornherein Ausnahmen zur Wortlautgrenze zulassen. Siehe dazu unten, 3. Kap., B. III. 3. b).
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Auch wenn beide Autoren die Wortlautgrenze in ähnlichen Formulierungen vertreten und Hesse mit dem „Normprogramm" und dem „Normbereich" Schlüsselwörter der Strukturierenden Rechtslehre Müllers rezipiert 144 , bestehen zwischen ihnen doch erhebliche Differenzen, wie ein Blick auf die jeweiligen sprachlichen, methodischen und verfassungstheoretischen Prämissen zeigt. Hesse vertritt unter der von ihm maßgeblich geprägten Methode der Konkretisierung eine auf die offenen Grundrechtsnormen abgestimmte flexible und problembezogene Interpretation mit stark topischen Zügen, was sich nicht zuletzt in einer gewissen System- und Theorieskepsis ausdrückt 145. Wie schon erwähnt, verneint er jedoch eine freie Wahl der Topoi 146 . Vor allem will er die Konkretisierung durch den Normtext begrenzen. Ein Blick auf die von Hesse vorgeschlagenen Prinzipien der Verfassungsinterpretation zeigt jedoch, daß die Wortlautgrenze bei ihm entgegen seiner oben zitierten Aussage durchaus nicht unübersteigbar ist. Das Prinzip der Einheit der Verfassung und das Prinzip praktischer Konkordanz 147 führen dazu, daß im Einzelfall auch vom eindeutigen Wort- und Textsinn abgewichen werden muß. Als Beispiel lassen sich verfassungsimmanente Schranken der Kunstfreiheit nennen, die dem eindeutigen Textsinn widersprechen. Damit wird die Wortlautgrenze als Regel von einer wichtigen Ausnahme, nämlich der teleologischen Reduktion bei kollidierendem Verfassungsrecht, durchbrochen 148. Unübersteigbar scheint die Wortlautgrenze dagegen nur im Hinblick auf die ausdehnende Rechtsfortbildung zu sein. Müller verfolgt das ehrgeizige Ziel, auf primär methodischem Weg und unter strikter Normanbindung das Normprogramm zu erzeugen 149. Das Normprogramm entsteht durch die Interpretation sämtlicher Sprachdaten, worunter die Textauslegung mit allen methodisch anerkannten Mitteln verstanden wird 1 5 0 . Die Normanbindung will Müller mit Hilfe einer Rangfolge methodischer Schritte sicherstellen, die vor allem von einem Vorrang der normtextnäheren Elemente im Verfahren der Rechtserzeugung ausgeht. Soweit zwischen den Auslegungselementen kein Widerspruch entsteht, bezieht Müller die Wortlautgrenze nicht auf die grammatische Auslegung allein, sondern auf das voll konkretisierte Normprogramm 151. Statt der
144 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 68 f., 310. 145 Hesse, ibid., Rdnr. 77, spricht davon, daß die „Möglichkeiten eines sinnvollen Verständnisses des Normtextes enden" können, was man als Zurückhaltung gegenüber einer aktivistischen Fortschreibung der Verfassung mit Hilfe von Verfassungstheorie auffassen kann. Auch lehnt er es im Gegensatz zu Dürig ab, die Grundrechte als geschlossenes System zu begreifen (vgl. ibid., Rdnr. 300 ff., 427). 146 Vgl. ibid., Rdnr. 67. Zur Topik siehe oben 2. Kap., C. III. 147 Vgl. ibid., Rdnr. 71 f., 317 f. 148 Vgl. ibid., Rdnr. 312 (für Art. 4 Abs. 1 GG), 403 (für Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG). 149 Zu Fr. Müllers Strukturierender Methodik siehe noch unten 3. Kap., D. 150 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 468. 151 Vgl. die Darstellung bei Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 31 f., 33 ff.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
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Wortlautgrenze postuliert er die von ihm so genannte Normprogrammgrenze 152. Für die praktische Fallanwendung dürfte dies dennoch auf die Maxime hinauslaufen, daß Auslegungsergebnisse unzulässig sind, die dem eindeutigen Text- oder Wortsinn widersprechen 153. Vergleicht man die beiden Positionen, so wird deutlich, daß nur Müller die Wortlautgrenze als eine nicht ausnahmefähige Regel behandelt154. Demgegenüber konzediert Hesse die teleologische Reduktion bei Grundrechtskollisionen, so daß sich die Wortlautgrenze in seiner Konzeption hauptsächlich gegen analogische Rechtsfortbildung zu richten scheint.
3. Uberwindbare
Grenzfunktion
a) Rechtsprechung des BVerfG In seinen methodischen Aussagen hat das BVerfG der grammatischen Auslegung keinen unüberwindbaren Vorrang vor den anderen Auslegungskriterien eingeräumt 155. Ausdrücklich abgelehnt hat es die Wortlautgrenze im SorayaBeschluß, der jedoch die Rechtsfortbildung im bürgerlichen Recht betrifft: „Der Richter ist nach dem Grundgesetz nicht darauf verwiesen, gesetzgeberische Weisungen in den Grenzen des möglichen Wortsinns auf den Einzelfall anzuwenden. Eine solche Auffassung würde die grundsätzliche Lückenlosigkeit der positiven staatlichen Rechtsordnung voraussetzen [ . . . ] . " 1 5 6
In einigen Fällen hat es auch entgegen dem eindeutigen Wortlaut der Verfassung entschieden157. Daher lassen weder die methodischen Aussagen noch die Praxis 152 Vgl. f K Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 312, 480, 526 ff. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 35, bemängelt, daß damit „Gleiches an Gleichem gemessen4' werde. Kritisch auch Schlink, Staat 19 (1980), S. 99. 153 Inwieweit es solche Fälle auch außerhalb der für Termins- und Fristbestimmungen anerkannten Bestimmungswirkung geben soll, ist nicht ganz klar. Bei Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 308 ff., scheint die Wortlautgrenze noch einen nicht unbedeutenden Anwendungsbereich zu haben. Ibid., Rdnr. 505 ff., 526 ff., wird dann so stark auf die Verunsicherung der Sprache abgestellt, daß der Eindruck entsteht, die Wortlautgrenze sei eine reine Fiktion (vgl. insb. ibid., Rdnr. 533 f.). Dann macht es jedoch keinen Sinn mehr, sie aus verfassungsrechtlichen Gründen als Grenze der Konkretisierung einzufordern, wie dies zuvor noch geschieht. 154
Selbst Müller will aber eine Ausnahme von der Wortlautgrenze zulassen, soweit es sich um „technische Übermittlungsfehler im Gesetzgebungsverfahren" handelt, vgl. ders., Juristische Methodik, Rdnr. 310 Fn. 485, Rdnr. 311 Fn. 490 m. Zitat. 155 Vgl. BVerfGE 1, 299 (312); 11, 126 (130); 35, 263 (278 f.). Anders zur verfassungskonformen Auslegung, die dem klaren Wortlaut nicht widersprechen darf, vgl. BVerfGE 8, 28 (34); 18, 97 (111); 52, 357 (368 f.). 156 BVerfGE 34, 269 (287). 157 Vgl. BVerfGE 2, 347 (374 f.) zu Art. 32, 59 GG; 32, 54 (72, 76) zu Art. 13 Abs. 1 GG.
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des Gerichts das Fazit zu, daß eine absolute Grenzfunktion des eindeutigen Wortund Textsinns vom BVerfG anerkannt w i r d 1 5 8 .
b) Herrschende Lehre Die herrschende Lehre erkennt i m eindeutigen Wort- und Textsinn keineswegs die äußerste und unübersteigbare Grenze der Verfassungsinterpretation 159 . Nach überwiegender Auffassung soll aber Verfassungsinterpretation gegen den eindeutigen Wortsinn immerhin die Ausnahme sein. So wird etwa der Verstoß gegen den eindeutigen Wortsinn i m Einzelfall gebilligt, gleichwohl aber „besondere Treue zum geschriebenen Wort der Verfassung" verlangt 1 6 0 . Alexy faßt die Wortlautgrenze als Argumentationslastregel auf, die ihrerseits auf einem abwägungsfähigen und daher durch bessere Gründe überwindbaren Prinzip beruhe 1 6 1 : „Der Wortlaut der Grundrechtsbestimmungen bindet die grundrechtliche Argumentation also dadurch, daß eine Argumentationslast zu seinen Gunsten besteht." 162 Von einer Argumentationslast ist der Sache nach die Rede, wenn man mit Bryde von einem ,,besondere[n] Gebot zur Respektierung des Verfassungstextes" ausgeht163. Bei Kriele steht die Wortlautgrenze unter einem Gerechtigkeitsvorbehalt. Sie sei nur so weit zu beachten, wie sie richtige und vernünftige Ergebnisse ermögliehe164: 158 Vgl. auch die Nachw. u. Kritik bei Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 311 Fn. 486. Für den österreichischen Verfassungsgerichtshof vgl. Korinek, in: FS Walter, S. 378 ff. 159 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 270: Normtext sei „keine unübersteigbare Grenze für Auslegung und Rechtsfortbildung"; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 59 f.; Ebsen, Selbstregulierung, S. 44; ohne ausdrücklichen Bezug auf Verfassungsrecht auch ders., Gesetzesbindung, S. 46; Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 49 ff.: keine absolute Bindung an das vom Gesetzgeber Gesagte; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 215, 226; implizit Häberle, JZ 1975, S. 303 (Text zu Fn. 74). Für die Grundrechtsinterpretation hält Stern, Staatsrecht III/2, S. 1668 fest: „Am Wortlaut endet die Auslegung. Dieses Ergebnis führt nicht zur Unzulässigkeit der Rechtsfortbildung, sondern unterstellt diese nur anderen Voraussetzungen." Zweifelnd Heun, AöR 116 (1991), S. 204. Die Wortlautgrenze als unübersteigbare Grenze der Interpretation findet damit keineswegs breite Zustimmung. So aber Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 3 f. m. Fn. 10. Die Fußnote vermag die von Depenheuer aufgestellte These nicht zu belegen. Allerdings grenzt die h.L. mit Hilfe der Wortlautgrenze Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander ab. Dazu unten 3. Kap., E. I. (1). 160 Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. 161 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122. 162 ibid., S. 503. 163
Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. Bsp. für eine nach Bryde zulässige Abweichung vom eindeutigen Textsinn ibid., S. 269 f. Vgl. auch Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 121, demzufolge eine „Entscheidung gegen den absolut eindeutigen Wortsinn wegen des Verfassungsbindungspostulats in der Regel unzulässig" ist (Hervorhebung von J.R.).
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG „Es [das Prinzip der Rechtssicherheit - J.R.] trägt genauso weit, wie es bei unparteilicher Betrachtung vernünftig, d. h. den Allgemeininteressen oder den fundamentaleren Gruppeninteressen dienlich ist. Sobald es sich ausnahmsweise nicht mehr auf diese Weise rechtfertigen läßt, ist es eben vernünftig, es zurücktreten zu lassen. Man kann also, wenn man gute Gründe dafür hat, von dem Präjudiz abweichen und in ganz extremen Ausnahmefällen vielleicht sogar Entscheidungen des Gesetz- oder Verfassungsgebers überspielen." 165
Zu einer kaum noch vorhandenen Grenzfunktion gelangt die Topik bei Ehmke, demzufolge man über den eindeutigen Wortlaut hinweggehen dürfe, wenn er keinen Ansatz für eine sinnvolle Problemlösung biete 166 .
4. Ausnahmefallgruppen zur Wortlautgrenze Will man eine Relativierung der Grenzfunktion begründen, so kann man sich hierfür auf logische Gründe, die Einheit der Verfassung, den Konsens, materielle Gerechtigkeit, insbesondere Freiheit und Gleichheit, sowie auf Zwecke und Funktionen von Verfassungsnormen berufen. Damit führt die Untersuchung der Wortlautgrenze induktiv in ein weites Feld methodischer und verfassungstheoretischer Grundlagenprobleme. Die begrenzende Wirkung der eindeutigen Wort- und Textbedeutung hängt davon ab, welchen Standpunkt man hier einnimmt. Die Vielzahl der angeschnittenen Fragen läßt im folgenden nur eine Problemskizze zu.
a) Einheit der Verfassung aa) Logische Normwidersprüche Ein logischer Normwiderspruch liegt vor, wenn Verfassungsnorm A ein bestimmtes Handeln verbietet, während Verfassungsnorm B es erlaubt oder gebietet 1 6 7 . Da der logische Widerspruch eine Entscheidung gegen den eindeutigen Textsinn einer oder sogar beider Normen erzwingt, ist insoweit eine Ausnahme von der Wortlautgrenze anzuerkennen. Der Normwiderspruch läßt sich allerdings durch Logik nur aufzeigen, nicht lösen. 164 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 215; vgl. auch ders., in: HStR, § 110 Rdnr. 19 ff. 165 Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 226. 166 Vgl. Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 55, 60, 93 Fn. 177. Aus dieser Sicht droht die Wortlautgrenze einen einzelnen Topos zu verabsolutieren. Kritisch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 118. 167 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 335; Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 162 f. Ein Beispiel ist die Berufswahlfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 GG, die nach Satz 2 derselben Bestimmung nicht unter Gesetzesvorbehalt steht, während die Kompetenznorm des Art. 74 Abs. 1 Nr. 19 GG Zulassungsregeln für ärztliche Berufe erlaubt. Nach dem Wortlaut der Grundrechtsbestimmung ist jeder Eingriff in die Wahlfreiheit verboten, während die Kompetenznorm Eingriffe ausdrücklich gestattet.
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bb) Teleologische Reduktion bei kollidierendem
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Verfassungsrecht
Auf der Grundlage des Regel-Prinzipien-Modells lassen sich vorbehaltlose Grundrechte entgegen dem eindeutigen Wort- oder Textsinn durch kollidierendes Verfassungsrecht einschränken 168. Methodisch betrachtet liegt hier teleologische Reduktion vor. Mit Hesse kann man den Grund für diese ungeschriebene Schranke in der Einheit der Verfassung 169 bzw. im Prinzip praktischer Konkordanz sehen. Diese Prinzipien verbieten, einem einzelnen Grundrecht absoluten Vorrang innerhalb der Verfassungsordnung beizumessen. Hesse formuliert so, daß alle Verfassungsnormen in einer Weise zu interpretieren seien, „daß Widersprüche zu anderen Normen vermieden werden" 170 . Dies ist auch ein Anliegen der systematischen Auslegung, mit der der einheitliche Sinnzusammenhang der Verfassung berücksichtigt wird 1 7 1 .
b) Konsens Ebsen nennt den weitgehenden gesellschaftlichen Konsens über dringliche rechtsethische oder rechtspolitische Ziele einen anerkannten Grund, um vom Wortlaut des Gesetzes abzuweichen172. Auf die Kritik am Konsens als Bezugspunkt der Verfassungsinterpretation ist noch ausführlich einzugehen173. Hier sei nur die These aufgestellt, daß der konsensuale Ansatz weder durchführbar noch angemessen ist. Deshalb kann ein Konsens meines Erachtens auch keine Ausnahme von der Wortlautgrenze rechtfertigen.
c) Materiale Gerechtigkeit aa) Verbindlichkeit
des positiven Verfassungsrechts
Aus nichtpositivistischer Sicht ist materiale Gerechtigkeit bzw. Legitimität ein wichtiger Zweck der Verfassung 174. Allerdings ist auch die Rechtssicherheit, die 168 Als Beispiel läßt sich die Kunstfreiheit nennen, die nach Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG zwar ohne Gesetzesvorbehalt, aber nicht unbeschränkt gewährleistet ist. Zu den Schranken vorbehaltloser Grundrechte vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 29 ff.; Winkler, Kollisionen verfassungsrechtlicher Schutznormen, 2000. 169 Kritisch zum Prinzip der Einheit der Verfassung Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 383 ff. 170 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 71. 171 Vgl. R. Dreier, Problematik, S. 43 Fn. 135.
1 72 Vgl. Ebsen, Selbstregulierung, S. 44 (R 4); ähnlich Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 119. Vgl. auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 71. Der dort erwähnte Konsens der Vernünftig- und Gerecht-Denkenden könnte es rechtfertigen, vom eindeutigen Wortsinn abzuweichen. 173 Siehe unten 4. Kap., F. Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
für das Festhalten am eindeutigen Wort- oder Textsinn spricht, ein wichtiger Zweck des Rechts 175 . Grundsätzlich ist es daher ausgeschlossen, unter Berufung auf Gerechtigkeit den eindeutigen Wort- oder Textsinn zu durchbrechen 176. Rechtsethische Argumente sind in der Verfassungsinterpretation nicht unzulässig, solange sie an positivierte Prinzipien, insbesondere an Grundrechte, anknüpfen. Das positive Verfassungsrecht darf jedoch nicht mit einem Gerechtigkeitsdiskurs überspielt werden, der im Text der Verfassung keine Grundlage hat. Im Normalfall rechtfertigen gerechtigkeitsbezogene Argumente damit keine Ausnahme von der Wortlautgrenze. bb) Freiheitsmaximierung Der Grundsatz „in dubio pro libertate" 177 darf nicht so verstanden werden, daß Freiheitsmaximierung das oberste Prinzip der Verfassung sei. Rechtliche Freiheit existiert nur im Rahmen der Verfassung, nicht über sie hinaus. Für einen Rekurs auf ungeschriebene, überpositive Menschenrechte 178, mit denen man einen ungenügenden oder unvollständigen Grundrechtskatalog ergänzen könnte, gibt das Grundgesetz - im Unterschied zur US-Verfassung, die keine ausdrückliche Garantie der Menschenwürde und des Persönlichkeitsrechts enthält - keine Veranlassung. Entgegen dem eindeutigen Wort- oder Textsinn besteht daher weder eine Freiheitsvermutung noch grundrechtliche Freiheit. Insbesondere ist eine analogische Ausdehnung von Schutzbereichen unzulässig. Ergeben sich daraus Lücken im Grundrechtsschutz, so ist dies hinzunehmen. Der Grundsatz „in dubio pro libertate" läßt sich jedoch mit Alexy als Argumentationslast zugunsten der rechtlichen Freiheit auffassen 179. Die Argumentationslast wirkt als Grundsatz der größtmöglichen Grundrechtseffektivität 180, wonach im Zweifel unter mehreren zulässigen Konkretisierungen diejenige zu wählen ist, die die juristische Wirkungskraft der Grundrechtsnorm am stärksten entfaltet. Die Ar1 74 Zur nichtpositivistischen Anspruchstheorie vgl. Alexy, ARSP Beih. 37 (1990), S. 19 ff.; vgl. auch Brugger, AöR 119 (1994), S. 5. 175 Vgl. etwa Brugger, AöR 119 (1994), S. 2 ff. 1 76 Anderes gilt jedenfalls für den Extremfall einer von Anfang an evident ungerechten Verfassung oder eines verfassungsändernden Unrechtsgesetzes. Vgl. dazu Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 79; Brugger, AöR 119 (1994), S. 12 Fn. 31 mit Bsp. Zum Verhältnis von positivem und überpositivem Recht auch Gusy, DÖV 1991, S. 466. 177 Vgl. P. Schneider, in: FS Deutscher Juristentag, Bd. II, S. 263 ff.; ders., VVDStRL 20 (1961), S. 31 ff.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 517 f.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 252 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 157 ff. Ablehnend z. B. Ehmke, Prinzipien, S. 86 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 394. 178 Vgl. auch Art. 1 Abs. 2 GG. 179 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 517. 180 Kritisch dazu Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 157ff.; Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 230.
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gumentationslast kann nicht über den eindeutigen Wort- oder Textsinn hinweghelfen, weil ein der Wortlautgrenze widersprechendes Ergebnis grundsätzlich keine zulässige Konkretisierung darstellt. Das Interesse an einer Maximierung grundrechtlicher Freiheit begründet somit keine Ausnahme von der Wortlautgrenze. cc) Wertungswidersprüche Als Wertungswiderspruch faßt Larenz die „unterschiedliche Bewertung wertungsmäßig gleichliegender Tatbestände" auf, die „mit der Idee der Gerechtigkeit im Sinne des »gleichen Maßes* nicht zu vereinbaren ist." 1 8 1 Die Vermeidung von Wertungswidersprüchen dient damit dem Gleichbehandlungsgrundsatz, der sich auch als ein Gebot materieller Gerechtigkeit auffassen läßt. Ebsen hält die Mißachtung der Wortlautgrenze grundsätzlich für zulässig, wenn es darum gehe, WertungsWidersprüche zu vermeiden 182 . Auch Zippelius billigt die Abweichung vom möglichen Wortsinn „aus Gründen gerechter Gleichbehandlung"183. Grundsätzlich sind jedoch im Verfassungsrecht angeordnete Wertungswidersprüche hinzunehmen, weil die positive Normierung nicht mit einem absoluten Vorrang der Gleichheit ausgehebelt werden darf 184 . Erst wenn ein Wertungswiderspruch unerträglich erscheint, ist eine Abweichung von der klaren Wort- oder Textbedeutung zulässig 1 8 5 . Für eine genauere Untersuchung wäre die Bildung von Fallgruppen anhand von Beispielsfällen erforderlich. Dafür ist im Rahmen dieser Problemskizze kein Raum.
d) Normzweck, Funktion und Zweckmäßigkeit (1) Darüber hinaus wird es für zulässig gehalten, zur Erreichung konkreter Ziele und Zwecke der jeweiligen Verfassungsnorm den eindeutigen Wortlaut zu übergehen 186 . Der Normzweck hat methodisch keinen höheren Rang als der Wortlaut. Das Problem besteht also darin, wo man aus verfassungstheoretischen Gründen die Präferenz setzt. Meines Erachtens rechtfertigt der einfache Normzweck die Durchbrechung der Wortlautgrenze nicht. Der eindeutige Wortsinn einer Verfassungsbe181
Larenz, Methodenlehre, S. 334. Vgl. Ebsen, Selbstregulierung, S. 44 (R 3). Bei einem entgegenstehenden Willen des Gesetzgebers soll anderes gelten. 183 Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 56. 184 Vgl. dazu Engisch, Einführung in das juristische Denken, S. 165 ff. (zu Prinzipien Widersprüchen), S. 163 ff. (zu Wertungswidersprüchen im einfachen Recht). 185 Soweit man in kollidierendem Verfassungsrecht auch einen Wertungswiderspruch sieht, bleibt es dabei, daß insofern eine Ausnahme von der Wortlautgrenze anzuerkennen ist. Siehe oben 3. Kap., B. III. 4. a) bb). 186 Vgl. dazu Ebsen, Selbstregulierung, S. 44 (R 2). 182
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Stimmung enthält ebenfalls eine Zweckfestsetzung, die alternativ möglichen Zwecksetzungen grundsätzlich vorgeht. Daher darf man also mit der teleologischen Auslegung im Normalfall nicht über das eindeutige Ergebnis der grammatischen Auslegung hinweggehen. Etwas anderes gilt nach dem zur Einheit der Verfassung Gesagten187, wenn der Zweck, der der Wortlautgrenze widerspricht, seinerseits in einer Verfassungsnorm festgelegt ist und sich ein logischer Normwiderspruch oder eine Prinzipienkollision ergibt. Eine Prinzipienkollision, die zu einer teleologischen Reduktion führt, wurde im Hinblick auf vorbehaltlose Grundrechte schon als Ausnahme von der Wortlautgrenze genannt. Eine Kollision in diesem Sinn, die sich auf die Einheit der Verfassung berufen kann, liegt jedoch nicht vor, wenn man mit Hilfe eines Verfassungsprinzips versucht, den Zweck einer Norm über die Wortlautgrenze hinaus auszudehnen. Damit würden sich grundrechtliche Schutzbereiche beliebig erweitern lassen. Demgegenüber ist - wie schon im Hinblick auf die Freiheitsmaximierung bemerkt 188 - die positive Anordnung der Verfassung grundsätzlich hinzunehmen. Somit rechtfertigen Zwecke von Verfassungsnormen grundsätzlich keine Ausnahmen von der Wortlautgrenze. Insbesondere ist eine analogische Ausdehnung von Verfassungsprinzipien entgegen ihrem eindeutigen Wortsinn unzulässig. Eine teleologische Reduktion, mit der ein logischer Normwiderspruch oder eine Prinzipienkollision berücksichtigt wird, bleibt dagegen möglich 189 . (2) Auch der bloße Funktionsverlust einer Norm kann normalerweise keine Verletzung der Grenzfunktion rechtfertigen 190. Dies ergibt sich sinngemäß aus den Ausführungen zu (1), weil die Funktionsfähigkeit einer Norm Teil ihres Zwecks ist. Dieses Ergebnis ist jedoch weniger rigide, als es scheint, weil der Text offen für neue Bedeutungen ist, die neue Funktionen erschließen können 191 . Der Interpret hat jeder Norm zu optimaler Wirksamkeit zu verhelfen, muß sich dabei aber an das eindeutig Gesagte halten. (3) Schließlich können Gesichtspunkte der bloßen Praktikabilität oder Zweckmäßigkeit eine Verletzung der Grenzfunktion des Wortlauts nicht rechtfertigen 192. Diese Gründe wiegen meines Erachtens nicht so schwer, daß sie sich gegen die verfassungsrechtlichen Prinzipien durchsetzen könnten, die für die Wortlautgrenze sprechen 193.
ist Siehe oben 3. Kap., B. III. 4. a). 188 Siehe oben 3. Kap., B. III. 4. c) bb). 189 Es sollte deutlich geworden sein, daß Analogie und teleologische Reduktion aus verfassungsrechtlichen bzw. -theoretischen, nicht aber aus methodischen Gründen unterschiedlich zu behandeln sind. 190 Anders Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 120 f. 191 Vgl. etwa Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 268. 192 Im Ergebnis ebenso Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 380. 193 Siehe dazu oben 3. Kap., B. III. 1.
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e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
e) Fazit Je nachdem, wie eng oder wie weit man die Ausnahmefallgruppen zur Wortlautgrenze faßt, kann die Grenzfunktion verstärkt oder abgeschwächt werden. Der vorliegende Ansatz versucht im Vergleich zur Rechtsprechung des BVerfG eine behutsame Stärkung der Wortlautgrenze. Danach ist ein Überspielen der Wortlautgrenze nur in bestimmten Fallgruppen zulässig. Im Ergebnis rechtfertigen logische Normwidersprüche, Prinzipienkollisionen und unerträglich ungerecht erscheinende Wertungswidersprüche eine Ausnahme von der Wortlautgrenze. Konsens, das Interesse an Freiheitsmaximierung, einfache Normzwecke, die Funktionsunfähigkeit einer Norm und Zweckmäßigkeitserwägungen rechtfertigen hingegen keine Ausnahme.
5. Zur Konstruktion
der Wortlaut grenze
Es bleibt die Frage, wie die so verstandene Wortlautgrenze in konstruktiver Hinsicht aufzufassen ist. Im Regel-Prinzipien-Modell Alexys, dem diese Arbeit im Grundsatz folgt, stellt die Wortlautgrenze letztlich ein Prinzip dar, zu dessen Gunsten eine Argumentationslastregel eingreift. Die Argumentationslast läßt sich durch bessere inhaltliche Gründe im Einzelfall überwinden, ohne daß die Art dieser Gründe näher spezifiziert würde. Für Alexy „gilt die Vorrangregel, daß die Regelebene der Prinzipienebene vorgeht, es sei denn, die Gründe für andere Festsetzungen als die auf der Regelebene getroffenen sind so stark, daß sie auch das Prinzip der Bindung an den Wortlaut der Verfassung zurückdrängen." 194 Dies zeigt, daß Alexy die Wortlautgrenze als Argumentationslastregel durch ein formelles Prinzip der Verfassungsbindung ergänzt. Die für und wider die Wortlautgrenze sprechenden Prinzipien sind damit im konkreten Fall abzuwägen. Für eine Durchbrechung der Wortlautgrenze muß aber nicht nur das materiale Prinzip, das im eindeutigen Text verankert ist, sondern auch das formelle Prinzip, das die Wortlautgrenze absichert, überwunden werden. Einerseits soll also die Einbeziehung eines formellen Prinzips in die Abwägung die Wortlautgrenze stärken. Andererseits wird die Wortlautgrenze aber gerade durch die Rückkopplung an das formelle Prinzip abwägungsfähig, wodurch sie ihren Regelcharakter ein Stück weit einbüßt. Da der im Rahmen der Abwägung geführte juristische Diskurs weitgehend ergebnisoffen ist, sind die Grenzen, die der Interpretation durch diese Konzeption der Wortlautgrenze gezogen werden, im Ergebnis schwach. Wie bereits dargelegt 195, ist eine Konzeption der Grenzen der Verfassungsinterpretation wünschenswert, die die Regelebene und die durch Methodik erzielbare Bindung der Interpretation angemessen berücksichtigt und dadurch ein Minimum an Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Voraussehbarkeit gewährleistet. In der hier w Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 122. 195 Siehe oben 2. Kap., F. III. (3), V.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
verfolgten Konzeption ist die Wortlautgrenze daher als Regel aufzufassen, die eine Reihe von genau umschriebenen Ausnahmen zuläßt. Damit unterscheidet sie sich von einer bloßen Argumentationslast, die sich durch bessere inhaltliche Gründe im konkreten Fall überwinden läßt, ohne daß diese Gründe näher spezifiziert, systematisiert und verallgemeinert werden müßten. Nach dem hier verfolgten Ansatz muß man für eine Durchbrechung der Wortlautgrenze begründen, daß eine der oben genannten Ausnahmefallgruppen einschlägig ist. Alternativ muß begründet werden, warum eine neue Ausnahmefallgruppe anerkannt werden sollte. Dabei läßt sich der Regelcharakter der Wortlautgrenze verstärken, wenn man neue Ausnahmefallgruppen von der Wortlautgrenze so wenig wie möglich ad hoc und so weit wie möglich im voraus bildet. Hierdurch wird die Flexibilität der Abwägung ein Stück weit eingeschränkt. Der Anschlußzwang an eine bestimmte Kategorie von Ausnahmen führt dazu, daß die Frage, ob eine Ausnahme überhaupt in Betracht kommt, berechenbarer wird. Die Bildung derartiger Fallgruppen trägt auch in anderen Bereichen des Rechts wie etwa der Interpretation von Treu und Glauben gemäß § 242 BGB zur Rechtssicherheit bei. Zugleich bleibt die Flexibilität und Zukunftsoffenheit der Interpretation grundsätzlich erhalten, weil stets die Möglichkeit besteht, neue Fallgruppen zu erschließen.
6. Beispielsfälle Die Auswirkungen der hier vertretenen Ansicht sollen im folgenden an einigen Beispielen demonstriert werden. Die Auswahl der Beispielsfälle orientiert sich an der Kritik, wie sie oben im Hinblick auf die aktivistische Grundrechtsjudikatur des BVerfG referiert wurde 196 .
a) Schutz von Geschäftsräumen nach Art. 13 Abs. 1 GG Es widerspricht der eindeutigen Wort- und Textbedeutung, wenn der Schutzbereich von Art. 13 Abs. 1 GG von Wohnungen auf Geschäftsräume ausgedehnt wird 1 9 7 . Geschäftsräume, in denen nur gearbeitet wird, sind nach herrschender Sprachkonvention in einem nichtironischen Kontext keine Wohnräume 198. Wie der Beschluß zeigt, kann man jedoch darüber streiten, ob der Begriff der Wohnung im grundrechtlichen Kontext schon immer weit verstanden wurde, wie es das BVerfG mit Hilfe der Entstehungsgeschichte zu begründen versucht 199 . Gegen ein weites Verständnis spricht aber meines Erachtens, daß das BVerfG selbst ausführt, der Wortlaut des Art. 13 Abs. 1 GG sei „nicht entscheidend"200, und daß es eine Neu196 197 198 199
Siehe oben l.Kap.,C.I. Vgl. BVerfGE 32, 54 (LS 1). Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 115 ff. Ähnlich Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 222. Vgl. BVerfGE 32, 69 ff. (72).
. Kap.:
e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
formulierung des Verfassungstextes anmahnt 201 . Damit räumt das Gericht die Überschreitung der Wortlautgrenze mehr oder weniger ein. Das Beispiel zeigt aber auch, wie der Gebrauch der Sprache in einem speziellen Kontext eine bestehende Konvention zu unterlaufen droht. Das BVerfG stützt sich für sein weites Verständnis von „Wohnung" vor allem auf das teleologische Argument, wonach das Grundrecht die „räumliche Privatsphäre" und daher auch die berufliche Persönlichkeitsentfaltung schütze202. Damit wird versucht, mit Hilfe eines einfachen verfassungsrechtlichen Zwecks eine ausdehnende, analogische Interpretation entgegen der Wortlautgrenze zu rechtfertigen. Dies ist, wie oben ausgeführt 203, keine Fallgruppe, in der ein Überspielen der Wortlautgrenze ausnahmsweise gerechtfertigt ist. Darüber hinaus nützt der umfassende, auch auf Geschäftsräume erstreckte Schutz der Privatsphäre zwar der grundrechtlichen Freiheit. Auch die Optimierung grundrechtlicher Freiheit ist jedoch wie dargelegt 204 keine zulässige Fallgruppe, in der eine Ausnahme von der Wortlautgrenze möglich ist.
b) Ungleiche Dauer von Wehr- und Ersatzdienst Eine vom BVerfG gebilligte 205 ungleiche Dauer von Wehr- und Ersatzdienst scheint Art. 12 a Abs. 2 S. 2 G G 2 0 6 eindeutig zu widersprechen 207. Dauer hat sprachlich nur mit zeitlicher Länge, nicht mit der Belastung durch die unterschiedlichen Dienste zu tun. Die Eindeutigkeit dieses Ergebnisses wird allerdings zweifelhaft, wenn man zwischen tatsächlicher und juristisch vorgesehener Dauer differenziert 208 . Es wäre sicherlich gut vertretbar, das Verbot der Ungleichheit kumulativ auf beide Alternativen zu beziehen. Sprachlich zwingend ist dies jedoch nicht. Aus sprachlicher Sicht spricht nichts gegen die Interpretation des BVerfG, die lediglich auf die gesetzlich angeordnete Dauer der beiden Dienste abstellt. Deshalb läßt sich der Fall nicht mit der Wortlautgrenze allein entscheiden209. 200 Ibid. 201 Vgl. ibid., S. 76. Vgl. auch Herzog, Unzulänglichkeiten des Verfassungstextes, S. 155 f. 202 Vgl. BVerfGE 32, 54 (71 f.). 203 Siehe oben 3. Kap., B. III. 4. d) (1). 204 Siehe oben 3. Kap., B. III. 4. c) bb). 205 Vgl. BVerfGE 69, 1 (28 ff.). 206 Die Bestimmung lautet: „Die Dauer des Ersatzdienstes darf die Dauer des Wehrdienstes nicht übersteigen." 207 So H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 915. Vgl. abw. M. Böckenförde und Mahrenholz, BVerfGE 69, 57 ff. (67 ff.). 208 Vgl. Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 26. Auf die tatsächliche Dauer stellen Böckenförde und Mahrenholz ab, vgl. BVerfGE 69, 57 ff. (69), auf rechtliche Dauer die Senatsmehrheit, vgl. ibid., S. 29 f. 209 Damit ist noch nicht gesagt, daß die an die unterschiedliche Belastung anknüpfende Auslegung des BVerfG überzeugt.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
c) Persönlichkeitsrechte Es existiert keine herrschende Sprachkonvention, die es ausschließt, unter freier Persönlichkeitsentfaltung gemäß Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 1 Abs. 1 GG auch Bestandteile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts wie das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zu verstehen. Der Grund hierfür ist, daß sich „unter den modernen Bedingungen der Datenverarbeitung" 210 ein Sprachgebrauch herausgebildet hat, der einen sprachlichen Kontext von Datenschutz und Persönlichkeitsentfaltung kennt. Darin könnte man eine Rückwirkung der verfassungsgerichtlichen Rechtsprechung auf den tatsächlichen Sprachgebrauch sehen. Soweit das BVerfG an einer Verschiebung der herrschenden Sprachkonvention mitgewirkt haben sollte, kann man dies aus verfassungstheoretischen Gründen kritisieren 211 . Rein sprachlich gesehen handelt es sich jedoch um eine vollendete Tatsache. Vor dem Hintergrund des gewandelten Sprachgebrauchs zählen zur möglichen Bedeutung von freier Persönlichkeitsentfaltung auch Bestandteile des allgemeinen Persönlichkeitsrechts. Deshalb geht der Einwand, wonach das allgemeine Persönlichkeitsrecht in der Verfassung nicht ausdrücklich geregelt sei, fehl. Eine ausdrückliche Regelung des allgemeinen Persönlichkeitsrechts ist aus sprachlichen Gründen jedenfalls nicht erforderlich 212 . Entsprechendes gilt für die allgemeine Handlungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 1 GG. Es ist zumindest zweifelhaft, ob der einzelne unter Persönlichkeitsentfaltung nicht auch seine allgemeine Handlungsfreiheit versteht. Deshalb ist eine Verletzung der Wortlautgrenze zu verneinen.
IV. Ergebnisse Auf der Grundlage eines pragmatischen Sprachverständnisses bezieht sich die Grenzfunktion der Wort- oder Textbedeutung in sprachlicher Hinsicht nur auf negative Kandidaten, die vom möglichen Wort- oder Textsinn eindeutig nicht erfaßt werden. Damit läuft die Wortlautgrenze in schwierigen Fällen zumeist leer, wie auch die Beispiele gezeigt haben. Von der Wortlautgrenze abgesehen, entfaltet der Verfassungstext für den Interpreten nur eine schwache Bindungswirkung. Diese beruht auf der stets durchzuführenden grammatischen Auslegung, die eine Indizfunktion für die Interpretation hat und sprachliche Anschlußzwänge in den Entscheidungsgründen schafft, weil sich die Interpretation mit dem Normtext auseinandersetzen muß.
210 BVerfGE 65, 1 (43) - Volkszählung. 211 Kritisch Würtenberger,
Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 68 f.
212 Im übrigen knüpft das BVerfG für das allgemeine Persönlichkeitsrecht durchaus an der Menschenwürde und der freien Entfaltung der Persönlichkeit an. Vgl. BVerfGE 65, 1 (41 f.).
. Kap.:
e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
In den Fällen, in denen sich die Wortlautgrenze sprachlich eindeutig bestimmen läßt, ist es verfassungsrechtlich grundsätzlich geboten, sie zu beachten. Andererseits sind aus verfassungsrechtlichen und -theoretischen Gründen Ausnahmen zuzulassen. Vorzugswürdig ist es, die Wortlautgrenze als ausnahmefähige Regel zu konstruieren. Soweit keine Ausnahme eingreift, stellt Verfassungsinterpretation gegen den eindeutigen Wort- oder Textsinn eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung dar. Die Ausnahmefallgruppen sind möglichst nicht ad hoc, sondern im voraus aufzustellen, um die Rigidität der Grenzfunktion als Regel aufrechtzuerhalten. Dem wird es nicht gerecht, wenn man die Grenzfunktion auf eine nicht weiter strukturierte Argumentationslast im Rahmen einer bloßen Einzelfallabwägung reduziert. Als Ausnahmefallgruppen zu der im Regelfall unübersteigbaren Grenzfunktion sind zusammenfassend zu nennen: (1) Logische Normwidersprüche; (2) Einschränkung von Grundrechten ohne Gesetzesvorbehalt durch kollidierendes Verfassungsrecht (teleologische Reduktion); (3) schwerwiegende Gründe materieller Gerechtigkeit, insbesondere unerträgliche Wertungswidersprüche.
Dagegen kann das Überspielen der Wortlautgrenze durch folgende Gründe nicht gerechtfertigt werden: (1) Konsens; (2) Freiheitsmaximierung; (3) einfache Zwecke im Sinne der teleologischen Auslegung; (4) Verfassungsprinzipien, mit denen die analogische Ausdehnung einer anderen Verfassungsnorm begründet werden soll; (5) Funktionsunfähigkeit einer Verfassungsnorm; (6) Zweckmäßigkeitserwägungen.
Im Ergebnis kommt der Grenzfunktion aus sprachlichen Gründen nur ein bescheidener Anwendungsbereich zu, der sich durch die Ausnahmefallgruppen nochmals reduziert. Deshalb trägt die Wortlautgrenze praktisch wenig zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation bei.
C. Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch den Willen des historischen Verfassungsgebers Wie die Diskussion des US-amerikanischen Originalismus gezeigt hat, kann man die Bedeutung einer Verfassung höchst unterschiedlich auffassen 213: (1) Mit dem historischen Textualismus Scalias kann man auf die objektiv-historische Text-
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
bedeutung abstellen 214 . (2) Für den Intentionalismus ist die subjektiv-historische Bedeutung maßgeblich, die sich aus dem Willen des Verfassungsgebers ergibt 215 . (3) Die in den USA wie in Deutschland herrschende Auffassung versucht, die objektive Bedeutung der Verfassung in der Gegenwart zu ermitteln. (4) Schließlich kommt als logisch mögliche Kombination noch in Betracht, den Willen des Verfassungsgebers in der Gegenwart zu ermitteln 216 . Dies stellt jedoch eine Fiktion dar und erscheint deshalb allenfalls im Rahmen teleologischer Auslegung vertretbar. Welchen Stellenwert der Wille des Verfassungsgebers innerhalb der Verfassungsinterpretation hat, richtet sich nach den sprachlichen und verfassungstheoretischen Prämissen des Interpreten. In Deutschland liegen die Varianten (2) und (3) miteinander im Streit, während die objektiv-historische Variante (1) kaum vertreten wird 2 1 7 . Die herrschende objektiv-gegenwartsbezogene Theorie der Interpretation sieht im historischen Willen nicht das entscheidende Auslegungselement (I.). Die subjektive Theorie der Interpretation will dagegen wie der US-amerikanische Intentionalismus mittels genetischer (= subjektiv-historischer) Auslegung den Willen des Verfassungsgebers 218 ermitteln und so das Verfassungsgericht begrenzen (II.). Allerdings bemühen sich in Deutschland beide Seiten um Kompromisse 219. Die vorliegende Arbeit folgt wie im Kontext der US-amerikanischen Verfassungstheorie der objektiven Lehre, was aber eine informierende Funktion der genetischen Auslegung nicht ausschließt (III.).
I. Objektive Theorie der Interpretation Nach der herrschenden objektiven Theorie ist das Ziel der Interpretation, den objektiven Sinn der Verfassung in der Gegenwart zu ermitteln 220 . Der Wille des 213
Vgl. zum folgenden auch die Systematisierungen bei Korinek, in: FS Walter, S. 368 f.; Brugger, AöR 119 (1994), S. 26 f., 34; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 179. 214 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. a). 2
*5 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) aa).
21
6 Vgl. dazu Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 58, 76, demzufolge das Verfassungsgericht unter bestimmten Voraussetzungen „wie ein auf Kompromiß bedachter verfassungsändernder Gesetzgeber" zu entscheiden hat. Vgl. auch Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 709; ders., DVB1. 1961, S. 685 ff. Ablehnend Korinek, in: FS Walter, S. 369. 217 Vgl. immerhin Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 189, mit einem Plädoyer für die „Vorrangigkeit entstehungszeitlicher Sprachkonventionen". Vgl. auch für Österreich Korinek, in: FS Walter, S. 380, 373 ff. 218
Hiermit ist im folgenden auch der verfassungsändernde Gesetzgeber gemeint. Kurz gesagt läßt die objektive Theorie die genetische Auslegung zu, während umgekehrt die subjektive Theorie nicht jede Rechtsfortbildung ausschließt. Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 186 (m. nachf. Zitat), 195, wonach Vertreter der subjektiven Theorie in Deutschland ,,[w]eit weniger radikal in Aussagen und Konsequenzen" als der Originalismus seien. 22 0 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 197. 219
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e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
historischen Normgebers ist weder das einzige noch ein abstrakt vorrangiges Auslegungskriterium 221. Noch stärker abschwächend hat das BVerfG seine Position zur genetischen Auslegung so formuliert: „Maßgebend für die Auslegung einer Gesetzesvorschrift ist der in dieser zum Ausdruck kommende objektivierte Wille des Gesetzgebers, so wie er sich aus dem Wortlaut der Gesetzesbestimmung und dem Sinnzusammenhang ergibt, in den diese hineingestellt ist. Nicht entscheidend ist dagegen die subjektive Vorstellung der am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Organe oder einzelner ihrer Mitglieder über die Bedeutung der Bestimmung. Der Entstehungsgeschichte einer Vorschrift kommt für deren Auslegung nur insofern Bedeutung zu, als sie die Richtigkeit einer nach den angegebenen Grundsätzen ermittelten Auslegung bestätigt oder Zweifel behebt, die auf dem angegebenen Weg allein nicht ausgeräumt werden können." 222
In diesem Zitat kann man eine Entscheidung zugunsten der objektiven Theorie sehen, weil immerhin auf den objektivierten Willen des Gesetzgebers Bezug genommen wird 2 2 3 . Darüber hinaus bekennt sich das BVerfG zum Viererkanon der Gesetzesauslegung, womit in der Formulierung einer Entscheidung von 1960 die „Auslegung aus dem Wortlaut der Norm (grammatische Auslegung), aus ihrem Zusammenhang (systematische Auslegung), aus ihrem Zweck (teleologische Auslegung) und aus den Gesetzesmaterialien und der Entstehungsgeschichte (historische Auslegung)" 2 2 4 gemeint ist. Dieser sog. „Kombinationstheorie" 225 zufolge stehen die vier Kriterien in keiner festen Rangordnung: „Um den objektiven Willen des Gesetzgebers zu erfassen, sind alle diese Auslegungsmethoden erlaubt. Sie schließen einander nicht aus, sondern ergänzen sich gegenseitig."226
Es wird also keinem Auslegungskriterium ein genereller Vorrang eingeräumt, auch wenn das BVerfG im konkreten Fall seine Entscheidung mit dem Vorrang eines bestimmten Kriteriums begründen mag. Soweit das BVerfG dem historischen Willen des Normgebers in seiner oben zitierten Aussage zur Methodik nur die beschränkte Rolle zugewiesen hat, andere Auslegungselemente zu bestätigen und Zweifel zu beheben, ist dies fragwürdig. 221
Vgl. Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 51. BVerfGE 1, 299 (312). Vgl. zur Rspr. Sachs, DVB1. 1984, S. 73 ff.; H-R Schneider, in: FS Stern, S. 908 f. Für den österreichischen Verfassungsgerichtshof konstatiert Korinek, in: FS Walter, S. 380, ebenfalls ,,[e]ine relativ große Distanz" zur subjektiv-historischen Interpretation, die nur bei Unklarheit oder zur Information herangezogen werde. Dafür habe jedoch die objektiv-historische Methode „große Bedeutung". Vgl. auch Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 14. 222
22
3 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 237; Sachs, DVB1. 1984, S. 74; Heun, AöR 116 (1991), S. 196; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 54. 224 BVerfGE 11,126 (130). 225 Dazu Brugger, AöR 119 (1994), S. 21 m. Zitat. 226 BVerfGE 11, 126 (130).
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Zum einen widerspricht dem schon die Praxis der verfassungsgerichtlichen Interpretation 227 . Das genetische Kriterium wird weit öfter eingesetzt, als es die zurückhaltende Stellungnahme vermuten läßt. Es wird als abstrakt gleichrangiges und im Einzelfall entscheidendes, das heißt vorrangiges Kriterium behandelt. Zuweilen trägt die genetische Auslegung sogar allein das Ergebnis 228 . Auch wird der historische Wille vor anderen Auslegungselementen untersucht. Zum anderen gibt es keine überzeugenden Gründe für ein ahistorisches Normverständnis, das den geschichtlichen Kontext der Verfassungsgebung als eines politischen Willensaktes unberücksichtigt läßt 229 . Deshalb ist die genetische Auslegung stets und nicht etwa nur subsidiär zu berücksichtigen 230. Vorzugswürdig ist die Kombinationstheorie, wonach die genetische Auslegung auch zum entscheidenden Auslegungselement werden darf, wenn sie eine überzeugende Lösung ermöglicht. Der von Koch/Rüßmann geprägte Begriff der „Vereinigungstheorie" 231 bringt treffend zum Ausdruck, daß das BVerfG mit der janusköpfigen Formel vom „objektiven Willen des Gesetzgebers" 232 objektive und subjektive Momente der Auslegung anspricht 233 . Eine rein objektive Theorie, die auf die genetische Auslegung verzichtet, würde die Bedeutungsermittlung ungerechtfertigt verkürzen 234 . Überzeugend ist also nur eine modifizierte objektive Theorie, die die genetische Auslegung berücksichtigt.
227 Dazu Hesse, Grundzüge, Rdnr. 58; Stern, Staatsrecht I I I / 2, S. 1664 ff.; ausführlich Sachs, DVB1. 1984, S. 73 ff. (80 f.). 228 Dazu H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 918 ff., der hier von „Leitfunktion" spricht. 229 Gegen eine Abwertung des Kriteriums der Entstehungsgeschichte Larenz, Methodenlehre, S. 318, 363. Vgl. auch H.-P. Schneider, in: FS Stem, S. 912, 917, 922, zur „Informationsfunktion" (ibid., S. 917) der genetischen Auslegung. 230 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 318, der als Ziel der Gesetzesauslegung die „Ermittlung des heute rechtlich maßgeblichen, also eines normativen Sinnes des Gesetzes [ . . . ] unter Berücksichtigung auch der Regelungsabsichten und der konkreten Normvorstellungen des historischen Gesetzgebers" nennt. 231 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 178. Zustimmend Larenz, Methodenlehre, S. 318 Fn. 15. 232 BVerfGE 11, 126(130). 233 Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 178, 184, meinen, daß es hier nicht um die Alternative zwischen objektiver und subjektiver Theorie, sondern um die Rangfolge der Auslegungskriterien gehe. Ahnlich H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 907. Gegen den Begriff der Vereinigungstheorie ist jedoch kritisch einzuwenden, daß er gerade nicht erkennen läßt, inwieweit der objektiven Bedeutung oder dem subjektiven Willen des Normgebers ein Vorrang eingeräumt wird. 234 Vgl. Larenz, Methodenlehre, S. 316, 318; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1658; H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 907.
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e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
II. Subjektive Theorie der Interpretation Im folgenden soll die sprachtheoretische Grundlage einer anspruchsvollen Variante der subjektiven Theorie vorgestellt und diskutiert werden (1.). Darauf aufbauend sind die möglichen Auswirkungen der subjektiven Theorie für die Begrenzung der Verfassungsinterpretation zu skizzieren (2.). Schließlich ist die verfassungstheoretische Kontroverse um die subjektive Theorie zu resümieren, die parallel zur Diskussion des US-amerikanischen Intentionalismus verläuft (3.).
1. Zu den sprachtheoretischen Annahmen der subjektiven Theorie Die traditionsreiche 235 subjektive Theorie der Interpretation versucht, den Willen des historischen Gesetzgebers zu ermitteln, indem sie ihm Ziele, Motive und Beweggründe zuschreibt 236. Die Norm wird nicht als ein „von ihrem Ursprung getrenntes, selbständig zu befragendes Sinngebilde aufgefaßt", vielmehr wird ihr Inhalt „mit dem Willen des historischen Gesetzgebers identifiziert" 237 : „Das Ziel der Auslegung ist allein das Gewollte; das Gesagte, also das semantische Argument, ist nur ein Mittel, um das Gewollte herauszufinden." 238
Man kann die Intention des Normgebers bereits aus sprachlichen Gründen für einen Bestandteil der Normbedeutung halten. Damit vermeidet man den Einwand, daß der Wille des Normgebers im Gegensatz zum Normtext unverbindlich sei. Diesen Weg beschreiten etwa Otto Depenheuer und Manfred Herbert 239 , die, an die Sprachphilosophie des späten Wittgenstein anschließend, die subjektive Theorie auf eine pragmatische Grundlage stellen. Der Irrtum der objektiven Theorie bestehe darin, allein dem Normtext ohne den zugehörigen Kontext Normativität zuzusprechen 240. Wenn nach Wittgenstein Worten ihre Bedeutung nur im Gebrauch zukomme, dann müsse man die Worte primär auf ihren historischen Kontext beziehen, in dem sie der Normtextgeber gebraucht habe 241 . Der Kontext wird dabei kei235 Zu den rechtsgeschichtlichen Wurzeln der subjektiven Theorie im 19. Jhd. Larenz, Methodenlehre, S. 316 f.; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 20 f.; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 236 f. 2 36 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 234 f., 259, 289, 290 f. 237
Sachs, DVB1. 1984, S. 74.
238
Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 260. Vgl. auch ibid.: „Mehr als das, was er [der Gesetzgeber - J.R.] gewollt hat, hat er nicht gesagt." 239 Vgl. Depenheuer, DVB1. 1987, S. 809 ff.; ders., Der Wortlaut als Grenze, S. 55, 60; sowie Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 197, 256 ff. 269, 290 f., der eine gemäßigte subjektive Theorie vertritt. Siehe zu beiden bereits oben 3. Kap., B. II. 2. b). 24
° So Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 43. 24i Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 241 ff., 259, 290. Für Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56, geht es um ein Verstehen der Verfassung in dem Sinne, daß das Sprachspiel des Verfassungsgebers zu erlernen sei. Von „Normkontext" spricht im Hinblick
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
neswegs nur auf öffentliche Willensäußerungen einzelner Individuen bezogen; vielmehr wird regelmäßig „eine Gesamtschau des historisch-politischen Kontextes" gefordert 242. Die Gebrauchstheorie der Bedeutung243 erklärt überzeugend, warum man die genetische Auslegung überhaupt für die Interpretation berücksichtigen sollte. Denn auch der historische Gebrauch des Normtextes zählt zur sprachlichen Bedeutung 2 4 4 . Jedoch ist daran zu erinnern, daß der Wille der an der Normtextsetzung beteiligten Personen nicht das einzige bedeutungsverleihende Moment ist. Auch der Sprachgebrauch der Normadressaten ist zu berücksichtigen. Deshalb kritisiert Heun zu Recht, daß die Anhänger der subjektiven Theorie ein verkürztes Kommunikationsmodell verwenden. Die Rolle des Rezipienten werde ausgeklammert, wenn man einseitig auf die Sprecherintention abstelle 245 . Ein pragmatischer Standpunkt zwingt also nur dazu, den historischen Willen - so er ermittelbar ist - als Teil des Gebrauchskontextes überhaupt zu berücksichtigen. Eine pragmatische Bedeutungslehre fordert hingegen nicht, allein auf den historischen Willen abzustellen. Statt dessen wäre es zunächst geboten, neben dem Willen des Normgebers auch den Gebrauch des Verfassungstextes durch die historischen Normadressaten zu untersuchen, wie dies die objektiv-historische Lehre vertritt 246 . Darüber hinaus schöpft es die Bedeutung des Normtextes nicht aus, wenn man nur den historischen Kontext berücksichtigt. Auf pragmatischer Grundlage liegt es vielmehr nahe, zusätzlich auch den heutigen Sprachgebrauch einzubeziehen, um die Bedeutung der Verfassung zu ermitteln. In sprachlicher Hinsicht vermag die subjektive Theorie der Interpretation daher nicht überzeugend zu erklären, warum nur der historische Wille des Normgebers zählen soll. In sprachlicher Hinsicht darf die Ermittlung des historisch Gewollten somit nicht das einzige Ziel der Bedeutungsermittlung sein. Sprachtheoretische Gründe auf die historischen Quellen auch H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 913. Er betont die Bedeutung der Verfassungstradition und die naturgemäße Geschichtlichkeit des prozeßhaften Rechts, vgl. ibid., S. 911 f., 922 f. 242 Depenheuer, DVB1. 1987, S. 813; ähnlich Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 259, 290; auch H.-R Schneider, in: FS Stern, S. 915 ff., fordert eine historische und diskursive „Gesamtschau" (ibid., S. 916), die sich auf alle Faktoren erstrecken müsse, die zur Normgebung geführt haben. 243 Siehe dazu oben 3. Kap., B. I. 244 Insofern besteht ein Zusammenhang zwischen grammatischer und genetischer Auslegung. 245 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 202 f., der sich für seine Überlegungen auf Busse, Was ist die Bedeutung eines Gesetzestextes?, in: Fr. Müller (Hrsg.), Untersuchungen zur Rechtslinguistik, 1989, S. 93 ff., beruft. 246 in diesem Zusammenhang ist bemerkenswert, daß selbst im neueren US-amerikanischen Originalismus die objektiv-historische Bedeutung im Vordergrund steht, während sich vom historischen Willen distanziert wird. Scalia vertritt dies ausdrücklich, während sich Bork zumindest zur objektiv-historischen Position bekennt, auch wenn er m.E. in den Intentionalismus zurückfällt. Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. a) und b) bb).
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e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
sprechen vielmehr dafür, auch die gegenwärtige Verwendung des Normtextes zu berücksichtigen. Aus verfassungstheoretischen Gründen kann man freilich die Auffassung vertreten, daß das primäre Ziel der Interpretation dennoch die Ermittlung des historisch gewollten Sinns sei. Ob dieser Standpunkt berechtigt ist, läßt sich nicht auf der sprachlichen, sondern nur auf der verfassungsrechtlichen und -theoretischen Ebene entscheiden.
2. Begrenzung der Interpretation
durch das historisch Gewollte
Die subjektive Theorie knüpft am Willen des Verfassungsgebers an, um die Interpretation verstärkt an die Verfassung zu binden und um das Verfassungsgericht zu begrenzen 247. Dies kann auf unterschiedliche Weise geschehen. Zu denken ist an eine Beschränkung der Interpretation auf die genetische Auslegung, an einen abstrakten Vorrang des historisch Gewollten und an eine bloße Argumentationslast. (1) Auf der Grundlage der subjektiven Theorie kann man eine Beschränkung der Interpretation auf die grammatische, enge systematische und genetische Auslegung befürworten. Dieser an Forsthoffs „klassische" Auslegung 248 erinnernde Ansatz erhält eine originalistische Färbung, wenn dem historisch Gewollten gegenüber der mehrdeutigen Text- und Kontextbedeutung ein abstrakter Vorrang zuerkannt wird 2 4 9 . Beides zusammengenommen läßt nur einen höchst restriktiven Gebrauch der teleologischen Auslegung zu. Auf eine solche Lösung läuft es hinaus, wenn man mit Depenheuer erstens ein „Verbot interpretativer Inhaltserfüllung" fordert, soweit der Normgeber juristisch nichts entscheiden wollte 2 5 0 , und zweitens die Rolle des Interpreten darauf beschränkt, den historischen Willen „zu Ende zu denken" 2 5 1 . So wird versucht, den Abbruch der Interpretation zu vermeiden, ohne die historisch vorgezeichnete Bahn zu verlassen. Dabei will Depenheuer zwar nicht 247 Zur Bindung an das Gewollte Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 169, 179, 182. Umgekehrt wird der objektiven Theorie die „Verwässerung" der Gesetzesbindung vorgeworfen, so Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 268. 248 Siehe oben 2. Kap., A. I. Wie dort gezeigt, will sich Forsthoff auf den Methodenkanon Savignys als einen Vertreter der subjektiven Theorie beschränken (vgl. zu Savignys Position Stern, Staatsrecht III/2, S. 1663 f.; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 20 f.). Diese Beschränkung billigt Depenheuer, ibid., S. 55 Fn. 196 m. Text. Von der Ermittlung der historischen Bedeutung als vorrangigem Ziel der Auslegung ist bei Forsthoff jedoch nicht die Rede. 249 Ein abstrakter Vorrang der genetischen Auslegung vor dem eindeutigen Ergebnis der grammatischen und systematischen Auslegung ließe sich nur bei einer Verabsolutierung des subjektiven Standpunktes befürworten. 2 50 Vgl. Depenheuer, DVB1. 1987, S. 811 (m. Zitat): „Das Bindungspostulat zwingt, den Gesetzgeber auch dann ernst zu nehmen, wenn er juristisch nichts hat entscheiden wollen [...]•" 2 51 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 55 f. Zitat bei Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 259.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
die kreative Eigenleistung des Interpreten leugnen 252 . Dennoch hält er aktualisierende Interpretation und Rechtsfortbildung „jedenfalls gegenüber Gesetzgebungsakten der jüngeren Vergangenheit" für unzulässig253: „Jede objektive, zeitgerechte, wirklichkeitsnahe Interpretation ist in Wahrheit eine Neuoder Uminterpretation des vorgegebenen bindenden Norminhalts, d. h. eine Inanspruchnahme von Legislativkompetenz durch den Interpreten. Dazu aber hat er kein Mandat." 254
An anderer Stelle zeigt sich Depenheuer weniger rigoros, wenn er aus Gründen der Transparenz auf einer begrifflichen Trennung von Konkretisierung und Rechtsfortbildung besteht, letztere aber grundsätzlich für zulässig hält 2 5 5 . Hierzu ist kritisch anzumerken, daß ein „Zu-Ende-Denken" des historischen Willens in schwierigen Fällen keine objektive und wertneutrale Extrapolation des historisch Gewollten in die Gegenwart sein kann. Dies hat sich anhand der erheblichen Wertungsspielräume gezeigt, die der US-amerikanische Originalismus dem Verfassungsinterpreten planwidrig eröffnet 256 . Das „Zu-Ende-Denken" kann auf eine verdeckte Fortschreibung des historisch Gewollten hinauslaufen, die sich an den eigenen Werten des Verfassungsinterpreten orientiert. Mit Hesse ist festzuhalten, daß die Verfassung in schwierigen Fällen keine eindeutigen Maßstäbe enthält, weshalb der „Verfassungsgeber in Wahrheit noch nicht entschieden, sondern nur mehr oder weniger zahlreiche unvollständige Anhaltspunkte für die Entscheidung gegeben" hat 2 5 7 . Die Bemühungen richten sich deshalb allenfalls auf die Ermittlung eines vermuteten oder fiktiven Willens 258 . Dieser nimmt aber an der - von der subjektiven Theorie unterstellten - besonders starken Legitimation des tatsächlichen Willens des Verfassungsgebers nicht teil. Verzichtet man auf eine Fortschreibung des historisch Gewollten, so droht bei diesem Ansatz der Abbruch der Interpretation, wenn die genetische Auslegung nicht zu einem klaren Ergebnis führt 259 .
252 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 10, 56. 253 Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812. Vgl. auch ders., Der Wortlaut als Grenze, S. 11 ff., zum Verfassungsrichterrecht. 254 Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812. Ähnlich restriktiv klingt Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 89, der es für unzulässig hält, die Kontrollfunktion des Verfassungsgerichts zur „Kompetenz für Verfassungswandel und Verfassungsausfüllung (was beides Formen der Verfassungsänderung sind)" auszuweiten. Vgl. demgegenüber Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 70 ff., insb. S. 71. 255 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56 f., wonach Rechtsfortbildung auch im Verfassungsrecht legitim sein könne. Vgl. auch ibid., S. 11, 21 f. Den im Text genannten Widerspruch kritisiert Heun, AöR 116 (1991), S. 206 Fn. 130,195 Fn. 64. 256 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 257 Hesse, Grundzüge, Rdnr. 56. Siehe dazu bereits oben 2. Kap., A. II. 3. (1). 258 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 56. 259 Ein Beispiel für einen solchen Abbruch liefert die Auslegung des Sozialstaatsprinzips bei Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 48. Siehe oben 1. Teil, 4. Kap., A. II. 2.
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e t d e Grenzen der Verfassungsinterpretation
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(2) Eine abgeschwächte subjektive Theorie läßt die teleologische Auslegung zu, soweit der Wille des Verfassungsgebers nicht sicher feststellbar ist. Soweit die genetische Auslegung jedoch klare Ergebnisse liefert, wird ihr im Kollisionsfall ein abstrakter Vorrang vor alternativ möglichen Zwecksetzungen eingeräumt 260. Weniger eine Rang-, sondern mehr eine Schrittfolge der Auslegungselemente vertritt, wer auf die teleologische Auslegung erst zurückgreifen will, wenn sich die Interpretation nicht schon anhand der grammatischen, systematischen und genetischen Auslegung entscheidet. Auf diese Weise soll eine Kollision der Auslegungselemente und damit eine Vorrangproblematik vermieden werden. Einen Vorrang der genetischen vor der teleologischen Auslegung bejahen Koch / Rüßmann, wenn man ihre entsprechende Aussage zur „Gesetzesauslegung" auch auf die Grundrechte bezieht 261 . Die von ihnen vertretene Vereinigungstheorie262 läßt sich zwar nicht der subjektiven Theorie zurechnen 263. Auch eine vermittelnde Theorie, wie sie die Vereinigungstheorie darstellt, kann aber den historischen Willen vorrangig berücksichtigen, um so die Interpretation zu begrenzen. Die genetische Auslegung übernimmt dann eine Auswahlfunktion, die eine von mehreren sprachlich möglichen Bedeutungen als maßgeblich auszeichnet. Auch Larenz hält bei Mehrdeutigkeit von Text und Kontext die Regelungsabsicht des Gesetzgebers für maßgeblich 264 . Umgekehrt soll die teleologische Auslegung erst dann zum Einsatz kommen, wenn die vorgenannten Kriterien nicht ausreichen 265 . Darin scheint sich eine feste Rang- oder Schrittfolge auszudrücken 266. Bei näherem Hinsehen ist dies jedoch weniger eindeutig. Larenz schränkt nämlich seine Aussage sofort dahingehend ein, daß „kein festes Rangverhältnis" bestehe, wonach „das Gewicht der einzelnen Kriterien ein- für allemal feststünde." 267 Er spricht auch davon, daß ein historischer Zweck durch Zeitablauf oder einen Wandel der Normsituation nicht mehr vertretbar sein könne 268 . Schließlich bleiben 260 Für einen „Vorrang historischer Interpretation" tritt Korinek, in: FS Walter, S. 374, ein. Wie der Zusammenhang ergibt, ist damit aber die objektiv-historische Methode gemeint (vgl. ibid., S. 380, 369). Darüber hinaus hält es Korinek grds. für unzulässig, Rechtsvorschriften durch Interpretation an neue Situationen anzupassen, vgl. ibid., S. 374. 261 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 176 ff. (182). Zur teleologischen Auslegung ibid., S. 221 ff. 262 Dazu oben 3. Kap., C. I. am Ende. 263 Dafür spricht vor allem, daß Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 161 ff., ein konventionales Sprachverständnis vertreten und den Intentionalismus als Bedeutungslehre strikt ablehnen, vgl. ibid., S. 139 ff., 160, 163. 264 Larenz, Methodenlehre, S. 344, spricht hier von ,,historisch-teleologische[r] Auslegung". 2 65 Vgl. ibid., S. 344. 266
So wird Larenz in der Tat von Stern, Staatsrecht III/2, S. 1666; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 182; und Gern, VerwArch 80 (1989), S. 423 f., verstanden. 267 Larenz, Methodenlehre, S. 345 m. Fn. 69. 2 68 Vgl. ibid., S. 345. 24 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Zweifel, ob die Vorrangregel auch im Bereich der offenen und in besonderem Maße auf teleologische Auslegung angewiesenen Grundrechtsnormen anwendbar sein soll, selbst wenn Larenz keinen Grund sieht, „die allgemeinen Auslegungsgrundsätze nicht wenigstens prinzipiell auch auf die Verfassungsinterpretation anzuwenden" 2 6 9 (3) In ihrer schwächsten Form führt die subjektive Theorie lediglich zu einer Argumentationslast zugunsten klarer Ergebnisse der genetischen Auslegung 270 , die man jedoch auch ohne weiteres auf dem Boden der objektiven Theorie bejahen kann 271 . Im Gegensatz zu einer abstrakten Rangordnung der Auslegungselemente verleiht sie der genetischen Auslegung keinen starken, sondern nur einen schwachen Vorrang. Wenn dem Verfassungsinterpreten keine besseren Argumente einfallen, bleibt es innerhalb des möglichen Wortsinns und der Systematik bei dem historisch Vorbedachten und Intendierten. Eine Argumentationslast setzt der Verfassungsinterpretation kaum Widerstand entgegen, wenn man das historisch Gewollte für nicht überzeugend hält und dies begründen kann.
3. Resümee zu Einwänden und Gegeneinwänden In der Literatur wird die Durchführbarkeit und die Angemessenheit der subjektiven Theorie bezweifelt 272 . Die Diskussion orientiert sich vielfach an den vier klassischen Einwänden, gegen die Philipp Heck 2 7 3 die subjektive Theorie verteidigt hat: (1) Nach dem Willensargument gibt es keinen einheitlichen Willen des Gesetzgebers; zumindest lasse er sich nicht feststellen. (2) Dem Formargument zufolge ist der Gesetzestext, nicht aber der Wille des Normgebers normativ verbindlich 2 7 4 . (3) Das Vertrauensargument läßt subjektive Vorstellungen des Verfassungsgebers nur zu, soweit diese für den Normadressaten im Text erkennbar sind. 269 Vgl. ibid., S. 363. 270 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 258, der den Interpreten verpflichtet sieht, „den Willen des Gesetzgebers zur Kenntnis zu nehmen und ihn zumindest grundsätzlich zu beachten." 271 Vgl. Alexy, Theorie der juristischen Argumentation, S. 305; ders., Theorie der Grundrechte, S. 503: Wenn sich aus der genetischen Auslegung etwas Eindeutiges ergebe, sei dies als Argument anzuführen; wenn diesem Argument nicht gefolgt werde, sei es notwendig, rechtfertigende Gründe dafür zu nennen. Vgl. auch Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 188. 272 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S 189 ff. (zum Originalismus), 199 ff. (zur subj. Theorie); Schlink, Staat 19 (1980), S. 102 m. Fn. 91; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 502 f.; ders., Theorie der juristischen Argumentation, S. 293 f.; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 210 ff.; Pestalozza, Staat 2 (1963), S. 426,428 f. 273 Vgl. Heck, Gesetzesauslegung und Interessenjurisprudenz, AcP 112 (1914), S. 1 ff., 89 ff., 173 ff. 274 Vgl. etwa Schiaich, VVDStRL 39 (1981), S. 109: „Der Gesetzgeber schuldet gar nichts anderes als das Gesetz" (Nachw. weggelassen). Zustimmend Heun, AöR 116 (1991), S. 205 f. Dazu Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 23 f.
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(4) Das Ergänzungsargument „beinhaltet den Vorwurf, die subjektive Auslegung sei statisch und werde dem Bedürfnis nach einer anpassungsfähigen und zeitgerechten Interpretation nicht gerecht." 2 7 5 Gegenüber diesen Einwänden werden Vertreter der subjektiven L e h r e 2 7 6 kurz gesagt darauf verweisen, daß sich (1) der historische Wille in vielen Fällen doch zuverlässig feststellen lasse 2 7 7 , daß er (2) Bestandteil der Normbedeutung und normativ geforderter Anknüpfungspunkt der Verfassungsbindung s e i 2 7 8 , daß (3) dem Experten auch historische Quellen zugänglich seien, während sich dem Laien der Inhalt der Norm auch aus dem Text nicht oder nur unvollkommen erschließe 2 7 9 , und daß (4) entweder eine vom Verfassungsgeber gewollte Rigidität der Verfassung i m Interesse der Rechtssicherheit und Berechenbarkeit der Verfassungsinterpretation hinzunehmen s e i 2 8 0 oder daß die subjektive Theorie nicht notwendigerweise jegliche Rechtsfortbildung ausschließe 281 . Diese Einwände und Gegeneinwände entsprechen i m wesentlichen den bereits ausführlich besprochenen 282 Argumenten für und gegen den Originalismus, weshalb die Diskussion hier nicht zu vertiefen ist.
275
So Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 266, der den strikten Intentionalismus ibid., S. 269, ablehnt. Vgl. auch Heun, AöR 116 (1991), S. 206; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 21 f.; sowie Stern, Staatsrecht III/2, S. 1658, 1677 f. (m. nachf. Zitat): „Die Angst vor der verfassungsgerichtlichen Interpretationsmacht darf die Verfassung nicht in statisch-historische Versteinerung führen." 276 Verteidigung der subjektiven Theorie aus neuerer Zeit bei Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812 f.; Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 258 ff. Vgl. auch Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 180 f., 210 ff.; sowie H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 912, 915 ff. Schneider will zu einer „Rehabilitierung" der „historisch-genetischen Methode" (ibid., S. 904) beitragen, ohne damit jedoch den Standpunkt der subjektiven Theorie zu übernehmen. Mit Heun, AöR 116 (1991), S. 197, lassen sich auch Baden, Gesetzgebung und Gesetzesanwendung im Kommunikationsprozeß, S. 271 (Nr. 52), 272 (Nr. 57 ff.); und Hegenbarth, Juristische Hermeneutik und linguistische Pragmatik, etwa S. 199 ff., als Vertreter der subjektiven Theorie einordnen. 277
Nach Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 261, 264, 291, wäre Kommunikation unmöglich, wenn sich eine sprachliche Äußerung nie in ihrem historischen Kontext verstehen ließe. Diese Überlegung trifft grds. zu, ändert aber im Bereich der offenen und weiten Grundrechtsnormen nichts an den bereits diskutierten Problemen hinsichtlich des vom Interpreten zu bestimmenden Abstraktionsgrades des historischen Prinzips und seiner Anwendung auf die Gegenwart. Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 278 Vgl. Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812 f. (unter c]). Siehe dazu oben 3. Kap., C. II. 1. 27 9 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 265. 28 0 In diese Richtung Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812, für den sich „Zukunftsgestaltung und Offenheit einer Norm allein nach Maßgabe des Willens des Verfassungsgebers" vollziehen sollen. Vgl. auch Korinek, in: FS Walter, S. 373 f. 28 * Selbst Depenheuer, DVB1. 1987, S. 812, schließt wie erwähnt nicht jegliche Rechtsfortbildung aus. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 269, läßt die Rechtsfortbildung grundsätzlich zu. So auch Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56 f. 282 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. *
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
III. Stellungnahme Die subjektive Theorie der Interpretation ist mit den gleichen Argumenten abzulehnen, die gegen den US-amerikanischen Originalismus vorgebracht wurden 283 . Ziel der Interpretation muß es sein, die objektive Bedeutung der Verfassung in der Gegenwart zu ermitteln. Deshalb folgt diese Arbeit der objektiven Theorie. Nach ihr darf sich die Interpretation nicht auf die genetische Auslegung beschränken. Vielmehr ist stets im Sinne der teleologischen Auslegung zu fragen, welchen Zweck die Norm in der heutigen Zeit erfüllen soll. Allerdings ist die genetische Auslegung nicht lediglich in Zweifelsfällen, sondern stets zu berücksichtigen, weil sie eine wichtige Indizfunktion entfalten kann. Dem historisch Gewollten darf kein abstrakter Vorrang gegenüber der grammatischen, systematischen und teleologischen Auslegung eingeräumt werden, weil dies zu einer vergangenheitsorientierten und unflexiblen Verfassungsinterpretation führen würde 284 . Deshalb „muß grundsätzlich der Einzelfallentscheidung überlassen bleiben, welchem Gesichtspunkt der Auslegung jeweils der Vorzug zu geben ist." 2 8 5 Es spricht jedoch nichts dagegen, das klare Ergebnis der genetischen Auslegung als Argumentationslast zu verwenden 286 , weil das historisch Gewollte in dieser Form eine sinnvolle Bindung der Verfassungsinterpretation vermitteln kann. Eine weitergehende Kontrolle der Verfassungsinterpretation durch den historischen Willen ist demgegenüber nicht durchführbar, da meistens schon die nicht rechtsfortbildende Konkretisierung den Rahmen des historisch Gewollten überschreitet und eine objektive Fortschreibung des historischen Willens im Hinblick auf die veränderten Umstände in der Gegenwart nicht möglich ist. Auf der Grundlage der objektiven Theorie stellt die genetische Auslegung deshalb nur eine schwache Begrenzung der Verfassungsinterpretation dar.
D. Begrenzung durch Strukturierende Methodik (Fr. Müller) Kann die Methodenlehre Friedrich Müllers, der Böckenförde im Jahre 1976 das Prädikat der „womöglich am konsequentesten demokratisch-rechtsstaatlichen" 287 Interpretationstheorie verlieh, ihr Versprechen einer umfassenden Bindung der Verfassungsinterpretation einlösen? Drei begrenzende Elemente werden hier aus Müllers Werk herausgegriffen, nämlich die strikte Normanbindung der Interpretation (I.), die Rangordnung der Konkretisierungselemente (II.) und die sog. Normbe283 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd).
284 285 286 287
Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (2) und (3). Stern, Staatsrecht III/2, S. 1667. A.A. Heun, AöR 116 (1991), S. 206. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 77 Fn. 90.
. Kap.:
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Grenzen der V e r f a s s u n g s i n t e r p r e t a t i o n 3
reichsanalyse, mit der die soziale Wirklichkeit kontrolliert in die Norm einbezogen werden soll (III.).
I. Strikte Normanbindung aller Auslegungselemente Für Müller ist der Inhalt der Norm nicht in der Verfassung vorgegeben, die Norm mit dem Normtext nicht identisch 288 . Vielmehr sei sie durch schrittweise, kontrollierte Konkretisierung erst zu erzeugen 289. An zentraler Stelle steht in seiner Methodik die „Zurechnung" von Norminhalt zum Normtext, wobei die Verknüpfung durch die methodischen Elemente hergestellt wird 2 9 0 . Dies ist jedoch nicht im Sinne einer Determination zu verstehen, die Müller für einen seltenen Ausnahmefall hält 2 9 1 . Mit der Topik teilt er die Problem- und Sachorientierung 292 sowie deren Theorie- und Systemskepsis293. Demgegenüber lehnt er Abwägungen entschieden ab 2 9 4 . Eine für die strikte Normanbindung entscheidende Frage ist, ob und inwieweit verfassungs- und grundrechtstheoretische Erwägungen im Rahmen der Konkretisierung zulässig sind 295 . Müller bejaht grundsätzlich die Zulässigkeit von rechts-, staats- und verfassungstheoretischen Argumenten, die er als „Theorie-Elemente" bezeichnet, schränkt aber ein, daß sie im positiven Recht abgestützt sein müßten und diesem nicht widersprechen dürften 296 . Außernormative Quellen der Konkretisierung seien ebenso unzulässig wie eine freie rechtspolitische Argumentation. Hiergegen ist nichts einzuwenden. Müller scheint jedoch unter „Absetzbarkeit im positiven Recht" 297 mehr als nur Vereinbarkeit zu verstehen. Das zeigt sich auch daran, daß er die teleologische Argumentation nur insoweit für zulässig hält, als sie durch andere Auslegungselemente belegt werden könne 298 . Wenn man diese 288 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, etwa Rdnr. 114, 250 f., 480. Zur Kritik an Müllers Normbegriff Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 63 ff. (65 ff.). Dazu die Erwiderung von Fr. Müller, ibid., Rdnr. 254 ff. 289
Fr. Müller, Juristische Methodik, etwa Rdnr. 233 a.E., 468, unterscheidet Rechtsnorm und Entscheidungsnorm. Erstere stellt die leitsatzartig zu denkende Konkretisierung des Normtextes durch Erzeugung des Normprogramms (Sprachdaten) und Bestimmung des Normbereichs (Realdaten) dar. Vgl. ibid., Rdnr. 475, 480, 481 ff. Die Entscheidungsnorm erscheint im konkreten gerichtlichen Verfahren im Tenor. 2 90 Vgl. ibid., Rdnr. 275,479 (m. Zitat), 494, 498. 291 Vgl. Fr. Müller, ibid., Rdnr. 308 f., 480, der als Beispiele einfache Form- und Fristregeln nennt. 292 Vgl. ibid., Rdnr. 114. 293 Vgl. ibid., Rdnr. 65 f., 478. 294 Vgl. ibid., Rdnr. 65 f., 72, 140 f. 29 5 Vgl. zum folgenden Schlink, Staat 19 (1980), S. 95 ff. 296 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 418.
297 Ibid. 298
Vgl. ibid., Rdnr. 364.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Beschränkung ernst nimmt, kann der These nicht zugestimmt werden, weil nach ihr teleologische Auslegung nur im Dienste grammatischer, systematischer und genetischer Auslegung zulässig wäre. Dies würde dem offenen Charakter der Grundrechtsnormen und der Bedeutung heutiger Zwecke für die Aktualisierung der Verfassung nicht gerecht werden.
II. Rangordnung der Auslegungselemente Müller hat den Versuch einer systematischen Rangordnung der Konkretisierungselemente unternommen 299. Er tritt für einen allgemeinen Vorrang der grammatischen, gefolgt von der systematischen Auslegung vor allen anderen Konkretisierungselementen ein 3 0 0 . Im einzelnen stuft er nach normtextbezogenen und nicht direkt normtextbezogenen Auslegungselementen und innerhalb der ersten Gruppe zwischen methodologischen und Normbereichselementen 301 ab. Der Vorrang der textbezogenen Konkretisierungselemente wird mit dem Rechtsstaats- und dem Demokratieprinzip begründet. Die genetische und - soweit sie zulässig ist - die teleologische Auslegung seien gleichrangig, da sich keine von ihnen auf Normtexte stütze 302 . Zuweilen finden sich auch bei anderen Autoren Ansätze zu einer Rangordnung 303. Gäbe es eine konsensfähige Rangordnung zwischen den verschiedenen Auslegungselementen, so wäre dies ein wichtiger Beitrag für eine normgebundene, voraussehbare und auf diese Weise begrenzte Verfassungsinterpretation. Die herrschende Meinung lehnt allerdings im Sinne der Kombinationstheorie 304 jegliche Rangordnung der Auslegungselemente ab 3 0 5 . Bezweifelt wird schon, daß die Tren299
Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 429 ff., Zusammenfassung in Rdnr. 494 a.E. Kritisch dazu Schlink, Staat 19 (1980), S. 99. 300 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 440,445. 301
Zum Begriff des „Normbereichs" gleich im Text unter III. 302 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 445. 303 Vgl. Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 176 ff. (182), und Larenz, Methodenlehre, S. 343 ff. Dazu oben 3. Kap., C. II. 2. (2). Vgl. auch Gern, Die Rangfolge der Auslegungsmethoden von Rechtsnormen, VerwArch 80 (1989), S. 415 ff. (434 ff.). Dazu kritisch Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 433 Fn. 640. Vgl. auf der Grundlage der Prinzipientheorie auch Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 44 f. Vgl. ferner Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 40 f., demzufolge der „Rückgriff auf den systematischen Zusammenhang erst zulässig [sei - J.R.], wenn die Auslegung über Wortlaut und Sinn der Textstelle nicht zum Ziele führt". Dagegen Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 124. 304 Siehe oben 3. Kap., C. I. 305 Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1667; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 55 ff. (56); Larenz, Methodenlehre, S. 345 m. Fn. 69; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 59, 100 (zu f]); A. Kaufmann, Problemgeschichte, in: ders. /Hassemer, Einführung, S. 127; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 85 ff., 88 ff.; Pestalozza, Staat 2 (1963), S. 433; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 120. Wie im Text Brugger, AöR 119 (1994), S. 21, 29 f.; vgl. auch ders., Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, S. 5, 52.
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nung der einzelnen Konkretisierungselemente durchführbar sei 3 0 6 . Dieser Aspekt sollte freilich nicht überbetont werden, weil unbestritten ist, daß es unterschiedliche Auslegungselemente gibt. Vergleichsweise wichtiger erscheinen normative Gründe, die gegen die Angemessenheit einer bestimmten Rangordnung sprechen. Das Problem einer Rangordnung der Auslegungselemente zwingt zu einer Auseinandersetzung mit der gesamten Methodenlehre und kann hier nicht umfassend behandelt werden. Wichtige Ausschnitte des Problems sind aber bereits deutlich geworden. Die Position dieser Arbeit läßt sich so zusammenfassen: (1) Ein Vorrang der eindeutigen grammatischen Auslegung gegenüber anderen Auslegungselementen ist grundsätzlich zu bejahen, wobei die Wortlautgrenze jedoch aus verfassungsrechtlichen und -theoretischen Gründen von einer Reihe wichtiger Ausnahmen durchbrochen wird. Die entsprechenden Fallgruppen sind oben ausführlich dargestellt worden 307 . Damit geht die vorliegende Arbeit über Müllers Position weit hinaus 308 . (2) Ein Vorrang der genetischen Auslegung, wie man ihn auf der Grundlage der subjektiven Theorie der Interpretation behaupten kann, wurde zurückgewiesen 309 . Mit Müller ist im Ergebnis davon auszugehen, daß genetische und teleologische Auslegung abstrakt gleichrangig sind 310 . Denn nach der objektiven Theorie gehen aktuelle Zwecke den historisch gewollten Zwecken der Norm nicht automatisch vor. Umgekehrt gilt das gleiche. (3) Die Beschränkung der Interpretation auf das eindeutige Ergebnis von grammatischer, systematischer und genetischer Auslegung unter Verzicht auf die teleologische Auslegung ist ebenfalls abgelehnt worden 311 . (4) Im übrigen ist eine Rangfolge nicht möglich. Insbesondere sind die teleologische Auslegung und eine in diesem Rahmen erfolgende verfassungstheoretische Argumentation - Müller spricht hier von „Theorie-Elementen" - nicht gegenüber allen anderen Auslegungsschritten nachrangig.
I I I . Normbereichsanalyse Müller unterscheidet beim Vorgang der Konkretisierung gedanklich zwischen der Interpretation von Sprachdaten zwecks Erzeugung des Normprogramms 312 und der Erhebung des Normbereichs durch Auslese der normativ relevanten Fakten des 306
Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1667; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 120. Auf die Wechselbezüglichkeit der Auslegungselemente weist freilich auch Müller hin, vgl. z. B. ders., Juristische Methodik, Rdnr. 362. 3 07 Siehe oben 3. Kap., B. III. 4., IV. 308 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 311 f., der nur für technische Übermittlungsfehler eine Ausnahme zuläßt, vgl. ibid., Rdnr. 310 Fn. 485 u. 311 Fn. 490. Siehe zu Müllers Position oben 3. Kap., B. III. 2. Noch rigoroser Gern, VerwArch 80 (1989), S. 434. 509 Siehe oben 3. Kap., C. II. 2., III. 310 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 445. 311 Siehe oben 2. Kap., A. II. 2., III., und B. 312
Zum Begriff des Normprogramms oben 3. Kap., B. III. 2.
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Sachbereichs 313. Unter Normbereich sind die „vom Rechtsarbeiter anhand des Normprogramms als mit diesem vereinbar und für die Fallösung wesentlich, damit aber als (mit-)normativ begründbaren Tatsachen" zu verstehen 314. Es geht um diejenigen „Realdaten, die zu Recht mit zur Grundlage der Entscheidung gemacht werden." 315 . Mit dieser normativen Qualität des Faktischen ist nicht gemeint, daß der Wirklichkeit Vorrang gegenüber dem Normprogramm zukommen soll 3 1 6 . Im Falle eines Widerspruchs gehe das Normprogramm vor 3 1 7 . Normprogramm und Normbereich seien jedoch für die Konkretisierung insofern gleich wichtig, als sich die wie ein gerichtlicher Leitsatz zu denkende Rechtsnorm aus beiden Bestandteilen zusammensetze318. Durch die kontrollierte Einbeziehung der Wirklichkeit in die Norm soll der Sein-Sollen-Dualismus überwunden werden. Deshalb bezeichnet Müller seinen Ansatz als nachpositivistisch319. Gegen die Normbereichsanalyse ist zunächst kritisch einzuwenden, daß ihre genaue Funktion unklar ist 3 2 0 . Darüber hinaus ist zweifelhaft, ob die Normbereichsanalyse wirklich die Bewertung der Folgen eines Grundrechtseingriffs und insbesondere die Abwägung nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit ersetzen kann, wobei Müller Abwägungen für unzulässig hält 3 2 1 . Empirische Analysen stellen nur die tatsächlichen Voraussetzungen für die in der Abwägung vorzunehmenden Wertungen her, können sie aber nicht ersetzen. Wenn die zugehörigen normativen Wertungen als Teil des Normbereichs in den Normbegriff aufgenommen werden, führt dies nach Alexy dazu, daß nicht hinreichend zwischen der Norm und den sie stützenden Argumenten differenziert wird 3 2 2 .
IV. Ergebnis Müllers Forderung nach Normanbindung der Interpretation ist berechtigt. Dies darf aber meines Erachtens nicht dazu führen, daß die teleologische Auslegung nur 313 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 235 ff., 468, 475, 481 ff. Vom Normbereich spricht auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 69, 310. Demgegenüber wird üblicherweise zwischen Schutzbereich einerseits und Lebens- oder Regelungsbereich andererseits unterschieden, vgl. etwa Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 195 ff. Zur Terminologie auch Fr. Müller, ibid., Rdnr. 482 Fn. 653. 314 Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 482 (Hervorh. weggelassen). 315 Ibid., Rdnr. 468. 316 Vgl. die Klarstellung ibid., Rdnr. 238, 535 Fn. 730. 317 Vgl. ibid., Rdnr. 438: Vorrang von grammatischer und systematischer Auslegung vor den Elementen des Normbereichs. 318 Vgl. ibid., Rdnr. 468. 319 Vgl. ibid., Rdnr. 226, 470,483, auch Rdnr. 85 m. Fn. 140. 320 Ebenso Schlink, Staat 19 (1980), S. 103; Koch/Rüßmann, Juristische Begründungslehre, S. 172 ff. (173). 321 Vgl. Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 72. 322 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 68 f.
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ethoische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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noch im Dienste grammatischer, systematischer und genetischer Auslegung zulässig ist. Einer abstrakten Rangfolge der Auslegungselemente vermag sich die vorliegende Arbeit nicht anzuschließen. Allerdings wird mit der Wortlautgrenze eine einzelne Vorrangrelation im Grundsatz befürwortet. Auch Müller spricht sich für die Grenzfunktion des eindeutigen Wort- und Textsinns aus, gelangt jedoch zu anderen Ergebnissen als diese Arbeit, die Ausnahmen von der Wortlautgrenze anerkennt. An der Durchführbarkeit der Normbereichsanalyse bestehen Zweifel. Schließlich überzeugt der von Müller befürwortete Verzicht auf Abwägung nicht, weil verhältnismäßige Zuordnung für die Grundrechtsinterpretation unvermeidlich
E. Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht Abschließend soll untersucht werden, welchen Grenzen die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht unterliegt, die im ersten Kapitel als ein wesentlicher Bestandteil aktivistischer Grundrechtsjudikatur dargestellt worden ist 3 2 4 . Im folgenden sollen die Grenzen der ausdehnenden, analogischen Rechtsfortbildung im Vordergrund stehen, weil diese Art der Rechtsfortbildung im Hinblick auf die fehlende demokratische Verantwortlichkeit des BVerfG 325 und das insoweit entstehende „Konkurrenzverhältnis" 326 zum verfassungsändernden Gesetzgeber besonders problematisch ist. Man könnte die Kompetenz des BVerfG zur Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht grundsätzlich bestreiten oder zumindest an strengere Voraussetzungen als die nicht rechtsfortbildende Konkretisierung geknüpft sehen. Solche Grenzen der verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung könnten womöglich dazu führen, daß zum Beispiel die allgemeine Handlungsfreiheit, das allgemeine Persönlichkeitsrecht und die objektive Dimension der Grundrechte eine unzulässige Fortentwicklung der Verfassung wären. Zunächst muß jedoch geklärt werden, ob die Qualifikation als Rechtsfortbildung insoweit überhaupt berechtigt ist. Um diese Frage zu klären, ist zu untersuchen, mit welchen inhaltlichen Kriterien man eine Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht als solche erkennen kann (I.). Terminologisch wird hier zwischen einfacher Auslegung einerseits und Rechtsfortbildung, insbesondere in Form von Analogie sowie teleologischer Reduktion, andererseits unterschieden. Dementsprechend wird von einfacher und rechtsfortbildender Interpretation bzw. Konkretisierung gesprochen. Analogie und teleologische Reduktion sind zentrale Themen der juristischen Methodenlehre 327. Daher rührt die methodische Dimension des Problems 323 324 325 326
Siehe oben 2. Kap., F. IV. (1), V. Siehe oben 1. Kap., C.II. Siehe oben 1. Kap., A. III. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 58.
327 Vgl. nur Larenz, Methodenlehre, S. 366 ff. (Kap. 5).
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
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der Rechtsfortbildung, die deshalb auch in diesem Kapitel erörtert wird. Wie sich anhand der Wortlautgrenze und der subjektiven Theorie der Interpretation gezeigt hat, entscheiden jedoch über die Zulässigkeit einer Interpretation vor allem verfassungstheoretische Gründe. Daher weist der vorliegende Abschnitt einen engen Bezug zu den im vierten Kapitel eingehend zu behandelnden verfassungstheoretischen Grenzen der Verfassungsinterpretation auf. Eine bestimmte Grundrechtsinterpretation als Rechtsfortbildung zu qualifizieren, ist nur dann sinnvoll, wenn man die Rechtsfortbildung anderen oder jedenfalls schärferen Zulässigkeitsvoraussetzungen als die einfache Konkretisierung unterwirft. Deshalb sind im folgenden einige methodische und verfassungstheoretische Grenzen zu diskutieren, mit denen die Rechtsfortbildung des BVerfG beschränkt werden soll (II.). Im einzelnen sind hier noch viele Fragen offen 328 . Soweit sich die Literatur zur Rechtsfortbildung und zum Richterrecht äußert, bezieht sie sich zumeist auf das einfache Recht und die Fachgerichte 329. Dort gewonnene Erkenntnisse sind für die Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht allenfalls eingeschränkt verwertbar, weil verfassungsgerichtliche Urteile durch den einfachen Gesetzgeber nicht abgeändert werden können und der verfassungsändernde Gesetzgeber nur schwer zu mobilisieren ist 3 3 0 .
I. Kriterien der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht Das BVerfG vermeidet im Verfassungsrecht den Begriff der Rechtsfortbildung und stellt seine gesamte Grundrechtsrechtsprechung als Interpretation dar 3 3 1 . Deshalb sind vom BVerfG keine expliziten Kriterien für das Vorliegen einer Rechtsfortbildung zu erwarten. Als methodisches Kriterium kommt vor allem die Wortlautgrenze in Betracht, die auch für die Abgrenzung von Auslegung und Analogie herangezogen wird. Zu erwägen ist ferner, ob es die genetische Auslegung, der rechtsetzende Gehalt einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung, die Figur des Verfassungsrichterrechts, der schöpferische Anteil der Interpretation oder aber der Begriff der Ersatzverfassungsgebung ermöglichen, eine Rechtsfortbildung als solche zu erkennen.
328
Vgl. Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 40. Vgl. etwa H.-P. Schneider, Richterrecht, Gesetzesrecht und Verfassungsrecht, 1969; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, 1975; Wank, Grenzen richterlicher Rechtsfortbildung, 1978; Gusy, Richterrecht und Grundgesetz, DÖV 1992, S. 461 ff.; jeweils m. w. Nachw. Vgl. aber Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57 ff.; auch Hoffmann, in: FS Wolf, S. 211 ff., 219 ff., der jedoch zur Reichweite der verfassungsgerichtlichen Lückenschließungskompetenz nicht Stellung nimmt. 330 Dazu Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 58; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 12 f. 329
331 Vgl. Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 12 f.
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(1) Der herrschenden Meinung 332 zufolge ist die Wortlautgrenze das einzige brauchbare Kriterium, mit dem sich Auslegung und Rechtsfortbildung voneinander abgrenzen lassen. Der mögliche Wort- oder Textsinn dient nach dieser Ansicht insbesondere dazu, zwischen Auslegung und Analogie zu unterscheiden. Auch nach dem Ergebnis der vorliegenden Untersuchung handelt es sich um eine Rechtsfortbildung, soweit eine Interpretation in eindeutigen Fällen die Wortlautgrenze überschreitet. Beläßt man es hierbei, so erhält man einen sehr weiten Begriff von Auslegung bzw. nicht rechtsfortbildender Konkretisierung. Denn die Wortlautgrenze vermag nur die wenigsten Ergebnisse der Interpretation als unzulässig auszuschließen333. Wie oben dargestellt 334, widerspricht weder das allgemeine Persönlichkeitsrecht noch die allgemeine Handlungsfreiheit der Wortlautgrenze. Darüber hinaus schließt der Verfassungstext auch die objektiven Grundrechts Wirkungen nicht eindeutig aus, weshalb sie mit Hilfe der Wortlautgrenze nicht als Rechtsfortbildung qualifiziert werden können. Umgekehrt läßt ein derartig weiter Auslegungsbegriff kaum noch Fälle von Rechtsfortbildung übrig, obwohl man manche verfassungsgerichtliche Konkretisierung als solche bezeichnen möchte, auch wenn sie die Wortlautgrenze nicht übersteigt. Dies liegt daran, daß eine verfassungsgerichtliche Konkretisierung auch dann Zweifel im Hinblick auf die Legitimation des BVerfG aufwerfen kann, wenn sie innerhalb des möglichen Wort- und Textsinns der Verfassung liegt 3 3 5 . In den drei vorgenannten Beispielen hat die verfassungsgerichtliche Interpretation jeweils tiefgreifende Folgen für das Verhältnis von BVerfG und Gesetzgeber nach sich gezogen. Man könnte daher erwägen, entgegen der herrschenden Terminologie auch innerhalb der möglichen Textbedeutung von Rechtsfortbildung zu sprechen. Dies wäre jedoch nur dann zweckmäßig, wenn sich Kriterien finden lassen, mit denen sich das Vorliegen einer Rechtsfortbildung innerhalb der Wortlautgrenze im Einzelfall ermitteln läßt. Nach solchen Kriterien wird im folgenden gesucht. (2) Die subjektive Theorie der Interpretation versucht, den historisch gewollten Sinn einer Norm als Trennlinie zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung zu behandeln336. Für die subjektive Theorie zeichnet sich eine Rechtsfortbildung dadurch aus, daß sie im historischen Willen nicht nachgewiesen werden kann oder diesem klar widerspricht. Dieses Vorgehen setzt jedoch voraus, daß man den historischen Willen des Verfassungsgebers zuverlässig ermitteln kann, was sich wie
332 Vgl. auswahlweise Larenz, Methodenlehre, S. 322, 366; Zippelius, Juristische Methodenlehre, S. 43; Ipsen, Richterrecht und Verfassung, S. 235 f.; Korinek, in: FS Walter, S. 365 f. 333 Siehe oben 3. Kap., B. II. 4. 334 Siehe oben 3. Kap., B. III. 6. c). 335
Vgl. insoweit zutreffend Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 43 f. 336 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 266 f., 270, für den alles, was über den historischen Willen hinausgeht, Rechtsfortbildung ist.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
oben ausgeführt 337 bezweifeln läßt 338 . Darüber hinaus ist die Frage, wann eine Interpretation so „neu" ist, daß sie über den historischen Willen hinausgeht, vielfach nicht eindeutig zu beantworten. Ob man den historischen Willen lediglich „zu Ende gedacht" oder ob man sich mit der Entscheidung im konkreten Fall vom historischen Leitbild, Willen oder Zweck der Norm entscheidend abgesetzt hat 3 3 9 , wird in schwierigen Fällen umstritten sein. Wie zum US-amerikanischen Intentionalismus festgehalten, besteht ein großer Wertungsspielraum für den Interpreten hinsichtlich der Frage, auf welchem Abstraktionsgrad das historische Leitbild zu definieren ist 3 4 0 . Immerhin dürfte es in einfachen Fällen möglich sein, unter Rechtsfortbildung das zu verstehen, was dem Willen des historischen Verfassungsgebers klar widerspricht. Für die objektive Theorie genießt das historisch Gewollte keinen abstrakten Vorrang. Deshalb besteht kein Grund, eine Interpretation, die über den historischen Willen hinausgeht oder ihm widerspricht, als Rechtsfortbildung zu bezeichnen. So gesehen erscheint ein strikt auf das historisch Gewollte fixierter Auslegungsbegriff zu eng gefaßt. Sieht man mit der objektiven Theorie das Ziel der Interpretation in der Ermittlung der aktuellen Bedeutung der Verfassung, dann erschöpft sich Auslegung keineswegs in genetischer Auslegung 341 . Umgekehrt führt die Gleichsetzung von historisch Gewolltem und Auslegung dazu, daß jede über die genetische Auslegung hinausgehende Interpretation als Rechtsfortbildung zu bezeichnen wäre, die damit zu weit definiert wäre. Im Ergebnis führt dieser Ansatz daher zu einem zu engen Begriff der Auslegung und zu einem zu weiten Begriff der Rechtsfortbildung. (3) Darüber hinaus ist fraglich, ob die Unterscheidung zwischen dem rechtsanwendenden und dem rechtsetzenden Charakter verfassungsgerichtlicher Tätigkeit eine Abgrenzung ermöglicht 342 . Aus der Beobachterperspektive gehen in der verfassungsgerichtlichen Interpretation der Grundrechte Rechtsanwendung und Rechtsetzung ineinander über 343 . Daher könnte man die Auffassung vertreten, daß 337 Siehe oben 3. Kap., C. II. 3., und 1. Teil., 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 338 Vgl. insb. Heun, AöR 116 (1991), S. 202 ff., der schon die Ermittlung der historischen Bedeutung für sinnproduzierend und daher bedeutungsfestsetzend hält. 339 Siehe oben 3. Kap., C. II. 2. (1), zur Begrenzung der Interpretation durch den historischen Willen bei Depenheuer. 340 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 341 Siehe oben 3. Kap., C. I. 342 „Anwendung" ist im Text nicht im mechanistischen Sinne gemeint, wie bereits in der Diskussion von Forsthoffs „klassischer" Methode deutlich wurde. Siehe oben 2. Kap., A. II. 3. (2). Ein Modell mechanistischer und weitgehend determinierter Rechtsanwendung wird in der heutigen Methodenlehre nicht mehr vertreten. Anders Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 93 ff.; ähnlich Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 218 f. Auch Fr. Müller, Juristische Methodik, etwa Rdnr. 505, unterstellt der h.L. ein auf Determination und Eindeutigkeit fixiertes Rechtsanwendungsmodell. Dazu kritisch Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 238.
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das Verfassungsgericht jedenfalls auch normsetzend tätig sei. Damit hat man jedoch noch keine Kriterien genannt, die das Gericht befähigen würden, eine Rechtsfortbildung im Zuge der Interpretation vorausschauend als solche zu erkennen. Aus der Teilnehmerperspektive liegt in einer Gerichtsentscheidung ein Sprechakt, der stets auf Bedeutungsermittlung, nicht aber auf Normsetzung gerichtet ist 3 4 4 . Aus dieser Sicht würde das Gericht aus der Rolle fallen, wenn es offen rechtsetzend auftreten würde. Dies ist jedenfalls im Normalfall nicht zu erwarten. Die Unterscheidung zwischen Normsetzung und Normermittlung ermöglicht also aus keiner von beiden Perspektiven eine Abgrenzung der einfachen von der rechtsfortbildenden Interpretation. (4) Ferner ist zu klären, ob die Figur des Verfassungsrichterrechts 345 eine Abgrenzung von Auslegung und Rechtsfortbildung ermöglicht. Nach Hoffmann sollte man den Begriff weder auf die Rechtsfortbildung im einfachen Recht noch auf die Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht durch Fachgerichte beziehen 346 . Jedenfalls erfaßt der Begriff die von der vorliegenden Arbeit so genannte „verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht". An dieser ausführlichen Formel wird festgehalten, weil sie aus sich selbst heraus verständlich ist und überdies die einfache, nicht rechtsfortbildende Konkretisierung durch das Verfassungsgericht ausschließt347. Der Begriff des Verfassungsrichterrechts bezieht sich demgegenüber auch auf die einfache Auslegung 348 . Für ein engeres, auf die Rechtsfortbildung beschränktes Verständnis wären Kriterien notwendig, zu denen der Begriff keine Hinweise gibt. (5) Man könnte versuchen, eine Rechtsfortbildung mit Hilfe des schöpferischen Anteils der Verfassungsinterpretation zu identifizieren. Zwar hat jede Interpretation schöpferischen und insoweit analogischen Charakter. Da Konkretisierung in schwierigen Fällen auf die Erzeugung von Normhypothesen gerichtet ist 3 4 9 , kann man jedenfalls im Regelfall nicht darauf abstellen, ob im Verlauf der Interpretation neue Obersätze gebildet werden 350 . Jedoch könnte man vertreten, daß bei der 343 Dies ist auch die Sichtweise des funktionell-rechtlichen Ansatzes, siehe unten 5. Kap., C. II. 2. d) aa). 344 Vgl. Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 46. Dazu allg. Calliess, Prozedurales Recht, S. 155. 34
5 Dazu ausführlich Hoffmann, in: FS Wolf, S. 211 ff.; Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57 ff.; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 11 ff.; den Begriff verwendet auch H.-P. Schneider, in: FS Stern, S. 914. 34 6 Vgl. Hoffmann, in: FS Wolf, S. 185 ff., 211 ff. 347
Im übrigen wird hier Hoffmanns Standpunkt, wonach das vom BVerfG erzeugte Verfassungsrichterrecht ungeschriebener Bestandteil des Grundgesetzes sei, nicht übernommen. Vgl. ders., in: FS Wolf, S. 216, 218 u.ö. Dazu oben 1. Kap., B. II. 348 Vgl. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 58, der von verfassungskonkretisierendem Verfassungsrichterrecht spricht. 349 Vgl. Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 50 ff. (52), 163 f. Dazu oben 2. Kap., D. I.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Rechtsfortbildung das mit der Verfassungsinterpretation sowieso verbundene Maß an Kreativität „erheblich" übertroffen wird. Wie kreativ eine Konkretisierung ist, läßt sich aber nicht mit objektiven Kriterien bestimmen. Die Schwierigkeiten einer solchen „Messung" zeigen sich, wenn man Beispielsfälle heranzieht. So ist es keineswegs eindeutig, ob es sich bei den einzelnen Fallgruppen des allgemeinen Persönlichkeitsrechts oder auch bei der allgemeinen Handlungsfreiheit noch um einfache oder bereits um rechtsfortbildende Konkretisierung handelt. Zum Beispiel wird für das Grundrecht auf informationelle Selbstbestimmung bestritten, daß es sich um die Erfindung eines neuen Grundrechts handele 351 . Zur Zeit der Entstehung des Grundgesetzes spielten die Bedingungen moderner Informationstechnologie zwar noch keine Rolle. Deshalb ist die Konkretisierung, wie sie das Volkszählungsurteil vornimmt, eine Neuheit. Daraus könnte man auf einen besonders hohen schöpferischen Anteil der Interpretation schließen. Daß die Interpretation der Grundrechte auf veränderte Umstände im Sachbereich der Norm trifft, ist jedoch die Regel. Auch die einfache Konkretisierung der Norm im Hinblick auf die veränderten Verhältnisse der Gegenwart beinhaltet einen kreativen Eigenanteil des Interpreten, ohne daß man daraus auf das Vorliegen einer Rechtsfortbildung schließen könnte. (6) Schließlich könnte man fragen, ob sich eine Rechtsfortbildung dadurch auszeichnet, daß sie so wesentliche Folgen für das Verfassungsrecht hat, daß man inhaltlich von Verfassungsergänzung sprechen kann 352 . In diese Richtung scheint die Kritik zu zielen, wenn sie von „Ersatzverfassungsgebung" spricht 353 . Die „Wesentlichkeit" wird freilich im konkreten Fall umstritten sein 354 . Andererseits dürfte es kaum auf Widerspruch stoßen, wenn man etwa die objektiven Grundrechtsfunktionen als eine wesentliche Neuerung bezeichnet, weil durch sie die Wirkung der Grundrechte über den herkömmlichen Abwehrcharakter hinaus grundlegend verändert wird. Die Qualifikation der objektiven Dimension als Rechtsfortbildung ist jedoch nicht unproblematisch. Mit ihr hat das BVerfG ein bestimmtes Verfassungsverständnis entwickelt, das alle Grundrechte betrifft und das weitreichende rechtstheoretische, staatstheoretische und funktionale Folgen hat 3 5 5 . Man könnte es für eine Verkürzung halten, diese grundlegende Weichenstellung allein als Rechtsfort350
So aber Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56 f. m. Fn. 205. Vgl. demgegenüber H.-R Schneider, in: FS Stern, S. 904: „Aufgabe der Verfassungsinterpretation ist [ . . . ] die Bildung normativer Obersätze [ . . . ] . " 351 Vgl. v. Münch, in: GGK, 3. Aufl., Art. 2 Rdnr. 22 d, im Anschluß an Simitis, NJW 1984, S. 398 ff. (nachf. Zitat auf S. 399), der die „Geburtsstunde eines neuen Grundrechts" verneint. 3 52 Vgl. Heun, AöR 116 (1991), S. 204, für den Rechtsfortbildung „höchstens vorsichtig als signifikante Bedeutungsausweitung theoretisch erfaßt werden" kann. 3 3
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354
Siehe oben 1. Kap., C.II.
Deshalb ist es nicht unproblematisch, zur Abgrenzung auf die Akzeptanz der Diskursteilnehmer abzustellen. Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 199 f., 254 ff., zur Theorie Schiffauers. Vgl. auch Heun, AöR 116 (1991), S. 203, 205. 3 55 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 21 ff. Siehe auch oben 1. Kap., C. II.
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bildung zu bezeichnen. Die Wahl eines bestimmten Verfassungsverständnisses ist von diesem Standpunkt aus Voraussetzung aller weiteren interpretativen Tätigkeit, nicht aber Rechtsfortbildung, unter der einzelne aktivistische Vorstöße des BVerfG zu verstehen wären. Rechtsfortbildung wäre demzufolge nur im Hinblick auf einzelne Grundrechte und deren Wirkungen denkbar. Dieser Einwand würde freilich nicht dagegen sprechen, die objektive Dimension sowohl als Teil des Verfassungsverständnisses als auch als Rechtsfortbildung aufzufassen. Es ist kein zwingender Grund ersichtlich, den Begriff der Rechtsfortbildung so eng zu fassen, daß Wirkungen für das gesamte Verfassungsgefüge von ihm nicht erfaßt werden. Als Fazit ist festzustellen, daß die Unterscheidung von Auslegung und Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht in erster Linie auf die Wortlautgrenze zu beziehen ist. Innerhalb der Wortlautgrenze kann zwischen Auslegung und Rechtsfortbildung unterschieden werden, wenn man hierfür operationalisierbare Kriterien benennt. Rechtsfortbildung innerhalb der Wortlautgrenze liegt meines Erachtens vor, wenn das Verfassungsgericht neue Grundrechtswirkungen entwickelt, die wesentliche Folgen für das Verfassungsrecht haben. Die objektive Dimension der Grundrechte ist daher als Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht zu bezeichnen, weil sie den Charakter der Grundrechte grundlegend verändert. Im Hinblick auf einzelne Grundrechte ist bei der Annahme einer Rechtsfortbildung Vorsicht geboten. Was in der Kritik an der aktivistischen Grundrechtsjudikatur als neues Grundrecht bezeichnet wurde, ist bei näherem Hinsehen von einfacher Konkretisierung nicht zu unterscheiden.
II. Grenzen der Rechtsfortbildung Es besteht Einigkeit darüber, daß die verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht nicht unbegrenzt zulässig sei 3 5 6 . Eine so allgemeine Aussage liefert freilich keine Kriterien, mit denen sich die Zulässigkeit im konkreten Fall bestimmen läßt. Im folgenden sind einige methodische und verfassungstheoretische Ansatzpunkte für die Beurteilung der Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung zu diskutieren. Zu nennen sind die Wortlautgrenze, die subjektive Theorie der Interpretation und der konsensuale Ansatz. Daran anschließend ist die Rolle der Verfassungstheorie für die Begrenzung der Rechtsfortbildung zu erörtern, die sich am Beispiel der objektiven Dimension der Grundrechte veranschaulichen läßt. Die nachfolgenden Ansätze verwenden zum Teil andere Kriterien der Rechtsfortbildung als die vorliegende Arbeit, was bei der jeweils befürworteten Grenze der Rechtsfortbildung zu berücksichtigen ist.
356 Vgl. Isensee, JZ 1996, S. 1091, der zum Gerichtscharakter des BVerfG festhält: „keine Selbstermächtigung zu Verfassungswandel und unbegrenzter Rechtsfortbildung". Dazu Bökkenförde, Anmerkungen zum Begriff Verfassungswandel, S. 44 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
1. Wortlautgrenze Wie oben ausführlich dargelegt 357, ist eine ausdehnende Rechtsfortbildung im Widerspruch zur eindeutigen Wort- oder Textbedeutung grundsätzlich unzulässig. Dies ergibt sich jedoch nicht aus methodischen, sondern aus verfassungsrechtlichen und -theoretischen Gründen. Für dieses Ergebnis sprechen insbesondere die Verfassungsbindung sowie das Demokratie- und das Rechtsstaatsprinzip (Art. 20 Abs. 1 und 3 GG). Insoweit fungiert die Wortlautgrenze als Grenze der Rechtsfortbildung. Ein Beispiel für eine unzulässige Rechtsfortbildung ist die analogische Ausdehnung des Schutzes der Wohnung auf Geschäftsräume entgegen Art. 13 Abs. 1 GG 3 5 8 .
2. Subjektive Theorie der Interpretation Auf der Grundlage der subjektiven Theorie der Interpretation 359 kann man für ein vollständiges Verbot der Rechtsfortbildung eintreten. Dies führt zum Beispiel dazu, daß das BVerfG keine neuen Grundrechtsfunktionen schaffen darf. Auch kann eine bestimmte Konkretisierung, die der Aktualisierung grundrechtlicher Freiheit dient, unzulässig sein. Die Verfassungsinterpretation muß statt dessen abgebrochen werden. Man kann ein Verbot der Rechtsfortbildung aus demokratischen und rechtsstaatlichen Gründen sowie im Hinblick auf die Verfassungsbindung befürworten 360. Die strikte Beschränkung auf den historischen Willen bewirkt jedoch eine Versteinerung des Verfassungsrechts. Eine solche Lösung, wie sie der US-amerikanische Originalismus vertritt, führt zu Vergangenheitsorientierung und Konservatismus der Verfassung. In Deutschland wird die Rechtsfortbildung daher selbst von Vertretern der subjektiven Theorie grundsätzlich zugelassen361. Die vorliegende Arbeit hält ein Verbot der Rechtsfortbildung mit der herrschenden objektiven Theorie der Interpretation für unangemessen362. Dies bedeutet, daß Interpretation auch über das historisch Gewollte hinaus und selbst im Widerspruch zum historischen Willen zulässig sein kann. Statt eines starren Verbots der Rechtsfortbildung kann man vom Boden der objektiven wie der subjektiven Theorie aus eine flexible Lösung vertreten, die die
357 358 359 360
Siehe oben 3. Kap., B. III. 4., IV. Siehe oben 3. Kap., B. III. 6. a). Siehe dazu oben 3. Kap., C. II. Vgl. Korinek, in: FS Walter, S. 373 f., auf objektiv-historischer Grundlage.
361 Vgl. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 269, unter Ablehnung des strikten Intentionalismus; Depenheuer, Der Wortlaut als Grenze, S. 56 f. 362 Siehe oben 3. Kap., C. III.
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Rechtsfortbildung mit Hilfe einer Argumentationslast zugunsten der genetischen Auslegung begrenzt. In diese Richtung zielt offenbar Brugger, wenn er meint: ,,[D]as subjektiv Gewollte und Bedachte [bildet - J.R.] als klarer Anwendungsfall den verbindlichen Ausgangspunkt [ . . . ] , über den rechtsfortbildend nur mit guten Gründen und im Rahmen einer kontrollierten Fortbildung hinausgegangen werden sollte." 363
Nach dem Ansatz der vorliegenden Arbeit ist es allerdings schon in begrifflicher Hinsicht keine hinreichende Bedingung für eine Rechtsfortbildung, wenn über den vom historischen Normgeber vorbedachten Anwendungsfall hinausgegangen wird. Im übrigen ist eine Argumentationslast eine sinnvolle Begrenzung der Rechtsfortbildung, weil sie verhindert, daß die Verfassung von ihrem historischen Kontext isoliert wird. Die Argumentationslast trifft aber nicht nur die Rechtsfortbildung, sondern auch die einfache Verfassungsinterpretation 364. Da sich die Argumentationslast leicht überwinden läßt, ist der Wille des historischen Verfassungsgebers allenfalls eine schwache Grenze der Rechtsfortbildung.
3. Konsensualer Ansatz In seiner Untersuchung zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts vermeidet Würtenberger zwar eine Definition der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht 365. Gemeint sind jedoch offenbar Konkretisierungen, durch die die Verfassung „auf der Höhe der Zeit gehalten" wird und durch die „mit den sich wandelnden Verhältnissen neue normative Vorgaben aus der Verfassung entwickelt" werden 366 . Daraus ergibt sich ein weiter Begriff der Rechtsfortbildung. Für Würtenberger sind „Konsens und Akzeptanz [ . . . ] in gewisser Weise die große Leitlinie der verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung" 367. Diese Aussage ist nicht nur deskriptiv, sondern auch normativ gemeint, weil der Konsens dem von ihm so genannten Verfassungsrichterrecht Legitimität verschaffen soll 3 6 8 . Dies wird an folgender Aussage besonders deutlich: „Bei derartigem Richterrecht sollte Leitidee bleiben, daß die zunächst ,unpopuläre' Entscheidung bzw. das zunächst umstrittene Rechtsprinzip auf längere Sicht Akzeptanz und Konsens finden kann. [ . . . ] In dieser Hinsicht unterliegt auch die Verfassungsfortbildung durch Verfassungsrichterrecht dem Prinzip der responsiveness'. Es muß auf längere Sicht den Wünschen und Hoffnungen der Bevölkerung, die sie in ihre Verfassung und deren Aktualisierung setzen, entsprochen werden." 369 363 Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 188. 364 Siehe oben 3. Kap., C. II. 2. (3), und III. 365 Vgl. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 57, wo die Frage offen gelassen wird. Als Beispiel einer Rechtsfortbildung nennt er ibid., S. 61, unter anderem die objektive Dimension der Grundrechte. 366 Zitate ibid., S. 58. 367 ibid., S. 74. 368 Vgl. ibid., S. 59, 70, 72 (Überschrift). 25 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Dabei geht es Würtenberger nicht darum, das BVerfG an „demoskopische Umfragen" anzubinden; auch solle es nicht lediglich die öffentliche Meinung widerspiegeln 370 . Würtenberger setzt aber die Existenz eines „breiten Verfassungskonsenses" voraus, der sich auf die in der Gesellschaft entwickelten „Wert- und Gerechtigkeitsvorstellungen" bezieht 371 . Unklar bleibt, wann das BVerfG einem sich wandelnden Konsens folgen und wann es ihm Widerstand entgegensetzen soll 3 7 2 . Es ist nicht zu bestreiten, daß eine Rechtsfortbildung, die auf einhellige gesellschaftliche Zurückweisung treffen würde, keine Chance hätte, sich auf Dauer als geltendes Verfassungsrecht durchzusetzen 373. Auch sollte das BVerfG die in der Gesellschaft verbreiteten Wertanschauungen durchaus zur Kenntnis nehmen. Jedoch bestehen grundsätzliche Einwände gegen den konsensualen Ansatz als Richtschnur der Verfassungsinterpretation, auf die im folgenden Kapitel noch ausführlich einzugehen ist 3 7 4 . Thesenartig zusammengefaßt lauten die wesentlichen Einwände wie folgt. Ob man einen Konsens zu einer bestimmten verfassungsrechtlichen Rechtsfortbildung zuverlässig feststellen kann, ist zweifelhaft. Auch ein zweifelsfrei bestehender Konsens sagt nichts darüber aus, wann das BVerfG dem Zeitgeist folgen bzw. wann es ihm Widerstand entgegensetzen soll 3 7 5 . Soweit es in grundrechtlichen Fragen um den Schutz von Minderheiten geht, wäre es unangemessen, auf den Konsens der Mehrheit zu setzen. Gesellschaftlicher Konsens darf deshalb keine Grenze der Rechtsfortbildung sein.
4. Zur Begrenzung der Rechtsfortbildung
durch Verfassungstheorie
Wie sich anhand der Wortlautgrenze und der subjektiven Theorie der Interpretation schon gezeigt hat, entscheiden über den Umfang zulässiger Rechtsfortbildung nicht methodische, sondern verfassungstheoretische Erwägungen. Aber auch innerhalb der Wortlautgrenze spielt die Verfassungstheorie eine entscheidende Rolle. Die Zulässigkeit der Rechtsfortbildung hängt in jedem Fall davon ab, wie rigide oder flexibel die Verfassung im jeweiligen Verfassungsverständnis ist 3 7 6 . Ein restriktives Verfassungsverständnis, wie es die gerade behandelte subjektive Theorie vertritt, führt zu engen Grenzen der Rechtsfortbildung. Ähnliches gilt, wenn man 369
Ibid., S. 74 f. (Nachw. weggelassen). 570 Vgl. ibid., S. 74 m. Zitat. 371 Vgl. ibid., S. 75 mit Zitaten. 3 72 Vgl. ibid., S. 75 f. 3 3
7 Vgl. dazu ibid., S. 73. 574 Siehe unten 4. Kap., F. 375 Dazu Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 66 ff. 376 Vgl. z. B. Schuppert, Rigidität und Flexibilität von Verfassungsrecht, AöR 120 (1995), S. 32 ff.; Bryde, Verfassungsentwicklung. Stabilität und Dynamik im Verfassungsrecht der Bundesrepublik Deutschland; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 36 ff.
. Kap.:
ethoische Grenzen der Verfassungsinterpretation
3
die Verfassung mit Böckenförde als Rahmenordnung auffaßt. Hierauf ist im nächsten Kapitel noch zurückzukommen 377. Demgegenüber läßt die Verfassung als Prinzipiengefüge (Alexy) mehr Raum für Rechtsfortbildung. Die Konsequenzen der hier genannten verfassungstheoretischen Positionen lassen sich am Beispiel der objektiven Dimension der Grundrechte verdeutlichen. Während Böckenförde hier für Verzicht plädiert, verteidigen andere diese verfassungsgerichtliche Rechtsfortbildung. Wie die Abwägung von freiheitlichen und demokratischen Belangen im Rahmen verfassungstheoretischer Erwägungen ausfallen muß, wird im folgenden Kapitel exemplarisch anhand der grundrechtlichen Schutzrechte diskutiert 378 . Ob eine Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht im Vergleich mit einer einfachen Konkretisierung überhaupt zusätzlichen Anforderungen im Hinblick auf ihre Zulässigkeit unterliegt, entscheidet sich im Rahmen der jeweiligen Verfassungstheorie. Deshalb gibt es kein einfaches Kriterium, mit dem über die Zulässigkeit einer Rechtsfortbildung entschieden werden kann. Mangels einer allgemein anerkannten Verfassungstheorie gibt es auch keine allgemein akzeptierten Grenzen der Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht.
I I I . Ergebnis Begrifflich ist eine Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht durch die Überschreitung der Wortlautgrenze gekennzeichnet. Innerhalb der Wortlautgrenze kann von Rechtsfortbildung die Rede sein, wenn das Verfassungsgericht neue Grundrechtswirkungen einführt, die das Verfassungsrecht wesentlich verändern. Ein Beispiel ist die objektive Dimension der Grundrechte. Damit erhält der Begriff der Rechtsfortbildung im vorliegenden Ansatz eine enge Fassung. Was die Zulässigkeit einer verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht angeht, sind folgende Grenzen anzuerkennen. (1) Eine ausdehnende Rechtsfortbildung unter Verletzung der Wortlautgrenze ist unzulässig. (2) Die subjektive Theorie der Interpretation kann zu einem Verbot jeglicher Rechtsfortbildung führen. Dies ist jedoch auf der Grundlage der objektiven Theorie unangemessen. Innerhalb der Wortlautgrenze kann man die genetische Auslegung als Argumentationslast einsetzen. Daraus ergibt sich allerdings nur eine schwache Begrenzung der Rechtsfortbildung, die mit guten Gründen überwunden werden kann. (3) Der konsensuale Ansatz ist als Grenze der Rechtsfortbildung abzulehnen, auch wenn verfassungsgerichtliche Urteile grundsätzlich auf Akzeptanz angewiesen sind. (4) Über die Grenzen der Rechtsfortbildung entscheidet letztlich die vom Interpreten verwendete Verfassungstheorie. Dies gilt innerhalb wie außerhalb der Wortlautgrenze. Am stärksten läßt sich die Rechtsfortbildung durch eine restriktive Verfassungstheorie beschränken. 377 Siehe unten 4. Kap., C. I. 378 Siehe unten 4. Kap., C. II. 4., III. 25*
3
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
F. Schlußbemerkung zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch Methodik Was das Potential der Methodik für eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation angeht, lassen sich im Schrifttum zwei Linien ausmachen379. (1) Ein Teil der Literatur setzt starkes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer methodischen Begrenzung der Interpretation. Zu nennen sind hier vor allem Friedrich Müller und ihm folgende Vertreter der Strukturierenden Rechtslehre. Wenn diese Lehre auf methodischen Grenzen beharrt, so entspringt dies nicht etwa einem Glauben an vorfindliche Inhalte des Rechts oder an eine weitgehend determinierte Interpretation. Vielmehr wird so die rechtsstaatliche Objektivität und Nachprüfbarkeit der einzelnen Konkretisierungsschritte angestrebt. (2) Ein anderer Teil der Literatur vertritt demgegenüber eine vergleichsweise skeptische Position und bestreitet entweder schon die begrenzende Wirkung der Methodik an sich oder gesteht ihr im Verhältnis zu verfassungstheoretischen oder funktionell-rechtlichen Erwägungen eine weitaus geringere Rolle für die Begrenzung der Interpretation zu. Für die Grundrechtsinterpretation hat zum Beispiel Kriele die begrenzende Wirkung der Methodik bestritten 380 . Auf eine starke Leitund Grenzwirkung der Verfassungstheorie setzend, hält Böckenförde die „weiter[e] methodisch[e] Verfeinerung und Reflexion der einzelnen Interpretationsschritte" für wenig zukunftsträchtig 381. Heun meint, daß dem BVerfG „infolge des Fehlens einer verbindlichen Rangfolge methodischer Prinzipien und der Offenheit der Auslegungsgrundsätze selbst eine methodisch kaum begrenzte Interpretationsmacht eingeräumt" sei und nimmt deshalb bereichsweise eine funktionell-rechtliche Begrenzung der Verfassungsinterpretation vor 3 8 2 . Die vorliegende Arbeit nähert sich der zuletzt genannten, skeptischen Position an. Zunächst wurde für die mögliche Wort- und Textbedeutung nachgewiesen, daß diese in schwierigen Fällen meistens keine wirkungsvolle Grenze der Interpretation ist. Auch die genetische Auslegung stellt auf der Grundlage der objektiven Theorie der Interpretation keine starke Grenze dar, weil sich die Interpretation nicht auf sie beschränken und ihr auch kein abstrakter Vorrang eingeräumt werden 379
Vgl. zum folgenden auch Würtenberger, S. 60 ff. 3 80 Siehe oben 2. Kap., D. I., III.
Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts,
381 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 82. Jedoch wird man Böckenförde nicht als Methodenskeptiker bezeichnen dürfen, da er im Bereich der Abwehrgrundrechte auf Konkretisierung verzichten will und statt dessen eine methodisch geleitete und begrenzte Inhaltsermittlung für möglich hält, wenn man die von ihm vertretene modifizierte liberale Grundrechtstheorie zugrundelegt. Dazu unten 4. Kap., C. I. 382
Heun, AöR 116 (1991), S. 207. Diese Methodenskepsis ist typisch für den funktionellrechtlichen Ansatz, der die mangelnde Begrenzung des BVerfG durch die Methodik kompensieren will. Vgl. etwa Heun, Schranken, S. 9 ff.; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 93 ff.; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 33. Siehe unten 5. Kap., C. II. 2.
. Kap.:
ethoische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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darf. Anhand dieser beiden wichtigen Auslegungselemente wurde begründet, daß erstens dem Interpreten innerhalb eines methodisch zulässigen Vorgehens große Spielräume offenstehen und daß zweitens eine feste Rangfolge der Auslegungselemente im wesentlichen nicht anerkannt werden darf. Die schwache Grenzfunktion der grammatischen und genetischen Auslegung läßt den Schluß zu, daß eine Begrenzung des Verfassungsgerichts mit methodischen Mitteln allein nicht genügt. Zwar kann diese Arbeit nicht beanspruchen, das limitierende Potential der Methodik umfassend untersucht zu haben. Für die hier vorgenommene Verallgemeinerung spricht aber, daß die Wortlautgrenze und der Wille des historischen Normgebers immerhin als die beiden aussichtsreichsten Kandidaten für eine methodische Begrenzung zu gelten haben. Demgegenüber vertritt die vorliegende Arbeit keineswegs einen radikalen Methodenskeptizismus, der jegliche Begrenzung durch Methodik für undurchführbar hält. Gegen einen radikalen Methodenskeptizismus spricht, daß methodische Argumente auch im Bereich der Grundrechtsinterpretation nicht beliebig sind 383 . Die Grenzfunktion der eindeutigen Textbedeutung verhindert immerhin, daß der Verfassung beliebige Inhalte zugewiesen werden. Die grammatische, systematische und genetische Auslegung vermittelt der Interpretation eine gewisse Orientierung. Dies führt zu einer schwachen Bindung der Interpretation. Außerdem gibt es aus methodischer Sicht überzeugende und weniger überzeugende Begründungen, die deshalb nicht einfach austauschbar oder allein vom Ergebnis bzw. vom verfassungstheoretischen Vorverständnis abhängig sind. Wie in der Vorbemerkung zu diesem Kapitel angedeutet384, ist die Methodik zwar nicht in der Lage, die für die Verfassungsinterpretation erforderliche verfassungstheoretische Argumentation zu begrenzen. Die verfassungstheoretische und funktionell-rechtliche Argumentation, auf deren Beitrag zur Grenzproblematik in den beiden folgenden Kapiteln noch ausführlich einzugehen ist, kann jedoch ihrerseits die methodische Ebene der Verfassungsinterpretation nicht ersetzen. In der „vollständigen Ausschöpfung aller sich bietenden hermeneutischen Mittel" liegt daher weiterhin eine unverzichtbare Rationalisierung und Kontrolle der Interpretation 385. Wenn man nach alldem ein Fazit wagen will, so ist die Methodik nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine schwache Grenze der Verfassungsinterpretation, die zu verfassungstheoretischen und funktionell-rechtlichen Grenzen in einem Ergänzungsverhältnis steht.
383
Zu weitgehend R. Dreier, Problematik, S. 27: ,,[W]enn es keine konsensfähige Präferenzordnung der Auslegungselemente gibt, so bedeutet das im Zweifel eben doch die Beliebigkeit der Auslegungsprozeduren und damit des Auslegungsergebnisses." 384 Siehe oben 3. Kap., A. 38 5 R.. Dreier, Problematik, S. 37, vgl. auch S. 26.
Viertes Kapitel
Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit A. Vorbemerkung Unter Verfassungs- und Grundrechtstheorie kann man mit Böckenförde „eine systematisch orientierte Auffassung über den allgemeinen Charakter, die normative Zielrichtung und die inhaltliche Reichweite der Verfassung als solcher und ihrer Teile" verstehen1. Grundrechtstheorie wird hier terminologisch als Teilmenge der Verfassungstheorie aufgefaßt. Verfassungs- bzw. grundrechtstheoretische Erwägungen sind das unverzichtbare Rückgrat der Interpretation 2. Böckenförde hält hierzu fest: „Die Interpretation der Grundrechte von einer Grundrechtstheorie her ist so nicht eine »ideologische' Zutat des jeweiligen Interpreten, die bei korrekter Anwendung der juristischen Interpretationsmittel vermeidbar wäre. Sie hat ihre Grundlage in dem dargelegten lapidaren und, gesetzestechnisch gesehen, durchaus fragmentarischen Charakter der Grundrechtsbestimmungen. Teleologische Sinn- ebenso wie systematische Interpretation dieser Bestimmungen können letztlich nicht anders als aus einer bestimmten Grundrechtstheorie heraus erfolgen." 3
Theorie hat also die Funktion, der Interpretation eine übergreifende Orientierung zu ermöglichen, ihre erkenntnistheoretischen, legitimatorischen und sonstigen Prämissen zu reflektieren und letztlich auch inhaltliche Maßstäbe bereitzustellen. Die Rolle der Verfassungs- und Grundrechtstheorie kann dabei unterschiedlich ausfallen. Sie kann wie bei Hesse4 flankierend wirken, indem sie lediglich das Vorver1 Böckenförde , Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 83; vgl. ders., Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 116, 141. Zum Theoriebegriff Stern , Staatsrecht III/ 2, S. 1679 f.; Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 22 ff., 28 ff., 508 ff.; Morlok, Was heißt und zu welchem Ende studiert man Verfassungstheorie?, S. 13 ff. Zu Verfassungs- und Grundrechtstheorien des Grundgesetzes Stern, Staatsrecht III/2, S. 1678 ff.; Morlok, ibid., S. 84 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987; Brugger, Elemente verfassungsliberaler Grundrechtstheorie, JZ 1987, S. 633 ff.; ders., Kommunitarismus als Verfassungstheorie des Grundgesetzes, AöR 123 (1998), S. 337 ff.; dagegen Haltern, KritV 83 (2000), S. 153 ff.
2 Vgl. Brugger, JZ 1987, S. 633. 3
Böckenförde,
Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 116 f.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
391
ständnis begründet. Bei Böckenförde wird sie dagegen zum wichtigsten Bezugspunkt der Interpretation. Für ihn liegt der „entscheidende Punkt für eine Stärkung oder Rückgewinnung der Normativität der Verfassung" in einer „Orientierung der Interpretation an einem Verfassungsbegriff oder genauer: einer Verfassungstheorie, die verbindliche Leitgesichtspunkte und darauf gegründete dogmatische Strukturen für die Interpretation abzugeben vermag" 5. Wie schon die Diskussion restriktiver US-amerikanischer Theorien im ersten Teil der Arbeit verdeutlicht hat6, läßt sich mit Verfassungstheorie eine starke Begrenzung des Verfassungsgerichts erzielen. Andererseits ist das Potential der Verfassungstheorie für eine Begrenzung des BVerfG nicht unbegrenzt. (1) Keine Verfassungstheorie wird das Verfassungsrecht so weit vorprogrammieren, daß nun mit ihrer Hilfe das „Subsumtionsideal" einzulösen wäre 7. Für Alexy ist „eine materiale Grundrechtstheorie, die die Lösung eines jeden Grundrechtsfalls zwingend festlegt, nicht möglich" 8 . Da die Bindung der Interpretation durch Wortlaut, Wille, Präjudiz und Theorie nach Reichweite und Intensität begrenzt sei, bleibe eine Rationalitätslücke, die nur der grundrechtliche Diskurs als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses füllen könne9. Immerhin vermöge eine materiale Grundrechtstheorie die Argumentation rational zu strukturieren 10. Verfassungstheorie kann also auch dann eine sinnvolle Begrenzung der Interpretation sein, wenn sie diese nicht determiniert. (2) Verfassungstheoretische Positionen sind aufgrund unterschiedlicher erkenntnis-, staats- und gesellschaftstheoretischer Prämissen in besonderem Maße strittig, was die Durchsetzungschancen einer auf sie gestützten Begrenzung des Verfassungsgerichts reduzieren dürfte. Der Pluralismus der Verfassungstheorien ist jedoch kein grundsätzlicher Einwand gegen den Versuch, verfassungstheoretische Grenzen der Interpretation oder der Verfassungsgerichtsbarkeit zu entwickeln. (3) Jede verfassungstheoretische Argumentation gerät unvermeidlich an einen Punkt, an dem nicht weiter begründet werden kann und auf „Basissätze" zurückgegriffen werden muß 11 . Damit ist freilich ein allgemeines Problem der Verfassungs- und Rechtstheorie beschrieben, in der zwingende Letztbegründungen nicht zu gelingen scheinen12. Dies schließt aber eine rationale Entscheidung für die eine oder andere Theorie nicht aus.
4
Vgl. ders., Grundzüge, Rdnr. 63. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 82. 6 Gemeint sind Elys repräsentationsoptimierende Theorie, der Originalismus und Theorien verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung im Sinne von James Bradley Thayer. 7 Zum Subsumtionsideal siehe oben 2. Kap., A. II. 3. (1). 8 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 519 f. (Zitat auf S. 519), zur Unmöglichkeit einer vollständigen Liste mit Entscheidungsregeln für jeden Grundrechtsfall. 9 Vgl. ibid., S. 520, auch S. 498 f. 5
10
Vgl. ibid., S. 520. Die Strukturierung erfolgt bei Alexy insbesondere durch prima facieVorrangrelationen, die eine „weiche" Ordnung herstellen, dazu ibid., S. 516 f. Vgl. Schlink, Staat 19 (1980), S. 92 ff.
3
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Statt die Grenzproblematik weiter abstrakt zu behandeln, sollen nun restriktive Theorieentwürfe diskutiert werden, wie dies in den Schlußfolgerungen zum Untersuchungsansatz im deutschen Recht angekündigt wurde 13 . Man kann versuchen, die Verfassungsinterpretation mit einem restriktiven Verfassungsverständnis zu begrenzen, wie es Forsthoff (B.) und Böckenförde (C.) auf je unterschiedliche Weise versucht haben. In Frage kommt auch ein restriktives Grundrechtsverständnis, wie es wiederum bei Böckenförde, aber auch bei der demokratisch-funktionalen Grundrechtstheorie (D.) anzutreffen ist. Darüber hinaus ist die sog. enge Tatbestandstheorie zu würdigen, die unter bestimmten Voraussetzungen zu einer Begrenzung grundrechtlicher Schutzbereiche gelangt (E.). Schließlich kann man die Verfassungsinterpretation sowie die Verfassungsgerichtsbarkeit auch mit konsensualen (F.) und prozeduralen Ansätzen (G.) begrenzen.
B. Formeller Rechtsstaatsbegriff (Forsthoff) Forsthoffs formeller Rechtsstaatsbegriff 14 bildet das Fundament seiner restriktiven methodischen Position, die auf eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation abzielt. Sein Positivismus und sein Skeptizismus gegenüber Weiten zeigen eine gewisse Affinität zu Elys Position15.
I. Formales Verfassungsverständnis Forsthoff sieht das Verfassungsrecht nicht auf die Idee der materialen Gerechtigkeit verpflichtet. Der Rechtsstaat sei nurmehr „ein System rechtstechnischer Kunstgriffe zur Gewährleistung gesetzlicher Freiheit" 16 . Die Umdeutung von staatsgerichteten Abwehrgrundrechten in Werte sprenge den Rahmen der „klassischen" Gesetzesauslegung und sei daher unzulässig17. Andernfalls werde die Verfassung zum „Repositorium der gängigen Werte" 18 . Wertphilosophierende Juristen seien ein Anachronismus 19. Smends Verständnis der Grundrechte als ein Wert-, 12 Ablehnend z. B. Herbert, Rechtstheorie als Sprachkritik, S. 280 ff. (285 f.), 292 f. (zu Nr. 4 u. 5); Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 56 ff. (62 f. ), 63 ff. (66 f.), 76 (zu Rawls u. Dworkin). 13 Siehe oben 1. Teil, 4. Kap., B. II. 14 Dazu Calliess, Prozedurales Recht, S. 42 ff. 15 Siehe oben 1. Teil, 2. Kap., D. und F. 16 Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 61. 17 Vgl. ibid., etwa S. 37 ff., 44 f., 47. 18 19
Forsthoff,
Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 38.
Dies wird auf das Jahr 1958 bezogen, vgl. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 41. Es bestehe die „prinzipielle Gefahr einer Abdankung der juristischen Methode zugunsten irgendwelcher geisteswissenschaftlicher Arten der Deutung. Sie hätte, wenn die Rechtswissenschaft den
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
39
Güter- oder Kultursystem lehnt er ab 20 . Im übrigen seien materiale Verfassungswerte angesichts einer stabilen Gesellschaft überflüssig 21. Den Staatsstreich könnten Werte in der Verfassung oder in der Verfassungsinterpretation sowieso nicht verhindern 22.
II. Materiales Verfassungsverständnis Das BVerfG erkennt demgegenüber einen Wertbezug der Grundrechte an, wie er insbesondere in der Lüth-Entscheidung23 zum Ausdruck gekommen ist. Danach verkörpern die Grundrechte eine objektive Wertordnung. Daran schließt die Lehre an, wenn sie mit den Grundrechten ein materiales Verfassungsverständnis verbindet 24 . Ein materiales Verfassungsverständnis läßt sich auf positivistischer wie auf nichtpositivistischer Grundlage vertreten. Im nichtpositivistischen Verständnis des materialen Rechtsstaats sind die Grundrechte auf die Idee inhaltlicher Gerechtigkeit bezogen.
I I I . Stellungnahme Gegen ein rein formales Verständnis der Verfassung ist kritisch einzuwenden, daß sich insbesondere die Menschenwürde und das Sozialstaatsprinzip einer bloß rechtstechnischen Qualifikation versagen. Nach der Pervertierung des Rechts im Nationalsozialismus ist es unangemessen, zu einem ,,formal-technische[n] Verständnis eines reinen, ausschließlich als institutionelles Gefüge gesehenen Rechtsstaats"25 zurückkehren zu wollen. Daß die Verfassung keine unüberwindbare Sicherung gegen Staats- und Verfassungskrisen darstellt, ist kein Grund, auf den realisierbaren Grenznutzen einer inhaltlichen Orientierung durch materiale Verfassungsprinzipien zu verzichten. Grundrechte als Werte oder Prinzipien anzusehen, Bewegungen der Philosophie gefolgt wäre, nach der wertphilosophischen zu einer phänomenologischen, existenzialistischen und anthropologischen Grundrechtskonzeption führen müssen". (ibid., Hervorh. weggelassen) 20 Vgl. Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 39 ff. Dazu Smend, Verfassung und Verfassungsrecht, in: ders., Staatsrechtliche Abhandlungen, S. 264. 21 Vgl. Forsthoff, Zur Problematik der Verfassungsauslegung, S. 34. 22 Vgl. ibid., S. 26. 23 Vgl. BVerfGE 7, 198 (205). 24 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 77; Schnapp, in: GGK, 3. Aufl., Art. 20 Rdnr. 22. Das materiale Verfassungsverständnis grenzt sich nicht nur vom formellen, sondern auch vom prozeduralen Verfassungsverständnis ab. Siehe dazu oben 1. Teil, 1. Kap., D. VI., 3. Kap., C., 4. Kap., A. II. 1., sowie unten 4. Kap., G. Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 474, zum gemischt material-prozeduralen Charakter des Grundgesetzes. Zur Entwicklung des Rechtsstaatsbegriffs Calliess, Prozedurales Recht, S. 39 ff. m. w. Nachw. 2
5 Hollerbach, AöR 85 (1960), S. 267.
3
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
heißt im übrigen nicht, sie einem „Positivismus der Tageswertungen"26 auszuliefern. Auch geht es nicht darum, die positive Verfassung mit rechtsphilosophischen Diskursen zu überspielen. Im Ergebnis ist davon auszugehen, daß das Grundgesetz materiale Gehalte aufweist, die seine Qualifikation als formellen Rechtsstaat ausschließen.
C. Verfassung als „Rahmenordnung46 (Böckenförde) I. Darstellung Böckenförde hat vorgeschlagen, die Verfassung nicht als Wertordnung oder Prinzipiengefüge, sondern als Rahmenordnung zu verstehen 27. Eine Rahmenordnung beschränke das Verfassungsgericht auf die Kontrolle von Grenzfestlegungen und Richtungsbestimmungen, während die „Aufgabe der originären Umsetzung ethischer und politischer Prinzipien" 28 sowie die „Zuständigkeit zu rechtsschöpferischer Konkretisierung" 29 im Hinblick auf die Grundrechte, Strukturprinzipien und Staatszielbestimmungen wieder allein dem Gesetzgeber obliege 30 . Diesem „limitierenden" 31 Verfassungsverständnis hat sich eine Reihe von Autoren angeschlossen32. Im einzelnen richtet es sich gegen die Konkretisierung als Methode der Verfassungsinterpretation (1), das Verfahren der Abwägung (2) und die objektive Dimension der Grundrechte (3). (1) Für Böckenförde ist die Methode der Konkretisierung mit nachlassender Verfassungsbindung und Rechtssicherheit verbunden 33. Der von Forsthoff vorgeschlagenen klassischen Auslegungsmethode vermag er jedoch auch nicht zu folgen 34 . Statt dessen sollen die Grundrechte vor allem mit Hilfe einer bestimmten Grundrechtstheorie interpretiert werden 35. Auf diese Weise soll die herkömmliche 26 Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 46. 27 Dazu Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 30 f.; ders., Zur Lage der Grundrechtsdogmatik, S. 71 f.; ders., Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 58, 86 f. 28 Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 28 (Hervorh. weggelassen). 29 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 87. 30 Vgl. ibid., S. 86 f. 31
So Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, S. 16 f., der zwischen limitierender und expansiver Verfassungstheorie unterscheidet. 3 2 Vgl. Wahl, Staat 20 (1981), S. 502 ff. (507); Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 2, 5, 7 f.; Schlink, Staat 19 (1980), S. 105; Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, S. 153 f. Vgl. auch Korinek, in: FS Walter, S. 372 f.; Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 43, 48; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 94; sowie Breuer, in: FS Redeker, S. 52 f., der von „Richtund Grenzwerten der Grundrechtsordnung" spricht. 33
Vgl. Böckenförde,
Staat 29 (1990), S. 21 f. Vgl. auch Forsthoff,
in: FS Schmitt, S. 47,
51. 34 35
Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 56 ff. Darauf ist unter (3) sogleich zurückzukommmen.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
39
Methodik einen festen Bezugspunkt erhalten. Die „Festlegung auf einen strikten, intersubjektiv nachvollziehbaren Interpretationsrahmen" 36 soll die Interpretation der klassischen Abwehrgrundrechte als „Inhalts- und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem" ermöglichen 37. Der Verzicht auf Konkretisierung soll darüber hinaus verhindern, daß der Gesetzgeber durch eine zunehmende „Ver-bestimmung" des normativen Gehalts der Verfassung eingeengt wird 3 8 . (2) Nach Böckenförde ist dem Verfassungsgericht bei der Kontrolle des Rahmens die „Ausmittlung der einzelnen Rechtspositionen grundsätzlich versagt" 39. Dahinter steht die Vorstellung, eine Grundrechtsbeschränkung durch den Gesetzgeber nicht als gerichtlich voll überprüfbare Frage der optimalen Zuordnung von Grundrechten und Verfassungsgütern zu begreifen, sondern als primär politisch zu leistende Definition des Gemeinwohls, die lediglich auf Mißbrauch kontrolliert werden kann. Bei Wahl wird deutlich, daß die Prüfung der Verfassungsmäßigkeit eines Gesetzes anhand eines „Rahmens" jedenfalls in der Regel auf einen Minimalstandard hinauslaufen dürfte: „Eine als Rahmen verstandene Verfassungsnorm als Maßstab für ein Gesetz einzusetzen, richtet das Urteil nicht darauf, ob der Mittel-, der Höhe- oder Optimalpunkt getroffen ist, sondern ob das konkrete Gesetz ebenso »innerhalb des Rahmens' liegt, wie es andere Ausgestaltungen auch könnten." 40
Dies führt zumindest zu einer stark eingeschränkten Angemessenheitsprüfung, bei der lediglich ein offenbares oder eindeutiges Mißverhältnis von Grundrechtseingriff und staatlich verfolgtem Zweck die Verfassungswidrigkeit begründet 41. Nimmt man das ernst, so wäre es bei der Abtreibung weitestgehend Aufgabe des Gesetzgebers, das Verhältnis von Leben, Gesundheit, Würde und Persönlichkeitsrecht der Frau einerseits und dem ungeborenen Leben andererseits auszumitteln. Im Hinblick auf die Abtreibung würde Böckenförde dem freilich nicht zustimmen 42 . In einer radikalen Fortführung dieses Alternativmodells, wie sie Schlink vertreten hat, verschwindet die Abwägung nach dem Prinzip der Verhältnismäßigkeit vollständig aus der Grundrechtsprüfung 43. Anstelle der Angemessenheit ist lediglich der absolute Wesensgehalt zu achten (vgl. Art. 19 Abs. 2 GG) 44 . 36
Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 89. 37 Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 22. 38
Vgl. ibid., S. 24 ff.; 29 ff. (Zitat auf S. 29). 9 Ibid., S. 31. 40 Wahl, Staat 20 (1981), S. 507. 3
41
Diesem Ergebnis scheint Böckenförde zuzuneigen. Vgl. ders., Staat 29 (1990), S. 29 Fn. 110 mit Text. 42 Vgl. die abw. M. Böckenfördes in: BVerfGE 88, 203 (359 ff.) - 2. Abtreibungsurteil 43 44
Vgl. Schlink, EuGRZ 1984, S. 462.
Vgl. ibid., S. 462. Der Wesensgehalt muß absolut verstanden werden, da die relative Theorie auf die dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung einschließlich Angemessenheit zurückverweist. Dazu allg. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 113; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 227 ff.
396
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
(3) Böckenförde kritisiert, daß die objektiv-rechtliche Dimension das grundgesetzliche System der Gewaltenteilung verschiebe, weshalb er ihre Aufgabe zur Diskussion stellt 45 . Als Alternative bietet er den Rückzug auf die liberale Grundrechtstheorie an 4 6 - was insoweit dem US-amerikanischen Grundrechtsverständnis nahekommen würde - , die er jedoch durch das Sozialstaatsprinzip flankiert 47. Nach der liberalen Grundrechtstheorie 48 wirken Grundrechte lediglich als Abwehrrechte im Verhältnis zwischen Bürger und Staat. Nach dem Freiheitsbegriff dieser Theorie ist die Freiheit vorstaatlich, zweckfrei und „um ihrer selbst willen" gewährleistet 49. Auch ihr beliebiger Gebrauch ist geschützt. Freiheit im Sinne der liberalen Theorie ist kein Wert, objektiviertes Institut oder Mittel zum Zweck 50 . Böckenförde begründet die liberale Grundrechtstheorie vor allem damit, daß der „Rückgriff auf die klassischen Freiheitsrechte" nach dem Willen des Verfassungsgebers eine „Antwort auf die elementaren Freiheitsverletzungen der NS-Zeit" sei 51 . Demgegenüber spreche das Grundgesetz weder von Werten noch von einer Wertordnung; gleiches gelte für die Beratungen im Zuge der Entstehung des Grundgesetzes52.
II. Kritik 1. Zum Verfassungsverständnis
der Rahmenordnung
Böckenförde will die „verfassungsgemäße" Verfassungs- und Grundrechtstheorie ermitteln, von der das Grundgesetz getragen sei 53 . Unter „strenge[r] Bewährung 45 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 26 ff. 46 Vgl. ibid., S. 28 f. Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, S. 82, 94 ff., versucht am Beispiel von Böckenfördes Interpretation der Rundfunkfreiheit zu zeigen, daß die liberale Theorie bei Böckenförde nur als Vermutung wirke, die im Zuge der Interpretation des jeweiligen Grundrechts widerlegt werden könne. Dazu Böckenförde, AfP 1982, S. 77 ff. (80). Vgl. auch Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, S. 22 ff. 47 Der Staat soll kraft des Sozialstaatsauftrags „Verantwortung für die Schaffung und Sicherung der notwendigen sozialen Voraussetzungen grundrechtlicher Freiheit" tragen, vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 144. Damit soll das „zentrale Problem der liberalen Grundrechtstheorie", nämlich ihre „relative Blindheit gegenüber den sozialen Voraussetzungen der Realisierung grundrechtlicher Freiheit" bewältigt werden. Vgl. ibid., S. 143 ff. (Zitate S. 143 f.), auch S. 123 f., 136 ff. 48 Dazu Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 119 ff.; Stern, Staatsrecht III/2, S. 1682 f.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 55; Brugger, JZ 1987, S. 635 ff. 49 Vgl. Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 119 f. (Zitat auf S. 143), der sich hierfür auf das Verteilungsprinzip Carl Schmitts beruft. Danach ist die Freiheit des einzelnen prinzipiell unbegrenzt, während die Befugnis des Staates zu Eingriffen prinzipiell begrenzt ist (vgl. ibid., S. 119, 121). 50 Vgl. ibid., S. 120,143. 51 Ibid., S. 143, vgl. auch S. 119. 52 Vgl. ibid., S. 143.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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an den (normativen) Aussagen, Voraussetzungen, dem Entstehungszusammenhang usf. der konkreten Verfassung" sei die leitende Ordnungsvorstellung der Verfassung zu ermitteln und zu einer systematischen Orientierung zu entfalten 54. Aus seiner Begründung der liberalen Grundrechtstheorie folgt jedoch nicht zwingend, daß die Abwehr staatlicher Eingriffe die einzige Funktion der Grundrechte ist. Nach Alexy macht gerade die Offenheit von Text und Entstehungsgeschichte eine Grundrechtstheorie erforderlich. Dann könne nicht erwartet werden, daß diese beiden Auslegungselemente die Offenheit der Verfassung im Hinblick auf die Wahl der „richtigen" Theorie beseitigen55. Umgekehrt läßt sich der Prinzipiencharakter der Grundrechte ebenfalls nicht zwingend begründen, was schon dargelegt wurde 56 . Damit scheint sich eine ähnliche Pattsituation wie zwischen Originalismus und Non-Originalismus anzubahnen 57 . Dieser Befund wäre jedoch zu undifferenziert. Zum einen trifft er auf der konstruktiven Ebene nicht zu. Zum anderen verläuft die Auseinandersetzung zwischen Rahmenordnung und Prinzipienmodell unter rechtsphilosophischen Vorzeichen nicht einfach entlang der Linie Positivismus/Nichtpositivismus. Diese Thesen sind kurz zu erläutern. Auf der konstruktiven Ebene gründet sich ein starkes Argument zugunsten des Prinzipienmodells auf die schon erwähnte Tatsache, daß ein reines Regelmodell jedenfalls für ein differenziertes Verfassungsrecht - undurchführbar ist 58 . Böckenförde faßt die Grundrechte in ihrer gegen den Staat gerichteten Abwehrfunktion als abwägungsfrei anwendbare Normen und in diesem Sinne als Regeln auf 59 . Abgesehen von Bedenken gegen angeblich „spezifisches" Verfassungsrecht 60 läßt dies außer acht, daß durch Abwägung aufzulösende Grundrechtskollisionen auch dann unvermeidlich sind, wenn man sich auf die liberale Grundrechtstheorie zurückzieht. Diese These wurde oben im Hinblick auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte bei Alexy erläutert und verteidigt 61 . Hier ist nur erneut festzuhalten, daß der Prinzipiencharakter der Grundrechte in konstruktiver Hinsicht ohne Alternative ist, womit nicht bestritten werden soll, daß Grundrechtsbestimmungen auch Regeln enthalten. 53 Vgl. Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 84; ders., Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 140 ff., 142 ff. 54 Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 84. 55 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 515. 56 Siehe oben 2. Kap., F. III. (1) und IV. (1). 57
Siehe dazu oben 1. Teil, Einleitung vor Kapitel 1. 58 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 106 ff. Siehe dazu oben 2. Kap., F. IV. (1). 59 Nach Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, S. 62 ff., 137, vertritt Böckenförde ein „gemäßigtes Regelmodell des Rechts" (ibid., S. 137). 60 Dazu oben 1. Teil, 3. Kap., B. I. 2. (1), und 4. Kap., A. II. 2. Siehe auch gleich im Text unter 3. sowie unten 5. Kap., C. II. 1. (zur „Regelungsdichte"). 61 Siehe oben 2. Kap., F. IV. (1), und V.
3
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Fraglich ist, ob die rechtsphilosophische Kontroverse zwischen Positivismus und Nichtpositivismus implizit über die Frage des Prinzipiencharakters der Grundrechte entscheidet. Zwar wird das Regel-Prinzipien-Modell häufig auf der Grundlage einer nichtpositivistischen Theorie vertreten. Das Modell läßt sich jedoch als Strukturtheorie der Grundrechte auch mit einem positivistischen Standpunkt verbinden. Das Regel-Prinzipien-Modell verbindet sich mit dem Nichtpositivismus, wenn man Freiheit und Gleichheit als grundlegende moralische Sätze einer gerechten Ordnung ansieht, die das Grundgesetz inkorporiert 62. So ist die Konstruktion des Regel-Prinzipien-Modells bei Alexy in eine nichtpositivistische Theorie des Rechts eingebunden, die auf diskurstheoretischer Grundlage steht63. Ein „positiver" 6 4 Einfluß der Moralphilosophie auf das Recht liegt bereits darin, daß in großem Umfang auf die Vernünftigkeit von Diskursen gebaut und daß der juristische als Sonderfall des allgemeinen praktischen Diskurses gesehen wird 65 . Andererseits läßt sich das Regel-Prinzipien-Modell als Konstruktionsvorschlag auch auf positivistischer Grundlage vertreten 66. Würde, Freiheit und Gleichheit sind in diesem Fall als positivierte Prinzipien bzw. Optimierungsgebote des Grundgesetzes auffassen, ohne daß dieser Befund zu moralphilosophischer Argumentation oder zu einer moralphilosophischen Letztbegründung des Rechts nötigen würde. Zwar wird das starke Vertrauen des Prinzipienmodells auf praktische Vernunft und rationale Diskurse für einen Positivisten problematisch sein. Jedoch könnte man Abwägungsfragen zum Beispiel auch durch begründetes richterliches Ermessen entscheiden lassen. Umgekehrt ist auch das Konzept der Rahmenordnung nicht zwingend mit einem positivistischen Standpunkt verknüpft. Zwar könnte man Böckenfördes Konzept der Rahmenordnung für eine positivistische Theorie halten, weil er mit Carl Schmitt und Ernst Forsthoff eine Wertbegründung des Rechts ablehnt67. Tatsächlich scheint Böckenförde jedoch eine nichtpositivistische Position zu vertreten. Im Hinblick auf die Bindung der verfassungsgebenden Gewalt spricht er nämlich an einer Stelle davon, daß fehlende Anerkennung und Umsetzung von überpositiven Rechtsgrundsätzen „einen Legitimitätsmangel des Aktes der verfassunggebenden Gewalt bewirken und auch die Verbindlichkeit der so beschaffenen Verfassung in Frage stellen" könne 68 . An anderer Stelle will er einer „Trennung von Recht und 62 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 494. 63 Vgl. z. B. Alexy, ibid., S. 499; ders., ARSP Beih. 37 (1990), S. 9 ff. 64 Terminologie nach Alexy, in: FS Valdés, S. 85. 65 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 ff. 66 Vgl. auch Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 8 Fn. 28. 67 Vgl. Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 33 ff.; C. Schmitt, Die Tyrannei der Werte, S. 37 ff.; Forsthoff, in: FS Schmitt, S. 41. 68 Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 110.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Sittlichkeit" nicht das Wort reden 69. Beides klingt nach der nichtpositivistischen Verbindungsthese70, weil illegitimem Recht die Geltung abgesprochen und nicht lediglich aus moralischen Gründen die Gefolgschaft versagt werden soll. Schließlich gibt Böckenförde in seiner Wertkritik die Suche nach Richtigkeitsmaßstäben des Rechts keineswegs auf 71 . Gerade deshalb erteilt er dem gesellschaftlichen Wertkonsens eine Absage72. Trifft diese Einschätzung zu, so wäre die Rahmenordnung bei Böckenförde auf eine nichtpositivistische Grundlage gestellt. Somit ergibt sich aus der rechtsphilosophischen Diskussion keine zwingende Wegweisung, wie man die verfassungstheoretische Wahl zwischen Rahmenordnung und Regel-Prinzipien-Modell zu entscheiden hat. Die vorstehenden Überlegungen lassen sich so zusammenfassen. (1) In der hier vertretenen Deutung steht das Verfassungsverständnis der Rahmenordnung bei Böckenförde auf nichtpositivistischer Grundlage. (2) Auch eine Rahmenordnung kann für eine differenzierte Grundrechtsinterpretation auf Abwägungen nicht verzichten und muß daher konstruktiv vom Prinzipiencharakter der Grundrechte ausgehen. (3) Die Kontroverse zwischen Positivismus und Nichtpositivismus entscheidet nicht über die Wahl zwischen Rahmenordnung und Prinzipiengefüge. (4) Schon deshalb ergibt sich zur Auseinandersetzung um den US-amerikanischen Originalismus und Non-Originalismus - abgesehen von weiteren wesentlichen Unterschieden73 - nur insofern eine lose Parallele, als man hier wie da vor der „grundlegenden Weichenstellung"74 der jeweiligen Verfassungstheorie steht.
2. Verzicht auf Abwägung Wie schon unter 1. dargelegt, kann man für die Verfassungsinterpretation auf Abwägungen nicht verzichten. Ohne Abwägung lassen sich Grundrechtskollisionen nicht rational und angemessen auflösen. Der von Schlink vorgeschlagene Verzicht auf die Angemessenheitsprüfung ist zwar durchführbar, führt aber dazu, daß Grundrechte jenseits der Wesensgehaltgarantie leerlaufen, soweit der Eingriff nur geeignet und erforderlich ist 75 . Dies würde zu einer unangemessenen Absenkung 69 Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 42. 70 Vgl. dazu Alexy, ARSP Beih. 37 (1990), S. 9 ff.; ders., in: FS Valdes, S. 85 f. Vgl. für die Gegenposition z. B. Hoerster, Verteidigung des Rechtspositivismus, S. 10 f., 20 ff. 71 Vgl. Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 46 a.E. 72 Vgl. ibid., S. 46. Vgl. aber auch Böckenförde, Die verfassunggebende Gewalt des Volkes, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 110, der auf die im „ethisch-sittlichen Bewußtsein der Gesellschaft" verankerten überpositiven Rechtsgrundsätze abstellt. 73 Im Gegensatz zum Originalismus sehen die Vertreter der Rahmenordnung das Ziel der Verfassungsinterpretation nicht in der Ermittlung der historischen Bedeutung der Verfassung. 74 Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 8. 75 Vgl. auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 112 f., 114 f., zu Grundrechten unter einfachem und qualifiziertem Gesetzesvorbehalt.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
des grundrechtlichen Schutzniveaus führen. Auch der Rückzug auf eine bloße Evidenzkontrolle wäre unangemessen, weil er staatliche Freiheitsbeschränkungen zuläßt, die die konkrete Bedeutung der grundrechtlichen Freiheit in erheblichem Maße verkennen.
3. Inhaltsermittlung
statt Konkretisierung
Heun hält zu Recht fest, daß die Methode der Konkretisierung nicht erst eine Folge des Prinzipiencharakters der Grundrechte, sondern bereits der „Weite und Unbestimmtheit der Grundrechtsbestimmungen" sei 76 . Die Reduktion der Grundrechte auf ihre Abwehrfunktion hat deshalb nicht zur Folge, daß die noch nie mögliche „Inhalts- und Sinnermittlung von etwas Vorgegebenem"77 nunmehr möglich wäre 78 . Der schöpferische Anteil der Interpretation entfällt nicht dadurch, daß man sich auf die Beziehung Bürger /Staat und hier auf den status negativus zurückzieht. Wie schon zu Forsthoffs „klassischer" Interpretation festgehalten wurde 79 , ist die Interpretation von Grundrechten auch im Regelmodell schwierig. Die Frage der Methodenwahl ist insoweit von der grundrechtstheoretischen Frage zu trennen, ob und inwieweit die Grundrechte objektive Wirkungen haben. Auf die liberale Grundrechtstheorie kann man sich auch dann zurückziehen, wenn man entgegen Böckenförde in der Konkretisierung die richtige Methode der Grundrechtsinterpretation sieht 80 .
4. Verzicht auf die objektive Dimension der Grundrechte Während das Verfahren der Abwägung mit dem Prinzipiencharakter der Grundrechte untrennbar verknüpft ist, trifft dies auf die objektive Dimension der Grundrechte nicht zu 8 1 . Wie schon erwähnt 82, sind unter der objektiven Dimension die Ausstrahlungswirkung der Grundrechte auf einfaches Recht einschließlich der mittelbaren Drittwirkung, grundrechtliche Schutzrechte, Grundrechte als Maßstab für Organisation und Verfahren, Grundrechte auf Teilhabe und Leistung sowie die 76 Heun, Schranken, S. 61. 77 Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 22. 78 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 56, 60. 79 Siehe oben 2. Kap., A. II. 2., 3. so Demgegenüber vermengt Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 10 f., 15, 17, die methodische und die grundrechtstheoretische Ebene, wenn er die liberale Theorie mit dem Subsumtionsmodell der Rechtsanwendung gleichsetzt. Auf diese Weise wird die liberale Theorie zu einem leichten Ziel für Kritik. 81 A.A. wohl Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 12, der Handlungsaufträge und Schutzpflichten als „notwendige Konsequenz aus dem Charakter der Grundrechte als objektive Grundsatznormen / Wertentscheidungen" bezeichnet. 82 Siehe oben 1. Kap., C.II.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
401
Resubjektivierung objektiver Funktionen zu verstehen. Zwar optimieren diese objektiven Wirkungen die grundrechtliche Freiheit. Konstruktiv ist aber auch ein Regel-Prinzipien-Modell denkbar, in dem zugunsten des Gesetzgebers auf diese Art von Optimierung verzichtet wird. Da die Kritik an der objektiven Dimension bereits im ersten Kapitel zur Sprache gekommen ist 8 3 , sind im folgenden vor allem die inhaltlichen Gründe zu diskutieren, die für die objektive Dimension und gegen die Angemessenheit von Böckenfördes Lösung sprechen (a]). Die Begründung der objektiven Dimension ist sodann anhand der Schutzrechte zu vertiefen (b]). Im Anschluß daran ist der Frage nachzugehen, ob man die Schutzrechte auch als Abwehrgrundrechte auffassen könnte, was die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte insoweit überflüssig machen würde (c]).
a) Verteidigung der objektiven Dimension Eine nachdrückliche Verteidigung der objektiv-rechtlichen Dimension hat Grimm unternommen 84. Er sieht in ihr das dynamische Element der Rechtsordnung, das diese für die Anpassung an den sozialen Wandel offen halte 85 . Verzichte man auf die objektiv-rechtliche Dimension, so würden daraus mangelnde Anpassungsfähigkeit der Grundrechte und unzureichender Schutz gegen neue Freiheitsbedrohungen resultieren. Im einzelnen führt Grimm zugunsten der objektiven Dimension folgende Entwicklungen an 86 : (1) Gefahren des wissenschaftlich-technischen Fortschritts; (2) Bedrohungen von Freiheit durch nichtstaatliche Akteure; (3) der Bedarf nach staatlichen Vorkehrungen und Einrichtungen als Grundlage der Freiheitsbetätigung; (4) fehlende tatsächliche Voraussetzungen für reale Freiheit. Zusammenfassen läßt sich diese Verteidigungslinie mit dem Argument, daß bei einer Beschränkung auf staatsgerichtete Abwehrrechte ein Grundrechtsleerlauf angesichts neuartiger Gefahren für die Freiheit drohe 87. Auf eine Verteidigung der objektiven Grundrechts Wirkungen kann auch die hier nicht zu vertiefende Grundsatzkritik am Liberalismus hinauslaufen, die insbesondere die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft 88 als Grundlage der Rahmenordnung angreift 89. Nach Auffassung dieser Kritik muß die objektiv-rechtliche 83 Siehe oben 1. Kap., C. II., III. 4. 84 Vgl. Grimm, Rückkehr zum liberalen Grundrechtsverständnis?, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 221 ff.; dazu kritisch Heun, Schranken, S. 76 ff. Gegen eine Rückkehr zur liberalen Grundrechtstheorie auch Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 9, 12 ff., 19 f. Vgl. auch Breuer, in: FS Redeker, S. 53. 85 Vgl. Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 234, 240; Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 15 f. 86 Vgl. Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 227 ff. 87 Vgl. für die grundrechtlichen Schutzrechte Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 559. 88 Dazu allg. Hesse, Bemerkungen zur heutigen Problematik und Tragweite der Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: ders., Ausgewählte Schriften, S. 45 ff.; Rupp, Die Unterscheidung von Staat und Gesellschaft, in: HStR, § 28, S. 1187 ff. 26 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Dimension als „eine eher unbewußte Reaktion der Grundrechtsdogmatik auf den Zusammenbruch der Annahmen gedeutet werden, die das lineare Gleichgewichtsmodell des Liberalismus einmal getragen haben." 90 Zu erwähnen ist in diesem Zusammenhang auch das in den neunziger Jahren intensiv diskutierte Problem, inwieweit die von der liberalen Theorie vorausgesetzte Möglichkeit der Steuerung durch Recht unter heutigen Bedingungen noch realistisch ist 91 . Dabei kann man die objektive Dimension einerseits als Kompensationsmechanismus für die mangelnde Selbststeuerung der Gesellschaft begreifen 92. Andererseits läßt sich mit Hilfe dieses Problemkomplexes auch gegen die objektive Dimension argumentieren. Da das BVerfG im Rahmen der objektiven Dimension und insbesondere durch positive Maßgaben für den Gesetzgeber selbst eine Steuerungsfunktion ausübt, ist es auch an entsprechenden Steuerungsdefiziten beteiligt. Die Steuerungswirkung verfassungsgerichtlicher Entscheidungen stellt allerdings ein neues Thema dar, weshalb diese Problematik hier nicht zu vertiefen ist.
b) Begründung grundrechtlicher Schutzrechte Um die Begründung objektiver Grundrechtswirkungen angemessen vertiefen zu können, werden im folgenden exemplarisch die Schutzrechte behandelt, denen auch für die übrigen objektiven Funktionen eine grundlegende Bedeutung zukommt 93 . Zunächst wird die Begründung des BVerfG vorgestellt (aa]). Danach sind die wichtigsten Argumente aus der Literatur zu nennen (bb]>. Es folgt eine Stellungnahme (cc]). aa) BVerfG Das BVerfG hat die staatliche Schutzpflicht aus dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit gemäß Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entwickelt 94 , wobei es 89
Vgl. z. B. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 12 ff., 24 m. w. Nachw. Vgl. andererseits Brugger, JZ 1987, S. 635 ff., 637 ff., der zwischen wirtschafts- und verfassungsliberaler Theorie unterscheidet. 90
Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 18. Vgl auch ibid., S. 10 ff., zu den Voraussetzungen der liberalen Theorie. 91 Vgl. etwa Grimm, Der Wandel der Staatsaufgaben und die Krise des Rechtsstaats, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 159 ff.; ders., Die Zukunft der Verfassung, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 399 ff.; Habermas, Faktizität und Geltung, S. 516 ff.; Calliess, Prozedurales Recht, S. 73 ff.; ferner Manterfeld, Die Grenzen der Verfassung, S. 140 ff., 155 (zu Nr. 7). 9 2 Vgl. Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 227 ff., 231 ff. 93 Vgl. ibid., S. 234; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 12. 94 Vgl. BVerfGE 39, 1 (41) - Schwangerschaftsabbruch I; 46, 160 (164) - Schleyer; 49, 89 (142 f.) - Kalkar I; 53, 30 (57) - Mülheim-Kärlich; 56, 54 (73, 80) - Fluglärm; 77, 170 (214) - C-Waffen; 77, 381 (402) - Gorleben; 79, 174 (201 f.) - Verkehrslärm; 81, 310 (339)
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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sich zur Begründung zusätzlich auf den objektiv-rechtlichen Gehalt des Grundrechts 9 5 , aber auch auf den Schutz der Menschenwürde nach Art. 1 Abs. 1 S. 2 GG berufen hat 9 6 . Die anhand von Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG entwickelten Grundsätze zur Schutzpflicht hat das BVerfG inzwischen auch auf andere Grundrechte übertragen 9 7 . Die Verletzung der Schutzpflicht kann der einzelne mit der Verfassungsbeschwerde geltend machen 9 8 .
bb) Literatur Die herrschende Lehre stimmt der verfassungsgerichtlichen Entfaltung der Schutzrechte i m Ergebnis z u 9 9 . Die vielfältigen Begründungsansätze der umfangreichen Literatur sind hier nicht i m einzelnen nachzuzeichnen 100 . Man kann davon - Kalkar II; 85, 191 (212 f.) - Nachtbackverbot; 88, 203 (251 ff.) - Schwangerschaftsabbruch II; 90, 145 (195) - Cannabis. Vgl. ferner BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983, S. 2931 (2932) - Luftreinhaltung, sowie folgende Kammerbeschlüsse: BVerfG (K) NJW 1987, S. 2287 - Aids-Bekämpfung; NJW 1996, S. 651 - Ozon; NJW 1996, S. 651 f. - Geschwindigkeitsbeschränkung; NJW 1995, S. 2343 - Alkohol im Straßenverkehr; NJW 1997, 2509 Elektrosmog; NJW 1997, S. 3085 - Edelfosin. 95 So etwa BVerfGE 53, 30 (57); 56, 54 (73); 77, 170 (214). 96 Vgl. BVerfGE 39, 1 (41) m. LS 1, und 88, 203 (251) mit durchaus unterschiedlichen Gewichtungen von Menschenwürde und Grundrecht auf Leben. Zur Anknüpfung an die Menschenwürde Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 80; Braczyk, Rechtsgrund und Grundrecht, S. 140; H.H. Klein, DBV1. 1994, S. 492. 97 Vgl. zum allgemeinen Persönlichkeitsrecht BVerfGE 96, 56 (63 ff.) - nichteheliche Vaterschaft; 97, 125 (146, 148 f.) - Caroline von Monaco; zur allg. Handlungsfreiheit BVerfGE 91, 335 (339) - „punitive damages"; zur Glaubensfreiheit BVerfGE 93, 1 (16) - Kruzifix; zur Wissenschaftsfreiheit BVerfGE 95, 193 (209) - Hochschullehrer; zur Schutzpflicht aus Art. 12 Abs. 1 GG BVerfGE 81, 242 (252 ff.) - Handelsvertreter; 92, 26 (46) - Seeschifffahrtsregister; 97, 169 (175 ff.) - Kündigungsschutz in Kleinbetrieben. Vgl. auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 238 f. Fn. 8 m. w. Nachw. zur Rspr. 98 Vgl. etwa BVerfGE 56, 54 f.; 77, 170 (214); 79, 174 (201 f.), wo über Verfassungsbeschwerden entschieden wurde, die sich auf die Schutzpflicht aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG beriefen. 99 Vgl. statt aller Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 19, 82. An den Schutzrechten ist jedoch auch grundsätzliche Kritik geübt worden. Siehe bereits oben 1. Kap., C. II. Vgl. etwa Enders, Staat 35 (1996), S. 351 ff., demzufolge durch die Schutzpflichten eine „Privatisierung des Öffentlichen" stattfinde (ibid., S. 353). Hierdurch werde der das Gemeinwohl definierende parlamentarische Gesetzgeber geschwächt, weil sich die „Wahrung des Gemeinwohls wesentlich als Frage der richtigen Anwendung von Verfassungsgrundsätzen" darstelle (ibid., S. 387). Ablehnend aus funktionell-rechtlichen Erwägungen Heun, Schranken, S. 66 ff., 84, der im Hinblick auf die Schutzpflichten einen unbegrenzten Gestaltungsspielraum des BVerfG kritisiert (ibid., S. 69) und diese Machtverschiebung in der grundgesetzlichen Funktionsordnung nicht durch individualrechtliche Vorteile aufgewogen sieht (ibid., S. 78). Preu, JZ 1991, S. 266 f., kritisiert Schutzrechte als freiheitsgefährdend, dazu gleich im Text. Vgl. auch abw. M. Rupp-v. Brünneck und Simon, in: BVerfG 39, 68 ff. (73 ff.). Dagegen E. Klein, NJW 1989, S. 1637 f. 100 Ausführlich Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 83 ff.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 63 ff., 77 ff., 190 ff., 279 f.; Dietlein, Schutzpflichten, S. 17 ff. 26*
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
ausgehen, daß die Schutzrechte in der jeweiligen Grundrechtsbestimmung 101 verankert sind 102 , so daß sich etwa das Grundrecht auf Schutz von Leben und Gesundheit unmittelbar aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG ergibt 103 . Wichtiger als der dogmatische Anknüpfungspunkt sind die inhaltlichen Gründe, die für die Schutzrechte sprechen. Grimm sieht in ihnen vor allem eine Reaktion auf die Gefahren der modernen wissenschaftlich-technischen Entwicklung angesichts des Versagens der gesellschaftlichen Selbstregulierung 104. Als Beispiele lassen sich die unabsehbaren Risiken nennen, die Informationstechnologie, Gentechnik, Nutzung der Kernenergie und Umweltzerstörung für das Leben und die Gesundheit des einzelnen bergen. Andere Autoren stellen demgegenüber mehr auf den privaten Störer als Urheber der Gefahr für die grundrechtliche Freiheit ab, da dieser von den staatsgerichteten Abwehrrechten nicht erfaßt wird. Daraus ergebe sich eine Asymmetrie, weil der private Störer abwehrgrundrechtlichen Schutz genieße, sein Opfer aber ohne Schutzpflichten auf verfassungsrechtlicher Ebene schutzlos gestellt sei 1 0 5 : Ohne Schutzpflichten könne die „Freiheit vom staatlichen Eingriff [ . . . ] umschlagen in die Freiheit zum privaten Eingriff' 1 0 6 . Durch Schutz vor Nicht-Adressaten der Grundrechte schließt die grundrechtliche Schutzpflicht „die offene Flanke des Grundrechtsschutzes und trägt dazu bei, daß die grundrechtlichen Güter erga omnes Sicherheit genießen."107 Schutzrechte optimieren hier die Grundrechtswirkung im Hinblick auf die faktische Freiheit, was ihrem Prinzipiencharakter entspricht 108 . Letztlich werde nur ein umfassender Freiheitsschutz der Funktion der Grundrechte als personaler Garantie gerecht 109 . Bei Isensee verschiebt sich der Akzent der Begründung von der individualschützenden Funktion der Schutzpflicht zu der staatlichen Aufgabe, die Sicherheit seiner Bürger zu gewährleisten 110. Die liberale Grundrechtstheorie vernachlässige 101
Zum Begriff Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 56. 102 Vgl. Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, S. 20; H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 492; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 190 ff.; Braczyk, Rechtsgrund und Grundrecht, S. 140. 103 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 190 ff., 280 (Nr. 7). 104 Vgl. Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 231 ff. 105 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 204 ff., 280 (Nr. 7). 106 Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 85; ähnlich Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 206. Vgl. bereits Suhr, Die Freiheit vom staatlichen Eingriff als Freiheit zum privaten Eingriff?, JZ 1980, S. 166 ff. (168). Für Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, S. 20, verbieten die Schutzrechte eine „Pontius-Pilatus-Mentalität" des Staates. i° 7 Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 85; vgl. zum rechtshistorischen Kontext ibid., Rdnr. 26. 108 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 350. 109 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 197 ff., 280 (Nr. 7); E. Klein, NJW 1989, S. 1636. ho So bei Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 3, 8, 83 ff. Vgl. auch ders., Das Grundrecht auf Sicherheit, 1983. Dazu kritisch Braczyk, Rechtsgrund und Grundrecht, S. 138 f. m. Fn. 118.
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diesen Aspekt und fixiere einseitig die vom Staat ausgehende Freiheitsgefährdung 111 . Aber auch diese Argumentation schlägt den Bogen zurück zum Individualschutz, da sie die staatliche Schutzpflicht als Kompensation für das dem Bürger auferlegte Gewaltverbot und das Verbot der Selbsthilfe begreift 112 . Gegenüber dem Vorwurf, daß Schutzrechte zu einem Verlust an Freiheit führen 113 , ist folgendes zu erwidern. Die objektiv-rechtliche Dimension will die Abwehrfunktion verstärken, sie aber nicht ersetzen oder auch nur abschwächen114. Die grundsätzlich gesetzesmediatisierte115 Schutzpflicht gibt dem Staat keinen zusätzlichen Eingriffstitel 116 . Schutz muß in rechtsstaatlicher Form bewirkt werden, das heißt insbesondere unter Beachtung der Kompetenzordnung des Grundgesetzes und des Vorbehalts des Gesetzes117. Auch wenn man Schutzrechte als selbständige Eingriffstitel ablehnt, stellt sich aber die Frage, ob nicht Schutzrechte freiheitsbeschränkend wirken, weil sie Gerichte und Verwaltungsbehörden häufiger zu einer dem Störer ungünstigen verfassungskonformen Auslegung einfachgesetzlicher Ermächtigungsgrundlagen zwingen, als dies ohne sie der Fall wäre 118 . Außerdem wird der Gesetzgeber durch Schutzrechte zum Erlaß von Eingriffsgesetzen gezwungen, die er sonst womöglich erlassen dürfte 119 , aber eben nicht müßte. Rein quantitativ betrachtet ist daher nicht zu leugnen, daß Schutzrechte zu Freiheitsbeschränkungen führen können, die es ohne sie womöglich nicht geben würde. Jedoch stellt der verfassungsrechtlich gebotene Schutz in diesen Fällen keinen einseitigen Eingriff in die Freiheit des Störers dar. Vielmehr dient er der Herstellung praktischer Konkordanz, mit der die oben erwähnte Asymmetrie zulasten des Opfers privater Störungen ausgeglichen wird. Einschränkungen der Freiheit des einen zum angemessenen Schutz der Freiheit des anderen sind hinzunehmen.
in Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 28 f. 112 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 414 f., 419; kritisch differenzierend E. Klein, NJW 1989, S. 1636. 113 Vgl. Preu, JZ 1991, S. 266 f. 114 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 11, 21 und allg. 35. 115 Ausdruck ibid., Rdnr. 152. 116 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 206 ff.; Preu, JZ 1991, S. 266. 117 Dazu Wahl/Masing, JZ 1990, S. 559, 555 f. Demgegenüber erklärte der VGH Kassel, NJW 1990, S. 336 ff., den Betrieb einer gentechnischen Anlage ohne ausdrückliche gesetzliche Erlaubnis für unzulässig. Die Lit. hat diese Entscheidung kritisiert, weil das auf die Schutzpflicht gestützte Verbot der privaten Störung seinerseits einer gesetzlichen Grundlage bedürfe. Vgl. Wahl/Masing, JZ 1990, S. 553 ff.; Preu, JZ 1991, S. 265 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 278 m. w. Nachw. in Fn. 197 f. HS Vgl. dazu Preu, JZ 1991, S. 270. Ii 9 Grundrechtliche Schutzgüter sind auch unabhängig von grundrechtlichen Schutzpflichten ein legitimer Zweck staatlichen Handelns, mit dem sich ein Grundrechtseingriff rechtfertigen läßt.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
cc) Stellungnahme Die vorliegende Arbeit folgt dem BVerfG und der herrschenden Lehre, indem sie Schutzrechte mit Grimm für erforderlich hält, um einen effektiven und flexiblen Schutz grundrechtlicher Freiheit angesichts aktueller Bedrohungen zu gewährleisten, die von der herkömmlichen Abwehrfunktion der Grundrechte nicht erfaßt werden. Privates Handeln und insbesondere die wissenschaftliche und technische Entwicklung verursachen neue Gefährdungen grundrechtlicher Freiheit, für die es nicht genügt, auf das ungewisse Handeln des Gesetzgebers zu vertrauen. Die pauschale Zurückweisung der Schutzrechte kann zu unflexiblem und unangemessenem Grundrechtsschutz führen. Diese von Böckenförde in seiner Kritik der „Grundrechte als Grundsatznormen" 1 2 0 nicht ausreichend gewürdigte Rechtfertigung beseitigt freilich nicht die von ihm geäußerten demokratischen und der Sache nach funktionalen Zweifel an der Verschiebung der grundgesetzlichen Gewaltenteilung121. Mit der objektiven Dimension der Grundrechte droht der Handlungsspielraum des Gesetzgebers übermäßig eingeschränkt zu werden. Deshalb ist eine vermittelnde Lösung anzustreben, die zwischen widerstreitenden funktionellen und grundrechtlichen Belangen ausgleicht122. Eine vermittelnde Lösung könnte die Schutzrechte im Interesse eines effektiven und flexiblen Freiheitsschutzes grundsätzlich anerkennen, dem Gesetzgeber aber weite Spielräume bei ihrer Umsetzung einräumen. Solche Spielräume lassen sich durch funktionell-rechtliche Ansätze begründen. Darauf ist im nächsten Kapitel ausführlich einzugehen123. Da sich Böckenfördes Rahmenordnung einem Kompromiß versperrt 124, hat eine differenzierende Lösung am Regel-PrinzipienModell anzusetzen.
c) Abwehrrechtliche Rekonstruktion der Schutzrechte? Ein Teil der Literatur vertritt eine abwehrrechtliche (Re-) Konstruktion der Schutzrechte. Dies soll die objektive Grundrechtsdimension als solche überflüssig machen.
120 So der Titel des hier gemeinten Aufsatzes, vgl. Staat 29 (1990), S. 1 ff. 121 Heun, Schranken, S. 54, 76, kritisiert, daß Grimms Verteidigung der objektiv-rechtlichen Dimension ihrerseits die funktionell-rechtliche Ebene ausblende. Vgl. aber auch Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 222 f., 240. 122 Vgl. auch Heun, Schranken, S. 54. 123 Siehe unten 5. Kap., C. II. und III. 124 Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 26 f., lehnt eine funktionell-rechtliche Begrenzung des Verfassungsgerichts im wesentlichen ab. Kritik an der „Radikalität" der von Böckenförde aufgestellten Alternative bei Breuer, in: FS Redeker, S. 52 (m. Zitat); zweifelnd Stern, Staatsrecht III/2, S. 1688 f.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
Schwabe und Murswiek sind der Ansicht, daß sich der Staat grundrechtsgefährdendes Verhalten seiner Bürger zurechnen lassen müsse, da sich aus dem Selbsthilfeverbot ein allgemeiner Erlaubnissatz des Staates für private Eingriffe der Bürger untereinander ergebe 125. Der staatliche Eingriff bestehe also in der Erlaubnis für den Störer, in Grundrechte Dritter einzugreifen, jedenfalls aber in der dem Privaten auferlegten Duldungspflicht 126 . Diese Konstruktion ist überwiegend auf Ablehnung gestoßen127. Die Einwände sind hier nicht im einzelnen wiederzugeben. Hervorzuheben ist nur, daß die Zurechnung nicht die Frage löst, in welchem Umfang der Staat zum Handeln verpflichtet ist. Die Rechtsfolge des Schutzrechts bleibt damit unbestimmt. Deshalb führt diese Konstruktion nicht zu einer entscheidenden methodischen Vereinfachung, die aber mit dem Rückzug auf die abwehrrechtliche Dimension gerade beansprucht wird. Lübbe-Wolff hat vorgeschlagen, die Einschränkung bestehenden normativen Schutzes als Eingriff aufzufassen und insoweit verfassungsgerichtlicher Kontrolle anhand der Abwehrgrundrechte zugänglich zu machen 128 . Schutz wird also als Bestandsschutz im Rahmen der gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte geleistet 129 . Wird beispielsweise die Strafbarkeit der Abtreibung eingeschränkt, so kann man das als staatlichen Eingriff in den bisher bestehenden Schutz des ungeborenen Lebens werten. Negatorischer Schutz versagt jedoch, wenn jeglicher Ansatz für positives staatliches Tun fehlt. Vollständiges staatliches Unterlassen wird vom Abwehrgrundrecht nicht erfaßt 130 . Soweit kein eingriffsfähiger Schutzbestand vorhanden ist oder der bestehende Schutz nicht ausreicht, führt diese Lehre darüber hinaus zu einer Absenkung des Schutzniveaus, die man im Vergleich mit der Rechtsprechung des BVerfG für unangemessen halten kann. Im übrigen bleibt auch hier offen, inwieweit der Bestandsschutz verfassungsmäßig geboten ist. Heun kritisiert zu Recht, daß die Schwelle, ab der der Bestandsschutz eingreife, sowie sein Umfang und Maß unbestimmt seien 131 . Im Ergebnis ist die abwehrrechtliche Rekonstruktion der Schutzrechte keine überzeugende Alternative zur objektiven Grundrechtswirkung. J25 Vgl. Murswiek, Die staatliche Verantwortung für die Risiken der Technik, 1985, S. 62 ff., 91 ff., 102 ff.; Schwabe, Probleme der Grundrechtsdogmatik, S. 211 ff. Störungen von Privaten, gegen die das Gesetz Notwehr oder Selbsthilfe zuläßt, bleiben hier außer Betracht. 126 Vgl. die Darstellungen bei Heun, Schranken, S. 71, und Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 118. 127 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 417 ff.; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 93 ff.; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 119; Heun, Schranken, S. 71; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 245 f.; E. Klein, NJW 1989, S. 1639. 128 Vgl. Lübbe-Wolff, Grundrechte als Eingriffsabwehrrechte, S. 75 ff., 136 ff., 150 ff. 129 Die Durchführbarkeit dieser dogmatischen Konstruktion bejahen auch Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 236, und Heun, Schranken, S. 71 f. 130 Vgl. Grimm, Rückkehr, in: Die Zukunft der Verfassung, S. 235, 237. 131 Vgl. Heun, Schranken, S. 72; ebenso Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 160.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
III. Ergebnis Am Prinzipiencharakter der Grundrechte ist festzuhalten, weil es zu ihm keine überzeugende konstruktive Alternative gibt. Grundrechtskollisionen können nur durch Abwägung differenziert aufgelöst werden, weshalb die Abwägung als Mittel der Verfassungsinterpretation unverzichtbar ist. Die Methode der Konkretisierung ist im Bereich der offenen und weiten Grundrechtsnormen sachgerecht. Gegen die mit dem Verfassungsverständnis einer Rahmenordnung verbundene Beschränkung auf die liberale Grundrechtstheorie bestehen Bedenken. Statt dessen befürwortet die vorliegende Arbeit die objektive Dimension der Grundrechte, weshalb sie dem von Böckenförde vorgeschlagenen Verfassungsverständnis nicht folgen kann. Welchen funktionell-rechtlichen Beschränkungen die objektive Dimension zu unterwerfen ist, um einer übermäßigen Einschränkung des politischen Gestaltungsspielraums des Gesetzgebers vorzubeugen, bleibt noch zu klären 132 .
D. Demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie I. Darstellung Die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie 133 will den Schutzbereich der grundrechtlichen Gewährleistung primär oder sogar ausschließlich mit Blick auf die Funktion des betreffenden Grundrechts für den demokratischen Willensbildungsprozeß bestimmen. Dabei treten zwei markante Einschränkungen dieser Freiheit „um zu" zutage. Erstens ist rein private Grundrechtsbetätigung weniger schutzwürdig als öffentliche und politische Grundrechtsausübung, da sie für den politischen Prozeß als wertlos angesehen wird 1 3 4 . Zweitens ist die negative Freiheit weniger geschützt, da im Regelfall nur die Betätigung eines politischen Grundrechts zur Funktionsfähigkeit des politischen Prozesses beiträgt 135 . Folglich führt es zu einer starken Begrenzung der Interpretation, wenn man sich auf die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie zurückziehen würde.
132 Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b) bb), III. 133 Vgl. Krüger, Allgemeine Staatslehre, S. 542 f. Darstellungen bei H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 27 f.; Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 133 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 60 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 177 ff. 134 Die Darstellung im Text folgt Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 135. 135 Vgl. ibid.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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II. Kritik Das BVerfG wendet verschiedene Grundrechtstheorien nebeneinander an. Das Theoriebündel läßt sich mit Böckenförde in liberale, institutionelle, wertgebundene, sozialstaatliche und eben auch demokratisch-funktionale Komponenten zerlegen. Während Böckenförde hier ein System vermißt 136 , sprechen andere Autoren immerhin von einer „kombinierten Theorie" 137 . Aus der Sicht des BVerfG kommt eine Beschränkung auf die demokratisch-funktionale Theorie jedenfalls nicht in Frage, auch wenn sie eine überzeugende Rechtfertigung der kommunikativen Grundrechte in der Demokratie darstellen mag. Für die vom BVerfG vertretene Lösung spricht, daß es eine einseitige Verkürzung der Freiheit wäre, wenn man die Grundrechte durchweg auf eine dienende Funktion beschränken wollte. Eine solche „Ein-Punkt-Theorie" 138 ist im Wortlaut der Verfassung nicht angelegt, wie beispielsweise Art. 5 Abs. 1 S. 1 und Art. 8 Abs. 1 GG zeigen. Diese Bestimmungen beschränken die Meinungs- und Versammlungsfreiheit nicht auf politisch motivierten oder wirksamen Gebrauch. Gegen eine solche Verkürzung spricht außerdem, daß das Grundgesetz nicht nur die öffentliche und politische, sondern auch die persönliche Autonomie des einzelnen schützt, wie etwa Art. 2 Abs. 1, 4 Abs. 1 und 13 Abs. 1 GG zeigen. Zum Menschenbild des Grundgesetzes läßt sich in diesem Zusammenhang mit Haltern festhalten: „Dem Grundgesetz liegt keineswegs das Bild eines homo politicus zugrunde, das aber von Ely zumindest in Ansätzen in Bezug genommen wird." 1 3 9 Dem ist hinzuzufügen, daß Ely eine demokratisch-funktionale Engführung der „spezifischen" Grundrechte, wie sie bei Klarman kritisiert wurde, nicht vertritt 140 . Somit kann ein Rückzug auf die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie nicht überzeugen. Damit ist freilich die Frage, in welchem Verhältnis der demokratisch-funktionale Gehalt insbesondere der politischen Grundrechte zu den übrigen Grundrechtsgehalten steht, noch nicht beantwortet. Die demokratische Funktion eines Grundrechts kann einerseits die Abwehrdimension verstärken, wie dies im zweiten Absatz der Carolene-Fußnote angelegt ist. Andererseits führt die demokratische Funktion in verselbständigten Normbereichen wie Presse, Rundfunk und Fernsehen zu grundrechtlichen Anforderungen, die zu einer Einschränkung der liberalen Abwehrdimension führen können 141 . In solchen Fällen kann das jeweilige Grund136
Vgl. ders., Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 140. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30 f., der ibid., S. 516, auch von einer „Bündeltheorie" spricht. 138 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 30, versteht hierunter eine Theorie, die „die Grundrechte auf eine Grundthese zurückführen will". 139 Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 261 (Nachw. weggelassen). 140 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., C. I. 1. (4). 137
141 Zur funktionalistischen Deutung der Rundfunkfreiheit vgl. z. B. Brugger, Rundfunkfreiheit und Verfassungsinterpretation, S. 31 ff.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
recht zugleich in seiner objektiven Funktion als Maßstab für Organisation und Verfahren betroffen sein. Auch zum institutionellen Grundrechts Verständnis 142 ergeben sich Berührungspunkte. Wie weit der demokratisch-funktionale, objektive oder auch institutionelle Gehalt eines Grundrechts die auf Abwehr staatlicher Eingriffe gerichtete Freiheit der liberalen Grundrechtstheorie einschränken darf, ist problematisch. Das Problem kann hier nicht verfolgt werden, weil es in die Einzeldogmatik der Grundrechte hineinführt. Festzuhalten ist jedoch, daß diese Fragen weniger die Grenzen der Grundrechtsinterpretation, sondern mehr den Inhalt der „besten" Grundrechtstheorie betreffen 143 .
I I I . Ergebnis Im Ergebnis ist eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation durch den Rückzug auf die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie abzulehnen 144 , weil diese Lösung einseitig ist und dem Grundgesetz ein auf die politische Autonomie verkürztes Menschenbild unterstellt.
E. Enge Tatbestandstheorie I. Zur Kontroverse zwischen enger und weiter Tatbestandstheorie Die enge Tatbestandstheorie versucht, den Schutzbereich eines Grundrechts im Wege der Interpretation so eng wie möglich zu fassen 145 . Dabei will sie auf Abwägungen in der Schutzbereichsebene weitgehend verzichten 146 sowie durch die enge Definition des Schutzbereichs die Zahl der Abwägungen auf der Rechtfertigungsebene reduzieren. Die enge Tatbestandstheorie ist damit keine Verfassungs- oder Grundrechtstheorie im eigentlichen Sinne. Motiviert wird die enge Fassung des 142 Dazu darstellend Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 124 ff.; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, S. 56 ff.; Vocke, Verfassungsinterpretation und Normbegründung, S. 88 f. 143 Vgl. dazu Brugger, Grundrechte, S. 395 f., 405; ders., JZ 1987, S. 634. 144
Ablehnend auch Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 46; Böckenförde, Grundrechtstheorie, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 143, 145; H. H. Klein, Die Grundrechte im demokratischen Staat, S. 71 f.; ders., DVB1. 1994, S. 494 m. Fn. 70 ff. (dienende Freiheit sei ein „Widerspruch in sich selbst"); Dolderer, Objektive Grundrechtsgehalte, S. 64. 145 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 176 ff. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 280 ff. (281), hält auch Friedrich Müllers Ansatz für eine enge Tatbestandstheorie, soweit dieser mit Hilfe der Normbereichsanalyse bestimmte Verhaltensweisen aus dem grundrechtlichen Schutz ausschließe. 146 Vgl. auf die Abwehrrechte bezogen Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 54, 176 (m. nachf. Zitat): „Die Grenzen des Tatbestandes sind durch Auslegung zu ermitteln, nicht durch Abwägung hervorzubringen."
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Tatbestands allerdings durch ein Verfassungsverständnis, das durch Skepsis gegenüber dem Prinzipiencharakter der Grundrechte und gegenüber Abwägungen gekennzeichnet ist 1 4 7 . Dies rechtfertigt die Erörterung im vorliegenden, verfassungstheoretischen Kontext. Als Beispiel soll hier der Vorschlag Isensees diskutiert werden, gewalttätige und schädigende Handlungen aus dem Schutzbereich der Grundrechte auszuschließen148. Diese Begrenzung des Tatbestands rechtfertigt es, Isensee als Vertreter der engen Tatbestandstheorie zu bezeichnen. Die weite Tatbestandstheorie zielt demgegenüber auf einen weiten Schutzbereich der Grundrechte 149. Der Prinzipiencharakter der Grundrechte unterstützt die weite Tatbestandstheorie, weil das „Recht an sich" als „nicht eingeschränkt oder beschränkt" aufgefaßt wird 1 5 0 . Das unbeschränkte „Recht an sich" bildet sich in der weitestmöglichen Formulierung des Tatbestands bzw. Schutzbereichs ab. Prima facie ist jedes in den Sachbereich fallende Verhalten geschützt. Die weite Tatbestandstheorie faßt jede Einschränkung eines Prinzips bereits als Schranke auf, die grundsätzlich durch Abwägung zu rechtfertigen ist. Der richtige Ort für die Abwägung ist nach dieser Ansicht nicht die Schutzbereichs-, sondern die Rechtfertigungsebene. Erst auf dieser Ebene werden grundrechtliche Kollisionen aufgelöst 1 5 1 . Für die weite Tatbestandstheorie fallen auch gewalttätige oder schädigende Handlungen in den Schutzbereich des Grundrechts, weil der Ausschluß dieser Handlungen bereits eine Schranke des „Rechts an sich" voraussetzt. Nach Auffassung der engen Tatbestandstheorie soll dagegen das verfassungsrechtliche Gewaltund Schädigungsverbot bei den staatsgerichteten Abwehrgrundrechten dazu führen, daß gewalttätige oder schädigende Verhaltensweisen nicht in den Schutzbereich eines Grundrechts fallen 152 . So unterfalle ein Mord nicht dem Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit. Der Schutzbereich der Kunstfreiheit sei nicht betroffen, wenn ein künstlerischer Akt wie beim Graffiti-Sprayen zugleich eine Sachbeschädigung sei 1 5 3 . Dieses Ergebnis soll nicht die Folge einer Abwägung 147 Vgl. ibid., Rdnr. 173. 148 Vgl. ibid., Rdnr. 176 ff. 149 Vgl. dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 278 ff., insb. 290 ff., und ihm folgend Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 265. Vgl. auch Preu, JZ 1991, S. 266. 150 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 250. 151 Im Prinzipienmodell bedingt die Unterscheidung von prima facie-Recht und definitivem Recht die „außentheoretische" Konstruktion von Rechten, bei der ein überschießendes Recht durch Gegengründe eingeschränkt wird. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S 250; ausführlich Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 29 ff., 99 ff. Kritisch Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 42 Fn. 90. Dazu bereits oben 2. Kap., F. I. 152 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 176 ff.; H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 491. 153 Auch an die Religionsfreiheit (Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG) läßt sich denken, wobei man nicht den eher exotischen Ritualmord bemühen muß. So sind in Sekten, die den Schutz der Religionsfreiheit genießen, schädigende oder gewalttätige Verhaltensweisen denkbar, die den Tatbestand einer einfachen Körperverletzung oder Freiheitsberaubung erfüllen. Vgl. zu diesen und weiteren Bsp. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 177.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
sein 154 . Die praktischen Ergebnisse der weiten und der engen Theorie können sich durchaus ähnlich sein, weil die weite Theorie eine Schranke bejahen kann, wenn die enge Theorie bereits zu einem Schutzbereichsausschluß gelangt. So besteht Einigkeit, daß man sich für einen Mord im Ergebnis nicht auf grundrechtlichen Schutz berufen kann. Es ergeben sich aber völlig unterschiedliche Begründungen. Gegen den von der engen Tatbestandstheorie behaupteten Verzicht auf Abwägung läßt sich einwenden, daß auch das Gewalt- und Schädigungsverbot Ergebnis besonders eindeutiger Abwägungen ist 1 5 5 . Bei der Tötung überwiegt eindeutig das Grundrecht auf Leben. In problematischen Fällen ist die Reichweite des Verbots dagegen weniger klar. Grundrechtsimmanente Grenzen, die angeblich ohne Abwägung auskommen, verdecken die Tatsache, daß es hier um den Ausgleich kollidierender Verfassungsprinzipien geht 156 . Gegen die weite Tatbestandstheorie spricht ihrerseits unter demokratischem Aspekt, daß sie den Umfang der grundrechtlichen Anforderungen an den Gesetzgeber beträchtlich erhöht 157 . Denn durch die weite Fassung des Schutzbereichs nimmt die Zahl der Grundrechtskollisionen stark zu 1 5 8 . Dadurch vergrößert sich der Umfang des grundrechtlichen Rechtfertigungszwangs für staatliches Handeln. Dies führt zwar zu einem Zugewinn an Freiheit, weil der staatliche Eingriff insoweit den Anforderungen des Verhältnismäßigkeitsprinzips unterworfen wird, was man aus grundrechtlicher Sicht begrüßen kann. Zudem kann man die weite Tatbestandstheorie mit dem Gebot der rationalen Begründung rechtlicher Entscheidungen verteidigen: Je mehr Abwägungen stattfinden, desto höher ist die Rationalität der Entscheidung, weil die wahren Entscheidungsgründe offengelegt werden und ein „geordnetes In-Beziehung-Setzen" der Verfassungsgüter erfolgt 159 . Es bleibt jedoch ein fragwürdiges Ergebnis der weiten Tatbestandstheorie, daß ein Mord dem ersten Anschein zufolge dem Grundrecht der allgemeinen Handlungsfreiheit unterfällt. In diesem Punkt ist das Bestreben nach einer Verengung des Schutzbereichs berechtigt, weil der Schutzbereich eines Grundrechts eine grundsätzliche Billigung des von ihm erfaßten Verhaltens durch die Verfassung ausdrückt. Die vorliegende Arbeit geht vom Regel-Prinzipien-Modell der Grundrechte aus. Sie versteht Grundrechte als Prinzipien und Optimierungsgebote, die auf Verwirklichung drängen, soweit dies rechtlich und tatsächlich möglich ist. Diese Konstruktion ist Voraussetzung der Abwägung kollidierender Prinzipien, wie dies oben beschrieben wurde 160 . Damit ist aber noch nicht entschieden, welche Möglichkeiten 154 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 177. 155 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 110 f. 156 Vgl. Preu, JZ 1991, S. 266. 157 Auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 294, bestreitet nicht eine Expansion des prima facie-Schutzes. 158 Vgl. ibid., S. 298. 159 Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 262 (Zitat auf S. 265). 160 Siehe oben 2. Kap., F. I.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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einer Verengung grundrechtlicher Schutzbereiche im Regel-Prinzipien-Modell bestehen. Im folgenden ist daher zu untersuchen, ob und ggfs. wie sich Begrenzungen oder Beschränkungen im Schutzbereich überzeugend begründen lassen. Von einer Begrenzung des Schutzbereichs wird hier gesprochen, wenn die Verengung des Tatbestands das Ergebnis einer Interpretation mit Hilfe der herkömmlichen Auslegungselemente ist, die im wesentlichen ohne Abwägung auskommen. Wenn die Verengung des Schutzbereichs im Wege der Abwägung erfolgt, soll terminologisch von Einschränkung, Beschränkung oder Schranke die Rede sein.
II. Möglichkeiten einer Verengung grundrechtlicher Schutzbereiche Der Prinzipiencharakter der Grundrechte ist kein Grund, auf eine methodisch überzeugend begründbare Begrenzung des Tatbestands zu verzichten (1.). Darüber hinaus ist es möglich, den grundrechtlichen Schutzbereich in bestimmten Fallgruppen unabhängig vom Einzelfall zu beschränken, wenn relativ eindeutige Abwägungen dies zulassen (2.).
1. Verengung des Schutzbereichs durch methodisch korrekte Verfassungsinterpretation Bei Alexy zeigt sich eine Tendenz, die Formulierung der Prinzipien auf Letztwerte wie Freiheit, Gleichheit und Gerechtigkeit auszurichten. Letztlich werden als Prinzipien nur atomare Sätze höchster Abstraktionsstufe zugelassen. Die weite Fassung des Tatbestands hat zur Folge, daß jede Einschränkung dieser Letztwerte bereits eine Einschränkung des ursprünglichen Prinzips - des Rechts an sich durch den Verfassungsgeber ist. So will Alexy die gewalttätige Versammlung zunächst in den Schutzbereich von Art. 8 Abs. 1 GG einbeziehen. Allerdings fügt er sogleich hinzu, daß der Verfassungsgeber selbst eine definitive Schranke formuliert habe, die der unfriedlichen Versammlung den Schutz des Grundrechts ver„
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sage Gegen diese Interpretation bestehen methodische Bedenken, weil nach dem eindeutigen Textsinn von Art. 8 Abs. 1 GG eine unfriedliche Versammlung nicht geschützt ist. Dieses Ergebnis hängt für den Verfassungsinterpreten nicht von einer Abwägung ab 1 6 2 . Die Verfassung stellt die Versammlungsfreiheit von vornherein nur für friedliche Versammlungen bereit. Bei dem von Alexy bevorzugten Weg 161 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 259 f. Dagegen Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 172, 176 f. 162 Eine andere Sache ist es, Abwägungen bei der Konkretisierung des Begriffs der „Friedlichkeit" vorzunehmen, etwa wenn man die Schwelle zur Unfriedlichkeit verfassungskonform ermitteln will.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
hätte der Verfassungsgeber zunächst zu viel Versammlungsfreiheit gewährt und den Überschuß in einem zweiten Schritt wieder weggenommen. Das ist umständlich und deshalb nicht plausibel. Faßt man das Tatbestandsmerkmal „friedlich" als Schranke der „an sich" unbeschränkten Versammlungsfreiheit auf, so lädt dies dazu ein, die vom Verfassungsgeber getroffenen Festsetzungen auf der Regelebene nachzuprüfen. Damit gerät man in Gefahr, die vom Verfassungsgeber getroffene Anordnung auf der Regelebene ohne überzeugenden Grund zu relativieren. Demgegenüber muß die Interpretation von den ausdrücklichen Festsetzungen der Verfassung ausgehen. Dies gilt auch für die Formulierung des Prinzips auf der Geltungsebene163. Zunächst ist deshalb der Inhalt des Prinzips auf der Geltungsebene mit den Mitteln der Verfassungsinterpretation festzustellen. Soweit sich im Wege abwägungsfreier Verfassungsinterpretation eine Verengung des Schutzbereichs überzeugend begründen läßt, ist diese Begrenzung des Tatbestands vorzunehmen. Eine Entscheidung zugunsten der engen Tatbestandstheorie ist damit jedoch nicht verbunden.
2. Verengung des Schutzbereichs durch abstrakte Abwägung auf Schutzbereichsebene Das von Isensee vertretene Gewalt- und Schädigungsverbot läßt sich auf der Grundlage des Regel-Prinzipien-Modells ein Stück weit berücksichtigen, wenn eine abstrakte Abwägung zu einer Einschränkung des Grundrechts auf der Schutzbereichsebene führt. Zum Beispiel fällt Sachbeschädigung nicht unter den Schutzbereich der Kunstfreiheit, wenn man Eigentums- und Kunstfreiheit in diesem Sinne einander verhältnismäßig zuordnet 164 . Das Ergebnis einer solchen Abwägung kann man als Regel ausdrücken, die im Hinblick auf eine bestimmte Fallgruppe das grundrechtliche Prinzip auf der Schutzbereichsebene einschränkt. Für die aus dem Schutzbereich ausgeschlossene Handlung besteht im Ergebnis nicht einmal grundrechtlicher prima facie-Schutz. Zwar muß man diesen zunächst unterstellen, um überhaupt zu einer Abwägung auf Schutzbereichsebene zu gelangen 165 . Ist aber die Abwägung einmal entschieden, so besteht eine im Normalfall nicht widerlegbare Vermutung, daß kein grundrechtlicher Schutz eingreift. Da ein Schutzbereichsausschluß die Position des Grundrechtsberechtigten verschlechtert, sollte er nur in eindeutigen Fällen bejaht werden. Die hier verfolgte Aufspaltung in Schutzbereichsausschluß und Schrankenziehung hält Alexy jedoch für übermäßig kompliziert 166 . Dafür vermeidet der Schutz163 Dazu allg. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 93 f., 117 ff. 164 Eine Faustformel findet sich bei Preu, JZ 1991, S. 266 Fn. 9, der damit aber nicht die Notwendigkeit von Abwägungen bestreiten will: Kein Grundrechtsschutz für „handfest rechtswidrige, insbesondere traditionell strafbare Eingriffe in Kernbereiche subjektiver Rechte". 165 Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 259.
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bereichsausschluß, daß sich ein nach einhelliger Ansicht grundrechtlich nicht geschütztes Verhalten zunächst auf das Grundrecht berufen darf. Auch auf der Grundlage des Regel-Prinzipien-Modells ist es von Belang, ob man sich auf ein prima facie-Grundrecht berufen darf oder nicht. Denn die prima facie-Norm, um die es beim Schutzbereich geht, stellt nach Alexy eine Ebene idealen Sollens dar 1 6 7 . Als ideales Sollen sei die Norm für den Gesetzgeber kein bloßer Programmsatz, sondern bindend 168 . Ein Mord sollte jedoch nicht der Ebene des idealen Sollens zugeordnet werden, was aber geschieht, wenn man ihn zunächst unter den Schutzbereich der allgemeinen Handlungsfreiheit fallen läßt 169 . Im übrigen zwingt die Abwägung auf Tatbestandsebene zu einer offenen Auseinandersetzung mit Gründen und Gegengründen. Die Einschränkung des Grundrechts wird nicht wie in der engen Tatbestandstheorie mit einem in seiner Reichweite unklaren Gewalt- und Schädigungsverbot begründet. Durch die Verengung des Schutzbereichs können Lücken im Grundrechtsschutz entstehen. Diese sind aber unter freiheitlichem Aspekt erträglich, weil das Ubermaßverbot und der Gesetzesvorbehalt unabhängig von der Weite des grundrechtlichen Schutzbereichs anzuwenden sind 170 . Im hier verfolgten Ansatz liegt wiederum keine Entscheidung zugunsten der engen Tatbestandstheorie. Vielmehr ergibt sich eine Annäherung an die weite Theorie, weil auf der Schutzbereichsebene vermehrt Abwägungen vorzunehmen sind, während das Gewalt- und Schädigungsverbot bei Isensee den Charakter einer abwägungsfrei anwendbaren Regel hat. Im Unterschied zur weiten Theorie werden aber Beschränkungen des Tatbestands durch kollidierende Grundrechte zugelassen.
I I I . Ergebnis Soweit sich eine Begrenzung des Tatbestands durch methodisch korrekte Interpretation überzeugend begründen läßt, ist eine enge Fassung des jeweiligen Schutzbereichs vorzuziehen. Darüber hinaus kann kollidierendes Verfassungsrecht durch eine vom Einzelfall gelöste Abwägung in eindeutigen Fällen zu einer überzeugenden Einschränkung des Schutzbereichs führen. Damit wird die Regelebene der Verfassung gestärkt 171 . Dies trägt zu einer sinnvollen Begrenzung bzw. Beschrän166 Vgl. ders., Theorie der Grundrechte, S. 290, vgl. auch S. 295. 167 Alexy, ibid., S. 120, ordnet Prinzipien einer „Welt des idealen Sollens" zu. 168 Vgl. ibid., S. 471. 169 Vgl. aber ibid., S. 292 ff. 170 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 169, 179; kritisch Hain, ZG 1996, S. 81 f. Polizeilicher Zwang gegenüber gewalttätigen Demonstranten unterliegt als klassischer Eingriff dem rechtsstaatlichen Verhältnismäßigkeitsgrundsatz und darüber hinaus auch den übrigen Grundrechtsbindungen, etwa hinsichtlich der körperlichen Unversehrtheit und Bewegungsfreiheit aus Art. 2 Abs. 2 S. 1 u. 2 GG. Vgl. Dietlein, ZG 1995, S. 136 Fn. 26; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 248.
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kung der Verfassungsinterpretation bei. Damit schließt die Arbeit jedoch nicht an die enge Tatbestandstheorie an. Denn die vorliegende Arbeit geht wie die weite Tatbestandstheorie vom Prinzipiencharakter der Grundrechte aus. Außerdem läßt sie Abwägungen auf der Schutzbereichsebene zu, die die enge Theorie zu vermeiden versucht. Im Ergebnis wird damit eine vermittelnde Position zwischen weiter und enger Tatbestandstheorie eingenommen.
F. Begrenzung der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit durch Konsens I. Zum Inhalt konsensualer Ansätze Als konsensual werden hier solche verfassungstheoretischen Ansätze bezeichnet, die mit Hilfe von Konsens die Verfassungsinterpretation oder die verfassungsgerichtliche Kontrolle begrenzen wollen 172 . Dabei ist zunächst festzuhalten, daß keiner dieser Ansätze beabsichtigt, die verfassungsgerichtliche Kontrolle bzw. die Verfassungsinterpretation schlicht an der Mehrheitsmeinung in der Bevölkerung bzw. an Meinungsumfragen auszurichten 173. Vielmehr spielt der Konsens in der Topik Ehmkes, bei Ralf Dreier und im pluralistischen Ansatz Häberles eine subtilere Rolle. Erinnert sei auch an den schon diskutierten Ansatz von Würtenberger, der den Konsens als Leitlinie und auch als Begrenzung der verfassungsgerichtlichen Rechtsfortbildung versteht 174 . Eine gewisse begrenzende Wirkung kommt dem Konsens in der Topik zu, wie sie Ehmke vertreten hat 1 7 5 . Kurz gesagt ist der „Konsens der Vernünftig- und Gerecht-Denkenden" 176 das Fundament für das freie Spiel der Gesichtspunkte. Ohne dieses gemeinsame Fundament an Uberzeugungen würde eine Einigung im Diskurs der Verfassungsinterpreten ausbleiben. Allerdings ist diese Begrenzung in ihrer Wirkung schwach, weil die Topik wie dargestellt zu einer beträchtlichen Ausweitung der Wertungsspielräume des Verfassungsinterpreten gelangt.
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Dies war ein Kritikpunkt gegenüber Alexys Konzeption, siehe oben 2. Kap., F. III. (2),
(3),V. 172 Vgl. zum folgenden auch Guggenberger, Zwischen Konsens und Konflikt: Das Bundesverfassungsgericht und die Zukunftsfähigkeit der Gesellschaft, S. 202 ff.; Depenheuer, Auf dem Weg in die Unfehlbarkeit? Das Verfassungsbewußtsein der Bürger als Schranke der Verfassungsgerichtsbarkeit, in: FS Kriele, S. 485 ff.; Schuppert/Bumke (Hrsg.), Bundesverfassungsgericht und gesellschaftlicher Grundkonsens, 2000. 173 Vgl. auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 74. 174
Siehe oben 3. Kap., E. II. 3. Vgl. auch Ebsen, Selbstregulierung, S. 44 ff.; ders., Gesetzesbindung, S. 51 ff., der jedoch vor allem auf die Gesetzesauslegung eingeht. ™ Siehe oben 2. Kap., C. I. 176 Ehmke, VVDStRL20 (1963), S. 101.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
41
Für Zurückhaltung gegenüber dem funktionierenden politischen Prozeß hat sich Ralf Dreier ausgesprochen. Er hält das Prinzip des judicial self-restraint 177 für möglicherweise verletzt, wenn das Gesetz eingehend vorberaten und mit deutlicher Mehrheit verabschiedet worden sei sowie eine verfassungsrechtlich kontroverse Frage betreffe, die in vergleichbaren Staaten unterschiedlich gelöst werde 178 . Als Beispielsfall könnte man an die Gesetzgebung zum Schwangerschaftsabbruch denken 1 7 9 . Soweit dieser Vorschlag auf das Kriterium einer deutlichen Mehrheit abstellt, drückt sich darin implizit die Auffassung aus, daß ein breiter Konsens eine größere Legitimation des entsprechenden Gesetzes bewirkt, die vom Verfassungsgericht zu beachten ist. Häberle hat vorgeschlagen, die verfassungsgerichtliche Kontrolle nach Maßgabe von Partizipation, Öffentlichkeit und Konsens abzustufen 180. Dieser Versuch einer verfassungsgerichtlichen Begrenzung mag zunächst überraschen, da oben festgehalten wurde, daß in Häberles Konzept der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten Grenzen der Interpretation kaum noch erkennbar seien 181 . Eine solche Begrenzung steht aber durchaus im Einklang mit seinem partizipationsorientierten und pluralistischen Ansatz, weil dieser den funktionierenden politischen Prozeß aufwerten will. Die Kombination von Pluralismus, Partizipationsorientierung und verfassungsgerichtlicher Begrenzung ergibt eine beachtliche Parallele zu Elys Theorie 182 . Die Öffentlichkeit in Gestalt der Zivilgesellschaft spielt jedoch bei Ely keine und erst recht keine normierende Rolle 1 8 3 . Der entscheidende Unterschied zu Häberle liegt allerdings darin, daß Ely den konsensualen Ansatz kompromißlos ablehnt 184 . Häberle setzt dagegen implizit auf Konsens, da er für eine reduzierte Kontrolle des BVerfG plädiert, wenn ein nicht grundsätzlich umstrittenes Gesetz unter starker Beteiligung der pluralistischen Öffentlichkeit zustande gekommen sei 1 8 5 . Umgekehrt soll das BVerfG ein Gesetz, hinsichtlich dessen großer Dissens herrscht, streng kontrollieren 186 . Das BVerfG solle so für „das unverzichtbare 177
Zum judicial self-restraint näher unten 5. Kap., B. I. 178 Vgl. R, Dreier, Problematik, S. 44. 1 79 Vgl. zu Unterschieden und Gemeinsamkeiten in der deutschen und US-amerikanischen Rspr. Brugger, Persönlichkeitsentfaltung, insb. S. 11 ff., 31 ff. 180 Vgl. dersJZ 1975, S. 303 f. Vgl. auch Zuck, JZ 1974, S. 368; differenzierend Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 433 f. 181 Siehe oben 2. Kap., E. IV. 182 Zu Elys Verständnis des politischen Prozesses oben 1. Teil, 2. Kap., G. II. 2. Siehe zu Häberle auch oben 1. Teil, 4. Kap., A. I. 183 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., C. II. 184 Vgl. Ely, S. 63 ff., der in „Democracy and Distrust" jegliche Bezugnahme auf gesellschaftlich konsentierte Wertvorstellungen unterläßt, wenn es um die Begründung einer bestimmten Verfassungsinterpretation geht. 185 Vgl. Häberle, JZ 1975, S. 303. Zum partizipatorischen Aspekt seines Ansatzes siehe unten 4. Kap., G. II. 186 Vgl. Häberle, JZ 1975, S. 303. 27 Riecken
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Minimum an integrativer Funktion der Verfassung" sorgen 187 . Es geht Häberle also weniger darum, die Grundrechte mit Hilfe von Konsens zu interpretieren, sondern vielmehr darum, den Grundkonsens unter den konkurrierenden Gruppen in der Zivilgesellschaft als Funktionsbedingung des pluralistischen Modells zu erhalten. Pluralismustheorie geht typischerweise vom Vorhandensein eines solchen Grundkonsenses aus 188 . Dieser Konsens hat aber dennoch indirekte Rückwirkungen auf den Verfassungsinhalt, weil er bei hinreichender Beteiligung der Öffentlichkeit immerhin eine Mitursache dafür ist, daß ein grundrechtliches Gebot oder jedenfalls die verfassungsgerichtliche Kontrolle reduziert wird. Im folgenden geht es nicht um eine umfassende Auseinandersetzung mit den vorgenannten Autoren, sondern vielmehr um eine grundsätzliche Kritik am Konsens als Mittel zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation oder des Verfassungsgerichts. Soweit es berechtigt ist, wird die Kritik auf den konsensualen Ansatz Häberles bezogen, weil in dessen pluralistischem Modell die Verbindung von Konsens und verfassungsgerichtlichen Grenzen besonders deutlich hervortritt. Die Kritik soll zeigen, warum der Konsens weder für die verfassungsgerichtliche Kontrolle noch für die Verfassungsinterpretation eine entscheidende Rolle spielen darf. Davon zu unterscheiden ist die Tatsache, daß das Verfassungsgericht als Institution und im Hinblick auf seine Rechtsprechung auf grundsätzliche Akzeptanz angewiesen ist, um seine Funktion ausüben zu können 189 .
II. Kritik An der Durchführbarkeit und Angemessenheit des konsensualen Ansatzes läßt sich Kritik üben, wie sie in den USA von Ely und in Deutschland von Schlink vorgetragen worden ist 1 9 0 . Die Kritik an der Durchführbarkeit bezweifelt, daß Konsens in schwierigen Fragen der Verfassungsinterpretation überhaupt vorhanden sei und daß man ihn ggfs. zuverlässig ermitteln könne. Bedenken an der Angemessenheit bestehen im Hinblick auf den grundrechtlichen Minderheitenschutz, die Legitimation von Häberles offener Gesellschaft der Verfassungsinterpreten, die Stabilität der Verfassung und die Funktion des BVerfG. Zunächst läßt sich bestreiten, daß zu konkreten Grundrechtsinhalten in kontroversen Fragen überhaupt ein Konsens existiert 191 . In der heutigen fragmentierten 187 ibid. 188
Siehe dazu oben 1. Teil, 2. Kap., G. II. 2. am Ende. Elys Theorie erweist sich insoweit als untypisch. 189 Vgl. dazu z. B. Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 72 ff. 190 Vgl. Ely, S. 63 ff.; Schlink, Staat 19 (1980), S. 85 f. 191 Vgl. Haltern, JöR N.F. 45 (1997), S. 31 ff., insb. 42 ff.; ders., KritV 83 (2000), S. 160, 170 ff., 174 f.; Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 21 f.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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und pluralisierten Gesellschaft ist die Bedeutung der Grundrechte selbst im Streit. Beispiele für solche kontroversen Fragen sind die Bereiche Religionsfreiheit, Abtreibung, Schutz des ungeborenen Lebens, Gleichberechtigung von Mann und Frau, Minderheitenrechte, etwa auf sexuelle Orientierung, und Asylrecht. Auch wenn man die Grundrechte zum Gegenstand eines Grundkonsenses erklärt, weil ihre Geltung prinzipiell außer Streit stehe 192 , so hilft dies für die Frage des konkreten Inhalts der Norm nicht weiter. Deshalb greift es zu kurz, die Grundrechtsinhalte als nichtkontroversen Sektor im Sinne der Pluralismustheorie 193 aufzufassen. Soweit sich die relative Uniformität der gesellschaftlichen Moral und Werte aufgelöst hat, steht das Verfassungsgericht inmitten der politischen Konfrontation 194 . Selbst wenn in einer bestimmten Frage der Grundrechtsinterpretation ein Konsens vorhanden wäre, bleibt unklar, wie ihn das Verfassungsgericht ermitteln sollte. Hier treten ähnliche Probleme auf, wie sie bereits im Hinblick auf den historischen Willen des Verfassungsgebers zu beobachten waren 195 . Der Konsens kann aus einem Gemisch von Vorstellungen unterschiedlichen Abstraktionsgrades über den Norminhalt bestehen, die zu einer Auswahl zwingen, die der Konsens an sich nicht determiniert. Selbst wenn Konsens über Sätze höchsten Abstraktionsgrades nachweisbar wäre, so ließe dies weder konkrete inhaltliche Aussagen noch eine Antwort auf Grundrechtskollisionen zu 1 9 6 . Mangels verfassungsrechtlicher Kenntnisse dürften überdies die interpretatorischen Vorstellungen in der offenen Gesellschaft nicht immer das erforderliche Maß an Differenziertheit aufweisen 197. Offen ist darüber hinaus, auf wessen Konsens es ankommen soll und wie er zahlenmäßig zu bestimmen ist 1 9 8 . Konsens darf sich wegen der minderheitenschützenden Funktion der Grundrechte 199 nicht auf die einfache Mehrheit beziehen. Für eine repräsentative Auswahl einzelner Stimmen fehlen die inhaltlichen Kriterien, die ja gerade gesucht werden. Welcher Grad an Zustimmung erforderlich ist, um von einem Konsens sprechen zu können, bleibt im konsensualen Ansatz letztlich ungeklärt. Selbst wenn sich im Einzelfall ein hinreichend konkreter Konsens feststellen ließe, wäre es unangemessen, ihn für die Interpretation von gegenmehrheitlich konzi192
Vgl. dazu Grimm, Verfassungsrechtlicher Konsens und politische Polarisierung in der Bundesrepublik Deutschland, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 300 ff. 193 Dazu einführend Schmidt, Demokratietheorien, S. 151 ff. (157 f.); v. Arnim, Staatslehre, S. 109 ff. 194 So bereits Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 69 f. Vgl. auch Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 66 ff., 72 ff. 195 Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 2. b) dd) (1). 196
Siehe auch oben 1. Teil, 1. Kap., D. I. 1., zu Elys Kritik am Non-Originalismus. Dies war auch ein Einwand gegen populistisches Verfassungsrecht. Siehe oben 1. Teil, 3. Kap., B. II. 1. e). w* Vgl. Schlink, Staat 19 (1980), S. 86, der hier Hilflosigkeit des konsensualen Ansatzes feststellt. Anders Ebsen, Gesetzesbindung, S. 52, der diese Probleme für überwindbar hält. i " Dazu gleich im Text. 197
27*
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
pierten Grundrechten zu verwenden 200. Die Verfassung fixiert im Interesse des Minderheitenschutzes gerade auch konsensfeste Inhalte. Was Persönlichkeitsentfaltung, Glaube oder Kunst ist 2 0 1 , soll sich gerade nicht nach der Ansicht der einfachen Mehrheit richten. Konsens als Maxime der Verfassungsinterpretation erzeugt die Gefahr einer „Tyrannei der Mehrheit". Eine Orientierung am Mehrheitswillen würde die Minderheit vom Interpretationsprozeß ausschließen, was auch vom Standpunkt Häberles aus unzulässig wäre. Solange sich der Konsens nicht in Verfassungsänderungen niederschlägt, ist die Verfassung auch gegen Konsens und Mehrheitsauffassungen durchzusetzen. Im grundgesetzlichen System repräsentativer Demokratie ist außerdem die Legitimation der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten fragwürdig. Auch ohne einen personalisierten und monolithischen Völkswillen zu postulieren 202 , kann man zu Recht kritisieren, daß Häberle den Unterschied zwischen Verfassungsgebung und Verfassungsinterpretation einebnet 203 . Zwar ist es sinnvoll, im Interesse der prozeduralen Rationalität den Teilnehmerkreis an verfassungsrechtlichen Diskursen so offen wie möglich zu halten. Doch kommt weder der Bevölkerung noch dem Staatsvolk, der Wählerschaft oder dem einzelnen Bürger die Befugnis zu, als „alltägliche verfassungsgebende Gewalt" grundrechtliche Inhalte festzulegen. Damit soll nun keineswegs behauptet werden, daß das Handeln der Bürger im Schutzbereich der Grundrechte für das BVerfG unbeachtlich wäre. Sicherlich bedürfen Grundrechte der Realisierung und Aktualisierung durch Ausübung, was unzweifelhaft eine Rückwirkung auf die Interpretation hat, weil diese nicht auf reine Normtextauslegung verkürzt werden darf, sondern neben dem „Normprogramm" auch den Sachbereich bzw. „Normbereich" einbeziehen muß 2 0 4 . Aus der Befugnis des Bürgers zur Realisierung seiner grundrechtlichen Freiheit folgt aber nicht, daß diese für das BVerfG normativ verbindlich ist. Damit ist das schwierige Problem, welche Rolle das Selbstverständnis des Grundrechtsberechtigten für die Konkretisierung von Freiheitsrechten spielen darf, freilich noch nicht gelöst 205 . Fest steht aber, daß rechtlich konstituierte Freiheit Grenzen derselben aufweisen
200 Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, S. 1675; Schlink, Staat 19 (1980), S. 85 f.: „Soll der liberale Anspruch der Grundrechte nicht preisgegeben werden und sollen jenseits eines von Grundwerten getragenen Grundkonsenses nicht die Feinderklärungen beginnen, dann muß es bei den Grundrechten auch um die Freiheit und den Schutz von Positionen gehen, die gerade nicht durch Konsens getragen und gedeckt, die vielleicht sogar gegen Konsens gerichtet sind." (Nachw. weggelassen) 201 Vgl. Art. 2 Abs. 1 GG, Art. 4 Abs. 1 u. 2 GG, Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG. 202 Kritisch Häberle, JZ 1975, S. 302. 203 Vgl. Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 48: „Die Verfassungsinterpretation gerät zur Verfassunggebung in Permanenz." 204 Dazu Hesse, Grundzüge, Rdnr. 41 ff. (46), 68 f.; Fr. Müller, Juristische Methodik, Rdnr. 480, 481 ff. Zu diesen Begriffen oben 3. Kap., B. III. 2., und D. III. 205 Zum Problem Morlok, Selbstverständnis als Rechtskriterium, insb. S. 386 ff.; Isensee, Wer definiert die Freiheitsrechte?, 1980; Höfling, Offene Grundrechtsinterpretation, 1987.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
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muß und dem Grundrechtsträger nicht die vollständige Definitionsmacht über seine verfassungsmäßigen Rechte abtreten darf. Gegen den konsensualen Ansatz wird ferner eingewandt, daß er die Stabilität der Verfassung gefährde: „Das Verfassungsgericht wird zur Instanz der Sanktion und Legitimation dieses nach jeweiligem politischen Konsens bzw. Konsenswechsel sich vollziehenden Verfassungswandels." 206
Wird umgekehrt verlangt, daß das Verfassungsgericht dem sich wandelnden Konsens unter bestimmten Bedingungen Widerstand entgegenzusetzen habe 207 , wird die konsensuale Ausgangsbasis verlassen. Denn der Konsens liefert keine über faktische Geltung hinausgehenden Richtigkeitskriterien für den Inhalt des Verfassungsrechts 208. Schließlich sind funktionale Bedenken zu nennen. So hält etwa Isensee fest, daß das BVerfG „keine selbständige Kompetenz zu Integration und Konsenspflege" habe 209 . Dem ist zuzustimmen.
I I I . Ergebnis Im Ergebnis ist ein konsensualer Ansatz der Verfassungsinterpretation undurchführbar und insbesondere im Hinblick auf die minderheitenschützende Funktion der Grundrechte unangemessen. Darüber hinaus überzeugt es nicht, mit Konsens eine Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz begründen zu wollen.
G. Prozedurale Ansätze Abschließend ist auf prozedurale Ansätze im Verfassungsrecht einzugehen, soweit diese auf eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation oder des Verfassungsgerichts hinauslaufen 210. Eine solche Begrenzung kann womöglich an die Verfahrensdimension des Grundrechtsschutzes anknüpfen (I.) oder sich wie im Paradigma der Carolene-Fußnote als Folge eines funktionierenden politischen Prozesses ergeben (II.). Auch die Diskurstheorie kann zu einem restriktiven Verständnis von Verfassungsgerichtsbarkeit beitragen (III.). Manche prozeduralen Ansätze 206
Böckenförde, Methoden, in: ders., Staat, Verfassung, Demokratie, S. 68. So Würtenberger, Zur Legitimität des Verfassungsrichterrechts, S. 75 f. 2 08 Vgl. dazu Böckenförde, ARSP Beih. 37 (1990), S. 46. 2 09 Ders., JZ 1996, S. 1092. Vgl. auch Haltern, Integration als Mythos, JöR N.F. 45 (1997), S. 31 ff. 207
2
10 Vgl. dazu den Überblick bei Calliess, Prozedurales Recht, S. 29 ff., insb. 91 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
versuchen ausdrücklich, materiale Erwägungen bei der Grundrechtskontrolle durch eine bestimmte Verfahrensgestaltung zu substituieren (IV.).
I. Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren 211 soll zunächst die staatsgerichtete Abwehrfunktion der Grundrechte verstärken. Insoweit wirkt die Prozeduralisierung nicht limitierend, sondern flankierend. Von Interesse ist Grundrechtsschutz durch Verfahren im vorliegenden Zusammenhang daher nur, wenn damit materiale Anforderungen reduziert werden.
II. Reduzierte verfassungsgerichtliche Kontrolle bei intensiver Beteiligung der pluralistischen Öffentlichkeit? Wie schon im Hinblick auf den konsensualen Ansatz ausgeführt 212, tritt Häberle für eine Beschränkung verfassungsgerichtlicher Kontrolle angesichts eines funktionierenden politischen Prozesses ein. Erhöhte Partizipation soll bei nicht grundsätzlich umstrittenen Gesetzen zu einer reduzierten Prüfungsintensität führen 213 . Er begründet dies unter anderem damit, daß die Beteiligung und Kontrolle der pluralistischen Öffentlichkeit dem Gesetz besondere Legitimation verschaffe 214. Umgekehrt soll die Prüfung umso strenger sein, je weniger Partizipation und Öffentlichkeit im Hinblick auf ein Gesetzesvorhaben vorhanden sind: „Ein Minus an faktischer Partizipation führt zu einem Plus an verfassungsrichterlicher Kontrolle." 215 Auf der Grundlage eines pluralistischen Politikmodells erhöhen sich infolge der umfassenden Beteiligung möglichst vieler Gruppen die Chancen, daß der politische Prozeß zur richtigen Lösung gelangt. Was im Bereich empirischer oder normativer Unsicherheit richtig ist, muß sich angesichts der skeptizistischen Grundhaltung des Pluralismus vor allem in der Auseinandersetzung der konkurrierenden Gruppen erweisen 216 . Der pluralistische Interessenausgleich zwischen konkurrierenden Gruppen verbürgt jedoch für sich genommen nicht, daß auch eine grundrechtlich richtige Lösung entsteht. Um zu grundrechtlicher Relevanz der Partizipa211
Vgl. Goerlich, Grundrechte als Verfahrensgarantien, 1981; Bethge, Grundrechtsverwirklichung und Grundrechtssicherung durch Organisation und Verfahren, NJW 1982, S. 1 ff.; Grimm, Verfahrensfehler als Grundrechtsverstöße, NVwZ 1985, S. 865 ff.; Heun, Schranken, S. 73 ff. 212
Siehe dazu oben 4. Kap., F. I. 13 Vgl. Häberle, JZ 1975, S. 303. 214 Vgl. ibid. 2
2
15 Ibid., S. 304.
216
Vgl. Schmidt, Demokratietheorien, S. 151 ff. (154), zur Vorstellung des „a-posterioriGemeinwohls". Vgl. auch v. Arnim, Staatslehre, S. 109, 204 f.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation
3
tion im politischen Prozeß zu gelangen, muß man von einem erweiterten Interpretationsbegriff ausgehen. Bei Häberle kann der politische Prozeß legitimierend wirken, weil die offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten letztlich über den Inhalt der Verfassung mitentscheidet. Auf diese Weise trägt die gesellschaftliche Auseinandersetzung zur Konkretisierung der Verfassung bei. Gegen dieses Konzept bestehen jedoch Bedenken, weil es die Verfassungsinterpretation nicht hinreichend begrenzt und weil es die Interpretation an einen konsensualen Ansatz anbindet, dem die vorliegende Arbeit kritisch gegenübersteht 217. Insoweit kann Partizipation auch nicht als Grenze der Verfassungsgerichtsbarkeit anerkannt werden. Dennoch ist die Partizipation im politischen Prozeß für die Verfassungsinterpretation nicht bedeutungslos. Aus diskurstheoretischer Sicht erhöht umfassende Partizipation im politischen Prozeß die Rationalität des Verfahrens. Denn wenn in der Auseinandersetzung möglichst viele Standpunkte und Argumente zur Sprache kommen, verbreitert dies die Entscheidungsgrundlage des Gesetzgebers. Deshalb ist es nicht ausgeschlossen, daß erhöhte Partizipation einem Gesetz prozedurale Legitimation verschafft, die ihm ohne diese Beteiligung nicht zukommen würde 2 1 8 . Um dieser These zustimmen zu können, muß man nicht von einem idealisierten Politikverständnis ausgehen, daß das Gesetzgebungsverfahren ausschließlich als Erkenntnisprozeß auffaßt. Es genügt, daß man ein reines „bargaining"-Modell des politischen Prozesses für einseitig hält und dem politischen Prozeß auch deliberative und diskursive Züge zugesteht219. Fraglich ist allerdings, auf welchem dogmatischen Weg diese Erkenntnis differenziert berücksichtigt werden kann. Möglicherweise kann hierzu der funktionell-rechtliche Ansatz beitragen. Darauf ist im nächsten Kapitel zurückzukommen 220. Im übrigen ist festzuhalten, daß Häberles Vorschlag für die Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit nur eine geringe Tragweite hat. Die Reduktion der verfassungsgerichtlichen Kontrolle bezieht sich lediglich auf nicht grundsätzlich umstrittene Gesetze. Diese werden nur selten Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle sein.
I I I . Prozeduralisierung und Diskurstheorie Der diskurstheoretische Ansatz führt nicht zwingend zu einer Begrenzung des Verfassungsgerichts. Als Beispiel sei das Regel-Prinzipien-Modell Alexys genannt, das zu einer vergleichsweise starken Rolle der Verfassungsgerichtsbarkeit neigt. Auch die Begrenzung der Verfassungsinterpretation ist im Regel-Prinzipien-Modell kein zentrales Anliegen. Allerdings läßt Alexys Ansatz eine gewisse Begren217 218 219 220
Siehe oben 2. Kap., E. in., IV., und 4. Kap., F. Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 432 f., vgl. auch S. 215 ff. Siehe dazu auch oben 1. Teil, 2. Kap., G. II. Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b) dd).
424
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
zung durch Spielräume des Gesetzgebers zu 2 2 1 . Auf diese Art von Prozeduralisierung ist im Zusammenhang mit funktionell-rechtlichen Spielräumen des Gesetzgebers zurückzukommen 222. Zu einem wesentlich restriktiveren Ergebnis gelangt die Diskurstheorie bei Habermas. Wie schon erwähnt 223 , soll aus dem Diskursmodell eine Begrenzung des Verfassungsgerichts folgen, auch wenn das Verfassungsgericht Grundrechte als ermöglichende Bedingungen des Diskurses zu schützen hat. Zum einen führt der Werte-Skeptizismus bei Habermas dazu, vom Prinzipiengehalt der Grundrechte abzurücken 224 . Zum anderen sind für Habermas „vor allem die Verfahrensbedingungen des demokratischen Prozesses schützenswert", weshalb er dem Verfassungsgericht eine „restriktive Rolle" zuweisen w i l l 2 2 5 . Der Diskurs wird also tendenziell vom Verfassungsgericht auf die Zivilgesellschaft verlagert. Die dogmatische Umsetzung dieser Begrenzung bleibt jedoch weitgehend offen 226 .
IV. Substitution inhaltlicher Entscheidungen durch Prozeduralisierung Auch die hier zu behandelnden prozeduralen Ansätze wollen materiale Festlegungen im Rahmen der Verfassungsinterpretation ein Stück weit ersetzen, indem sie Verfahrensbedingungen aufstellen. Prozedurale Theorien dieses Typs weisen eine skeptische Grundhaltung auf, wenn sie inhaltliche Festlegungen in der postindustriellen und globalisierten Gesellschaft aufgrund fundamentaler empirischer und normativer Unsicherheit für problematisch halten. Die Antwort auf diese strukturelle Unsicherheit und damit einhergehende Steuerungsprobleme wird in autonomer gesellschaftlicher Selbstregulierung, Selbstgesetzgebung und Selbststeuerung gesucht 227 . Auf diesem Weg kann man zu einer drastischen Beschränkung des Verfassungsgerichts gelangen. Gralf-Peter Calliess etwa hält in seiner Untersuchung zum prozeduralen Recht fest:
221
Vgl. insb. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, 1998. Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b). 22 3 Siehe oben 1. Teil., 3. Kap., C. II. 222
224
Dabei geht es um die rechtstheoretische Kontroverse zwischen dem axiologischen und dem deontologischen Normbegriff. Vgl. einerseits Habermas, Faktizität und Geltung, S. 309 ff., und andererseits Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 125 ff. 22 5 Habermas, Faktizität und Geltung, S. 529 f. 22 6 Vgl. ibid., S. 516 ff., und dazu Calliess, Prozedurales Recht, S. 114 ff. 227 Zu Prozeduralisierung als Form der gesellschaftlichen Selbstregulierung, die „Entlastung von direkten Steuerungszumutungen" und „Komplexitätserhöhung der Problembearbeitung" verspreche, Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 67 ff. (Zitate in Rdnr. 68 a.E.), mit kritischen Untertönen.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation „Für das Verhältnis des Verfassungsgerichts zum Gesetzgeber bedeutet dies eine Selbstbeschränkung in inhaltlichen Fragen, soweit nicht offensichtliche Verfassungsverstöße in Rede stehen." 228
Unter Berufung auf postmoderne Rechtstheorie, wie sie Karl-Heinz Ladeur vertritt 2 2 9 , befürwortet Thomas Vesting eine plurale, bereichsspezifische Theorie der Grundrechte 230. Aus dieser Sicht ist der Verlust von Konsens, allgemein anerkannten Werten und homogenen Strukturen in der Gesellschaft ein entscheidendes Hindernis für eine sinneinheitliche Verfassungsinterpretation, die sich an einer übergreifenden Verfassungstheorie orientiert. Dahinter steht starker erkenntnistheoretischer Relativismus 231 . Gegenüber der unverkennbar soziologischen Perspektive dieses Ansatzes liegt der Einwand nahe, daß hier unzulässigerweise vom Sein auf das Sollen geschlossen werde. Dies würde aber insoweit zu kurz greifen, als dieser Ansatz der herkömmlichen Lehre vorwirft, Verfassungsinterpretation und -theorie auf der Grundlage gänzlich unzutreffender Annahmen über die Wirklichkeit zu betreiben 232 . Demgegenüber wird die Notwendigkeit von „komplexen Selbstbeschreibungen" als Grundlage der Grundrechtstheorie betont 233 . Angesichts der gesellschaftlichen Differenzierung, Fragmentierung und Pluralisierung 234 sei „eine allgemeine Theorie der Grundrechte nicht mehr möglich" 235 . Umgesetzt werden soll die plurale Grundrechtstheorie durch eine bereichsspezifische Einzeldogmatik 236 . Zentrale Anliegen sind dabei die Erhaltung von Offenheit, Flexibilität und Pluralität 237 . Soweit dabei prozedurale Regeln der Konfliktbewältigung, eine „negative Funktionsbeschreibung" 238 der Grundrechte und ins228 Calliess, Prozedurales Recht, S. 271. 229 Vgl. Ladeur, Postmoderne Rechtstheorie, 1992. 230 Vgl. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 9 ff., 20 ff. 231 Vgl. Vesting, AöR 122 (1997), S. 342 f. m. Fn. 22. Vgl. auch Lietzmann, „Reflexiver Konstitutionalismus" und Demokratie, S. 233 ff., der wie Ely konsensuale und vernunftrechtliche Ansätze kritisiert. 232 Zum Beispiel wird das Vorhandensein einer einheitlichen politischen Öffentlichkeit oder Persönlichkeitskonzeption bestritten, vgl. Vesting, AöR 122 (1997), S. 352 ff. (353), 354, 358 f. Zum Verfall einheitlicher Wert- und Theoriegebäude unter postmodernen Vorzeichen auch Haltern, KritV 83 (2000), S. 170 ff., 181 f. 233 Ausdruck bei Vesting, AöR 122 (1997), S. 362. 234 Dazu auch Schulze-Fielitz, AöR 122 (1997), S. 20 ff. 235 Vgl. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 20 (Zitat auf S. 21). 236 Vgl. ibid., S. 23. In späteren Arbeiten versucht Vesting, dieses Konzept umzusetzen, vgl. ders., Soziale Geltungsansprüche in fragmentierten Öffentlichkeiten: Zur neueren Diskussion über das Verhältnis von Ehrenschutz und Meinungsfreiheit, AöR 122 (1997), S. 337 ff. (361 ff.), sowie ders., Prozedurales Rundfunkrecht, 1997. 237 Vgl. Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 21 f., 23. Vgl. aber auch ders., AöR 122 (1997), S. 362, 371, wonach Offenheit der politischen Kommunikationsströme allein nicht ausreiche.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
besondere die zivilgesellschaftliche Selbstregulierung 239 an die Stelle einer nicht mehr für möglich gehaltenen Steuerung durch inhaltliche Rechtsmaßstäbe treten sollen, weist diese Auffassung nicht zuletzt auch Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit auf. Auf die Umsetzung dieser Theorie kann hier nicht im einzelnen eingegangen werden. Es sei aber ein Beispiel genannt, wie dieser Ansatz für die Konfliktbewältigung auf stärkere Selbstregulierung setzt. Für den verfassungsrechtlichen Ausgleich von Meinungsfreiheit und Ehrschutz 240 stellt Vesting die Regel auf, daß derjenige keines staatlichen Ehrschutzes bedürfe, der sich gegen überspitzte und polemische Kritik in vertretbarer Weise selbst verteidigen könne, weil er Zugang zu den Medien habe 241 . Darüber hinaus bestehe ,,[k]ein Ehrenschutz für sich selbst regulierende Teilöffentlichkeiten" 242 . So geht Vesting von der „Fähigkeit der Selbstkorrektur des Literaturbetriebs" aus, weshalb überzogene Kritik in dieser Teilöffentlichkeit womöglich hinzunehmen sei 2 4 3 . Um die Prämissen dieses prozeduralen Ansatzes würdigen zu können, müßte man die Ebene der Gesellschaftstheorie einbeziehen. Dies würde den Rahmen der vorliegenden Arbeit sprengen, wie er in der Einführung umschrieben wurde 244 . Zu den Grenzen, denen der Versuch einer Prozeduralisierung der Grundrechte seinerseits unterliegt, müssen daher die folgenden Bemerkungen allgemeiner Art genügen, die freilich nicht beanspruchen können, eine abschließende Bewertung der im vorliegenden Abschnitt behandelten Ansätze zu ermöglichen. Im Vergleich mit heutigen prozeduralen Entwürfen, die diskurs- und systemtheoretische Einsichten kombinieren 245 oder wie Vesting auf postmoderne Theorie zurückgreifen, erscheint Elys prozedurales Modell geradezu altmodisch. Für den vorliegenden Zusammenhang ist auch nicht sein prozedurales Kontrollmodell als solches, sondern vielmehr die dagegen gerichtete Kritik an der Prozeduralisierung des Verfassungsrechts relevant. Zunächst ist daran zu erinnern, daß sich grundrechtliche Maßstäbe nur in begrenztem Umfang prozeduralisieren lassen. Die inhaltlichen Verpflichtungen des Grundgesetzes dürfen nicht vollständig in Verfahrensfragen aufgelöst werden. Auch wenn dies in Deutschland wohl niemand bestreiten wird, ist die Aussage nicht trivial. Denn die Gefahr, daß die Verfassung auf prozedurale Fragen reduziert wird, ist in der folgenden Aussage bei Vesting nicht ganz von der Hand zu weisen: 238
Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 23. 239 Vgl. zur Meinungsfreiheit Vesting, AöR 122 (1997), S. 369 f., 371. 2
40 Vgl. Art. 5 Abs. 1 S. 1 i.V.m. Abs. 2, 3. Fall GG.
2
*i Vgl. Vesting, AöR 122 (1997), S. 369. Ibid., S. 370. 243 Ibid.
242
244 24
Siehe oben Einführung, B. II. 5 Vgl. etwa Calliess, Prozedurales Recht, 1999.
4. Kap.: Verfassungstheoretische Grenzen der Verfassungsinterpretation ,,[W]enn es keine bestimmbaren Anfangszustände mehr gibt, können die Grundrechte auch keine positiven Normziele mehr vorgeben - so daß es auch keinen Sinn mehr macht, Grundrechte mit Alexy als »Optimierungsgebote' zu bezeichnen."246
Allerdings wird postmoderne Theorie diesen Vorwurf damit kontern, daß es keine einheitlichen Beschreibungen, Maßstäbe und Ideale mehr gebe, an denen sich eine inhaltliche Verfassungsinterpretation orientieren könne. Jedoch kann auch die Erhaltung offener Strukturen nicht ohne inhaltliche Maßstäbe erfolgen. Auch dies hat die Kritik an Elys Theorie gezeigt 247 . Letztlich greifen auch prozedurale Ansätze zu inhaltlichen Wertungen 248, die als solche kontrovers sind und die in einem gewissen Widerspruch zu dem als Ausgangspunkt gewählten Relativismus oder Skeptizismus stehen können. Inwieweit die inhaltlichen Strukturen, die hinter der jeweiligen prozeduralen Ausgestaltung stehen, überzeugend sind, ist damit freilich nicht gesagt.
V. Ergebnis Die in diesem Abschnitt angesprochenen prozeduralen Theorien versuchen, materiale Entscheidungen teilweise durch Verfahrensregeln und -kontrolle zu ersetzen. Dieser Ansatz führt jedoch nur teilweise weiter, da sich nicht alle materialen Entscheidungen im Rahmen der Grundrechtskontrolle prozeduralisieren lassen. Deshalb wäre es verfehlt, die Grenzen der Verfassungsinterpretation bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit nunmehr allein in prozeduralen Ansätzen zu suchen.
H. Ergebnis zur Begrenzung durch Verfassungstheorie Die Diskussion der restriktiven verfassungstheoretischen Ansätze läßt sich wie folgt zusammenfassen. (1) Der von Forsthoff vertretene formale Rechtsstaatsbegriff ist unangemessen, weil er den materialen Gehalt der Verfassung bestreitet. (2) Böckenförde versteht die Verfassung als Rahmenordnung und will den Prinzipiencharakter der Grundrechte aufgeben. Demgegenüber gibt es zum Regel-Prinzipien-Modell Alexys in konstruktiver Hinsicht keine überzeugende Alternative. 246 Vesting, Von der liberalen Grundrechtstheorie zum Grundrechtspluralismus, S. 23 (Nachw. weggelassen). 247 Siehe oben 1. Teil., 3. Kap., B. 1.4. 24 « Beispiele bei Vesting, AöR 122 (1997), S. 364 (zum Ehrschutz), S. 366 (zum Kunstbegriff), und S. 367 (zur Kontrolle von Begriffsbedeutungen). Besonders deutlich wird der inhaltliche Bezug der prozeduralen Kontrolle ibid., S. 371: „Finally, the author introduces a procedural model aimed at sensitizing the present defamation law to these decivilizing tendencies in today's permissive society."
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Grundrechtskollisionen können nur durch Abwägung differenziert aufgelöst werden, weshalb die Abwägung als Mittel der Verfassungsinterpretation unverzichtbar ist. Der von Böckenförde vorgeschlagene Rückzug auf die liberale Grundrechtstheorie überzeugt nicht, weil im Interesse eines flexiblen und effektiven Freiheitsschutzes an der objektiven Dimension der Grundrechte festzuhalten ist. Dies wurde exemplarisch anhand der grundrechtlichen Schutzrechte begründet. Deshalb kann die vorliegende Arbeit dem von Böckenförde vorgeschlagenen Verfassungsverständnis der Rahmenordnung nicht folgen. (3) Der Rückzug auf die demokratischfunktionale Grundrechtstheorie würde die Verfassungsinterpretation zwar begrenzen. Jedoch ist eine solche Lösung einseitig, weshalb sie von dieser Arbeit nicht befürwortet wird. (4) Im Streit zwischen enger und weiter Tatbestandstheorie nimmt die vorliegende Arbeit eine vermittelnde Position ein. Soweit sich eine Begrenzung des Tatbestands durch methodisch korrekte Interpretation überzeugend begründen läßt, ist eine enge Fassung des jeweiligen Schutzbereichs vorzuziehen. Darüber hinaus kann kollidierendes Verfassungsrecht durch eine vom Einzelfall gelöste Abwägung in eindeutigen Fällen zu einer Einschränkung des Schutzbereichs führen. (5) Die vorliegende Arbeit steht dem konsensualen Ansatz der Verfassungsinterpretation vor allem im Hinblick auf die minderheitenschützende Funktion der Grundrechte kritisch gegenüber. (6) Das Vorhaben einer bereichsweisen Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes stößt auf Grenzen, weil sich inhaltliche Entscheidungen im Rahmen der Verfassungsinterpretation nicht beliebig weit durch Verfahrensregeln ersetzen lassen. In der Prozeduralisierung liegt deshalb nicht die einzige Grenze der Verfassungsinterpretation bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit. Wie schon in der Vorbemerkung zu diesem Kapitel angedeutet, weist die Verfassungstheorie damit ein großes Potential für eine Begrenzung der Interpretation und des Verfasssungsgerichts auf. Dennoch vermag sich die vorliegende Arbeit keiner der hier erörterten restriktiven Konzeptionen vorbehaltlos anzuschließen. Es bleibt zu klären, ob und ggfs. wie der Einengung des Gesetzgebers durch funktionellrechtliche Lösungen begegnet werden kann. Hierbei ist vor allem auf die objektive Dimension der Grundrechte zurückzukommen.
Fünftes Kapitel
Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit Soweit die Verfassungsinterpretation durch Methodik und Verfassungstheorie nicht oder nur schwach begrenzt wird, könnten funktionell-rechtliche Ansätze weitere Grenzen der Interpretation wie auch der gerichtlichen Kontrollkompetenz aufzeigen. Auch funktionell-rechtliche Ansätze legen bestimmte verfassungstheoretische Annahmen zugrunde, unterscheiden sich aber durch ihre charakteristische Anknüpfung an Funktion oder Kompetenz von Gesetzgeber oder BVerfG von den im vierten Kapitel erörterten Verfassungs- und Grundrechtstheorien. Zunächst wird ein Uberblick über die aus den USA stammende political question-Doktrin (A.) und den möglichen Inhalt eines „judicial self-restraint" gegeben (B.). Beide Ansätze weisen einen funktionell-rechtlichen Bezug auf, weil sie Grenzen des BVerfG mit seiner Funktion gegenüber dem politischen Prozeß begründen. So soll das Verfassungsgericht weder selbst Politik treiben noch über bestimmte „politische Fragen" entscheiden. Darüber hinaus werden diese prominenten Schlagwörter zuweilen als Synonyme für Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit verwendet. Wichtiger sind allerdings funktionell-rechtliche Ansätze im eigentlichen Sinne, die auf unterschiedlichen dogmatischen Wegen zu Spielräumen des Gesetzgebers und damit zu einer korrespondierenden Begrenzung der Verfassungsinterpretation bzw. des BVerfG gelangen (C.).
A. Political question-Doktrin I. Zum US-amerikanischen Hintergrund Die US-amerikanische political question-Doktrin 1 führt in bestimmten Sachbereichen des Verfassungsrechts zu einem Ausschluß der Justiziabilität. Dabei geht 1 Dazu Scharpf, Grenzen der richterlichen Verantwortung. Die political question-Doktrin in der Rechtsprechung des amerikanischen Supreme Court, 1965; ders., Judicial Review and the Political Question: A Functional Analysis, 75 Yale L.J. 517 ff. (1966); Haller, Supreme Court und Politik in den USA, S. 180 ff.; Zuck, JZ 1974, S. 362 f.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 52 ff.; Brugger, Grundrechte, S. 17 ff.; ausführlich aus neuerer Zeit Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 65 ff. (zur Rechtsprechung), 82 ff. (zur Lehre).
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
es letztlich um Fragen der Gewaltenteilung, nicht aber um einen pauschalen Verzicht auf gerichtliche Entscheidung in hochpolitischen Fragen. Hauptanwendungsfeld der Doktrin ist die Außen- und Sicherheitspolitik, in der die politische Entscheidung eines anderen gleichgeordneten Verfassungsorgans oder die Kompetenz eines anderen Organs zu einer solchen Entscheidung aus funktionalen Erwägungen hinzunehmen ist. Dies kann mit einem Informationsdefizit des Supreme Court oder der Notwendigkeit eines einheitlichen Auftretens der Staatsgewalt in völkerrechtlichen Beziehungen begründet werden2. In der Literatur sind Gestalt und Bedeutung der political question-Doktrin umstritten, was hier jedoch nicht im einzelnen verfolgt werden soll 3 . Denn zur Rechtsprechung des Supreme Court resümiert Rau nach eingehender Untersuchung, daß die Doktrin „seit über 20 Jahren von einer Mehrheit der Supreme Court-Richter nicht zur Anwendung gebracht" worden sei, um die Justiziabilität abzulehnen4. Deshalb sei sie „in ihrem Ursprungsland in neuerer Zeit von nur untergeordneter Bedeutung."5
II. Political question-Doktrin in Deutschland? Das BVerfG hat die political question-Doktrin als solche nie übernommen6. Auch die herrschende Lehre lehnt eine Übertragung der political question-Doktrin auf das deutsche Recht ab7. Die Schwierigkeiten, den konkreten Inhalt der Doktrin im Ursprungsland festzuschreiben, belasten auch den Versuch, sie in den deutschen Kontext zu übertragen 8. Immerhin könnte man daran denken, einzelne Kriterien 2 Vgl. Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 86, 92 f. 3 Dazu Rau, ibid., S. 82 ff. m. w. Nachw., der auf die klassische Theorie, Alexander Bickels „prudentielle" Theorie, den funktionell-rechtlichen Ansatz von Fritz Scharpf und auf die Zurückweisung der Doktrin durch Louis Henkin eingeht. Überblick bei Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 213 f. 4 Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 229 (Nachw. weggelassen), ähnlich S. 93. Vgl. auch Zuck, JZ 1974, S. 364 (zu Ziff. 4); Brugger, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 330. 5
Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 230. Ebenso Brugger, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 330; Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 228. 7 Vgl. Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 88; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 469; Zuck, JZ 1974, S. 363 f., 368; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 91; Heun, Schranken, S. 12; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 25 ff., 31; Stern, in: FS Kriele, S. 416; ders., Staatsrecht III/2, S. 1710 f.; Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 228 ff. (230), 244; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 214; Raabe, Grundrechte und Erkennntnis, S. 294 ff., 306; H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2104 (vgl. aber einschränkend ibid., S. 2108, und ders., DÖV 1975, S. 451); Benda, NJW 1995, S. 2470; Piazolo, Das Bundesverfassungsgericht und die Beurteilung politischer Fragen, S. 255 f. Zustimmend dagegen Dolzer, Stellung des BVerfG, S. 107 ff. (111); ders., Verfassungskonkretisierung, S. 44 ff., 48 ff. Vgl. auch Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 75 f., der jedoch einschränkt, daß die Doktrin „nicht ohne weiteres" in das deutsche Recht übernommen werden könne. Für „implizite Anwendung" Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 151 ff. (155 m. Zitat), 159. 6
. Kap.:
u n t o e t i c h e Grenzen der Verfassungsinterpretation
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aus Baker v. Carr heranzuziehen. In dieser Leitentscheidung von 1962 stellte der Supreme Court eine Reihe von Kriterien auf, von denen mindestens eines vorliegen muß, um einen Fall als „political question" qualifizieren zu können 9 . Erforderlich sind danach alternativ: „Eine im Verfassungstext nachweisbare Zuweisung der Sachfrage an ein gleichgeordnetes politisches Staatsorgan; [ . . . ] ein Mangel an gerichtlich ermittelbaren oder anwendbaren Maßstäben, um sie zu lösen; [ . . . ] die Unmöglichkeit einer gerichtlichen Entscheidung ohne eine vorgängige politische Ermessensentscheidung; [ . . . ] die Unmöglichkeit einer eigenständigen gerichtlichen Entscheidung, ohne die einem gleichgeordneten Zweig der Staatsgewalt geschuldete Achtung zu verletzen; [ . . . ] ein ungewöhnliches Bedürfnis, einer schon getroffenen politischen Entscheidung unhinterfragt zu folgen; [ . . . ] die Möglichkeit eines Nachteils infolge unterschiedlicher Verlautbarungen verschiedener Staatsorgane in ein- und derselben Frage." 10 Die ersten beiden Kriterien dieses Topoikataloges scheinen in schwierigen Fällen auf die ungelöste Frage zurückzuführen, wie weit die verfassungsgerichtliche Interpretations- und Kontrollkompetenz reicht 1 1 . Die übrigen Kriterien dürften i m grundrechtlichen Kontext irrelevant sein. Damit hat dieser Ansatz i m Bereich der Grundrechte kaum einen möglichen Anwendungsbereich. Hinzu kommt, daß sich das BVerfG entsprechend der political question-Doktrin bei bestimmten politischen Streitigkeiten für unzuständig erklären müßte. Das BVerfG darf aber die Zulässigkeitsvoraussetzungen seines Verfahrens nicht nach eigenem Ermessen gestalten, sondern ist hierbei an das BVerfGG gebunden, soweit dieses eine Regelung enthält und verfassungskonform i s t 1 2 . Bei Eingriffen in Grundrechte scheidet diese Art von Entscheidungsverweigerung auch aufgrund der Rechtsweggarantie i n Art. 19 Abs. 4 GG aus 1 3 .
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Vgl. Zuck, JZ 1974, S. 364, der die political question-Doktrin als „Sammeletikett" ohne verbindlichen Inhalt sowie als „politische Zweckmäßigkeits- oder Kunstlehre" bezeichnet. Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 229, spricht von „ex post-Beschreibungen". 9 In Baker v. Carr überprüfte der Supreme Court eine Wahlkreiseinteilung anhand der Gleichheitsklausel, während er in früheren Entscheidungen die Justiziabilität solcher Wahlrechtsfragen verneint hatte. Die Entscheidung verneinte also das Vorliegen einer „politischen" Frage. 10 Baker v. Carr, 369 U.S. 186, 217 (1962) (Übersetzung zum Teil in Anlehnung an Brugger, Grundrechte, S. 18). Vgl. auch Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 71 ff., 78. 11 Vgl. auch Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 78 f. Beispielsweise könnte der Supreme Court zu der grundsätzlich nicht justiziablen „Republican Form of Government"-Klausel (Art. IV See. 4 US-Verf.) durchaus rechtliche Kriterien entwickeln, auch wenn er dies bisher abgelehnt hat. Vgl. Luther v. Borden, 1 How. (48 U.S.), 1 ff. (1849), und dazu Rau, ibid., S. 66 ff. Vgl. allg. Ely, S. 118 f., 122 f. 12 Vgl. etwa Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 91: „[Innerhalb seiner Zuständigkeit besteht für das BVerfG Entscheidungszwang." 13 Vgl. Brugger, Staatswissenschaften und Staatspraxis 1994, S. 330.
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Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
I I I . Zur Unterscheidung von Recht und Politik Mit der political question-Doktrin ist zugleich die Unterscheidung von Recht und Politik angesprochen14. Dabei handelt es sich um ein zentrales Paradigma der Verfassungsgerichtsbarkeit in Deutschland, das in seiner Bedeutung für die Diskussion um verfassungsgerichtliche Grenzen der US-amerikanischen „countermajoritarian difficulty" nicht nachsteht. In einer sehr schlichten Konzeption verfassungsgerichtlicher Kontrolle könnte man es für die Funktion des BVerfG halten, das Verfassungsrecht zu interpretieren und anzuwenden, während die Politik allein eine Funktion des Gesetzgebers wäre. Jedoch hält es die ganz herrschende Lehre für undurchführbar, mit Hilfe dieser Dichotomie Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bestimmen15. Einen Grund hierfür hat Isensee so umschrieben: „Das »Politische' ist kein abgrenzbarer Bereich, sondern ein Aggregatzustand, in den jedwede Handlungsmaterie geraten kann, auch das Verfassungsrecht selbst."16
Das Problem braucht hier nicht vertieft zu werden. Denn jedenfalls ist nicht ersichtlich, wie man die Unterscheidung von Recht und Politik in operationalisierbare Kriterien umsetzen könnte, mit denen sich die verfassungsgerichtliche Prüfungskompetenz im Verfassungsrecht begrenzen ließe.
IV. Ergebnis Die political question-Doktrin ist als Grenze der Grundrechtskontrolle im deutschen Verfassungsrecht nicht anschlußfähig. Auch die Unterscheidung von Recht und Politik kann eine Abgrenzung der Kompetenzen von BVerfG und Gesetzgeber nicht anleiten.
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Dazu z. B. Isensee, Verfassungsrecht als „politisches Recht", in: HStR, § 162; ders., Die Verfassungsgerichtsbarkeit zwischen Recht und Politik, S. 49 ff.; Roellecke, Politik und Verfassungsgerichtsbarkeit, 1961; Kriele, Recht und Politik in der Verfassungsrechtsprechung, NJW 1976, S. III ff.; ders., in: HStR, § 110 Rdnr. 15 ff.; Benda, Das Bundesverfassungsgericht im Spannungsfeld von Recht und Politik, ZRP 1977, S. 1 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 41 ff.; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 13 ff.; Grimm, Politik und Recht, in: FS Benda, S. 91 ff.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 81 ff. Vgl. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II, S. 99; Isensee, JZ 1996, S. 1091 f.; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 87 ff.; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 46; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 219; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 296; H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2104; ders., DÖV 1975, S. 451; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 31. 16 Isensee, JZ 1996, S. 1091 f. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 90, sieht Recht und Politik als „zwei Seiten derselben Sache". Ähnlich Roellecke, in: HStR, § 53 Rdnr. 24: „Da Politik auf alle gesellschaftlichen - einschließlich rechtlicher - Probleme antworten muß, kann es keine Definition oder Beschreibung von Politik geben, mit der Recht und Politik sauber getrennt werden könnten." Vgl. ferner den Statusbericht des BVerfG, in: JöR 6 (1957), S. 145.
. Kap.:
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B. Judicial self-restraint I . Verfassungsgerichtliche Selbstbeschränkung? Der Aufruf zu mehr judicial self-restraint, das heißt zu verfassungsgerichtlicher Selbstbeschränkung, kann als Appell an das richterliche Ethos verstanden werden, bei der Verfassungsinterpretation oder der verfassungsgerichtlichen Kontrolle Zurückhaltung zu üben. In der US-amerikanischen Verfassungstheorie hat dieses Schlagwort eine vergleichsweise unbedeutende Stellung 1 7 . Rau hält den Begriff für „wenig konturiert" und konstatiert die „mangelnde normative Leistungsfähigkeit der Rechtsfigur" i m Ursprungsland 18 . Der Begriff läßt sich nicht nur auf ein restriktives Verfassungsverständnis 19 , sondern auch auf funktionale, verfassungsprozessuale und berufsethische Aspekte einer Begrenzung des Supreme Court beziehen 20 . Das BVerfG hat vereinzelt von judicial self-restraint und ähnlichen Begriffen gesprochen 21 , ohne daraus eine kohärente dogmatische Figur zu entwickeln 2 2 . In der - zumeist älteren - Literatur findet sich vereinzelt Zustimmung zu richterlicher Selbstbeschränkung 23 , während das Konzept von der herrschenden Lehre abgelehnt w i r d 2 4 . Selbstbeschränkung hält Schiaich für unvereinbar mit der Verfas17
Vgl. die Beispiele bei Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 125 ff. 18 Ibid., S. 125, 227; vgl. auch S. 132. 19 Zu denken ist an die „rule of clear mistake" Thayers, die zu einem Rückzug verfassungsgerichtlicher Kontrolle auf einen Evidenzmaßstab führen würde. Vgl. dazu z. B. Sunstein, One Case at ATime, S. 6 f.; Ely, The Rule of Clear Mistake, in: ders., On Constitutional Ground, S. 25 ff.; Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 8 ff. Von Se/tobeschränkung läßt sich hier insofern sprechen, als eine Verfassungstheorie nur wirksam werden kann, soweit sie ein Mitglied des Supreme Court zur Maxime seines Handelns macht. 20 Vgl. Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 132.
21 Vgl. BVerfGE 36, 1 (14); 59, 360 (377). Im Urteil zum Grundlagenvertrag bezeichnete es judicial self-restraint als den Verzicht, „Politik zu treiben" (BVerfGE 36, 1 [14]). Dieser Entscheidung wird aber gerade Aktivismus vorgeworfen, vgl. Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 85 Fn. 232. Zuweilen ist von judicial self-restraint die Rede, während der Sache nach funktionell-rechtliche Schranken geltend gemacht werden, die mit Selbstbeschränkung nichts oder kaum zu tun haben, vgl. abw. M. Rupp-v. Brünneck u. Simon, in: BVerfGE 39, 1 (69,73). 22 Vgl. H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2109. Kritisch zur Rspr. Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 15. 23 Vgl. Dolzer, Stellung des BVerfG, S. 86; ders., Verfassungskonkretisierung, S. 20 ff.; Ehmke, in: VVDStRL 20 (1963), S. 97 f.; Benda, ZRP 1977, S. 4 f.; H.-P. Schneider, DÖV 1975, S. 451,452 (Nr. 5); ders., NJW 1999, S. 1305. R. Dreier, Problematik, S. 44 (m. nachf. Zitaten), bezeichnete den judicial self-restraint 1976 als den „wohl wichtigsten Ansatz zu einer funktionellrechtlichen Begrenzung verfassungsgerichtlicher Verfassungsinterpretation", schränkte aber wie folgt ein: „Die praktische Wirksamkeit des Appells wird davon abhängen, ob es gelingt, konsensfähige und theoretisch abgesicherte Kriterien seiner Einhaltung zu formulieren." Zu Dreiers Vorschlag oben 4. Kap., F. I. 24 Vgl. Zuck, JZ 1974, S. 365 f., 368; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 469, 491; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 26; Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 85, 88; Hesse, Funktionelle Grenzen, 28 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
sungsbindung des BVerfG: „Nicht das Gericht, sondern die Verfassung als Prüfungsmaßstab des Gerichts ist entweder zurückhaltend oder deutlich greifend." 25 Verfassungsgerichtliche Kompetenzen würden für das BVerfG die Pflicht einschließen, diese auch auszuüben. Die Kompetenzen seien dem BVerfG „unverfügbar aufgegeben" 26. Richterliche Zurückhaltung komme einer verfassungswidrigen Kompetenzunterschreitung gleich 27 . Im übrigen sei judicial self-restraint auch deshalb unangemessen, weil gerade in Grundrechtsfällen die Notwendigkeit bestehen könne, entschlossen einzugreifen 28. Die Figur des judicial self-restraint liefere außerdem keine Kriterien, mit denen man das angemessene Maß an Zurückhaltung bestimmen könne 29 . Deshalb hat die Präsidentin des BVerfG den judicial self-restraint jüngst als ,,konturenlose[n] Appell" bezeichnet30. Dieser Kritik ist zuzustimmen. Zwar sind die Mitglieder des Verfassungsgerichts verpflichtet, ihr Vorverständnis und die Grenzen ihrer Kompetenz zu bedenken31. Dabei ist auch die verfassungsgerichtliche Funktion und der konkrete Verlauf dieser Grenzen zu berücksichtigen, während die richterliche Teilnehmerperspektive dazu neigen mag, diese funktionell-rechtliche Problemsicht auszublenden. Ein undifferenzierter Appell an das richterliche Ethos ist jedoch für sich genommen keine ausreichende Begrenzung des BVerfG: „Es genügt [ . . . ] nicht, sich auf die Tugend des judicial self-restraint zu verlassen." 32
II. Verzicht auf obiter dicta Man hat das BVerfG dafür kritisiert, daß es einen Einzelfall zum Anlaß genommen habe, um „allgemeine Erwägungen für die künftige Regelung eines RechtsgeS. 314 f.; ders., Grundzüge, Rdnr. 570; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 47; Heun, Schranken, S. 11 f.; Schuppen, DVB1. 1988, S. 1191, 1197; Stern, in: FS Kriele, S. 418; Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 227 f.; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 215 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 291 ff. (294); K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 4 ff. 25 Schiaich, BVerfG, Rdnr. 491 (Hervorh. weggelassen); ähnlich Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 47 (vgl. aber ibid., Rdnr. 55). 2 6 Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 85. 2 ? Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 469. Vgl. auch Isensee, in: HStR, § 162 Rdnr. 85: „Selbstbescheidung wäre hier Selbstermächtigung: Kompetenzusurpation". 2 » Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 314, 321; ders., in: FS Mahrenholz, S. 541 f.; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 47. 2 9 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 92. 30 Die Zeit, Nr. 8 vom 18. 2.1999, S. 10. Dagegen H.-P. Schneider, NJW 1999, S. 1305. 31
Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 92; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 217; Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 228. 32 Zuck, JZ 1974, S. 368. Ähnlich meint Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 26, das Problem werde ins richterliche Ethos verschoben, dort bleibe es „rein subjektiv, ohne greifbaren Maßstab und folglich ohne Objektivierbarkeit." Vgl. auch Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 92.
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biets anzustellen und diese als allein verfassungsgemäß zu deklarieren, obwohl es für die konkrete Entscheidung darauf gar nicht ankommt." 33 Diese schon erwähnte34 Kritik steht in Zusammenhang mit Mahnungen, denen zufolge das Verfassungsgericht mit obiter dicta vorsichtig umgehen und sich strikt auf die Entscheidung des Einzelfalls beschränken solle 35 . Als obiter dicta 36 lassen sich die nicht tragenden Gründe der Entscheidung bezeichnen. Im Sinne einer Faustformel sind darunter verfassungsrechtliche Hinweise zu verstehen, die zur Begründung der Verfassungsmäßigkeit oder -Widrigkeit des kontrollierten Gesetzes nicht erforderlich sind 37 . Eine genaue Abgrenzung der tragenden von den nicht tragenden Gründen mag nicht immer möglich sein 38 . In vielen Fällen kann man streiten, inwieweit gerichtliche Ausführungen nur „bei Gelegenheit" der eigentlichen Entscheidung erfolgt sind 39 . Das Abstraktionsniveau der vom Gericht beantworteten verfassungsrechtlichen Frage kann vom Leser einer verfassungsgerichtlichen Entscheidung unterschiedlich hoch angesetzt werden. Je nachdem, wie abstrakt die Frage gefaßt wird, erscheinen mehr oder weniger Gründe als tragend bzw. als bloße obiter dicta. Dennoch finden sich auf beiden Seiten der Unterscheidung eindeutige Fälle. Zum Beispiel dürfte es sich bei Hinweisen für die Gestaltung des einfachen Rechts vielfach um obiter dicta handeln, weil sie nicht erforderlich sind, um die Verfassungswidrigkeit des konkret geprüften Gesetzes zu begründen, und weil sie nicht immer zwingende Folge grundrechtlicher Handlungspflichten sind. Deshalb sind Abgrenzungsschwierigkeiten kein Grund, auf die Unterscheidung als solche zu verzichten. Obiter dicta schränken den Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers ein, ohne daß die Einschränkung durch das materielle Verfassungsrecht gefordert wird. Sie greifen damit mehr als erforderlich in den Funktionsbereich des Gesetzgebers ein. Deshalb ist der funktionell-rechtlichen Kritik an obiter dicta beizupflichten.
33 Vogel, NJW 1996, S. 1510. 34 Siehe oben 1. Kap., C. III. 4. 35 Vgl. Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 52; Vogel, DÖV 1978, S. 667 f.; sehr kritisch ders., NJW 1996, S. 1510 f.; Heun, Schranken, S. 29 Fn. 85. 36 Dazu Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 253 ff.; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 282 ff.; Schlüter, Das obiter dictum, 1973. 37 Vgl. Kriele, ibid., S. 282; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 253, der auf Erörterungen außerhalb des Ableitungszusammenhangs zwischen abstrakter Norm und konkreter Entscheidung abstellt. 38 Weitergehend Landfried, BVerfG und Gesetzgeber, S. 173: „Freilich ist es noch niemals gelungen, eine überzeugende Abgrenzung für 'tragende Gründe' zu finden." 39 Der Streit findet sogar innerhalb des BVerfG statt, vgl. dazu BVerfGE 96, 375 (404 ff.), mit 96,409 ff.
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
C. Funktionell-rechtliche Spielräume des Gesetzgebers Dieser Abschnitt soll klären, inwieweit der funktionell-rechtliche Ansatz 40 dem Gesetzgeber Spielräume eröffnen kann, die zu einer Begrenzung der Grundrechtsinterpretation oder der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz beitragen. Spielräume dienen dem Schutz der Kompetenzen des Gesetzgebers und verstärken seine politische Verantwortlichkeit. Denn im Bereich des Spielraums bleibt es bei der vom Gesetzgeber getroffenen Entscheidung. Insoweit wird durch Spielräume auch die Rolle des politischen Prozesses verstärkt. Zunächst ist zu klären, welche Arten von Spielräumen es gibt und wie sie sich auswirken können (I.). Danach ist auf die unterschiedlichen Begründungen und Konstruktionen einzugehen, mit denen die Literatur zu funktionell-rechtlichen Spielräumen gelangt (II.). Schließlich soll der von der vorliegenden Arbeit befürwortete Ansatz anhand der grundrechtlichen Schutzrechte exemplarisch umgesetzt werden (III.). Nicht alle Aspekte der funktionell-rechtlichen Diskussion können hier behandelt werden. So wird zum Beispiel die funktionell-rechtliche Dimension der unterschiedlichen Entscheidungsformen des BVerfG ausgeblendet41.
I. Begriff und Wirkungsweise des Spielraums Im folgenden werden zunächst die verschiedenen Arten von Spielräumen vorgestellt, von denen diese Arbeit spricht. Man kann strukturelle (1.), funktionale (2.) 4 0 Die Lit. zu den funktionell-rechtlichen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit ist umfangreich. Vgl. etwa Heun, Funktionell-rechtliche Schranken der Verfassungsgerichtsbarkeit, 1992; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 261 ff.; abw. M. Rupp-v. Brünneck u. Simon, in: BVerfGE 39, 1 (68 ff.); Hesse, Funktionelle Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 311 ff.; ders., Die verfassungsgerichtliche Kontrolle der Wahrnehmung grundrechtlicher Schutzpflichten des Gesetzgebers, in: FS Mahrenholz, S. 541 ff.; ders., Grundzüge, Rdnr. 73, 320, 568 ff.; H.-P. Schneider, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gewaltenteilung, NJW 1980, S. 2103 ff.; Schuppert, Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation, 1980; ders., Self-restraints der Rechtsprechung, DVB1. 1988, S. 1191 ff.; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93, insb. Rdnr. 98 ff.; Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 48 ff., 54 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgebung, S. 151 ff., 179 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, insb. S. 88 ff.; K. Vogel, Das Bundesverfassungsgericht und die übrigen Verfassungsorgane, 1988; Dolzer, Verfassungskonkretisierung durch das BVerfG und durch politische Verfassungsorgane, 1982; Philippi, Tatsachenfeststellungen des BVerfG, 1971; Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 1979; Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, 1984; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität", 1989; Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 74 ff., 102. 41 Dazu Schiaich, BVerfG, Rdnr. 343 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 182 ff.; K Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 214 ff.; Heun, Schranken, S. 20 ff.; Gerontas, Die Appellentscheidungen, Sondervotumsappelle und die bloße Unvereinbarkeitsfeststellung als Ausdruck der funktionellen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit, DVB1. 1982, S. 486 ff.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
437
sowie auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen bezogene Spielräume unterscheiden (3.). Sodann ist die Wirkungsweise der Spielräume zu erläutern. Spielräume können je nach Ansatz die Reichweite der grundrechtlichen Anforderung oder aber den Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle reduzieren (4.).
1. Strukturelle
Spielräume
Im Anschluß an Alexy läßt sich als struktureller Spielraum 42 ein Spielraum bezeichnen, der sich für den Gesetzgeber als Ergebnis der Interpretation des jeweiligen Grundrechts ergibt. Strukturelle Spielräume entstehen, wenn und soweit die Verfassung keine weitergehenden grundrechtlichen Anforderungen enthält 43 . Inwieweit dies der Fall ist, muß der Verfassungsinterpret ermitteln. Solche strukturellen Spielräume lassen sich als Gestaltungsspielräume44 auffassen. Von den nachfolgend genannten funktionalen Spielräumen unterscheiden sich strukturelle Spielräume dadurch, daß für ihre Begründung keine funktionalen Erwägungen herangezogen werden. Ein Beispiel für einen strukturellen Spielraum liefert die Kunstfreiheit aus Art. 5 Abs. 3 S. 1 GG, wenn man einer künstlerischen Betätigung, die zugleich Gewalt oder Sachbeschädigung ist, den Grundrechtsschutz versagt. Die Kunstfreiheit enthält dann zwar eine Aussage zu friedlichen Kunstformen, aber keine weitergehenden grundrechtlichen Anforderungen im Hinblick auf ein Verbot gewalttätiger oder schädigender Handlungen durch den Gesetzgeber. Der Gesetzgeber kann diesen Spielraum nutzen, indem er ein Verbot erläßt. Ob sich die Reduktion der grundrechtlichen Anforderung auf der Schutzbereichs- oder auf der Schrankenebene ergibt, ist im vorliegenden Zusammenhang unerheblich. Auch spielt es keine Rolle, ob für das Ergebnis der Interpretation eine Abwägung vorzunehmen ist. Man kann die Auffassung vertreten, daß die verfassungsgerichtliche Kontrolle genau so weit reicht, wie die Grundrechte dies vorgeben. Spielräume des Gesetzgebers sind dann allein eine Folge der Grundrechtsinterpretation. Dies ist der Standpunkt des unten noch näher zu untersuchenden „materiell-rechtlichen" Ansatzes45. 42 Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 423; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 92 ff., 114, 494. 43 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 93. Vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 77, wonach eine Grenze der Verfassungsinterpretation dort liege, „wo keine verbindliche Setzung der Verfassung vorhanden ist". Diese Frage ist zwar wiederum nur im Wege der Interpretation zu beantworten; entscheidend ist aber, daß es nach dieser Ansicht Fragen oder Bereiche geben kann, zu denen keine verfassungsrechtlichen Anforderungen bestehen. 44 Dazu Schiaich, BVerfG, Rdnr. 494. Zur Entwicklung der verfassungsgerichtlichen Terminologie vom „Ermessen" über die „Gestaltungsfreiheit" zum „Gestaltungsspielraum" des Gesetzgebers Stern, in: FS Kriele, S. 419 m. Nachw.; auch H.-R Schneider, NJW 1980, S. 2109 (unter V.2.). 4 5 Siehe unten 5. Kap., C. II. 1.
438
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
2. Funktionale Spielräume Wenn der Spielraum des Gesetzgebers, der zu einer Reduktion der grundrechtlichen Anforderung oder der verfassungsgerichtlichen Kontrolle führt, mit funktionalen Erwägungen begründet wird, spricht die vorliegende Arbeit von einem funktionalen oder gleichbedeutend von einem funktionell-rechtlichen Spielraum. Grundrechtsinterpretation muß nach Ansicht funktionell-rechtlicher Ansätze die grundgesetzliche Gewaltenteilung, Funktionsverteilung und die demokratische Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers miteinbeziehen. Solche funktionalen Erwägungen können dazu führen, daß grundrechtliche Anforderungen abzusenken sind. Zum Beispiel kann eine funktionale Deutung des Demokratie- oder Gewaltenteilungsprinzips verlangen, die Rechtsfolge der grundrechtlichen Schutzrechte zu beschränken. Auch werden aus der Funktion oder der Organstruktur von BVerfG bzw. Gesetzgeber Rückschlüsse auf den Inhalt des Grundrechts gezogen. Ebenso kann man in den genannten Fällen für eine Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle eintreten.
3. Spielräume bei Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen des Gesetzgebers Spielräume des Gesetzgebers können sich darüber hinaus auf unsichere Einschätzungen und Prognosen, aber auch auf Abwägungen beziehen46, die der Gesetzgeber ausdrücklich oder implizit vorgenommen hat. Bei Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen kann es für das BVerfG wie für jeden anderen Verfassungsinterpreten besonders unsicher sein, was das richtige Ergebnis der Grundrechtsinterpretation ist und ob die Anforderungen des Grundrechts erfüllt sind. Einschätzungen und Prognosen beinhalten definitionsgemäß Unsicherheit. Einschätzungen betreffen unsichere tatsächliche Zustände der Gegenwart und Vergangenheit. Prognosen betreffen zukünftige Tatsachen47. In der Regel besteht hier nicht nur Unsicherheit hinsichtlich der empirischen Grundlage der Einschätzung bzw. Prognose, sondern auch normative Unsicherheit im Hinblick auf die verfassungsrechtliche Anforderung 48. Zum Beispiel ist fraglich, ob aus der Sicht der Schutzpflicht für das ungeborene Leben eine bestimmte Wahrscheinlichkeit ge46 Zum Abwägungsspielraum vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 423; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 475 ff. 47 Zur Abgrenzung von Einschätzungen und Prognosen K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 169 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 115 ff., der ibid., S. 53, 113, 114 f., unsichere empirische Prämissen als Gegenstand des Einschätzungsspielraums bezeichnet. 48 Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 183. Einschätzungs- und Prognosespielraum knüpfen zwar an Wahrscheinlichkeitsurteile über Tatsachen an. Ob und in welchem Umfang diese Spielräume bestehen, ist aber stets eine normative Frage. Dies gilt insbesondere für den Wahrscheinlichkeitsgrad, der im Rahmen einer Tatsachenfeststellung oder -Prognose aus grundrechtlicher Sicht ausreichend ist.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
439
nügt, daß die Beratungslösung zu einem Rückgang der Abtreibungen führen wird. Abwägungen sind in der Regel insofern unsicher, als mehrere Ergebnisse rational vertretbar sind. Hier steht also die normative Unsicherheit im Vordergrund. In dieser Situation der Ungewißheit kommt einem vorgängigen Handeln des Gesetzgebers besonderes Gewicht zu, weil eine demokratisch legitimierte Entscheidung, ein sorgfältiges Verfahren oder sogar ein rationaler Erkenntnisakt vorliegen mag, an die der verfassungsrechtliche Spielraum hinsichtlich der Beurteilung der faktischen oder rechtlichen Lage anknüpfen kann. Damit kann das Ergebnis der verfassungsgerichtlichen Prüfung davon abhängen, wie der Gesetzgeber im konkreten Fall entschieden hat oder wie er verfahren ist.
4. Wirkungsweise
der Spielräume
Uber das Bestehen und den Umfang aller Spielräume entscheidet stets das BVerfG nach Maßgabe objektiven Verfassungsrechts. Deshalb wäre es ein Mißverständnis, bei den hier angesprochenen Spielräumen von einem Zurückweichen des Verfassungsgerichts vor der Politik zu sprechen. Es macht jedoch durchaus einen dogmatischen Unterschied, ob man den Spielraum des Gesetzgebers auf der Ebene des materiellen Rechts oder im Bereich der Justiziabilität umsetzt. Man kann durch den Spielraum die grundrechtliche Anforderung reduzieren. Soweit die grundrechtliche Anforderung reicht, wird sie vom Verfassungsgericht auch kontrolliert. Dieser Fall soll im Anschluß an die Terminologie Raabes als „Konvergenzlösung" bezeichnet werden 49. In ihr sind die Reichweite des Grundrechts und der Umfang der verfassungsgerichtlichen Kontrolle identisch, anders gesagt: sie konvergieren. Andererseits kann man mit Hilfe des Spielraums allein die verfassungsgerichtliche Kontrolle reduzieren, so daß die materiell-rechtliche Grundrechtsposition und die verfassungsgerichtliche Kontrolle auseinanderfallen. In dieser „Divergenzlösung" ist das Grundrecht strenger als die verfassungsgerichtliche Kontrolle. Die von Raabe herausgearbeitete Differenzierung ist grundsätzlich sinnvoll, weil sie erlaubt, die genaue Wirkungsweise eines funktionalen Ansatzes zu analysieren. Allerdings ist die praktische Bedeutung der Kontroverse begrenzt, weil beide Lösungen zum gleichen Ergebnis gelangen. Welcher Lösung die vorliegende Arbeit zuneigt, soll erst in der Auseinandersetzung mit konkreten funktionalen Ansätzen geklärt werden 50. IL Begründung und Konstruktion von Spielräumen Man kann Spielräume des Gesetzgebers ausschließlich als materiell-rechtliche Folge der Grundrechtsinterpretation auffassen (1.). Umgekehrt kann man in erster Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 147 ff. 50 Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. a) cc) und dd).
440
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Linie funktionell-rechtlich argumentieren, um grundrechtliche Anforderungen oder die verfassungsgerichtliche Kontrolle einzuschränken (2.). Schließlich lassen sich materielle und funktionale Aspekte der Grundrechtsinterpretation und -kontrolle in einer Synthese verbinden, wie dies vermittelnde Ansätze versuchen (3.).
L Materiell-rechtlicher
Ansatz
Für den materiell-rechtlichen Ansatz ergeben sich Spielräume des Gesetzgebers allein aus der Interpretation der Grundrechte 51. So meint etwa Schiaich, daß sich der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers sowie die Kontrolldichte bei Prognoseentscheidungen und Tatsachenfeststellungen allein nach den Anforderungen des materiellen Rechts richten würden 52 . Für Simon hängt die Intensität der Überprüfung vom Bestimmtheitsgrad der verfassungsrechtlichen Vorschrift und vom Gewicht der Maßnahme für den Betroffenen ab 53 . Damit wird im materiellen Ansatz die Kontrolldichte nach der Regelungsdichte der grundrechtlichen Norm bestimmt 54 . Zu einem materiell-rechtlichen Ansatz führt es auch, wenn man wie Böckenförde den funktionell-rechtlichen Ansatz an sich ablehnt55. Auch im materiell-rechtlichen Ansatz können sich Spielräume von beträchtlichem Umfang ergeben. So wird dem Gesetzgeber beim allgemeinen Gleichheitssatz, bei der Berufsfreiheit und der Eigentumsgarantie ein erheblicher Spielraum zugestanden56. Für „allgemein gehaltene Verfassungspostulate", zu denen Simon auch die objektive Dimension der Grundrechte zählt, gelte eine auf evidente Mißachtung reduzierte Kontrolldichte 57 . Da der materiell-rechtliche Ansatz durch eine 51 Dieser Ansatz betont die Gerichtsqualität des BVerfG und ordnet das Verfassungsgericht allein der Judikative zu. Vgl. die Darstellung bei K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 54 ff. 52 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 469 a.E., 494 f., 501 f. Vgl. auch H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 495 f. m. Fn. 93. Auch Heun, Schranken, S. 31 ff., 38 f., 84 (m. nachf. Zitat), hält die Abstufung der Kontrolldichte für allein materiell-rechtlich gesteuert: „Die Abgrenzung der Kompetenzen zwischen dem Bundesverfassungsgericht und den kontrollierten Staatsorganen erfolgt praktisch ausschließlich mit Hilfe materiell-rechtlicher Argumente." Im Hinblick auf die objektive Dimension der Grundrechte argumentiert Heun jedoch funktionell-rechtlich, vgl. ibid., S. 53 ff., 84.
53 Vgl. Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 57. 54 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 501 f. (nachf. Zitat in Rdnr. 502): „Das BVerfG bestimmt seine jeweilige Kontrolldichte nach dem jeweiligen materiellen Recht." Vgl. auch Heun, Schranken, S. 37, 39; sowie Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 143,146 f., der jedoch auch funktionell-rechtlich argumentiert (vgl. ibid., S. 91). Beschreibend K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 56 f. 55 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 27, der jedoch eine begrenzte „Einschätzungsprärogative des Gesetzgebers" sowie einen begrenzten „Beurteilungsspielraum bei der Anwendung unbestimmter Verfassungsbegriffe" zulassen will. 56 Vgl. etwa Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 37 ff., 46 ff. 57 Vgl. Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 58 f.; H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 495.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
441
Reduktion der grundrechtlichen Anforderung strukturelle Spielräume erzeugt, folgt er der Konvergenzlösung. Die Abstufung der gerichtlichen Kontrolle, von der vielfach die Rede ist, ergibt sich hier lediglich als Reflex aus den abgestuften grundrechtlichen Anforderungen. Der materiell-rechtliche Ansatz geht zu Recht davon aus, daß im Bereich der Abwehrgrundrechte die Schutzbedürftigkeit der betroffenen Freiheitsinteressen regelmäßig nach intensiver Kontrolle ruft. Selbst Hesse als Vertreter des funktionellrechtlichen Ansatzes stellt in diesem Zusammenhang den Grundsatz auf, daß das Verfassungsgericht umso intensiver prüfen müsse, je mehr ein Akt öffentlicher Gewalt grundrechtliche Schutzgüter treffe 58 . Denn das Verfassungsgericht habe die Verfassung und insbesondere die Grundrechte zu wahren 59. Funktionell-rechtliche Ansätze bestreiten deshalb in der Regel nicht, daß materiale Erwägungen die wichtigste Rolle spielen, wenn über den Umfang des Spielraums entschieden wird. Sie kritisieren lediglich die Beschränkung auf den grundrechtlichen Aspekt. Gegen den materiell-rechtlichen Ansatz läßt sich jedoch einwenden, daß aus seiner Perspektive die verfassungsgerichtliche Interpretationskompetenz, die von der Verfassung verliehen, in ihrer Reichweite aber offen ist 6 0 , nicht oder nur ungenügend thematisiert werden kann. Der Verfassungsinterpret hat es mit der Methodik weitgehend in der Hand, wie weit er die Norm konkretisiert oder offen läßt 61 . Der materiell-rechtliche Ansatz kann diesen Aspekt der Verfassungsrechtsprechung nicht erfassen und setzt sich so tendenziell zu ihrer Begrenzung außerstande. Zu Recht betont dagegen Schuppert, daß „jedwede Verfassungsinterpretation, insbesondere jede Auswahlentscheidung unter verschiedenen Methoden der Verfassungsinterpretation, eine funktionell-rechtliche Dimension" habe62. Dieser Einwand spricht dafür, in die Verfassungsinterpretation auch funktionell-rechtliche Aspekte einfließen zu lassen63. Eine rein materiell-rechtliche Interpretation will alle Fragen der Konkretisierung allein aus den Grundrechten heraus beantworten. Ob und inwieweit dem Gesetzgeber ein Spielraum zusteht, soll sich allein aus der Interpretation der Grundrechte ergeben. Damit tendiert dieser Ansatz dazu, Grundrechte als geschlossenes und von den übrigen Verfassungsnormen abgeschottetes System zu behandeln64. Ein solcher Grundrechtsmonismus ist im Hinblick auf die Einheit der Verfassung be58
Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 316. 59 Vgl. ibid. 60 Vgl. Brenner, AöR 120 (1995), S. 256 f.; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 62. 61 Siehe oben 1. Kap., B. 62 Schuppert, DVB1. 1988, S. 1197. Vgl. ferner Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 95; Haltern, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 223 f. 63 Vgl. auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 95: ,,[D]ie Auslegung des materiellen Verfassungsrechts allein [ist] nicht ausreichend zur Bestimmung der Kontrollkompetenzen des Bundesverfassungsgerichts." 64 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 300 ff.
442
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
denklich. Nach diesem Grundsatz müssen alle Teile der Verfassung zueinander in Beziehung gesetzt werden. Zum Regel-Prinzipien-Modell wurde bereits dargelegt, daß Grundrechte in der Verfassung auf gegenläufige Prinzipien stoßen, durch die sie begrenzt werden 65. Das Prinzip der Gewaltenteilung und das Demokratieprinzip sind in diesem Modell nicht lediglich Prinzipien des Staatsorganisationsrechts; vielmehr tragen sie auch zur Beschränkung der Grundrechtsinterpretation bei. Weitere Bedenken ergeben sich daraus, daß der materiell-rechtliche Ansatz auf den Begriff der Regelungsdichte abstellt66. Da Texte keine vorfindlichen und feststehenden Bedeutungen haben67, ist eine hohe Regelungsdichte jedenfalls im Bereich der offenen und weiten Grundrechtsnormen nicht nachweisbar 68. Abwehrgrundrechte sind Gegenstand intensiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle, weil die grundrechtliche Freiheit des einzelnen in der Verfassungsordnung besonders wichtig ist (vgl. Art. 1 Abs. 3 GG) und weil ihr Schutz eine zentrale und unbestrittene Funktion des BVerfG ist. Mit einer in sprachtheoretischer Hinsicht fiktiven Regelungsdichte hat dies nichts zu tun. Im wesentlichen nimmt der Verfassungsinterpret die „Verdichtung" von offenen und weiten Grundrechtsnormen durch die Konkretisierung selbst vor. Mit jeder neuen Konkretisierung erhöht sich die Dichte der jeweiligen Grundrechtsbedeutung. Vor allem die verfassungsgerichtliche Konkretisierung kann der Interpret schlechterdings nicht ignorieren, wenn er wissen will, was zur Bedeutung einer bestimmten Grundrechtsnorm gehört. Für diese Sichtweise muß man dem BVerfG keineswegs eine Kompetenz zur Setzung von Verfassungsrecht bzw. verfassungsgebende Gewalt zusprechen69. Wenn die Interpretation der Norm zur Verdichtung ihrer Bedeutung beiträgt, macht es im Bereich der Grundrechte keinen Sinn, die Regelungsdichte als Maßstab für die gerichtliche Kontrolle heranzuziehen70. Wann der Interpret den Interpretationsvorgang für abgeschlossen erklärt bzw. die Verdichtung anhält, wird von methodischen und verfassungstheoretischen Überlegungen sowie von persönlichen Vorverständnissen, nicht aber von der sprachlichen „Dichte" der Bestimmung gesteuert. Die Verwendung des Begriffs der Regelungsdichte erscheint überhaupt nur dann vertretbar, wenn damit die sprachliche Ausführlichkeit einer Bestimmung gemeint 65 Siehe oben 2. Kap., F. I. 66 Dazu Brenner, AöR 120 (1995), S. 254 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 146 f. 67 Siehe oben 3. Kap., B. I. 68 Anders Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 146: „Die grundgesetzlichen Eingriffs verböte weisen eine vergleichsweise hohe Regelungsdichte auf." 69 Siehe oben 1. Kap., B.II. 70 Damit soll nicht behauptet werden, daß die Verfassung in dem Sinne „lückenlos" sei, daß ihr für alle Fragen des staatlichen und gesellschaftlichen Lebens im Wege der Interpretation verfassungsrechtliche Anforderungen entnommen werden könnten. Zum Problem Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 93 ff., 139 ff. Vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 21; Kriele, Theorie der Rechtsgewinnung, S. 196 f.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
443
ist 71 . Eine sprachlich ausführliche Bestimmung kann womöglich mit einer hohen Regelungsdichte einhergehen. Jedoch sind im Bereich der Grundrechte vorwiegend sprachlich knappe („lapidare") Bestimmungen Gegenstand intensiver Konkretisierung und intensiver verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Man darf also nicht von geringer Regelungsdichte im Sinne von sprachlicher Knappheit auf eine reduzierte gerichtliche Kontrolldichte oder -intensität schließen72. Deshalb sollte man den Begriff der Regelungsdichte nicht im Sinne einer vorfindlichen Dichte der grundrechtlichen Normierung benutzen, weil es eine solche Dichte als feste sprachliche Bezugsgröße nicht gibt. Darüber hinaus sollte man den Begriff auch nicht im Sinne von sprachlicher Ausführlichkeit auffassen, weil dies zu Mißverständnissen Anlaß gibt 73 . Im Ergebnis ist das Problem der verfassungsgerichtlichen Grenzen durch eine rein grundrechtliche Betrachtungsweise nicht angemessen zu lösen. Dies gilt auch für die Figur der Regelungsdichte einer grundrechtlichen Norm. Der materiell-rechtliche Ansatz genügt nicht, um Spielräume des Gesetzgebers zu begründen 74
2. Funktionell-rechtliche
Ansätze
Funktionell-rechtliche Ansätze75 richten den Blick auf die Funktions- und Kompetenzordnung, weil „angesichts der Weite und Offenheit der Verfassungsnormen die Bindung des Verfassungsrichters an das Gesetz zur Bestimmung der Grenzen seiner Tätigkeit nicht ausreicht" 76. Da funktionale Erwägungen die Interpretation und Kontrolle der Grundrechte begrenzen sollen, wird ihnen insoweit ein Vorrang vor grundrechtlichen Erwägungen eingeräumt. Damit beschränkt ein funktionaler Spielraum im Ergebnis Grundrechte 77. Inwieweit diese Beschränkung zulässig sein 71
Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 71. Vgl. auch Brenner, AöR 120 (1995), S. 258 ff., zum Zusammenhang von „technischem" Verfassungsrecht und Uberprüfungsdichte des BVerfG. 73 Erinnert sei in diesem Zusammenhang an die meines Erachtens nicht überzeugenden Versuche, „spezifisches" Verfassungsrecht zu ermitteln, siehe oben 1. Teil, 4. Kap., A. II. 2. 74 Selbst Schiaich, BVerfG, Rdnr. 489, als ein Vertreter des materiell-rechtlichen Ansatzes erkennt über „Gerichtsförmigkeit" und „Maßstabsgebundenheit" hinaus ein „Bedürfnis nach weiteren Kompetenzkriterien" an, um die Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit zu bestimmen. 75 Zum Begriff Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 262 ff. 7 * K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 33. Vgl. auch H.-R Schneider, NJW 1980, S. 2104: „Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit sind schließlich nicht zu bestimmen aus dem Blickwinkel der juristischen Methode." 77 Besonders deutlich Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 427, der (Prognose-) Spielräume im Ergebnis für eine Schrankensetzungskompetenz des Gesetzgebers hält. Dazu unten 5. Kap., C. II. 3. b) aa). 72
444
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
soll, kann man nur sagen, wenn man die grundrechtliche Ebene einbezieht78. Deshalb wäre ein ausschließlich funktionell-rechtlicher Ansatz unzulässig, der gegenüber seinen materiell-rechtlichen Folgewirkungen blind ist. Charakteristisch für die folgenden Ansätze ist, daß sie bei der Funktion des BVerfG ansetzen, um eine Begrenzung gerichtlicher Kontrollbefugnisse oder der Grundrechtsinterpretation vorzunehmen. Dabei geht es nicht darum, aus einer abstrakt definierten Funktion Rechtsfolgen abzuleiten79. Es besteht keine Autonomie der Funktion, vielmehr ist die Funktion im Wege der Interpretation aus der Verfassung zu gewinnen80. Als Ausgangspunkt des funktionell-rechtlichen Ansatzes kann man das grundgesetzliche Prinzip der Gewaltenteilung sehen (aa]). Dieses Prinzip erhält schärfere Konturen, wenn man das BVerfG im Gefüge der Staatsfunktionen auf die Kontrolle des Gesetzgebers (bb]) oder auf kassatorische Entscheidungen beschränkt sieht (cc]). Ein weiterer Ansatz stellt dagegen weder auf die verfassungsmäßige Funktion des BVerfG noch auf Verfassungsstrukturprinzipien, sondern vielmehr auf die verfassungsgerichtliche Organstruktur ab (dd]>.
a) Gewaltenteilung als Funktionsverteilung Die gewaltenteilende Unterscheidung zwischen Verfassungsgericht und Gesetzgeber ist zum einen organisationsrechtlich relevant und bildet zum anderen den Grundstein des funktionalen Ansatzes81. Demgegenüber meint Schiaich, daß der Gesichtspunkt der Gewaltenteilung eine abstrakte Leitlinie sei und inhaltlich nicht über die Gerichtsförmigkeit der Verfassungsgerichtsbarkeit hinausgehe82. Aus dem Prinzip der Gewaltenteilung läßt sich ein Feinmaßstab für die Kompetenzabgrenzung in der Tat nicht gewinnen83. Mit der Gerichtsförmigkeit des BVerfG ist aber nur die organisationsrechtliche Seite der Gewaltenteilung angesprochen. Die funktionale Seite der grundgesetzlichen Gewaltenteilung weist beiden Verfassungsorganen unterschiedliche staatliche Aufgaben bzw. Funktionen zu 8 4 . Allerdings muß die Unterscheidung zwischen der Rechtsprechungs- und der Gesetzgebungsfunk-
78 Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 57 f., warnt zu Recht davor, funktionelle Ansätze von einer materialen Verfassungstheorie abzulösen. Vgl. auch ibid., S. 58 Fn. 67, wo auf die Kontroverse um Ely Bezug genommen wird. 79 Kritisch zum Begriff der Funktion Lecheler, NJW 1979, S. 2273 ff.; Roellecke, in: HStR, § 53 Rdnr. 35. 80
Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 116. Gewaltenteilung im Sinne von Art. 20 Abs. 2 S. 2 GG darf dabei nicht als überpositives Prinzip verstanden werden. Vgl. dazu Hesse, Grundzüge, Rdnr. 477, 481; Rinken, in: AKGG, vor Art. 93 Rdnr. 86; Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium des Rechts II, S. 99. 82 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 477. 81
83 Vgl. Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 189; Stern, in: FS Kriele, S. 429. 84 Vgl. darstellend Heun, Schranken, S. 13.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation445
tion mit Hilfe von Kriterien ausdifferenziert werden, um zu einer konkreten Begrenzung des Verfassungsgerichts beitragen zu können.
b) Beschränkung des BVerfG auf Kontrolle Für den funktionell-rechtlichen Ansatz übt das BVerfG eine Doppelfunktion aus, weil es nicht nur Gericht, sondern auch Verfassungsorgan sei 85 , soweit es durch gerichtsförmige Streitentscheidung an der Staatsleitung teilnehme. Als Verfassungsorgan steht das BVerfG mit dem Gesetzgeber auf einer Stufe, was den Weg für eine funktionale Kompetenzabgrenzung freimacht, die das BVerfG in das Gefüge der Staatsfunktionen einordnet. Dabei werden den Verfassungsorganen polarisierte Funktionen zugewiesen, wenn es heißt, daß der Gesetzgeber gestalten und das BVerfG kontrollieren solle 86 . Die Gestaltungsfunktion wird als Ausfluß des Demokratieprinzips verstanden 87. Die Kontrollfunktion rekurriert auf die Gerichtsförmigkeit des BVerfG, der insoweit ein funktionell-rechtlicher Gehalt zukommt 88 . Ziel dieser Funktionsbestimmung ist es, dem Gesetzgeber einen eigenverantwortlichen Tätigkeitsbereich zu sichern. Freilich ist die Kontrollfunktion als eine Ausprägung des Gewaltenteilungsprinzips zunächst konturenlos 89, auch wenn sie allgemein anerkannt ist 9 0 Man kann die Kontrollfunktion so formulieren, daß das BVerfG die Einschätzungen, Prognosen, Abwägungen und Konkretisierungen des Gesetzgebers nicht durch eigenes Handeln zu ersetzen, sondern lediglich nachzuprüfen habe91. Dieser Satz führt jedoch nicht weiter, weil er die entscheidende Frage des Kontrollmaßstabs offen läßt. Nicht zu verkennen ist schließlich, daß jede Grundrechtskontrolle schon deshalb weitreichende Gestaltungswirkungen beinhaltet, weil sie die Verfassung kon85
Im einfachen Recht wird die Verfassungsorganqualität des BVerfG in § 1 Abs. 1 B VerfGG anerkannt, der jedoch den Inhalt der Verfassung nur konkretisieren, nicht aber ändern kann. 86 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 553; eingehend K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 79 ff., 109 ff., der jedoch neben der funktionalen Stellung des BVerfG zusätzlich die Organstruktur berücksichtigt, vgl. ibid., S. 76 ff., 97 ff. Siehe dazu unten 5. Kap., C. II. 2. d). Zur Kontrollfunktion vgl. Meyn, Kontrolle als Verfassungsprinzip, 1982; Krebs, Kontrolle in staatlichen Entscheidungsprozessen, S. 4 ff. 87 Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 111 f., für den aus dem Demokratieprinzip „ein Vorrang des pluralistischen Prozesses bei der Gestaltung des politischen und sozialen Lebens" folgt (ibid., S. 112). 88 Vgl. vom materiell-rechtlichen Standpunkt aus Schiaich, BVerfG, Rdnr. 474 ff. 89 Ahnlich K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 109. 90 Vgl. Stern, in: FS Kriele, S. 415.
91 Schon für Ehmke, VVDStRL 20 (1963), S. 69, soll das Verfassungsgericht aufgrund seiner kontrollierenden Funktion nur prüfen, „ob das Gesetz noch mit der Verfassung vereinbar ist, nicht, ob es von der Verfassung her gesehen die bestmögliche oder aber auch nur eine gute Lösung darstellt."
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
kretisiert. Deshalb sind Kontrolle und Gestaltung mit methodischen Mitteln nicht immer eindeutig zu trennen. Dies widerlegt nicht den Nutzen der Unterscheidung an sich, läßt aber Bedarf für eine dogmatische Umsetzung erkennen. Es würde zu weit führen, hier auf alle funktionell-rechtlichen Konzeptionen zur Kontrollfunktion eingehen zu wollen. Deshalb bietet sich ein exemplarisches Vorgehen an. Hier sei die Untersuchung von Kurt Vogel herausgegriffen, die sich wie die vorliegende Arbeit mit den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit befaßt und dabei zu einer weitreichenden Reduktion verfassungsgerichtlicher Kontrolle gelangt. Vogel will die eigenverantwortliche Gestaltung des Gesetzgebers schützen, indem er dessen „Konkretisierungsprimat" mit einem „System abgestufter Gestaltungsspielräume" umhegt92. Die verfassungsgerichtliche Kontrolle soll sich im Bereich der Freiheitsgrundrechte am „System der Eingriffsvorbehalte" orientieren, das eine implizite FunktionsVerteilung enthalte93. Für Grundrechte unter Ausgestaltungs- und Regelungsvorbehalt soll dies zu weiten Spielräumen des Gesetzgebers, bei Eingriffsvorbehalten zu verengten und bei vorbehaltlosen Grundrechte zu weitgehend eingeschränkten Spielräumen führen 94. Für gesetzgeberische Einschätzungen und Prognosen, bei denen an eine konkrete Entscheidung des Gesetzgebers angeknüpft wird, schlägt Vogel vor, die Tatsachenbasis einer abgestuften Kontrolle zu unterziehen, die sich wiederum an den grundrechtlichen Gesetzesvorbehalten orientieren soll 95 . Für die Wertungen, die der Gesetzgeber anhand dieser Tatsachenbasis im Zuge von Einschätzungen und Prognosen trifft, empfiehlt er einen generellen Rückzug auf Evidenzkontrolle. Das BVerfG dürfe nur nachprüfen, ob die Wertung eindeutig der Verfassung widerspreche 96 Gegenüber dem Vorschlag Vogels, die Kontrollintensität mit Hilfe des „Systems" der grundrechtlichen Gesetzesvorbehalte abzustufen, bestehen jedoch Bedenken. Die von Vogel selbst geführte Diskussion ist hier nicht im einzelnen zu wiederholen 97. Der entscheidende Einwand gegenüber diesem Ansatz ist meines Erachtens, daß die Gesetzesvorbehalte zu wenig über die Bedeutung und Wichtigkeit von Grundrechten aussagen98, als daß man mit ihnen eine Abstufung der ver92
K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 143. 93 Vgl. ibid., S. 154 ff. (Zitat auf S. 154). Vogel sieht „ein [ . . . 1 System der Kompetenzverteilung in der Schrankensystematik der Freiheitsgrundrechte reflektorisch mitgeregelt" {ibid., S. 118, ähnlich S. 157). 94 Vgl. ibid., S. 156. Dabei soll es sich zudem um eine „gleitende Skala" handeln. Der Größe des jeweiligen Spielraums entspricht die verfassungsgerichtliche Kontrollintensität. 9 5 Vgl. ibid., S. 194 f. 9 6 Vgl. ibid., S. 209 f. 97 Vgl. ibid., S. 156 ff., zu den Einwänden einer fehlenden Schrankensystematik sowie der mangelnden Relevanz grundrechtlicher Gesetzesvorbehalte im funktionalen Kontext. 98 Vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 316. Anders K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 152 ff., demzufolge man Werturteile über die Bedeutung und Wichtigkeit von Grundrechten nur dann rational fällen kann, wenn man eine „Wertrangordnung" {ibid., S. 153) der
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fassungsgerichtlichen Kontrollintensität verbinden könnte. So ist zum Beispiel beim Grundrecht auf Leben (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) trotz des einfachen Gesetzesvorbehalts (Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG) eine generell reduzierte Prüfungsintensität nicht zu rechtfertigen, weil das Leben als Grundlage und Voraussetzung" für alle übrigen grundrechtlichen Freiheiten von überragender Bedeutung ist. Damit ist weiterhin offen, ob und wie sich die Kontrollfunktion des BVerfG dogmatisch umsetzen läßt.
c) Beschränkung des BVerfG auf Kassation (Heun) Eine spezielle Ausprägung der Kontrollfunktion stellt es dar, wenn man das BVerfG mit Heun grundsätzlich auf kassatorische Entscheidungen beschränkt 100. Dies berührt zum Beispiel die Frage, ob das BVerfG gegenüber dem Gesetzgeber grundrechtliche Handlungsanforderungen - etwa aus Schutzrechten - aussprechen darf. Heun lehnt die Leistungs- und Schutzdimension der Grundrechte aus funktionell-rechtlichen Überlegungen ab 1 0 1 . Er gelangt so zu einem funktionalen Spielraum, der die inhaltliche Reichweite und Wirkung der Grundrechte reduziert, so daß eine Konvergenzlösung entsteht. An der von Heun befürworteten Beschränkung des BVerfG auf Kassation läßt sich Kritik üben. Es wurde schon gesagt, daß selbst die abwehrrechtliche Grundrechtskontrolle der Sache nach nicht auf Kassation beschränkt ist, weil das BVerfG das geltende Verfassungsrecht durch seine Konkretisierung entscheidend prägt und im übrigen auch mit negativen Vorgaben tief in die Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers eingreift 102 . Darüber hinaus stößt es auf Bedenken, der abstrakten Funktionszuschreibung der Kassation absoluten Vorrang vor grundrechtlichen Erwägungen einzuräumen. Die zur Verteidigung der objektiven Dimension gegen Böckenförde angeführten Gründe überwiegen meines Erachtens die gegen sie sprechenden funktionalen Bedenken insofern, als ein schlichter Verzicht auf die objektiven Grundrechts Wirkungen unangemessen ist 1 0 3 . Im Interesse eines flexiblen und wirksamen Grundrechtsschutzes ist es vielmehr geboten, an der objektiven Dimension der Grundrechte grundsätzlich festzuhalten. Dies schließt Spielräume des Gesetzgebers bei der Umsetzung der objektiven Grundrechtswirkungen nicht aus. Im Grundrechte aufstelle. Eine solche Rangfolge lasse sich jedoch nicht überzeugend begründen. Das Regel-Prinzipien-Modell erfordert aber für die Begründung einer konkreten Vörrangrelation keine Rangordnung, sondern lediglich eine rationale Begründung für ein komparatives Werturteil. Siehe dazu oben 2. Kap., F. I., IV. (3). 99 Zu diesem Argument Kriele, in: HStR, § 110 Rdnr. 38. 100 Vgl. Heun, Schranken, S. 13,59, 67 f.; ders., AöR 116 (1991), S. 208. 101 Vgl. Heun, Schranken, S. 53 f., 66 ff., 84. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozialwissenschaften im Studium a u c h des Rechts II, S. 99. 102 V g l .
103 Siehe oben 4. Kap., C. II. 4., III.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Ergebnis kann dem Vorschlag von Heun, das BVerfG auf eine kassatorische Funktion zu beschränken, nicht gefolgt werden. d) Beschränkung des BVerfG durch die Organstruktur (Rinken) aa) Darstellung Kontrolle und Kassation lassen sich als normativ angeordnete Funktionen eines Verfassungsgerichts auffassen. Eine diesem Ansatz entgegengesetzte Perspektive wählt, wer nicht abstrakt und „from the top down" auf die durch Verfassungsprinzipien angeordnete Funktionsverteilung abstellt, sondern „from the bottom up" auf grundgesetzlich vorgesehene Eigenschaften, Arbeitsweisen und Strukturen zugreift, um daraus Rückschlüsse auf die Funktion und die Kompetenz, die die Verfassung diesem Organ zugewiesen haben muß, zu ziehen. So geht etwa Alfred Rinken davon aus, daß der Legitimationszusammenhang von „Funktionszuweisung, Organkompetenz und Organstruktur" von der Verfassung „für die verschiedenen Funktionsbereiche zumindest 'im Kern' in jeweils spezifischer Weise funktionsgerecht ausgestaltet" sei und daher auch tatsächlich Legitimation vermittle 104 : „Im Zweifel ist das Organ zur Entscheidung legitimiert, das der Entscheidung strukturell am nächsten steht." 105 Jedes Verfassungsorgan ist also von der Verfassung seiner Funktion gemäß ausgestattet worden. Deshalb läßt sich von der Organstruktur zurück auf die verfassungsgerichtliche Kompetenz schließen106. Wenn sich damit ein „Element des Könnens" in den Vordergrund schiebt 107 , so bezieht sich dies auf die in der Verfassung normativ angelegte Organstruktur, nicht dagegen auf bloße Faktizität. Voraussetzung einer so begründeten Kompetenzverteilung ist, daß die Tätigkeit der von der Abgrenzung betroffenen Verfassungsorgane inhaltlich vergleichbar ist. Denn wenn Verfassungsrechtsprechung und Gesetzgebung keinerlei Gemeinsamkeiten hätten, würde auch ein Vergleich der Strukturen beider Verfassungsorgane nichts zur Abgrenzung beitragen können. In der Tat schreibt Rinken der verfassungsgerichtlichen Spruchtätigkeit rechtsetzenden Charakter zu, weil Rechtsanwendung im Sinne eines weitgehend determinierten Gesetzesvollzugs nicht möglich sei 1 0 8 . Er erkennt jedoch qualitative Unterschiede zwischen dem judikativen und dem legislativen Entscheidungsprozeß durchaus an. Diese ergeben sich für ihn etwa aus der Gesetzesbindung, der nur die gerichtliche Entscheidung unterliegt 109 . 104 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 99. i° 5 Ibid. (Nachw. weggelassen) 106 Vgl. a u c h K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 77 f., 83 (m. nachf. Zitat): ,,[E]ine bestimmte von der Verfassung vorgegebene Struktur beding[t] ihrerseits bestimmte Funktionen." 107 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 101. los Vgl. ibid., Rdnr. 94 f. 109 Vgl. ibid., Rdnr. 102 ff. (104).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Die teilweise Parallelisierung von Rechtsanwendung und -Setzung macht nun den Weg frei, die „strukturelle Leistungsfähigkeit eines Entscheidungsträgers" zu berücksichtigen 110. Soweit Gesetzgeber und BVerfG beide normsetzend tätig sind, liegt es in Zweifelsfällen nahe, darauf abzustellen, „was der Richter besser, zutreffender, rationaler, empirischer, neben oder anstelle des Gesetzgebers kann oder auch nicht kann." 111 Als funktionales Abgrenzungskriterium wird die Organstruktur auch von Christoph Gusy und Kurt Vogel eingesetzt, wobei die einzelnen organstrukturellen Elemente jeweils unterschiedlich gewichtet werden 112 . Vogel nennt als Teile der „gerichtsförmigen Organstruktur das Initiativverbot, die Beschränkung auf die ex post-Beurteilung vorgeprägter Sachverhalte sowie die eingeschränkten Möglichkeiten der Informationsgewinnung und der Entscheidungskorrektur." 113 Rinken analysiert die Struktur des judikativen Entscheidungsprozesses und kommt so zu dem Ergebnis, daß das BVerfG zum justiziellen Legitimationstyp gehöre 114 . Die Legitimation gerichtlichen Handelns beruht für ihn vor allem auf „Gesetzesbindung, Unabhängigkeit, Unparteilichkeit, Passivität und Fallbezogenheit"115. Im Unterschied zum materiell-rechtlichen Ansatz, in dem es bei einer Deskription der Gerichtsförmigkeit bleibt 116 , werden nunmehr aus den organstrukturellen Topoi normative Schlüsse gezogen. Die Kompetenz des BVerfG ist nach diesem Ansatz zu begrenzen, wenn für den in Rede stehenden Handlungsbereich die legitimatorische Wirkung aufgrund der Organstruktur nicht besteht oder nicht ausreicht 117. Mit der justiziellen Legitimationsstruktur seien etwa bestimmte „Ausweitung[en] des Kontrollbereichs durch Dehnung des Kontrollmaßstabes" womöglich unvereinbar 118 . Dies läßt sich auf die objektiv-rechtliche Dimension der Grundrechte beziehen 119 . Als Konsequenz aus diesem Befund käme ein Verzicht auf die objektive Dimension der Grundrechte oder ein Rückzug auf Evidenzkontrolle in Frage. 110 Ibid., Rdnr. 100. in Zitat bei Schiaich, BVerfG, Rdnr. 485. 112 Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 91; K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 76 ff., 83 f., 97 ff. Vgl. auch Zimmer, Funktion - Kompetenz - Legitimation, 1979. 113 Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 97 ff. (Zitat auf S. 108 f.), der daneben auch mit der Kontrollfunktion des BVerfG argumentiert, wie dies bereits dargestellt wurde. Siehe oben 5. Kap., C. II. 2. b). 114 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 102, 104 f. 115 Ibid., Rdnr. 104. 116 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 476. 117 Vgl. insoweit auch H.-P. Schneider, NJW 1980, 2105: Ein Organ dürfe keine Funktion wahrnehmen, die seiner Struktur nicht entspreche. HS Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 109. ii9 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 109 a. A. Im Bereich der Grundrechte betont Rinken, ibid., Rdnr. 110, den „Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers", während das BVerfG nur als „negativer Gesetzgeber" die „Grenze des Unabstimmbaren kontrollieren" dürfe. Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
bb) Kritik Gegen die normative Berücksichtigung der Organstruktur sind Einwände erhoben worden 120 . So mahnt Schiaich zur Vorsicht bei Rückschlüssen vom Sein auf das Sollen verfassungsgerichtlicher Tätigkeit 121 . Ein Sein-Sollen-Fehlschluß ergibt sich jedoch nur, wenn kein vertretbarer verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt besteht, um verfassungsgerichtliches Können zu berücksichtigen 122. Dies ist jedoch nicht der Fall, wie die Erwägungen zum Zusammenhang von Organstruktur, Funktion, Kompetenz und Legitimation gezeigt haben 123 . Kritik läßt sich auch an der Parallelisierung von Rechtsanwendung und Rechtsetzung üben 124 . Es ist nicht zu verkennen, daß die Unterschiede zwischen dem verfassungsgerichtlichen und dem legislativen Verfahren die Gemeinsamkeiten klar überwiegen. Das Verfassungsgericht unterliegt der Gesetzesbindung125 und führt im Gegensatz zum Gesetzgeber stets einen juristischen Diskurs, was richterliche Wertungen und das schöpferische Element der Verfassungsinterpretation nicht ausschließt. Umgekehrt mag das Gesetzgebungsverfahren zwar vielfach rational verlaufen. Interessen spielen aber eine ungleich gewichtigere Rolle. Mit diesen Unterschieden läßt sich freilich eine abgeschwächte Parallelisierung, wie sie Rinken vertritt, nicht widerlegen. Sieckmann lehnt den organstrukturellen Ansatz mit Hilfe der Unterscheidung von legislativen Normsetzungs- und richterlichen Normbehauptungsakten ab 1 2 6 . Dem folgt Raabe, wenn er schreibt: „Wenn das Gericht aber seine eigene konkrete Entscheidung als Rechtsetzung qualifiziert, begeht es einen zumindest positiv-rechtlichen (wenn nicht gar begrifflichen) Fehler, da es rechtlich kein Recht setzen, sondern in der Form von Normbehauptungsakten das bereits geltende Recht feststellen soll." 1 2 7 120 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 280 ff. Von ihm so genannte „verselbständigte funktionell-rechtliche Kompetenzkriterien" kritisiert Schiaich, BVerfG, Rdnr. 483 ff. (Zitat vor Rdnr. 483). 121 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 489 f. 122 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 266 f., der als methodische Ansatzpunkte die systematische Auslegung und den Grundsatz der Einheit der Verfassung referiert. 123 Vgl. auch K Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 83 f. 124 Vgl. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 475: „Das BVerfG ist im Verhältnis zur Gesetzgebung nicht Mitproduzent, sondern Kontrolleur." (Nachw. weggelassen); Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 274 ff., zusammenfassend S. 280. Vgl. auch Hesse, Grundzüge, Rdnr. 565. 125 Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 104, spricht selbst von der Beschränkung des Gerichts auf Argumente, die „in einem methodisch kontrollierbaren normativen Ableitungszusammenhang stehen", um so die Gesetzesbindung im Rahmen des judikativen Entscheidungsprozesses zu charakterisieren. 126 Vgl. Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 46; auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 50 ff. 1 27 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 276 (Nachw. weggelassen). Vgl. auch ibid., S. 165 ff., zum „Kognitionsideal".
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation451
Das ist zutreffend, aber rein formal argumentiert. In den problematischen Bereichen der Konkretisierung und Rechtsfortbildung, in denen die Verfassungsbindung keine methodisch zuverlässig umsetzbare Grenze der Verfassungsinterpretation darstellt, kann diese Sichtweise dazu führen, daß die Reichweite der verfassungsgerichtlichen Interpretationskompetenz wie im materiell-rechtlichen Ansatz 128 aus dem Blick gerät. Eine verfassungsgerichtliche Entscheidung ist nicht schon deshalb legitimiert, weil sie sich als Normbehauptungsakt darstellt. Es ist deshalb grundsätzlich sinnvoll, auf die konkret vorhandene Legitimation verfassungsgerichtlicher Tätigkeit abzustellen. Auf der Grundlage eines streng objektivistischen Ansatzes kritisiert Raabe darüber hinaus, daß eine Anknüpfung an die Organstruktur mit den idealen Gehalten der Rechtsanwendung unvereinbar sei, weil „das Ergebnis der Rechtsanwendung als Ergebnis eines Erkenntnisaktes vom erkennenden Subjekt gerade unabhängig ist." 1 2 9 Dies wirft die Frage auf, ob den erkenntnistheoretischen Prämissen des organstrukturellen Ansatzes zugestimmt werden kann. Dazu ist als Ausgangspunkt festzuhalten, daß der Text der Verfassung für alle Interpreten gleichermaßen und nicht nach Maßgabe ihrer Organstruktur gilt. Andererseits gibt es keine für die Rechtsanwendung vorgegebenen Inhalte des objektiven Rechts, die das BVerfG oder jeder andere Interpret „entdecken" könnte. Dies haben schon die sprachphilosophischen Erkenntnisse zur Wortlautgrenze gezeigt, wonach juristische Texte keine vorfindlichen Inhalte in sich tragen, sondern als Zeichen im Gebrauch Bedeutung gewinnen 130 . Im übrigen läßt Verfassungsinterpretation als rationale Argumentation in der Regel mehr als eine Entscheidung zu 1 3 1 . Die Frage, wer das Verfassungsrecht konkretisieren darf, hat angesichts der mangelnden Determination der Interpretation durch den Verfassungstext weitreichende Folgen für den dabei entstehenden Inhalt des Rechts. Dafür sorgen schon die unterschiedlichen Vorverständnisse der Interpreten. In deskriptiver Hinsicht kann deshalb der Aussage nicht zugestimmt werden, daß die Rechtsanwendung vom erkennenden Subjekt unabhängig sei. Deshalb kann es auch aus objektivistischer Sicht nicht gleichgültig sein, wer für diese Erkenntnisse kompetent ist. Die entscheidende Frage ist aber, ob man aus der Tatsache, daß verschiedene Interpreten die Verfassung unterschiedlich interpretieren und interpretieren dürfen, den normativen Schluß ziehen sollte, daß für verschiedene Verfassungsinterpreten unterschiedliche Erkenntnismaßstäbe gelten. Dies könnte dazu führen, daß der Gesetzgeber Verfassungsinhalte „erkennen" darf, die dem BVerfG mangels entsprechender Legitimation versperrt sind. Die mit der organstrukturellen Argumentation verbundene Versubjektivierung, Relativierung und Aufsplitterung der Erkenntnis ist in der Tat mit dem Erkenntnisziel eines einheitlichen objektiven Verfassungsrechts unvereinbar. Es gibt nicht ver128 Siehe oben 5. Kap., C. II. 1. 129 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis S. 281, 283 m. Zitat. Zu Raabes erkenntnistheoretischer Position ibid., S. 160 ff. 130 Siehe oben 3. Kap., B. I. 131 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 498 ff. *
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
schiedene Verfassungsrechte (zum Beispiel das Verfassungsrecht des BVerfG, das des Bundestags und das der Rechtswissenschaft), sondern allenfalls unterschiedliche Auffassungen darüber, was der richtige Inhalt des einen objektiven Rechts sein sollte. Insoweit ist Raabes Kritik im Ergebnis beizupflichten 132 . Schließlich ist auf die begrenzte Tragweite des organstrukturellen Ansatzes hinzuweisen. Eine dogmatische Umsetzung mit Hilfe abgestufter Kontrollmaßstäbe wird bei Rinken nurmehr andeutet133. Kurt Vogel argumentiert im Hinblick auf die Gestaltungsspielräume bei Grundrechten nicht mit der Organstruktur 134. Dies gilt ähnlich auch für Gusy 135 . Im Hinblick auf die Kontrolle von Einschätzungen und Prognosen werden organstrukturelle Argumente zwar stärker berücksichtigt 136. Jedoch wird die Organstruktur dabei lediglich im Sinne einer argumentativen Hilfsfunktion als Topos herangezogen. Für eine umfassende funktionale Begrenzung des Verfassungsgerichts dürfte dies kaum ausreichend sein 137 . cc) Fazit Im Ergebnis bestehen Bedenken gegen die Durchführbarkeit und Angemessenheit eines Ansatzes, der mit der verfassungsgerichtlichen Organstruktur eine Begrenzung der Verfassungsinterpretation und des BVerfG erzielen will. e) Ergebnis Positiv zu würdigen ist, daß funktionell-rechtliche Ansätze die weitgehend fehlende Determination des BVerfG im Bereich der Grundrechtsinterpretation und das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen sehen. Dennoch kann keiner der hier vorgestellten funktionalen Ansätze vollständig überzeugen. (1) Das Prinzip der Gewaltenteilung ist für eine konkrete Kompetenzabgrenzung zu unspezifisch. (2) Auch die grundsätzlich sinnvolle Beschränkung des BVerfG auf die Kontrollfunktion ist konturenarm. Eine dogmatische Umsetzung sollte sich nicht allein an den grundrechtlichen Eingriffsvorbehalten orientieren. Im übrigen kann das 132 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 495: ,,[D]er Inhalt des Rechts kann rechtlich nicht von Eigenschaften des Rechtsanwenders abhängen." Ahnlich Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 320: „Das gebotene Verständnis der Verfassung und im besonderen der Grundrechte hängt nicht von der Funktion des Interpreten ab." 133 Vgl. Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 111 f. 134
Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 146 ff.; anders nur zu den Staatszielen, vgl. ibid., S. 164 f. 135 Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 145 ff., der im Zusammenhang mit der Kontrollintensität bei Abwehrgrundrechten keine organstrukturellen Erwägungen anbringt. Dort argumentiert er vielmehr rein materiell-rechtlich mit der Regelungsdichte und der minderheitenschützenden Funktion der Grundrechte (vgl. ibid., 146 f.). 136 Vgl. K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 186 ff., 200. 137 Kritisch auch K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 90 f.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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BVerfG aus grundrechtlichen Erwägungen ausnahmsweise auch zur Gestaltung verpflichtet sein. (3) Beschränkt man das BVerfG auf Kassation, so führt dies wie bei Böckenförde zur Zurückweisung der objektiven Dimension der Grundrechte. Diese Lösung wurde in der Verteidigung der objektiven Dimension bereits abgelehnt 138 . (4) Der organstrukturelle Ansatz verfolgt erkenntnistheoretische Prämissen, die von der vorliegenden Arbeit nicht geteilt werden. Im übrigen scheint mit seiner Hilfe keine umfassende Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und Gesetzgeber zu gelingen.
3. Vermittelnde
Ansätze
Vermittelnde Ansätze messen grundrechtlichen Erwägungen ein deutlich größeres Gewicht als rein funktionell-rechtliche Ansätze bei. Dementsprechend hat die Funktionszuschreibung, wie sie funktionell-rechtliche Ansätze etwa im Hinblick auf Kontrolle oder Kassation vornehmen, für vermittelnde Ansätze keinen absoluten Vorrang. Dies drückt sich zum Beispiel darin aus, daß vermittelnde Ansätze die objektive Dimension der Grundrechte grundsätzlich anerkennen. Da sie jedoch funktionale Spielräume des Gesetzgebers befürworten, liegt auch keine rein materiell-rechtliche Lösung vor. Im folgenden wird zum einen die Aufspaltung von Grundrechten in Handlungs- und Kontrollnormen untersucht, wie sie der funktionell-rechtliche Ansatz von Hesse vorschlägt (a]). Zum anderen ist ein auf Alexy zurückgehender kompetenzieller Ansatz zu diskutieren, der das Demokratieprinzip in den Mittelpunkt funktionell-rechtlicher Überlegungen stellt (b]).
a) Differenzierung nach Handlungs- und Kontrollnorm (Hesse) aa) Darstellung In konstruktiver Hinsicht begründet Hesse Spielräume des Gesetzgebers, indem er zwischen Handlungs- (auch Bindungs- oder Maßstabs-) norm einerseits und verfassungsgerichtlicher Kontrollnorm andererseits unterscheidet 139. Diesen Weg befürworten auch andere Stimmen in der Literatur 140 . Ein und derselben Grundrechtsbestimmung sind danach zwei verschiedene Normen zu entnehmen. Die Handlungsnorm verpflichtet den Gesetzgeber, die Kontrollnorm bleibt inhaltlich 138 Siehe oben 4. Kap., C. III. 139 Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 319; ders., in: FS Mahrenholz, S. 557. 1 40 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 306 ff.; Scherzberg, Grundrechtsschutz und „Eingriffsintensität", S. 115 ff., 134; Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 79, 108; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 162; ders., in: HStR, § 162 Rdnr. 89; in vorsichtiger Annäherung an den funktionell-rechtlichen Standpunkt auch Schiaich, BVerfG, Rdnr. 479 ff. (480), der der Unterscheidung jedoch ibid., Rdnr. 482 a.E., fehlende „Prägnanz und Bestimmtheit" vorwirft. Nachw. zur älteren Lit. bei Heun, Schranken, S. 46 Fn. 139.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
dahinter zurück und bestimmt den Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle. Hinsichtlich der Erfüllung der Handlungsnorm liege die Letztentscheidung beim Gesetzgeber 141. Umgesetzt wird die Differenzierung beim allgemeinen Gleichheitssatz (Art. 3 Abs. 1 GG), bei der objektiven Dimension der Grundrechte sowie beim Verhältnismäßigkeitsprinzip 142. Der Gleichheitssatz werde danach vom BVerfG als Kontrollmaßstab im Sinne eines Verbots willkürlicher bzw. ohne sachlichen Grund erfolgender Ungleichbehandlung ausgelegt, während er für das Parlament ein Handlungsmaßstab im Sinne des Gebots bestmöglicher Gleichbehandlung sei 1 4 3 . Auch bei der grundrechtlichen Schutzpflicht soll die verfassungsgerichtliche Kontrollnorm hinter der Handlungsnorm zurückbleiben 144. Beim Verhältnismäßigkeitsprinzip bezieht sich die Reduktion des Kontrollmaßstabs vor allem auf die Tatsachenbasis der Geeignetheits- und Erforderlichkeitsprüfung. bb) Kritik Aus der Sicht des materiell-rechtlichen Ansatzes gelingt die Differenzierung vor allem in den Fällen, in denen das jeweilige Grundrecht die Beschränkung der verfassungsgerichtlichen Kontrolle auf einen Evidenz- oder Vertretbarkeitsmaßstab zuläßt. Ob und inwieweit bei den übrigen Grundrechten ebenfalls sinnvoll zwischen Handlungs- und Kontrollmaßstab unterschieden werden kann, ist fraglich 145 . Die begrenzte Tragweite dieses Ansatzes würde jedoch nicht dagegen sprechen, den Spielraum wenigstens im Hinblick auf den Gleichheitssatz, das Verhältnismäßigkeitsprinzip und die objektive Dimension anzuerkennen. Im übrigen fordert Hesse zu Recht ein bereichsspezifisches Vorgehen 146. Gegen seinen konkreten Lösungsvorschlag im Bereich der Schutzrechte lassen sich inhaltliche Bedenken vorbringen, auf die jedoch an dieser Stelle noch nicht einzugehen ist 1 4 7 . Infolge der Differenzierung von Handlungs- und Kontrollnorm fallen bei Hesse der materiell-rechtliche Umfang des Grundrechts und die verfassungsgerichtliche Kontrolle auseinander. Deshalb ist sein Vorschlag als Divergenzlösung zu deuten 1 4 8 . Gegenüber der Divergenzlösung bestehen Bedenken, die im folgenden zu diskutieren sind (cc]). Danach ist auf die Konvergenzlösung als eine mögliche Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 542. 142 Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 319. Dazu Schiaich, BVerfG, Rdnr. 481 f. 1 43 Vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 319; ders., Grundzüge, Rdnr. 439. 144 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 557 f.; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 162. Siehe dazu unten 5. Kap., C. III. 3. b) bb). 1 45 Vgl. Heun, Schranken, S. 49, der die Ausnahmekonzeption der Differenzierung betont. 146 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 543. 147 Siehe unten 5. Kap., C. III. 3. b) bb), 4. 148 Differenzierend Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 299. Zum Unterschied von Konvergenz- und Divergenzlösung oben 5. Kap., C. I. 4.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Alternative einzugehen (dd]). Schließlich ist ein Kompromißvorschlag vorzustellen (ee]). cc) Bedenken gegenüber der Divergenzlösung Die Einwände 149 gegen die Divergenzlösung beziehen sich auf die Grundrechtsbindung, auf den verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt der Differenzierung und auf die einschränkende Wirkung der Handlungsnormen für den politischen Prozeß. (1) Ein Einwand gegenüber der Divergenzlösung lautet, daß die Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG die volle Justiziabilität der Grundrechte fordere 150 . Eindeutig ordnet Art. 1 Abs. 3 GG jedoch nur das Ob der Bindung an, während ihr Inhalt durch Verfassungsinterpretation zu ermitteln ist 1 5 1 . Die Divergenzlösung läßt sich daher mit Hilfe von Art. 1 Abs. 3 GG nicht zwingend widerlegen. Eine durch Spielräume eingeschränkte - nicht: ausgeschlossene - Justiziabilität von Grundrechtsverletzungen führt im übrigen nicht dazu, daß die Grundrechte zu unverbindlichen Programmnormen reduziert werden, was die Grundrechtsbindung eindeutig verletzen würde 152 . Darüber hinaus kann man es für den Sinn und Zweck der Grundrechtsbindung halten, Grundrechtsverletzungen auszuschließen, die keiner gerichtlichen Kontrolle unterliegen 153. Der Grundrechtsberechtigte soll dieser Argumentation zufolge darauf vertrauen können, daß er eine ihm zustehende grundrechtliche Position auch gerichtlich durchsetzen kann. Die Divergenzlösung stelle demgegenüber mögliche Grundrechtsverletzungen im Umfang des gesetzgeberischen Spielraums von gerichtlicher Kontrolle frei. Damit werde das Vertrauen des Bürgers auf gerichtliche Uberprüfbarkeit seiner Grundrechte enttäuscht. Grundsätzlich darf der Bürger zwar darauf vertrauen, daß eine ihm als subjektives Recht zustehende Grundrechtsposition auch gerichtlich durchsetzbar ist. Andernfalls wäre das Grundrecht insoweit eben doch nur unverbindliches Programm. Jedoch ist es höchst zweifelhaft, ob der Grundrechtsberechtigte zugleich darauf vertrauen darf, daß dem demokratisch verantwortlichen Gesetzgeber keine Spielräume zustehen, die den Umfang verfassungsgerichtlicher Kontrolle reduzieren. Wer das Vertrauensargument zugunsten des Bürgers verwendet, muß es hier konsequenterweise auch zu seinen Ungunsten gelten lassen. 149 Vgl. insb. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 148 ff. m. w. Nachw. 150 Vgl. Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 27; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 154, 156. 151 Vgl. Heun, Schranken, S. 49. 152 Vgl. dazu auch ibid., S. 47. 153 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 153 ff. (160). Vgl. ferner Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 42, 52 f., 56 f., der jedoch nicht zwischen Grundrechtsverletzung und Verfassungsverstoß unterscheidet, was in diesem Zusammenhang irreführend ist. Vgl. dazu Raabe, ibid., S. 148 f. Fn. 6 m. Text.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Zu bedenken ist darüber hinaus, daß die Konvergenzlösung zum gleichen Ergebnis wie die Divergenzlösung gelangt, was die Absenkung des Grundrechtsschutzes angeht. Für den Bürger spielt es keine Rolle, ob ihm im Umfang des Spielraums das materielle Grundrecht oder die gerichtliche Durchsetzbarkeit genommen wird. Im Hinblick auf die Grundrechtsbindung sind die Unterschiede zwischen Divergenz» und Konvergenzlösung daher verschwindend gering. Deshalb ergibt sich aus der Grundrechtsbindung kein wirklich überzeugender Einwand gegen die Divergenzlösung. (2) Gegen die Aufspaltung in Handlungs- und Kontrollnorm läßt sich kritisch einwenden, daß dieses Vorgehen zwar aus dem Verwaltungs(prozeß)recht vertraut, aber in der Verfassung nicht angelegt ist 1 5 4 . Immerhin schließt der Verfassungstext die Divergenzlösung nicht ausdrücklich aus. Auch die objektive Dimension der Grundrechte ist in der Verfassung nicht ausdrücklich angeordnet, ohne daß dieser Einwand schon ihre Zurückweisung rechtfertigen würde 155 . In Hesses Vorschlag bleibt jedoch der genaue verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt für die Aufspaltung in Handlungs- und Kontrollnorm dunkel. Heun zufolge sprechen methodische Gründe eher für eine Einheit von Handlungs- und Kontrollnorm, da die Reduzierung des materiell-rechtlichen Normgehalts aus funktionell-rechtlichen Gründen eine weit verstandene systematische Auslegung sei 1 5 6 . Meines Erachtens zielt dieser Einwand in die richtige Richtung, weil die Trennung zwischen funktionellrechtlicher Kontrolle und grundrechtlicher Anforderung dazu tendiert, von zwei getrennten Normebenen auszugehen. Damit werden zusammengehörige materiale und funktionale Erwägungen auseinandergerissen. Grundrechtliche und funktionale Belange müssen statt dessen zueinander in Beziehung gesetzt und durch Abwägung ausgeglichen werden. (3) Von Vertretern der Konvergenzlösung werden im übrigen Einwände gegen das Konzept der Handlungsnorm erhoben. So hält Heun Handlungsnormen für unbestimmt und überflüssig: „Der Inhalt der Handlungsnorm bleibt entweder leer oder bloß utopische Zielvorstellung ohne direktive Kraft, obwohl die Norm gerade als zwingendes Verfassungsgebot verstanden wird [ . . . ] . " 1 5 7
Heun sieht das BVerfG zudem in steter Versuchung, „die Kluft zwischen Handlungsanleitung und Kontrollmaßstab zu schließen" 158 . Starck hat die Verrechtlichung des politischen Prozesses durch Handlungsnormen kritisiert 159 . Die „richtige Gestaltung der Gesetze im Rahmen der Verfassung" werde zur Frage der Ver154 So auch Wahl, Staat 20 (1981), S. 501 f.; Heun, Schranken, S. 49, 51. 155 Siehe oben 4. Kap., C. II. 4. 156 Vgl. Heun, Schranken, S. 49. 157 Vgl. ibid., S. 49 f. (Zitat auf S. 50). 158 Ibid., S. 50. 159 Vgl. Starck, in: HStR, § 164 Rdnr. 14.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
457
fassungsinterpretation, obwohl sie eigentlich durch politische Auseinandersetzung zu entscheiden sei 1 6 0 . Soweit Grundrechte keine justiziablen Anforderungen enthalten, müsse es bei einer rechtlich unverbindlichen politischen Appellfunktion der Verfassung für den Gesetzgeber verbleiben. Gegenüber dieser Kritik lassen sich Handlungsnormen jedoch durchaus verteidigen. Auch wenn sie eine Beschränkung des politischen Prozesses bewirken, relativieren sich die funktionalen Einwände dadurch, daß dem Gesetzgeber das Letztentscheidungsrecht über ihre Erfüllung zusteht 161 . Auch bei einer rein politischen Appellfunktion würden sich Parteien im politischen Prozeß auf die Verfassung berufen, um die eigene Position zu legitimieren. Die Sorge vor einer weiteren Verrechtlichung der politischen Auseinandersetzung infolge von Handlungsnormen erscheint daher übertrieben. Im übrigen sollen Verfassungsnormen als rechtliche Grundentscheidungen der Gesellschaft den Inhalt der politischen Diskussion informieren. Unverbindlicher Appellcharakter ist den Prinzipien einer Verfassung unangemessen. Die Unbestimmtheit der Handlungsnorm wird durch die Direktionswirkung des in ihr enthaltenen Ideals bzw. Prinzips - etwa der optimalen Gleichbehandlung - aufgewogen. Bei einer vollständigen Reduktion der Verfassung auf ihre Justiziabilität bestünde die Gefahr, daß objektive, ideale Gehalte der Verfassung geleugnet würden 162 . Die inhaltliche Leitwirkung von Handlungsnormen ist daher für den politischen Prozeß nicht nur unbedenklich, sondern sogar erwünscht. Die Einwände zu (1) und (3), die sich auf die Grundrechtsbindung und das Konzept der Handlungsnormen beziehen, greifen also meines Erachtens nicht durch. Uberzeugend ist jedoch der Einwand zu (2). Die vorliegende Arbeit vermag dem Vorschlag von Hesse nicht zu folgen, weil der verfassungsrechtliche Anknüpfungspunkt der Differenzierung von Handlungs- und Kontrollnorm unklar bleibt und weil die Gefahr besteht, daß in der Divergenzlösung zusammengehörige materiellrechtliche und funktionale Erwägungen getrennt werden 163 . Als Alternative bietet sich die Konvergenzlösung an, auf deren Vor- und Nachteile nunmehr einzugehen ist. dd) Konvergenzlösung als Alternative? In der Konvergenzlösung 164 reduziert der Spielraum die grundrechtliche Anforderung, so daß kein grundrechtswidriges Ergebnis entstehen kann. Soweit die 160 Ibid. Vor der Gefahr, Gesetzgebung als bloßen VerfassungsVollzug zu begreifen, warnt auch Heun, Schranken, S. 50. Siehe dazu oben 2. Kap., F. III. (5). 161 Vgl. dazu Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 542. 162 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 157 ff., 301 ff.
163 Die Differenzierung zwischen Handlungs- und Kontrollnorm wird ebenfalls abgelehnt von Heun, Schranken, S. 46 ff., 53, 84, und H.H. Klein, DVB1., 1994, S. 495. Differenzierend Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 298 ff., 160,495. 164 Dazu eingehend Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 150 ff., 158 f.; vgl. auch Heun, Schranken, S. 47 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Grundrechte materiell-rechtlich binden, sind sie auch kontrollierbar. Evidenz- und Vertretbarkeitskontrolle sind eine Folge davon, daß das Grundrecht selbst aufgrund des Spielraums keine höheren Anforderungen aufstellt. Staatliche Eingriffe sind als Grundrechtsbeschränkung zu erkennen und müssen als solche gerechtfertigt werden, „statt diese inhaltliche Wirkung hinter einer Beschneidung der gerichtlichen Durchsetzbarkeit zu verstecken" 165. Damit hat diese Lösung den Vorzug der Transparenz. An der Konvergenzlösung wird kritisiert, daß sie die normative Kraft der Verfassung gefährde, wenn diese auf ihren justiziablen Inhalt reduziert und die Perspektive auf das BVerfG verengt werde 166 . Auf das BVerfG konzentriert sich jedoch sowieso die Aufmerksamkeit, was durch eine Konvergenzlösung nur unwesentlich gesteigert wird. Im übrigen bleibt das Verfassungsgericht auch in der Konvergenzlösung an die Verfassung gebunden. Die gerichtliche Kontrolle kann die Verfassung nicht ändern 167 , auch wenn der Inhalt des aktuell geltenden Verfassungsrechts durch das BVerfG maßgeblich geprägt wird. Die Konvergenz wird nicht etwa mit authentischer Verfassungsinterpretation 168 des BVerfG, sondern mit einem normativ abzustützenden Spielraum des Gesetzgebers begründet. Wenn man den Spielraum mit Hilfe einer für alle Interpreten gleichermaßen verbindlichen Verfassungsnorm - etwa dem Demokratieprinzip - begründet und so die grundrechtliche Anforderung im Sinne der Konvergenzlösung einschränkt 169, wird der objektive Inhalt der Verfassung und die subjektive Erkenntnis des BVerfG nicht gleichgesetzt. Bedenklich ist es allerdings, daß die Konvergenzlösung etwa bei Heun den Prinzipien der Verfassung keine verbindliche Orientierungswirkung gegenüber dem Gesetzgeber beimißt 170 . Diese OrientierungsWirkung wurde oben im Hinblick auf die Handlungsnormen befürwortet 171 . Fraglich ist daher, ob die Konvergenzlösung so modifiziert werden kann, daß sie eine verbindliche, wenn auch verfassungsgerichtlich nicht überprüfbare Leitwirkung der Grundrechte für den Gesetzgeber einschließt. In Betracht kommt eine Rekonstruktion auf der Grundlage des RegelPrinzipien-Modells.
165
Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 156. 166 Vgl. Bryde, Verfassungsentwicklung, S. 304 f. Dagegen Heun, Schranken, S. 47 f.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 157 ff. 167 Vgl. dazu Heun, Schranken, S. 58 ff. 168 Dazu oben 1. Kap., B.II. 169 Siehe dazu unten C. II. 3. b) aa). 170 Vgl. Heun, Schranken, S. 51, der nicht nur Grundrechte, sondern die gesamte Verfassung „prinzipiell" mit ihrem justiziablen Inhalt identifizieren will. 171 Siehe oben cc).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
ee) Modifizierte
459
Konvergenzlösung im Regel-Prinzipien-Modell
Im Regel-Prinzipien-Modell verpflichtet der prima facie-Gehalt der Grundrechte den Gesetzgeber auch in der Konvergenzlösung auf einen Idealzustand. Prinzipien gehören einer Ebene idealen Sollens an, die den Gesetzgeber anhalten, einen Optimalzustand anzustreben. Solche prima facie-Pflichten sind nicht justiziabel, weil die gerichtliche Kontrolle nur am definitiven Grundrechtsumfang ansetzen kann, der erst entsteht, nachdem das überschießende Prinzip durch Abwägung mit gegenläufigen Prinzipien beschränkt worden ist. Prima facie-Pflichten sind aber rechtlich bindend, weil der Gesetzgeber die grundrechtlichen Prinzipien stets beachten muß und weil sie sich in Abwesenheit von einschränkenden Gegengründen durchsetzen 172 . Der Direktionsgehalt der prima facie-Position unterfällt der Grundrechtsbindung im Sinne von Art. 1 Abs. 3 GG, die sich auf die Justiziabilität erstreckt, sich aber richtigerweise nicht in ihr erschöpft 173. Soweit die Grundrechtsbindung die Justiziabilität von Grundrechtsverletzungen verlangt, ist die Bindung im Regel-Prinzipien-Modell mit Raabe auf den definitiven Gehalt der Grundrechte zu beziehen174. Auf der Grundlage des Regel-Prinzipien-Modells befürwortet die vorliegende Arbeit daher eine modifizierte Konvergenzlösung 175, die die Vorteile von Konvergenz- und Divergenzlösung verbindet. Wie in der Divergenzlösung wird eine ideale Verpflichtung des Gesetzgebers nicht bestritten, da sich der prima facieGehalt der Grundrechte und die von Hesse befürworteten Handlungsnormen in ihrer praktischen Wirkung gleichen. Wie in der Konvergenzlösung können im Regel-Prinzipien-Modell funktionale und materiale Erwägungen des Grundrechtsschutzes aufeinander bezogen werden 176 . ff) Ergebnis Die funktionell-rechtlich begründete Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm ist vertretbar. Sie läuft aber auf eine Divergenzlösung hinaus, der die vorliegende Arbeit skeptisch gegenübersteht, weil unklar ist, inwieweit die Verfassung ein Auseinanderfallen von materiell-rechtlichem Schutzumfang der Grundrechte und verfassungsgerichtlicher Kontrolle erlaubt. Daher ist die Konvergenzlösung grundsätzlich vorzuziehen. Jedoch befürwortet die vorliegende Arbeit eine verbindliche, wenn auch gerichtlich nicht überprüfbare Leitwirkung der Verfassung, die den Gesetzgeber auf einen Idealzustand verpflichtet. Diese Leitwirkung 172 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 471 f. 173 Ebenso Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 159 Fn. 68. 174 Vgl. ibid., S. 159: „Die Bindung im Sinne gerichtlicher Durchsetzbarkeit bezieht sich auf die strikt geltende definitive Position." 175 Anders Raabe, ibid., S. 171 ff., 495, der von einem differenzierenden Zwei-EbenenModell ausgeht, in dem Divergenz- und Konvergenzlösung kombiniert werden. 176 Wie dies dogmatisch zu bewältigen ist, wird sogleich unter b) untersucht.
460
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
wird in Hesses Divergenzlösung durch die Handlungsnormen erzeugt. Die Wirkung der Handlungsnormen läßt sich mit Hilfe des Regel-Prinzipien-Modells in eine modifizierte Konvergenzlösung integrieren. Aufgrund des Prinzipiencharakters der Grundrechte ist der Gesetzgeber verpflichtet, Freiheit und Gleichheit optimal zu verwirklichen, soweit das rechtlich und tatsächlich möglich ist. Diese prima facie-Verpflichtung ist rechtlich bindend, auch wenn dem Gesetzgeber über ihre Erfüllung das Letztentscheidungsrecht zusteht. Der im folgenden darzustellende kompetenzielle Ansatz wird in der Konzeption dieser Arbeit die hier entwickelte modifizierte Konvergenzlösung umsetzen.
b) Kompetenzieller Ansatz (Alexy, Sieckmann, Raabe) aa) Spielräume als Anforderung
des Demokratieprinzips
Der von Robert Alexy, Jan-Reinard Sieckmann und Marius Raabe entwickelte kompetenzielle Ansatz knüpft nicht an den Prüfungsumfang des Verfassungsgerichts, sondern an die Kompetenzen und das Verfahren des Gesetzgebers an 1 7 7 . Dazu hält Raabe fest: „Entscheidend für die Begründung des Spielraums ist der Schutz gesetzgeberischer Kompetenzen; die damit als logische Folge einhergehende gerichtliche Nicht-Kompetenz ist demgegenüber nur ein Reflex, aber kein tragendes Argument." 178
Verfassungsrechtlich verankert ist dieser Ansatz im Demokratieprinzip 179. Für Alexy ist das Demokratieprinzip der Grund für die zahlreichen Spielräume, die das BVerfG dem Gesetzgeber eingeräumt habe 180 . Das Demokratieprinzip fordert im kompetenziellen Ansatz prima facie einen möglichst großen Spielraum für den Gesetzgeber und ist als „formelles" Prinzip mit Grundrechten abzuwägen181. Als Ergebnis der Abwägung, die zu einer verhältnismäßigen Zuordnung von Demokratieprinzip und Grundrecht führt, entsteht ein definitiver Spielraum für den Gesetzgeber. Der kompetenzielle Ansatz trägt zur Begrenzung des Verfassungsgerichts bei, indem er dem Gesetzgeber Spielräume eröffnet. Er berücksichtigt die prozedurale 177
Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120, 427; Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 54 f.; zum Einschätzungs- und Prognosespielraum Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, insbes. S. 207 ff., zusammenfassend S. 495. Zustimmend Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 159. 178
Raabe, Grundrechte und Erkenntnis S. 285. Zum Demokratieprinzip siehe bereits oben l.Kap., A. IV. 180 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120. i g i Zu formellen Prinzipien mit z.T. unterschiedlichen Ansätzen Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 89, 120, 465; Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 43, 45, 46 ff.; ders., Regelmodelle und Prinzipienmodelle, S. 147 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 184 ff., 191 ff. Dreier, JZ 1985, 357, spricht von prozeduralen Prinzipien, zu denen er vor allem das Gewaltenteilungsprinzip zählt. 179
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
461
und demokratische Legitimation des Gesetzgebers stärker, als es ein rein materialer Ansatz vermag, und vermeidet zugleich die Einseitigkeit eines rein funktionalen Ansatzes. Ein Vorzug dieses Ansatzes liegt darin, daß er zu einer klaren Argumentationsstruktur führt, die grundrechtliche und funktionale Aspekte einander gegenüberstellt. In der Abwägung von Grundrechten und Demokratieprinzip sind verschiedene Gewichtungen vertretbar, weshalb sich die folgenden Ausführungen nicht als einzig mögliche Lösung verstehen. In der hier vertretenen Form entfaltet der kompetenzielle Ansatz seine Wirkung auf der Ebene des materiellen Verfassungsrechts. Dies führt zu der soeben dargestellten 182 modifizierten Konvergenzlösung im Regel-Prinzipien-Modell. Das Demokratieprinzip ist als rechtlicher Maßstab Gegenstand der verfassungsgerichtlichen Interpretation. Statt die Interpretationskompetenz des BVerfG zu begrenzen, eröffnet es dem Gesetzgeber Spielräume, die vom BVerfG zu beachten sind 183 . Von judicial self-restraint kann daher bei diesem Ansatz keine Rede sein. Der kompetenzielle Ansatz steht darüber hinaus im Einklang mit der Grundrechtsbindung aus Art. 1 Abs. 3 GG, weil diese Bindung Spielräume des Gesetzgebers im Verfassungsrecht nicht ausschließt. Im kompetenziellen Ansatz lassen sich mit Hilfe des Demokratieprinzips grundrechtliche Anforderungen reduzieren, so daß für den Gesetzgeber ein funktionaler Spielraum entsteht (bb]). Auch für legislative Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen gelangt der kompetenzielle Ansatz zu Spielräumen (dd]). bb) Funktionale Reduktion von grundrechtlichen
Anforderungen
Im kompetenziellen Ansatz kann das Demokratieprinzip den Schutzbereich oder die Rechtsfolge eines Grundrechts unabhängig vom Einzelfall einschränken. Wie weit ein abstrakter funktionaler Spielraum sinnvoll ist, ergibt sich aus der verhältnismäßigen Zuordnung von Grundrechten und Demokratieprinzip. Auf Seiten des Demokratieprinzips lassen sich funktionell-rechtliche Überlegungen in die Abwägung einbringen. Aus funktionell-rechtlicher Sicht ist die Frage entscheidend, ob und inwieweit die politische Gestaltungskompetenz184 des Gesetzgebers infolge von Grundrechten übermäßig eingeschränkt wird. Die Gefahr einer übermäßigen Einschränkung der Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers besteht in erster Linie bei neuen Grundrechtsfunktionen. Dazu tragen vor allem grundrechtliche Handlungsanforderungen bei, die den Gesetzgeber bereichsweise von seiner Verantwor182 Siehe oben 5. Kap., C. II. 3. a) ee). 183 Deshalb geht es hier nicht um die Frage, wem wie weit der „Interpretationsprimat" zukommt. Zum Begriff Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 162; kritisch Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 567 f. 184 Die Gestaltungskompetenz umfaßt die parlamentarische Haushaltskompetenz, die zum Beispiel bei faktischen Schutzmaßnahmen betroffen ist. Vgl. allg. Starck, VVDStRL 34 (1976), S. 75, 83 ff., 92 f. (Leitsätze Nr. 22 und 27).
462
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
tung für die Gestaltung des Gemeinwesens entbinden. Neue Grundrechtsfunktionen haben eine massive Kompetenzverschiebung zugunsten des Verfassungsgerichts zur Folge. Spielräume des Gesetzgebers sind hier ein Mittel, um die demokratische Verantwortlichkeit des Gesetzgebers zu stärken und Nachteile der funktionellen Verschiebung ein Stück weit auszugleichen. Ein Beispiel für einen funktionalen Spielraum ist das Problem faktischer Freiheit, an dem sich der Ausgleich formeller und materieller Prinzipien in der Abwägung gut nachvollziehen läßt. Es ist umstritten, ob die Grundrechte nur rechtliche oder auch faktische Freiheit gewährleisten 185. Nach Alexy ist ein Prinzip faktischer Freiheit anzuerkennen, demzufolge Grundrechte grundsätzlich auch die faktische Freiheit gewährleisten 186. Dieses Prinzip wird allerdings durch kollidierende Prinzipien beschränkt. Die Kollision dieser Prinzipien ist durch Abwägung aufzulösen. Nach Alexy sind unter anderem „das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip (das das der Haushaltskompetenz des Parlaments einschließt)" gegen das materielle Prinzip der faktischen Freiheit abzuwägen187. Die Abwägung kann zum Beispiel dazu führen, daß der Gesetzgeber die faktische Freiheit definitiv nur in minimalem Umfang, das heißt in Höhe des Existenzminimums sicherstellen muß 1 8 8 . Darüber hinaus bringen insbesondere Schutzrechte eine potentiell unbegrenzte Zahl grundrechtlicher Handlungsgebote in das Verfassungsleben ein, die das Grundgesetz zuvor nur in wenigen Fällen ausdrücklicher Normierung kannte. Erkennt man solche objektiven Grundrechtsfunktionen grundsätzlich an, so ist zwischen den grundrechtlichen und funktionalen Belangen im Wege der Abwägung ein verhältnismäßiger Ausgleich herzustellen. Wie der konkrete Ausgleich im kompetenziellen Ansatz auszusehen hat, soll später am Beispiel der Schutzrechte erörtert werden 189 . Demgegenüber ist die Gestaltungswirkung, die mit der verfassungsgerichtlichen Konkretisierung der gegen den Staat gerichteten Abwehrrechte stets verbunden ist, im Interesse eines effektiven Grundrechtsschutzes grundsätzlich hinzunehmen. Allerdings können auch bei Abwehrrechten Spielräume im Hinblick auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen des Gesetzgebers zu berücksichti• 190
gen sein
.
185 Vgl. zum Problem etwa Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: HStR, § 112 Rdnr. 87 ff.; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 208, 289. 186 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 465 f. 187 Ibid., S. 466. Vgl. auch H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 497. 188 Vgl. d a z u Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 466.
1 89 Siehe dazu näher unten 5. Kap., C. III. 1 90 Dazu gleich im Text unter dd).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
cc) Kritik
463
und Verteidigung
An der Beschränkung von grundrechtlichen Anforderungen durch funktionale Erwägungen läßt sich Kritik üben. Ein Einwand gegen die hier befürwortete Konstruktion könnte lauten, daß man mit dem Demokratieprinzip keine Grundrechte beschränken dürfe. Es bestehe ein Primat der Grundrechte vor dem politischen Prozeß. Daran ändere nichts, daß auch der Gesetzgeber berufen sei, das Gemeinwohl zu verwirklichen 191 . Bei den hier behandelten Spielräumen wird aber nicht lediglich der Mehrheitswille herangezogen, um die Beschränkung eines Grundrechts zu rechtfertigen, sondern es wird die demokratische der freiheitlichen Ordnung des Grundgesetzes gegenübergestellt. Letztlich geht es um das angemessene Verhältnis von Grundrechten und Demokratie, wobei das Verhältnis von BVerfG und Gesetzgeber diese Zuordnung materialer Verfassungsprinzipien reflektiert. Damit wird indirekt auch im kompetenziellen Ansatz die Gestaltungskompetenz des Gesetzgebers und die Kontrollkompetenz des Verfassungsgerichts ausbalanciert. Die Tatsache, daß sich die Vermehrung von Grundrechtsfunktionen auf dieses Verhältnis gravierend auswirkt, darf nicht durch eine einseitige, weil grundrechtsmonistische Betrachtungsweise abgeschnitten werden. Grundrechte sind zwar gegenüber Kompetenzen des Gesetzgebers „Trümpfe" (Dworkin) 192 . Ob und inwieweit dieser Vorrang auch gegenüber Strukturprinzipien der Verfassung wie dem Demokratieprinzip und dem Gewaltenteilungsgrundsatz gilt, ist jedoch zweifelhaft. Heun hält zutreffend fest, daß Grundrechte ungeachtet ihres Primats „das gleichermaßen mit verfassungsrechtlicher Dignität ausgestaltete System der Gewaltenteilung, das in Art. 20 I I GG einen Niederschlag gefunden hat, nicht überspielen" dürfen 193 . Das scheinbare Paradox, daß die Grundrechte einerseits gegenüber dem Gesetzgeber durchzusetzen sind, andererseits aber nicht die grundgesetzliche Funktionsverteilung aushebeln dürfen, löst sich erst in der verhältnismäßigen Zuordnung von freiheitlicher und demokratischer Ordnung auf. Für diese komplexe Zuordnung verbieten sich einfache und undifferenzierte Lösungen. Die vorliegende Arbeit wird versuchen, für die Schutzrechte eine differenzierte Lösung zu entwickeln, die grundrechtliche und funktionale Belange in ein optimales Verhältnis setzt. Darüber hinaus könnte man einwenden, daß die minderheitenschützende Funktion 1 9 4 der Grundrechte eine Reduktion des Grundrechtsumfangs mit funktionalen Vgl. Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 191, zum politisch-parlamentarischen Prozeß als ,,entscheidende[m] Organ im Hinblick auf die Durchsetzung allgemeinwohlverwirklichender und gerechtigkeitsverträglicher Interessen". 192 Im Unterschied zu Dworkins Ansatz können jedoch im Regel-Prinzipien-Modell Gemeinwohlerwägungen in Gestalt von nichtgrundrechtlichen Verfassungsprinzipien („Verfassungsgüter") Grundrechtsschranken sein. Dagegen versteht Dworkin Grundrechte als Trümpfe in einem starken Sinne, weil sie durch Gemeinwohlerwägungen nicht eingeschränkt werden können. Vgl. dazu Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 9. 193 Heun, Schranken, S. 45.
464
2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Erwägungen ausschließt. So spricht Alexy in Anlehnung an Ely von der „Idee der Grundrechte, die ein Mißtrauen gegenüber dem Gesetzgeber zum Ausdruck bringen" 1 9 5 . Schutzrechte und soziale Grundrechte werfen aber grundsätzlich keine Fragen des Minderheitenschutzes auf. Eine funktional begründete Einschränkung dieser objektiven Grundrechtsfunktionen durch Spielräume des Gesetzgebers widerspricht daher nicht dem von den Grundrechten bezweckten Minderheitenschutz. dd) Legislative EinschätzungsPrognose- und Abwägungsspielräume Das BVerfG erkennt sowohl Einschätzungs- und Prognosespielräume als auch Abwägungsspielräume an 1 9 6 . Auch die Literatur spricht sich für Einschätzungsund Prognosespielräume des Gesetzgebers aus 197 . Zum Teil wird auch der Abwägungsspielraum befürwortet 198 . Da Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen vielfach fallentscheidend sind, führen entsprechende Spielräume zu einer spürbaren Begrenzung des BVerfG 199 . Im kompetenziellen Ansatz ist bei Bestehen eines Spielraums die vom Gesetzgeber zugrundegelegte Einschätzung, Prognose oder Abwägung aufgrund des Demokratieprinzips unabhängig davon hinzunehmen, ob sie tatsächlich richtig ist oder nicht 2 0 0 . Soweit durch den Spielraum der Grundrechtsschutz vermindert wird, 194
Vgl. Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 147. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 359, m. Nachw. zu Ely in Fn. 9. 196 Vgl. etwa BVerfGE 50, 290 (332 f.); 77, 170 (214); 88, 203 (262), für den Einschätzungs- und Prognosespielraum. Im C-Waffen-Beschluß und anderen Entscheidungen führte das BVerfG aus, daß der Spielraum des Gesetzgebers „auch Raum läßt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen", vgl. BVerfGE 77, 170 (214 f.); 77, 381 (405); 79, 174 (202). Daraus kann man auf das Bestehen eines Abwägungsspielraums schließen, den BVerfGE 96, 56 (64) auch ausdrücklich erwähnt. Ausführlich zur Rspr. Schiaich, BVerfG, Rdnr. 494 ff.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 306 ff.; Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 190 ff. 195
197
Die Literatur zum Spielraum des Gesetzgebers bei Einschätzungen und Prognosen ist unübersehbar. Vgl. auswahlweise Raabe, Grundrechte und Erkenntnis: Der Einschätzungsspielraum des Gesetzgebers, 1998; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 496 ff.; Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 164 ff.; AT. Vogel; Bundesverfassungsgericht, S. 168 ff.; Chryssogonos, Verfassungsgerichtsbarkeit, S. 179 ff.; Philippi, Tatsachenfeststellungen des Bundesverfassungsgerichts, 1971; Ossenbühl, Die Kontrolle von Tatsachenfeststellungen und Prognoseentscheidungen durch das Bundesverfassungsgericht, in: BVerfG und GG I, S. 484 ff.; Seetzen, Der Prognosespielraum des Gesetzgebers, NJW 1975, S. 429 ff.; WeberGrellet, Beweis- und Argumentationslast im Verfassungsrecht unter besonderer Berücksichtigung der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, 1979; Gerontas, Die Bindung des Bundesverfassungsgerichts an Prognosen des Parlaments, BayVBl. 1981, S. 618 ff.; Kokott, Beweislastverteilung und Prognoseentscheidungen bei der Inanspruchnahme von Grund- und Menschenrechten, 1993. 198
Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 423; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 475 ff. i " Vgl. etwa Schiaich, BVerfG, Rdnr. 498.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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sei das Demokratieprinzip als selbständiger Schrankengrund zu qualifizieren 201 . Spielraum und Schranke seien jedenfalls im Ergebnis äquivalent, weil „die Einräumung von Spielräumen dazu führt, daß weniger Grundrechtsschutz besteht als bestehen würde, wenn es keine Spielräume gäbe" 202 . Im folgenden ist auf mögliche Begründungen des Spielraums, auf empirische und normative Unsicherheit als Voraussetzung eines Spielraums sowie auf die Kriterien für die Bestimmung des Spielraumumfangs einzugehen. (1) Begründung In der Rekonstruktion des kompetenziellen Ansatzes würde eine Lösung, die im Hinblick auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen des Gesetzgebers überhaupt keine Spielräume vorsieht, das Demokratieprinzip unverhältnismäßig beschränken. Diese These folgt nicht einfach aus dem Demokratieprinzip, sondern bedarf argumentativer Absicherung. Fraglich ist, welche inhaltlichen Gründe im einzelnen für den Spielraum des Gesetzgebers sprechen. (1.1) Man könnte die Ansicht vertreten, daß erhebliche empirische oder normative Unsicherheit im Hinblick auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen bereits Grund genug ist, dem Gesetzgeber einen Spielraum einzuräumen. Andererseits ist die Interpretation in schwierigen Fällen stets auf Wertungen angewiesen und deshalb mit erheblicher Unsicherheit belastet, ohne daß daraus „Zurückhaltung" für das Verfassungsgericht gefolgert werden darf 203 . Das BVerfG soll gerade auch unter Unsicherheit die Verfassung interpretieren und diese mit einer verbindlichen Entscheidung ausräumen; dies ist seine verfassungsmäßige Aufgabe. Wenn man die verfassungsgerichtliche Kontrolle auf den Bereich determinierter oder auch nur zweifelsfreier Ergebnisse der Interpretation beschränken würde, würde dies den Grundrechtsschutz stark verkürzen. Im Bereich der Ungewißheit spricht jedoch die demokratische Legitimation und Verantwortlichkeit des Gesetzgebers dafür, seine Einschätzung, Prognose oder Abwägung nicht unberücksichtigt zu lassen. Auch wenn Grundrechte gegenmehrheitliche Rechte sind, darf das Verfassungsgericht nicht jede Einschätzung, Prognose oder Abwägung des Gesetzgebers intensiv überprüfen. Andernfalls würde das Gericht die Entscheidung selbst treffen, statt die Mehrheitsentscheidung des Gesetz200 Vgl. ausführlich Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 215 ff. (zum Einschätzungsspielraum) und S. 475 ff. (zum Abwägungsspielraum). 201 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120, 267,427. 202 Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 120. Vgl. ausführlich Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 61, 65 ff. 203 Für Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 230, verlangen Grundrechte auf erkenntnistheoretischer Ebene prima facie, bei Unsicherheit die für ihre Verwirklichung günstigere Prämisse zugrundezulegen. Das Grundrecht verlangt also nach dieser Ansicht, bei Unsicherheit vorsichtshalber anzunehmen, daß eine Einschätzung oder Prognose unzutreffend ist. 3
Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
gebers zu kontrollieren. Jedenfalls in den schon behandelten Fällen 204 einer vom Einzelfall unabhängigen funktionalen Reduktion grundrechtlicher Anforderungen ist dem Gesetzgeber unter Unsicherheit ein Spielraum im Hinblick auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen einzuräumen. So kann man bei den Schutzrechten davon ausgehen, daß das Grundrecht aus funktionalen Gründen nur minimalen Schutz gebietet, was sich im Verbot „gänzlich ungeeigneter" oder „völlig unzulänglicher" Schutzmaßnahmen ausdrückt 205. In dieser von der Rechtsprechung verwendeten Formel ist ein Spielraum des Gesetzgebers hinsichtlich seiner Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen enthalten. Der entscheidende Grund für diesen Spielraum ist aber nicht die Unsicherheit, sondern die Gefahr einer übermäßigen Einschränkung des Gesetzgebers durch schutzrechtliche Handlungsanforderungen. (1.2) Jedenfalls im Hinblick auf normative Fragen, die sich bei Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen stellen, kann man vertreten, daß das Verfassungsgericht unter Unsicherheit eher zu richtigen Ergebnissen gelangt als der Gesetzgeber, weil es verfassungsrechtliche Erkenntnisse stets in einem politisch neutralen, gerichtsförmigen und diskursiven Verfahren gewinnt, während Interessen eine vergleichsweise unbedeutende Rolle spielen 206 . Umgekehrt ist das Verfahren des Gesetzgebers tendenziell auf Interessenausgleich und nicht auf Erkenntnis angelegt. Dies spricht dagegen, Spielräume allein aufgrund von Unsicherheit einzuräumen. Ein konkretes Verfahren des Gesetzgebers läßt sich aber womöglich für einen Spielraum berücksichtigen, wenn und soweit man durch das Verfahren prozedurale Richtigkeit gewährleistet sieht 207 . Voraussetzung ist, daß man das Gesetzgebungsverfahren zumindest auch als rationalen Diskurs auffaßt, der in Annäherung an ideale Bedingungen die Tendenz hat, zur Wahrheitsfindung beizutragen. Dies würde es zulassen, ein gelungenes Verfahren zugunsten eines Spielraums zu berücksichtigen. Soweit der Gesetzgeber in empirischen oder normativen Fragen einen Diskurs führt, wäre dies zu seinen Gunsten zu berücksichtigen. Prozedurale Richtigkeit würde dann den infolge des Spielraums fehlenden materialen Grundrechtsschutz ersetzen. Darauf ist bei den Kriterien des Spielraumumfangs zurückzukom^men 208 (1.3) Schließlich könnte auch das Argument der Fairneß dagegen sprechen, Spielräume allein aufgrund von Unsicherheit einzuräumen. Danach soll der Gesetzgeber über den Inhalt und Umfang der gegenmehrheitlich konzipierten Grundrechte nicht in eigener Sache entscheiden209. Im Bereich eines Spielraums würde 204 Siehe oben 5. Kap., C. II. 3. b) bb). 205 Siehe unten 5. Kap., C. III., 2., 5. 206 Vgl. d a z u Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 215 ff.; anders K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 199 ff. 207 Zum folgenden Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 215 ff., 384 ff., 430 ff. 208 Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b) dd) (3.4). 209 Vgl. Dworkin, Bürgerrechte ernstgenommen, S. 239 f.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation467
er aber als Richter in eigener Sache handeln, weil insoweit keine verfassungsgerichtliche Kontrolle stattfände. Das Argument der Fairneß schließt jedoch nur aus, daß man die Grundrechtskontrolle vollständig in die Hände des Gesetzgebers legt. Solange die verfassungsgerichtliche Kontrolle durch einen Spielraum lediglich reduziert wird, kann von einer Kontrolle in eigener Sache nicht wirklich die Rede sein. Will man mit dem Argument der Fairneß jeglichen Spielraum bestreiten, so müßte man eine Theorie entwickeln, die plausibel begründet, warum Fairneß in diesem Zusammenhang so strenge Anforderungen beinhaltet. Das Argument der Fairneß würde auch dann nicht absolut gelten, sondern müßte zu funktionalen Erwägungen wie zum Beispiel der demokratischen und prozeduralen Legitimation des Gesetzgebers in Beziehung gesetzt werden. Im kompetenziellen Ansatz entscheidet über das Gewicht des Demokratieprinzips letztlich das BVerfG, weshalb der Gesetzgeber über den Umfang der Grundrechte insoweit nicht „in eigener Sache" entscheidet210. Schließlich würde es keine Rolle spielen, ob der Gesetzgeber in eigener Sache entscheidet, soweit das Verfahren des Gesetzgebers eine Vermutung beanspruchen kann, zu grundrechtlich richtiger Erkenntnis beizutragen 211. Als Fazit läßt sich festhalten, daß Unsicherheit für sich allein nicht genügt, um dem Gesetzgeber einen Einschätzungs-, Prognose- oder Abwägungsspielraum einzuräumen. Eine Begründung der Spielräume kann erstens an der vergleichsweise höheren demokratischen Legitimation des Gesetzgebers und seiner demokratischen Verantwortlichkeit sowie zweitens an der prozeduralen Rationalität seines Verfahrens ansetzen212. (2) Unsicherheit als Voraussetzung eines Spielraums Wie gerade gezeigt, ist Erkenntnisunsicherheit eine Voraussetzung für das Vorliegen eines Einschätzungs-, Prognose- oder Abwägungsspielraums. Damit ist Unsicherheit eine notwendige, wenn auch keine hinreichende Bedingung für die hier untersuchten Spielräume 213. (3) Kriterien zur Bestimmung des Spielraumumfangs Im kompetenziellen Ansatz impliziert die Konstruktion des Spielraums als Grundrechtsschranke, daß der Umfang des Spielraums durch Abwägung zu ermit210 Zitat bei Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 59 (m. Nachw. zu Dworkin in Fn. 69). 211 Siehe unten 5. Kap., C. II. 3. b) dd) (3.4). 212 Wie sich im folgenden zeigen wird, sind die demokratische Legitimation und das Maß prozeduraler Rationalität zugleich auch Kriterien für die Bestimmung des Spielraumumfangs. 2 13 Vgl. BVerfGE 50, 290 (332) - Mitbestimmungsurteil. 3 *
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
teln ist. In der Abwägung werden grundrechtliche und funktionale Belange einander verhältnismäßig zugeordnet. Nur eine grundrechts- und bereichsspezifische Argumentation kann dabei zu ausreichend differenzierten Aussagen gelangen. Das gilt auch im Hinblick auf die Frage, ob die Abwägung abstrakt im voraus vorgenommen werden kann oder ob sie jeweils im konkreten Fall durchgeführt werden muß. In die Abwägung gehen die nachfolgend genannten Kriterien zum Umfang des Spielraums ein, die hier jedoch nicht umfassend diskutiert werden können, ohne ein neues Thema zu eröffnen 214 . Im folgenden sollen lediglich die drei Kriterien des Mitbestimmungsurteils 215, nämlich die Eigenart des Sachbereichs, die Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter und der Grad der Unsicherheit, diskutiert werden. Darüber hinaus ist auf die erhöhte prozedurale Rationalität des Gesetzgebungsverfahrens als Kriterium für einen Spielraum einzugehen. (3.1) In der Bedeutung der betroffenen Rechtsgüter liegt das wichtigste Kriterium für den Umfang des Spielraums 216. Bei einer akuten Gefährdung menschlichen Lebens wird man deshalb aufgrund der überragenden Bedeutung dieses Rechtsguts Spielräume nur mit größter Vorsicht annehmen dürfen 217 . (3.2) Das Sachbereichskriterium ist als Aufruf zu bereichsspezifrschem Vorgehen sinnvoll, aber nicht einfach umzusetzen218. So steht den Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen des Gesetzgebers im Bereich wirtschaftlich relevanter Grundrechte möglicherweise ein größerer Spielraum als bei höchstpersönlichen Grundrechten zu. Aus grundrechtlicher Sicht hängt der Umfang des Spielraums davon ab, wie man die Anforderungen der Berufs- und Eigentumsfreiheit interpretiert. Anknüpfungspunkte für einen Spielraum bestehen in Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG, der für die Berufsfreiheit einen Regelungsvorbehalt enthält, und in Art. 14 Abs. 1 S. 2 GG hinsichtlich der dem Gesetzgeber obliegenden Ausgestaltung von „Inhalt und Schranken" des Eigentums. Damit scheint das Sachbereichskriterium vor allem das Kriterium der Bedeutung des Rechtsguts zu konkretisieren 219. 214 Dazu ausführlich Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 393 ff., 398 ff. Vgl. auch Schuppen, DVB1. 1988, S. 1193 f. 215 Vgl. BVerfGE 50, 290 (333). Darstellung der Rspr. bei Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 194 ff. 216 Vgl. bezogen auf den Prognosespielraum Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 427. Weitergehend auf der Grundlage des materiell-rechtlichen Ansatzes Schiaich, BVerfG, Rdnr. 500: „So bleibt eigentlich nur die Aussage, daß das BVerfG in besonders gewichtigen Fällen besonders intensiv prüft." 217 Vgl. aber K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 209 f., der vorschlägt, legislative Weitungen im Rahmen von Einschätzungen und Prognosen ausschließlich auf eindeutige Fehler zu kontrollieren. Auf Eindeutigkeit stellt auch Gusy, Parlamentarischer Gesetzgeber und BVerfG, S. 144 ab. 218 Für Schiaich, BVerfG, Rdnr. 501, bestimmt sich die Eigenart des Sachbereichs nach den einschlägigen Verfassungsnormen. Ahnlich Heun, Schranken, S. 39. 219 Kritisch zum eigenständigen Erkenntniswert dieses Kriteriums Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 417 f.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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(3.3) Unsicherheit ist zwar wie dargelegt eine Voraussetzung des Spielraums. Doch würde es zu kurz greifen, sie mit Hilfe einer „je-desto-Formel" in direkte Beziehung zur Größe des Spielraums zu setzen. Wenn sich aus empirischer oder normativer Unsicherheit allein kein Spielraum des Gesetzgebers ergibt 220 , fällt es schwer, in ihr überhaupt ein Kriterium zu erblicken. Allerdings ist die für alle Verfassungsinterpreten bestehende Erkenntnisunsicherheit im Bereich der objektiven Dimension und insbesondere der Schutzrechte regelmäßig größer als bei den Abwehrrechten 221. Auch dies führt zwar nicht automatisch zu einem größeren Spielraum des Gesetzgebers, zeigt aber, daß Spielräume hier eine besonders große Rolle spielen können, weil eine für sie notwendige Bedingung erfüllt ist. (3.4) Fraglich ist, ob und inwieweit die konkrete Qualität des gesetzgeberischen Verfahrens für den Umfang des Spielraums berücksichtigt werden darf 222 . Damit ist die Frage gestellt, ob eine begrenzte Prozeduralisierung grundrechtlicher Richtigkeit durchführbar und angemesen ist, bei der die konkret verwirklichte prozedurale Rationalität eines Gesetzgebungsverfahrens, das eine unsichere Einschätzung, Prognose oder Abwägung zum Gegenstand hat, berücksichtigt wird 2 2 3 . Für den auf unsichere empirische Prämissen bezogenen Einschätzungsspielraum befürwortet Raabe eine teilweise Prozeduralisierung grundrechtlicher Richtigkeit 2 2 4 . Angesichts normativer oder faktischer Erkenntnisunsicherheit habe sich das Verfassungsgericht dem Ergebnis des rationalen politischen Prozesses zu öffnen 225 . Auf diese Weise werde den „Grenzen der Erkenntnis materialer Richtigkeit [ . . . ] durch das prozedurale Kriterium der Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers Rechnung getragen." 226 Im Diskursmodell soll die aufgrund eines rationalen politischen Verfahrens zu vermutende Richtigkeit der Entscheidung die Absenkung des materialen Grundrechtsschutzes kompensieren 227. Die Richtigkeitsgewähr eines rationalen Verfahrens bleibt allerdings hinter der Richtigkeit einer vom Verfassungsinterpreten sicher erkannten grundrechtlichen Anforderung zurück. Auch darf der Gesetzgeber durch die Art und Weise seines Verfahrens nicht den Inhalt der grundrechtlichen Anforderung festlegen, weil dies der Verfassungsbindung widersprechen würde. Deshalb kann die Durchführung eines rationalen Verfahrens für sich allein nicht dazu führen, daß die entsprechende grundrechtliche Anforderung erfüllt ist. Vielmehr muß die objektiv bestehende grund220 Siehe oben (1). 221 Vgl. Brugger, ARSP Beih. 37 (1990), S. 191; zu Schutzrechten auch Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 425. 222 Zur Prozeduralisierung grundrechtlicher Anforderungen bereits oben 4. Kap., G. 223 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 386 f., 431 ff. 224 Vgl. ibid., S. 215 ff., 384 ff., 430 ff. 225 Vgl. ibid., S. 226. 226 ibid., S. 227. 227 Vgl. Raabe, ibid., S. 224, 227, der auf S. 218, ebenfalls von kompensatorischer Anknüpfung an das Ergebnis einer Prozedur spricht.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
rechtliche Anforderung durch den Spielraum reduziert werden, der damit im Ergebnis als Grundrechtsschranke wirkt. Den verfassungsrechtlichen Anknüpfungspunkt für diese Schranke bildet im kompetenziellen Ansatz das Demokratieprinzip. Verbindet man das Demokratieprinzip auf diese Weise mit diskurstheoretischen Prämissen, so läßt sich ein rationales Verfahren zugunsten eines Spielraums des Gesetzgebers berücksichtigen. Allerdings darf die Vermutung prozeduraler Richtigkeit nicht auf einer bloßen Fiktion aufbauen. Insbesondere wäre es ein zu pauschales Verständnis des politischen Prozesses, abstrakt auf prozedurale Rationalität des Gesetzgebers vertrauen zu wollen, während im konkreten Gesetzgebungsverfahren womöglich Elemente des „bargaining" dominiert haben. Deshalb darf lediglich die konkret realisierte Rationalität des parlamentarischen Verfahrens zählen 228 . Dem entspricht es, daß Raabe für die erhöhte prozedurale Rationalität im Gesetzgebungsverfahren einen „Bonus" befürwortet, der das Gewicht des Demokratieprinzips in der Abwägung erhöhen soll 2 2 9 . Für das Gewicht des Demokratieprinzips in der Abwägung gilt also, daß „leitender Gesichtspunkt seiner Gewichtung das verwirklichte Maß prozeduraler Rationalität sein [muß]." 2 3 0 Damit stellt sich die Frage, wann ein Verfahren im Einzelfall als besonders rational gelten kann. Besonders wichtig dürfte sein, wieviel Zeit sich der Gesetzgeber zu eingehender Beratung genommen hat, mit welchem Aufwand und welcher Beteiligung argumentiert wurde und inwieweit Argumente ausgetauscht worden sind 231 . Die Frage, was prozedurale Rationalität im Gesetzgebungsverfahren konkret bedeutet, ist je nachdem, ob unsichere normative oder empirische Fragen betroffen sind, unterschiedlich zu beantworten. Im ersten Fall geht es um die Richtigkeit grundrechtlicher Annahmen, im zweiten Fall um die Richtigkeit faktischer Annahmen. In normativen Fragen stößt der Versuch der Prozeduralisierung auf das Problem, daß im Gesetzgebungsverfahren nicht immer ein Grundrechtsdiskurs geführt wird, selbst wenn im übrigen vernünftig argumentiert wird und Interessen sowie irrationale Motive keine Rolle spielen. Zwar geht der Gesetzgeber implizit immer von der Verfassungsmäßigkeit seiner Gesetze aus. Sieckmann will ihm sogar verfassungsgemäße Rechtsauffassungen zuordnen 232 . Die legitimierende Wirkung des Diskurses beruht aber nicht auf impliziten und letztlich fiktiven Annahmen, son228 Weitergehend und anders meint Raabe, ibid., S. 430 f. (nachf. Zitat auf S. 496): „Ein gewisses Maß an prozeduraler Rationalität ist jedem Gesetz abstrakt zu unterstellen, ohne daß es auf das konkrete Verfahren ankommt." 229 Vgl. ibid., S. 386 f., 431 f., 496. 230 ibid., S. 430. 231 Vgl. Raabe, ibid., S. 431 f., der es „bei relativ generellen Feststellungen zur Verfahrensqualität" bewenden lassen will (Zitat auf S. 432). 232 Vgl. Sieckmann, System richterlicher Bindungen, S. 54 f., zum Modell konkurrierender Rechtskonzeptionen.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation471
dem darauf, daß er in bestmöglicher Annäherung an ideale Diskursbedingungen tatsächlich durchgeführt wird. Zwar spielen verfassungsrechtliche Aspekte im politischen Prozeß vielfach eine erhebliche, in Bereichen wie dem Schutz des ungeborenen Lebens sogar eine überragende Rolle. Sie finden durch juristisches Expertenwissen der Abgeordneten, ihrer Mitarbeiter und der Parlamentsverwaltung, durch externe Gutachten und Stellungnahmen sowie durch ministeriellen Sachverstand Einlaß in das Verfahren 233. Soweit jedoch Grundrechte im Gesetzgebungsverfahren nicht einmal thematisiert werden, kommt eine erhöhte Richtigkeitsvermutung nicht in Frage. Erforderlich ist ein verfassungsrechtlicher Diskurs, wohingegen politische, moralische, religiöse oder sonstige Diskurse nichts zu grundrechtlicher Erkenntnis beitragen können. Wagt man an dieser Stelle eine eher intuitive Einschätzung, so dürfte der Fall eines „diskursiven Bonus" in normativen Fragen eher selten sein, weil Interessen in der Regel im Vordergrund stehen werden. Zu denken ist jedoch an verfassungsrechtliche Debatten im Stil „parlamentarischer Sternstunden". Es wäre übertrieben, hierin von vornherein nur Rhetorik im Dienste von (Partei-) Interessen zu sehen. Ist im Plenum oder in Ausschüssen über den Ausgleich grundrechtlicher Anforderungen eingehend beraten worden, so ist in engen Grenzen ein Abwägungsspielraum denkbar. In empirischen Fragen könnte der Prozeduralisierung eine erheblich größere Bedeutung zukommen. So könnte man vertreten, daß das BVerfG der sorgfältig ermittelten gesetzgeberischen Tatsachenbasis einer Einschätzung oder Prognose folgen muß, wenn es nicht wesentlich bessere eigene Erkenntnisse hat 2 3 4 . Hier hat auch das funktionale Argument eine gewisse Berechtigung, wonach das Parlament die bessere Informationsverarbeitungskapazität habe 235 . Soweit man die diskurstheoretischen Prämissen dieses Ansatzes teilt, läßt sich daher durch Spielräume die grundrechtliche Richtigkeit über das rationale Verfahren des Gesetzgebers ein Stück weit prozeduralisieren. Mit dem Demokratieprinzip besteht hierfür ein brauchbarer „Ansatzpunkt in der Verfassung" 236. Maßgeblich ist die konkret verwirklichte Verfahrensrationalität, weil man nicht im voraus und losgelöst vom Einzelfall sagen kann, ob und inwieweit der Gesetzgeber rational verfährt. Allerdings ist nachdrücklich auf die Grenzen der Prozeduralisierung grundrechtlicher Richtigkeit hinzuweisen. Voraussetzung eines Einschätzungs-, Prognose- und Abwägungsspielraums ist normative oder empirische Unsicherheit. Besteht dagegen Gewißheit im Hinblick auf die grundrechtliche Beurteilung einer Einschätzung, Prognose oder Abwägung, so hat das Verfassungsgericht keine Ver-
233 Vgl. Grimm, Verfassungsgerichtsbarkeit, in: Sozial Wissenschaften im Studium des Rechts II, S. 93. 234 Dabei soll nicht verkannt werden, daß parlamentarische Sachaufklärung bereits durch Interessen kontaminiert sein kann und nicht immer mit der Sorgfalt einer gerichtlichen Beweisaufnahme erfolgt. 235 Vgl. z. B. H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2105. 236
Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 387.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
anlassung, die grundrechtliche Richtigkeit zu prozeduralisieren. Auch eine perfekte Prozedur des Gesetzgebers kann kein Ergebnis legitimieren, daß einer grundrechtlichen Anforderung sicher zuwiderläuft 237 . So kann der unsachverständig oder unangemessen regulierende Gesetzgeber Grundrechte verletzen, auch wenn er sorgfältig recherchiert und eingehend beraten hat. ee) Kritik
und Verteidigung
Man kann den kompetenziellen Ansatz kritisieren, weil er dem Verfahren der verhältnismäßigen Zuordnung eine zentrale Rolle zuweist. Von Kritik an der Abwägung war schon mehrfach die Rede 238 . Gegenüber dem rechtsstaatlichen Vorwurf mangelnder Eindeutigkeit und Voraussehbarkeit ist zu erwidern, daß diese im Bereich der Grundrechtsinterpretation sowieso die Ausnahme ist. Ein Ansatz, der auf Abwägung verzichtet, ist demgegenüber in Gefahr, unflexible und unangemessene Lösungen zu produzieren. Um die Abwägung ein Stück weit berechenbar zu machen, läßt sich der Spielraum des Gesetzgebers mit einer Argumentationslast verbinden. Diese ist im kompetenziellen Ansatz als bereichsspezifrscher prima facie-Vorrang des Demokratieprinzips zu konstruieren. Wie dies im einzelnen umgesetzt werden kann, ist unten bei den Schutzrechten näher zu erläutern 239 . Einschätzungs-, Prognose- und Abwägungsspielräume schränken im Ergebnis Grundrechte ein. Dies könnte man für freiheitsfeindlich halten. Ferner ließe sich einer auf die demokratische Entscheidungskompetenz des Gesetzgebers zurückgreifenden Konstruktion des Spielraums vorwerfen, im Kern dezisionistisch zu verfahren. Der kompetenzielle Ansatz stellt jedoch nicht auf den Willen der einfachen Mehrheit ab, um einen Spielraum zu begründen, sondern auf die demokratische Legitimation des Gesetzgebers und die prozedurale Rationalität seines Verfahrens 240. Darin kann man verfassungsrechtlich legitime Gründe für einen Spielraum sehen. Im übrigen führen Spielräume jedenfalls nicht zu einer übermäßigen Freiheitsbeschränkung, weil die konkrete Bedeutung der betroffenen Grundrechte das wichtigste Kriterium für ihren Umfang ist. Gegen den Versuch einer teilweisen Prozeduralisierung könnte man einwenden, daß der politische Prozeß nur zum Teil rational ist. Das braucht hier nicht im einzelnen ausgeführt zu werden 241 . Eine Argumentation mit prozeduraler Richtigkeit 237 Vgl. auch ibid., S. 383. 238 Siehe oben 1. Kap., C. IV.; 2. Kap., F. III.; 4. Kap., C. I. 239 Siehe unten 5. Kap., C. III. 240 Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 216, weist zutreffend daraufhin, daß mit einem dezisionistischen Verständnis des politischen Prozesses nicht die grundrechtliche Richtigkeit des Ergebnisses begründet werden kann. 241 Die Bedingungen einer idealen Sprechsituation sind in vielerlei Hinsicht nicht erfüllt. Aus der Fülle der möglichen Ansatzpunkte sind beispielsweise zu nennen: die Beschränkung des Teilnehmerkreises am Diskurs auf Abgeordnete, Berufspolitiker und Funktionäre, Fraktionszwang, knappe und zugeteilte Redezeit, Privilegierung von parlamentarischen Funk-
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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wäre jedoch erst dann unvertretbar, wenn man den politischen Prozeß ausschließlich als interessengeleitetes „bargaining"-Modell verstehen oder ihn allein als Ort irrationaler Dezisionen sehen würde 242 . Diese einseitige Betrachtungsweise würde verkennen, daß der politische Prozeß deliberativ, interessengeleitet und irrational zugleich verfahren kann 243 . Soweit der politische Prozeß rational verläuft, läßt er sich in einen diskurstheoretischen Zusammenhang einstellen. Dies darf zugunsten eines Spielraums berücksichtigt werden 244 . Im kompetenziellen Ansatz geht es nicht darum, mit Mängeln im parlamentarischen Verfahren das mehrheitlich beschlossene Gesetz als undemokratisch zu kritisieren 245 . Das Gesetzgebungsverfahren ist jedenfalls in erster Linie als Entscheidungs- und nicht als Erkenntnisverfahren angelegt 246 . Die prozedurale Rationalität soll deshalb lediglich zugunsten des Gesetzgebers berücksichtigt werden 247 . Damit werden dem Gesetzgeber keine Verfahrenspflichten außerhalb der ausdrücklichen, formellen Regelungen in Verfassung, Gesetz und Geschäftsordnungen auferlegt. Die Kritik 2 4 8 an solchen Verfahrenspflichten trifft also den kompetenziellen Ansatz nicht. Insbesondere wird der Gesetzgeber nicht mit einer Pflicht zu einem optimalen Gesetzgebungsverfahren 249 belastet. ff) Ergebnis Mit dem kompetenziellen Ansatz lassen sich Spielräume des Gesetzgebers begründen. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt des Spielraums ist das Demokratieprinzip, das grundrechtlichen Anforderungen verhältnismäßig zuzuordnen ist. Mit dieser flexiblen Lösung können grundrechtliche und funktionale Belange angemessen ausgeglichen werden. Deshalb ist der kompetenzielle Ansatz dem rein materiell-rechtlichen Ansatz überlegen, der die funktionale Ebene ausblendet und
tionsträgern, Zeitdruck, Geschäftsordnungs„kniffe", Macht-, Partei- und Eigeninteressen, Parteizugehörigkeit statt Bereitschaft zum Rollentausch. Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 218 ff. 242 Vgl. ibid., S. 216, 220. 243 Vgl. ibid., S. 219: Das Gesetzgebungsverfahren sei „kein idealer Diskurs", aber auch „kein bloßes Dezisionsverfahren". 244 Vgl. Raabe, ibid., S. 219 ff., der auf „relative, begrenzte prozedurale Richtigkeit" abstellt (Zitat auf S. 219) 245 Vgl. ibid., Grundrechte und Erkenntnis, S. 385. 246 Weitergehend Gusy, ZRP 1985, S. 298; und K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 207, für die das Gesetzgebungsverfahren ein Entscheidungs-, aber kein Erkenntnisverfahren ist. Vgl. allg. v. Arnim, Staatslehre, S. 203 ff. 247 Vgl. insoweit Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 384 ff., 431 ff. 248 Ablehnend K. Vogel, Bundesverfassungsgericht, S. 206 ff.; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 503 ff. (506). Differenzierend Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 367 ff. (379 ff.), 495 f. 249 Dazu Schwerdlfeger, Optimale Methodik der Gesetzgebung als Verfassungspflicht, in: FS H.P. Ipsen, S. 173 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen unbewältigt läßt. Andererseits wird die Einseitigkeit rein funktionaler Theorien vermieden, die grundrechtlichen Belangen zu wenig Gewicht beimessen. Der kompetenzielle Ansatz führt in der hier vertretenen Form nicht zur Zurückweisung objektiver Grundrechtswirkungen, wohl aber zu einer Reduktion schutzrechtlicher Anforderungen durch Spielräume des Gesetzgebers. Dies ist im folgenden anhand der Schutzrechte näher auszuführen. Darüber hinaus ermöglicht es der kompetenzielle Ansatz, mit der demokratischen und prozeduralen Legitimation des Gesetzgebers Einschätzungs-, Prognoseund Abwägungsspielräume im Hinblick auf unsichere empirische und normative Fragen zu begründen. Solche Spielräume können auch die Qualität des konkreten gesetzgeberischen Verfahrens berücksichtigen, um grundrechtliche Richtigkeit ein Stück weit zu prozeduralisieren.
I I I . Das Beispiel grundrechtlicher Schutzpflichten Im verfassungstheoretischen Teil dieser Arbeit wurde der Verzicht auf die objektiv-rechtliche Dimension als unangemessen zurückgewiesen. Es wurde jedoch auch gesagt, daß sich damit die funktionell-rechtlichen Bedenken, die sich gegen diese Grundrechtsfunktion richten, nicht erledigt haben 250 . Im folgenden soll am Beispiel der grundrechtlichen Schutzrechte versucht werden, einen angemessenen Ausgleich zwischen funktionell-rechtlichen Bedenken und dem materialen Aspekt der Freiheitssicherung zu finden. Dabei verfolgt die Arbeit den zuvor entwickelten kompetenziellen Ansatz 251 , um dem Gesetzgeber funktionale Spielräume zu eröffnen. In Rechtsprechung und Literatur besteht weitgehend Einigkeit, daß dem Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten ein Spielraum zukommt (1.). Der Umfang dieses Spielraums ist jedoch trotz einer Vielzahl von Publikationen aus neuerer Zeit nicht hinreichend geklärt. Zunächst wird hierzu die Rechtsprechung des BVerfG im Uberblick dargestellt (2.). Man kann den Umfang des Spielraums abstrakt im voraus festlegen, indem man Regeln aufstellt (3.). Alternativ dazu kann man ihn im konkreten Fall durch Abwägung ermitteln (4.). Der Spielraum des Gesetzgebers läßt sich in der Abwägung mit einer Argumentationslast verstärken (5.). Abschließend soll die verfassungsgerichtliche Rechtsprechung zum Schwangerschaftsabbruch im Hinblick auf die schutzrechtliche Problematik bewertet werden (6.).
1. Zustimmung zum Ob des schutzrechtlichen Spielraums Das BVerfG und die herrschende Lehre befürworten im Grundsatz einen Spielraum des Gesetzgebers bei der Erfüllung der Schutzrechte 252. Die für den Spiel250 Siehe oben 4. Kap., C. II. 4. b) cc), III. 251 Siehe oben 5. Kap., C. II. 3. b).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation475
räum sprechenden Gründe sind schon in der Kritik an der objektiv-rechtlichen Dimension der Grundrechte sowie in der oben dargelegten Begründung für eine funktionale Einschränkung grundrechtlicher Anforderungen im kompetenziellen Ansatz zur Sprache gekommen 253 . Kurz gesagt sind Spielräume bei Schutzrechten erforderlich, weil Handlungspflichten den politischen Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers im Vergleich zu Abwehrgrundrechten besonders stark einschränken 2 5 4 . Fragen der Güterverteilung und der Verwendung von Steuermitteln, wie sie im Zusammenhang mit Schutzpflichten besonders häufig zu entscheiden sind, sind primär vom Gesetzgeber zu verantworten, nicht vom Verfassungsgericht. Gegen einen staatlichen Spielraum bei Schutzrechten spricht immerhin ein Argument von Isensee255, wonach es für das Opfer von Lärmemissionen keinen Unterschied mache, ob etwa ein Flughafen in privater oder öffentlicher Hand sei. Das Schutzbedürfnis sei in beiden Fällen gleich hoch. Dieser Einwand ist schon aus grundrechtlicher Sicht nur dann berechtigt, wenn Grundrechte gegen Private genauso wie gegen den Staat wirken. Grundrechte schützen aber in erster Linie gegen staatliches Handeln, weshalb private und hoheitliche Störung nicht einfach gleichgesetzt werden dürfen. Im übrigen darf die Schutzbedürftigkeit nicht allein über den Spielraum entscheiden, wenn man die Einseitigkeit des materiell-rechtlichen Ansatzes vermeiden will. Um die politische Handlungskompetenz des Gesetzgebers bei der Erfüllung von Schutzpflichten zu schützen, ist deshalb ein Spielraum grundsätzlich anzuerkennen.
2. Rechtsprechung des BVerfG zum Umfang des Spielraums Die Entwicklung der Schutzrechte in der Rechtsprechung des BVerfG ist hier nicht im einzelnen nachzuzeichnen. Vielmehr soll nur der Umfang des grundrechtlich gebotenen Schutzes sowie der korrespondierende Spielraum des Gesetzgebers interessieren 256. Zur Rechtsfolge der Schutzpflicht stellte das Gericht im zweiten Abtreibungsurteil zunächst fest, daß der Schutz des ungeborenen Lebens nicht 252 Vgl. BVerfGE 77, 170 (214 f.); 88, 203 (262); 96, 56 (64). Aus der Lit. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 90, 162 (m. nachf. Zitat): „Die Schutzpflicht beläßt den politischen Instanzen Ermessen, zu bestimmen, wie sie einer Gefahr begegnen"; Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 266; Sachs, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 35; Oeter, AöR 119 (1994), S. 537, 550; E. Klein, NJW 1989, S. 1637 ff.; H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 495. 253 Siehe oben 1. Kap., C. II., und 5. Kap., C. II. 3. b) bb). 254 Auch wenn der Gesetzgeber die aufgrund eines Abwehrgrundrechts kassierte Regelung aus praktischen Gründen vielfach ersetzen muß (vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 211), hebt dies den praktisch erheblichen Unterschied zwischen einer Verpflichtung zu legislativem Tun einerseits und zu staatlichem Unterlassen andererseits nicht auf. 255 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 117. 256 Vgl. zur Rspr. die Darstellung bei Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 351 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
absolut geboten sei, was schon aus der Schranke in Art. 2 Abs. 2 S. 3 GG folge 257 . Das Ausmaß der Schutzpflicht ergebe sich statt dessen aus einer Abwägung, was das BVerfG unter Hinweis auf Hermes so ausdrückte: „Ihre Reichweite ist vielmehr im Blick auf die Bedeutung und Schutzbedürftigkeit des zu schützenden Rechtsguts - hier des ungeborenen menschlichen Lebens - einerseits und mit ihm kollidierender Rechtsgüter andererseits zu bestimmen." 258
Als mit dem ungeborenen Leben kollidierende Rechtsgüter bezeichnete das Gericht die Menschenwürde der Schwangeren (Art. 1 Abs. 1 GG), ihr Recht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) sowie ihr Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG) 2 5 9 . Erst im Zusammenhang mit der Uberprüfbarkeit von Prognosen des Gesetzgebers über die Wirksamkeit des Schutzkonzepts hob das BVerfG ausdrücklich hervor, daß das Erfordernis eines wirksamen und ausreichenden Schutzes den „Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsspielraum" des Gesetzgebers nicht ausschließe260. Zum Umfang des Spielraums wies das BVerfG Interpretationen früherer Entscheidungen als Mißverständnis zurück, denen zufolge nur die evidente Untätigkeit des Gesetzgebers sowie die Wahl völlig ungeeigneter oder unzulänglicher Schutzmaßnahmen als Verstoß gegen die Schutzpflicht anzusehen sei 2 6 1 . Das BVerfG überprüfte sodann die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen im Rahmen des Beratungskonzepts im einzelnen anhand der von ihm aufgestellten Maßstäbe, die der Gesetzgeber nicht unterschreiten dürfe 262 . Ebenso überprüfte es die Prognosen des Gesetzgebers auf ihre Vertretbarkeit. Dabei ging es zum Beispiel um die Vertretbarkeit der Einschätzung des Gesetzgebers, daß wirksamer Schutz des Ungeborenen in der Frühphase der Schwangerschaft nur mit der Mutter, nicht aber gegen sie möglich sei. Was die Wirksamkeit des Schutzes durch das Beratungskonzept anbelangt, stellte das Gericht im Hinblick auf die Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Einschätzungen detaillierte Vorgaben zur künftigen Gestaltung des Abtreibungsrechts auf. Die an den Gesetzgeber gerichteten Vorgaben betrafen unter anderem das Strafrecht, Verfahren und Organisation der Beratung, das ärztliche Berufsrecht sowie das Arbeits- und Sozialrecht 263. Ein Gutteil dieser 257 258 259 260
Vgl. BVerfGE 88, 203 (253 f.). BVerfGE 88, 203 (254). Vgl. BVerfGE 88, 203 (254). BVerfGE 88, 203 (262).
261 „Die im Beschluß des Senats vom 29. Oktober 1987 (vgl. BVerfGE 77, 170 [214 f.]) enthaltenen Ausführungen zur Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde gegen staatliches Unterlassen dürfen nicht dahin verstanden werden, als genügten der Erfüllung der Schutzpflicht des Staates gegenüber menschlichem Leben schon Maßnahmen, ,die nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind'." (BVerfGE 88, 203 (262 f.) 262 Vgl. BVerfGE 88, 203 (298 ff.). 263 Überblick zu den Konsequenzen des Urteils bei Hermes /Walther, Schwangerschaftsabbruch zwischen Recht und Unrecht, NJW 1993, S. 2337 ff.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
477
Erwägungen fand Eingang in die ausführliche Anordnung des BVerfG nach § 35 BVerfGG 264 . Vergleicht man die beiden Abtreibungsurteile mit den übrigen schutzrechtlichen Entscheidungen, so zeigen sich hinsichtlich des gesetzgeberischen Spielraums markante Unterschiede. Detaillierte Vorgaben zur künftigen Gesetzgebung finden sich so nur im zweiten Abtreibungsurteil. Darüber hinaus geht das BVerfG von einem weiten gesetzgeberischen Spielraum aus, wenn es nicht um den Schutz des ungeborenen Lebens geht 265 . Repräsentativ ist der C-Waffen-Beschluß von 1987, auf den die oben erwähnte Klarstellung im zweiten Abtreibungsurteil bezug nimmt: „Dem Gesetzgeber [ . . . ] kommt bei der Erfüllung dieser Schutzpflichten ein weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbereich zu, der auch Raum läßt, etwa konkurrierende öffentliche und private Interessen zu berücksichtigen. Diese weite Gestaltungsfreiheit kann von den Gerichten je nach Eigenart des in Rede stehenden Sachbereichs, den Möglichkeiten, sich ein hinreichend sicheres Urteil zu bilden und der Bedeutung der auf dem Spiele stehenden Rechtsgüter nur in begrenztem Umfang überprüft werden (vgl. BVerfGE 50, 290 [332 f.]). [ . . . ] Nur unter ganz besonderen Umständen kann sich diese Gestaltungsfreiheit in der Weise verengen, daß allein durch eine bestimmte Maßnahme der Schutzpflicht Genüge getan werden kann. Um den Anforderungen an die Zulässigkeit einer Verfassungsbeschwerde zu entsprechen, [ . . . ] muß der Beschwerdeführer schlüssig dartun, daß die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder daß offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen." 266
Das Erfordernis einer evidenten Schutzpflichtverletzung findet sich bereits in einigen vor dem C-Waffen-Beschluß ergangenen Entscheidungen267. Auch diesem Beschluß nachfolgende Entscheidungen verbinden trotz geringfügiger Unterschiede in der Formulierung und Gewichtung den Evidenzmaßstab mit dem Verbot völliger Untätigkeit und einer Umschreibung des geschuldeten Mindestschutzniveaus, wie sie die „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich"-Formel enthält 268 . Allerdings hielt sich das BVerfG schon im Fluglärmbeschluß die Möglichkeit offen, zukünftig eine intensivere gerichtliche Kontrolle vorzunehmen. Die Entscheidung des Gesetzgebers sei zwar lediglich begrenzt nachprüfbar; dies gelte allerdings nur, „sofern nicht Rechtsgüter von höchster Bedeutung auf dem Spiele stehen." 269 264 Vgl. dazu BVerfGE 88, 203 (209 ff.). 265 Vgl. außer der nachfolgend im Text zitierten Entscheidung BVerfGE 85, 191 (212); 97, 169 (176). Von einem weiten Abwägungsspielraum der Instanzgerichte geht BVerfG 96, 56 (64) mit LS 2 aus. Vgl. auch BVerfG (K) NJW 1995, S. 2343. 266 BVerfGE 77, 170 (214 f.), vgl. auch LS 2. 267 Vgl. BVerfGE 56, 54 (80 ff.); BVerfG (Vorprüfungsausschuß) NJW 1983, S. 2931 (2932); BVerfG (K) NJW 1987, S. 2287. 268 Vgl. BVerfGE 77, 381 (405); 79, 174 (202); 85, 191 (212); BVerfG (K) NJW 1996, S. 651 f.; NJW 1997, S. 2509; NJW 1997, S. 3085.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
Damit folgt die Rechtsprechung zum Spielraum des Gesetzgebers zwei konträren Linien. Einem Evidenzmaßstab im C-Waffen-Beschluß und späteren Entscheidungen steht eine intensive Kontrolle des Gesetzgebers in den beiden Abtreibungsurteilen gegenüber. Es bleibt zu klären, ob sich die Entscheidungen in ein überzeugendes Erklärungsmodell einbinden lassen.
3. Abstrakte Bestimmung von Rechtsfolge und Spielraum? a) Verpflichtung zu effektivem Schutz Die schwierigste Frage der Schutzrechte betrifft den Inhalt der Rechtsfolge: Wieviel Schutz gebietet das Grundrecht? Hesse zählt die Wirksamkeit der Schutzmaßnahmen des Gesetzgebers zu den „eindeutigen verfassungsrechtlichen Normierungen, an welche der Gesetzgeber gebunden ist" 2 7 0 . Hierdurch könne die Wahl der Mittel für den Gesetzgeber erheblich eingeschränkt sein 271 . Dies ist als Ausgangspunkt weiterer Überlegungen zutreffend. Die Verfassung gebietet jedenfalls nicht unwirksamen Schutz. Problematisch ist aber, daß der effektive 272 , wirksame 273 , genügende, ausreichende 274, hinreichende 275, notwendige, erforderliche usw. Schutz lediglich das Ziel der Schutzpflicht bezeichnet, aber weder die konkrete Rechtsfolge noch operationalisierbare Kriterien nennt, wie man diese feststellt. Außerdem bleibt unklar, welche Rolle die Schranken der Schutzrechte spielen. Effektiver, das heißt wirksamer Schutz kann Verschiedenes bedeuten: (1) Sichere und vollständige Abwendung der Gefahr bzw. des Eingriffs; (2) Erreichung eines bestimmten Schutzniveaus, das die Abwendung der Gefahr beinhalten, aber auch dahinter zurückbleiben kann; (3) Vornahme einzelner wirksamer Schritte (= Schutzmaßnahmen) im Hinblick auf ein bestimmtes Schutzniveau.
b) Regeln zum Schutzumfang Man kann den grundrechtlich gebotenen Schutzumfang abstrakt im voraus festlegen, so daß als Kehrseite ein mehr oder minder großer struktureller oder funktio269 BVerfGE 56, 54 (81). 270 Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 545. 271 Vgl. ibid., S. 555. 272 Vgl. BVerfGE 39, 1 (44); Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 261; Isensee, in: HStR, §111 Rdnr. 165: „Ziel des Ermessens ist die effektive Erfüllung der Schutzpflicht"; E. Klein, NJW 1989, S. 1637. 273 Vgl. BVerfGE 88, 203 (254). 274 Vgl. BVerfGE 88, 203 (254, 261). 275 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 153.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
479
naler Spielraum des Gesetzgebers entsteht. Für diese starre, regelgeleitete Lösung spricht, daß sie den Verzicht auf eine Abwägung im Einzelfall ermöglicht 276 , was ein Gewinn an Rechtssicherheit wäre. Zwar würde auch einer solchen abstrakten Rechtsfolge eine Abwägung zugrundeliegen 277. Im konkreten Fall müßte man aber nicht mehr abwägen, um den geschuldeten Schutzumfang zu bestimmen. Als Lösungsansatz kommt zum einen ein maximales Schutzniveau in Betracht, weil „wirksamer" Schutz aus der Sicht des Grundrechtsträgers erfordert, die Gefahr restlos abzuwenden (aa]). An ein minimales Schutzniveau könnte man denken, wenn man den Gesetzgeber möglichst wenig beschränken will (bb]). aa) Maximales Schutzniveau Ein maximales Schutzniveau verlangt die vollständige Abwehr der Gefahr oder des Eingriffs 278 . Diese Lösung hat den Nachteil, daß sie alle staatlichen Handlungskapazitäten in den Dienst der Gefahrenabwehr stellt und damit den politischen Handlungsspielraum des Gesetzgebers übermäßig einengt. Das Maximalmodell würde zudem die grundrechtliche Freiheit der Bürger im Verhältnis untereinander ersticken, weil jede Freiheitsbetätigung eine umfassende schutzrechtliche Reaktion auf den Plan rufen würde. Die freiheitsschützende Funktion der Schutzrechte würde in ihr Gegenteil verkehrt, wenn man ihr eine Verpflichtung zu polizeistaatlichem Schutz entnehmen würde 279 . Im übrigen würde auch das keine absolute Sicherheit verbürgen. Die Maximallösung ist somit abzulehnen280. Daraus folgt vor allem, daß effektiver Schutz auch weniger als restlos erfolgreiche Gefahrenabwehr bedeuten kann 281 . Will man dies nicht mit einer Abwägung im Einzelfall begründen, muß man im voraus ein niedrigeres Schutzniveau festlegen. bb) Minimales Schutzniveau Ein Teil der Literatur befürwortet ein Schutzniveau, das an einem abstrakten Minimalstandard ausgerichtet ist 2 8 2 . Wahl und Masing etwa sprechen synonym von 276
Vgl. zum folgenden auch Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 389 ff. Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 290. Zur Unterscheidung von Innen- und Außentheorie ibid., S. 250 ff.; im Hinblick auf Schutzrechte Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 244 ff. 278 Unbeschadet aller nachfolgend von ihm selbst vorgenommenen Einschränkungen bezeichnet Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 90, die Gefahren- und Eingriffsabwehr immerhin als Rechtsfolge der Schutzpflicht. 27 9 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 358; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 145. 277
280 H.M., vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 240 f.; Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 358. 281 Vgl. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 164: Der Staat müsse „nicht stets das ganze Arsenal öffnen." 282 Für einen Minimalstandard sprechen sich Wahl/Masing, JZ 1990, S. 559 f., 562 f.; Breuer, in: FS Redeker, S. 52 f.; und Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung,
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
einem „Minimum an Schutz", einer „Minimalposition" und „Minimalschutz" 283 . Wenn Breuer den Minimalstandard auf die Menschenwürde bezieht 284 , so klingt damit eine Beschränkung auf den - niedrig anzusetzenden - absoluten Wesensgehalt an 2 8 5 . Diese Autoren gehen im Sinne eines strukturellen Spielraums von einem abstrakten Schutzminimum als grundrechtlicher Rechtsfolge aus. Zum gleichen Ergebnis gelangt Hesse, wenn er dem Gesetzgeber bei der Umsetzung von Schutzpflichten einen ausnahmslos weiten funktionalen Spielraum einräumt 286 . Das BVerfG dürfe stets nachprüfen, ob der Gesetzgeber evident untätig geblieben sei. Sei der Gesetzgeber tätig geworden, so komme für seine Abwägungen und Prognosen nur eine Evidenz- oder allenfalls eine Vertretbarkeitskontrolle in Betracht 287 . Das Verfassungsgericht dürfe die vom Gesetzgeber vorgenommene Abwägung von Schutzpflicht und Abwehrrecht nur eingeschränkt überprüfen, weil ein rechtlicher Maßstab für die Angemessenheitsprüfung fehle 288 . Auch dürfe es nicht seine unsichere Prognose zur Geeignetheit der vom Gesetzgeber gewählten Schutzmaßnahme an die Stelle der - ebenfalls unsicheren - Prognose des Gesetzgebers setzen: „Nuancen größerer Wahrscheinlichkeit könnten einen Anspruch des Bundesverfassungsgerichts nicht rechtfertigen, ,richtiger' zu entscheiden als das Parlament." 289 Die Kontrollbefugnis hinsichtlich der Eignung von Schutzmaßnahmen sei grundsätzlich auf die Frage beschränkt, „ob der Gesetzgeber mit seiner Entscheidung seine Schutzpflicht offensichtlich verletzt hat, ob eine Vorkehrung also evident ungeeignet oder völlig unzulänglich ist." 2 9 0 Die Prüfungsintensität
S. 239 f. aus. Vgl. auch Murswiek, Grundrechte als Teilhaberechte, soziale Grundrechte, in: HStR, § 112 Rdnr. 98 ff., zur parallelen Problematik der Minimalgarantie bei originären Teilhaberechten. 283 Wahl/Masing, JZ 1990, S. 559, 560, 562. 284 Vgl. Breuer, in: FS Redeker, S. 52 f. 285 Dazu allg. Pieroth/Schlink, Grundrechte, Rdnr. 300; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 227 ff. (229 f.) m. w. Nachw. 286 Konstruktiv beruht diese Abstufung der Kontrolle auf der schon erwähnten Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm, vgl. Hesse, Funktionelle Grenzen, S. 319; ders., in: FS Mahrenholz, S. 557. Diese Aufspaltung befürworten auch Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 162; sowie Rinken, in: AK-GG, vor Art. 93 Rdnr. 79, 108. Siehe dazu oben 5. Kap., C. II. 3. a) aa). 287 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 556 f. Für Evidenzkontrolle auch Simon, in: HdBVerfR, § 34 Rdnr. 59; ebenso abw. M. Rupp.-v. Brünneck u. Simon, BVerfGE 39, 68 (73, 78, 88, 91): „[Das BVerfG] darf dem Gesetzgeber nur dann entgegentreten, wenn er eine Wertentscheidung ganz außer acht gelassen hat oder die Art und Weise ihrer Realisierung offensichtlich fehlsam ist." {ibid., S. 73). Im Ergebnis ähnlich wie Hesse H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 495, in Anlehnung an die zu Art. 3 Abs. 1 GG entwickelten Maßstäbe. Demnach würde der Gesetzgeber bei der Erfüllung von Schutzpflichten nur einem Willkürverbot unterliegen. 288 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 557. 289 ibid., S. 555. 290 Ibid., S. 556 (Nachw. weggelassen).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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dürfe sich allenfalls zu einer Vertretbarkeitskontrolle der zugrundeliegenden Prognosen steigern, nicht jedoch in intensive Kontrolle übergehen 291. Zutreffenderweise sieht Hesse den Umfang der Schutzpflicht nicht darauf beschränkt, daß der Gesetzgeber überhaupt tätig werden muß. Dann wäre nämlich nur die völlige Untätigkeit des Gesetzgebers verfassungswidrig. Letztlich wäre die Schutzpflicht schon dann erfüllt, wenn sich der Gesetzgeber mit der schutzrechtlich relevanten Gefahr befaßt 292 . Dies würde vielfach zu geringen Schutz bieten. Für einen abstrakten Minimalstandard spricht neben dem schon erwähnten Verzicht auf Abwägung im Einzelfall, daß so der Gestaltungsspielraum des Gesetzgebers optimiert wird. Hesse könnte sich für seine Lösung auf das BVerfG berufen, das für die Zulässigkeit von Verfassungsbeschwerden einen Evidenzmaßstab benutzt hat. Für den Minimumstandard knüpft seine Formulierung an die oben zitierte Passage im C-Waffen-Beschluß an 2 9 3 . Aus dieser Sicht verletzt das zweite Abtreibungsurteil den gesetzgeberischen Spielraum, der ausnahmslos weit zu fassen ist 2 9 4 . Einwände gegen einen abstrakten Minimalstandard ergeben sich aus den Folgen für das grundrechtliche Schutzniveau. „Minimaler" Schutz bedeutet wörtlich, daß lediglich ein sehr niedriges Schutzniveau geboten ist. Dies kann zu einer unverhältnismäßigen Beschränkung des Schutzrechts führen. Entstehen zum Beispiel aus neuen Technologien mit einer ernstzunehmenden Wahrscheinlichkeit schwerwiegende Risiken für Gesundheit oder Leben von Menschen, so ist aus grundrechtlicher Sicht ein hohes Schutzniveau geschuldet295. Ein weiteres Beispiel ist der Schutz des ungeborenen Lebens, der nach der Rechtsprechung des BVerfG mehr als die Vermeidung eines gänzlich unzureichenden Schutzniveaus fordert 296 . Ein
291 Vgl. ibid. 292 Zu dem darin liegenden Verzicht auf Ergebniskontrolle Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 376 f. Vgl. ferner Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 252. 293 Für die Zulässigkeit der Verfassungsbeschwerde verlangte das BVerfG die schlüssige Darlegung, „daß die öffentliche Gewalt Schutzvorkehrungen entweder überhaupt nicht getroffen hat oder daß offensichtlich die getroffenen Regelungen und Maßnahmen gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich sind, das Schutzziel zu erreichen." (BVerfGE 77, 170 [215], vgl. auch LS 2. c]). Auch Wahl/Masing, JZ 1990, S. 563, zitieren diese Passage des CWaffen-Beschlusses im Zusammenhang mit der von ihnen vertretenen Minimalposition. 294 Vgl. die Kritik bei Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2339 f. Vgl. auch Rau, Selbst entwickelte Grenzen, S. 201, der das Fristenlösungsurteil von 1975 für eine „auffällige Durchbrechung der im Verhältnis zwischen Bundesverfassungsgericht und Gesetzgeber entwickelten Grundsätze" hält. 295 Allerdings weisen Wahl/Masing, JZ 1990, S. 563, daraufhin, daß gerade in einem solchen Fall der vorhandene Schutz gänzlich ungeeignet und völlig unzulänglich sein kann, wenn spezialgesetzliche Eingriffsermächtigungen fehlen und die polizeiliche Generalklausel mangels konkreter Gefahr (noch) nicht greift. Das Kriterium der „völligen Unzulänglichkeit" erweist sich also durch die Bezugnahme auf das notwendige Schutzniveau von einer gewissen Flexibilität. Dennoch ist der Minimalstandard für den Normalfall auf ein sehr geringes Schutzniveau hin angelegt. 31 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
unangemessenes Schutzniveau kann erst recht entstehen, wenn man die „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich"-Formel durch ein Evidenzkriterium noch weiter abschwächt. Dies alles spricht nicht gegen ein Schutzminimum als generelle Mindestanforderung der Schutzrechte. Im Ausnahmefall kann die schutzrechtliche Mindestanforderung aber auch über ein minimales Schutzniveau hinausgehen. Minimaler Schutz ist deshalb mit dem vom Grundrecht mindestens gebotenen Schutz nicht immer identisch. Unflexibler Minimalschutz kann also im Einzelfall zu unangemessenen Ergebnissen führen, weshalb diese starre, regelgeleitete Lösung für die Bestimmung des Schutzumfangs bzw. des Spielraums abzulehnen ist.
c) Ergebnis Grundrechtliche Schutzrechte verpflichten den Gesetzgeber zu effektivem Schutz. Dies bedeutet nicht, daß der Gesetzgeber im Sinne einer Maximallösung zu vollständiger Gefahrenabwehr verpflichtet ist. Er schuldet aber zumindest minimalen Schutz, der über ein völlig unzulängliches Schutzniveau und gänzlich ungeeignete Schutzmaßnahmen hinausgehen muß. Ist der Schutz „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich", ist das Schutzrecht stets verletzt 297 . Unterhalb dieses Minimumschutzniveaus besteht kein Spielraum des Gesetzgebers mehr. Minimaler, das heißt sehr geringer Schutz kann jedoch bei großer Schutzbedürftigkeit des gefährdeten Schutzgutes zu wenig sein, um aus grundrechtlicher Sicht zu befriedigen. Das Grundrecht kann im Ausnahmefall auch hochwirksamen Schutz verlangen 2 9 8 . Minimaler Schutz darf daher nicht die abstrakte Rechtsfolge der Schutzrechte sein. Gleiches gilt für einen starren Spielraum, der - wie bei Hesse - zu einem minimalen Schutzniveau führt. Vorzugswürdig ist eine flexible Bestimmung des angemessenen Schutzniveaus, die im Unterschied zu einem starren Ansatz auf die besonderen Umstände des Einzelfalls eingehen kann und sowohl schutzrechtliche als auch funktionell-rechtliche Belange angemessen berücksichtigt 299. Dies kann nur mittels Abwägung im konkreten Fall geschehen. 296 Vgl. BVerfGE 88, 203 (254, 262 f.). Anders Vogel, DÖV 1978, S. 667: Die Wahl des geeigneten Mittels sei „wohl hin bis zur Grenze der Untauglichkeit des gewählten Mittels" Sache des Parlaments. Dies bezieht er auch auf den Schutz des ungeborenen Lebens, vgl. ibid. und ders., NJW 1996, S. 1509. 297 Inwieweit eine Unterschreitung des minimalen Schutzniveaus abgesehen vom Demokratieprinzip durch kollidierendes Verfassungsrecht gerechtfertigt werden kann, soll hier dahinstehen. 298 Das grundrechtlich mindestens gebotene, d. h. angemessene Schutzniveau kann sehr hoch (wie bei der Abtreibung) oder relativ niedrig (wie beim Verkehrslärm) liegen. Wenn das Schutzrecht als Mindestanforderung auch ein hohes Schutzniveau gebieten kann, wäre es mißverständlich, stets von minimalem (wörtlich: sehr geringem) Schutz zu sprechen. Zutreffend Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 90 (m. nachf. Zitat), 165, der vom „Mindeststandard ausreichender Schutznormen" spricht. Wie das von ihm ibid. ins Spiel gebrachte Untermaßverbot als Vorgabe effektiven Schutzes zeigt, ist damit kein minimales Schutzniveau gemeint. 299 Im Erg. ebenso Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 241.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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4. Bestimmung des Schutzumfangs durch Abwägung Auf der Grundlage des kompetenziellen Ansatzes sind Schutzumfang und Spielraum durch Abwägung im Einzelfall zu bestimmen. Schutzrechte stehen als Prinzipien der Beschränkung durch verhältnismäßige Zuordnung offen (a]). Der auf das Demokratieprinzip gestützte Spielraum wirkt sich auf das Schutzniveau (aa]), die in Relation zum Schutzniveau gebotenen Schutzmaßnahmen (bb]) und auf das sog. Untermaßverbot aus (cc]). Der Spielraum ist vor allem in der schutzrechtlichen Angemessenheitsprüfung zu berücksichtigen. Dort lassen sich je nachdem, ob dem Schutzrecht Abwehrrechte Dritter entgegenstehen oder nicht, Dreiecksverhältnisse (b]) und zweiseitige Verhältnisse unterscheiden (c]).
a) Schutzrechte als Prinzipien aa) Schutzniveau Sieht man das Schutzrecht als Prinzip 300 , so gebietet es als Optimierungsgebot so viel Schutz, wie rechtlich und tatsächlich möglich ist. Deshalb zielt es prima facie auf das bestmögliche Schutzniveau301. Das noch unbegrenzte prima facieSchutzrecht verpflichtet den Gesetzgeber, einen Idealzustand anzustreben, der aus rechtlichen und faktischen Gründen meist unerreichbar ist. Zum definitiven Umfang des Schutzrechts gelangt man, wenn man das „überschießende" 302 prima facie-Recht rechtlichen und tatsächlichen Beschränkungen unterwirft. In rechtlicher Hinsicht wird das Schutzrecht durch Abwehrrechte Dritter, insbesondere des Störers, beschränkt, die dem Schutzeingriff entgegenstehen. Gegenläufige Abwehrrechte reduzieren den Umfang des gebotenen Schutzes. Das Schutzrecht gebietet definitiv nicht maximalen Schutz, sondern allenfalls so viel, wie mit entgegenstehenden Abwehrrechten vereinbar ist. Hermes stellt sogar hauptsächlich auf entgegenstehende Rechte Dritter und Interessen der Allgemeinheit ab, um den Umfang der Schutzpflicht zu bestimmen 303 . In ähnlicher Weise spricht das BVerfG von kollidierenden Rechtsgütern 304. Festzuhalten ist, daß Abwehrgrundrechte Drit300 So Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 422; Hesse, Grundzüge, Rdnr. 350; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 138, 160; Böckenförde, Staat 29 (1990), S. 13; H.H. Klein, DVB1. 1994, S. 495; Unruh, Schutzpflichten, S. 89 f.; ausführlich Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 61 ff., 244 ff. 301 Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 359. 3
02 Vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 471, auch S. 253. 303 Vgl. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 246 ff., 249 ff. 304 Vgl. BVerfG 88, 203 (254). Soweit damit Abwehrgrundrechte Dritter angesprochen sind, ist dies unproblematisch. Problematisch ist dagegen, ob auch öffentliche Interessen ein Schutzrecht einschränken können. Diese Frage ist für öffentliche Interessen, die zugleich kollidierende Verfassungsgüter sind, nach dem Grundsatz praktischer Konkordanz (vgl. Hesse, Grundzüge, Rdnr. 72) zu bejahen. Ob man eine Einschränkung von Schutzrechten auch durch einfache öffentliche Interessen zuläßt, hängt davon ab, ob Schutzrechte unter einfachem 31*
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
ter den Schutzrechten in der verhältnismäßigen Zuordnung eine letzte, nicht überwindbare Grenze ziehen. Eine weitere rechtliche Beschränkung ergibt sich im kompetenziellen Ansatz aus dem Demokratieprinzip, das dem Gesetzgeber einen Spielraum eröffnet. Das Demokratieprinzip hat zwar in der Abwägung regelmäßig nicht das Gewicht von grundrechtlichen Prinzipien, führt aber dazu, daß der gesetzgeberische Spielraum nicht völlig unberücksichtigt bleibt. Im Unterschied zu der hier vertretenen Lösung bezieht das BVerfG das Demokratieprinzip nicht in die schutzrechtliche Abwägung ein. Auch Hermes wägt nicht gegen das Demokratieprinzip ab 3 0 5 . Er meint jedoch, daß die Zuordnung von Schutzrecht und entgegenstehenden Rechten „primär in die Kompetenz der politisch verantwortlichen Organe" falle, was zu Abstufungen im Kontrollumfang führen könne 306 . Dieser Konkretisierungsprimat des Gesetzgebers wird im kompetenziellen Ansatz indirekt über das Demokratieprinzip berücksichtigt 307 . Welches Schutzniveau definitiv geboten ist, ist eine Frage der Abwägung 308 von Schutzrecht und kollidierenden Verfassungsprinzipien 309. Über das Schutzniveau entscheidet somit die Angemessenheitsprüfung 310. Definitiv geschuldet ist stets verhältnismäßiger i.e.S., das heißt angemessener und in diesem Sinne effektiver Schutz. Definitiv ist daher lediglich das beste Schutzniveau geboten, das der Gesetzgeber unter Berücksichtigung seiner tatsächlichen und rechtlichen Möglichkeiten verwirklichen kann. Nur wenn es im konkreten Fall keine gegenläufigen Prinzipien und keine faktischen Grenzen gäbe, wäre der Gesetzgeber zu maximalem Schutz verpflichtet. Dies ist praktisch ausgeschlossen.
Gesetzesvorbehalt stehen oder ähnlich den vorbehaltlos gewährleisteten Grundrechten nur durch kollidierendes Verfassungsrecht eingeschränkt werden können. Nach wohl überw. M. beziehen sich die Gesetzesvorbehalte der Abwehrgrundrechte auch auf die Schutzrechte, vgl. dazu Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 258. Demgegenüber nimmt Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 268, eine ungeschriebene grundrechtliche Eingriffsermächtigung an, die dem Staat wie beim einfachen Gesetzesvorbehalt die Wahl des verfolgten Zwecks erlaube. Es genügt also die Verfolgung legitimer öffentlicher Zwecke, die nicht auf ein Verfassungsgut zurückgeführt werden müssen. Denkbar ist auch, es wie bei vorbehaltlosen Grundrechten bei der Schranke des kollidierenden Verfassungsrechts zu belassen, was einen Rückgriff auf gemeinwohlbezogene Verfassungsgüter nicht ausschließt. 305 Vgl. ders., Grundrecht auf Schutz, S. 246 ff., 253 ff., 282 (Nr. 13). 306 ibid., S. 282 (zu Ziff. 13), vgl. auch S. 254, 257. 307 Siehe oben 5. Kap., C. II. 3. b) bb), dd) (1). 308 Dabei ist durch Abwägung eine bedingte Vorrangrelation zu ermitteln, die das Schutzniveau beschreibt, vgl. Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 81. Vgl. auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 251; sowie allg. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 251 ff., 253 ff. 309 So kollidieren z. B. im Bereich der Kernenergienutzung mit dem Grundrecht auf Leben und körperliche Unversehrtheit (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) die Grundrechte der Atomkraftwerksbetreiber aus Art. 12 Abs. 1 S. 1 und 14 Abs. 1 S. 1 GG. 310 Ebenso Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 359.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Das dargestellte Modell, das zwischen prima facie und definitiv gebotenem Schutzumfang unterscheidet, läßt sich in das Eingriff-Schranken-Schema übersetzen. Auf das Schutzniveau bezogen, liegt ein Eingriff in das Schutzrecht dann vor, wenn es der Staat unterläßt, die vollständige Abwehr der Gefahr, des Risikos oder der Störung zu leisten 311 . Gerechtfertigt ist dieser Eingriff durch Unterlassen, wenn und soweit kollidierendes Verfassungsrecht das Schutzrecht zurückdrängt. bb) Schutzmaßnahmen Das schutzrechtliche Prinzip gebietet prima facie den Einsatz jeden Mittels, das den Schutzzweck fördert 312 . Dies entspricht dem Charakter des Schutzrechts als einem zu optimierenden Prinzip. Daraus folgt, daß jedes Unterlassen im Hinblick auf ein prima facie gebotenes Mittel einen Eingriff in die Schutzpflicht darstellt 313 . Der Eingriff durch Unterlassen ist rechtfertigungsbedürftig. Dabei muß auf das Schutzniveau zurückgegriffen werden, um zu bestimmen, ob das Schutzrecht unangemessen beschränkt wird. Der Gesetzgeber darf definitiv alle diejenigen prima facie gebotenen Schutzmaßnahmen unterlassen, die über dem angemessenen Schutzniveau liegen, weil sich deren Unterlassung durch kollidierendes Verfassungsrecht unter Einschluß eines gesetzgeberischen Spielraums rechtfertigen läßt. Definitiv sind demnach nur solche geeigneten Schutzmaßnahmen geboten, die zur Erreichung des angemessenen Schutzniveaus erforderlich sind. Zwischen mehreren gleich geeigneten Mitteln im Hinblick auf ein gegebenes Schutzniveau darf der Gesetzgeber frei wählen, sofern nicht kollidierende Verfassungsgüter die Wahl beschränken. Die Schutzrechte sind insoweit blind im Hinblick auf die Mittelauswahl. Dieser strukturelle Spielraum ist für den Gesetzgeber von großer Bedeutung 3 1 4 . cc) Untermaßverbot Zum verfassungsrechtlich gebotenen Mindestmaß an Schutz stellte das BVerfG im zweiten Abtreibungsurteil in Anlehnung an Isensee315 ein „Untermaßverbot" 316 auf: 311 Vgl. ibid., S. 355, 357: Unterlassen der perfekten Gefahrenabwehr sei ein Eingriff in das Grundrecht. 312 So Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 151, 252 f., 254,280 u.ö. 313
Zu dem Einwand, daß hierdurch überflüssig viele Grundrechtskollisionen geprüft werden müssen, vgl. die Unterscheidung von potentiellen und aktuellen Grundrechtsfällen bei Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 295 ff. Vgl. auch Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 263, zum Erfordernis einer praktischen Grenze in der Fallbearbeitung. 314
Vgl. Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 356. Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 90, hatte das Untermaßverbot so formuliert, daß die Schutzvorkehrungen des Gesetzgebers „geeignet, wirksam und ausreichend" sein müßten. Ziel des Ermessens sei die „effektive Erfüllung der Schutzpflicht" {ibid., Rdnr. 165). Der 315
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
„Art und Umfang des Schutzes im einzelnen zu bestimmen, ist Aufgabe des Gesetzgebers. Die Verfassung gibt den Schutz als Ziel vor, nicht aber seine Ausgestaltung im einzelnen. Allerdings hat der Gesetzgeber das Untermaßverbot zu beachten [ . . . ] ; insofern unterliegt er der verfassungsgerichtlichen Kontrolle. Notwendig ist ein - unter Berücksichtigung entgegenstehender Rechtsgüter - angemessener Schutz; entscheidend ist, daß er als solcher wirksam ist." 3 1 7 Ein Teil der Literatur begreift das Untermaßverbot nicht als Änderung der Rechtsprechung, da der Gesetzgeber effektiven Schutz schulde, um seine Schutzpflicht zu erfüllen. Dies sei auch schon eine inhaltliche Anforderung des ersten Urteils zum Schwangerschaftsabbruch gewesen, das noch nicht vom Untermaßverbot gesprochen h a b e 3 1 8 . U m eine terminologische Neuerung handelt es sich in der Tat, wenn man das Untermaßverbot auf den vom Schutzrecht mindestens (nach der Prinzipientheorie: definitiv) gebotenen Schutzumfang bezieht. In diesem Sinn bedeutet Untermaß gleich Mindestmaß. Das Untermaßverbot drückt die Selbstverständlichkeit aus, daß mindestens der dem Grundsatz der Verhältnismäßigkeit i.e.S. genügende, das heißt angemessener Schutz zu leisten ist, der eine Verletzung des Grundrechts ausschließt 3 1 9 . Es umschreibt also lediglich die schutzrechtliche Rechtsfolge, die geeigneten und angemessenen Schutz verlangt 3 2 0 , weshalb ihm keine eigenständige inhaltliche Bedeutung z u k o m m t 3 2 1 . In terminologischer Hin-
„verfassungsgebotene Mindeststandard an Grundrechtssicherheit" müsse gewährleistet sein (ibid.). 316 Zum Untermaßverbot Hain, Der Gesetzgeber in der Klemme zwischen Übermaß- und Untermaßverbot?, DVB1. 1993, S. 982 ff.; ders., Das Untermaßverbot in der Kontroverse, ZG 1996, S. 75 ff.; Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaßverbot, S. 15 ff.; Denninger, Vom Elend des Gesetzgebers zwischen Übermaß verbot und Untermaß verbot, in: FS Mahrenholz 1994, S. 561 ff.; Dietlein, Das Untermaßverbot, ZG 1995, S. 131 ff.; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 119 ff., 151 ff., 252 f. In der Lit. vor 1993 verwenden den Begriff des Untermaßverbots Canaris, AcP 184 (1984), S. 201 (228); ders., Grundrechtswirkungen und Verhältnismäßigkeitsprinzip in der richterlichen Anwendung und Fortbildung des Privatrechts, JuS 1989, S. 161 ff. (163); Jarass, AöR 110 (1985), S. 383; Götz, Innere Sicherheit, in: HStR, § 79 Rdnr. 30 f. 317 BVerfGE 88, 203 (254); die Auslassung verweist auf Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 165 f. Vgl. auch abw. M. Papier, Graßhof u. Haas in BVerfGE 98, 329 (355 f.) - Bayerische Abtreibungskliniken. 318 Vgl. Sachs, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 36: „eher terminologische Neuerung"; Starck, JZ 1993, S. 817; Hain, DVB1. 1993, S. 983; ders., ZG 1996, S. 76, 80; so auch Dietlein, ZG 1995, S. 140. 319 Vgl. - insoweit übereinstimmend - Dietlein, ZG 1995, S. 140, und Hain, ZG 1996, S. 76. 320 Vgl. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 119, 151 ff., 252, der die bei ihm dreistufige schutzrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung als Untermaßverbot bezeichnet. 321 Nur im Erg. ebenso Hain, ZG 1996, S. 82; Unruh, Schutzpflichten, S. 87. Der These von Starck, JZ 1993, S. 817, wonach das Untermaßverbot eine unselbständige „Erscheinungsform des Übermaßverbots" sei, wird hier nicht gefolgt, weil selbst bei Konzentration auf die als strukturäquivalent bezeichnete Angemessenheitsprüfung die angemessene Beriicksichti-
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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sieht ist es jedoch sinnvoll, am Begriff festzuhalten. Denn er formuliert die schutzrechtliche Anforderung im Hinblick auf Schutzumfang und Spielraum des Gesetzgebers spezifischer als die Rede von der Erfüllung der Schutzpflicht. Gegenüber der Kritik 3 2 2 in der Literatur ist festzustellen, daß das Untermaßverbot aus funktionaler Perspektive unbedenklich ist, weil es Spielräume des Gesetzgebers nicht ausschließt. Es fordert nicht einmal ein hohes Schutzniveau, weil es kein eigenständiges Optimierungsgebot zur Verstärkung materieller Schutzprinzipien ist 3 2 3 . Dem Gesetzgeber droht vom Untermaß verbot keine Beschränkung, die nicht schon in den Schutzrechten selbst angelegt ist.
b) Spielraum im Dreiecksverhältnis Das schutzrechtliche Dreiecksverhältnis 324 ist dadurch gekennzeichnet, daß zur zweistelligen Relation zwischen schutzberechtigtem Bürger und Staat der private Störer 325 hinzutritt. Die Abwehrrechte des Störers setzen dem staatlichen Handeln zum Schutz des Opfers Schranken. Der staatliche Schutzeingriff ist also einerseits durch das Schutzrecht veranlaßt, andererseits durch das Eingriffsabwehrrecht des Störers beschränkt 326. Der Spielraum des Gesetzgebers geht zulasten des grundrechtlichen Schutzrechts 327. Das versteht sich von selbst, soweit Schutz möglich ist, ohne Abwehrrechte zu berühren. Auch im Dreiecksverhältnis kann nicht eingreifender Schutz durch faktische Leistung eine Rolle spielen 328 . Zumeist geht es gung des Schutzrechts eine von der abwehrrechtlichen Angemessenheit des Schutzeingriffs zu trennende Frage ist. Vgl. auch Sachs, in: ders., Grundgesetz, Art. 20 Rdnr. 147. 322 Vor der Gefahr einer über die Schutzpflichten hinausgehenden Einschränkung des Gesetzgebers durch das Untermaß verbot warnt Hain, ZG 1996, S. 83 f.; ihm folgend Unruh, Schutzpflichten, S. 85 ff. Scharfe Kritik am Untermaß verbot bei Lietzmann, „Reflexiver Konstitutionalismus" und Demokratie, S. 255 ff. 323 Im Erg. ebenso Dietlein, ZG 1995, S. 139 f., der hier jedoch argumentiert, daß das Untermaßverbot keine höhere Regelungsdichte aufweisen könne als der zugrundeliegende Gesetzgebungsauftrag als Finalprogramm. 324 Zum Begriff Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 204 ff.; Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 5, 87; Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 248 Fn. 64. 325
Der Begriff wird hier allgemein und nicht im polizeirechtlichen Sinn verwendet. Neben dem privaten Störer kommt möglicherweise auch ein fremder Staat sowie eine internationale oder supranationale Organisation als Verursacher der Gefahr in Frage. Zu diesen strittigen Fragen Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 120 ff. 326 Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 5, 168, spricht von der Ambivalenz des Schutzeingriffs, der den Störer im status negativus belastet und das Opfer im status positivus begünstigt. 321 Vgl. dazu bereits Jarass, AöR 110 (1985), S. 384. 328 Demgegenüber meint Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 200 f., 244, daß die Schutzpflicht in erster Linie auf Normsetzung abziele, weshalb die Haushaltskompetenz bei Schutzrechten nicht ins Gewicht falle. Normativer Schutz mag tatsächlich überwiegen; gerade aber der Schutz des ungeborenen Lebens gegen Abtreibung zeigt die Relevanz auch faktischer Schutzmaßnahmen des Staates in aller Deutlichkeit. Beispielsweise kann der Staat weniger
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
hier jedoch um normativen Schutz, der in Abwehrrechte des Störers eingreift. Sind Abwehrrechte beteiligt, verstärkt der Spielraum im Ergebnis deren Wirkung, indem er die schutzrechtliche Anforderung noch über das vom Abwehrrecht gebotene Maß hinaus reduziert. Davon unabhängig kann auch im Rahmen der abwehrrechtlichen Prüfung, die von der schutzrechtlichen Prüfung streng unterschieden werden muß, ein Spielraum des Gesetzgebers zu berücksichtigen sein 329 . Gäbe es den Spielraum des Gesetzgebers nicht, so würde aufgrund der prima facie-Verpflichtung zu optimalem Schutz eine punktgenaue Lösung in bezug auf das gebotene Schutzniveau drohen 330 . Der Gesetzgeber müßte dann stets so viel Schutz leisten, wie er abwehrrechtlich gerade noch darf. Dies wäre aus funktionaler Sicht nicht akzeptabel. Der Spielraum des Gesetzgebers darf jedenfalls im Regelfall nicht auf Null reduziert werden. Falls jedoch die Beeinträchtigung des Schutzrechts ungewöhnlich hoch ist, wie es das BVerfG in den Abtreibungsurteilen angenommen hat, kommt dem Demokratieprinzip in der Abwägung nur geringes Gewicht zu. Dadurch kann der Spielraum zwischen Schutz- und Abwehrrecht ausnahmsweise so weit schrumpfen, daß der Gesetzgeber so viel tun muß, wie er abwehrrechtlich betrachtet gerade noch tun darf. In diesem Fall hat der Gesetzgeber ausnahmsweise keinen oder nur einen stark verengten Spielraum hinsichtlich des von ihm zu wählenden Schutzniveaus, während ihm normalerweise die gesamte Bandbreite zwischen Minimalschutzniveau und abwehrrechtlich zulässigem Höchstmaß zur Verfügung steht. Im Grenzfall kann sich sein Spielraum hinsichtlich der Auswahl von Schutzmaßnahmen auf eine einzige verfassungsmäßige Lösung reduzieren.
c) Spielraum im zweiseitigen Verhältnis Das Schutzrecht kann sich auf das zweiseitige Verhältnis zwischen Bürger und Staat beschränken. Dies ist der Fall, wenn dem Schutzrecht kein Abwehrrecht gegenübersteht, weil der Gesetzgeber zur Gewährung von Schutz nicht in Rechte auf den Schutzeingriff gegenüber der Schwangeren durch Erlaß von Strafnormen und mehr auf Beratung sowie auf staatliche Hilfen für Mutter und Kind setzen. Dann stellt sich auch innerhalb des Dreiecks die Frage, wie die staatliche Schutzverpflichtung zur Bereitstellung von Leistungen i.e.S. begrenzt wird. 329 Abwehr- und schutzrechtliche Prüfung konvergieren nur in der Angemessenheit. Es gibt bei Schutzrechten keine dreistufige Verhältnismäßigkeitsprüfung (a.A. Borowski, Grundrechte als Prinzipien, S. 119 ff.). Wenn das Schutzrecht nur geeignete Maßnahmen gebietet, so ist dies Bestandteil der Rechtsfolge, nicht aber Ausfluß des Verhältnismäßigkeitsprinzips. Erforderlich ist der Schutz, der unter Berücksichtigung kollidierender Prinzipien angemessen ist. Ein Pendant zur abwehrrechtlichen Erforderlichkeit fehlt. Die Frage nach einem milderen Mittel ist aus schutzrechtlicher Perspektive sinnlos. Vgl. Grimm, Rückkehr, in: ders., Die Zukunft der Verfassung, S. 236. 33 0 Dazu einerseits Hain, DVB1. 1993, S. 983; ders., ZG 1996, S. 83 f. m. Fn. 45; und andererseits Dietlein, ZG 1996, 138.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Dritter eingreift 331 . Praktisch wird dies vor allem beim Schutz durch faktische Leistung relevant 332 . Im Wege der Abwägung kann bei der Beurteilung des gebotenen Schutzniveaus das Schutzbedürfnis und zugleich eine Uberforderung des Leistungsvermögens der öffentlichen Hand flexibel berücksichtigt werden 333 . Aus schutzrechtlicher Sicht kann der Gesetzgeber grundsätzlich wählen, ob er mehr auf faktischen oder mehr auf normativ-eingreifenden Schutz setzt 334 . Zum Beispiel ist der Staat nicht verpflichtet, Sozialleistungen zum Schutz des ungeborenen Lebens zu perfektionieren, bevor er Verhaltensnormen setzen darf 335 . 5. Zum Umfang des Spielraums bei Schutzrechten Nunmehr lassen sich konkrete Aussagen zum Umfang des Spielraums machen. Erstens darf der Spielraum des Gesetzgebers nicht dazu führen, daß der grundrechtlich unerläßliche Minimalschutz verfehlt wird (a]). Zweitens ist der Umfang des Spielraums zwar flexibel im Einzelfall zu bestimmen (b]). Dies schließt es jedoch drittens nicht aus, von einer Argumentationslast zugunsten eines weiten Spielraumumfangs auszugehen (c]). a) Minimalschutz als Untergrenze des Spielraums 336 Der schutzrechtlich stets gebotene Minimalschutz 337 läßt sich als Ergebnis einer vom Einzelfall gelösten Abwägung von Schutzrecht und Demokratieprinzip rekon331 Unruh, Schutzpflichten, S. 88, hält diese Fälle für selten. Vgl. aber Wahl/Masing, JZ 1990, S. 557, die auf das Fehlen eines gezielten Eingriffs bei den Schutzmaßnahmen, die im Schleyer-Fall (BVerfGE 46, 160) und in der C-Waffen-Entscheidung (BVerfGE 77, 170) in Frage kamen, hinweisen. 332 Dabei soll die Belastung der Allgemeinheit durch Steuern zur Finanzierung faktischer Schutzmaßnahmen außer Betracht bleiben. 333 Zu einem ähnlichen Ergebnis gelangt Isensee, in: HStR, § 111 Rdnr. 90, 144, indem er die staatliche Schutzpflicht unter den Vorbehalt des faktisch Möglichen stellt. Das kann man zum einen auf die tatsächliche Unmöglichkeit beziehen. Dazu allg. Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 244 f. Diese dürfte aber nur in seltenen Fällen vorliegen. Jedoch kann man den Vorbehalt des Möglichen auch auf die Haushaltskompetenz des Gesetzgebers beziehen. Hierfür läßt sich der weit über die tatsächliche Unmöglichkeit hinausgehende Sprachgebrauch aus der Diskussion um soziale Grundrechte anführen. Vgl. BVerfG 33, 303 (333) - NC-Urteil: Teilhaberechte stünden „unter dem Vorbehalt des Möglichen im Sinne dessen, was der Einzelne vernünftigerweise von der Gesellschaft beanspruchen kann." Dazu Murswiek, in: HStR, § 112 Rdnr. 57 ff. 334 Vorbehaltlich gleicher Effektivität ebenso Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 263. 335 Hiervon ist die abwehrrechtliche Verhältnismäßigkeitsprüfung zugunsten der Schwangeren zu unterscheiden, die zu einem anderen Ergebnis führen kann. 336 Vgl. zum folgenden Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 255; Raahe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 434 ff. 337 Siehe oben 5. Kap., C. III. 3. b) bb), c).
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
struieren. Das Schutzrecht darf im Rahmen praktischer Konkordanz nicht so weit zurückgedrängt werden, daß der Gesetzgeber weniger als minimalen Schutz leisten dürfte. Insofern beinhalten Schutzrechte gegenüber dem Demokratieprinzip einen abwägungsfesten Kern 3 3 8 .
b) Flexibler Spielraum Bestimmt man Schutzumfang und Spielraum im Einzelfall durch Abwägung, so ist das Ergebnis der schutzrechtlichen Prüfung in keiner Weise voraussehbar. Außerdem wäre die Gefahr groß, daß sich im Einzelfall stets die grundrechtlichen Erwägungen durchsetzen, weil diesen in der Regel höheres Gewicht als dem Demokratieprinzip zukommt. Zu befürchten- wäre eine schleichende Annäherung an die oben abgelehnte Maximallösung, die mit einer Reduktion des Spielraums einhergehen würde. Ein vollständig flexibler Spielraum genügt daher nicht, um die Einengung des Gesetzgebers durch die Schutzrechte auszugleichen.
c) Argumentationslast zugunsten eines weiten Spielraums Die hier vorgeschlagene Lösung befürwortet deshalb eine am Demokratieprinzip anknüpfende Argumentationslast 339 zugunsten eines weiten Spielraums des Gesetzgebers340. Eine Reduktion des Spielraums bzw. ein erhöhtes Schutzniveau sollte der Ausnahmefall sein 341 . Mit einem solchen Regel-Ausnahme-Modell lassen sich die beiden gegenläufigen Linien der Rechtsprechung einfangen. Grundsätzlich besteht ein weiter Spielraum, wie der Gesetzgeber die Schutzpflicht erfüllt 342 . Deshalb sprechen der C-Waffen-Beschluß und mehrere ihm folgende Entscheidungen vom ,,weite[n] Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsbe-
338
Dies läuft nicht auf einen absoluten Wesensgehalt hinaus, da die Minimalposition stets im Wege einer Abwägung begründet wird. 339 Dabei geht es um eine „weiche Ordnung" von Prinzipien, die hierdurch nicht in eine kardinale oder ordinale Ordnung gebracht werden. Dazu Alexy, Theorie der Grundrechte, S. 138 ff., 142 f., 517. 340 Auch in der Literatur wird zum Teil ein grundsätzlich weiter Spielraum befürwortet. Vgl. Sachs, in: ders., Grundgesetz, vor Art. 1 Rdnr. 35 f. (regelmäßig weiter Spielraum); wohl auch Preu, JZ 1991, S. 268. Manche Autoren vermeiden eine Festlegung zum Umfang des Spielraums. Vorsichtig etwa Hermes, Grundrecht auf Schutz, S. 266: „beträchtlicher Gestaltungsspielraum der Gesetzgebung" zum Schutzumfang und vor allem zu Art und Weise des Schutzes. Vgl. auch ibid., S. 257, 267, 282 (Ziff. 13). Ob der Spielraum ausnahmslos weit sein oder ob nur eine Argumentationslast zu seinen Gunsten bestehen soll, ist häufig nicht eindeutig erkennbar. 341
Die Größe des Spielraums verhält sich jeweils umgekehrt proportional zur Höhe des definitiv gebotenen Schutzniveaus, das sich als Rechtsfolge der Schutzrechte ergibt. 342 Vgl. zusammenfassend BVerfGE 96, 56 (64).
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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reich" des Gesetzgebers343. Der Spielraum kann sich auf Einschätzungen, Prognosen und Abwägungen (Wertungen) des Gesetzgebers beziehen. In der Formulierung des BVerfG korrespondiert dem weiten Spielraum ein minimales Schutzniveau („nicht gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich"), was sich in den verminderten gerichtlichen Prüfungsmaßstab der Vertretbarkeitskontrolle übersetzen läßt 344 . Der weite Spielraum besteht jedoch nicht ausnahmslos. So ist bereits die Flexibilitätsklausel im Fluglärmbeschluß zu verstehen („Rechtsgüter von höchster Bedeutung"). Auch die Einbeziehung der Flexibilität sichernden Kriterien des Mitbestimmungsurteils (Sachbereich, Unsicherheit, Bedeutung der Rechtsgüter) deutet schon im C-Waffen-Beschluß darauf hin, daß ausnahmsweise ein hohes Schutzniveau geboten sein kann 345 . Im Ausnahmefall verengt sich daher der Spielraum des Gesetzgebers; zugleich verschärft sich die grundrechtliche Anforderung. Hauptkriterium für die Verengung des Spielraums ist die Bedeutung und die Schutzbedürftigkeit des schutzrechtlichen Rechtsguts. Damit läßt sich die Argumentationslast zugunsten des Spielraums überwinden. Die beiden Abtreibungsurteile erscheinen in dieser Lesart nicht als Mißachtung des weiten gesetzgeberischen Spielraums, sondern als begründeter Ausnahmefall eines verengten Spielraums 346. Für dieses Regel-Ausnahme-Verhältnis spricht, daß es flexiblen Grundrechtsschutz mit optimaler Berücksichtigung des Demokratieprinzips verbindet. Der grundsätzlich weite Spielraum des Gesetzgebers bietet Schutz vor einer unangemessenen Einschränkung des politischen Handlungsspielraums. Damit wird die Funktionsverschiebung, die Schutzrechte für das Verhältnis von Verfassungsgerichtsbarkeit und Gesetzgeber zur Folge haben, ein Stück weit ausgeglichen. Selbst ein hohes Schutzniveau schließt aber Spielräume nicht schlechthin aus, weil das Demokratieprinzip auch dann noch zu berücksichtigen ist 3 4 7 . Diese Komplexität wird nicht erreicht, wenn man lediglich drei unterschiedliche Kontrollmaßstäbe (Inhalts-, Vertretbarkeits- und Evidenzkontrolle) 348 unterscheidet. Als Handlungsanleitung ist das dreistufige Kontrollmodell daher unangemessen349.
343 BVerfGE 77, 170 (214); 77, 381 (405); 79,174 (202). 344 Differenzierend Merten, Grundrechtliche Schutzpflichten und Untermaß verbot, S. 25, der zwar von weiter Einschätzungs-, Wertungs- und Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers spricht, die „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich"-Formel jedoch ablehnt: „Es darf [ . . . ] keine Grauzone gezogen werden, innerhalb deren staatliche Maßnahmen zwar unzulänglich, aber noch nicht völlig unzulänglich sind." (ibid., S. 29) Die Schutzpflicht gebietet jedoch auch angesichts eines weiten Spielraums keine unzulänglichen Schutzmaßnahmen. Sie gebietet vielmehr mindestens soviel Schutz, daß ein völlig unzulängliches Schutzniveau ausgeschlossen ist. 345 Einen Trend in der Rspr. zu differenzierter Handhabung des Einschätzungsspielraums im Sinne eines Abwägungsmodells konstatiert Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 353. 346 im zweiten Abtreibungsurteil fehlt der Hinweis auf die Weite des Spielraums, vgl. BVerfGE 88, 203 (262). Näher zu diesem Beispielsfall unten 5. Kap., C. 6. 347 Dies zeigen die Spielräume im zweiten Abtreibungsurteil, siehe unten 5. Kap., C. 6. 348 Dazu allg. H.-P. Schneider, NJW 1980, S. 2105 f.; Schiaich, BVerfG, Rdnr. 496 ff.
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG d) Ergebnis
Das Regel-Ausnahme-Modell zum Spielraumumfang bei Schutzrechten läßt sich wie folgt zusammenfassen. Grundsätzlich ist von einem minimalen Schutzniveau und einem weiten Spielraum auszugehen. Dies läßt sich im Regel-PrinzipienModell durch eine Argumentationslast zugunsten des vom Demokratieprinzip gestützten Spielraums bewerkstelligen. Die „gänzlich ungeeignet oder völlig unzulänglich"-Formel des BVerfG indiziert die untere Grenze des Spielraums: Dieser Minimalstandard ist in jedem Fall einzuhalten350. Für einen ausnahmsweise engeren Spielraum - etwa im Hinblick auf den Schutz des ungeborenen Lebens - sind gewichtige Gründe darzulegen, die für ein höheres Schutzniveau sprechen. Eine Verengung des Spielraums muß der Ausnahmefall bleiben. Auch die Ermessensreduzierung auf Null hinsichtlich einzelner Schutzmaßnahmen muß die Ausnahme bleiben. Wenn schon kleinste Unterschiede in der Wirksamkeit genügen würden, um die Ermessensreduzierung auszulösen, bestünde die Gefahr, daß der grundsätzlich weite Spielraum des Gesetzgebers praktisch nicht viel wert wäre.
6. Beispielsfall
Schwangerschaftsabbruch
Das zweite Abtreibungsurteil wird mit dem Argument kritisiert, daß es den politischen Prozeß übermäßig beschränke 351. So bemängelt Hesse, daß verfassungsgerichtliche Handlungsanweisungen und eine zu enge Umschreibung der verfassungsmäßigen Lösung dem Gesetzgeber die Gestaltungsfreiheit nehmen würden. Das Verfassungsgericht sei hier seinerseits gestaltend tätig geworden, was gegen die grundgesetzliche Funktionenteilung verstoße 352. Fraglich ist, ob und inwieweit diese Kritik auf der Grundlage des hier vertretenen Ansatzes berechtigt ist. Wie oben erläutert, kann es im Ausnahmefall zulässig sein, das grundrechtlich gebotene Schutzniveau hoch anzusetzen und den Spielraum zu verengen. Auf der Grundlage dieses Ansatzes läßt sich das BVerfG nicht dafür kritisieren, daß es den Spielraum des Gesetzgebers überhaupt verengt hat, falls die hierfür genannten Gründe plausibel sind. Akzeptiert man die verfassungsgerichtliche Prämisse, wonach das ungeborene Leben am verfassungsrechtlichen Lebensschutz (Art. 2 Abs. 2 S. 1 GG) und am Schutz der Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) teilhat, so 349
Das zweite Abtreibungsurteil läßt ausdrücklich dahinstehen, ob sich drei verschiedene Kontrollmaßstäbe unterscheiden lassen, wie es das Mitbestimmungsurteil angedeutet hatte, vgl. BVerfGE 88, 203 (262). 350 Inwieweit das Schutzrecht in Notstandslagen womöglich noch weiter zurücktreten muß, kann hier nicht erörtert werden. 351
Eine umfassende verfassungsrechtliche Bewertung der Problematik des Schwangerschaftsabbruchs ist hier nicht vorzunehmen. Die Diskussion beschränkt sich auf die funktionell-rechtliche Perspektive. 3 52 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 553 f.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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ist angesichts der besonderen Bedeutung dieser Prinzipien die Verengung des schutzrechtlichen Spielraums grundsätzlich nicht zu beanstanden. Allerdings läßt sich die Art und Weise angreifen, in der das BVerfG den Spielraum tatsächlich gehandhabt hat. Das BVerfG hat im zweiten Abtreibungsurteil entgegen seinem Bekenntnis zur Vertretbarkeitskontrolle 353 der Sache nach eine intensive Inhaltskontrolle praktiziert 354 . Dies betrifft vor allem die Wirksamkeit der einzelnen Bestandteile des Beratungskonzepts. Die Kritik 3 5 5 an diesem Widerspruch erscheint berechtigt. Immerhin ist der Spielraum des Gesetzgebers selbst im zweiten Abtreibungsurteil nicht durchgängig auf Null reduziert. Das BVerfG hat zum Beispiel die DreiMonats-Frist akzeptiert, innerhalb derer die Letztverantwortung für den Lebensschutz der Frau zugewiesen ist 3 5 6 . Darin kann man einen Prognosespielraum bezüglich der Wirksamkeit des Beratungskonzepts (Schutz „durch" oder „gegen" die Mutter) und einen Abwägungsspielraum im Hinblick auf die damit zusammenhängenden Abwägungen sehen. Die Abwägungen betreffen zum Beispiel die wichtige Frage, ob der Verzicht auf das Mittel des Strafrechts im ersten Trimester und die damit verbundene Letztverantwortung der Schwangeren angemessen ist. Zugunsten des Spielraums könnte man berücksichtigen, daß der politische Prozeß, der zur Verabschiedung der Beratungslösung geführt hat, besonders gut funktioniert hat. Insofern könnte man aus der konkret realisierten Rationalität des Verfahrens auf eine besonders starke Legitimation zugunsten der Lösung des Gesetzgebers schließen357. Fragwürdig ist darüber hinaus der Umfang der konkreten Handlungsanweisungen an den Gesetzgeber. Das BVerfG läßt dem Gesetzgeber in den Entscheidungsgründen des zweiten Abtreibungsurteils und in der Anordnung nach § 35 BVerfGG kaum Spielraum, wie die Beratungslösung auszugestalten ist 3 5 8 . Das Verfassungsgericht gibt eine Fülle von Hinweisen, wie der Gesetzgeber den verfassungsgerichtlichen Anforderungen am besten nachkommen kann. Nicht alle dieser verfassungsgerichtlichen Ausführungen sind schutzrechtlich geboten 359 . Das BVerfG sollte auf obiter dicta dieser Art besser verzichten.
353 Vgl. BVerfGE 88, 203 (262). 354 Vgl. Hesse, in: FS Mahrenholz, S. 552 („uneingeschränkte Prüfung"). 355 Vgl. Hermes/Walther, NJW 1993, S. 2340. 356 Dazu Denninger, in: FS Mahrenholz, S. 562. 357 Siehe oben 5. Kap., C. II. 3. b) dd) (1) und (3). Dazu Raabe, Grundrechte und Erkenntnis, S. 384 ff. (386 f.), 431 f. 358 Vgl. BVerfGE 88, 203 (209 ff.). 359 Ein verzichtbares obiter dictum ist z. B. die vom BVerfG im zweiten Abtreibungsurteil behauptete Verpflichtung des privaten Rundfunks, in Ausübung der Rundfunkfreiheit an der Schutzaufgabe gegenüber dem ungeborenen Leben teilzunehmen (vgl. BVerfGE 88, 203 [261]). Als obiter dictum kritisieren die Richter Mahrenholz und Sommer im gleichen Urteil die Ausführungen der Senatsmehrheit, wonach das Dasein eines Kindes niemals als Scha-
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
D. Ergebnis zur Begrenzung durch funktionell-rechtliche Ansätze Weder die political question-Doktrin noch judicial self-restraint ergeben einen brauchbaren Ansatzpunkt für eine Begrenzung des Verfassungsgerichts. Sinnvoll ist dagegen die Forderung, wonach sich das BVerfG mit obiter dicta zurückhalten sollte. Funktionale Spielräume wirken einer übermäßigen Einengung des Gesetzgebers durch grundrechtliche Anforderungen entgegen, indem sie diese Anforderungen im Sinne der sog. Konvergenzlösung reduzieren. Ein rein materiell-rechtlicher Ansatz reicht zur Begründung dieser Spielräume nicht aus, da er nur grundrechtliche Überlegungen berücksichtigt. Umgekehrt sind funktionell-rechtliche Ansätze in Gefahr, durch einen einseitigen Vorrang funktionaler Erwägungen grundrechtliche Belange zu vernachlässigen. Insbesondere überzeugt es nicht, aus funktionalen Gründen die objektive Dimension der Grundrechte abzulehnen. Vermittelnde Ansätze versuchen statt dessen, einen Ausgleich zwischen materiellrechtlichen und funktionell-rechtlichen Belangen zu erzielen. Die vorliegende Arbeit vertritt im Anschluß an Vorlagen in der Literatur einen kompetenziellen Ansatz, bei dem das Demokratieprinzip als Gegenspieler zu grundrechtlichen Prinzipien wirkt. Der Umfang der Spielräume ist durch Abwägung zwischen Grundrecht und Demokratieprinzip zu bestimmen. Auf der Seite des Demokratieprinzips fließen funktionell-rechtliche und prozedurale Erwägungen in die Abwägung ein. Der Spielraum läßt sich mit einer Argumentationslast verstärken, die bereichsspezifisch auszudifferenzieren ist. Im Bereich der grundrechtlichen Schutzrechte ist von einem grundsätzlich weiten Spielraum auszugehen, der den Gesetzgeber lediglich verpflichtet, mehr als gänzlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Schutz zu leisten. Damit läßt sich eine flexible Beschränkung der Schutzrechte erreichen, die funktionale Einwände entschärft. Ausnahmsweise kann jedoch auch ein hohes Schutzniveau geboten sein. Eine solche Konstellation, die mit einem verengten Spielraum einhergeht, liegt beim Schutz des ungeborenen Lebens vor. Allerdings hat das BVerfG den von ihm selbst aufgestellten Spielraum im zweiten Abtreibungsurteil nicht ordnungsgemäß umgesetzt und den Gesetzgeber vor allem mit Handlungsanforderungen und obiter dicta unzulässig beschränkt. Insgesamt ermöglicht der kompetenzielle Ansatz eine wirkungsvolle und in ihrem Potential noch nicht ausgeschöpfte Begrenzung der Verfassungsgerichtsbarkeit, indem er dem Gesetzgeber bereichsspezifisch Spielräume eröffnet. Verfassungstheoretische Überlegungen zur Grenzproblematik werden dadurch nicht überflüssig, da auch funktionell-rechtliche Ansätze von einem bestimmten Verfassungsverständnis abhängen. Der funktionell-rechtliche Ansatz bietet aber eine sinnvolle Ergänzung zu den methodischen und verfassungstheoretischen Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit. densquelle qualifiziert werden dürfe, vgl. BVerfGE 88, 203 (296) und die abw. M. ibid., S. 358.
5. Kap.: Funktionell-rechtliche Grenzen der Verfassungsinterpretation
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Schlußbemerkung zu den Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit Die Grenzproblematik steht in den USA unter dem Paradigma der „countermajoritarian difficulty". Die US-amerikanische Verfassungstheorie bietet hierzu eine Reihe von restriktiven Lösungen, die jedoch nicht überzeugen. Elys Theorie der Repräsentationsoptimierung ist zu einer Grenzziehung vor allem deshalb nicht in der Lage, weil sie ihren rein prozeduralen Anspruch aufgeben muß. Verfassungsgerichtliche Zurückhaltung im Sinne von Thayers „rule of clear mistake" führt ebenso wie eine Beschränkung auf die ursprüngliche Bedeutung der Verfassung oder auf den Willen des historischen Verfassungsgebers zu einer spürbaren Begrenzung, ist aber teils undurchführbar und teils im Hinblick auf den zeitgemäßen Schutz von Freiheit und Gleichheit unangemessen. Schließt man sich diesen Ansätzen nicht an, so unterliegt der Supreme Court lediglich schwachen Grenzen. Hierzu trägt nicht erst der überzogene Ansatz der Critical Legal Studies bei, der jegliche Begrenzung durch Recht und Rationalität leugnet, sondern bereits die Tatsache, daß weder Originalismus in seiner anspruchsvollen Version noch Non-Originalismus diese Grenzen deutlich erkennen lassen. Die Arbeit verteidigt den Non-Originalismus und rechtfertigt die in diesem Ansatz nur schwach vorhandene Begrenzung des Verfassungsgerichts mit dem Schutz grundrechtlicher Freiheit und Gleichheit. Dies steht im Einklang mit dem verfassungsliberalen Paradigma der Carolene-Fußnote, die sich gegen eine repräsentationsoptimierende, prozeduralistische, originalistische und funktionalistische Engführung sperrt. Auch in Deutschland sind die methodischen Grenzen der Verfassungsinterpretation nur schwach. Im Hinblick auf die fehlende Determination durch den Text der Verfassung und den Willen des Verfassungsgebers ist dies unvermeidlich. Die moderne Methodenlehre hat diesen Befund nur aufgedeckt, nicht aber verursacht. Deshalb läßt sich die schwache methodische Begrenzung der Interpretation nicht als ein Abbau an Normativität begreifen. Verfassungstheoretische Grenzen der Interpretation und des BVerfG können dagegen sehr stark ausfallen. Hinsichtlich des Ausmaßes verfassungsgerichtlicher Begrenzung besteht insofern eine Wahlmöglichkeit des Interpreten. Die hier untersuchten restriktiven Ansätze haben jedoch nicht überzeugt. Dies gilt vor allem für den Vorschlag, auf den Prinzipiencharakter der Grundrechte und ihre objektive Dimension zu verzichten. Was die objektive Dimension angeht, gibt die Arbeit dem angemessenen und flexiblen Schutz grundrechtlicher Freiheit den Vorzug vor einer aus rechtsstaatlichen und demokratischen Gründen geforderten Begrenzung des Verfassungsgerichts. Letztlich wird damit auch im deutschen Kontext die These vertreten, mit der die US-amerikanische Untersuchung endete: Starker Grundrechtsschutz vermag schwache verfassungsgerichtliche Grenzen zu rechtfertigen. Auch in Deutschland ist das Verfassungsgericht der „least dangerous branch" im Gefüge der Staatsfunktionen, was das vom Demokratieprinzip gespeiste Mißtrauen gegenüber schwachen Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit relativiert. Zu einer sinnvollen Begrenzung des BVerfG tra-
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
gen funktionell-rechtliche Ansätze bei, mit denen sich Spielräume des Gesetzgebers begründen lassen. Damit lassen sich insbesondere auch Bedenken gegen die objektive Dimension der Grundrechte ausräumen.
Zusammenfassung des zweiten Teils (1) Die Verfassungsbindung, das Gewaltenteilungs- und das Demokratieprinzip sowie legitimatorische Differenzen zwischen BVerfG und Gesetzgeber geben zu erkennen, daß Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit vom Grundgesetz gefordert sind. Ein konkretes Programm zur methodischen, verfassungstheoretischen und funktionalen Begrenzung des Verfassungsgerichts ergibt sich daraus aber noch nicht. (1.1) Das BVerfG hat eine außerordentlich weite Kompetenz im Hinblick auf die Wahl der Methode, der Grundrechtstheorie und des Verfassungsverständnisses, die es seiner Interpretation der offenen und weiten Grundrechtsnormen zugrundelegt. Man kann sogar von einer auf diese Bereiche beschränkten Kompetenz-Kompetenz des BVerfG sprechen. Allerdings lädt dieser Begriff zu Mißverständnissen ein, weil das Verfassungsgericht keineswegs über die Verfassung im ganzen verfügen kann. (1.2) In der Literatur wird dem BVerfG eine aktivistische Interpretation der Grundrechte vorgeworfen. Das Gericht mißachte in Einzelfällen den klaren Wortlaut der Verfassung. Es betreibe Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht zulasten des verfassungsändernden Gesetzgebers, indem es neue Grundrechte und objektive Grundrechtsfunktionen erfinde. Hierdurch werde auch der einfache Gesetzgeber zusätzlichen Beschränkungen unterworfen. Auch durch die Methode der Konkretisierung, durch verfassungsgerichtliche Abwägung und durch haushaltswirksame Entscheidungen würden legislative Spielräume übermäßig eingeengt. Grundrechte hätten einen immer stärkeren Einfluß auf das einfache Recht. Schließlich wird der Wert- und Prinzipiencharakter der Grundrechte angegriffen. (1.3) Die Bundesrepublik ist als Jurisdiktionsstaat unzutreffend beschrieben. Der darin mitschwingende Vorwurf einer grenzenlosen Verfassungsgerichtsbarkeit ist unberechtigt. Warnungen vor dem Jurisdiktionsstaat sind als plakative Kritik an aktivistischer Grundrechtsjudikatur zu verstehen, mit der eine Verletzung der Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit behauptet werden soll. Solche Kritik kann einseitig sein. (1.4) Grenzen der Verfassungsgerichtsbarkeit dürfen mit Ausnahme des Verfassungstextes und der institutionellen Rahmenbedingungen nicht als vorfindlich vorausgesetzt werden. Vielmehr ist mit Argumenten zu begründen, welche methodischen, verfassungstheoretischen und funktionell-rechtlichen Begrenzungen am besten zur normativen Ordnung des Grundgesetzes passen. Dies läßt in einem rationalen Diskurs unterschiedliche Lösungen zu. 32 Riecken
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
(2) Grammatische, logische, systematische und genetische Auslegung sind notwendige Bestandteile der Interpretation, die jedoch mit diesen Elementen allein im Normalfall nicht bewältigt werden kann. Grundrechtsinterpretation ist keine logische Subsumtion unter vorgegebene Obersätze, sondern hat schöpferischen Charakter, ist auf schrittweise Annäherung von Norm und Wirklichkeit bedacht und ist mehr als die Interpretation einfachen Rechts von Vorverständnissen beeinflußt. Forsthoffs „klassische" Methode trägt deshalb trotz gegenteiliger Intention nur wenig zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation bei. (2.1) Die teleologische Auslegung ist in ihrer Fragestellung ein unverzichtbarer Bestandteil der Verfassungsinterpretation, auch wenn sie die Wertungsspielräume des Interpreten erheblich ausweitet, weil sie die Auswahl und Gewichtung der Ziele und Zwecke von Grundrechtsnormen aus sich heraus nicht begrenzt. (2.2) Die Topik rückt den diskursiven Aspekt der Interpretation offener und weiter Grundrechtsnormen zu Recht in den Vordergrund. Reine Topik schafft jedoch zu große Spielräume für den Interpreten und löst die Normbindung auf. In einem freien Spiel der Argumente lassen sich Grenzen der Verfassungsinterpretation kaum noch aufweisen. (2.3) Krieles Ansatz fördert eine diskursive und folgenorientierte Grundrechtsinterpretation, die Forsthoffs formal-deduktiver Methode überlegen ist. Andererseits trägt Kriele zu einer Ausweitung der Grenzen der Verfassungsinterpretation bei, weil eine Vernunft- und gerechtigkeitsorientierte Folgenabwägung die Wertungsspielräume des Interpreten vergrößert und weil er einen starken Methodenskeptizismus vertritt. Auf eine Begrenzung der Interpretation durch Methodik verzichten zu wollen, erscheint unberechtigt, weil die Art und Weise der methodischen Begründung nicht beliebig ist. (2.4) Häberles Konzeption der offenen Gesellschaft der Verfassungsinterpreten ist mit einer Ausweitung des Interpretationsbegriffs und des Kreises der Verfassungsinterpreten verbunden. Grenzen der Verfassungsinterpretation sind in diesem Ansatz kaum noch wahrnehmbar. Auch deshalb steht die vorliegende Arbeit diesem Ansatz skeptisch gegenüber. (2.5) Alexys Ansatz gesteht der Methodik nur geringe Bedeutung zu und trägt zu einer Schwächung der Regelebene bei. Grundrechtliche Prinzipien und Optimierungsgebote drängen auf Rechtsfortbildung, deren zulässige Reichweite offen bleibt. Im Regel-Prinzipien-Modell lassen sich keine fest umrissenen Grenzen der Grundrechtsinterpretation oder der Verfassungsgerichtsbarkeit ausmachen. Die Grenzen der Interpretation scheinen vielmehr zu einem wesentlichen Teil in der Rationalität des juristischen Diskurses zu liegen. Andererseits stellt dieser Ansatz die Abwägung wie auch die objektiven Grundrechtsfunktionen auf eine brauchbare rechtstheoretische Grundlage. Die Abwägung erhält zu Recht eine zentrale Stellung im Rahmen der Interpretation, weil Grundrechtskollisionen nicht im Wege des Alles-oder-Nichts aufgelöst werden dürfen. Wenn man mit der vorliegenden Arbeit der Ansicht ist, daß zum Regel-Prinzipien-Modell in konstruktiver Hinsicht
Zusammenfassung des zweiten Teils
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keine Alternative besteht, sind Grenzen der Interpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit innerhalb dieses Modells zu verwirklichen. (2.6) Da die Interpretation durch die Verfassung nicht determiniert wird, ist ihre umfassende, das heißt zu einem weitgehenden Ausschluß von Wertungsspielräumen führende Begrenzung nicht möglich. Soweit Wertungsspielräume des Interpreten unvermeidlich sind, kann es nicht darum gehen, den „Abbau" der so gar nicht vorhandenen Normativität der Verfassung rückgängig zu machen. Der bei Ehmke, Kriele, Häberle und Alexy nachweisbare Methodenskeptizismus wirft vielmehr die Frage auf, inwieweit die Interpretation überhaupt an methodische Grenzen gebunden werden kann. Im übrigen hängt es von verfassungstheoretischen Vorentscheidungen ab, wie die Grenzen der Verfassungsinterpretation und der Verfassungsgerichtsbarkeit verlaufen. Die positivistischen Leitwerte Rechtssicherheit, Bestimmtheit und Voraussagbarkeit sind dabei nicht die einzigen Kriterien für die Bewertung einer Verfassungstheorie. Auch für die Ausweitung interpretatorischer Wertungsspielräume lassen sich verfassungsrechtliche und -theoretische Gründe wie etwa das Interesse an einem effektiven Grundrechtsschutz anführen. Als Beispiel ist an die objektive Dimension der Grundrechte zu denken. (3) Die Methodenwahl ist durch das Grundgesetz nicht determiniert. Es gilt, die Methode der Grundrechtsinterpretation zu finden, die mit den Wert- und Strukturentscheidungen des Grundgesetzes am besten in Einklang steht. Methode und Verfassungstheorie sind im hermeneutischen Zirkel miteinander verbunden. Es besteht jedoch ein Primat der Verfassungstheorie, die die entscheidenden Weichen für die Methodenwahl stellt. Rationale Methodik verspricht rechtsstaatliche Verfassungsbindung und ist ein genuin juristischer Beitrag zur Grenzproblematik. Inwieweit dieses Versprechen eingelöst werden kann, untersucht die vorliegende Arbeit insbesondere anhand der Wortlautgrenze und der genetischen Auslegung. (3.1) Aus sprachlichen Gründen hilft die Wortlautgrenze in schwierigen Fällen der Verfassungsinterpretation nicht weiter. Zwar gibt es negative Kandidaten, bei denen die Verwendung eines Wortes in einem bestimmten Kontext eindeutig unrichtig ist. Ein bislang negativer Kandidat wird jedoch zu einem neutralen Kandidaten, den die Wortlautgrenze nicht ausschließen kann, wenn ernste Zweifel bestehen, ob die in Aussicht genommene Bedeutung konventional unzulässig ist. Insbesondere ist es möglich, daß die Wortlautgrenze in der öffentlichen Diskussion durch das Spiel der Argumente verschoben wird. Damit läuft sie in schwierigen Fällen zumeist leer. (3.2) Die Grenzfunktion der eindeutigen Wort- oder Textbedeutung ist als ausnahmefähige Regel zu konstruieren. Um die Berechenbarkeit der Grenzfunktion als Regel zu erhöhen, sind möglichst im voraus Ausnahmefallgruppen aufzustellen, in denen eine Entscheidung entgegen dem eindeutigen Wort- oder Textsinn zulässig ist. Soweit keine Ausnahmefallgruppe eingreift, stellt Verfassungsinterpretation gegen den eindeutigen Wort- oder Textsinn eine unzulässige Verfassungsdurchbrechung dar. 32*
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(3.3) Welche Ausnahmefallgruppen anzuerkennen sind, entscheidet sich im Wege einer abstrakten Abwägung zwischen den für und gegen die Wortlautgrenze sprechenden verfassungsrechtlichen Gründen. Je nachdem, wie eng oder wie weit man die Ausnahmefallgruppen zur Wortlautgrenze faßt, kann die Grenzfunktion verstärkt oder abgeschwächt werden. Der vorliegende Ansatz versucht, die Wortlautgrenze behutsam zu stärken. Im Ergebnis rechtfertigen logische Normwidersprüche, teleologische Reduktion infolge von Prinzipienkollisionen und unerträgliche Weitungswidersprüche eine Ausnahme von der Wortlautgrenze. Konsens, das Interesse an Freiheitsmaximierung, einfache Normzwecke im Sinne der teleologischen Auslegung, die Funktionsunfähigkeit einer Norm und Zweckmäßigkeitserwägungen begründen hingegen keine Ausnahme. (3.4) Im ganzen trägt die Grenzfunktion aus sprachlichen und verfassungstheoretischen Gründen nur wenig zur Begrenzung der Verfassungsinterpretation bei, was sich auch anhand von Beispielsfällen gezeigt hat. (3.5) Die subjektive Theorie der Interpretation ist mit den gleichen Argumenten abzulehnen, die im ersten Teil der Arbeit gegen den US-amerikanischen Originalismus vorgebracht wurden. Ziel der Interpretation muß es sein, die objektive Bedeutung der Verfassung in der Gegenwart zu ermitteln. Deshalb darf sich die Interpretation nicht auf die genetische Auslegung beschränken. Vielmehr ist stets im Sinne der teleologischen Auslegung zu fragen, welchen Zweck die Norm in der heutigen Zeit erfüllen soll. Allerdings ist die genetische Auslegung nicht lediglich in Zweifelsfällen, sondern stets zu berücksichtigen, weil sie eine wichtige Indizfunktion entfalten kann. Dem historisch Gewollten darf kein abstrakter Vorrang gegenüber der grammatischen, systematischen und teleologischen Auslegung eingeräumt werden, weil dies zu einer vergangenheitsorientierten und unflexiblen Verfassungsinterpretation führen würde. Zugunsten klarer Ergebnisse der genetischen Auslegung besteht eine Argumentationslast, weil das historisch Gewollte auf diese Weise eine sinnvolle Bindung der Verfassungsinterpretation vermitteln kann. Insgesamt stellt die genetische Auslegung auf der Grundlage der objektiven Theorie nur eine schwache Begrenzung der Verfassungsinterpretation dar. (3.6) Die Arbeit steht der Strukturierenden Methodik Friedrich Müllers kritisch gegenüber. Die Normanbindung der Interpretation darf nicht dazu führen, daß die teleologische Auslegung nur noch im Dienste grammatischer, systematischer und genetischer Auslegung zulässig ist. Einer abstrakten Rangfolge der Auslegungselemente vermag sich die vorliegende Arbeit nicht anzuschließen. Zwar wird mit der Wortlautgrenze eine einzelne Vorrangrelation im Grundsatz befürwortet. Im Unterschied zu Müller erkennt diese Arbeit aber Ausnahmefallgruppen an, in denen die Abweichung vom eindeutigen Wort- oder Textsinn gerechtfertigt ist. An der Durchführbarkeit der Normbereichsanalyse bestehen Zweifel. Schließlich überzeugt der von Müller befürwortete Verzicht auf Abwägung nicht, weil das Verfahren der verhältnismäßigen Zuordnung für die Grundrechtsinterpretation unvermeidlich ist.
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(3.7) Begrifflich ist eine Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht durch die Überschreitung der Wortlautgrenze gekennzeichnet. Innerhalb der Wortlautgrenze kann von Rechtsfortbildung die Rede sein, wenn das Verfassungsgericht neue Grundrechtswirkungen einfühlt, die das Verfassungsrecht wesentlich verändern. Ein Beispiel ist die objektive Dimension der Grundrechte. Eine ausdehnende Rechtsfortbildung unter Verletzung der Wortlautgrenze ist unzulässig. Die subjektive Theorie der Interpretation kann zu einem Verbot jeglicher Rechtsfortbildung führen. Dies ist jedoch auf der Grundlage der objektiven Theorie unangemessen. Innerhalb der Wortlautgrenze kann man die genetische Auslegung als Argumentationslast einsetzen. Daraus ergibt sich allerdings nur eine schwache Begrenzung der Rechtsfortbildung. Der konsensuale Ansatz ist als Grenze der Rechtsfortbildung abzulehnen. Über die Grenzen der Rechtsfortbildung entscheidet letztlich die vom Interpreten verwendete Verfassungstheorie. Dies gilt innerhalb wie außerhalb der Wortlautgrenze. Am stärksten läßt sich die Rechtsfortbildung durch eine restriktive Verfassungstheorie beschränken. (3.8) Ein Teil der Literatur setzt starkes Vertrauen in die Leistungsfähigkeit einer methodischen Begrenzung der Interpretation. Demgegenüber bestreitet ein anderer Teil der Literatur entweder schon die begrenzende Wirkung der Methodik an sich oder gesteht ihr im Vergleich zu verfassungstheoretischen oder funktionell-rechtlichen Erwägungen eine weitaus geringere Rolle zu. Die vorliegende Arbeit neigt der zuletzt genannten Sicht zu. Eine Begrenzung des Verfassungsgerichts durch Methodik allein kann nicht gelingen. Andererseits liegt in methodischem Vorgehen eine unverzichtbare Kontrolle der Interpretation, die sich durch verfassungstheoretische Erwägungen nicht ersetzen läßt. Methodische Argumente lassen dem Interpreten zwar großen Spielraum, sind aber deshalb nicht beliebig. Insbesondere gibt es methodisch gute und schlechte Begründungen. Ein radikaler Methodenskeptizismus ist deshalb unberechtigt. Methodik ist nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine schwache Grenze der Verfassungsinterpretation, die zu verfassungstheoretischen und funktionell-rechtlichen Grenzen in einem Ergänzungsverhältnis steht. (4) Für die Interpretation der Grundrechte sind verfassungs- bzw. grundrechtstheoretische Erwägungen unverzichtbar. Mit Verfassungstheorie läßt sich, abgesehen von den institutionellen Rahmenbedingungen, die denkbar stärkste Begrenzung des Verfassungsgerichts erzielen. Das limitierende Potential der Verfassungstheorie ist jedoch seinerseits begrenzt, weil Verfassungstheorie die Interpretation nicht determinieren kann, Letztbegründungen problematisch sind und verfassungstheoretische Konzeptionen aufgrund unterschiedlicher erkenntnis-, staats- und gesellschaftstheoretischer Prämissen in besonderem Maße strittig sind. (4.1) Das Grundgesetz enthält materiale Gehalte, die seine Qualifikation als formeller Rechtsstaat (Forsthoff) ausschließen. (4.2) Am Prinzipiencharakter der Grundrechte ist festzuhalten, weil es zu ihm keine überzeugende konstruktive Alternative gibt. Grundrechtskollisionen können nur durch Abwägung differenziert aufgelöst werden, weshalb die Abwägung als
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Mittel der Verfassungsinterpretation unverzichtbar ist. Die Methode der Konkretisierung ist im Bereich der offenen und weiten Grundrechtsnormen sachgerecht. Gegen die mit dem Verfassungsverständnis einer Rahmenordnung (Böckenförde) verbundene Beschränkung auf die liberale Grundrechtstheorie bestehen Bedenken. Die vorliegende Arbeit befürwortet die objektive Dimension der Grundrechte, weil sie für einen flexiblen und effektiven Schutz der Freiheit unverzichtbar erscheint. Privates Handeln und insbesondere die wissenschaftliche und technische Entwicklung eröffnen neue Gefährdungen grundrechtlicher Freiheit, für die es nicht genügt, auf das Handeln des Gesetzgebers zu vertrauen. Welchen funktionell-rechtlichen Beschränkungen die objektive Dimension zu unterwerfen ist, um einer übermäßigen Einschränkung des Gesetzgebers vorzubeugen, bleibt noch zu klären. (4.3) Der Rückzug auf die demokratisch-funktionale Grundrechtstheorie würde die Verfassungsinterpretation zwar begrenzen. Jedoch ist eine solche Lösung einseitig, weshalb sie von dieser Arbeit nicht befürwortet wird. (4.4) Im Streit zwischen enger und weiter Tatbestandstheorie nimmt die vorliegende Arbeit eine vermittelnde Position ein. Soweit sich eine Begrenzung des Tatbestands durch methodisch korrekte Interpretation überzeugend begründen läßt, ist eine enge Fassung des jeweiligen Schutzbereichs vorzuziehen. Darüber hinaus kann kollidierendes Verfassungsrecht durch eine vom Einzelfall gelöste Abwägung in eindeutigen Fällen zu einer Einschränkung des Schutzbereichs führen. (4.5) Die vorliegende Arbeit steht dem konsensualen Ansatz der Verfassungsinterpretation vor allem im Hinblick auf die minderheitenschützende Funktion der Grundrechte kritisch gegenüber. (4.6) Das Vorhaben einer bereichsweisen Prozeduralisierung des Grundrechtsschutzes stößt auf Grenzen, weil sich inhaltliche Entscheidungen im Rahmen der Verfassungsinterpretation nicht beliebig weit durch Verfahrensregeln ersetzen lassen. Dies hat sich auch im Hinblick auf Elys Theorie erwiesen. In der Prozeduralisierung liegt deshalb nicht die einzige Grenze der Verfassungsinterpretation bzw. der Verfassungsgerichtsbarkeit. (4.7) Im Ergebnis vermag sich die vorliegende Arbeit keinem der hier diskutierten restriktiven verfassungstheoretischen Entwürfe vorbehaltlos anzuschließen. (5) Die political question-Doktrin ist als Grenze der Grundrechtskontrolle im deutschen Verfassungsrecht nicht anschlußfähig. Auch mit der Unterscheidung von Recht und Politik lassen sich Kompetenzen von BVerfG und Gesetzgeber nicht abgrenzen. Judicial self-restraint ist als undifferenzierter Appell zu verfassungsgerichtlicher Zurückhaltung abzulehnen. Die Mitglieder des BVerfG sollten jedoch die Grenzen ihrer Kompetenz bedenken und mit obiter dicta zurückhaltend umgehen. (5.1) Spielräume des Gesetzgebers können im Anschluß an die Terminologie Raabes eine Begrenzung der Grundrechtsinterpretation (Konvergenzlösung) oder der verfassungsgerichtlichen Kontrollkompetenz (Divergenzlösung) beinhalten.
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Die Arbeit unterscheidet verschiedene Arten von Spielräumen. Strukturelle Spielräume entstehen, wenn und soweit die Verfassung keine weitergehenden grundrechtlichen Anforderungen enthält. Inwieweit dies der Fall ist, muß der Verfassungsinterpret ermitteln. Wird die Reduktion der grundrechtlichen Anforderung oder der verfassungsgerichtlichen Kontrolle mit funktionalen Erwägungen begründet, spricht die vorliegende Arbeit von einem funktionalen Spielraum. Unter empirischer oder normativer Unsicherheit können sich Spielräume des Gesetzgebers auch auf Einschätzungen und Prognosen sowie auf Abwägungen beziehen. (5.2) Für den materiell-rechtlichen Ansatz reicht die verfassungsgerichtliche Kontrolle genau so weit, wie die Grundrechte dies vorgeben. Spielräume des Gesetzgebers sind dann allein eine Folge der Grundrechtsinterpretation. Das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen ist jedoch durch eine rein grundrechtliche Betrachtungsweise nicht angemessen zu lösen. Der materiell-rechtliche Ansatz genügt deshalb nicht, um Spielräume des Gesetzgebers zu begründen. (5.3) Funktionell-rechtliche Ansätze sehen die weitgehend fehlende Determination des B VerfG im Bereich der Grundrechtsinterpretation und das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen. Dennoch hat keiner der hier vorgestellten funktionalen Ansätze vollständig überzeugt. Das Prinzip der Gewaltenteilung ist für eine konkrete Kompetenzabgrenzung zu unspezifisch. Darüber hinaus ist offen, wie die grundsätzlich sinnvolle Beschränkung des BVerfG auf die Kontrollfunktion dogmatisch umzusetzen ist. Im übrigen kann das BVerfG aus grundrechtlichen Erwägungen ausnahmsweise auch zur Gestaltung verpflichtet sein. Beschränkt man das BVerfG auf Kassation, so führt dies zur Ablehnung bestimmter Aspekte der objektiven Dimension der Grundrechte. Gegenüber dieser Verzichtslösung bestehen die gleichen Bedenken wie gegen Böckenfördes Grundrechtstheorie. Dem organstrukturellen Ansatz scheint bislang keine umfassende Kompetenzabgrenzung zwischen BVerfG und Gesetzgeber gelungen zu sein. Im übrigen verfolgt er erkenntnistheoretische Prämissen, die von der vorliegenden Arbeit nicht geteilt werden. (5.4) Die funktionell-rechtlich begründete Unterscheidung von Handlungs- und Kontrollnorm ist vertretbar. Sie läuft jedoch auf eine Divergenzlösung hinaus. Dieser Konstruktion steht die vorliegende Arbeit skeptisch gegenüber, weil zweifelhaft ist, ob die Verfassung ein Auseinanderfallen von materiell-rechtlichem Schutzumfang der Grundrechte und verfassungsgerichtlicher Kontrolle gestattet. Demgegenüber ist die Konvergenzlösung grundsätzlich vorzuziehen. Jedoch wird hier eine verbindliche, wenn auch gerichtlich nicht überprüfbare Leitwirkung der Verfassung, die den Gesetzgeber auf einen Idealzustand verpflichtet, befürwortet. Diese Leitwirkung beruht in Hesses Divergenzlösung auf der Handlungsnorm. Die Wirkung der Handlungsnorm läßt sich mit Hilfe des Regel-Prinzipien-Modells in eine modifizierte Konvergenzlösung integrieren. (5.5) Mit dem kompetenziellen Ansatz lassen sich im Regel-Prinzipien-Modell bereichsspezifisch und flexibel Spielräume des Gesetzgebers eröffnen. Verfassungsrechtlicher Anknüpfungspunkt des Spielraums ist das Demokratieprinzip, das
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2. Teil: Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG
grundrechtlichen Anforderungen verhältnismäßig zuzuordnen ist. Durch die Abwägung kann zwischen grundrechtlichen und funktionalen Belangen ein angemessener Ausgleich hergestellt werden. Der kompetenzielle Ansatz ist dem materiellrechtlichen Ansatz überlegen, der die funktionale Ebene ausblendet und das Problem verfassungsgerichtlicher Grenzen unbewältigt läßt. Andererseits wird die Einseitigkeit rein funktionell-rechtlicher Theorien vermieden, die grundrechtlichen Belangen zu wenig Gewicht beimessen. Der kompetenzielle Ansatz führt in der hier vertretenen Form zu einer Reduktion schutzrechtlicher Anforderungen durch Spielräume des Gesetzgebers. Darüber hinaus lassen sich mit der demokratischen und prozeduralen Legitimation des Gesetzgebers Einschätzungs-, Prognose- und Abwägungsspielräume im Hinblick auf unsichere empirische und normative Fragen begründen. Solche Spielräume können auch die Qualität des konkreten gesetzgeberischen Verfahrens berücksichtigen, so daß grundrechtliche Richtigkeit ein Stück weit prozeduralisiert wird. (5.6) Dem Gesetzgeber steht gegenüber grundrechtlichen Schutzpflichten und Ansprüchen auf Schutz (Schutzrechte) ein Spielraum zu. Die Rechtsprechung des BVerfG zum Umfang des Spielraums ist uneinheitlich. Schutzrechte verpflichten zu effektivem Schutz, was jedoch das Problem der unbestimmten Rechtsfolge nicht löst. Eine abstrakte Bestimmung von Schutzumfang und Spielraum durch Regeln kommt nicht in Frage, weil weder ein maximales noch ein minimales Schutzniveau als starre Lösung überzeugt. Statt dessen sind Schutzumfang und Spielraum im Einzelfall durch Abwägung zu bestimmen. Schutzrechte werden als Prinzipien durch kollidierende Abwehrrechte Dritter beschränkt. Darüber hinaus werden sie im kompetenziellen Ansatz durch das Demokratieprinzip begrenzt, das in zwei- und dreiseitigen Verhältnissen zum Spielraum führt. Das Untermaßverbot bezeichnet das grundrechtlich mindestens erforderliche und insofern angemessene Schutzniveau. Welche Schutzmaßnahmen grundrechtlich geboten sind, ist in Relation zu diesem Schutzniveau zu bestimmen. Grundsätzlich ist von einem weiten Spielraum des Gesetzgebers auszugehen. Dem entspricht ein minimales Schutzniveau, das den Gesetzgeber lediglich verpflichtet, mehr als gänzlich ungeeigneten oder völlig unzulänglichen Schutz zu leisten. Zugunsten dieses Spielraums besteht in der Abwägung eine Argumentationslast. Ausnahmsweise ist der Spielraum zu verengen, wenn es die Bedeutung des Schutzrechts wie im Fall des ungeborenen Lebens verlangt. Mit diesem Regel-Ausnahme-Modell läßt sich die schutzrechtliche Rechtsprechung des BVerfG erfassen. Allerdings hat das BVerfG den Gesetzgeber im zweiten Abtreibungsurteil durch intensive Kontrolle, Handlungsanforderungen und obiter dicta unzulässig weit eingeschränkt. (6) Das Gesamtergebnis zur Begrenzung der Grundrechtskontrolle des BVerfG durch Methodik, Verfassungstheorie und funktionell-rechtliche Ansätze läßt sich wie folgt zusammenfassen. Die methodischen Grenzen der Grundrechtsinterpretation sind schwach, während die Verfassungstheorie eine starke Begrenzung ermöglicht. Allerdings folgt die Arbeit keinem der hier untersuchten restriktiven Ansätze. Für die insoweit vermeidbare Ausweitung der Grenzen des Verfassungsgerichts
Zusammenfassung des zweiten Teils
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wird wie im ersten Teil der Arbeit die These vertreten, daß starker Grundrechtsschutz schwache verfassungsgerichtliche Grenzen zu rechtfertigen vermag. Dies gilt zum Beispiel für die objektive Dimension der Grundrechte. Zu einer ergänzenden Begrenzung der Interpretation und der verfassungsgerichtlichen Kontrolle können funktionell-rechtliche Ansätze beitragen.
Anhang
United States v. Carotene Products Co., 304 U. S. 144,152 Fußnote 4 mit Text ,,[T]he existence of facts supporting the legislative judgment is to be presumed, for regulatory legislation affecting ordinary commercial transactions is not to be pronounced unconstitutional unless in the light of the facts made known or generally assumed it is of such a character as to preclude the assumption that it rests upon some rational basis within the knowledge and experience of the legislators. 4
4 There may be narrower scope for operation of the presumption of constitutionality when legislation appears on its face to be within a specific prohibition of the Constitution, such as those of the first ten amendments, which are deemed equally specific when held to be embraced within the Fourteenth. See Stromberg v. California, 283 U. S. 359, 369-370; Lovell v. Griffin, 303 U. S. 444,452. It is unnecessary to consider now whether legislation which restricts those political processes which can ordinarily be expected to bring about repeal of undesirable legislation, is to be subjected to more exacting judicial scrutiny under the general prohibitions of the Fourteenth Amendment than are most other types of legislation. On restrictions upon the right to vote, see Nixon v. Herndon, 273 U. S. 536; Nixon v. Condon, 286 U. S. 73; on restraints upon the dissemination of information, see Near v. Minnesota ex rel. Olson, 283 U. S. 697, 713-714, 718-720, 722; Gwsjean v. American Press Co., 297 U. S. 233; Lovell v. Griffin, supra; on interferences with political organizations, see Stromberg v. California, supra, 369; Fiske v. Kansas, 274 U. S. 380; Whitney v. California, 274 U. S. 357, 373-378; Herndon v. Lowry, 301 U. S. 242; and see Holmes, J., in Gitlow v. New York, 268 U. S. 652, 673; as to prohibition of peaceable assembly, see De Jonge v. Oregon, 299 U. S. 353, 365. Nor need we enquire whether similar considerations enter into the review of statutes directed at particular religious, Pierce v. Society of Sisters, 268 U. S. 510, or national, Meyer v. Nebraska, 262 U. S. 390; Battels v. Iowa, 262 U. S. 404; Farrington v. Tokushige, 273 U. S. 484, or racial minorities, Nixon v. Herndon, supra; Nixon v. Condon, supra: whether prejudice against discrete and insular minorities may be a special condition, which tends seriously to curtail the operation of those political processes ordinarily to be relied upon to protect minorities, and which may call for a correspondingly more searching judicial inquiry. Compare McCulloch v. Maryland, 4 Wheat. 316, 428; South Carolina v. Barnwell Bros., 303 U. S. 177, 184, n. 2, and cases cited."
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34 Riecken
ererzeichnis Ackerman, Bruce 181, 183, 185 ff., 192, 194, 251,259,264 Alexy, Robert 265, 277, 291, 312 ff., 323 f., 332, 351, 357, 370, 376, 387, 391, 397 f., 413 f., 423,427,437,460,462,464,498 Berger, Raoul 216 ff. Black, Hugo 96,98, 205 Fn. 338 Böckenförde, Ernst-Wolfgang 26, 268, 278, 280, 286, 288, 293, 297, 299, 301, 310 f., 322, 324, 372, 387 f., 390 f., 394 ff., 406, 409,421,427 f., 440,447,453, 502 f. Bork, Robert 36,48, 211 ff., 260, 291 Brest, Paul 154,178 f., 209 Brugger, Winfried 27, 124, 131, 239, 287, 385 Bryde, Brun-Otto 351 Calliess, Gralf-Peter 424 f. Choper, Jesse 86 ff. Christensen, Ralph 335 ff., 342 f. Cover, Robert 48, 172 f. Depenheuer, Otto 340 f., 365, 367 f. Dreier, Ralf 326,416 f. Dworkin, Ronald 36, 79, 101, 103 ff., 105 Fn. 94, 107 ff., 112 f., 115 f., 143, 156 f., 161, 165, 230 f., 233 f., 235, 237, 239 f., 242, 259,463 Ebsen, Ingwer 353, 355 Ehmke, Horst 303 ff., 322 ff., 352,416 Ely, John Hart 26 ff., 32 ff. (1. Teil), 32 Fn. 1, 263 ff., 265 ff., 268 ff., 302, 326, 392,409,417 f., 426 f., 464,495, 502 Estreicher, Samuel 149, 154, 259 Forsthoff, Ernst 266, 268, 293, 296 ff., 301, 309, 322, 367, 392 ff., 398,400,427,498, 501
Gerstenberg, Oliver 27 Goerlich, Helmut 254, 265, 268 Grimm, Dieter 401,404,406 Gusy, Christoph 449,452 Habermas, Jürgen 27, 255 ff., 268,423 Haberle, Peter 264, 309 ff., 322 f., 324, 416 ff., 420,422 f., 498 Haltern, Ulrich 27,409 Hart, Henry 100 Herbert, Manfred 340 ff., 365 Hermes, Georg 476,483 f. Hesse, Konrad 302, 304, 348 ff., 353, 368, 390,441,453 ff., 459,480 ff., 492 Heun, Werner 271, 287, 366, 388, 400, 407, 447 f., 456,458,463 Hollerbach, Alexander 293 Isensee, Josef 293, 404, 411, 414, 421, 432, 475,485 Klarman, Michael 33, 96, 164, 241, 248 ff., 260,409 Koch, Hans-Joachim 220, 328, 332 ff., 338, 341 f., 344, 364, 369 Kriele, Martin 298, 305 ff., 322 f., 324, 351, 388,498 Ladeur, Karl-Heinz 425 Larenz, Karl 328, 331 f., 355, 369 Lerche, Peter 278 f. Lübbe-Wolff, Gertrude 407 Lusky, Louis 51 Madison, James 121 Michelman, Frank 120,175 Monaghan, Henry 208, 219 Müller, Friedrich 330, 335 ff., 342, 348 ff., 372 ff., 388, 500 Murswiek, Dietrich 407
Personenverzeichnis Ortiz, Daniel 138 Parker, Richard 142, 181,245 f., 246 f. Perry, Michael 220 f. Raabe, Marius 439, 450 ff., 459 f., 469 f., 502 Rau, Christian 430,433 Rawls, John 107 ff., 111 ff. Richards, David 143,157, 240,242 Rinken, Alfred 448 ff., 452 Rüßmann, Helmut 220, 328, 332 ff., 338, 341 f., 344, 364, 369 Sacks, Albert 100 Säger, Lawrence 237 Savigny, Carl Friedrich v. 297, 298 f., 301 Scalia, Antonin 36, 97 f., 205 ff., 227, 260, 291,361 Schefer, Markus 27, 242 Schiaich, Klaus 278,433,440,444,450 Schlink, Bernhard 308, 311, 395, 399,418 Schmitt, Carl 268, 398 Schneider, Hans-Peter 289 Schuppert, Gunnar Folke 441 Schwabe, Jürgen 407 Sieckmann, Jan-Reinard 450,460,470 Simon, Helmut 440
34*
531
Simons, Cornelius 27 Smend, Rudolf 392 Starck, Christian 456 Stern, Klaus 301 Stone, Harlan Fiske 41,51 Sunstein, Cass 120, 139,203 Thayer, James Bradley 36 Fn. 24, 59, 139, 495 Thomas, Clarence 36 Tribe, Laurence 36, 141, 181, 231, 237 Fn. 534 Tushnet, Mark 36, 118, 150, 152 f., 166 ff., 184 f., 196, 201 ff., 232, 247 f., 260 Unger, Roberto 196 Vesting, Thomas 425 ff. Vocke, Martin 27,258 Vogel, Kurt 446 f., 449,452 Wahl, Rainer 288, 395,479 Warren, Earl 90 Wechsler, Herbert 99 f. Wittgenstein, Ludwig 329, 340 f., 365 Wiirtenberger, Thomas 385 f., 416 Zippelius, Reinhold 328, 355
arverzeichnis Abtreibung s. „Schwangerschaftsabbruch" Abwägung 162, 176, 288, 291, 312 f., 316, 318 ff., 321, 357, 373, 376 f., 395, 397, 399 f., 408, 410 ff., 414 f., 428, 460 ff., 468, 472, 476, 478, 482, 483 ff., 498, 500 ff., 504 Aktivismus (des Verfassungsgerichts) 29, 50 f., 80, 88,133 f., 135,150, 213, 282 ff., 317 f., 497 Akzeptanz 385,418 Argumentation, juristische 200, 315 f., 318, 320, 391,451 Argumentationslast 315, 351, 354, 357, 361, 370, 372, 385,472,490 ff., 494, 500, 504 Außentheorie 313 Autonomie der Person 102, 116, 231, 240, 242 f., 245, 248, 257, 260,409 f. Baker v. Carr 431 Bargaining 120, 124,423,470,473 Begriffsjurisprudenz 342 Bowers v. Hardwick 78 Brown v. Board of Education 91, 213, 250 Bundesverfassungsgericht (s. auch „Verfassungsgericht") 327, 350 f., 363 f., 378, 393, 402 f., 408, 430 f., 433, 458, 464, 474,475 ff., 483 ff., 504 - Kritik am ~ 25, 282 f., 292,434 f., 492 f., - Organstruktur 438,448 ff., 452 f., 503 - als Verfassungsorgan 445
Demokratie 203, 257, 310,463 - deliberative 120 ff., 130 f., 203 - Elys Demokratieverständnis 74, 96 f., 103, 116 f., 142, 143 f., 145 f., 154 - majoritäre 111, 136, 236 ff. - repräsentative 74 f., 103 Demokratieprinzip 234, 268 f., 276 f., 346, 374, 438, 445, 458, 460 ff., 463, 464 f., 470,472,483,490 f., 494, 503 f. Dezisionismus 228, 318, 320,472 f. Diskurs 121, 123, 130, 196, 200, 247, 294, 296, 309, 315 f., 320 f., 336, 357, 391, 398,416,420,424,450,466, 470 f., 498 Diskurstheorie 255 ff., 315,423 f., 470 f. due process - due process-Klausel 45 f., 57, 163 f. - of lawmaking 168 - materiale Deutung 50, 57, 92 f., 102, 239 ff. - prozedurale Deutung 57, 163 f. Elitismus 55 f., 116, 202, 232 Ersatzverfassungsgebung 284, 382
Föderalismus 87, 138 m. Fn. 2 Freiheit 158, 242, 315, 347 f., 354 f., 396, 405, 408 ff., 420 f., 428, 462, 472, 479, 495 Funktion 429,444,448 Funktionale Argumentation 75, 86, 88, 100 f., 116, 132, 144 f., 175, 251, 259, Carolene Products 40 ff., 49 ff., 213, 245, 471 Anhang Funktionell-rechtlicher Ansatz 263, 269, countermajoritarian difficulty (Problem der 388,406,423 f., 436 ff., 443 ff., 496 Gegenmehrheitlichkeit) 26, 38 ff., 140, Funktions(ver)teilung 274 f., 293,438,444 f. 154, 161, 166,214, 260, 275,432,495 Fußnote 4 (der Entscheidung Carolene ProCritical Legal Studies (CLS) 35 f., 102, 150, ducts) 40 ff., 42 ff., 49, 51 f., 59, 88, 196 ff., 245 ff., 495 133 f., 146, 160, 167, 171 ff., 175, 183, 252,409,421,495 Deliberation 118 f., 130 f. „Democracy and Distrust" 32 f., 53 Fn. 92 - Elys Deutung 42, 58 f.
Sachwortverzeichnis - Entstehung 40 ff., 49 ff. - Text 42,44,47, 506, Anhang - Zukunft der ~ 192, 259 f. Generalklauseln, verfassungsrechtliche 55 ff., 133, 149 f., 154, 157, 215 f., 266 - Begrenzung 55, 56 ff., 58 - Freiheit und Gleichheit in der US-Verfassung 37, 57 f. - Grundrechte als ~ 266 - Interpretation 95 f., 146 ff. - offener Charakter 56, 149 f. Gerechtigkeit 112, 122, 125, 127, 228, 231, 306 f., 309, 351, 355, 392, 393,413 - Fairneß 466 f. - materiale 92, 161, 252, 353 ff. - prozedurale 125, 130 - Verteilungsgerechtigkeit 112, 175 Gesetzgeber 116, 131 f., 287 ff., 460 f., 465 f., 470 - und Generalisierung 68 f. - als Hüter der Grundrechte 242 - Kompetenz zur Festlegung öffentlicher Moral 66 f., 72, 78, 81, 83 f., 87 Fn. 303, 105, 243 - Konkretisierungsprimat 446,484 - Spielraum s. „Spielraum des Gesetzgebers" - Verantwortlichkeit 117, 131 f. - Verfahrenspflichten 473 - verfassungswidrige Motivation 64 f., 66, 105, 130,140, 156, 160 Gesetzgebungsaufträge 289 Gewaltenteilung, Gewaltenteilungsprinzip (s. auch „Funktions[ver]teilung") 274 f., 293, 347, 396, 406, 430, 438, 442, 444 f., 452,462 f., 503 Gewalt- und Schädigungsverbot 405, 411, 414 f. Gleichheit 109 f., 111 ff., 157, 161, 204, 355,495 - Diskriminierung (de jure/de facto) 64 m. Fn. 163 - Gleichheitsklausel des 14. Amendment 46, 48, 57 f., 103, 119, 180, 183 ff., 191, 194,217,219, 221,245 - prozedurales Verständnis 64, 76 f., 92, 109, 155, 160, 242, 245, 252 f.
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- US-amerikanische Dogmatik 63 ff. - verdächtige Klassifizierung s. „Klassifizierung" Grenzen 25 ff., 29 f., 223, 228, 495, 497, 504 f. - nach Elys Theorie 37, 127, 134,495 - funktionale, funktionell-rechtliche 270, 430 ff., 436 ff., 439 ff., 494, 502 ff., 505 - als Gebote positiven Verfassungsrechts 274 ff. - institutionelle 29, 270 f. - durch konsensuale Ansätze s. „Konsens" - methodische 269, 325 ff., 495, 501, 504 - durch prozedurale Ansätze 421 ff., 469 ff., 502 - des Verfassungsgerichts 39, 77, 120, 133, 150 f., 153, 164, 180, 182, 225, 243, 248, 251,253,254 ff., 258,260,262 ff., 265 ff., 268 ff., 273 ff., 293, 294, 321, 421, 423 f., 426 f., 429,432,446,460,495 - der Verfassungsinterpretation 282, 295 ff., 301, 303, 305, 309, 311 f., 321, 322 ff., 325 ff., 361, 367 ff., 372, 385, 387, 388 f., 408, 415 f., 427,495 - verfassungstheoretische 270, 390 ff., 501 f., 504 Griswold v. Connecticut 78 ff., 92 f., 214 f., 240 f. Grundrechte - als Abwehrrechte 396 f., 400, 404 f., 406 f., 409,483,487 f. - Adressaten 171 ff., 404,475 - und einfaches Recht 289 f., 292 - als gegenmehrheitliche Rechte 145, 236 ff., 465 - Grundrecht auf gleiche Achtung und Rücksicht (equal concern and respect) 66, 68, 103 ff., 109 f., 112 f., 114 ff., 133, 136, 143, 152, 155 f., 157, 185, 191 f., 231,234, 235,244 - Grundrechtsbestimmungen 312,314 - Grundrechtsnorm 314 - Inkorporation 43 - Interpretation der - s. „Verfassungsinterpretation" - moralisch begründete - 107, 110 - objektive Dimension s. „Objektive Dimension der Grundrechte"
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arverzeichnis
-
Prinzipiencharakter s. „Prinzipien" Schranken 314, 319,446 f., 465 Schutzbereich 410 ff., 413 ff., 461 Selbstverständnis 420 soziale 175,447,462 spezifische s. „Verfassungsrecht, spezifisches" - als Trümpfe 110, 155, 237, 239,463 - ungeschriebene 61, 97, 106, 112, 114, 117,133,135,216,234,239, 382 Grundrechtsbindung 266,455 f., 459,461 Grundrechtstheorie (s. auch „Verfassungstheorie") 390, 394,400,409,497 - demokratisch-funktionale 248 f., 250 f., 408 ff., 428, 502 - liberale 396,404 f., 428, 502 - plurale 425 ff. Handlungs- und Kontrollnormen 453 ff., 459,503 Homosexualität 66 f., 72 f., 81 ff., 106, 116, 135, 178, 181, 185 ff., 188, 200, 244, 337, 339, 343 f., 419 - und Freiheit 78 ff. - und Gleichheit 79 f., 80 ff., 193, 221 Ideologiekritik 246 f. Intentionalismus 34, 55 f., 75 f., 96 f., 142, 208 ff., 211 f., 218 ff., 259, 330 f., 361 ff., 365 ff., 367 ff., 380, 384 f., 495 Interpretivismus 34, 53,59, 209 Judicial self-restraint s. „Zurückhaltung, verfassungsgerichtliche" Jurisdiktionsstaat, Justizstaat 29, 292 ff., 497 Justiziabilität 147 Fn. 56, 429, 439, 455, 457,459 Klassifizierung, verdächtige 58, 64 f. m. Fn. 173, 70 ff., 78 f., 82 f., 85, 133, 180, 193 Kollektives Handeln, Theorie des 185 ff. Kommunitarismus 118 Konkretisierung (s. auch „Verfassungsinterpretation") 29,43, 54, 202 f., 349, 377 ff., 381 f., 400,408,423,442,447,462, 502 - Begriff 25 Fn. 1
- Kritik 288,394 f. Konsens 54, 118, 128 f., 135, 152, 154, 226, 229, 303 ff., 309 ff., 348, 353, 385 f., 387, 416 ff., 418 ff., 421,423,425,428, 502 Kontrolldichte 440,442 f., 446,452,491 Legal Process 100 ff., 134,136, 199 Legal Realism 196 Legitimation 115, 275 f., 448 f., 451, 461, 465,467,472,493 Liberalismus 117 ff., 121, 245 f., 256,401 f. - Neutralitätsliberalismus 118 Lochner v. New York 50, 57, 135, 154, 163, 176, 240, 243 Marbury v. Madison 39, 201 f. McCulloch v. Maryland 88 Mehrheitsdemokratie, Mehrheitsprinzip 38 f., 55, 62, 74, 109, 111, 143, 145, 160 f., 214,226,248 ff., 275,463,472 Menschenbild 30, 122, 126, 231, 239, 245, 409 f. Menschenwürde 102, 113, 156 f., 231, 240, 393,403,476,480 Methodenlehre 295 ff., 323, 327, 377 Methodenskeptizismus 308 f., 323 f., 388 f., 498 f., 501 Methodenwahl 94 Fn. 22, 148, 279, 281, 325 ff., 400 f., 497,499 Methodik 306, 311, 316, 322 f., 388 f., 441, 498,501 Minderheiten 38,70 ff., 192, 343 - abgegrenzte (discrete) 48 Fn. 63, 69, 186, 194 - Afra-Amerikaner 71, 127, 187 f., 193, 244, 251, 253 - anonyme 186,192 - Arme 70 f., 128,192 - Ausländer 70,193 - Frauen 71 f., 244 f. - Homosexuelle s. „Homosexualität" - insulare/isolierte 48 m. Fn. 64, 70 m. Fn. 205,186, 194 - Paria-Modell 187 ff., 194 - Schutz s. „Minderheitenschutz" Minderheitenschutz 47 ff., 101, 103, 109, 194 f., 204 f., 215, 243 ff., 249, 252 ff., 264, 347 f., 386,419 f., 463 f., 502
Sachwortverzeichnis - Anwendungsbereich von Elys Theorie 70 ff., 73, 80 ff., 193 f. - durch die Theorie der Repräsentationsoptimierung 47 ff., 66 ff., 70 ff., 76, 80 ff., 109, 119, 127, 133, 154 ff., 160 f., 177 ff., 243 ff. - durch das Verfassungsgericht 38, 61 ff., 86 f., 264 Minimalismus 35, 202, 203 f. Mißtrauen 116 m. Fn. 162, 205, 259, 464, 495 Moralphilosophie 54, 128, 152, 157, 226, 230 f., 233 f., 398 Naturrecht 54,102 New Deal 50 Nichtpositivismus 102 ff., 230,353 f., 397 ff. Non-Originalismus 34 ff., 53 ff., 139 f., 200, 229 ff., 232 ff., 248, 291, 305 ff., 308, 397, 399,495 - bei Ely 96 f., 102, 107, 133 f., 136, 149 f., 154 Normativität 322 ff., 391,499 Normbereich 349, 375 f., 420 Normbereichsanalyse 375 ff., 500 Normbindung 305, 373 f. Normprogramm 329, 349, 375,420 Normwiderspruch 352 Obiter dicta 289,434 f., 493 f., 502 Objektive Dimension der Grundrechte 285 f., 289, 315, 323, 379, 382 f., 387, 393, 408, 428, 461 f., 469, 474, 494 f., 501 f. - Verteidigung 400 ff. - Verzicht auf ~ 396,447,449,453 Objektivismus 116 f. Offene Gesellschaft der Verfassungsinterpreten 309 ff., 417,419 f., 423,498 Optimierungsgebote 277, 312, 317, 427, 459 f., 483,485,487 f., 498 Original Understanding s. „Originalismus" und„Intentionalismus" Originalismus 34 ff., 39, 55 f., 59, 75 f., 102, 114, 133 f., 136, 139, 149, 205 ff., 247 f., 291, 301, 361, 367 f., 371, 384, 397, 399,495,500
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Partizipation 74, 119, 129 f., 152, 167 ff., 417,422 f., 470 - und Armut 174 ff., 245 f. - Behinderung 166 ff., 171 ff. Partizipationsoptimierung 38, 60 f., 76, 126 f., 136, 161 f., 166 ff., 195, 249 f., 263 ff. Partizipationsverstärkung s. „Partizipationsoptimierung" Persönlichkeitsrechte 31, 77 ff., 135, 178, 215, 239 ff., 245, 262, 283 f., 359 f., 426, 476 - Grundrecht auf Privatsphäre 77 ff., 92, 105 f., 108, 112, 116, 135 f. - im Bereich Sexualität 77 ff., 81, 92, 106, 135 Pluralismus 41 f., 117 ff., 120 ff., 124 ff., 136, 173, 176, 183, 192, 194, 231, 391, 417 ff., 422 Political question-Doktrin 29, 99, 429 ff., 432,494, 502 Politischer Prozeß 38, 74, 81, 85, 117 ff., 160, 166 ff., 203, 241, 245, 310,408,417, 421 f., 423, 436, 456 f., 470 ff., 472 f., 492 f. - Begriff bei Ely 60 ff., 117 ff., 120 ff., 124 ff., 131, 136 - Fehlfunktion 46 f., 60,62,66,129,171 ff., 177,252 - Läuterung 41, 124 ff., 125 m. Fn. 216, 127, 131,136,160 - Offenheit 44 ff., 61 f., 126, 130 f., 172, 204 - Teilnehmer 86,162, 168,177 - Zugang 38, 44 ff., 60, 77, 85, 161 f., 171, 249 f. Populismus 35, 201 ff., 204 f. Positivismus 101, 102 ff., 136, 214, 227, 230, 252 f., 296, 324, 392, 397 ff., 499 Postmoderne Rechtstheorie 425,427 Präferenzen 98, 105 Fn. 94, 107, 118 f., 122, 197 f., 200 f., 247, 290 Pragmatismus 35,140, 203 Praktische Konkordanz s. „Abwägung" preferred freedoms 52 Fn. 84 prima facie-Gebote 313,414 f., 459 f.
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Prinzipien 202, 204, 211, 213, 219 ff., 223, 286, 312 ff., 316, 318 f., 320, 397, 408, 413 f., 459,495,498, 501 - formelle 314, 357,460 - neutrale 99 Prozeduralisierung (verfassungsgerichtlicher Kontrolle/Interpretation) 99, 105, 151 ff., 162 f., 164 ff., 195, 232, 260, 265, 268, 309 ff., 421 ff., 426 f., 466, 469 ff., 474, 502, 504 Prozeduralismus 27, 33, 254 ff., 265, 269, 421 ff., 428 - bei Ely 66, 76 f., 142 f., 151 ff., 160, 195, 238 Rahmenordnung 387, 394 ff., 396 ff., 408, 427, 502 Rassendiskriminierung 104, 108 f., 179, 181, 250 f. Recht und Politik 98 ff., 432, 502 - Trennung von ~ 29, 98 ff., 118, 134, 136, 196 ff., 213, 247 Recht und Wirklichkeit 300 f., 302 Fn. 47, 304, 305 f., 307, 376,425 Rechtsfortbildung im Verfassungsrecht 28, 284 ff., 296, 317, 322, 345 f., 349, 368, 377 ff., 501 - Grenzen 383 ff. - Kriterien 378 ff. Rechtssicherheit 214, 296 f., 324 Rechtsstaatsbegriff (formeller / materialer) 392 f., 501 Rechtsstaatsprinzip 274, 347, 374 Regel-Prinzipien-Modell 148, 267, 269, 295, 312 ff., 321 f., 357, 398, 406, 412 f., 414, 423 f., 427, 442, 459, 461, 492, 498, 503 Regeln, Regelmodell 312, 314, 317, 322 f., 358, 361, 397,414,478 ff., 482, 499 Regelungsdichte 266 f., 442 f. Relativismus 425,427 Repräsentation 119, 122 f., 146, 152, 215, 242, 258, 263 - virtuelle 63 m. Fn. 161, 103, 107,143 Repräsentationsoptimierung, Theorie der 26, 28, 32 ff., 37 ff., 61 ff., 90 ff., 136, 164 f., 166, 260 f., 262 ff., 495 - Begriff 38 Fn. 6, 61 Fn. 155, 76, 87 f.
- Begründung 73 ff., 103, 141 ff., 158 - Kritik 138 ff., 214 ff. - verfassungspolitische Konsequenzen 134 ff. Repräsentationsverstärkung (representationreinforcing) s. „Repräsentationsoptimierung" Roe v. Wade 57, 80, 83 f., 154, 163, 214, 243 Romer v. Evans 78, 83 Schutzpflichten, grundrechtliche s. „Schutzrechte" Schutzrechte 31, 172 f., 285 ff., 402 ff., 406 ff., 462, 474 ff., 478 ff., 483 ff., 489ff., 494, 504 - Begründung 402 ff. - im Dreiecksverhältnis 487 f. - Maximalschutz 479, 482 - Minimalschutz 478, 479 ff., 482, 489 f., 492 - Prinzipiencharakter 483 ff. - Rechtsprechung des BVerfG 475 ff. - Schutzmaßnahmen 478,485 - Schutzniveau 478,483 ff. - Untermaßverbot 485 ff., 504 - im zweiseitigen Verhältnis 488 f. Schwangerschaftsabbruch 57, 98, 197, 395, 407, 417,419,475 ff., 485 f., 492 f. - Grundrecht auf ~ 83 ff., 85 f., 116, 135 f., 148 f. Selbstbestimmung, demokratische 74, 118, 133, 143, 145, 160, 202, 231, 236 ff., 245, 256 Selbstbindung (des Volkes) 55 f., 226 f., 249,256 Selbsthilfe 405,407 Selbstregulierung und -Steuerung 402, 404, 424, 426 Sicherheit 404,479 Skeptizismus 100, 113 ff., 127, 131, 133, 135 f., 143, 146, 153, 157, 214, 267 ff., 292, 342, 392,422,424,427 Sozialstaatsprinzip 393, 396 Spielraum des Gesetzgebers 85, 277, 287 ff., 290, 317, 406, 435 f., 458, 461 f., 474 ff., 481,487 ff., 494, 502 ff. - Begriff 436 ff.
Sachwortverzeichnis - Begründung 439 ff., 475 - Divergenzlösung 439, 454, 455 ff., 459, 502 f. - bei Einschätzungen, Prognosen u. Abwägungen 438 f., 445,462,464 ff., 467,471, 491,504 - funktionaler, funktionell-rechtlicher 438, 461 f., 494, 503 - als Grundrechtsschranke 464 f., 467,470 - kompetenzieller Ansatz 460 ff., 464 f., 467,473 f., 483,494, 503 f. - Konvergenzlösung 439, 441, 447, 457 ff., 461,494, 502 f. - struktureller 437,485, 503 - Umfang 467 ff., 470, 475 ff., 478 ff., 483 ff., 489 ff. - Wirkungsweise s. „Divergenzlösung" und „Konvergenzlösung" Staat und Gesellschaft 171 ff., 242,400 f. Stereotypen 68 ff., 81, 85, 121, 144, 158, 179, 181 f., 188 Strukturierende Rechtslehre/Methodik 334, 335 ff., 342, 349, 372 ff., 388, 500 Subjektivismus 113, 117, 308, 319 f., 451 f. Tatbestandstheorie, enge /weite 410 ff., 413 ff., 415 f., 428, 502 Textbedeutung 148 f., 207 f., 224 f., 233, 283 f., 327 ff., 330 ff., 336 ff., 442,451 - und Gebrauch der Sprache 208, 329 f., 336 f., 341, 365 f. - gegenwärtige 98, 229, 372, 500 - und Kontext 330, 335, 340 f., 365 f. - im Konventionalismus 332 ff., 338 f. - in der Pragmatik 333, 340 f., 365 - und Sprachverständnis 331 f., 337 f., 341 - ursprüngliche 98, 206, 211 ff., 224, 228 f., 361 ff., 365 f. Textualismus 34,55, 59, 95 ff., 97 f., 205 ff., 251,268, 361 Theorie der Rechtsgewinnung 305 ff. Topik 303 ff., 349, 352, 373,416,498 Tradition 54, 128, 135 Trennungsthese 102 Tugenden 119, 122 f. Tyrannei - der Mehrheit 150, 214, 252, 348, 420
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- des Verfassungsgerichts 150, 175 f., 214, 246, 252 Ungeborenes Leben, Schutz des 31, 86, 287, 438 f., 475 ff., 481, 488 f., 492 f., 494, 504 Unsicherheit 223, 422, 424, 438 f., 465 f., 467,469,471 Urzustand 111 ff. U.S. Supreme Court 26 Fn. 5, 138 ff., 193 f., 430 f., 495 Utilitarismus 107 ff., 111, 118, 121, 123, 136, 228, 238 f. Vagheit 333 f., 341 Verfahren - Grundrechtsschutz durch Organisation und Verfahren 254, 285,410,422 - Rationalität des Verfahrens 423, 466 f., 469 ff., 472,474,493, 504 - Trennung von Inhalt und ~ 151 ff., 164 ff., 195 Verfassung - Einheit der - 349, 352 f., 356,441 - als Gesetz 225, 296 ff. - Offenheit 25, 224, 227, 296, 311 - Verfassungswandel 421 - Versteinerung 222, 226 Verfassungsbindung 25, 28, 197, 214, 225, 274, 279, 283, 308, 311, 326 f., 384, 451, 458,499 Verfassungsgebung 224, 280, 364,420 Verfassungsgericht (s. auch „Bundesverfassungsgericht") 144 f., 150 f., 379 - fehlende demokratische Verantwortlichkeit 275 f., 377 - Gerichtsförmigkeit 444 f. - Gestaltungsfunktion 445 - Grenzen s. dort - als Hüter des politischen Prozesses 40, 60, 126, 148, 154, 255, 263 - und Integration 421 - Interpretations- u. Kontrollkompetenzen 277 ff., 281,434,441,449,451,461,497 - Kompetenz-Kompetenz 278, 279 ff., 497 - Kontrollfunktion 445 ff., 448,452, 503 - Politisierung 198 f. - Souveränität 278, 281
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arverzeichnis
- verfassungsgebende Gewalt 280 - Verwerfungskompetenz 39 Verfassungsgerichtliche Kontrolle 422 - Abschaffung 201 ff. - Appellentscheidungen 289 - bereichsspezifische ~ 165, 195, 252 - Evidenzkontrolle 446,449,458,478,480 - Kassation 447 f., 453, 503 - Legitimität 25, 38 ff., 225,448 f. - prozedurale 64, 76 f., 127, 151, 153 ff., 159, 164,424 - Rationale-Basis-Test 41, 80 f., 83 f., 131 - strenge (strict scrutiny) 41, 43, 64 f., 67, 159, 162, 178, 183, 193, 259, 417, 442 f., 478,481,493 - Vertretbarkeitskontrolle 458, 476, 480 f., 491,493 - (Wertungs-) Spielraum 150 f., 153, 162, 164 Verfassungsgerichtsbarkeit s. „Verfassungsgericht" Verfassungsinterpretation (s. auch „Konkretisierung") 295 ff. - Abbruch bei nicht eindeutigen Ergebnissen 221 f., 298 f., 367 f., 384 f. - authentische 280,458 - fehlende Determination 223 f., 228, 233, 290, 298 ff., 322, 328 ff., 335, 373,451 f., 495,499, 503 - Elys Methode der ~ 93 ff., 146 ff., 195 - als (rationaler) Erkenntnisprozeß 196 ff., 200, 235, 247, 274 f., 380 f., 389, 448 ff., 451 f., 466 - genetische Auslegung 94, 216 ff., 361 ff., 372, 375, 500 - grammatische Auslegung 94, 207, 327 f., 329 f., 335, 336 f., 350, 360, 374 f. - hermeneutischer Zirkel 326 - Methoden der ~ 295 ff., 370,498 - Normbereichsanalyse s. dort - Normprogramm s. dort - objektive Theorie der ~ 362 ff., 372, 380 - Rangordnung der Auslegungselemente 349, 363, 369, 374 f., 377, 388 f., 500 - schöpferisches Element 198, 213, 224, 275, 301,368, 381 f., 450,498 - subjektive Theorie der ~ 365 ff., 379 f., 384 f., 387, 500
- Subsumtion 297, 299 f., 307, 323, 391, 498 - syllogistischer Schluß 297, 299 f. - systematische Auslegung 94 - teleologische Auslegung 94 f., 302 f., 355 f., 369, 372 f., 375, 376, 390, 498, 500 - Wertungsspielräume 28, 153, 295 ff., 302 f., 304 f., 309, 310 f., 323 f., 380, 389,400,498 f. - Willkür 55, 196, 235,290 ff. Verfassungsrecht - Generalklauseln s. „Generalklauseln, verfassungsrechtliche" - kollidierendes 349, 353, 356,485 - spezifisches 37, 39, 41, 42 ff., 59, 94 f., 126, 133, 146 ff., 162 f., 164, 209, 249, 266 f., 268, 397 Verfassungsrichter 144, 198 f., 433 f. - eigene Wertvorstellungen 54, 178,197 Verfassungsrichterrecht 345, 381, 385 Verfassungstheorie 150 f., 152, 166, 199 ff., 302, 324, 325 ff., 373, 390 ff., 425, 494, 499, 501 - als Grenze 386 f., 390 ff., 427 f., 501 f. - und Methode 96, 147 f., 325 ff., 390 ff., 499 - und positives Verfassungsrecht 145 f., 195, 373 Verfassungsverständnis 279, 285, 382, 386, 411 - formales 296 f., 392 f. - Kompetenz des BVerfG zur Entwicklung des ~ 278 f., 285,497 - limitierendes 394 - materiales 229 ff., 259 f., 393 - prozedurales, prozeduralistisches 27, 33, 74,211,238, 245, 257 f., 265 - Rahmenordnung s. dort Verfassungsvollzug 317 Verhältnismäßige Zuordnung s. „Abwägung" Vermutung der Verfassungsmäßigkeit 40, 42, 50,131,259 Vernunftrecht 114, 226,230 Vorurteile 38, 62, 66 ff., 69, 70 ff., 103 ff., 123, 155 ff., 181, 184 f., 188, 194 f., 244, 253
Sachwortverzeichnis - „ersten Grades" (Feindseligkeit) 66 ff., 78, 83, 156 ff., 177 ff. - und moralische Gründe des Gesetzgebers 82,110, 158 f., 179, 193 f., 244 - Paria-Modell 188 ff., 194, 251 - „zweiten Grades" s. „Stereotypen" Vorverständnis 200 f., 215, 227, 233 f., 247, 253, 269, 291, 300, 302, 303 ff., 320, 326, 390 f., 434,442,451,498 Wahlrecht 60,91,161 f., 165,166 ff. Warren Court 90 ff., 101, 133, 136,194 Werte 122 f., 153, 200, 226 f., 235, 247, 392 ff., 419,425 - Kritik an Werten 53 ff., 113 ff., 152, 255, 258, 268, 286, 291, 296, 318 f., 320, 392 f., 396, 398 - materiale 92, 108, 130, 144, 154, 244 - partizipatorische 74, 149, 151, 154, 195, 237 - prozedurale 143 - repräsentationsoptimierende 152 - Wertbezug des Rechts 101 f., 230 f. Wertneutralität 99 f., 150 f., 151 ff., 166, 178,213,223, 290 ff., 368 Wertungswidersprüche 355
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Wesensgehalt 395,399,480 Wille des Verfassungsgebers s. „Intentionalismus", „Originalismus" und „Verfassungsinterpretation, subjektive Theorie" Wortlautgrenze 94 f., 206, 269, 283 f., 308, 311, 317, 323, 327 ff., 344 f., 360 f., 375, 377 ff., 383 f., 387,499 f. - Ausnahmefallgruppen 349, 352 ff., 357 f., 361,500 - Beispiele 358 ff. - Konstruktion 357 f. - sprachliche Bedingungen der ~ 330 ff., 344 f. - als verfassungsrechtliche Anforderung 345 ff., 350 ff. Zeitgeist 206, 226, 291, 386, 392, 394 Zivilgesellschaft 119, 202 f., 256, 417 f., 424 Zivilrepublikanismus 117 ff., 121, 136, 203, 256 Zurückhaltung, verfassungsgerichtliche 29, 38 f., 41, 50, 58 f., 87, 116, 132 ff., 139, 149, 203 f., 259, 268, 417, 425, 433 f., 461,494 f., 502