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German Pages 219 Year 2011
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1190
Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem Am Beispiel der Sportwetten Von Christian Willers
Duncker & Humblot · Berlin
CHRISTIAN WILLERS
Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem
Schriften zum Öffentlichen Recht Band 1190
Verfassungsgerichtliche Übergangsfristen im Mehrebenensystem Am Beispiel der Sportwetten
Von Christian Willers
Duncker & Humblot · Berlin
Die Rechtswissenschaftliche Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel hat diese Arbeit im Jahre 2010 als Dissertation angenommen.
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Vorwort Die nachfolgende Arbeit wurde im Wintersemester 2010/2011 von der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel als Dissertation angenommen. Sie wurde Ende Juni 2010 abgeschlossen; Literatur und Rechtsprechung sind bis dahin berücksichtigt. Die Bearbeitung erstreckt sich im Abschnitt C.II. auf die Vorlagefrage des VG Köln in der Rechtssache „Winner Wetten“ und würdigt die Schlussanträge des Generalanwalts. Der Gerichtshof der Europäischen Union hat die Vorlagefragen nach Abgabe der Arbeit am 8. September 2010 beantwortet und sich dabei im Wesentlichen den Ausführungen des Generalanwalts angeschlossen (vgl. EuGH, NVwZ 2010, S. 1419 – 1422). Ich möchte mich an dieser Stelle bei meinem Doktorvater Prof. Dr. Christoph Brüning bedanken, der mir während der zweijährigen Tätigkeit als wissenschaftlicher Mitarbeiter an seinem Lehrstuhl exzellente Arbeits- und Forschungsbedingungen geboten hat und darüber hinaus die Fertigstellung dieser Dissertation durch wertvolle Anregungen begleitet hat. Danken möchte ich auch Prof. Dr. Florian Becker, LL.M. (Cambridge) für die sehr schnelle Erstellung des Zweitgutachtens. Dem Bundesministerium des Innern danke ich für die Gewährung eines Druckkostenzuschusses. Aus meinem privaten Bereich danke ich meiner Frau Caroline Willers, die immer für mich da ist und mir während der Anfertigung der Arbeit mit dem erforderlichen nicht-juristischen Rat zur Seite gestanden hat, sowie meinen Schwiegereltern JörgDietmar und Sylvia Sauer, die finanziell zur Veröffentlichung der Dissertation beigetragen haben. Ein besonderer Dank gilt meinen Eltern Jens und Antje Willers. Sie haben nicht nur diese Veröffentlichung finanziell gefördert, sondern mich mein ganzes Leben bedingungslos, überaus großzügig und vor allem liebevoll unterstützt. Ihnen ist diese Arbeit gewidmet. Kiel, Mai 2011
Christian Willers
Inhaltsðbersicht A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Anlass der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Rechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 III. Entwicklung der Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . 44 IV. Fehlerfolgen eines verfassungswidrigen Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 C. Konflikte mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Rechtsunsicherheit nach der Sportwettenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . 87 D. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte . . . . . 111 I. Vergleichbarkeit der Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 II. Rechtlicher Rahmen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117 III. Verfahren – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 V. Vergleich der Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Unionsrecht in Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145
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Inhaltsðbersicht II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157
F. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 II. Konflikte mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 III. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte . . . . . 206 IV. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
Inhaltsverzeichnis A. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 I. Anlass der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19 1. Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 20 2. Rechtsprechung der Instanzgerichte in der Folgezeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 3. Die Union als föderales Mehrebenensystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 22 II. Gang der Untersuchung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 1. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25 2. Konflikte mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 26 3. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte . . . . 27 4. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . 27 5. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 28 B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 I. Begriffsbestimmung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 29 II. Rechtliche Ausgangslage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 1. Vorgaben des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 a) Theorie der ipso-iure-Nichtigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30 aa) Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 31 bb) Stufenbau der Rechtsordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 32 cc) Art. 31 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 dd) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 b) Rechtsvergleichender Exkurs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33 aa) Republik Österreich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 33
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Inhaltsverzeichnis bb) Europäische Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35 c) Vernichtbarkeitslehre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 36 d) Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39 e) Zusammenfassung und praktische Auswirkungen des Meinungsstreits . . . . . . 40 2. Vorgaben des einfachen Verfassungsprozessrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 a) Situation bis zum 4. Änderungsgesetz 1970 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 41 b) Nachträgliche Billigung durch den Gesetzgeber? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 42
III. Entwicklung der Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . 44 1. Notwendigkeit der Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 2. Fallgruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 44 aa) Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 bb) Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 46 b) Das Chaos-Argument . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 aa) Besoldungsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 bb) Statusfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 47 cc) Steuerrechtsfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 IV. Fehlerfolgen eines verfassungswidrigen Gesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 48 1. Nichtigkeitserklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 a) Ex-tunc-Wirkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 49 b) § 79 BVerfGG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 50 c) Wiederaufleben des Altrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51 2. Unvereinbarerklärung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52 a) Pflicht des Gesetzgebers zur verfassungsmäßigen Neuregelung . . . . . . . . . . . . 53 b) Anwendungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 53 c) Keine Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren . . . . . . . . . . 54 d) Anlassfälle, Parallelfälle und Parallelnormfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 aa) Anlassfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 54 bb) Parallelfälle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55
Inhaltsverzeichnis
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cc) Parallelnormen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (1) Definition . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 55 (2) Keine Bindung des Gesetzgebers, der Behörden und Fachgerichte . . . 56 (3) Gleichbehandlung von Parallelfällen und Parallelnormfällen . . . . . . . 57 (4) Beseitigungspflicht des Normgebers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57 (a) Ipsen: Mittelbare Verpflichtung des Gesetzgebers . . . . . . . . . . . . . 57 (b) Kube: Prüfungs- und Aufhebungspflicht der Länderparlamente . . 58 (5) Besonderheiten bei den Sportwetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58 (a) Staatsverträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 (b) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 . . . . . . 60 (c) Gesetzgebungskompetenz für das Glücksspielrecht . . . . . . . . . . . . 61 (d) Vereinheitlichung in den Ländern durch den Lotteriestaatsvertrag . 62 (e) Auswirkung der Sportwettenentscheidung auf andere Bundesländer? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 (aa) Übertragung der Sportwettenentscheidung auf andere Länder 63 (bb) Übertragung der Rechtsfolgen durch Behörden und Fachgerichte? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (a) Beschluss des VGH Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 64 (b) Beschluss des OVG Saarlouis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (c) OVG Bremen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (d) OVG Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65 (e) Kritische Würdigung der Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . 66 (6) Auflösung des Problems . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 66 (a) Nichtanwendung von Parallelnormen durch Gerichte und Fachbehörden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 67 (b) Beseitigungspflicht der Urheber von Parallelnormen . . . . . . . . . . . 67 (c) Auswirkungen auf die Entscheidungen im Zusammenhang mit den Sportwetten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 68 e) Ausnahmen von der Anwendungssperre . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 69 aa) Weiteranwendung der für unvereinbar erklärten Norm . . . . . . . . . . . . . . . 69 bb) Kompetenz zur Anordnung der Weiteranwendung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70 C. Konflikte mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 I. Rechtsunsicherheit nach der Sportwettenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73 1. Sportwettenentscheidung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 73
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Inhaltsverzeichnis 2. EuGH-Rechtsprechung zum Glücksspielrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75 a) „Gambelli-Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76 b) „Placanica-Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 77 3. Rechtsprechungspraxis im Anschluss an die Sportwettenentscheidung . . . . . . . . 78 a) Sofortige Nichtanwendung unionsrechtswidriger nationaler Normen . . . . . . . 78 b) Kein Verstoß gegen Unionsrecht wegen der verlangten Modifikationen . . . . . 79 c) Durchbrechung des Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 aa) VGH Kassel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 80 bb) OVG Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 81 cc) Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 82 (1) „CIA Security-Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 83 (2) Art. 264 Abs. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 (3) Generalanwaltliche Schlussanträge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 (4) Jarass/Beljin . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 85 d) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 86
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts . . . . . . . . . . . . . . . 87 1. Vorabentscheidungsersuchen des VG Köln . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 2. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 88 a) „Costa/ENEL-Entscheidung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 89 b) Verankerung im Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 c) Unionsrechtskonforme Auslegung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 d) Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 90 aa) Wirksamkeit der kollidierenden Vorschriften . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 bb) Unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 91 (1) Primärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 92 (2) Sekundärrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 93 cc) Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (1) Direkte Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 94 (2) Indirekte Kollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 95 (a) Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 (b) Übergangsfrist als indirekte Kollision? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 97
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e) Wirkungen des Vorrangs für das nationale Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 aa) Geltungs- und Anwendungsvorrang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 98 bb) Änderungen durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 (1) Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen . . . . . . . . 99 (2) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 99 cc) Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 100 dd) Vorrang gegenüber nationalen Einzelakten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 ee) Adressaten des Anwendungsvorrangs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 102 f) Relativierung des Anwendungsvorrangs? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 aa) Zur deutschen Rechtsprechung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 103 bb) Ansatz bei Ehlers/Eggert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 104 cc) Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (1) Entscheidungszuständigkeit des EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105 (2) Vorübergehende Hinnahme unionsrechtswidrigen nationalen Rechts . 106 dd) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 3. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot in der Rechtssache C-409/06 . . . . 107 a) Funktion der Generalanwälte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 107 b) Ausführungen des Generalanwalts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 108 aa) Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . 108 bb) Gesetzeslücken im nationalen Recht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 109 c) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 4. Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 110 D. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte . . . . . 111 I. Vergleichbarkeit der Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 1. BVerfG: Europäische Union als Staatenverbund . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 2. Die Europäische Union als föderales System . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 114 a) Supranationalität der Europäischen Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 b) Föderale Verbindung von Union und Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115 II. Rechtlicher Rahmen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117
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III. Verfahren – ein Überblick . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 119 IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 120 1. Zuständigkeitskonkurrenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 121 a) Die Anwendung von Bundesrecht als Landesstaatsgewalt? . . . . . . . . . . . . . . . 122 b) Konkurrenzen bei einzelnen Verfahrensarten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 123 aa) Konkrete Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 124 bb) Abstrakte Normenkontrolle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 cc) Landesverfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 125 2. Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 126 a) Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 b) Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 128 aa) Vorfragenkompetenz zur Ermittlung des Prüfungsmaßstabs . . . . . . . . . . . 129 (1) Art. 31 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (a) Bundesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (b) Landesrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 130 (c) Normenkollision . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (d) Inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 131 (e) Grundrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 132 (f) Sonstiges Landesverfassungsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133 (g) Rechtsfolge: Das Merkmal „brechen“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 134 (2) Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 (3) Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135 bb) Bundesrechts- bzw. Grundgesetzwidrigkeit des Prüfungsgegenstandes . . . 136 cc) In die Landesverfassungen hineinwirkende Bestimmungen des Grundgesetzes . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 137 dd) Zusammenfassung zum Prüfungsmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 V. Vergleich der Ebenen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 1. Anwendungsvorrang des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 138 2. Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 139 a) Funktion . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 140 b) Aufgabenteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten . . . . . . . . . . . . . . 140 c) Vergleich mit Art. 100 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141
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3. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 141 a) Änderungen durch den Vertrag von Lissabon . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 b) Parallelen zur Bundestreue . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 c) Einzelpflichten der Mitgliedstaaten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 VI. Fazit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 144 E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . 145 I. Unionsrecht in Normenkontrollverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 145 1. Keine Individualbeschwerde zum EuGH . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 2. Duales Rechtsschutzsystem . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 146 II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 147 1. Gerichtshof, Gericht, Fachgerichte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 148 2. Nichtigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 a) Einschränkung des Rechtsschutzes durch die „Plaumann-Formel“ . . . . . . . . . 149 b) Klagebefugnis des Adressaten (Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV) . . . . . . . . . . . . 151 c) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 d) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 152 e) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 3. Untätigkeitsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 153 4. Amtshaftungsklage . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 5. Erzwingung einer Aufsichtsklage der Kommission . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 154 6. Vorabentscheidungsverfahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 a) Unionsrechtliche Konsequenzen bei Vorlagepflichtverletzungen . . . . . . . . . . . 156 b) Staatshaftung bei Vorlagepflichtverletzungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 156 III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 157 1. Fachgerichtlicher Rechtsschutz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 a) Vollzug durch die Legislative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158 b) Vollzug durch die Exekutive . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 158
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Inhaltsverzeichnis c) Vollzug durch die Judikative . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 159 d) Der nationale Richter im Rechtsschutzsystem der Union . . . . . . . . . . . . . . . . . 160 e) Fachgerichtlicher Rechtsschutz im Vorwege der Sportwettenentscheidung . . . 160 2. Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 a) Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. 161 aa) Gewährleistung des gesetzlichen Richters . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 161 bb) Gerichtshof als gesetzlicher Richter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 162 cc) Willkürliche Verletzung erforderlich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 dd) Anmerkungen zum Willkürmaßstab . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (1) Übernahme des „acte clair-Maßstabes“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 164 (a) Europarechtliche Begründungslinien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (b) Verfassungsrechtliche Begründung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 165 (2) Stärkere Orientierung am Gerichtshof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 (3) Stellungnahme . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 166 ee) Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im Zusammenhang mit den Sportwetten . . . . . . 167 (1) Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2006 . . . 168 (a) Beschluss des OVG Münster . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (b) Begründung des Beschwerdeführers . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 168 (c) Entscheidungsgründe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 (2) Anmerkungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 169 b) Verfassungsbeschwerde als Mittel zur Durchsetzung von Unionsrecht . . . . . . 170 aa) Ablehnende Haltung des Bundesverfassungsgerichts . . . . . . . . . . . . . . . . . 171 bb) Zustimmung im Schrifttum . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (1) Di Fabio . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (2) Schlaich/Korioth . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (3) Paul Kirchhof . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 173 (4) Hillgruber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 174 (5) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 175 cc) Integration des Unionsrechts in die Verfassungsbeschwerde . . . . . . . . . . . 175 (1) Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes . . . . . . . . 175 (2) Unionsrechtliches Äquivalenzprinzip . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 176 (3) Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 178 (a) Verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG . . . . . 178
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(b) Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf der Basis von Art. 19 Abs. 4 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (c) Anmerkung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 179 (4) Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (a) Die verfassungsmäßige Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 181 (b) Allgemeine Regeln des Völkerrechts als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 182 (c) Unionsrecht als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung . . . . . . . . . 183 (aa) „Verfassungsmäßige“ Ordnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 183 (a) Einfaches Zustimmungsgesetz als Integrationshebel . . . . 183 (b) Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. der Präambel . . . . . . . . . . . . . . 184 (c) Möglichkeit einer Analogie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 184 (bb) Verfassungsmäßige „Ordnung“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 186 (a) Ursachen außerhalb des Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . 186 (b) Folge für das Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (c) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187 (d) Substanzverlust des „Verfassungsmäßigen“ . . . . . . . . . . . 188 (e) Anwendungsvorrang versus Geltungsvorrang . . . . . . . . . 188 (cc) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (5) Weiterungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (a) Erstreckung auf spezielle Freiheitsrechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 189 (aa) Kompetenzrüge . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (bb) Vollumfängliche Verfassungsmäßigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . 190 (cc) Gründe für die Erstreckung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (dd) Kritik an der Ausdehnung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 (b) Gesetzesvorbehalte und Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (6) Unionsrechtskonformität als Schranken-Schranke . . . . . . . . . . . . . . . . 192 (7) Verfassungsprozessuale Konsequenz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (a) Landesrecht und Art. 2 Abs. 1 GG . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 193 (aa) Fruchtbarmachung für das Verhältnis BVerfG – EuGH . . . . . 194 (bb) Zwischenergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 194 (b) Abgrenzung zur Fachgerichtsbarkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (aa) Erforderlichkeit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195 (bb) Normgültigkeitsprüfung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 (c) Verfahrensrelevanz des Verstoßes gegen das Unionsrecht? . . . . . . 197 (aa) Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts . . . 198 (a) Bedeutung der Übergangsfrist . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199
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Inhaltsverzeichnis (b) Keine Vorlagepflicht auf Grundlage des „acte clair-Maßstabs“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 199 (bb) Zusammenfassung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 (d) Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts? . . . . . . . . . . . 200 (8) Ergebnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 c) Erstreckung auf die konkrete Normenkontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 201 d) Erstreckung auf die abstrakte Normenkontrolle? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 202
F. Zusammenfassung der Ergebnisse . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 I. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 204 II. Konflikte mit dem Unionsrecht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 205 III. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte . . . . . . . . 206 IV. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts . . . . . . . . . . . . . . . . . . 207 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 Sachwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 217
A. Einleitung I. Anlass der Untersuchung Das Grundgesetz ist völker- und europarechtsfreundlich ausgestaltet, worauf auch das Bundesverfassungsgericht mehrfach hingewiesen hat.1 Die besondere Offenheit des Grundgesetzes für die europäische Integration lässt sich den Artikeln 23, 28 Abs. 1 S. 3, 45 S. 1, 88 S. 2 sowie der Präambel2 entnehmen.3 Nach eigenem Bekunden übt das Bundesverfassungsgericht seine Rechtsprechung in einem „Kooperationsverhältnis“ zum Europäischen Gerichtshof aus.4 Das Gericht verweist in Abgrenzung zum Europäischen Gerichtshof in ständiger Rechtsprechung darauf, dass die Rüge der Verletzung von Unionsrecht5 in einem Verfassungsbeschwerdeverfahren nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG unzulässig sei, weil unionsrechtlich begründete Rechte nicht zu den Grundrechten gehörten.6 Ein Prüfungskompetenz des Gerichts soll sich nach eigenem Dafürhalten auch nicht aus Art. 2 Abs. 1 GG und Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ergeben.7 Schließlich sei ein Verstoß gegen das Unionsrecht nicht mit der Begründung rügefähig, dass es wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts8 an einer anwendbaren Rechtsgrundlage für den Grundrechtseingriff fehle.9 Das Bundesverfassungsgericht hält
1
So BVerfGE 6, 309 (362 f.); 31, 58 (75 f.); 41, 88 (120); 45, 83 (97); 75, 1 (17). In der Präambel bekundet das deutsche Volk den Willen „als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen.“ 3 Zur besonderen Offenheit des Grundgesetzes für die europäische Integration Dörr, 76 ff. 4 Vgl. BVerfGE 89, 155 (175) – Maastricht; zum Kooperationsverhältnis des Bundesverfassungsgerichts mit dem EuGH Schwarze, in: Badura/Dreier, Bd. 1, 223 ff. 5 Nachfolgend wird durchgehend der Begriff „Unionsrechts“ statt des Gemeinschaftsrechts verwendet, da mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 die Union gemäß Art. 1 Abs. 3 S. 3 EUV an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft getreten ist, deren Rechtsnachfolgerin sie wird. Mit dieser Zusammenführung ist die Unterscheidung zwischen Unions- und Gemeinschaftsrecht hinfällig geworden. Der Begriff „Gemeinschaftsrecht“ wird aber noch in wörtlichen Zitaten in der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union verwendet. 6 s. BVerfG, NJW 2006, 1261; BVerfG, NVwZ 2004, 597 (598 f.). 7 Vgl. BVerfG, NVwZ 2004, 597 (598 f.). 8 Dazu grundlegend Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 180 ff.; entwickelt wurde die Figur des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts durch den EuGH, erstmals in der Rechtssache „Costa/Enel“, EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269 ff). 9 Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261. 2
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A. Einleitung
sich nämlich für die insofern maßgebliche Frage der Vereinbarkeit einfachen Rechts mit dem Unionsrecht für unzuständig.10 Als Begründung dieses eingeschränkten Prüfungsmaßstabs beruft sich das Bundesverfassungsgerichts regelmäßig11 auf Entscheidungen aus dem 31. Band12 und dem 82. Band.13 Eine befriedigende Erklärung findet sich in diesen Entscheidungen indes nicht;14 es wird nur darauf hingewiesen, dass die Lösung eines Normkonflikts zwischen einer unionsrechtlichen und innerstaatlichen Regelung der umfassenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Fachgerichte überlassen ist.15 Di Fabio bezeichnet daher die Frage, inwieweit eine Eingriffsnorm des einfachen nationalen Rechts im Hinblick auf ihre Gültigkeit an Unionsrecht zu messen ist, als noch nicht abschließend geklärt.16 Anders als bei der Frage des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes gegenüber Unionsrecht,17 wozu das Bundesverfassungsgericht insbesondere in den Entscheidungen „Solange I“18, „Solange II“19, „Maastricht“20 und „Bananenmarkt“21 Position bezogen hat, geht es bei der skizzierten Problemlage darum, ob das Unionsrecht auch zugunsten des Grundrechtsträgers wirken und Grundrechtseinschränkungen aufgrund nationalen einfachen Rechts beseitigen kann.22
1. Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Welche Konsequenzen der Ausschluss des Unionsrechts aus dem bundesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstab haben kann, wird am Beispiel der Sportwetten deutlich: In seiner Entscheidung vom 28. März 2006 judizierte das Bundesverfassungsgericht, dass ein staatliches Sportwettenmonopol mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar ist, wenn es nicht konsequent am Ziel der Begrenzung der Spielsucht ausgerichtet ist.23 Mangels Ausrichtung des Monopols an der Suchtbekämpfung verstieß 10 11 12 13 14 15 16 17 18 19 20 21 22 23
BVerfG, NJW 2006, 1261. So z. B. in BVerfG, NVwZ 2004, 597 (598 f.); BVerfG, NJW 2006, 1261. BVerfGE 31, 145 (174 f.). BVerfGE 82, 159 (191). So auch Bungenberg, DVBl. 2007, 1412; Giegerich, in: Grabenwarter, 118. Vgl. BVerfGE 31, 145 ( 174 f.), 82, 159 (191). Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 43. Eingehend dazu Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 2 ff. BVerfGE 37, 271. BVerfGE 73, 339. BVerfGE 89, 155. BVerfGE 102, 147. Vgl. Dreier, in ders.: Art. 2 I Rn. 59. BVerfG, NJW 2006, 1261.
I. Anlass der Untersuchung
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das bayerische Monopol gegen die Berufsfreiheit. Das bayerische Sportwettengesetz wurde jedoch nicht für nichtig erklärt, sondern dem bayerischen Gesetzgeber wurde für eine Neuregelung eine Frist bis Ende 2007 gesetzt. Während dieser – hier so bezeichneten – Übergangsfrist durften die Veranstaltung und Vermittlung von Wetten durch private Vermittler weiterhin auf der bisherigen Rechtsgrundlage ordnungsrechtlich unterbunden werden.24 Im dem Verfahren rügte der Beschwerdeführer auch die Verletzung von Unionsrecht, was das Bundesverfassungsgericht jedoch als unzulässig zurückwies,25 obwohl es unter Hinweis auf die „Gambelli-Entscheidung“ des Europäischen Gerichtshofs26 selbst einräumte, dass die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts identisch mit denen des Unionsrechts sind.27 Damit geht das Gericht implizit davon aus, dass die bayerische Rechtslage im Urteilszeitpunkt gegen das Unionsrecht verstößt. Eine andere Wertung lässt sich der Aussage vom Gleichlauf der unionsrechtlichen und verfassungsrechtlichen Vorgaben nicht entnehmen. Hätte das Bundesverfassungsgericht ausdrücklich festgestellt, dass das bayerische Sportwettenmonopol gegen Unionsrecht verstößt, wäre die Gewährung einer Übergangsfrist zugunsten des bayerischen Gesetzgebers – jedenfalls ohne ein Vorabentscheidungsersuchen an den EuGH nach Art. 267 AEUV – nicht möglich gewesen.28 Hierarchiekonflikte mit dem Unionsrecht wären aber auch nicht aufgekommen, wenn das Bundesverfassungsgericht auf die Anordnung der Weitergeltung des bayerischen Sportwettengesetzes verzichtet und das Gesetz stattdessen für nichtig erklärt hätte. Mangels Weitergeltung des bayerischen Sportwettenrechts wären sowohl der Verstoß gegen das Grundgesetz als auch der Verstoß gegen das Unionsrecht entfallen. Die Praxis des Bundesverfassungsgerichts, die Weitergeltung von verfassungswidrigen Gesetzen anzuordnen, soll hier nicht grundsätzlich in Frage gestellt werden, da dieses Vorgehen seine Berechtigung entweder in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers oder darin findet, dass die Nichtigkeit des Gesetzes einen Zustand zur Folge hätte, der noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre als die Rechtslage, die als verfassungswidrig beurteilt wurde. Es soll jedoch aufgezeigt werden, dass dieses Vorgehen nicht gangbar ist, wenn man – wie das Bundesverfassungsgericht – das Unionsrecht zugleich aus dem Prüfungsmaßstab ausschließt.
24 25 26 27 28
BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). BVerfG, NJW 2006, 1261. EuGH, Slg. 2003, I-13031 = NJW 2004, 139 – Gambelli. BVerfG, NJW, 1261 (1266 f.). So auch Bungenberg, DVBl. 2007, 1412.
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A. Einleitung
2. Rechtsprechung der Instanzgerichte in der Folgezeit Die Nichtberücksichtigung von Unionsrecht führte in der Folgezeit dazu, dass es in der Rechtsprechungspraxis der Instanzgerichte zu einem Zustand der Rechtsunsicherheit kam. Die unzähligen verwaltungsgerichtlichen Verfahren während der Übergangszeit, in denen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO begehrt wurde, fielen besonders unterschiedlich aus, wenn sich der betreffende Sachverhalt im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten abspielte. Die Verwaltungsgerichte sahen sich mit der Frage konfrontiert, ob privaten Vermittlern die Vermittlung und Veranstaltung von Sportwetten auch verwehrt werden darf, wenn diese sich auf die europäischen Grundfreiheiten berufen, z. B. weil Wetten nach Großbritannien oder Malta vermittelt werden. Hier stellt sich die Frage, ob die nationalen Vorschriften, auf dessen Grundlage Untersagungsverfügungen an private Wettvermittler ergehen, auch weiterhin anwendbar sind, wenn sie gegen das Unionsrecht verstoßen. Zu dieser Frage hat sich das Bundesverfassungsgericht ja gerade nicht geäußert. Das OVG Münster hat dies – ohne die Frage dem EuGH vorzulegen – angenommen, indem es den Anwendungsvorrang des Unionsrechts bei Vorliegen inakzeptabler nationaler Gesetzeslücken außer Kraft gesetzt hat.29 Im Ergebnis ist dem OVG Münster auch der VGH Kassel – wenn auch mit anderer Begründung – gefolgt.30 Dagegen nahm das OVG Saarlouis die Interessenabwägung im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO zugunsten eines privaten Wettanbieters vor, da es der Rechtsprechung des EuGH nicht entnehmen konnte, dass nationales Recht die Befugnis von nationalen Gerichten begründen kann, Unionsrecht vorübergehend außer Kraft zu setzen.31 Andere Gerichte lösten den geschilderten Konflikt dadurch auf, dass sie davon ausgingen, dass der Verstoß gegen die Grundfreiheiten durch die von den Bundesländern eingeleiteten tatsächlichen Maßnahmen entfällt, welche vom Bundesverfassungsgericht bereits während der Übergangszeit gefordert wurden.32
3. Die Union als föderales Mehrebenensystem Die Einräumung einer Übergangsfrist durch das Bundesverfassungsgericht bei gleichzeitigem Ausschluss des Unionsrechts aus dem Prüfungsmaßstab kann zu 29
OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1439). 31 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (718). 32 So der VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 47 ff., der die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der tatsächlichen Ausübung des Staatsmonopols als gesetzesvertretendes Übergangsrecht einordnet, welches für eine Übergangszeit aus unionsrechtlicher Sicht ausreiche. So im Ergebnis auch das OVG Bremen, NordÖR 2006, 398. 30
I. Anlass der Untersuchung
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Rechtsschutzlücken führen. Das Bundesverfassungsgericht und der Gerichtshof der Europäischen Union sind im europäischen Mehrebenensystem mit unterschiedlichen, funktional aber vergleichbaren Aufgaben betraut.33 Diese beiden Akteure wirken nicht im Sinne eines Über- und Unterordnungsverhältnisses gegeneinander, sondern das Verhältnis wird von einer angemessenen Verantwortungsteilung im Rahmen eines supranationalen Verfassungsgerichtsverbundes, in welchem Bundesverfassungsgericht und Gerichtshof gemeinsam wirken, geprägt.34 Die Europäische Union ist ein föderales System.35 Normativ verpflichtet Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Bundesrepublik Deutschland dazu, zur Verwirklichung eines vereinten Europas bei der Entwicklung einer „föderativen Grundsätzen“ entsprechenden Europäischen Union mitzuwirken. Das Grundgesetz verlangt eine föderale Struktur der Union, d. h. einen Aufbau, in dem die Staaten als Glieder in einer Einheit derart verbunden sind, dass die von den Bürgern her legitimierte und auf sie unmittelbar zurückwirkende politische Macht auf (mindestens) zwei Ebenen verteilt ist.36 Das europäische Gegenstück37 der in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG statuierten Verpflichtung stellt Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV38 dar, wonach die Union die nationalen Identitäten der Mitgliedstaaten, welche in ihren grundlegenden politischen und verfassungsmäßigen Strukturen einschließlich der regionalen und lokalen Selbstverwaltung zum Ausdruck kommen, achtet. Die Verpflichtung der Union auf föderative Grundsätze in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG beruht auf der Einsicht, dass der Gestaltungsspielraum des Föderalismus nicht auf einen Bundesstaat beschränkt bleibt, sondern sich auch auf supranationaler Ebene realisieren kann.39 Letzteres kann man begrifflich dadurch erfassen, dass man den ursprünglich politikwissenschaftlichen Begriff40 des Mehrebenensystems verwendet, der den Bundesstaat und die Europäische Union gleichermaßen umfassen soll.41 Von einem Mehrebenensystem ist die Rede, wenn die jeweiligen Ebenen durch eigenständige Legitimationsverfahren erzeugtes Recht setzen und in-
33
Voßkuhle, NVwZ 2010, 1. Voßkuhle, NVwZ 2010, 1, 5. 35 So auch von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 61 ff., der zur Charakterisierung der Union den Begriff des „supranationalen Förderalismus“ verwendet; Kadelbach, in: VVDStRL 66, 10 ff.; Oeter, in: von Bogdandy/Bast, 81 ff., der die Europäische Union als förderatives Mischsystem charakterisiert; Giegerich, Europäische Verfassung, 733 ff.; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 25 ff. 36 Pernice, in: Dreier, Art. 23 Rn. 65. 37 Vgl. Pernice, in: Dreier, Art. 23 Rn. 65; Streinz, in: Sachs, Art. 23 Rn. 35. 38 Vgl. Hilf/Schorkopf, in: Grabitz/Hilf, Art. 6 EUV Rn. 72: „föderatives Verfassungsprinzip“. 39 Streinz, in: Sachs, Art. 23 Rn. 35; so vor allem begrifflich auch von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 61 ff. 40 Vgl. von Bogdandy, in: ders./Bast, 50, der darauf hinweist, dass neben dem Mehrebenenbegriff auch der Netzwerkbegriff politikwissenschaftlich geprägt ist. 41 Kadelbach, in: VVDStRL 66, 11. 34
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A. Einleitung
nerhalb eines gemeinsamen organisatorischen Rahmens Hoheitsgewalt arbeitsteilig auswirken.42 Die Ausprägung des bundesstaatlichen Föderalismus im deutschen Grundgesetz lässt sich anhand von sieben prägnanten Stichworten kennzeichnen: Die jeweilige Staatlichkeit von Bund und Ländern, die Kompetenzverteilung zwischen Bund und Ländern, der Grundsatz der Bundestreue, das Homogenitätsprinzip in Art. 28 Abs. 1 und 3 GG, die Einwirkungsmöglichkeiten des Bundes auf die Länder (z. B. Bundesaufsicht oder Bundeszwang), der Vorrang des Bundesrechts vor Landesrecht nach Art. 31 GG sowie die Mitwirkung der Länder bei der Bundeswillensbildung über den Bundesrat.43 Vergleichbare föderale Strukturelemente lassen sich auch auf Ebene der Europäischen Union nachweisen: Die Achtung der nationalen Identität der Mitgliedstaaten durch die Union (Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV), der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV), die Aufteilung der Zuständigkeiten zwischen Union und Mitgliedstaaten (Art. 2 – 6 AEUV), die Aussetzung von Rechten eines Mitgliedstaates bei einer Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte (Art. 7 EUV), die Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der Unionswillensbildung über den Europäischen Rat (Art. 15 EUV) und den Rat (Art. 16 EUV), seit dem Vertrag von Lissabon die Einbeziehung der nationalen Parlamente in den unionalen Rechtsetzungsprozess (Art. 12 EUV), den dualen Vollzug des Unionsrechts (durch Union und Mitgliedstaaten) und eine damit verbundene duale Vollzugskontrolle (durch die Unionsgerichtsbarkeit und die mitgliedstaatlichen Gerichte) sowie den Anwendungsvorrang des Unionsrechts als Kollisionsregel.44 Diese Strukturelemente führen dazu, dass die Union und die Mitgliedstaaten in engem Maße miteinander verwoben bzw. verzahnt sind, sodass sich eine isolierende – auf den jeweiligen Rechtskreis beschränkte – Sichtweise verbietet.45 Die Verzahnung erstreckt sich auch auf die Gerichtsbarkeit. Jeder staatliche Richter ist dazu verpflichtet, das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden, indem er jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lässt.46 Für den Rechtsschutz ist beim mitgliedstaatlichen Vollzug je nach Behördenzuständigkeit entweder der allgemeine Verwaltungsrechtsweg (Verwaltungsgericht) oder der besondere Verwaltungsrechtsweg (Finanz- oder Sozialgericht) eröffnet.47 Die Wahrung der Rechtseinheit im unionalen Rechtsraum stellt das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV sicher.
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Kadelbach, in: VVDStRL 66, 11. Vgl. Häberle, Europäische Verfassungslehre, 429 f. 44 Vgl. Streinz, in: Sachs, Art. 23 Rn. 35; Dann, in: von Bogdandy/Bast, 343 ff.; Dörr/Lenz, Rn. 360 ff.; Zuleeg, NJW 2000, 2846 ff. 45 Vgl. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 11; von Bogdandy, in: von Bogdandy/ Bast, 51; Streinz, Rn. 197 ff.; Zuleeg, NJW 2000, 2849 f. 46 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. 47 Vgl. Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 182 Rn. 5. 43
II. Gang der Untersuchung
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Die Feststellung, dass es sich sowohl bei der Bundesrepublik Deutschland als auch bei der Europäischen Union um ein föderales System handelt, ermöglicht einen Vergleich anzustellen: Das Verhältnis von Gerichtshof zum Bundesverfassungsgericht mit dem Verhältnis von Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichten zu vergleichen.48 Ein Landesverfassungsgericht würde sich nicht anmaßen, Landesrecht, das gegen Bundesrecht verstößt, übergangsweise weiter anzuwenden. Die Landesverfassungsgerichte machen wie das Bundesverfassungsgericht von der alternativen Tenorierungsvariante der Unvereinbarerklärung Gebrauch und erklären ggf. das mit Landesverfassungsrecht für unvereinbar erklärte Recht für weiter anwendbar.49 Eine übergangsweise weitere Anwendung von Landesrecht, das gegen Bundesrecht verstößt, scheitert (spätestens) an Art. 31 GG,50 wonach Landesrecht durch Bundesrecht gebrochen wird. Art. 31 GG ist dabei als Maßstab auch von den Landesverfassungsgerichten heranzuziehen. Eine vergleichbare Situation ergibt sich für das Unionsrecht, da auch dessen Vorrang gegenüber jeglichem mitgliedstaatlichen Recht anerkannt ist.51 Dass Art. 31 GG ein Geltungsvorrang und dem Unionsrecht ein Anwendungsvorrang entnommen wird, ist dabei nicht von ausschlaggebender Bedeutung. Hintergrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist nämlich, dass dieser schonender für die nationalen Rechtsordnungen ist, da er diese einerseits weniger beeinträchtigt als ein Geltungsvorrang, andererseits aber der einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ebenfalls ausreichend Rechnung trägt.52
II. Gang der Untersuchung 1. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht Zu Beginn der Arbeit (Abschnitt B.) soll die inzwischen gängige Praxis des Bundesverfassungsgerichts nachgezeichnet werden, verfassungswidrige Gesetze nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären und die Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes für eine Übergangszeit anzuordnen, wobei auf die rechtliche Ausgangslage, d. h. die Vorgaben des einfachen Verfassungs48
Diesen Vergleich stellt auch Oeter, in: VVDStRL 66, 362 an. Vgl. Urteil des Schleswig-Holsteinischen Landesverfassungsgerichts vom 26. 2. 2010, NordÖR 2010, 155 ff., in welchem die Amtsordnung Schleswig-Holstein für unvereinbar mit der Landesverfassung erklärt wurde, und der Gesetzgeber verpflichtet wird, die verfassungswidrige Rechtslage bis zum 31. 12. 2014 zu beseitigen und der für verfassungswidrig erklärte § 9 der AO S-H bis zu diesem Zeitpunkt anwendbar bleibt. 50 Kompetenzwidriges Landesrecht ist nämlich nicht nach Art. 31 GG, sondern bereits wegen der Sperrwirkung der Art. 71 und 72 Abs. 1 GG, welche leges speciales zu Art. 31 GG sind, unwirksam. Vgl. dazu mit weiteren Nachweisen Brüning, NVwZ 2002, 34. 51 Ständige Rechtsprechung des EuGH seit Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) – Costa/ENEL. 52 So auch Herdegen, § 11 Rn. 3; Streinz, Rn. 222. 49
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A. Einleitung
prozessrechts und des Grundgesetzes, ebenso eingegangen wird wie auf die Entwicklung der Unvereinbarerklärung in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts. Hinsichtlich der Fehlerfolgen eines verfassungswidrigen Gesetzes gilt den sogenannten Parallelnormen ein besonderes Augenmerk, worunter solche Vorschriften zu verstehen sind, die nicht selbst Gegenstand der Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren, welche aber wörtlich oder sachlich weitgehend identisch mit einer für unvereinbar erklärten Norm sind.53 Es stellt sich dann die Frage, ob Fachgerichte und Behörden die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts auch auf Parallelnormen übertragen dürfen, oder ob den Urheber einer solchen Norm eine Beseitigungspflicht trifft. Mit dieser Frage wurden nämlich im Anschluss an die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die nur das bayerische Sportwettenmonopol betraf, Hoheitsträger außerhalb von Bayers konfrontiert und sind diesbezüglich nicht immer überzeugend vorgegangen.
2. Konflikte mit dem Unionsrecht Im Anschluss (Abschnitt C.) wird offengelegt, dass Übergangsfristen in Konflikt mit dem Unionsrecht geraten können, wenn das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung verfassungswidrigen nationalen Rechts anordnet und dieses auch gegen das Unionsrecht verstößt. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts kann dabei zwar nicht selbst als europarechtswidrig bezeichnet werden, da es Übergangsregelungen nicht ausdrücklich auf Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts erstreckt. Diese Frage konnte das Gericht aufgrund des beschränkten Prüfungsmaßstabs nämlich aussparen. Allerdings sahen sich die Fachgerichte, die das Unionsrecht uneingeschränkt anwenden müssen,54 im Anschluss an die Entscheidung mit der Frage konfrontiert, ob europarechtswidriges nationales Recht während einer Übergangszeit weiter angewendet werden kann. Besonders angeheizt wurde diese Problematik durch den Beschluss des OVG Münster vom 28. Juni 2006, in welchem zur Lösung eine temporäre Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts angenommen wurde. Der Beschluss ist dabei genauso Gegenstand der weiteren Erörterung wie auch die allgemeine Frage, ob eine temporäre Suspendierung des Anwendungsvorrangs europarechtlich möglich ist.
53 54
Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 416. Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal.
II. Gang der Untersuchung
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3. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte Danach (Abschnitt D.) wird das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zu den Landesverfassungsgerichten als Vergleichsfolie für das Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum EuGH beleuchtet, weil das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Europarechts zum EuGH in einem ähnlichen Verhältnis steht wie die Verfassungsgerichtshöfe der Gliedstaaten zum Verfassungsgericht des Bundes.55 Die Vergleichbarkeit der Ebenen ist möglich, weil es sich bei der Europäischen Union wie bei der Bundesrepublik Deutschland um ein föderales System handelt. Bei der Landesverfassungsgerichtsbarkeit rückt vor allem der Prüfungsmaßstab in den Fokus; die Landesverfassungsgerichte haben bei ihren Entscheidungen aufgrund von Art. 28 Abs. 1, 31, 100 Abs. 1, 3 GG auch das Bundesrecht und das Grundgesetz zu berücksichtigen und können sich nicht bei der Entscheidungsfindung auf ihr eigenes Landesverfassungsrecht zurückziehen. Trotz postulierter grundsätzlicher Trennung der Verfassungsräume von Bund und Ländern56 stehen die Räume nicht isoliert voneinander, sondern sind vielfach miteinander verflochten.57 Am Ende des Abschnitts werden die Mechanismen auf Unionsebene und in der Bundesrepublik miteinander verglichen und daraus Schlussfolgerungen für den Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts gezogen. Das Unionsrecht genießt – wie das Bundesrecht vor Landesrecht (Art. 31 GG) – Vorrang vor jeglichem mitgliedstaatlichen Recht. Daneben wahrt u. a. das Vorabentscheidungsverfahren in Art. 267 AEUV die Rechtseinheit innerhalb der Europäischen Union, indem die Auslegung des Unionsrechts und die Frage der Gültigkeit von Sekundärrecht dem Gerichtshof überantwortet ist. Dieses Verfahren ähnelt der in Art. 100 Abs. 3 GG normierten Divergenzvorlage. Schließlich wird auch noch der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Ab. 3 EUV) in Blick genommen, der ebenfalls zur Verzahnung der unionalen und den mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen beiträgt.
4. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts Daraufhin (Abschnitt. E) wird sich der Frage zugewandt, ob das Bundesverfassungsgericht zur Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts angehalten ist, wobei sich die Untersuchung auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren sowie die abstrakte und konkrete Normenkontrolle erstreckt.
55
Vgl. Böckstiegel, LKV 1994, 359. Die These von den grundsätzlich getrennten Verfassungsräumen stammt vom Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 4, 178 (189). 57 Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, 1505. 56
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A. Einleitung
Nach einführender Darstellung der Möglichkeiten des Individualrechtsschutzes auf Unionsebene, welche – das Rechtsschutzsystem ist eher auf Anstöße durch EU-Organe und die Mitgliedstaaten ausgerichtet – beschränkt sind, wird sich dem Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene zugewandt, der primär den Fachgerichten obliegt. Das ist damit zu erklären, dass Unionsrecht überwiegend durch die Mitgliedstaaten vollzogen wird und in diesem Fall den mitgliedstaatlichen Gerichten auch die Vollzugskontrolle obliegt. Fraglich ist, ob dem Bundesverfassungsgericht eine sekundäre Durchsetzungsverantwortung für das Unionsrecht zukommt. Bisher sanktioniert das Bundesverfassungsgericht nur Verstöße der Fachgerichte gegen die aus Art. 267 AEUV resultierende Vorlagepflicht, da eine Nichtvorlage zum Entzug des gesetzlichen Richters aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG führen kann.58 Das Bundesverfassungsgericht hat demnach auch den EuGH als gesetzlichen Richter anerkannt. Eine auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde ist jedoch nur erfolgreich, wenn zur Vorlage verpflichtete nationale Gerichte die Vorlagepflicht willkürlich verletzen. Im Rahmen der Darstellung wird sich mit dem Willkürmaßstab auseinandergesetzt und der Frage nachgegangen, ob ein anderer Maßstab möglicherweise nicht nur überzeugender, sondern auch verfassungsrechtlich geboten wäre. Abgesehen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG unterlässt das Bundesverfassungsgericht die Durchsetzung von Unionsrecht. Dies wird einer kritischen Betrachtung unterzogen und es wird untersucht, ob sich eine Durchsetzungsverantwortung für das Unionsrecht aus europarechtlichen oder verfassungsrechtlichen Gründen ergibt. Anknüpfungspunkte sind diesbezüglich auf unionsrechtlicher Ebene das Äquivalenzprinzip und auf verfassungsrechtlicher Ebene Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, Art. 19 Abs. 4 GG und die verfassungsmäßige Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG.
5. Zusammenfassung der Ergebnisse Am Ende der Arbeit (Abschnitt F.) werden die Ergebnisse zusammengefasst.
58
Vgl. BVerfGE 73, 339 (366 f.) – Solange II.
B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht In diesem Abschnitt soll der rechtlichen Bedeutung von „Übergangsfristen“ nachgegangen werden. Das Bundesverfassungsgericht entscheidet im Rahmen von Normkontrollentscheidungen über die Vereinbarkeit des Bundesrechts und des Landesrechts mit dem Grundgesetz. Aus diesem Grund kann sowohl dem Bundes- als auch dem Landesgesetzgeber aufgegeben werden, bis zu einem bestimmten Datum eine Neuregelung zu erlassen. Am Ende des Abschnitts sollen die Besonderheiten, die im Zusammenhang mit den Sportwetten aufgetreten sind, beleuchtet werden. Die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts hatte das bayerische Sportwettengesetz zum Gegenstand, weshalb sich die Frage stellt, ob die Frist, die einem Landesgesetzgeber eingeräumt wird, ohne erneutes Urteil des Bundesverfassungsgerichts auf andere Bundesländer übertragen werden kann, was einige Oberverwaltungsgerichte angenommen haben.1
I. Begriffsbestimmung Der Begriff „Übergangsfrist“ findet sich weder im Bundesverfassungsgerichtsgesetz noch im Grundgesetz. Nichtsdestotrotz findet der Terminus in der Literatur Verwendung.2 Bereits an dieser Stelle kann festgehalten werden, dass man von einer Übergangsfrist sprechen kann, wenn das Bundesverfassungsgericht ein verfassungswidriges Gesetz nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar erklärt und gleichzeitig dem Gesetzgeber aufgibt, bis zu einem im Urteil bestimmten Datum eine Neuregelung zu treffen. Erforderlich ist ferner, dass das Gericht die Weitergeltung des verfassungswidrigen Gesetzes für eine Übergangszeit anordnet. Bethge bezeichnet dieses Vorgehen – ohne es jedoch als Übergangsfrist zu benennen – als probates Rezept, die Rigidität harscher Nichtigkeitsurteile mit ihrem Allesoder-Nichts-Prinzip abzuschwächen.3 1 So der VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1436); OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (719); OVG Bremen, NordÖR 2006, 398 (400). 2 s. z. B. Ehlers/Eggert, JZ 2008, 586, die auch davon sprechen, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil vom 28. 3. 2006 dem Gesetzgeber eine Übergangsfrist zugebilligt hat; Beljin, NVwZ 2008, 156, geht in seinem Beitrag der Zulässigkeit mitgliedstaatlicher Übergangsfristen für die Behebung von Verstößen gegen die Grundfreiheiten nach. 3 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 206.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
II. Rechtliche Ausgangslage Übergangsfristen kommen nur bei Normenkontrollentscheidungen in Betracht. Das Bundesverfassungsgericht überprüft Rechtsnormen bei der abstrakten und konkreten Normenkontrolle4 sowie im Verfassungsbeschwerdeverfahren. Letzterenfalls können Normen bei der Rechtssatzverfassungsbeschwerde unmittelbar (§ 95 Abs. 3 S. 1 BVerfGG) und bei der Urteilsverfassungsbeschwerde mittelbar (§ 95 Abs. 3 S. 2 BVerfGG) überprüft werden.5 Bei der Verfassungsbeschwerde handelt es sich nur im Falle des § 95 Abs. 2 BVerfGG6 um keine Normenkontrollentscheidung, da bei dieser Art der Urteilsverfassungsbeschwerde die Entscheidung nicht auf einem verfassungswidrigen Gesetz beruht. Der Entscheidungsausspruch des Bundesverfassungsgerichts ist dabei bei allen Normenkontrollentscheidungen gleich, unabhängig davon, ob es über die abstrakte oder konkrete Normenkontrolle oder die Verfassungsbeschwerde zu einer Normenkontrolle gekommen war.7
1. Vorgaben des Verfassungsrechts Die Übergangsfrist ist nicht verfassungsrechtlich normiert, das Grundgesetz schweigt zu ihr. Im Abschnitt IX. des Grundgesetzes, welcher die Rechtsprechung betrifft, findet sich vielmehr in Art. 94 Abs. 2 S. 1 GG eine Regelungsermächtigung für das Bundesverfassungsgerichtsgesetz.8 Letzteres regelt die Verfassung des Bundesverfassungsgerichts und das Verfahren. Die Übergangsfrist wird aber zum Teil mit dem Argument angegriffen, dass das Grundgesetz als Rechtsfolge der Verfassungswidrigkeit einer Rechtsnorm die Nichtigkeit erfordert.9 a) Theorie der ipso-iure-Nichtigkeit Moench formuliert in seiner Monographie aus dem Jahre 1977: „Ein verfassungswidriges Gesetz ist nach deutscher Tradition nichtig, ipso iure. Es ist ein nullum. Die-
4 Die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts für die abstrakte Normenkontrolle ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG, § 13 Nr. 6 BVerfGG; für die konkrete Normenkontrolle aus Art. 100 Abs. 1 GG, § 13 Nr. 11 BVerfGG. 5 Die Zuständigkeit für das Verfassungsbeschwerdeverfahren ergibt sich aus Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a, § 13 Nr. 8a BVerfGG. 6 § 95 Abs. 2 BVerfGG: „Wird der Verfassungsbeschwerde gegen eine Entscheidung stattgegeben, so hebt das Bundesverfassungsgericht die Entscheidung auf, in den Fällen des § 90 Abs. 2 Satz 1 verweist es die Sache an ein zuständiges Gericht zurück.“ 7 Schlaich/Korioth, Rn. 370. 8 Vgl. dazu Sturm, in: Sachs, Art. 94 Rn. 6 ff. 9 So u. a. Arndt, BB 1960, 994; Bettermann, ZZP 72 (1959), 40; Frowein, DÖV 1970, 592; Maurer, ZRP 1969, 102; Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 327 f.
II. Rechtliche Ausgangslage
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sem Theorem huldigt die ganz überwiegende deutsche Staatsrechtslehre.“10 Nach dieser sogenannten Theorie der ipso-iure-Nichtigkeit ist jedes Gesetz, welches gegen eine Verfassungsvorschrift verstößt, im Moment der Kollision unmittelbar von selbst – ipso iure – und ohne zeitlichen Verzug, d. h. von Anfang an – ex tunc – nichtig.11 Eines konstitutiven Urteils des Bundesverfassungsgerichts bedarf es dazu nicht, sondern dieses ist bloß deklaratorischer Natur.12 Stern hält den Grundsatz der ipso-iureNichtigkeit maßstabsnormwidriger Normen nach dem positiven Verfassungsrecht für zwingend und verweist dabei auf die Art. 1 Abs. 3, 20 Abs. 3, 79 Abs. 1, 100 Abs. 1, 117 Abs.113 sowie 123 Abs.1 GG14.15 Hein geht deshalb auch davon aus, dass der Theorie von der h.M. Verfassungsrang zuerkannt wird.16 Ipsen weist darauf, dass die Lehre – obwohl sie keinen ausdrücklichen Niederschlag im Grundgesetz erfahren hat – auch den Beratungen im Parlamentarischen Rat zugrunde lag.17 Hinsichtlich des Verfassungsprozessrechts geht Stern davon aus, dass der Gesetzgeber sich auch bei der Fassung des § 78 BVerfGG von dem Grundsatz der ipso-iure-Nichtigkeit leiten ließ, und verweist insofern auf die Begründung des Regierungsentwurfs.18 Nachfolgend sind die wesentlichen verfassungsrechtlichen Argumente aufgeführt, auf die sich die Anhänger der ipso-iure-Nichtigkeitstheorie stützen. aa) Art. 100 Abs. 1 GG Zunächst soll es Art. 100 Abs. 1 GG gebieten, von der Nichtigkeit verfassungswidriger Gesetze auszugehen.19 Dem Wortlaut nach besteht eine Vorlagepflicht, falls ein Gericht ein Gesetz, auf dessen Gültigkeit es bei der Entscheidung ankommt, für verfassungswidrig hält. Aus dieser Formulierung wird der Schluss gezogen, dass es auf die Gültigkeit eines Gesetzes nur ankommen kann, wenn das verfassungswidrige Gesetz aus der Sicht des Grundgesetzes ungültig und damit nichtig ist.20 Ferner 10
Moench, 11, welcher in Fn. 3 umfangreiche Verweise bereit hält. Die deutsche Tradition wird dabei von Stern, AöR Bd. 91 (1966), 250; derselbe, in: BK, Art. 93 Rn. 271 sowie Art. 100 Rn. 141; Stern, Staatsrecht I, 105 angeführt. 11 Pohle, 63. 12 Moench, 12. 13 Art. 117 Abs. 1 GG: „Das dem Artikel 3 Absatz 2 entgegenstehende Recht bleibt bis zu seiner Anpassung an diese Bestimmung des Grundgesetzes in Kraft, jedoch nicht länger als bis zum 31. März 1953.“ 14 Art. 123 Abs. 1 GG: „Recht aus der Zeit vor dem Zusammentritt des Bundestages gilt fort, soweit es dem Grundgesetze nicht widerspricht.“ 15 Stern, in: BK, Art. 93 Rn. 271. 16 Hein, 94 mit zahlreichen Nachweisen in Fn. 10. 17 Vgl. Ipsen, 70: „Beiden Gesetzesentwürfen lag damit die selbstverständliche Annahme zugrunde, dass verfassungswidrige Normen von vornherein nichtig seien.“ 18 Stern, in: BK, Art. 93 Rn. 271 unter Hinweis auf BT-Drucks. I/788, 34 zu § 72. 19 s. z. B. Frowein, DÖV 1970, 592; Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 328. 20 So Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 326 f.; auch Wobst, 40.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
wird angeführt, dass Art. 100 Abs. 1 GG bei einem anderen Verständnis nur auf ein entscheidungserhebliches Gesetz abgestellt hätte.21 Die ipso-iure-Nichtigkeit wird dem Art. 100 Abs. 1 GG noch aus einem anderen Grund entnommen: Art. 100 Abs. 1 GG konzentriert nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Verwerfungskompetenz nur hinsichtlich formeller und nachkonstitutioneller Gesetze beim Bundesverfassungsgericht.22 Alle Rechtsnormen unterhalb von formellen Gesetzen, also vor allem Rechtsverordnungen, Satzungen sowie vorkonstitutionelle Gesetze, müssen damit von jedem Gericht nicht nur auf ihre Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz überprüft werden, sondern im Falle der Unvereinbarkeit auch verworfen werden. Im letzteren Fall dürften Gerichte die (materielle und vorkonstitutionelle) Norm nicht anwenden, weil sie ipso iure nichtig sei.23 „Wäre sie bloß vernichtbar, so bedürfte es einer mit Bindungswirkung ausgestatteten gerichtlichen Vernichtung dieser Norm durch einen besonderen Ausspruch; eine bloße deklaratorische Inzidentfeststellung würde nicht ausreichen.“24 Aus der Nichtigkeit von vorkonstitutionellen und materiellen Rechtsnormen soll letztlich auch die Nichtigkeit von formellen und nachkonstitutionellen Gesetzen folgen, da es ansonsten zu unlösbaren Diskrepanzen und höchst widerspruchsvollen Ergebnissen käme.25 bb) Stufenbau der Rechtsordnung Die Theorie wird auch aus dem Stufenbau der Rechtsordnung abgeleitet, welcher die ipso-iure-Nichtigkeit einer höherrangigem Recht widersprechenden Norm beinhalte.26 Die Höherrangigkeit des Grundgesetzes in der Normenhierarchie folge vornehmlich aus Art. 1 Abs. 3 GG sowie Art. 20 Abs. 3 GG und habe zur Folge, dass eine Normenkollision zugunsten der Verfassung aufgelöst werde.27 Innerhalb einer Rechtsordnung könnten widersprechende Normen nicht gleichzeitig gelten, was „normlogisch“ sei,28 und einen Rechtssatz, nach dem ein verfassungswidriges Gesetz temporär Vorrang genieße, enthalte das Grundgesetz nicht.29 Statt auf den Stufenbau der Rechtsordnung abzustellen, sei es auch möglich, die Verfassungsnormen als Rechtsgeltungsnormen aufzufassen, die ein Gesetz einhalten 21
Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 327. Ständige Rechtsprechung seit BVerfGE 1, 184 (201); 2, 124 (129); vgl. dazu Stern, in: BK, Art. 100 Rn. 59 ff. 23 Vgl. Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 328. 24 Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 328. 25 So im Ergebnis Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 328, welche dies noch an einem Fallbespiel zu veranschaulichen versuchen. 26 Stern, in: BK, Art. 93 Rn. 270; so auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 120, der das Nichtigkeitsdogma in der Regelungshöhe der Verfassung verbürgt sieht. 27 Häberle, DÖV 1966, 661; vgl. auch Hesselberger/Weißauer, DÖV 1970, 328. 28 So Huh, 129. 29 Vgl. Moench, 99. 22
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müsse, damit es zustande komme.30 Der Unterschied der beiden Denkansätze soll bloß theoretischer Art sein.31 cc) Art. 31 GG Schließlich wird als Begründungsansatz auch das Verhältnis von Bundesrecht zu Landesrecht herangezogen, welches die Kollisionsregel des Art. 31 GG zugunsten des Bundesrechts entscheidet. Gemäß Art. 31 GG bricht im Falle einer Kollision Bundesrecht entgegenstehendes Landesrecht, was als Rechtsfolge die Nichtigkeit der Landesnorm und nicht lediglich die Unanwendbarkeit des entgegenstehenden Landesrechts nach sich zieht.32 Dies zeige, dass für einen wichtigen Fall die Nichtigkeit verfassungsrechtlich angeordnet sei.33 dd) Zusammenfassung Da das Grundgesetz die ipso-iure-Nichtigkeit nicht ausdrücklich normiert hat, ist die Theorie nur ein Produkt verfassungsrechtlicher Exegese.34 Sie lässt bei verfassungswidrigen Gesetzen keine Ausnahmen von dem Grundsatz zu und ist deshalb dogmatisch stringent.35 b) Rechtsvergleichender Exkurs Dass die ipso-iure-Nichtigkeitstheorie rechtslogisch nicht zwingend ist, soll rechtsvergleichend am Beispiel der Republik Österreich und der Europäischen Union gezeigt werden. aa) Republik Österreich Das österreichische Bundesverfassungsrecht weist dadurch eine nicht unerhebliche Unübersichtlichkeit aus, als dass mehrere Rechtsquellen über Verfassungsrang verfügen. Die zentralen Vorschriften des Verfassungsrechts enthält jedoch das Bundes-Verfassungsgesetz aus dem Jahre 1920. Art. 140 Abs. 5 Bundes-Verfassungsgesetz verpflichtet den Bundeskanzler oder den zuständigen Landeshauptmann zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung, falls der Verfassungsgerichtshof ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben hat. Die Aufhebung tritt am Tage der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt, wobei diese Frist 18
30 31 32 33 34 35
Brinkmann, DÖV 1970, 406 ff.; Hein, 93. Hein, 93. Frowein, DÖV 1970, 593; Breuer, DVBl. 2008, 556. Frowein, DÖV 1970, 593. Vgl. Moench, 114. Moench, 97 spricht von einer theoretisch sauberen Lösung.
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Monate nicht übersteigen darf.36 Die Aufhebung eines verfassungswidrigen Gesetzes erfolgt demnach entweder ex nunc oder erst zu einem später bestimmten Zeitpunkt. Art. 140 Abs. 7 Bundes-Verfassungsgesetz bindet alle Gerichte und Behörden an den Ausspruch des Verfassungsgerichtshofs. Vor allem haben alle Gerichte und Verwaltungsbehörden nach Art. 140 Abs. 7 Bundes-Verfassungsgesetz das aufgehobene Gesetz auf die vor Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof in seinem Erkenntnis nichts anderes ausspricht. Ebenso ist das Gesetz auf alle Fälle mit Ausnahme des Anlassfalles anzuwenden, wenn der Verfassungsgerichtshof eine Frist nach Art. 140 Abs. 5 Bundes-Verfassungsgesetz gesetzt hat.37 Wie Art. 140 Abs. 7 Bundes-Verfassungsgesetz zeigt, ist von der Wirkung ex nunc grundsätzlich nur der Anlassfall ausgenommen. Dieser kommt als einziger Fall in den Vorteil einer ex-tunc-Reparatur des verfassungswidrigen Zustandes, wenn der Verfassungsgerichtshof nicht ausnahmsweise die ex-tunc-Wirkung auf andere Fälle erstreckt und dadurch den Grundsatz der ex-nunc-Wirkung durchbricht.38 Bis zur Aufhebung der Gesetze durch den Verfassungsgerichtshof sind die gehörig kundgemachten Gesetze nach § 89 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz39 gültig und den Gerichten steht bis dahin kein Prüfungsrecht hinsichtlich der Gültigkeit zu. Neben der grundsätzlichen Wirkung ex nunc zeichnet sich demnach das österreichische Modell dadurch aus, dass die Aufhebung nicht bloß deklaratorisch ist, sondern konstitutiven Charakter hat. Das Bundes-Verfassungsgesetz basiert auf einem Entwurf von Hans Kelsen,40 der der Ansicht war, dass verfassungswidrige Gesetze verfassungsmäßig sind, bis sie in einem besonderen Verfahren aufgehoben werden.41 36 Art. 140 Abs. 5 Bundes-Verfassungsgesetz lautet: „Das Erkenntnis des Verfassungsgerichtshofes, mit dem ein Gesetz als verfassungswidrig aufgehoben wird, verpflichtet den Bundeskanzler oder den zuständigen Landeshauptmann zur unverzüglichen Kundmachung der Aufhebung. Dies gilt sinngemäß für den Fall eines Ausspruches gemäß Abs. 4. Die Aufhebung tritt am Tage der Kundmachung in Kraft, wenn nicht der Verfassungsgerichtshof für das Außerkrafttreten eine Frist bestimmt. Diese Frist darf 18 Monate nicht überschreiten.“ 37 Art. 140 Abs. 7 Bundes-Verfassungsgesetz lautet: „Ist ein Gesetz wegen Verfassungswidrigkeit aufgehoben worden oder hat der Verfassungsgerichtshof gemäß Abs. 4 ausgesprochen, dass ein Gesetz verfassungswidrig war, so sind alle Gerichte und Verwaltungsbehörden an den Spruch des Verfassungsgerichtshofes gebunden. Auf die vor der Aufhebung verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles ist jedoch das Gesetz weiterhin anzuwenden, sofern der Verfassungsgerichtshof nicht in seinem aufhebenden Erkenntnis anderes ausspricht. Hat der Verfassungsgerichtshof in seinem aufhebenden Erkenntnis eine Frist gemäß Abs. 5 gesetzt, so ist das Gesetz auf alle bis zum Ablauf dieser Frist verwirklichten Tatbestände mit Ausnahme des Anlassfalles anzuwenden.“ 38 Von dieser Möglichkeit macht der Verfassungsgerichtshof nach Breuer, DVBl. 2008, 564 in 15 % der Fälle Gebrauch. 39 Art. 89 Abs. 1 Bundes-Verfassungsgesetz lautet: „Die Prüfung der Gültigkeit gehörig kundgemachter Gesetze, Verordnungen und Staatsverträge steht, soweit in diesem Artikel nicht anderes bestimmt wird, den Gerichten nicht zu.“ 40 Vgl. Moench, 107 f.; Schlaich/Korioth, Rn. 379.
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bb) Europäische Union Rechtsvergleichend weiterführend ist auch die Betrachtung von Art. 264 AEUV. Art. 264 AEUV regelt die Rechtsfolge im Fall der Begründetheit einer Nichtigkeitsklage nach Art. 263 AEUV. Mit der Nichtigkeitsklage ist der Gerichtshof der Europäischen Union für Klagen zuständig, mit denen Gesetzgebungsakte und Handlungen der Unionsorgane angegriffen werden. Zu den Unionsorganen, deren Rechtsakte und Handlungen im Rahmen einer Nichtigkeitsklage Klagegegenstand sein können, zählen nach Art. 263 Abs. 1 AEUV der Rat, die Kommission, die Europäische Zentralbank, das Europäische Parlament und der Europäische Rat. Bei den genannten Institutionen handelt es sich nach Art. 13 Abs. 1 EUV um Organe der Union. Mit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. Dezember 2009 ist die seit dem Vertrag von Maastricht bestehende Säulenstruktur der Europäischen Union aufgehoben worden,42 was dazu führt, dass die Unterscheidung von Europäischer Union und Europäischer Gemeinschaft wegfällt. Auf Grundlage des geänderten Primärrechts gibt es jetzt nur noch die Europäische Union, welche Rechtsnachfolgerin der Europäischen Gemeinschaft wird und an deren Stelle tritt (Art. 1 Abs. 3 EUV). Nach Art. 47 EUV besitzt die Union Rechtspersönlichkeit, womit die alte Streitfrage, ob die Union Rechtsfähigkeit besitzt, hinfällig geworden ist.43 Durch die Aufhebung der Säulenstruktur werden die Zuständigkeiten des Gerichtshofs der Europäischen Union grundsätzlich auf alle Organe und alle Politikbereiche der Union erstreckt,44 wodurch auch die Nichtigkeitsklage einen erweiterten Anwendungsbereich erfährt; letzterer war bis zum 1. Dezember 2009 in der Regel auf das Gemeinschaftsrecht beschränkt. Mit der Übernahme der polizeilichen und justiziellen Zusammenarbeit in Strafsachen aus der 3. Säule in den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts ist die Nichtigkeitsklage auch auf diesen Bereich ausgedehnt worden.45 Allerdings ist der Gerichtshof gemäß Art. 275 Abs. 1 AEUV weiterhin nicht zuständig für die Bestimmungen hinsichtlich der Gemeinsamen Außenund Sicherheitspolitik (ehemals 2. Säule) und für die auf der Grundlage dieser Bestimmungen erlassenen Rechtsakte. Die Parteien, die im Rahmen der Nichtigkeitsklage aktiv klagebefugt sind, finden sich in Art. 263 Abs. 2 bis Abs. 5 AEUV, wobei zwischen den privilegiert Klagebefugten gemäß Art. 263 Abs. 2 AEUV und den nicht privilegiert Klagebefugten nach Art. 263 Abs. 3 bis Abs. 5 AEUV unterschieden wird. Die nicht privilegiert Klagebe-
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Kelsen, Reine Rechtlehre, 278: „Die sogenannten ,verfassungswidrigenÍ Gesetze sind verfassungsmäßige, aber in einem besonderen Verfahren aufhebbare Gesetze.“ Vgl. eingehend zu Kelsen und der Rechtsentwicklung in Österreich Ipsen, 49 ff. 42 Vgl. dazu Lindner, BayVBl. 2008, 422 f. 43 Vgl. Terhechte, EuR 2008, 147. 44 Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 246 f. 45 Vgl. Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 247.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
fugten müssen gegenüber den nach Art. 263 Abs. 2 AEUV Klagebefugten zusätzliche Anforderungen erfüllen. Die Nichtigkeitsgründe zählt Art. 263 Abs. 2 AEUV auf, wobei der Aufhebungsgrund „Verletzung der Verträge oder einer bei der Durchführung anzuwendenden Rechtsnorm“ den Auffangtatbestand für alle Verstöße bildet, die keinem der drei anderen Gründe unterliegen.46 Ist die Nichtigkeitsklage begründet, muss der Gerichtshof der Europäischen Union die angegriffene Handlung für nichtig erklären (Art. 264 Abs. 1 AEUV). Letzteres verdeutlicht, dass es sich bei der Klageart um eine Gestaltungsklage handelt, was zur Folge hat, dass das Urteil keine bereits bestehende Nichtigkeit feststellt, sondern die auch einem rechtswidrigen Akt bis zu seiner Aufhebung zukommende Geltung beseitigt.47 Das Urteil des Gerichtshofs hat wie in Österreich konstitutiven Charakter mit der Folge, dass Rechtsnormen bloß vernichtbar sind. Die Regelung in Art. 264 AEUV unterscheidet sich demnach ebenfalls von der ipso-iure-Nichtigkeitstheorie. Anders als in Österreich wirkt die Nichtigerklärung aber grundsätzlich ex tunc,48 obgleich Art. 264 Abs. 2 AEUV dem Gerichtshof der Europäischen Union im Falle der Nichtigerklärung einen weiten Entscheidungsspielraum49 dahingehend einräumt, die Wirkung der Nichtigerklärung in zeitlicher Hinsicht zu beschränken. Durch Art. 264 Abs. 2 AEUV wird der Gerichtshof aufgerufen, den Konflikt zwischen den beiderseits aus dem Rechtsstaatsprinzip ableitbaren Grundsätzen der Rechtmäßigkeit hoheitlichen Handelns und der Rechtssicherheit aufzulösen, wobei sowohl eine Beschränkung der Wirkung einer Nichtigerklärung nur für die Vergangenheit als auch nur für die Zukunft in Betracht kommt.50 Art. 264 AEUV differiert in zeitlicher Wirkung sowohl von der österreichischen Regelung als auch von der ipso-iure-Nichtigkeitstheorie. Die Europäische Union geht daher im Falle einer Kollision von Sekundärrecht mit Primärrecht bewusst einen anderen Weg als die ipso-iure-Nichtigkeit und ist – wie auch die Republik Österreich – ein Beispiel dafür, dass andere Möglichkeiten als die ipso-iure-Nichtigkeit maßstabsnormwidriger Normen denkbar sind. c) Vernichtbarkeitslehre Es verwundert insofern nicht, dass die Zweifel an der Geltung der Theorie unter der Geltung des Grundgesetzes zugenommen haben, obgleich das Dogma der ipso-
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Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 230 EGV Rn. 81. Vgl. EuGH, Slg. 1994, I-2555, Rn. 48 – Kommission/BASF u. a.; auch Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 230 EGV Rn. 1. 48 EuGH, Slg. 1988, 2181, Rn. 30 – Asteris u. a./Kommission. 49 EuGH, Slg. 1985, 1605, Rn. 18 – Fragd. 50 Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 231 EGV Rn. 3. 47
II. Rechtliche Ausgangslage
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iure-Nichtigkeit in der Weimarer Zeit noch kaum kontrovers war.51 Der ipso-iureNichtigkeitstheorie steht inzwischen die Vernichtbarkeitslehre gegenüber.52 Da sich auch einige zu dieser Lehre bekennen, kann heute wohl nicht mehr davon gesprochen werden, dass die ipso-iure-Nichtigkeitstheorie die ganz überwiegende Ansicht darstellt. Nach der Vernichtbarkeitslehre ist eine Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstitutiver Natur, d. h., das Gesetz ist bis zum Ausspruch des Gerichts gültig und wirksam und wird erst durch den Ausspruch vernichtet.53 Ob eine konstitutive Entscheidung Wirkungen ex-tunc oder ex-nunc zeitigt, wird innerhalb der Vernichtbarkeitslehre unterschiedlich beurteilt. Teilweise wird eine extunc-Wirkung angenommen,54 teilweise aber auch lediglich eine Wirkung ex nunc.55 Hoffmann nimmt dagegen an, dass verfassungswidrige Gesetze ipso iure in ihrer Anwendbarkeit bis zur verfassungsgerichtlichen Entscheidung suspendiert sind.56 Die Vernichtbarkeitslehre geht davon aus, dass sich dem Grundgesetz nicht entnehmen lässt, dass eine verfassungswidrige Rechtsnorm ipso iure, d. h. schon ab dem Zeitpunkt der Kollision, nichtig ist. Die Vernichtbarkeitslehre hält zur Begründung ebenfalls verfassungsrechtliche Argumente parat und stützt die bloße Vernichtbarkeit einer verfassungswidrigen Rechtsnorm insbesondere auf Art. 100 Abs. 1 GG. Die Begründungsvarianten der ipso-iure-Nichtigkeitstheorie überzeugen die Anhänger der Lehre nicht: Gegen Art. 31 GG wird eingewandt, dass dieser nur eine bestimmte Normenkollision betreffe und es daher nicht zwingend sei, die Rechtsfolge auf das Verhältnis von Gesetzen zum Grundgesetz zu übertragen.57 Auch aus dem Stufenbau der Rechtsordnung lasse sich die ipso-iure-Nichtigkeit rechtslogisch nicht ableiten, da Verfassungsnormen und Gesetzesnormen regelmäßig nicht in ihrer Funktion konkurrierten.58 Die einfachen Gesetze, die das Grundgesetz ausgestalteten, lägen auf einer anderen Ebene als die Verfassungsnormen; die Verfassungsnormen steckten die Grenze möglicher Normsetzungsbefugnis ab, sie knüpften aber nicht konkret und in gleicher Weise effektiv an denselben Sachverhalt eine andere, zweite Rechtsfolge.59 51
Schlaich/Korioth, Rn. 381. Vgl. Götz, NJW 1960, 1178 ff.; Hoffmann, JZ 1961, 195 ff. unter der Fragestellung nach der Normenkontrollbefugnis der Exekutive; Böckenförde, 61 ff.; Söhn, 13 ff.; Moench, 122 ff.; Pestalozza, § 20 Rn. 16 f. 53 Vgl. Hoffmann, JZ 1961, 198. 54 So Götz, NJW 1960, 1179, der von einer prinzipiellen Rückwirkung des Gestaltungsurteils des Bundesverfassungsgerichts spricht. 55 So Moench, 155. 56 Hoffmann, JZ 1961, 196. 57 Benda/Klein, Rn. 1245. 58 Vgl. Moench, 119. 59 Moench, 119 f. 52
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
Art. 100 Abs. 1 GG spreche nicht für die Nichtigkeitstheorie, sondern aus ihr folge vielmehr die bloße Vernichtbarkeit verfassungswidriger Rechtsnormen. Das Grundgesetz vollziehe sich nicht von selbst. Daher bleibe ein Gesetz bis zur Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht Bestandteil der Rechtsordnung und ungeachtet der behaupteten Nichtigkeit wirksam.60 Die Wirksamkeit des Gesetzes werde nämlich insofern durch Art. 100 Abs. 1 GG abgesichert, als dass die Regelung die Verwerfungskompetenz eines Gesetzes, das gegen das Grundgesetz verstoße, dem Bundesverfassungsgericht vorbehalte.61 Durch die Konzentration der Verwerfungskompetenz beim Bundesverfassungsgericht setze das Grundgesetz implizit voraus, dass verfassungswidrige Gesetze erst durch ein konstitutives Urteil des Bundesverfassungsgerichts vernichtet würden.62 Überdies wird zur Begründung auch auf die im Rechtsstaatsprinzip wurzelnde Grundsätze der Rechtssicherheit und des Vertrauensschutzes abgehoben. Die Rechtssicherheit schütze das Vertrauen in das Bestehen des Rechts.63 Die ipso-iure-Nichtigkeit lasse jedoch unberücksichtigt, dass sich die Gesetzesadressaten und die hoheitlichen Instanzen auf das Gesetz verlassen haben.64 Die Nichtigkeitslehre führe zu rechtlich gestatteter Nichtbefolgung, ohne dass es hierfür einer Zwischenschaltung des Staates bedürfe und damit zu einem partiellen Rückfall in vorstaatliche Zustände, weil sie den Staat als Entscheider über die Rechtstellung Privater eliminiere.65 Nach Ansicht Breuers lässt sich gegen das Argument der Nichtigkeitslehre, dass aus dem Stufenbau der Rechtsordnung bzw. dem Vorrang der Verfassung die ipsoiure-Nichtigkeit folge, auch den Anwendungsvorrang des Unionsrechts anführen.66 Das Unionsrecht beanspruche Vorrang vor widersprechendem nationalem Recht, lasse allerdings die Gültigkeit des nationalen Rechts bei einer Normenkollision unangetastet und beschränke sich auf einen Anwendungsvorrang.67 Das sei ein Beleg dafür, dass aus dem Vorrang der Verfassung lediglich folge, dass ein Verfassungsverstoß beseitigt werden müsse, jedoch nicht, in welcher Form dies zu geschehen habe.68
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Moench, 123. Moench, 123. 62 Vgl. Götz, NJW 1960, 1179; Hoffmann, JZ 1961, 197; Moench, 123. 63 Moench, 128. 64 Moench, 128. 65 Breuer, DVBl. 2008, 561. 66 Breuer, DVBl. 2008, 557; dass das Unionsrecht Vorrang vor dem nationalen Recht genießt, ist ständige Rechtsprechung des EuGH seit EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) – Costa/ Enel. 67 s. dazu C. II. 2. e) aa). 68 Breuer, DVBl. 2008, 556 f. 61
II. Rechtliche Ausgangslage
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d) Standpunkt des Bundesverfassungsgerichts Ob das Bundesverfassungsgericht der Vernichtbarkeitslehre oder der ipso-iureNichtigkeitstheorie folgt, ist nicht einfach zu beurteilen, da das Gericht von beiden Theorien in Anspruch genommen wird. Möglicherweise lässt sich die Rechtsprechung des Gerichts, insbesondere weil der Nichtigkeitslehre eine bloße Unvereinbarkeit fremd ist, nicht in eine der Ansichten einordnen. Schlaich/Korioth gehen davon aus, dass das Bundesverfassungsgericht an der Nichtigkeitslehre festhalte, dass es aber mit der Unvereinbarerklärung von Gesetzen eigene Wege gehe, um den rigiden Nichtigkeitsausspruch abzumildern.69 Auch ältere Beiträge aus der Literatur nehmen an, dass das Bundesverfassungsgericht der ipsoiure-Nichtigkeitstheorie anhängt und verweisen dabei bereits auf das Südweststaat-Urteil des Gerichts.70 Dort heißt es in den Leitsätzen: „Stellt das Bundesverfassungsgericht fest, dass ein nach dem Inkrafttreten des Grundgesetzes erlassenes Gesetz wegen Widerspruchs mit dem Grundgesetz nichtig ist, so ist dieses Gesetz von Anfang an rechtsunwirksam.“71 Hamann verweist aber auch auf weitere Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts.72 Letztere zieht Pohle gleichermaßen heran, um seine Ansicht zu untermauern, dass das Gericht der Vernichtbarkeitslehre folgt.73 Dies soll aus den Formulierungen „die Feststellung der Nichtigkeit wirkt extunc“74 und „soweit Rechtsvorschriften für nichtig erklärt werden, gilt die Nichtigerklärung rückwirkend vom Zeitpunkt ihres ersten Inkrafttretens“75 folgen. Auch Götz meint, dass sich die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts als Beleg gegen die ipso-iure-Nichtigkeitstheorie heranziehen lässt.76 Dieselben Formulierungen des Bundesverfassungsgerichts werden somit sowohl von den Anhängern der Vernichtbarkeitslehre als auch den Vertretern der ipso-iureNichtigkeitstheorie verwendet, um das Gericht für sich in Anspruch zu nehmen. Dies ist darauf zurückzuführen, dass die Terminologie des Bundesverfassungsgerichts unklar bleibt und es auch die Frage unbeantwortet lässt, ob es sich der ipso-iure-Nichtigkeitstheorie anschließt. Insbesondere äußert sich das Gericht nicht dazu, ob es seine Urteile als Feststellungs- oder Gestaltungsurteile begreift, bzw. ob ihnen eine deklaratorische oder eine konstitutive Funktion zukommt,77 was den erforderlichen Raum zur Interpretation verschafft. Eine eindeutige Aussage, welcher Theorie das 69
Schlaich/Korioth, Rn. 383. Bachhof, AöR Bd. 87 (1962), 35; Hamann, NJW 1959, 1467 unter Hinweis auf BVerfGE 1, 14 (37). 71 BVerfGE 1, 14 (15). 72 Hamann, NJW 1959, 1467 verweist zusätzlich auf BVerfGE 7, 377 (387); 8, 51 (71). 73 Pohle, 63 f. 74 BVerfGE 7, 377 (387). 75 BVerfGE 8, 51 (71). 76 Vgl. Götz, NJW 1960, 1179 f. 77 Mönch, 13. 70
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
Gericht folgt, kann daher nicht gemacht werden. Aus den genannten Formulierungen des Gerichts ergibt sich aber, dass das Bundesverfassungsgericht im Grundsatz davon ausgeht, dass verfassungswidrige Gesetze ex tunc nichtig sind, womit allerdings nichts darüber gesagt ist, ob das Urteil feststellender oder konstitutiver Natur ist. e) Zusammenfassung und praktische Auswirkungen des Meinungsstreits Die Vorgaben des Grundgesetzes werden mangels ausdrücklicher Regelung unterschiedlich beurteilt. Sowohl die ipso-iure-Nichtigkeitstheorie als auch die Vernichtbarkeitslehre sind daher Produkte einer Verfassungsexegese. Eine Positionierung zugunsten einer der Ansichten soll an dieser Stelle unterbleiben, da für den Untersuchungsgegenstand weniger die Literaturansichten von Bedeutung sind,78 als vielmehr das praktische Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts, dem Gesetzgeber Übergangsfristen einzuräumen. Insofern ist zutreffend angemerkt worden, dass sich aus den unterschiedlichen Ansichten praktisch keine Unterschiede ergeben; jedenfalls nicht, wenn man, wie ein Teil der Vernichtbarkeitslehre, eine extunc-Wirkung der Normkontrollentscheidungen bejaht.79 Dann bleibt nämlich nur noch die Frage bestehen, ob die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts konstitutiver oder deklaratorischer Art ist. Aber auch diese Differenz wirkt sich praktisch nicht aus, wenn man anerkennt, dass die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes erst nach der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht rechtserheblich wird,80 was auch Anhänger der Nichtigkeitslehre tun.81 Das erkennt wohl auch Stern an, der zwar davon ausgeht, dass der Umstand, dass wegen Art. 100 Abs. 1 GG die Nichtigkeit einer Norm erst mit der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts von jedem Gericht angenommen werden dürfe, die Normkontrollentscheidung nicht zu einer Gestaltungsentscheidung mache, diese aber die ipso-iure-Nichtigkeit quasi-gestaltend feststelle.82 Ob man nun eine gestaltende, quasi-gestaltende oder feststellende Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts befürwortet, hat keine praktischen Auswirkungen. Unterschiede bleiben, wenn man, wie ein Teil der Vernichtbarkeitslehre, nur eine Wirkung ex nunc bejaht.
78 s. vertiefend zum rechtstheoretischen Hintergrund von verfassungswidrigen Gesetzen die Untersuchungen von Pohle; Moench; Hein; Böckenförde; Söhn und Ipsen. 79 So auch Pohle, 64; Moench, 14. 80 So auch Pohle, 64; Moench, 14. 81 Vgl. Moench, 14 m.w.N.; Bachof, AöR Bd. 87 (1962), 34 f. 82 Stern, in: BK, Art. 93 Rn. 273.
II. Rechtliche Ausgangslage
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2. Vorgaben des einfachen Verfassungsprozessrechts a) Situation bis zum 4. Änderungsgesetz 1970 Das Bundesverfassungsgerichtsgesetz sah in seiner anfänglichen Fassung für den Fall, dass eine Rechtsnorm des einfachen Rechts nicht mit dem Grundgesetz im Einklang steht, für die abstrakte Normenkontrolle in § 78 S. 1 BVerfGG, für die konkrete Normenkontrolle in §§ 82 Abs. 1, 78 S. 1 BVerfGG sowie für die Verfassungsbeschwerde in § 95 Abs. 3 S. 1 und 2 BVerfGG zwingend die Nichtigkeit der Rechtsnorm als Rechtsfolge vor.83 Ein Verzicht auf die Nichtigkeitserklärung und eine damit verbundene flexible Bestimmung der Rechtsfolgen war auf Grundlage des Bundesverfassungsgerichtsgesetzes nicht möglich. Dennoch hat das Gericht schon bald davon abgesehen, die vorgesehene Rechtsfolge strikt anzuwenden.84 Allerdings tragen der Verzicht auf die Nichtigkeitserklärung und der Ausspruch der bloßen Unvereinbarerklärung85 in den ersten beiden Jahrzehnten der verfassungsrechtlichen Judikatur, d. h. bis 1969, noch deutlichen Ausnahmecharakter, weshalb bis zu diesem Zeitpunkt von einem selbständigen Entscheidungstypus noch keine Rede sein kann.86 Ein vermehrtes Zurückgreifen auf diese alternative Tenorierungsvariante ist jedoch ab dem Jahre 1969 zu beobachten,87 also bereits vor dem 4. Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz im Jahre 1970. Festzuhalten bleibt somit, dass der Weg, sich auf die Erklärung der Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm zu beschränken, vom Bundesverfassungsgericht bereits vor dem 4. Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz im Jahre 1970 eingeschlagen wurde. Schlaich/Korioth sprechen deshalb auch davon, dass das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung als weiteren Entscheidungstypus contra legem buchstäblich erfunden habe.88 Für das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts, eine verfassungswidrige Norm bloß für unvereinbar zu erklären, wird teilweise statt der „Unvereinbarerklärung“ der Begriff der „Verfassungswidrigerklärung“ gewählt.89 Hier wird der Terminus der „Unvereinbarerklärung“ gewählt, weil dieser eher auf der Linie des Bundesverfassungsgerichts liegt, welches das für verfassungswidrig befundene Gesetz, wenn es
83
s. BVerfGG in der Fassung vom 12. März 1951, BGBl. I, 243 (250 ff.). Benda/Klein, Rn. 1244. 85 Diese Terminologie wird auch von Benda/Klein, Rn. 1267; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 120; Bethge, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 206; Schlaich/Korioth, Rn. 400 gewählt. 86 So ausdrücklich Ipsen, 107. 87 Ipsen, 107 f.; vgl. BVerfGE 26, 79; 26, 100; 26, 163. 88 Schlaich/Korioth, Rn. 395. 89 So z. B. Ipsen, 107. 84
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
auf die Nichtigerklärung verzichtet, als „unvereinbar“ oder „nicht vereinbar“ tenoriert.90 b) Nachträgliche Billigung durch den Gesetzgeber? Der Gesetzgeber hat im Jahre 1970 das 4. Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz erlassen.91 Unter anderem – und nur das ist hier relevant – betrafen die vorgenommenen Änderungen die §§ 31 Abs. 2, 79 Abs. 1 BVerfGG. § 31 Abs. 2 BVerfGG wurde in Satz 2 um den Zusatz ergänzt, dass die Entscheidung auch bei der Verfassungsbeschwerde Gesetzeskraft hat, unabhängig davon, ob das Gericht das Gesetz für nichtig oder bloß unvereinbar erklärt. § 79 Abs. 1 BVerfGG wurde dahingehend erweitert, dass die Wiederaufnahme des Verfahrens gegen ein rechtskräftiges Strafurteil auch zulässig ist, wenn das Urteil auf einer für unvereinbar erklärten Norm oder auf der Auslegung einer Norm, die für unvereinbar erklärt wurde, beruht.92 Ob der Gesetzgeber dadurch die Rechtsprechungspraxis des Bundesverfassungsgerichts gebilligt hat, ist strittig.93 Fest steht, dass der Gesetzgeber die Bestimmung der Fälle, in denen eine bloße Unvereinbarerklärung in Frage kommt, weiterhin dem Bundesverfassungsgericht überlässt und dem Gericht insofern keine Voraussetzungen vorgegeben hat. Die Kritik setzt nun auch bei den geänderten Vorschriften an. So wird von Skouris vorgebracht, dass die Frage, welche Rechtsfolge aus einer Normenkollision zwischen Grundgesetz und einfachen Recht zu ziehen ist, nicht durch die §§ 31, 79 BVerfGG entschieden werde, sondern dass dies für die bundesrechtlichen Rechtssatzprüfungsverfahren Gegenstand von § 78 S. 1 BVerfGG sei.94 Diese Norm enthalte aber keine Ermächtigung, im Falle einer Verfassungswidrigkeit oder Bundesrechtswidrigkeit zwischen einer Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung zu wählen, sondern sehe zwingend die Nichtigkeit der Rechtsnorm als Rechtsfolge vor.95 Wenn der Gesetzgeber im 4. Änderungsgesetz beabsichtigt hätte, die bloße Unvereinbarerklärung als mögliche Rechtsfolge einer Kollision zwischen Prüfungsgegenstand und Prü-
90
Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 398 ff. BGBl. I 1970, 1765. 92 Bis zum 4. Änderungsgesetz, BGBl. I 1951, 243 (251), war § 79 Abs. 1 BVerfGG noch wie folgt gefasst: „Gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer gemäß § 78 für nichtig erklärten Norm beruht, ist die Wideraufnahme des Verfahrens nach den Vorschriften der Strafprozessordnung zulässig.“ 93 Zustimmend BVerfGE 99, 280 (298); Bethge, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, § 31 Rn. 209; Benda/Klein, Rn. 1244; wohl auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 120; Pohle, 109; Schefold, JuS 1972, 4, Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 521; ablehnend Skouris, 48 ff. 94 Vgl. Skouris, 49. 95 Skouris, 49. 91
II. Rechtliche Ausgangslage
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fungsmaßstab im Normenkontrollverfahren anzuerkennen, hätte er § 78 S.1 BVerfGG und nicht die §§ 31, 79 BVerfGG ändern müssen.96 § 31 Abs. 2 BVerfGG hält Skouris für redaktionell und inhaltlich missglückt, da dieser zur Annahme führen könne, dass die Unvereinbarkeitsfeststellung nur bei der Verfassungsbeschwerde möglich sei.97 Zudem sei die Unterscheidung zwischen Nichtigkeits- und der Unvereinbarkeitsfeststellung nur schwer aufrechtzuerhalten, wenn die Feststellung der Unvereinbarkeit wie die Nichtigkeit Gesetzeskraft entfalte.98 Skouris lehnt aus den dargelegten Gründen die Feststellung der Unvereinbarkeit ohne Nichtigkeitsdeklaration ab. Es fehle für die Konstruktion an einer einwandfreien gesetzlichen Grundlage.99 Ipsen will aus dem Umstand, dass die §§ 78, 95 Abs. 3 BVerfGG unverändert geblieben sind, schließen, dass der Gesetzgeber eine neutrale Haltung zur Unvereinbarerklärung eingenommen habe.100 Die überwiegende Ansicht geht indes von einer Billigung durch den Gesetzgeber aus, da dieser in den §§ 31, 79 BVerfGG jedenfalls die Existenz der Tenorierungsart anerkannt habe.101 Skouris ist insoweit zuzustimmen, dass die §§ 31, 79 BVerfGG als Rechtsgrundlage für die Unvereinbarerklärung lückenhaft sind. Merkwürdig mutet die Übernahme der Unvereinbarerklärung durch den Gesetzgeber in § 31 BVerfGG an, also im allgemeinen Teil des Bundesverfassungsgerichtsgesetz und nicht bei den einzelnen Verfahrensarten, d. h. bei § 78 BVerfGG für die abstrakte und konkrete Normenkontrolle und bei § 95 Abs. 3 BVerfGG für das Verfassungsbeschwerdeverfahren. Allerdings spricht bereits die Aufnahme im Gesetz – wenn auch möglicherweise an der falschen Stelle – dafür, dass der Gesetzgeber die Konstruktion des Bundesverfassungsgerichts billigend zur Kenntnis genommen hat und es lediglich unterlassen hat, dem Gericht die Voraussetzungen für diese Tenorierungsvariante vorzugeben. Mit Pestalozza ist davon auszugehen, dass das Bundesverfassungsgerichtsgesetz insofern zwar lückenhaft ist, dass die Schließung dieser Lücke jedoch allem Anschein nach dem Bundesverfassungsgericht bewusst übertragen wurde.102
96
Skouris, 49. Skouris, 50. 98 Skouris, 50 f. 99 Skouris, 57. 100 Ipsen, 212. 101 Vgl. BVerfGE 99, 280 (298); Bethge, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 209; Benda/Klein, Rn. 1244; wohl auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 120; Pohle, 109; Schefold, JuS 1972, 4, Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 521. 102 Vgl. Pestalozza, in: Strack, Bd. I, 521. 97
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
III. Entwicklung der Unvereinbarerklärung durch das Bundesverfassungsgericht Nachdem die rechtliche Ausgangslage von Unvereinbarerklärungen erörtert worden ist, soll nachfolgend die Entwicklung dieser Tenorierungsvariante in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts beleuchtet werden. Dies ist erforderlich, um nachzuvollziehen, warum sich das Gericht in gewissen Fallkonstellationen auf die Unvereinbarerklärung beschränkt und nicht stets verfassungswidrige Gesetze für nichtig erklärt.
1. Notwendigkeit der Unvereinbarerklärung Das Bundesverfassungsgericht musste im Laufe seiner Rechtsprechung feststellen, dass es Konstellationen gibt, in denen die Nichterklärung eines verfassungswidrigen Gesetzes keine Abhilfe schafft, weil diese entweder die Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers beschränkt hätte oder zu einer noch weniger erträglichen Rechtslage geführt hätte mit der Folge, dass die Nichtigerklärung das Verfassungsunrecht noch vertieft hätte. Es ist deshalb von der Regel, dass verfassungswidrige Gesetze für nichtig zu erklären sind, häufig abgewichen; statistisch hielten sich die Nichtigerklärungen sowie die Unvereinbarerklärungen zeitweise sogar die Waage.103 Bei der Entwicklung der Unvereinbarerklärung ist das Gericht nicht nach einem ausgearbeiteten Konzept vorgegangen, sondern hat vielmehr von Fall zu Fall entschieden, ob es ein verfassungswidriges Gesetz für nichtig oder nur für unvereinbar erklärt.104
2. Fallgruppen Es lassen sich mehrere Fallkonstellationen unterscheiden, in denen das Bundesverfassungsgericht lediglich auf eine Unvereinbarkeitserklärung zurückgreift. Da das Bundesverfassungsgerichtsgesetz die Fälle nicht vorgegeben hat, lassen sich die Fallgruppen nur anhand der Rechtsprechung des Gerichts entwickeln. Die Fallgruppenbildung erfolgt in der Literatur nicht einheitlich, was nicht verwundert, da sich Urteile vom Begründungsansatz her nicht immer eindeutig in eine der Fallgruppen einteilen lassen. a) Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich in der Regel auf die Unvereinbarerklärung, wenn dem Gesetzgeber mehrere Möglichkeiten zukommen, den Verfas103 104
Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 397. Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 523.
III. Entwicklung der Unvereinbarerklärung
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sungsverstoß zu beseitigen.105 In der Sportwettenentscheidung, in der das Gericht einen Verstoß des bayerischen Sportwettenmonopols gegen die Berufsfreiheit festgestellt hat, hat das Gericht den Verzicht auf die Nichtigerklärung ebenfalls derart begründet. Der Gesetzgeber habe nämlich zwei Möglichkeiten: „Ein verfassungsmäßiger Zustand kann sowohl durch eine konsequente Ausgestaltung des Wettmonopols erreicht werden … als auch durch eine gesetzlich normierte und kontrollierte Zulassung gewerblicher Veranstaltung durch private Wettunternehmen.“106 aa) Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss Eine Konstellation, in der das Bundesverfassungsgericht schon früh auf die Unvereinbarerklärung eingeschwenkt ist, sind die gleichheitswidrigen Begünstigungsausschlüsse.107 In dieser Fallgruppe, die bisweilen als eigentliche Wiege der Unvereinbarerklärung bezeichnet wird,108 erfordert das Grundgesetz selbst den Verzicht des Bundesverfassungsgerichts auf die Nichtigerklärung. Deutlich wird dies bereits aus folgender Formulierung des Bundesverfassungsgerichts: „Der Verstoß gegen den Gleichheitssatz führt zu einer bloßen Unvereinbarkeitserklärung, weil die Gleichheitswidrigkeit nicht zu bestimmten Folgerungen zwingt, der Gesetzgeber vielmehr mehrere Möglichkeiten hat, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen.“109 Aus der Struktur des Art. 3 Abs. 1 GG ergeben sich aber Besonderheiten, die nicht nur in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers liegen. Der Gleichheitssatz ist nämlich seiner Natur nach nicht starr und absolut, sondern „ambivalent und relativ.“110 Ein gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss liegt vor, wenn z. B. durch eine gesetzliche Regelung die Gruppe B von einer die Gruppe A begünstigenden Regelung unter Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG ausgeschlossen wird.111 Der Verstoß kann vom Gesetzgeber auf unterschiedliche Weise behoben werden. Möglich ist der Einbezug der Gruppe B in die begünstigende Regelung, ferner kann die Begünstigung gänzlich abgeschafft werden und schließlich kann der Kreis der Begünstigten auch unabhängig von den Gruppen A und B festgelegt werden.112 Isoliert betrachtet verstößt im Beispiel die Begünstigung der Gruppe A nicht gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sondern der Verstoß resultiert erst daraus, dass die Gruppe B gegenüber der Gruppe A von der Begünstigung ausgeschlossen wird, also aus der Relation der Regelungen. Aus diesem Grund besteht keine Norm, an der sich die Ver-
105 106 107 108 109 110 111 112
Z.B. BVerfGE 99, 280 (298); 104, 74 (91); 105, 73 (133). BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). Vgl. BVerfGE 13, 248 (260 f.); 22, 349 (360 f.). Vgl. Seer, NJW 1996, 285. BVerfGE 93, 121 (148). Maurer, in: Schneider, 354. Schlaich/Korioth, Rn. 401. Schlaich/Korioth, Rn. 401.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
fassungswidrigkeit festmachen lässt.113 Eine Nichterklärung der in Rede stehenden Regelung ist mangels nichtig zu erklärender Normsubstanz folglich gar nicht möglich.114 bb) Freiheitsrechte Zunehmend begründet das Bundesverfassungsgericht jedoch auch bei Verstößen gegen Freiheitsrechte die Unvereinbarerklärung mit der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers. Hier lässt sich auch die Sportwettenentscheidung einordnen, da kein Verstoß gegen Art. 3 Abs. 1 GG, sondern gegen Art. 12 Abs. 1 GG festgestellt wurde. Bedeutsam geworden ist das Zurückgreifen auf die Tenorierungsvariante besonders bei Verletzungen von Art. 12 und 14 GG,115 ferner aber auch bei Verstößen gegen Art. 19 Abs. 4 GG.116 Überdies hat das Bundesverfassungsgericht auch schon bei Verletzungen von Art. 10 GG auf die Unvereinbarerklärung zurückgegriffen.117 Benda/ Klein geben zu bedenken, dass die Unvereinbarerklärung bald die Regel sein werde, falls das Gericht auf dieser Linie fortfahre.118 Andere halten die Erstreckung des Begründungsansatzes der „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ auf Freiheitsrechte gänzlich für falsch.119 Die „Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers“ dürfe nicht zur Generalklausel für die Heranziehung der Unvereinbarerklärung gedeihen, sondern die Abweichung von der verfassungsrechtlich gebotenen Nichtigerklärung sei nur durch die Besonderheiten des Gleichheitssatzes gerechtfertigt.120 Verletzungen von Freiheitsrechten führten zu absoluten und nicht zu relativen Verfassungsverstößen, weshalb es Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts sei, die Nichtigkeit der in Rede stehenden Reglung festzustellen.121 In der Tat birgt die Fallgruppe das Risiko einer weiten Ausdehnung der Unvereinbarerklärung in sich, was bedenklich ist, wenn man die Nichtigerklärung verfassungsrechtlich für geboten hält. Hält man den Gesetzgeber dagegen mangels verfassungsrechtlicher Vorgaben in der Ausgestaltung der Kollisionsfolgen für frei,122 ist eine Ausdehnung hinnehmbar.
113
Schlaich/Korioth, Rn. 402. Schlaich/Korioth, Rn. 402. 115 Für Art. 14 GG: BVerfGE 98, 17 (46); 100, 226 (247); für Art. 12 GG: BVerfGE 85, 226 (237 f.); 96, 260 (264); 99, 202 (215 f.). 116 BVerfGE 101, 106 (131 f.). 117 BVerfGE 100, 313 (388). 118 Benda/Klein, Rn. 1269. 119 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 404; Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 Rn. 48 Fn. 211. 120 Schlaich/Korioth, Rn. 404. 121 Schlaich/Korioth, Rn. 412. 122 Wie explizit Benda/Klein, Rn. 1248; Heußner, NJW 1982, 257; wohl auch Pestalozza, § 20 Rn. 16 f. 114
III. Entwicklung der Unvereinbarerklärung
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b) Das Chaos-Argument Eine weitere Fallgruppe, in der das Bundesverfassungsgericht auf den Ausspruch der Nichtigkeit verzichtet und stattdessen auf die Unvereinbarerklärung zurückgreift, zeichnet sich dadurch aus, dass die Nichtigkeit des Gesetzes einen Zustand zur Folge hätte, der noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre als die Rechtslage, die als verfassungswidrig beurteilt wurde.123 Anders als vom Gesetzgeber beabsichtigt, würde die Nichtigerklärung des Gesetzes nicht zur Durchsetzung der Verfassung dienen, sondern gerade das Gegenteil bewirken und das Verfassungsunrecht noch vertiefen.124 In diesen Fällen gebietet das Gemeinwohl einen schonenden Übergang von der verfassungswidrigen zu einer verfassungsmäßigen Rechtslage.125 Die Folgenverantwortung verpflichtet das Bundesverfassungsgericht dazu, die Entstehung eines Rechtsvakuums oder von Regelungsdefiziten zu verhindern.126 Die Schlüssigkeit dieses Chaos-Arguments127 oder Chaos-Theorie128 zeigt sich vor allem im Beamten- und Steuerrecht. aa) Besoldungsfälle Entspricht eine Besoldungsregelung nicht dem Alimentationsauftrag des Art. 33 Abs. 5 GG, ist das Besoldungsgesetz verfassungswidrig.129 Die Nichtigkeit des Gesetzes hätte jedoch zur Folge, dass überhaupt keine gesetzliche Grundlage für die – auch bislang gezahlten – Bezüge mehr gegeben wäre.130 Art. 33 Abs. 5 GG verlangt aber, dass gesetzliche Besoldungsregelungen überhaupt vorhanden sind.131 In solchen Fällen erklärt das Gericht das Gesetz nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz und ordnet zusätzlich die Weitergeltung des bisherigen Rechts an, um eine provisorische Rechtsgrundlage bereit zu halten.132 bb) Statusfälle Die Gefahr einer unerträglichen Rechtslücke besteht auch in Statusfällen, d. h., wenn gesetzliche Grundlagen öffentlich-rechtlicher Institutionen im Widerspruch 123 Benda/Klein, Rn. 1268; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 215; z. B. BVerfGE 83, 130 (154); 90, 60 (104 f.). 124 Vgl. Pohle, 70. 125 BVerfGE 91, 186 (207); vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 215. 126 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 215. 127 So Schuppert, AöR 120 (1995), 93. 128 So Pohle, 70. 129 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 217. 130 Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 121. 131 BVerfGE 8, 1 (19 f.). 132 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 217.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
zum Grundgesetz stehen.133 So hat das Bundesverfassungsgericht in der „NumerusClausus-Entscheidung“ im Jahre 1972 die Verfassungswidrigkeit einer Regelung des hamburgischen Universitätsgesetzes festgestellt.134 § 17 des Gesetzes regelte das Zulassungsverfahren und überließ es im Sinne einer Blankettermächtigung dem Akademischen Senat, Zulassungsordnungen zu beschließen. Diese Regelung hielt das Bundesverfassungsgericht für unvereinbar mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Das Gericht sah jedoch davon ab, die Norm für nichtig zu erklären. Durch die Nichtigerklärung würde nämlich ein Zustand geschaffen, der der verfassungsmäßigen Ordnung noch ferner stünde als der zum Urteilszeitpunkt maßgebliche Zustand.135 Das Bundesverfassungsgericht hielt es deshalb für geboten und ausreichend, dem Gesetzgeber innerhalb einer angemessenen Frist die Beseitigung des verfassungswidrigen Zustandes zu ermöglichen.136 cc) Steuerrechtsfälle Schließlich bewegt das Chaos-Argument das Bundesverfassungsgericht auch im Steuerrecht dazu, auf die Nichtigkeit zu verzichten. Eine Nichtigkeit von verfassungswidrigen Steuerrechtsnormen darf nicht zur Folge haben, dass eine Besteuerung überhaupt nicht stattfinden kann137 oder dass unabsehbare budgetäre Konsequenzen zu befürchten sind.138
IV. Fehlerfolgen eines verfassungswidrigen Gesetzes Verzichtet das Bundesverfassungsgericht auf die Nichtigerklärung und beschränkt sich darauf, ein verfassungswidriges Gesetz bloß für unvereinbar mit dem Grundgesetz zu erklären, ist noch nichts darüber gesagt, welche Rechtsfolgen für die Vergangenheit und für die Zukunft daraus resultieren. Es gilt zu beachten, dass die Feststellung der Unvereinbarkeit einer Norm mit dem Grundgesetz grundsätzlich die gleiche Wirkung zeitigt wie die Nichtigerklärung.139 Dies drückt das Bundesverfassungsgericht wie folgt aus: „Ob das Gericht eine Norm für nichtig erklärt oder nur ihre Unvereinbarkeit mit der Verfassung feststellt, hat 133
Pohle, 73. BVerfGE 33, 303 (304). 135 BVerfGE, 33, 303 (347). 136 BVerfGE, 33, 303 (348). 137 BVerfGE 87, 153 (178). 138 Vgl. Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 218; BVerfGE 61, 319 (356). 139 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 220; Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 562. 134
IV. Fehlerfolgen eines verfassungswidrigen Gesetzes
49
ebenso wie für die Vergangenheit auch für die Zukunft die gleiche Wirkung.“140 Da das Bundesverfassungsgericht mithilfe der Unvereinbarerklärung regelmäßig aber einen schonenderen Übergang von der verfassungswidrigen zur verfassungsmäßigen Rechtslage bezweckt als dies mit der Nichtigerklärung möglich wäre, weicht es von den Wirkungen der Nichtigerklärungen häufig ab. In welcher Art und Weise dies geschieht, soll untersucht werden, nachdem die Rechtsfolgen der Nichtigerklärung bestimmt worden sind. Dies ist erforderlich, um die Gemeinsamkeiten und Differenzen der Rechtsfolgen von Nichtigerklärung und Unvereinbarerklärung herauszuarbeiten.
1. Nichtigkeitserklärung Erklärt das Bundesverfassungsgericht eine verfassungswidrige Norm für nichtig, ist die Regelung seit dem Zeitpunkt der Kollisionsentstehung ungültig, d. h. ohne rechtliche Wirkung.141 Rechtliche Unwirksamkeit bedeutet dabei Unanwendbarkeit sowie fehlende Rechtsgeltung.142 a) Ex-tunc-Wirkung Der Zeitpunkt der Kollisionsentstehung richtet sich nach dem Zeitpunkt des Inkrafttretens der Maßstabsnorm. Nach ständiger Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts wirkt die Nichtigerklärung auf den zeitlich zurückliegenden Zeitpunkt der Kollision mit dem höherrangigen Recht zurück.143 Tritt die Maßstabsnorm erst nach der in Rede stehenden Regelung in Kraft, ist dies der entscheidende Zeitpunkt für die Normenkollision, was aber zugleich bedeutet, dass die zu prüfende Norm einmal rechtlich wirksam war.144 Der Bezug der Nichtigkeit auf den Kollisionszeitpunkt stellt die ex-tunc-Wirkung dar.145 Ziel der Nichtigerklärung durch die Kassation eines verfassungswidrigen Gesetzes im Normkontrollverfahren ist es, Verfassungsdurchbrechungen durch einfaches Recht, welches unter Umgehung von Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG146 mit dem Grundgesetz kollidiert, zu verhindern.147 Für die Zukunft hat die Nichtigerklärung zur Folge, dass mangels Existenz das Gesetz keiner Entscheidung mehr zugrunde gelegt kann.148 140
BVerfGE 37, 217 (262). Vgl. Benda/Klein, Rn. 1251. 142 Vgl. Benda/Klein, Rn. 1252. 143 Vgl. BVerfGE 1, 14 (37); 7, 377 (387). 144 Benda/Klein, Rn. 1251. 145 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 78 Rn. 7; Benda/Klein, Rn. 1251. 146 Art. 79 Abs. 1 S. 1 GG: „Das Grundgesetz kann nur durch ein Gesetz geändert werden, das den Wortlaut des Grundgesetzes ausdrücklich ändert oder ergänzt.“ 147 Pohle, 105. 141
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
b) § 79 BVerfGG Schwierig ist die Situation, die sich für die Vergangenheit aus der ex-tunc-Nichtigkeit ergibt. Diese hätte nämlich zur Folge, dass alle bis zur Nichtigerklärung auf Grundlage der Norm ergangenen Akte beseitigt würden.149 Bei der abstrakten und konkreten Normenkontrolle gibt es rechtlich und bei der Urteilsverfassungsbeschwerde150 faktisch keine Fristen, sodass das Gesetz schon Jahre in Kraft sein kann, bevor es einer Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgericht zugeführt wird. Um die daraus resultierenden Konsequenzen abzumildern, hat sich der Gesetzgeber deshalb dazu entschlossen, für bestimmte Rechtsakte die Rechtsfolgen abweichend vom ex-tunc-Grundsatz zu regeln151 und § 79 BVerfGG als verfassungsprozessuale Rechtsfolgenregelung aufgenommen.152 § 79 gilt unmittelbar für Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bei der abstrakten Normkontrolle, gemäß § 82 Abs. 1 BVerfGG für die konkrete Normenkontrolle und gemäß § 95 Abs. 3 S. 3 BVerfGG für die Verfassungsbeschwerde. Im Ergebnis setzt § 79 BVerfGG den Akzent mehr auf die Rechtssicherheit als auf die Einzelfallgerechtigkeit.153 Das Bundesverfassungsgericht hält den in § 79 BVerfGG vorgenommenen Ausgleich zwischen Rechtssicherheit und Einzelfallgerechtigkeit für verfassungsgemäß.154 Nach § 79 Abs. 1 BVerfGG ist gegen ein rechtskräftiges Strafurteil, das auf einer Norm beruht, die vom Bundesverfassungsgericht für nichtig oder für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt wurde, die Wiederaufnahme des Verfahrens nach der Strafprozessordnung zulässig. Ohne Wiederaufnahmeverfahren bleiben rechtskräftige Strafurteile jedoch wirksam. Im Übrigen bleiben aber Entscheidungen, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, unberührt, wenn sie nicht mehr anfechtbar sind, und wenn gegen sie auch keine Verfassungsbeschwerde erhoben worden ist (§ 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG). Die Vorschrift statuiert somit eine prinzipielle Fortbestandsgarantie für rechtsbeständig gewordene Normvollzugsakte.155 Allerdings darf aus einer solchen Entscheidung nicht mehr vollstreckt werden (§ 79 Abs. 2 S. 2 BVerfGG). Die Vollstreckung kann nach § 767 ZPO mithilfe der Vollstreckungsabwehrklage abgewehrt werden (§ 79 Abs. 2 S. 3 BVerfGG). Ferner sind öffentlichrechtliche Erstattungsansprüche ausgeschlossen (§ 79 Abs. 2 S. 4 BVerfGG). Unter 148
Pohle, 108. Schlaich/Korioth, Rn. 390. 150 Diese ist zwar nur binnen eines Monats seit der Gerichtsentscheidung zu erheben, § 93 Abs. 1 S. 1 BVerfGG. Das verfassungswidrige Gesetz, auf dem die Entscheidung beruht, kann dagegen schon Jahre in Kraft sein. Handelt es sich jedoch um eine Rechtssatzverfassungsbeschwerde, ist das Verfahren binnen eines Jahres seit Inkrafttreten des Gesetzes zu erheben, § 93 Abs. 3 BVerfGG. 151 Pohle, 108. 152 Umfassend zu § 79 BVerfGG Steiner, in: Starck, Bd. I, 628 ff. 153 Vgl. BVerfGE 32, 387 (390); Benda/Klein, Rn. 1254. 154 BVerfGE 19, 150 (166); 53, 115 (130). 155 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 79 Rn. 44. 149
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Entscheidungen im Sinne von § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG fallen Vollzugsentscheidungen der Verwaltung sowie Akte der Rechtsprechung.156 „Unberührt“ im Sinne des § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG bedeutet dabei nicht, dass den Entscheidungen eine höhere Bestands- und Rechtskraft als nach den einschlägigen Vorschriften zukommt, sondern nur, dass die Bestands- und Rechtskraft nicht automatisch durch die Nichtigerklärung vermindert wird.157 Die Nichtigerklärung der zugrunde liegenden Norm bedeutet keine Änderung der Rechtslage im Sinne des § 51 Abs. 1 Nr. 1 VwVfG, weshalb kein Anspruch auf Wiederaufgreifen eines durch bestandskräftigen Verwaltungsakt abgeschlossenen Verwaltungsverfahrens besteht.158 § 79 Abs. 2 S. 1 BVerfGG untersagt jedoch nicht die Rücknahme von Verwaltungsakten nach § 48 VwVfG.159 Dies führt dazu, dass der Betroffene ein subjektiv-öffentliches Recht auf eine ermessensfehlerfreie Entscheidung über die Rücknahme des bestandskräftigen Verwaltungsaktes geltend machen kann.160 Die Nichtigerklärung einer Norm bewirkt dabei nicht zwangsläufig eine Ermessensreduzierung auf Null, die zu einer Verpflichtung der Rücknahme eines Verwaltungsaktes führt.161 c) Wiederaufleben des Altrechts Nicht ohne weiteres zu beantworten ist die Frage, ob das – durch das nichtige Gesetz aufgehobene – Altrecht wiederauflebt. Teilweise wird angenommen, dass durch die Nichtigerklärung das Altrecht deshalb (wieder) in Geltung und damit anwendbar sei, weil einem nichtigen Gesetz nicht die Kraft zugesprochen werden könne, das alte Recht aufzuheben.162 Die Wiederbelebung des Altrechts setze aber voraus, dass die frühere Regelung ihrerseits verfassungsmäßig und auch im Rahmen der Gesamtordnung praktikabel sei,163 was letztlich eine Interpretationsfrage sei.164 Nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts soll die wiederbelebende Wirkung jedenfalls im Bund-Länder-Verhältnis anzunehmen sein. Ein Bundesgesetz auf dem Gebiet der konkurrierenden Gesetzungskompetenz soll nämlich mit der Nichtigerklärung seine Sperrwirkung verlieren.165 156 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 79 Rn. 46; vgl. auch BVerfGE 15, 309 (312). 157 Pestalozza, § 20 Rn. 77. 158 Schlaich/Korioth, Rn. 392; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 79 Rn. 49. 159 Pestalozza, § 20 Rn. 77. 160 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 392. 161 So auch Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 79 Rn. 56. 162 Vgl. Benda/Klein, Rn. 1252; Schlaich/Korioth, Rn. 457 f. 163 Schlaich/Korioth, Rn. 460. 164 Benda/Klein, Rn. 1252. 165 BVerfGE 7, 377 (387).
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Nach anderer – vor allem von Pestalozza vertretener – Ansicht sei das Änderungsgesetz zwar nichtig. Dem Änderungsgesetz wird aber dennoch die Kraft zugesprochen, das alte Recht aufzuheben, welches folglich nicht wieder auflebe.166 Dies bedeute ebenfalls eine Beschränkung der Fiktion, dass die nichtige Norm gänzlich ex tunc nichtig sei.167 Ein derartiger Ansatz sei deshalb nicht ohne Sinn, weil der Gesetzgeber mit dem – wenn auch nichtigen – Änderungsgesetz das Altrecht aufheben wollte,168 auch wenn ihm dieses aufgrund der formellen oder materiellen Verfassungswidrigkeit nicht gelungen ist. Die Konsequenz des Ansatzes liegt darin, dass vorerst gar keine Regelung besteht. Das Bundesverfassungsgericht hat sich zu dieser Frage bisher nicht geäußert. Es erscheint jedoch überzeugender, anzunehmen, dass ein nichtiges Gesetz nicht imstande ist, Altrecht aufzuheben. Letzteres lebt also wieder auf. Einerseits wird auf diesem Wege ein regelungsloser Zustand vermieden, andererseits ist der Gesetzgeber wieder in der Verantwortung für das wiederauflebende Recht. Falls er dieses (erneut) ändern möchte, muss er die Entscheidungsgründe des Bundesverfassungsgerichts beachten und ein formell und materiell verfassungsmäßiges Gesetz verabschieden. Für die Unvereinbarerklärung stellt sich die Frage des Auflebens des Altrechts hingegen nicht, weil das für unvereinbar erklärte Gesetz zwar nicht mehr anwendbar ist, aber weiterhin Bestand hat, weshalb es das ältere Recht fortwährend verdrängt.169
2. Unvereinbarerklärung Das Bundesverfassungsgericht entnimmt der Unvereinbarerklärung grundsätzlich die gleichen Rechtsfolgen wie der Nichtigerklärung. Es stellt sich daher die berechtigte Frage, warum das Bundesverfassungsgericht überhaupt zwischen Unvereinbarkeit und Nichtigkeit unterscheidet. Ein interimistisches Weitergelten der für verfassungswidrig gehaltenen Rechtslage erscheint zunächst ausgeschlossen. Die Annahme des Bundesverfassungsgerichts wird aber verständlich, wenn man diese dahingehend konkretisiert, dass die gleiche Wirkung von Unvereinbarerklärung und Nichtigerklärung sich nur auf die Anwendbarkeit der Norm und nicht auf deren Bestand bezieht.170 Löwer betont zutreffend und sehr prägnant: „Nichtigkeit eliminiert, Unvereinbarkeit nicht.“171 Dies bildet den entscheidenden Unterschied zur Nichtigkeit einer 166 Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 522; so auch Baumgarten, 59 ff.; in die Richtung auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 116, nach dem das Altrecht nicht fort gilt, wenn dem Änderungsgesetz ein unbedingter und verselbständigter Aufhebungswille zu entnehmen ist. 167 Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 522. 168 Schlaich/Korioth, Rn. 456. 169 Schlaich/Korioth, Rn. 461; Benda/Klein, Rn. 1274. 170 Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 123. 171 Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 123.
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Rechtsnorm. Verfassungsprozessuale Regelungen zu den Rechtsfolgen einer Unvereinbarerklärung sind nur bruchstückhaft vorhanden. § 31 Abs. 2 BVerfGG besagt, dass auch die Unvereinbarerklärung eines Gesetzes Gesetzeskraft hat. Daraus folgt, dass der Unvereinbarerklärung eine erga-omnes-Wirkung vom Zeitpunkt der Kollision der verfassungswidrigen Regelung mit dem Grundgesetz zukommt.172 Die Rechtsfolgen der Unvereinbarerklärung wurden daher maßgeblich vom Bundesverfassungsgericht entwickelt. a) Pflicht des Gesetzgebers zur verfassungsmäßigen Neuregelung Da die bloß für unvereinbar erklärte Rechtsnorm nicht aus der Rechtsordnung ausgeschieden wird, folgt aus dem Vorrang der höheren Norm „die Pflicht zur Herstellung einer der Verfassung entsprechenden Gesetzeslage“ durch den Gesetzgeber.173 Wenn nämlich durch diesen Vorrang schon nicht die Geltung der niederen Norm zerstört wird, muss zumindest die bislang gestörte Rechtsordnung wiederhergestellt werden.174 Soweit keine Fristsetzung durch das Bundesverfassungsgericht erfolgt ist, ist der Gesetzgeber auch nicht verfassungsrechtlich gebunden, bis zu einem bestimmten Zeitpunkt eine neue gesetzliche Regelung zu erlassen.175 Allerdings gebietet die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG, unverzüglich, d. h. ohne schuldhaftes Zögern, einen verfassungsmäßigen Rechtszustand herzustellen.176 Das Bundesverfassungsgericht präzisiert aber häufig, bis wann eine Neuregelung, die den verfassungsmäßigen Vorgaben genügt, erfolgt sein muss. Das Gericht macht die Länge der Frist von der Schwierigkeit der Materie unter Berücksichtigung der Belastung des Gesetzgebers abhängig, wobei diese zwischen neun Monaten und vier Jahren variieren kann.177 b) Anwendungssperre Die Unvereinbarerklärung bezweckt ebenso wie die Nichtigerklärung die Beseitigung von Verfassungsunrecht. Sie hat zur Folge, dass das für unvereinbar erklärte 172
Vgl. Heußner, NJW 1982, 258; Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 78 Rn. 63. 173 BVerfGE 55, 100 (110); 81, 363 (383 f.); vgl. auch Benda/Klein, Rn. 1276; Heußner, NJW 1982, 257 f. 174 Benda/Klein, Rn. 1276. 175 BVerfGE 55, 100 (110). 176 Heußner, NJW 1982, 258; das Bundesverfassungsgericht macht dies durch unterschiedliche Ausdrücke deutlich, BVerfGE 81, 363 (384): „binnen angemessener Frist“; 89, 15 (27): „schnell“; 90, 60 (105): „alsbald“. 177 Benda/Klein, Rn. 1276 m.w.N; Hein, 172 f. hält eine Fristsetzung für unzulässig, wenn diese länger ist, als unverzügliches Handeln dies erfordern würde.
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Gesetz bis zu einer gesetzlichen Neuregelung von sämtlichen staatlichen Stellen in dem sich aus dem Urteilstenor ergebenden Umfang ab sofort nicht mehr angewendet werden darf.178 Diese Anwendungssperre erstreckt sich aber grundsätzlich auch auf die Vergangenheit, indem sie auf den Zeitpunkt der Entstehung der Normenkollision zurückwirkt.179 c) Keine Wiederaufnahme rechtskräftig abgeschlossener Verfahren Die im Grundsatz rückwirkende Anwendungssperre hat aber ebenso wenig wie die Nichtigerklärung zur Folge, dass alle rechtskräftig abgeschlossenen Verfahren wiederaufgenommen werden müssen. § 79 Abs. 2 BVerfGG ist seinem Wortlaut nach zwar nur auf Entscheidungen anzuwenden, die auf einer für nichtig erklärten Norm beruhen, es wird aber zutreffend angenommen, dass § 79 Abs. 2 BVerfGG auch auf Entscheidungen, die bloß auf einer für unvereinbar erklärten Norm beruhen, entsprechend anwendbar ist.180 Die entsprechende Anwendung des § 79 Abs. 2 BVerfGG ist darauf zurückzuführen, dass die Unvereinbarerklärung nur eine flexible Variante der Normverwerfung ist und diese insofern der Nichtigerklärung gleich steht.181 Aus diesem Grund scheidet eine Pflicht zum Wiederaufgreifen rechts- und bestandskräftiger Entscheidungen grundsätzlich aus. Etwas anderes kann sich nur aus spezielleren Vorschriften ergeben, die entgegen der Grundregel des § 79 Abs. 2 BVerfGG bezwecken, auch noch für abgeschlossene Fälle Einzelfallgerechtigkeit durchzusetzen.182 d) Anlassfälle, Parallelfälle und Parallelnormfälle Hinsichtlich der Anwendungssperre muss zwischen den Anlassfällen, den Parallelfällen und den Parallelnormfällen unterschieden werden. aa) Anlassfälle Die Unanwendbarkeit der für unvereinbar erklärten Regelung hat zunächst einmal Bedeutung für die Anlassfälle. Ist die Unvereinbarerklärung des Bundesverfassungsgerichts Folge einer Urteilsverfassungsbeschwerde, ist die Gerichtsentscheidung auf178 Heußner, NJW 1982, 258; Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563; BVerfGE 37, 217 (261); 55, 100 (110); 92, 53 (73). 179 Vgl. Benda/Klein, Rn. 1274; Heußner, NJW 1982, 258. 180 BVerfGE 37, 217 (262 f.); 81, 363 (384); Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/ Bethge, § 79 Rn. 45; Benda/Klein, Rn. 1278; Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 562: „Abs. 2 gilt seinem allgemeinen Rechtsgedanken nach“; Heußner, NJW 1982, 258; Hein, 199 f. 181 Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 79 Rn. 45. 182 Heußner, NJW 1982, 258.
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zuheben, die Rechtssache zurückzuweisen und das Gericht des Ausgangsverfahrens hat das Verfahren so lange auszusetzen, bis der Gesetzgeber eine verfassungsmäßige Neuregelung erlassen hat.183 Ist die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG ergangen, haben die vorlegenden Gerichte das Verfahren weiter auszusetzen.184 Auf diese Art und Weise wird gewährleistet, dass die Betroffenen in den Genuss einer günstigeren Regelung gelangen, ohne dass ihnen ein rechtskräftiges Urteil, das nach der Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts ergehen müsste, entgegengehalten werden kann.185 bb) Parallelfälle Von den Anlassfällen sind die Parallelfälle zu unterscheiden, bei denen es sich um solche Verfahren handelt, die nicht Anlass für eine Normkontrollentscheidung waren, in denen aber die für unvereinbar erklärte Norm einschlägig ist.186 Führt die Unvereinbarkeit dazu, dass die betreffende Regelung vollumfänglich nicht mehr angewendet werden darf, so kommt auch eine Anwendung in Parallelfällen nicht in Betracht und die Aussetzungspflicht der Instanzgerichte muss sich über die Anlassfälle hinaus auch auf neu eingeleitete Verfahren und damit ebenso auf alle Parallelverfahren erstrecken.187 Dies ist eine Folge der Bindungswirkung und Gesetzeskraft der Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts (§ 31 Abs. 1, 2 BVerfGG). cc) Parallelnormen Von der bestehenden Aussetzungspflicht bei Parallelfällen ist die Frage zu unterscheiden, wie mit sogenannten Parallelnormen umzugehen ist. (1) Definition Parallelnormen sind solche, die nicht selbst Gegenstand der Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren, die aber wörtlich oder sachlich weitgehend identisch mit einer für unvereinbar erklärten Norm sind.188 Denkbar sind solche Konstellationen sowohl zwischen den Bundesländern, d. h., wenn ein Bundesland, das von der Normkontrollentscheidung nicht betroffen war, über ein inhaltsgleiches Gesetz verfügt, als auch auf Bundesebene, wo insbesondere im Sozial183 Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 562; beispielhaft BVerfGE 37, 217 (261); 52, 369 (379); 82, 126 (155). 184 BVerfGE 37, 217 (261). 185 Schlaich/Korioth, Rn. 413; Hein, 189 f.; Benda/Klein, Rn. 1275; a.A. Sachs, FamRZ 1982, 984. 186 Schlaich/Korioth, Rn. 414. 187 Vgl. Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563; Benda/Klein, Rn. 1275; Schlaich/Korioth, Rn. 414. 188 Schlaich/Korioth, Rn. 416.
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recht inhaltsgleiche Regelungen für andere Gruppen von Leistungsempfängern oder Sozialversicherten existieren.189 Auf Landesebene entstehen Parallelnormen u. a., wenn Landesgesetze zur Ausführung eines Staatsvertrages erlassen werden, durch welchen die Länder eine Rechtsvereinheitlichung bezwecken.190 In diesen Konstellationen, die auch als Parallelnormfälle bezeichnet werden,191 stellt sich nach einer bundesverfassungsgerichtlichen Entscheidung die Frage, ob die Entscheidung ohne einen gesonderten Ausspruch des Gerichts ebenfalls die Parallelnormen zur Unanwendbarkeit bringt. (2) Keine Bindung des Gesetzgebers, der Behörden und Fachgerichte Teilweise wird angenommen, dass aus der Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Gesetzgeber der Parallelnorm nicht verpflichtet werde, die Norm zu beseitigen, und dass darüber hinaus Behörden und Gerichte etwaige Parallelnormen bei ihrer Rechtsanwendung nicht unangewendet lassen dürften.192 Die Entscheidung über Parallelnormen soll nur dem Bundesverfassungsgericht selbst zustehen, weshalb diese (zunächst) weiterhin anwendbar blieben.193 Das wird damit begründet, dass Verfassungsbeschwerden sowie abstrakte und konkrete Normkontrollen für jede Norm gesondert erforderlich seien und daher auch die Bindungswirkung der verfassungsgerichtlichen Entscheidung aus § 31 Abs. 1 BVerfGG immer nur an den Streitgegenstand und damit nur an die geprüfte Norm anknüpfe.194 Eine Aussetzung durch Gerichte und Fachbehörden nehme vor allem auch die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts darüber vorweg, ob die Norminhalte der für unvereinbar erklärten Norm und der Parallelnorm wirklich übereinstimmten, wozu sie aber nicht befugt seien.195 Es bleibe daher den Fachgerichten und den Betroffenen überlassen, die Parallelnormen vor das Bundesverfassungsgericht zu bringen.196 Den Urheber der Parallelnorm treffe auch keine aus § 31 Abs. 1 BVerfGG folgende Beseitigungspflicht.197 189
Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 66. s. dazu B. IV. 2. d) cc) (5) (a). 191 So Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563. 192 Schlaich/Korioth, Rn. 416; Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563; Pestalozza, § 20 Rn. 85 f.; Sachs, FamRZ 1982, 983; Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 66; Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 70 f.; Hoffmann-Riem, Der Staat 13 (1974), 364; Meyer, in: v. Münch/Kunig, Art. 94 Rn. 28. 193 Schlaich/Korioth, Rn. 416. 194 Schlaich/Korioth, Rn. 416; Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563. 195 Pestalozza, § 20 Rn. 141. 196 Pestalozza, § 20 Rn. 85. 197 Vgl. Pestalozza, § 20 Rn. 86; Heusch, in: Umbach/Clemens/Dollinger, BVerfGG, § 31 Rn. 70. 190
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(3) Gleichbehandlung von Parallelfällen und Parallelnormfällen Anderer Ansicht ist Heußner, der die gerade dargestellte Auffassung dogmatisch durchaus für überzeugend hält, der aber aus prozessökonomischen Gründen nicht zwischen Parallelfällen und Parallelnormfällen unterscheiden will und deshalb fordert, dass Verwaltung und Gerichte in Parallelnormfällen dann gleichermaßen verfahren wie in den Parallelfällen, wenn die Parallelnormen inhalts-, ziel- und zweckgleich seien.198 Das bedeute, dass in Fällen, die aufgrund einer Parallelnorm entschieden werden müssten, die einschlägige Parallelnorm ebenfalls nicht mehr anzuwenden sei und auch die Entscheidung der hoheitlichen Stelle bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszusetzen sei. Darüber hinaus hält Heußner den Gesetzgeber für verpflichtet, bei der gesetzlichen Neuregelung für Vergangenheit und Zukunft neben der für verfassungswidrig erklärten Norm auch die Parallelnormen zu erfassen, was vor allem deshalb zweckmäßig sei, weil ansonsten das Bundesverfassungsgericht Parallelnormfälle gleichlautend entschiede.199 (4) Beseitigungspflicht des Normgebers Nach anderer Ansicht seien zwar Behörden und Gerichte nicht befugt, Parallelnormen unangewendet zu lassen, den Urheber der Parallelnorm soll aber eine Beseitigungspflicht treffen.200 (a) Ipsen: Mittelbare Verpflichtung des Gesetzgebers Erklärt das Bundesverfassungsgericht ein Gesetz lediglich für unvereinbar, so geht Ipsen davon aus, dass daraus entweder eine unmittelbare oder eine mittelbare Verpflichtung des Gesetzgebers resultiere, den verfassungswidrigen Zustand zu beseitigen.201 Die unmittelbare Verpflichtung treffe den Gesetzgeber, der die für verfassungswidrig erklärte Regelung erlassen habe und welcher daher eine neue Regelung erlassen müsse, die an dessen Stelle trete.202 Dieser Punkt ist unproblematisch, weil es sich dabei um die bereits erwähnte Pflicht zur Neuregelung handelt,203 welche aus dem Vorrang der höheren Norm gegenüber der niederen Norm folgt.
198 199 200 201 202 203
Heußner, NJW 1982, 261. Heußner, NJW 1982, 261. Kube, DÖV 2002, 738; Ipsen, 266 f. Ipsen, 266. Ipsen, 266. s. B. IV. 2. a).
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Die mittelbare Verpflichtung treffe die Legislativorgane, in deren Zuständigkeit der Erlass von Parallelnormen falle.204 Den Einwand, dass Parallelnormen nicht Gegenstand einer Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts gewesen seien, hält Ipsen nicht für überzeugend.205 Aus dem Umstand, dass der Verfassungsverstoß nur durch den Gesetzgeber zu beseitigen sei und das Grundgesetz alle Organe zur Beachtung des Verfassungsrechts verpflichte, folge vielmehr eine mittelbare Verpflichtung der Urheber von Parallelnormen, diese Verfassungsverstöße zu beseitigen.206 (b) Kube: Prüfungs- und Aufhebungspflicht der Länderparlamente Kube bejaht wie Ipsen eine Beseitigungspflicht durch die Legislativorgane von Parallelnormen.207 Darüber hinaus versucht er den Einwand von Rennert zu entkräften, dass die Bindung des Legislativorgans einer Parallelnorm aus § 31 Abs. 1 BVerfGG deshalb ausscheiden müsse, weil in den seltensten Fällen exakte Parallelität zwischen den Normen bestehe und selbst bei Wortgleichheit von Gesetzen diese aufgrund des unterschiedlichen Regelungszusammenhangs und sozialen Umfelds regelmäßig nicht exakt dasselbe bedeuteten.208 Um dieses Problem aufzulösen, verlangt er, dass der Beseitigungspflicht der Länderparlamente die Prüfung der Normparallelität vorgeschaltet sei.209 Das Parlament sei erst zur Normaufhebung verpflichtet, wenn es die tatsächliche normative Entsprechung in eigener verfassungsrechtlicher Verantwortung bejaht habe.210 Die Verpflichtung zur Beseitigung von Parallelnormen durch die entsprechenden Gesetzgebungsorgane folge daraus, dass auch die Legislative als Erstadressat der Verfassung Verantwortung dafür trage, dass verfassungswidrige Zustände vermieden werden.211 (5) Besonderheiten bei den Sportwetten Bevor zur Behandlung von Parallelnormfällen Stellung bezogen wird, soll die Problematik nachfolgend anhand der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts zum Sportwettenmonopol in Bayern, welches der Entscheidung zugrunde lag, und der sich anschließenden Rechtsprechungspraxis der Instanzgerichte illustriert werden. Gegenstand des Urteils des Bundesverfassungsgerichts war nur das bayerische Staatslotteriegesetz, welches aber ebenso wie vergleichbare Gesetze in anderen Bundeslän204 205 206 207 208 209 210 211
Ipsen, 266. Ipsen, 267. Ipsen, 267. Kube, DÖV 2002, 738. So Rennert, in: Umbach/Clemens, BVerfGG, § 31 Rn. 66. Kube, DÖV 2002, 738. Kube, DÖV 2002, 738. Kube, DÖV 2002, 738 f.
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dern in Umsetzung der Verpflichtung aus dem Lotteriestaatsvertrag, welcher am 1. Juli 2004 in Kraft getreten ist, ein staatliches Wettmonopol statuierte. (a) Staatsverträge Parallelnormen können entstehen, wenn die Bundesländer ihr Landesrecht durch Abschluss eines Staatsvertrages vereinheitlichen wollen. Als Staatsvertrag bezeichnet man dabei Verträge, die nur mit förmlicher Zustimmung des Parlaments geschlossen werden können.212 Staatsverträge können sowohl zwischen den Bundesländern als auch zwischen dem Bund und den Ländern geschlossen werden, weshalb je nach Einzelfall die Zustimmungen von Landesparlamenten und/oder des Bundestages erforderlich sein können. In Abgrenzung zu den Staatsverträgen bezeichnet man Verträge, die bloß der Zustimmung durch die jeweilige Regierung bedürfen, als Verwaltungsabkommen.213 Die Abgrenzung der beiden Kooperationsformen erfolgt danach, ob nach dem jeweiligen Landesrecht oder dem Bundesrecht die zu regelnde Materie unter einem Parlamentsvorbehalt steht. Soweit Verträge Gegenstände der Gesetzgebung betreffen oder zu ihrer Durchführung ein Gesetz erforderlich ist, bedarf es eines Staatsvertrages.214 Kann der Gegenstand innerstaatlich durch Rechtsverordnung oder durch Verwaltungsvorschrift von der Exekutive geregelt werden, ist ein Verwaltungsabkommen ausreichend.215 Der Parlamentsvorbehalt soll verhindern, dass die Exekutive vertragliche Bindungen eingeht, deren Erfüllung nach der innerstaatlichen Kompetenzverteilung allein der Legislative zusteht.216 Der Zustimmung des Landtages kommt eine Doppelfunktion dahingehend zu, dass sie sowohl den Ministerpräsidenten zur Ratifikation des Vertrages ermächtigt als auch den Vertragsinhalt in Landesrecht transformiert.217 Die Transformation durch ein Landesparlament führt dazu, dass der anzuwendende Staatsvertrag den Rang eines Landesgesetzes hat. Erfolgt die Transformation durch den Bundestag, hat der innerstaatlich anzuwendende Staatsvertrag den Rang eines Bundesgesetzes. Zum Abschluss eines Staatsvertrages sind die Ministerpräsidenten berufen, d. h., die Abschlusskompetenz ist von der Transformationskompetenz zu unterscheiden. Nach den meisten Landesverfassungen folgt die Zuständigkeit des Ministerpräsidenten zum Abschluss eines Staatsvertrages aus seiner äußeren Vertretungsbefugnis.218 212
Vgl. Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 141 Rn. 58. Vgl. Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 141 Rn. 58. 214 Vgl. etwa Art. 30 Abs. 2 S. 2 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein. 215 Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 141 Rn. 59. 216 Nolte, in: Caspar/Ewer/Nolte/Waack, Verf. S-H, Art. 30 Rn. 4. 217 Nolte, in: Caspar/Ewer/Nolte/Waack, Verf. S-H, Art. 30 Rn. 13; Schweiger, in: Nawiasky/Leusser/Schweiger/Zacher, Art. 72 Rn. 4. 218 So z. B. Art. 30 Abs. 1 S. 1 Verfassung des Landes Schleswig-Holstein und Art. 50 S. 1 Verfassung Baden-Württemberg; weitergehend zur Abschlusskompetenz inklusive einer Aufzählung der einschlägigen Normen Rudolf, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 141 Rn. 61. 213
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(b) Urteil des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 Am 28. März 2006 judizierte das Bundesverfassungsgericht, dass ein staatliches Monopol für Sportwetten nur mit der Berufsfreiheit vereinbar ist, wenn es konsequent am Ziel der Bekämpfung von Suchtgefahren ausgerichtet ist.219 Das bayerische Staatslotteriegesetz, welches das Sportwettenmonopol begründete, war deshalb nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG vereinbar, weil es vor dem Hintergrund des strafrechtlich bewehrten Verbotes der Veranstaltung von öffentlichen Glücksspielen in § 284 StGB das Veranstalten von Sportwetten dem Freistaat Bayern vorbehielt, ohne zugleich hinreichende Regelungen zur Bekämpfung der Spielsucht zu enthalten.220 Aus demselben Grund war auch die Beschränkung der Vermittlung von Sportwetten mit Art. 12 Abs. 1 GG nicht zu vereinbaren.221 Im Rahmen einer schulmäßigen Grundrechtsprüfung sieht das Bundesverfassungsgericht in dem in Bayern bestehenden Wettmonopol einen rechtfertigungsbedürftigen Eingriff in die Berufsfreiheit des Beschwerdeführers. Das Monopol dient zwar legitimen Gemeinwohlzielen222 und ist auch zur Erreichung dieser Ziele geeignet und erforderlich. Das Gericht stuft das Sportwettenmonopol im Urteilszeitpunkt aber in seiner tatsächlichen Ausgestaltung als unverhältnismäßigen Eingriff ein, weil der Ausschluss gewerblicher Wettangebote durch private Wettunternehmen den an einer derartigen beruflichen Tätigkeit interessierten Bürgern nur zumutbar ist, wenn das bestehende Wettmonopol in seiner konkreten Ausgestaltung auch der Bekämpfung der Spielsucht dient.223 Das ist aber nicht der Fall, da das bayerische Staatslotteriegesetz keine materiell-rechtlichen Regelungen und strukturellen Sicherungen enthält, die dies hinreichend gewährleisten.224 In diesem Umstand erblickt das Gericht nicht ein reines Vollzugsdefizit, sondern ein Regelungsdefizit.225 Trotz Verfassungswidrigkeit des bayerischen Staatslotteriegesetzes erklärte das Bundesverfassungsgericht das Gesetz nicht für nichtig, sondern nur für unvereinbar mit dem Grundgesetz und verpflichtete den Gesetzgeber dazu, die Sportwettenveranstaltung und –vermittlung bis zum 31. Dezember 2007 neu zu regeln.226 Für die Zeit zwischen dem 28. März 2006 und dem 31. Dezember 2007 ordnete das Bundesver-
219
BVerfG, NJW 2006, 1261. BVerfG, NJW 2006, 1261. 221 BVerfG, NJW 2006, 1261. 222 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1263) nennt als Hauptzweck die Bekämpfung der Spiel- und Wettsucht und als weitere legitime Ziele den Schutz der Spieler vor betrügerischen Machenschaften der Wettanbieter sowie einen darüber hinausgehenden Verbraucherschutz und die Abwehr von Gefahren aus mit dem Wetten verbundener Folge- und Begleitkriminalität. Fiskalische Interessen des Staates erkennt das Gericht nicht als legitimes Gemeinwohlziel an. 223 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1264). 224 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1264). 225 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1264). 226 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 220
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fassungsgericht die Weitergeltung des bayerischen Staatslotteriegesetzes an.227 Allerdings verlangte das Gericht, dass während der Übergangszeit bereits damit begonnen werden muss, das existierende Wettmonopol konsequent an einer Bekämpfung der Spielsucht auszurichten sowie die Wettleidenschaft zu begrenzen.228 Daher wurde dem Staat untersagt, die Übergangszeit zu einer expansiven Vermarktung von Wetten zu nutzen, und das Bundesverfassungsgericht verlangte von der Staatlichen Lotterieverwaltung umgehend die aktive Aufklärung über die Gefahren des Wettens.229 (c) Gesetzgebungskompetenz für das Glücksspielrecht Die Existenz eines bayerischen Staatslotteriegesetzes erklärte sich aus dem Umstand, dass der Bund von einer möglichen Gesetzgebungskompetenz aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft), abgesehen vom Bereich des Wettens auf Pferdesportereignisse, keinen Gebrauch gemacht hatte.230 Der Freistaat Bayern war deshalb nach Art. 72 Abs. 1 GG zum Erlass eines solches Gesetzes befugt. Das Bundesverfassungsgericht verlangt hinsichtlich des staatlichen Sportwettenmonopols vom Gesetzgeber eine verfassungsmäßige Neuregelung und unterstreicht, dass diese sowohl auf Grundlage von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG als auch durch den Landesgesetzgeber möglich ist.231 Im Zuge der Föderalismusreform 2006 fand eine Modifizierung von Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG statt, welcher nun das Recht der Spielhallen ausdrücklich, was bislang in § 33i GewO geregelt war, den Landesgesetzgebern zuweist.232 Das übrige Glücksspielrecht, insbesondere das Recht der Sportwetten, wird aber von der Modifizierung nicht erfasst,233 weshalb es bei der Aussage des Bundesverfassungsgerichts verbleibt. Eine bundeseinheitliche Regelung erfolgte im Anschluss an das Urteil des Bundesverfassungsgerichts jedoch nicht, sondern es kam zwischen den Bundesländern zum Abschluss des Glücksspielstaatsvertrages, der am 1. Januar 2008 in Kraft getreten ist, und welcher den Lotteriestaatsvertrag ablöste.234 Der Glücksspielstaatsvertrag wurde durch entsprechende Gesetze der Bundesländer in Landesrecht transformiert.235 Da es sich beim Recht der Wirtschaft um einen Gegenstand der konkurrie227
BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 229 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 230 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1263). 231 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 232 Vgl. dazu Degenhart, in: Sachs, Art. 74 Rn. 47. 233 Vgl. dazu Degenhart, in: Sachs, Art. 74 Rn. 47, 52. 234 s. zur Frage der Verfassungs- und Gemeinschaftsrechtskonformität des Glücksspielstaatsvertrages Koenig/Ciszewski, WiVerw 2008, 103 ff. 235 s. für Nordrhein-Westfalen das Glücksspielstaatsvertrag Ausführungsgesetz NRW, verkündet als Art. 2 des Gesetzes des Landes Nordrhein-Westfalen zum Staatsvertrag zum Glücksspielwesen in Deutschland v. 30. 10. 2007 (GVBl. NRW. 445), Inkrafttreten gem. Art. 5 am 1. 1. 2008; für Schleswig-Holstein das Gesetz zur Ausführung des Staatsvertrages zum 228
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renden Gesetzgebungskompetenz handelt, sind die Länder gemäß Art. 72 Abs. 1 GG zur Gesetzgebung befugt, soweit der Bund – wie im Glücksspielrecht – nicht von seiner Kompetenz Gebrauch gemacht hat. (d) Vereinheitlichung in den Ländern durch den Lotteriestaatsvertrag Bis zum Inkrafttreten des Lotteriestaatsvertrages236 am 1. Juli 2004, welcher die Vereinheitlichung der Rechtsmaterien der Bundesländer beabsichtigte, gab es große Unterschiede zwischen den landesrechtlichen Regelungen zu den Sportwetten.237 Einige Landesgesetze statuierten ein öffentliches Monopol für die Veranstaltung von Sportwetten,238 andere Landesgesetze enthielten Genehmigungsvorbehalte für private Anbieter,239 in einigen Ländern existierten überhaupt keine ausdrücklichen Regelungen240 und schließlich ermächtigten die einschlägigen Gesetze in anderen Ländern den Staat zwar zum Anbieten von Sportwetten, ohne jedoch ein Verbot bezüglich privater Anbieter zu normieren.241 Der Rechtszersplitterung wurde durch den Lotteriestaatsvertrag 2004 ein Ende gesetzt, da dieser in § 5 ein allgemeines Glücksspielmonopol des Staates begründete,242 welches auch die Sportwetten umfasste.243 Nur für die Veranstaltung von Lotterien und Ausspielungen machten die §§ 6 ff. eine Ausnahme. § 15 des Lotteriestaatsvertrages verpflichtete die Bundesländer dazu, die zur Ausführung des Vertrages notwendigen Bestimmungen zu erlassen, weshalb die Bundesländer ihre Landesgesetze entsprechend an die Vorgaben des Staatsvertrages anpassten und die Länder im Urteilszeitpunkt im März 2006 alle über ein allgemeines Glücksspiel- und daher auch ein Sportwettenmonopol verfügten. Der Anwendungsbereich des Staatsvertrages aus dem Jahr 2004 war bereits weit und umfasste die Veranstaltung, Durchführung und die gewerbliche Vermittlung von öffentlichen Glücksspielen mit Ausnahme der Spielbanken.244 Der Glücksspielstaatsvertrag umfasst dagegen neben der Veranstaltung, Durchführung und Vermittlung von öffentlichen Glücksspielen auch die Spielbanken.245 Glücksspielwesen in Deutschland v. 13. 12. 2007 (GVBl. Schl.-H. 524), Inkrafttreten gem. § 14 am 1. 1. 2008, der Staatsvertrag ist dem Ausführungsgesetz S-H als Anlage beigefügt. 236 Veröffentlicht z. B. in GVBl. NRW 2004, 315. 237 Bahr, 63. 238 Bahr, 63: Brandenburg, Hessen, Niedersachsen, Nordrhein-Westfalen, Saarland, Sachsen-Anhalt und Thüringen. 239 Bahr, 63: Bremen, Rheinland-Pfalz und Schleswig-Holstein. 240 Bahr, 63: Berlin und Hamburg. 241 Bahr, 63: Baden-Württemberg, Bayern, Mecklenburg-Vorpommern und Sachsen. 242 § 5 Abs. 1 des Lotteriestaatsvertrages übertrug den Bundesländern die ordnungsrechtliche Aufgabe, ein ausreichendes Glücksspielangebot sicherzustellen. 243 Bahr, 64. 244 Vgl. § 2 Lotteriestaatsvertrag. 245 Vgl. § 2 Glücksspielstaatsvertrag.
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(e) Auswirkung der Sportwettenentscheidung auf andere Bundesländer? Festzuhalten bleibt demnach, dass in allen 16 deutschen Bundesländern zum Urteilszeitpunkt am 28. März 2006 ein gesetzlich statuiertes Sportwettenmonopol246 existierte, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts jedoch nur das bayerische Sportwettenmonopol und dessen Rechtsgrundlage in Form des Staatslotteriegesetzes betraf. Weiterhin unbeantwortet bleibt daher die Frage, wie sich die Normkontrollentscheidung auf die Rechtslage in den 15 anderen Bundesländern auswirkt. (aa) Übertragung der Sportwettenentscheidung auf andere Länder Teilweise hat das Bundesverfassungsgericht selbst zur Klärung beigetragen, indem es auch die Rechtslage in anderen Bundesländern für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärte und die Rechtsfolgen aus der Entscheidung vom 28. März 2006 auf diese Bundesländer übertrug. Namentlich hat das Gericht die Entscheidungsgründe später auf die Rechtslage in Baden-Württemberg,247 Nordrhein-Westfalen248 und Sachsen-Anhalt249 übertragen und angenommen, dass auch in diesen Ländern die staatlichen Sportwettenmonopole nicht mit Art. 12 Abs. 1 GG in Einklang stehen. Hinsichtlich Baden-Württembergs führt das Gericht aus, dass nach den in der Sportwettenentscheidung formulierten verfassungsrechtlichen Anforderungen auch das in Baden-Württemberg bestehende Sportwettenmonopol mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar ist, das baden-württembergische Staatslotteriegesetz aber ebenso wenig nichtig ist und das gewerbliche Veranstalten und Vermitteln von Sportwetten auch weiterhin ordnungsrechtlich unterbunden werden darf.250 Die Erstreckung der Unvereinbarerklärung auf andere Bundesländer durch das Bundesverfassungsgericht ist konsequent. Für die Behörden und die Fachgerichte in den genannten Bundesländern bestand insofern Rechtssicherheit, wie bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber zu verfahren ist. Die Erstreckung der Unvereinbarerklärung auf andere Bundesländer durch das Bundesverfassungsgericht selbst beantwortet aber nicht die Frage, ob Fachgerichte und Behörden auch ohne einen gesonderten Ausspruch befugt sind, die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 auf ihr Bundesland zu übertragen. Das Gericht hat es unterlassen, sich zu diesem Problemkreis zu äußern,251 was möglicherweise dafür sprechen könnte, dass es jeweils eines gesonderten Ausspruches bedarf.
246 Dass die Sicherstellung eines ausreichenden Glücksspielangebotes auf gesetzlicher Grundlage zu erfolgen hat, ergibt sich aus § 5 Abs. 2 des Lotteriestaatsvertrages. 247 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2006, WM 2006, 1644 (1645 f.). 248 Vgl. BVerfG, Beschluss vom 2. August 2006, WM 2006, 1646 f. 249 BVerfG, LKV 2007, 221. 250 BVerfG, Beschluss vom 4. Juli 2006, WM 2006, 1644 (1645 f.). 251 Insbesondere hat es nicht, wie in BVerfGE 7, 99 (108 f.), von der durch § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch gemacht, allgemein für alle Bundesländer
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(bb) Übertragung der Rechtsfolgen durch Behörden und Fachgerichte? Bethge ist der Ansicht, dass Parallelnormen anderer Gesetzgebungsorgane, d. h. die Normen, die die Sportwettenmonopole in anderen Bundesländern begründen, von der Beanstandung der bayerischen Rechtslage durch das Bundesverfassungsgericht nicht erfasst würden.252 Wie auch andere Vertreter in der Literatur ist er der Auffassung, dass Normbeanstandungen durch das Bundesverfassungsgericht sich jeweils nur auf die streitgegenständliche Regelung bezögen.253 Das bedeutete, dass die Behörden und Fachgerichte das jeweilige Landesgesetz, das noch nicht Gegenstand einer verfassungsgerichtlichen Normentscheidung war, weiterhin anwenden könnten, und zwar ohne die Maßgaben, die das Bundesverfassungsgericht in seinem Urteil am 28. März 2006 formuliert hat, nämlich das auch bereits während der Übergangszeit unverzüglich ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Bekämpfung der Spielsucht und der tatsächlichen Ausübung des Monopols herzustellen ist.254 Dass in der Rechtsprechungspraxis aber teilweise anders verfahren wurde, sollen exemplarisch einige Verwaltungsgerichtsentscheidungen illustrieren, die während der Übergangszeit im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO ergangen sind. Die ausgewählten Entscheidungen ergingen von Oberverwaltungsgerichten in solchen Bundesländern, auf die die Rechtsfolgen der Sportwettenentscheidung vom Bundesverfassungsgericht nicht übertragen wurden, oder zu einem Zeitpunkt, der vor Übertragung der Unvereinbarerklärung auf das betreffende Bundesland lag.255 (a) Beschluss des VGH Kassel Der VGH Kassel hat die Rechtsfolgen der Sportwettenentscheidung auf die Rechtslage in Hessen übertragen.256 Der VGH äußert sich zur Bedeutung der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 für Hessen und unterstreicht, dass das Bundesverfassungsgericht in seinem Beschluss vom 4. Juli 2006 die zum bayerischen Staatslotteriegesetz entwickelten Grundsätze wegen der vergleichbaren Ausgestaltung des Monopols auf Baden-Württemberg übertragen habe.257 Da die hessische Rechtslage zu denen in Bayern und Baden-Württemberg „keine substanziellen Unterschiede aufweist, sind die vom Bundesverfassungsgericht in seinen
auszusprechen, dass die jeweiligen Sportwettenmonopole gegen Art. 12 Abs. 1 GG verstoßen und dass sich die Unvereinbarerklärung daher auf alle Bundesländer erstreckt. 252 Bethge, DVBl. 2007, 917. 253 Bethge, DVBl. 2007, 917. 254 Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 255 Letzteres trifft auf die Entscheidung des OVG Münster vom 28. Juni 2006, NVwZ 2006, 1078 zu, da das Bundesverfassungsgericht die Unvereinbarerklärung erst mit Beschluss vom 2. August 2006, WM 2006, 1646 f., auf Nordrhein-Westfalen übertragen hat. 256 VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1436). 257 VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1436).
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Entscheidungen vom 28. März 2006 und 4. Juli 2006 aufgestellten Grundsätze auch bezüglich des staatlichen Wettmonopols in Hessen anzuwenden.“258 (b) Beschluss des OVG Saarlouis Auch das OVG Saarlouis sieht kein Problem in dem Umstand, dass die Sportwettenentscheidung lediglich das bayerische Sportwettenmonopol betraf. Vielmehr folgert das OVG aus der „wesentlichen Vergleichbarkeit“ der saarländischen und bayerischen Rechtslage, dass auch die Regelungen des Sportwettenmonopols im Saarland mit der Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar seien.259 (c) OVG Bremen Das OVG Bremen spricht erst gar nicht davon, dass das Sportwettenmonopol in Bremen mit dem in Bayern vergleichbar ist und deshalb die Rechtsfolgen der Sportwettenentscheidung zu übertragen sind, sondern betont ganz allgemein, dass sich das Bundesverfassungsgericht zur Zulässigkeit und zu den Grenzen eines staatlichen Wettmonopols im März 2006 geäußert habe260 und suggeriert, dass das Bundesverfassungsgericht die Entscheidungsgründe bereits in seiner Sportwettenentscheidung auf alle Bundesländer erstreckt hat. (d) OVG Münster Die Begründung des OVG Münster unterscheidet sich von den zuletzt genannten. Der Senat geht zwar ebenfalls davon aus, dass das Sportwettengesetz NordrheinWestfalen nach Maßgabe der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts weiter anwendbar sei, begründet dies aber wie folgt: Der weiteren Anwendung nach Maßgabe der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 28. März 2006 „steht nicht entgegen, dass das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsregelung bisher nur im Hinblick auf das Bayerische Staatslotteriegesetz getroffen hat. Denn vorliegend kommt es maßgeblich auf eine Prognose über den Ausgang des Hauptsacheverfahrens an, das aller Voraussicht nach – sei es im Wege der Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG, sei es aufgrund einer Verfassungsbeschwerde gegen die letztinstanzliche verwaltungsgerichtliche Entscheidung – zu einer entsprechenden Regelung für Nordrhein-Westfalen führen wird, falls das Bundesverfassungsgericht eine solche Anordnung nicht bereits vorher in einem anderen Verfahren ausgesprochen haben sollte.“ Anders als der VGH Kassel, das OVG Bremen und das OVG Saarlouis stellt das OVG Münster nicht auf eine wesentliche Vergleichbarkeit der nordrhein-westfälischen Rechtslage mit der bayerischen ab, um die Unvereinbarerklärung auf die Parallelnorm zu erstrecken, sondern begründet die Rechtsfolge mit dem Wesen des Ver258 259 260
VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1436). OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (719). OVG Bremen, NordÖR 2006, 398 (400).
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fahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO, in welchem lediglich die Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu beurteilen sind. (e) Kritische Würdigung der Rechtsprechung Die genannten Gerichte haben während der Übergangszeit zwar die jeweiligen landesrechtlichen Normen, welche die Wettmonopole in den Ländern normierten, nicht eigenmächtig unangewendet gelassen. Sie haben aber die Entscheidung, die das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der bayerischen Rechtslage gefällt hat, eigenmächtig auf ihr eigenes Bundesland übertragen und nur deshalb darauf verzichtet, das Landesrecht unangewendet zu lassen, weil das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung angeordnet hatte. Dieses Vorgehen steht im Widerspruch zur oben skizzierten Ansicht in der Literatur, weil die Parallelnormen im Saarland, in Bremen und in Hessen nicht Gegenstand einer Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts waren. Hinsichtlich Nordrhein-Westfalen und der Entscheidung des OVG Münster gilt dies entsprechend, da die Unvereinbarerklärung vom Bundesverfassungsgericht zeitlich nach dem Beschluss des OVG Münster auf Nordrhein-Westfalen übertragen wurde. Die Fachgerichte befinden sich allerdings auf der Linie Heußners, der Parallelnormfälle aus Gründen der Prozessökonomik wie Parallelfälle behandeln will. Auch Terhechte geht allein aus dem Umstand, dass die Rechtslage in anderen Bundesländern mit denen in Bayern vergleichbar ist, davon aus, dass die Wettmonopole in anderen Ländern ebenfalls mit Art. 12 Abs. 1 GG unvereinbar seien, obwohl er selbst eingesteht, dass sich das Bundesverfassungsgericht in seiner Sportwettenentscheidung nur mit der Rechtslage in Bayern auseinandergesetzt habe.261 (6) Auflösung des Problems Wie auch von den meisten Vertretern in der Literatur vorausgesetzt, sind zwei Rechtsfolgen strikt voneinander zu trennen; nämlich die Frage, ob den Urheber einer Parallelnorm eine Beseitigungspflicht trifft und ob die Fachgerichte und Behörden Parallelnormen bei ihrer Rechtsanwendung außer Acht lassen dürfen. Die zweite Frage bereitet erheblich größere Schwierigkeiten, weil die Auswirkungen in der Praxis, sofern man den Gerichten und Behörden eine solche Befugnis zubilligt, ungleich größer sind, als wenn man den Legislativorganen, welche Parallelnormen erlassen haben, nur eine – gerichtlich nicht durchzusetzende – Beseitigungspflicht abverlangt.
261 Terhechte, EuR 2006, 831 Fn. 16, der dieses Ergebnis hinsichtlich Nordrhein-Westfalens formuliert. Das Bundesverfassungsgericht hat die Sportwettenentscheidung zwar auf Nordrhein-Westfalen übertragen, Terhechtes Beitrag liegt aber zeitlich vor der Übertragung der Sportwettenentscheidung auf Nordrhein-Westfalen.
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(a) Nichtanwendung von Parallelnormen durch Gerichte und Fachbehörden Damit ist zunächst die Frage zu klären, ob Behörden und Gerichte Parallelnormen unangewendet lassen können. Heußners Schlussfolgerung, den Behörden und Gerichten aus prozessökonomischen Gründen eine solche Befugnis zuzubilligen, kann nicht gefolgt werden. Das vorgebrachte Argument, dass anderenfalls die Parallelnormfälle ebenfalls dem Bundesverfassungsgericht unterbreitet werden müssten, um im Anschluss dort gleichlautend entschieden zu werden, überzeugt deshalb nicht, weil das Bundesverfassungsgericht stets die Möglichkeit hat, Nichtigkeits- und Unvereinbarerklärungen nach den §§ 35, 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG262 auf Parallelnormen zu erstrecken, wenn es dies – unter Umständen auch aus Gründen der Prozessökonomik – für erforderlich hält.263 Erstreckt das Bundesverfassungsgericht seine Entscheidung nicht auf Parallelnormen, muss es dabei bleiben, dass die Normkontrollentscheidung nur das dem Fall zugrunde liegende Gesetz betrifft. Der Ball bleibt in diesem Fall in der Spielhälfte des Bundesverfassungsgerichts, was zu einem größeren Maß an Rechtssicherheit führt, da die Gerichte und Behörden nur dann zur Außerachtlassung von Parallelnormen befugt sind, wenn dies vom Bundesverfassungsgericht vorgegeben worden ist. Zu einer divergierenden Spruch- und Verwaltungspraxis kann es auf diesem Wege nicht kommen. Überdies spricht für dieses Ergebnis auch der Hinweis, dass nicht immer Gewissheit darüber bestehen kann, ob Normen weitgehend sachlich identisch sind. Behörden und Gerichte sind mithin nicht dazu befugt, ohne vorhergehenden Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts Parallelnormen unangewendet zu lassen. (b) Beseitigungspflicht der Urheber von Parallelnormen Damit bleibt die Frage zu klären, ob die Urheber von Parallelnormen eine Beseitigungspflicht und ggf. zusätzlich eine vorgeschaltete Prüfungspflicht über die Normenidentität trifft. Zunächst ist diesbezüglich Kube zu widersprechen, der der Ansicht ist, dass die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts die Prüfungs- und Beseitigungspflicht bestätige.264 In der Entscheidung aus dem Jahre 1957 ging es um die Einräumung von Sendezeiten an politische Parteien im öffentlich-rechtlichen Rundfunk und das Gericht stellte fest, dass der NDR den Beschwerdeführer durch die Verweigerung von Sendezeiten in Art. 3 Abs. 1 GG verletzt hat.265 Kube beruft sich auf den Satz des Gerichtes, dass der Ausspruch nicht nur den NDR gegenüber dem Beschwerdeführer binde, „sondern nach § 31 BVerfGG alle Rundfunkanstalten des öffentlichen Rechts 262 263 264 265
Vgl. BVerfGE 7, 99 (108 f.) zu § 95 Abs. 1 S. 2 GG. So auch Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 563. Kube, DÖV 2002, 739 unter Hinweis auf BVerfGE 7, 99 (108 f.). BVerfGE 7, 99 (108).
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gegenüber allen in Betracht kommenden politischen Parteien.“266 Er verschweigt aber, dass das Bundesverfassungsgericht im Vorsatz wegen der grundsätzlichen Bedeutung des Falles von der in § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG eingeräumten Möglichkeit Gebrauch macht, allgemein auszusprechen, dass die Verweigerung von Sendezeiten gegenüber einzelnen politischen Parteien das Grundgesetz verletzt.267 Nur deshalb bindet der Ausspruch des Bundesverfassungsgerichts auch alle anderen öffentlichrechtlichen Rundfunkanstalten. Keineswegs bestätigt das Bundesverfassungsgericht in der erwähnten Entscheidung allgemein die Beseitigungspflicht der Legislativorgane, welche Parallelnormen erlassen haben. § 31 Abs. 1 BVerfGG selbst knüpft an die jeweilige Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts an, die, wenn nicht ausdrücklich eine Erstreckung auf Parallelnormen erfolgt, nur die dem Fall zugrunde liegenden Norm zu Fall bringt. Die Bindungswirkung, die aus § 31 Abs. 1 BVerfGG resultiert, geht über den Streitgegenstand nicht hinaus, weshalb sich aus dieser verfassungsprozessualen Norm keine Beseitigungspflicht ableiten lässt. Den Gesetzgeber trifft daher keine Beseitigungspflicht. Die Legislativorgane können freilich die von ihnen erlassenen Regelungen im Anschluss an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts überprüfen. Tun sie dieses nicht, laufen sie Gefahr, dass die von ihnen erlassenen Parallelnomen einer Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts zugeführt werden und in einer solchen Entscheidung ebenfalls für unvereinbar mit dem Grundgesetz erklärt werden. (c) Auswirkungen auf die Entscheidungen im Zusammenhang mit den Sportwetten Hinsichtlich der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts bedeutet dies folgerichtig, dass sich die Entscheidung auf das Bayerische Staatslotteriegesetz beschränkt und die Regelungen, die in anderen Bundesländern ein Wettmonopol begründen, von der Entscheidung nicht berührt werden. Das Bundesverfassungsgericht hat darauf verzichtet, die Unvereinbarerklärung allgemein auf die übrigen Bundesländer zu erstrecken. Auch in den nachfolgenden drei Entscheidungen zum Wettmonopol in Nordrhein-Westfalen, Baden-Württemberg und Sachsen-Anhalt hätte noch die Möglichkeit bestanden, die Entscheidung über § 35 oder § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG auf die verbleibenden Bundesländer auszudehnen. Dennoch wurde jeweils nur isoliert die Erstreckung der Unvereinbarerklärung auf das betreffende Bundesland angenommen. Allerdings gilt das Gesagte nur für die Hauptsacheverfahren. In der Übergangszeit kam es jedoch überwiegend zu Verfahren im einstweiligen Rechtsschutz nach § 80 Abs. 5 VwGO, in welchen private Vermittler sich gegen sofort vollziehbare Untersa266 267
BVerfGE 7, 99 (109). BVerfGE 7, 99 (109).
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gungsverfügungen seitens der Ordnungsbehörden zur Wehr setzten.268 Im einstweiligen Rechtsschutz kommt es auf die maßgeblichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache an,269 weshalb die Begründung des OVG Münster anders als die des VGH Kassel, des OVG Saarlouis und des OVG Bremen überzeugt. Darauf, dass die Rechtslage in einem anderen Bundesland mit der in Bayern weitgehend identisch ist, kommt es nicht an, da es sich weiterhin um einen Legislativakt handelt, der von einer Normkontrollentscheidung des Bundesverfassungsgerichts nicht betroffen war. Stützt man die Erstreckung der Unvereinbarerklärung dagegen auf den Charakter des Verfahrens nach § 80 Abs. 5 VwGO und nimmt an, dass es aller Voraussicht nach zu einer entsprechenden Regelung für das betreffende Bundesland kommen wird, so lässt sich derart die Sportwettenentscheidung im Eilverfahren auf Parallelnormfälle übertragen, da das Gericht nur die maßgeblichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache zu beurteilen hat. Ex post behielt das OVG Münster insofern Recht, als nur gut einen Monat nach dem genannten Beschluss die Unvereinbarerklärung seitens des Bundesverfassungsgerichts auf Nordrhein-Westfalen übertragen wurde. Nur das OVG Münster überträgt die Rechtsfolgen der Sportwettenentscheidung deshalb in dogmatisch sauberer Art und Weise auf Nordrhein-Westfalen, die Begründungen des OVG Bremen, des OVG Saarlouis und des VGH Kassel vermögen insofern nicht zu überzeugen. e) Ausnahmen von der Anwendungssperre Abschließend sind noch die Ausnahmen von der grundsätzlichen Anwendungssperre einer Norm im Falle der Unvereinbarerklärung zu behandeln. Von der Grundregel, dass die für unvereinbar erklärte Norm bis zu einer Neuregelung durch den Gesetzgeber nicht angewendet werden darf, weicht das Bundesverfassungsgericht nicht selten ab. Warum das Gericht bisweilen Ausnahmen von der Anwendungssperre zulässt, wird vor allem verständlich, wenn man sich vor Augen führt, warum das Bundesverfassungsgericht im Einzelfall auf die Nichtigerklärung verzichtet hat.270 aa) Weiteranwendung der für unvereinbar erklärten Norm Es wurde bereits auf das sogenannte Chaos-Argument hingewiesen, welches vornehmlich in Besoldungs-, Status- und Steuerrechtsfällen einschlägig ist. In diesen Konstellationen greift das Bundesverfassungsgericht auf die Unvereinbarerklärung zurück, weil die Nichtigkeit der betreffenden Vorschrift zur Folge hätte, dass ein Rechtszustand entstünde, welcher noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre als die Rechtslage, die als verfassungswidrig beurteilt wurde. 268
Auch die genannten Verfahren waren solche nach § 80 Abs. 5 VwGO. s. zum Prüfungsmaßstab und zur Prüfungsintensität im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO Brüning, Einstweilige Verwaltungsführung, 438 ff. 270 s. dazu die Fallgruppen in B. III. 2. 269
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Die Unvereinbarerklärung unterscheidet sich hinsichtlich der Anwendbarkeit der Norm nicht von der Nichtigkeit, weshalb erstere allein nicht ausreicht, um eine unerträgliche Rechtslage zu vermeiden. Die Vertiefung des Verfassungsunrechts kann somit nur dadurch verhindert werden, dass das Bundesverfassungsgericht die Weitergeltung der verfassungswidrigen Norm anordnet. Aus diesem Grund sind die Grenzen der Anwendungssperre strukturell in gleicher Weise zu bestimmen wie der Verzicht auf die Nichtigerklärung, weshalb häufig dieselben verfassungsrechtlichen Überlegungen, die zum Verzicht auf die Nichtigerklärung des Gesetzes geführt haben, die Weitergeltung der Regelung notwendig machen.271 Aus dem Umstand, dass die Weitergeltung nur den Zweck verfolgt, den Zeitraum bis zu einer gesetzlichen Neuregelung auszufüllen, resultiert, dass sich diese lediglich als eine Übergangsregelung zur Sicherung verfassungsrechtlicher Wertoptionen darstellt.272 Hein will, womit er aber keine grundsätzlich andere Position einnimmt, die Entscheidung über die Weitergeltung einer verfassungswidrigen Norm mehr als Ergebnis eines höchst einzelfallbezogenen Abwägungsvorganges sehen. In der konkreten Situation könnten verfassungsrechtliche Gründe sowohl gegen als auch für die weitere Normanwendung trotz einer Unvereinbarerklärung sprechen, weshalb die unterschiedlichen verfassungsrechtlichen Forderungen im Sinne der Herstellung praktischer Konkordanz ins Gleichgewicht gebracht werden müssten.273 Wie Moench zutreffend ausgeführt hat, verstößt die Anordnung der Weitergeltung der für unvereinbar erklärten Norm deshalb nicht gegen den Vorrang der Verfassung,274 weil diese gerade selbst die Weitergeltung der Regelung gebietet.275 Akte der öffentlichen Gewalt, die auf Grundlage der für unvereinbar erklärten Norm ergehen, welche aber vom Bundesverfassungsgericht für weiter anwendbar erklärt worden sind, verstoßen deshalb nicht gegen das Grundgesetz.276 bb) Kompetenz zur Anordnung der Weiteranwendung Zunächst ist die Frage zu beantworten, wer zur Anordnung der Weitergeltung einer für unvereinbar erklärten Norm befugt ist. Dass dem Bundesverfassungsgericht eine
271
Moench, 172; ebenso Pestalozza, in: Starck, Bd. I, 564. Moench, 173. 273 Hein, 194. 274 So aber wohl Arndt, DÖV 1959, 82 f. 275 Moench, 174. 276 Vgl. Moench, 174; freilich können diese Akte dennoch aus anderen Gründen verfassungswidrig sein. Kritisch äußert sich dagegen Ipsen,124, der das Vorgehen, die Folgeprobleme, die durch den Verzicht auf die Nichtigerklärung entstehen, durch besondere Rechtsfolgenanordnungen zu lösen, deshalb skeptisch betrachtet, weil das Bundesverfassungsgericht damit Steuerungsfunktion übernähme, welche der Gesetzgeber erfüllen solle. 272
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solche Kompetenz zukommt, wird überwiegend anerkannt,277 wenn auch bisweilen verlangt wird, dass die Weitergeltungsanordnung bereits im Tenor erfolgt.278 Die Befugnis, eine interimistische Weitergeltungsanordnung zu treffen, kann dagegen den Fachgerichten und der Exekutive nicht zukommen.279 Eine derartige Befugnis von Fachgerichten und Exekutive würde zu einer vermehrten Rechtsunsicherheit führen. Dagegen lässt sich auch Art. 100 Abs. 1 GG anführen, der das Verwerfungsmonopol beim Bundesverfassungsgericht konzentriert, um Rechtsunsicherheit und Rechtszersplitterung zu vermeiden. Macht man diesen Gedanken fruchtbar, muss man zu dem Ergebnis gelangen, dass es nur dem Bundesverfassungsgericht gestattet sein kann, Übergangsregelungen zu erlassen.280 Ist festgestellt, dass die Kompetenz zum Erlass einer Übergangsregelung nur dem Bundesverfassungsgericht zukommt, bleibt die Frage zu beantworten, auf welcher Grundlage dies erfolgen kann. Das Bundesverfassungsgericht stützt die Anordnung der Weiteranwendung bzw. Weitergeltung der für unvereinbar erklärten Regelung in inzwischen gefestigter Rechtsprechung auf § 35 BVerfGG.281 Der Verfahrensweise wird in der Literatur überwiegend gefolgt,282 wenn es auch teilweise Kritik an der Rechtsgrundlage gibt.283 Seinem Wortlaut nach verleiht § 35 BVerfGG dem Bundesverfassungsgericht lediglich die Befugnis, die Vollstreckung der eigenen Entscheidung zu regeln. Bei der Normverwerfung in Gestalt der Unvereinbarerklärung handelt es sich um eine Feststellungsentscheidung, die nach herkömmlichen prozessualen Grundsätzen nicht vollstreckungsfähig ist.284 Schlaich/Korioth meinen deshalb auch, dass § 35 BVerfGG den Erlass von Übergangsregelungen nicht decke und fordern deshalb eine ausdrückliche gesetzliche Grundlage für die Unvereinbarerklärung und ihre Rechtsfolgen.285 Die angebrachte Kritik ist durchaus einleuchtend und sicherlich wäre es wünschenswert, wenn der Gesetzgeber sowohl die Unvereinbarerklärung selbst als auch damit ggf. einhergehende Übergangsregelungen im BVerfGG normierte.
277 So Bethge, in: Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 31 Rn. 227; Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 124, Schlaich/Korioth, Rn. 429; Hein, 196; Benda/Klein, Rn. 1277. 278 So z. B. Schlaich/Korioth, Rn. 429. 279 So auch Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 124; Hein, 196 f.; für eine fachgerichtliche Weiteranwendung LAG Hamm, DB 1984, 1480; LAG Niedersachsen, ZIP 1984, 1130. 280 So auch Hein, 197. 281 BVerfGE 91, 186 (207); 93 37 (85); 98, 169 (215); 99, 300 (331 f.); 102, 197 (223). 282 Löwer, in: Isensee/Kirchhof, Bd. III3, § 70 Rn. 124; Benda/Klein, Rn. 1277; Bethge, in Maunz/Schmidt-Bleibtreu/Klein/Bethge, § 35 Rn. 29; Bethge, DVBl. 2007, 920. 283 So von Schlaich/Korioth, Rn. 430, da § 35 BVerfGG den Erlass von Übergangsregelungen nicht hinreichend abdecke. 284 Bethge, DVBl. 2007, 920. 285 Schlaich/Korioth, Rn. 430.
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B. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht
Allerdings liegt § 35 BVerfGG nicht der enge Vollstreckungsbegriff der fachgerichtlichen Prozessordnungen zugrunde, sondern Vollstreckung umfasst hier alle Maßnahmen, die notwendig sind, um die Entscheidung durchzusetzen.286 Das Bundesverfassungsgericht ist nämlich zu einer derartigen Folgenbewältigung aufgrund seiner generellen Entscheidungsverantwortung befugt.287 Letztlich ist aber auch der Bedeutungsgehalt der Frage, auf welchem Wege das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsregelung erlassen kann, gering, wenn man bedenkt, dass es das einzige Organ ist, das zu einem derartigen Vorgehen berechtigt ist.288
286 287 288
Bethge, DVBl. 2007, 920. Bethge, DVBl. 2007, 920. Hein, 197.
C. Konflikte mit dem Unionsrecht Übergangsfristen können in Konflikt mit dem Unionsrecht geraten, wenn das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage von § 35 BVerfGG die Weitergeltung nationalen Rechts anordnet und letzteres nicht nur gegen deutsches Verfassungsrecht, sondern auch gegen das Unionsrecht verstößt. Das Bundesverfassungsgericht hat nationale Übergangsregelungen bisher weder ausdrücklich auf Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts erstreckt noch von einer Übergangsregelung ausgenommen. Das ist damit zu erklären, dass das Bundesverfassungsgericht die Rüge der Verletzung von Unionsrecht im Verfassungsbeschwerdeverfahren für unzulässig hält.1 Durch die Nichtberücksichtigung von Unionsrecht ist das Bundesverfassungsgericht bei der Gewährung einer Übergangsfrist nicht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV verpflichtet. Diese Vorgehensweise führt zu Folgeproblemen.
I. Rechtsunsicherheit nach der Sportwettenentscheidung Diese zeigen sich an der fachgerichtlichen Rechtsprechung während der Übergangszeit (vom 28. März 2006 bis zum 31. Dezember 2007) im Anschluss an die Sportwettenentscheidung. Bevor auf die verwaltungsgerichtliche Rechtsprechung eingegangen wird, soll zunächst die Sportwettenentscheidung unter unionsrechtlichen Gesichtspunkten beleuchtet werden.
1. Sportwettenentscheidung In dem Verfassungsbeschwerdeverfahren, welches der Sportwettenentscheidung zugrunde lag, rügte die Beschwerdeführerin neben der Verletzung ihrer Grundrechte aus Art. 12 Abs. 1 GG sowie Art. 3 Abs. 1 GG auch die Verletzung von Unionsrecht. Diese Rüge wies das Bundesverfassungsgericht aber als unzulässig zurück und begründete die Beschränkung des Prüfungsumfanges damit, dass unionsrechtlich begründete Rechte nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gehörten.2 Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG könnten sich Beschwer1 2
Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261; BVerfG, NVwZ 2004, 597 (598 f.). BVerfG, NJW 2006, 1261; so auch schon BVerfG, NVwZ 2004, 597 (598 f.).
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
deführer nur auf eine Verletzung von Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten berufen.3 Überdies sei ein möglicher Verstoß gegen das Unionsrecht auch nicht mit der Begründung rügefähig, dass es an einem anwendbaren Gesetz zur Beschränkung der grundrechtlichen Gewährleistung fehlte.4 Das Bundesverfassungsgericht sei nämlich für die insoweit maßgebliche Frage der Vereinbarkeit einer innerstaatlichen Norm des einfachen Rechts mit dem Unionsrecht nicht zuständig.5 Von diesen Ausführungen ausgehend hätte man vom Gericht in den Entscheidungsgründen auch keinen Bezug zum Unionsrecht mehr erwartet. Dieser findet sich aber im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung. Nach Feststellung, dass das bayerische Sportwettenmonopol in seiner konkreten Ausgestaltung zum Urteilszeitpunkt unverhältnismäßig in die Berufsfreiheit eingreift und daher verfassungswidrig ist, fügt das Gericht an, dass die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts insofern parallel zu den vom Gerichtshof zum Unionsrecht formulierten Vorgaben verlaufen.6 Gestützt wird diese Schlussfolgerung auf die „Gambelli-Entscheidung“ des EuGH, die zum Glücksspielrecht erfolgte.7 Nach Rechtsprechung des Gerichtshofs „ist die Unterbindung der Vermittlung in andere Mitgliedstaaten mit dem Unionsrecht nur vereinbar, wenn ein Staatsmonopol wirklich dem Ziel dient, die Gelegenheit zum Spiel zu vermindern, und die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen nur eine nützliche Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik ist. Die Vorgaben des Unionsrecht entsprechen damit denen des Grundgesetzes.“8 Das Bundesverfassungsgericht sieht das eigene Prüfungsergebnis somit im Einklang mit dem Unionsrecht und der dazu ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union. Die Aussage des Bundesverfassungsgerichts vom Gleichlauf des Verfassungsund des Unionsrechts lässt keinen anderen Schluss zu, als dass das Gericht selbst davon ausgeht, dass das bayerische Sportwettenmonopol im Urteilszeitpunkt auch gegen das Unionsrecht verstößt. Sind die Vorgaben des Verfassungsrechts mit denen des Unionsrechts identisch und hat das Bundesverfassungsgericht vorher festgestellt, dass das bayerische Staatsmonopol nicht konsequent am Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft ausgerichtet ist, ist dieses Ergebnis die einzig zwingende Schlussfolgerung. Da das Unionsrecht aber anfangs aus dem Prüfungsmaßstab ausgeschlossen wurde, konnte es sich das Bundesverfassungsgericht erlauben, aus dem Verstoß gegen das Unionsrecht keine weiteren Rechtsfolgen zu ziehen. Vielmehr ord3
Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261. BVerfG, NJW 2006, 1261. 5 BVerfG, NJW 2006, 1261 unter Hinweis auf BVerfGE 31, 145 (174 f.) und BVerfGE 82, 159 (191). 6 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1266). 7 EuGH, Slg. 2003, I-13031 = NJW 2004, 139 – Gambelli. 8 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1266 f). 4
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nete das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage von § 35 BVerfGG die Weitergeltung der bisherigen Rechtslage an und gestattete ausdrücklich, dass während der Übergangszeit das gewerbliche Veranstalten von Wetten durch private Wettunternehmer und die Vermittlung von Wetten, welche nicht vom Freistaat Bayern veranstaltet werden, weiterhin ordnungsrechtlich unterbunden werden dürfen.9 Die Frage, ob auch gegen private Wettunternehmer, die grenzüberschreitend tätig werden und sich daher auf die europäische Grundfreiheiten berufen können, in der Übergangszeit weiterhin ordnungsrechtlich vorgegangen werden darf, beantwortete das Bundesverfassungsgericht nicht. Deshalb verwundert es nicht, dass es in der Folgezeit zu einer divergierenden Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte und zu einem Zustand der Rechtsunsicherheit kam. Dies hätte verhindert werden können, indem das Bundesverfassungsgericht entweder Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts ausdrücklich von der Übergangsregelung ausgenommen hätte oder aber dem EuGH die Frage vorgelegt hätte, ob nationales Recht, das gegen Unionsrecht verstößt, übergangsweise weiter angewendet werden darf.10 Durch den Ausschluss von Unionsrecht aus dem Prüfungsmaßstab konnte das Bundesverfassungsgericht einer Vorlagepflicht nach Art. 267 AEUV entgehen.11
2. EuGH-Rechtsprechung zum Glücksspielrecht Das Bundesverfassungsgericht hat auf den Europäischen Gerichtshof und seine Rechtsprechung zum Glücksspielrecht Bezug genommen, weshalb an dieser Stelle zum besseren Verständnis diese kurz nachgezeichnet werden soll. Die EuGH-Rechtsprechung zum Glücksspielrecht ist weiterhin im Fluss, da längst noch nicht alle Fragen geklärt sind und es immer wieder zu neuen Vorabentscheidungsersuchen nach Art. 267 AEUV an den EuGH kommt.12 Es ist aber an dieser Stelle ausreichend, auf die vom Bundesverfassungsgericht selbst erwähnte „Gambelli-Entscheidung“ sowie auf die darauf folgende „Placanica-Entscheidung“ einzugehen.
9
BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). Das VG Köln hat dem Gerichtshof der Europäischen Union genau diese Frage nach Art. 267 AEUV vorgelegt, GewArch 2006, 467. 11 Der Gerichtshof entscheidet gemäß Art. 267 Abs. 1 a) AEUV über die Auslegung der Verträge und eine Vorlagepflicht eines mitgliedstaatlichen Gerichts ergibt sich deswegen nur dann, wenn sich eine Frage hinsichtlich der Auslegung der Verträge stellt, was bei Ausschluss des Unionsrechts aus dem Prüfungsumfang seitens des Bundesverfassungsgerichts nicht möglich ist. 12 Dazu Arendts, ZfWG 2008, 422 ff. 10
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a) „Gambelli-Entscheidung“ Die Entscheidung in der Rechtssache „Gambelli“ bildete nur den vorläufigen Höhepunkt einer Reihe von Entscheidungen zum Glücksspielrecht.13 Die Vorlagefrage an den Gerichtshof nach Art. 267 AEUV stellte sich in einem Strafverfahren gegen den Italiener Piergiorgio Gambelli und 137 weitere Beschuldigte, denen vorgeworfen wurde, widerrechtlich als Inhaber von Datenzentren Wetten gesammelt und an die Stanley International Betting Ltd in Liverpool/Großbritannien übermittelt zu haben, obwohl die Vermittlung von Wetten nach italienischem Recht dem Staat oder konzessionierten Einrichtungen vorbehalten ist.14 Die Wettvermittlung ohne eine Konzession durch private Vermittler ist in Italien überdies strafbar. Das vorlegende Gericht wollte daher vom EuGH wissen, ob Regelungen wie die italienischen Strafvorschriften zulässige Beschränkungen der Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) sowie der Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) darstellen. Dies wurde vom EuGH verneint.15 Beschränkungen von Spieltätigkeiten können, was der EuGH auch bereits in seinen vorherigen Entscheidungen zum Glücksspielrecht verdeutlichte, durch zwingende Gründe des Allgemeininteresses wie den Verbraucherschutz, die Betrugsvorbeugung und die Vermeidung von Anreizen für die Bürger zu überhöhten Ausgaben für das Spielen gerechtfertigt werden.16 Darüber hinaus müssen die Beschränkungen geeignet sein, die Realisierung des angestrebten Zieles zu gewährleisten; sie dürfen nicht über das Erforderliche hinausgehen und sie müssen in nichtdiskriminierender Weise angewandt werden.17 Neu gegenüber den vorherigen Entscheidungen ist, dass der EuGH verlangt, dass die Beschränkungen auch geeignet sein müssen, „die Verwirklichung dieser Ziele in dem Sinne zu gewährleisten, dass sie kohärent und systematisch zur Begrenzung der Wetttätigkeiten beitragen.“18 Das bedeutet, dass die Behörden eines Mitgliedstaates nicht zugleich die Verbraucher aus Gründen der Einnahmensteigerung zu Glücksspielen ermuntern und sich als Rechtfertigungsgrund zur Begrenzung der Wettleidenschaft auf die öffentliche Sozialordnung berufen können.19
13 s. vorher bereits EuGH, Slg. 1999, I-7289 – Zenatti; Slg. 1999, I-6067 – Läärä; Slg. 1994, I-1039 – Schindler. 14 EuGH, NJW 2004, 139 – Gambelli. 15 EuGH, NJW 2004, 139 – Gambelli. 16 EuGH, NJW 2004, 140 – Gambelli. 17 EuGH, NJW 2004, 140 – Gambelli. 18 EuGH, NJW 2004, 140 f. – Gambelli. 19 EuGH, NJW 2004, 141 – Gambelli.
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b) „Placanica-Entscheidung“ Im Jahre 2007 führte der EuGH seine Rechtsprechung in der Rechtssache „Placanica“ fort. Das Vorabentscheidungsersuchen betraf ebenfalls die Auslegung von Nieder- und Dienstleistungsfreiheit und erging im Rahmen von Strafverfahren gegen die Herren Placanica, Palazzese und Sorricchio wegen Verstoßes gegen die italienischen Rechtsvorschriften über das Sammeln von Wetten.20 Die Strafverfahren stehen in einem ähnlichen rechtlichen und tatsächlichen Rahmen wie der Ausgangssachverhalt in der Rechtssache „Gambelli“.21 Im Vergleich zu „Gambelli“ hatte sich lediglich der Umstand geändert, dass die erforderlichen Konzessionen nicht mehr durch einen staatlich bestimmten Veranstalter,22 sondern durch italienische Behörden erteilt wurden.23 Die Konzession wird nur an solche Wirtschaftsteilnehmer im Wege der Ausschreibung vergeben, deren sämtliche Anteilseigner jederzeit feststellbar sind.24 Zudem benötigen sie eine polizeiliche Genehmigung, die ausschließlich an Konzessionäre oder staatlich zugelassene Einrichtungen erteilt wird. Verstöße gegen diese Erfordernisse werden strafrechtlich sanktioniert.25 Die Vorlagefragen beziehen sich auf die geschilderten Umstände. Der EuGH macht deutlich, dass Art. 49 AEUV sowie Art. 56 AEUV einer nationalen Regelung, die Wirtschaftsteilnehmer in der Rechtsform von Kapitalgesellschaften, deren Anteile auf reglementierten Märkten gehandelt werden, vom Glücksspielsektor ausschließt, mangels Erforderlichkeit entgegenstehen.26 Als milderes Mittel kommt z. B. die Einholung von Informationen über die Vertreter oder Hauptanteilseigner der Kapitalgesellschaft in Betracht.27 Die Art. 49 AEUV und Art. 56 AEUV stehen ebenfalls einer Strafvorschrift entgegen, die die Strafbarkeit für das Sammeln von Wetten ohne Genehmigung statuiert, wenn sich die Person die Genehmigung deshalb nicht beschaffen konnte, weil der Mitgliedstaat es unter Verstoß gegen das Unionsrecht abgelehnt hatte, diese zu erteilen.28
20
EuGH, NJW 2007, 1515 – Placanica. EuGH, NJW 2007, 1515 – Placanica. 22 In der Rechtssache Gambelli erfolgte die Konzessionsvergabe noch durch das Italienische Nationale Olympische Komitee und dem Nationalverband zur Verbesserung der Pferderassen, vgl. EuGH, Slg. 2007, I-1891, Rn. 4 ff. – Placanica. 23 Vgl. EuGH, Slg. 2007, I-1891, Rn. 9 – Placanica. 24 Vgl. EuGH, Slg. 2007, I-1891, Rn. 40 – Placanica. 25 Vgl. EuGH, Slg. 2007, I-1891, Rn. 11, 14 u. 40 – Placanica. 26 EuGH, NJW 2007, 1519 – Placanica. 27 EuGH, NJW 2007, 1518 – Placanica. 28 EuGH, NJW 2007, 1519 f. – Placanica. 21
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3. Rechtsprechungspraxis im Anschluss an die Sportwettenentscheidung Die gewährte Übergangsfrist durch das Bundesverfassungsgericht in Verbindung mit der Ausklammerung europarechtlicher Fragen hat im Anschluss an die Entscheidung vom 28. März 2006 in der Spruchpraxis der Verwaltungsgerichte zu einem Zustand der Rechtsunsicherheit geführt.29 Im Anschluss an die Sportwettenentscheidung untersagten Ordnungsbehörden unter Anordnung des Sofortvollzuges nach § 80 Abs. 2 S. 1 Nr. 4 VwGO gegenüber privaten Vermittlern die Vermittlung von Sportwetten.30 Die betreffenden Verfahren vor den Verwaltungsgerichten, in denen zum Verhältnis der Übergangsfrist zum Unionsrecht Stellung bezogen wurde, waren Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, in welchen die Antragsteller die Wiederherstellung der aufschiebenden Wirkung ihres Widerspruchs begehrten.31 Teilweise waren die Antragsteller erfolgreich,32 in anderen Fällen blieben die Anträge jedoch ohne Erfolg.33 Allerdings unterscheiden sich nicht nur die Rechtsfolgen der Entscheidungen voneinander, sondern auch die Begründungsansätze der Gerichte, wobei drei unterschiedliche Rechtsprechungslinien erkennbar sind.34 a) Sofortige Nichtanwendung unionsrechtswidriger nationaler Normen Einige Verwaltungsgerichte gehen davon aus, dass aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts gegenüber nationalem Recht35 die sofortige Nichtanwendung der
29 So auch Bungenberg, DVBl. 2007, 1408. Auf strafrechtliche Verfahren nach § 284 StGB soll hier nicht eingegangen werden; das Bundesverfassungsgericht hat die Frage, ob in der Übergangszeit eine Strafbarkeit nach § 284 StGB gegeben ist, den Strafgerichten überantwortet, vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261 (1267). 30 Privaten Vermittlern ist nach der Sportwettenentscheidung des BVerfG nur die Vermittlung solcher Wetten gestattet, die vom Freistaat Bayern veranstaltet werden. Die Vermittlung von Wetten, die nicht vom Freistaat Bayern veranstaltet werden, durfte dagegen weiterhin ordnungsrechtlich unterbunden werden, NJW 2006, 1261 (1267). 31 Exemplarisch OVG Münster, NVwZ 2006, 1078. 32 Z.B. OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 f. 33 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078. 34 Drei unterschiedliche Rechtsprechungslinien zeigt ebenfalls Beljin, NVwZ 2008, 156 f. auf. 35 Ständige Rechtsprechung des EuGH seit Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) – Costa/ENEL, wobei sich mangels einer ausdrücklichen Aussage der Entscheidung nicht entnehmen ließ, ob das Unionsrecht Geltungs- oder Anwendungsvorrang genießt; in EuGH, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 – IN.CO.GE.Ì90 hat der EuGH klargestellt, dass der Vorrang kein Geltungs-, sondern ein Anwendungsvorrang ist.
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nationalen Normen während der vom Bundesverfassungsgericht gewährten Übergangszeit folge.36 Nach dem OVG Saarlouis gehe der EuGH in seiner Rechtsprechung prinzipiell von der aktuellen Anwendungspflicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechts durch alle staatlichen Träger aus.37 Nur in Ausnahmefällen nehme der EuGH eine zeitliche Begrenzung seiner Urteile vor, nämlich aus Gründen des Vertrauensschutzes bei in die Vergangenheit fallenden Tatbeständen und aus Gründen der Rechtssicherheit.38 Der Rechtsprechung des EuGH lasse sich demnach nicht entnehmen, dass nationale Behörden und Gerichte befugt seien, Unionsrecht vorübergehend außer Kraft zu setzen.39 Das OVG hält es aus diesem Gründen für zweifelhaft, dass das saarländische Sportwettenmonopol im Verständnis des EuGH eine verhältnismäßige Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit nach Art. 56 AEUV darstelle.40 Die im Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO vorzunehmende Interessenabwägung falle daher zugunsten des Antragstellers aus, da das wirtschaftlich motivierte Interesse, die zur Durchführung der Vermittlungstätigkeit getätigten Investitionen in Geschäftslokal, Einrichtungen und sonstige Ausstattung vorläufig weiter nutzen zu dürfen und hieraus Erträge zu erzielen, die gegenläufigen öffentlichen Interessen überwiege.41 b) Kein Verstoß gegen Unionsrecht wegen der verlangten Modifikationen Andere Verwaltungsgerichte sind der Ansicht, dass der Verstoß gegen das Unionsrecht aufgrund der Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht für die Übergangszeit verlangten Modifikationen entfalle.42 Nach dem VGH München verhelfe die Dienstleistungsfreiheit, Art. 56 AEUV, der Klägerin nicht zum Erfolg,43 weshalb ihr eine Erlaubnis zur Vermittlung von Sportwetten ins EU-Ausland nicht erteilt werden könne. Angesichts der Sportwettenent36
OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (722 f.); VG Frankfurt (Oder), Beschl. v. 23.4.2007 – 4 L 38/07, Rn. 9; VG Minden, Beschluss v. 26.5.2006 – 3 L 249/06, Rn. 36; VG Köln, Beschluss v. 6.7.2006 – 1 K 3679/05, Rn. 37; VG Arnsberg, Beschluss v. 21.8.2006 – 1 L 725/06, Rn. 21. 37 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (722). 38 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (722 f.). 39 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (723). 40 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (723). 41 OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (723). 42 VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 48; OVG Bremen, NordÖR 2006, 398 (402); VG Gelsenkirchen, Beschluss vom 29. 5. 2006 – 7 L 701/06, Rn. 10. 43 Es handelte sich hier nicht um ein Verfahren nach § 80 Abs. 5 VwGO, sondern die Klägerin begehrte im Wege der Feststellungsklage nach § 43 Abs. 1 VwGO die Feststellung, dass sie ohne behördliche Erlaubnis zur Vermittlung von Wetten an einen britischen Buchmacher berechtigt sei. Hilfsweise wurde beantragt, die zuständige Behörde dazu zu verpflichten, ihr eine Erlaubnis zur Entgegennahme und Weiterleitung zu erteilen, vgl. VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 15 f.
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scheidung sei die Frage maßgeblich, ob die Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts für ein Mindestmaß an Konsistenz zwischen dem Ziel der Begrenzung der Wettleidenschaft und der tatsächlichen Ausübung des Staatsmonopols als gesetzesvertretendes Übergangsrecht für die Übergangszeit aus unionsrechtlicher Sicht ausreichten.44 Dies sei nach Ansicht des VGH München der Fall. Das Bundesverfassungsgericht habe quasi als Ersatzgesetzgeber von seiner auf § 35 BVerfGG beruhenden Notkompetenz zur Durchsetzung der Verfassungsbindung und mittelbar auch zur Durchsetzung des Unionsrechts Gebrauch gemacht.45 Die Unvereinbarkeit des bayerischen Sportwettenmonopols mit Art. 12 Abs. 1 GG sei vom Bundesverfassungsgericht zwar auch aus dem Defizit der gesetzlichen Regelungen hergeleitet worden, in den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts seien aber keine Gesetzes- und Verordnungsänderungen angesprochen, was zur Folge habe, dass ein Regelungsdefizit zwar auf Dauer inakzeptabel, für eine Übergangszeit aber kompensierbar sei.46 Das Bundesverfassungsgericht habe sich bei der Festlegung der Maßgaben auf solche Maßnahmen konzentriert, die auch geeignet seien, das in der „Gambelli-Entscheidung“ geforderte kohärente und systematische Konzept zur Begrenzung der Wetttätigkeit darzustellen.47 c) Durchbrechung des Anwendungsvorrangs Wiederum andere Verwaltungsgerichte räumen den Ordnungsbehörden ebenso wie die vorherige Rechtsprechungslinie die Befugnis zur Untersagung der Sportwettenvermittlung auch im Anwendungsbereich des Unionsrechts ein, stützen dies aber darauf, dass der Anwendungsvorrang nicht unbedingt sei und deshalb im Einzelfall nationales Recht trotz Verstoßes gegen das Unionsrechts weiter angewendet werden könne.48 aa) VGH Kassel Der VGH Kassel hält die Ordnungsbehörden zur Untersagung von privater Wettvermittlung auch im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten für befugt. Der Senat verwirft ausdrücklich die Auffassung, dass der Nieder- und Dienstleistungsfreiheit eines ausländischen Unternehmers auch in der vom Bundesverfassungsgericht eingeräumten Übergangsphase unbedingter Vorrang einzuräumen sei.49 Der Gerichtshof habe den Mitgliedstaaten ausdrücklich das Recht eingeräumt, durch die Schaffung 44
VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 47. VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 48. 46 VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 49. 47 VGH München, Urteil v. 10.7.2006 – 22 BV 05.457, Rn. 49. 48 Vgl. OVG Münster, NVwZ, 2006, 1078 (1080); VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1438 f.). 49 VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1439) in Abgrenzung zu Vallone/Dubberke, GewArch 2006, 241. 45
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eines Sportwettenmonopols eine private wirtschaftliche Betätigung vollständig zu unterbinden. Dies schließe die Befugnis der Mitgliedstaaten ein, auch während des Übergangs unter vorübergehender Anwendung des nationalen Rechts keine private Veranstaltung und Vermittlung von Sportwetten zuzulassen, wenn durch die Zulassung die Herbeiführung eines unionskonformen Wettmonopols gefährdet „und hierdurch eine erhebliche Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen herbeigeführt würde, die deutlich schwerer wiegt als die Beeinträchtigung der unionsrechtlich verbürgten Grundfreiheiten der durch die staatlichen Maßnahmen betroffenen Anbieter.“50 Diese Voraussetzungen seien erfüllt, weshalb die weitere Anwendung der einschlägigen hessischen Vorschriften während der Übergangszeit im Interesse eines wirksamen Schutzes der Allgemeinheit vor den nachteiligen Folgen eines übermäßig ausgeweiteten Angebotes an Sportwetten unverzichtbar sei.51 Die Interessenabwägung falle somit zu Ungunsten des im EU-Ausland konzessionierten Anbieters aus.52 bb) OVG Münster Für viel Aufsehen hat der Beschluss des OVG Münster vom 28. Juni 2006 gesorgt.53 Das OVG Münster widerspricht zunächst der Vorgehensweise des VGH München und des OVG Bremen, indem angenommen wird, dass durch die Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten tatsächlichen Maßnahmen den europarechtlichen Anforderungen nicht genügt sei, weil das Bundesverfassungsgericht den Verstoß gegen die Berufsfreiheit aus dem Defizit der gesetzlichen Regelung selbst hergeleitet habe.54 Nichtsdestotrotz habe der Eilantrag des Antragstellers gegen die Untersagungsverfügung keinen Erfolg. Dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts seien nämlich gewisse Grenzen gesetzt; dieser werde durchbrochen, wenn durch die Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift im nationalen Recht eine inakzeptable Gesetzeslücke entstehe.55 Obwohl der EuGH sich zu diesem Aspekt bisher nicht geäußert habe, so habe er sich doch stets um den Nachweis bemüht, dass im Einzelfall durch die Anwendung von Unionsrecht keine nicht hinnehmbare Gesetzeslücke entstehe.56 Ferner verweist das Gericht auf Art. 264 Abs. 2 AEUV, auf die Unvereinbarerklärung im 50
VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1439). VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1439). 52 VGH Kassel, NVwZ 2006, 1435 (1440). 53 Ablehnend äußern sich Ehlers/Eggert, JZ 2008, 591 f.; Terhechte, EuR 2006, 831 ff.; Kruis, EuZW 2006, 606 ff.; Karpenstein/Kuhnert, DVBl. 2006, 1466 f.; Mertens, DVBl. 2006, 1567 f.; Bungenberg, DVBl. 2007, 1408 f. 54 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 55 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 56 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080) unter Hinweis auf EuGH, Slg. 1996, I-2201 Rn. 52 f. – CIA Security. 51
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Rahmen einer verfassungsgerichtlichen Normenkontrolle und das auch im Unionsrecht geltende allgemeine Prinzip der Rechtssicherheit.57 Unabhängig von der Rechtsprechung des EuGH stellt das OVG Münster selbst Voraussetzungen dafür auf, wann der Anwendungsvorrang durchbrochen wird: Aus der Nichtanwendung des nationalen Rechts müsse absehbar eine Gefährdung wichtiger Allgemeininteressen resultieren, diese Gefährdung müsse ersichtlich schwerer wiegen als die Beeinträchtigung der Rechtsgüter, die durch die europarechtliche Vorschrift geschützt werden und die Gefährdung der wichtigen Allgemeininteressen dürfe nicht anders abgewendet werden können als durch eine zeitlich begrenzte weitere Anwendung der betroffenen nationalen Vorschriften.58 Falls diese Voraussetzungen gegeben seien, „wird man den Anwendungsvorrang so lange als suspendiert betrachten müssen, bis der nationale Gesetzgeber hinreichend Gelegenheit hatte, den fraglichen Lebensbereich unionskonform zu regeln.“59 Aus diesen Gründen sei das Sportwettengesetz Nordrhein-Westfalen bis zum Ende der Übergangsfrist trotz Verstoßes gegen die Grundfreiheiten weiter anwendbar. Die sofortige Nichtanwendbarkeit des Sportwettengesetzes Nordrhein-Westfalen hätte nämlich zur Folge, dass die Sportwettenveranstaltung und -vermittlung lediglich den Schranken des allgemeinen Gewerberechts unterliege, obwohl diese den spezifischen Gefahren des Glücksspiels nicht genügten.60 Die Interessenabwägung falle zu Ungunsten des privaten Anbieters aus, da die Belange des Allgemeininteresses schwerer wiegten als das Interesse des Anbieters an einem freien Zugang zum Sportwettenmarkt.61 Abschließend diskutiert der Senat kurz eine Vorlage zum Europäischen Gerichtshof nach Art. 267 AEUV, verwirft die Vorlage aber im Hinblick auf die Eilbedürftigkeit der Rechtssache sowie den Umstand, dass es nur um die Auslegung von Unionsrecht und nicht um dessen Wirksamkeit gehe.62 cc) Anmerkungen Der Beschluss des OVG Münster war deshalb wirkmächtiger als der des VGH Kassel, weil ausdrücklich auf „inakzeptable Gesetzeslücken im nationalen Recht“ abgestellt wurde, wohingegen der VGH Kassel letztlich eine Abwägung zwischen den Grundfreiheiten des Anbieters und der Herstellung eines unionskonformen Sportwettenmonopols vorgenommen hat, die abzuwägender Güter somit ausschließlich im Unionsrecht verortet werden. Dass das OVG Münster neben der Annahme einer 57 58 59 60 61 62
OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). Vgl. OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1081). OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1081).
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Durchbrechung des Anwendungsvorrangs in freier Rechtsschöpfung, d. h. ohne Einleitung eines Verfahrens nach Art. 267 AEUV, sogar Kriterien, die einer solchen Suspendierung zugrunde liegen sollen, entwickelte, hat die Kritik an der Rechtsprechung freilich eher verschärft als gemildert.63 Die Entscheidung des OVG Münster kann in der ergangenen Form nur in aller Deutlichkeit kritisiert werden, da einem mitgliedstaatlichen Gericht nicht die Kompetenz zuwächst, von sich aus den Anwendungsvorrang und damit quasi das „Heiligtum“ der europäischen Rechtsentwicklung64 ohne vorhergehendes Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUVaußer Kraft zu setzen. Wenngleich die Möglichkeit einer temporären Durchbrechung des Anwendungsvorrangs in der Literatur teilweise für möglich gehalten wird,65 so wird doch anerkannt, dass der EuGH dafür zuständig wäre, eine solche Neuerung in das Unionsrecht einzuführen.66 Das OVG Münster erkennt zutreffend einen bestehenden Widerspruch zwischen den einfachgesetzlichen Regelungen des Landesrechts, welche die streitige Untersagungsverfügung tragen, und der Nieder- und Dienstleistungsfreiheit,67 d. h. eine den Anwendungsvorrang auslösende Kollision unmittelbar anwendbarer Vorschriften.68 Eine solche Kollision begründet für jeden staatlichen Richter die Pflicht, jede entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Norm des Unionsrechts ergangen ist, unangewendet zu lassen.69 Das OVG erkennt dies zwar, es beruft sich jedoch zur Begründung einer Durchbrechung des Anwendungsvorrangs auf eine Entscheidung des EuGH aus dem Jahre 1996, auf einen Aufsatz von Jarass/Beljin, auf zwei generalanwaltliche Schlussanträge sowie auf Art. 264 Abs. 2 AEUV.70 (1) „CIA Security-Entscheidung“ Die angeführte EuGH-Entscheidung „CIA Security“ enthält keinerlei Anhaltspunkte dafür, dass nationales Recht, das gegen das Unionsrecht verstößt, übergangsweise weiter angewendet werden kann.71 In dem Verfahren, in dem sich der EuGH mit 63
Vgl. auch Terhechte, EuR 2006, 842. So bezeichnet von Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 532. 65 Vgl. Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 536 ff.; Beljin, NVwZ 2008, 159 ff. 66 Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 537; wohl auch Beljin, NVwZ 2008, 161: „Das letzte Wort hat der EuGH.“ 67 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 68 s. zu den Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs C. II. 2. d). 69 EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal II. 70 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080) unter Hinweis auf EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 52 f. – CIA Security; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 5 sowie die Schlussanträge der Generalanwälte Jacobs, Slg. 2006, I-9375, Rn. 84 ff. und Stix-Hackl, Slg. 2006, I-9394, Rn. 135 ff. – Banca Populare di Cremona. 71 So auch Karpenstein/Kuhnert, DVBl. 2006, 1466; Terhechte, EuR 2006, 838, insoweit auch besonders deutlich das VG Köln, Beschl. vom 14. Juli 2006, 1 L 920/06, Rn. 37 f.: Die 64
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
bestimmten Vorschriften eines belgischen Gesetzes über die Bewachungs- und Sicherungsunternehmen auseinander zu setzen hatte, stellte sich zwar die Frage, ob nationale Vorschriften aus besonderen Gründen trotz ihrer Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht weiter angewendet werden können,72 da der Gerichtshof ausführt: „Insoweit ist u. a. vorgetragen worden, wenn solche Vorschriften Dritten nicht entgegengehalten werden könnten, würde dies eine Regelungslücke in der fraglichen nationalen Rechtsordnung zur Folge haben und könnte daher insbesondere dann zu schwerwiegenden Nachteilen führen, wenn die Unanwendbarkeit Vorschriften im Bereich der Sicherheit betreffe.“73 Allerdings stellt der EuGH im Anschluss unmissverständlich fest: „Diesem Vorbringen kann nicht gefolgt werden.“74 Es kann deshalb nicht davon gesprochen werden, dass sich der EuGH um den Nachweis bemüht habe, dass im Einzelfall durch die Anwendung von Unionsrecht keine nicht hinnehmbare Gesetzeslücke entstehe.75 (2) Art. 264 Abs. 2 AEUV Das OVG Münster hat ferner zur Begründung der Durchbrechung des Anwendungsvorrangs auf Art. 264 Abs. 2 AEUV verwiesen. Daraus folge, dass sich bei Kollisionen von Normen mit höherrangigem Recht letzteres nicht unbeschränkt durchsetze.76 Dieser Argumentation kann nicht gefolgt werden: Art. 264 Abs. 2 AEUV räumt dem EuGH die Möglichkeit ein, im Falle der Unvereinbarkeit von Sekundärrecht mit dem Primärrecht die Rechtsfolgen seiner Entscheidung in zeitlicher Hinsicht zu beschränken.77 Die von Art. 264 AEUVerfasste Kollision spielt sich demnach ausschließlich im Unionsrecht ab und gibt auch nur dem EuGH die Möglichkeit, von einer strikten ex-tunc-Wirkung des Nichtigkeitsurteils abzuweichen. Art. 264 Abs. 2 AEUV will dem EuGH ermöglichen, eine primärrechtskonforme Lösung zu finden; um das Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht geht es in der Rechtsfolgenregelung des Art. 264 AEUV hingegen nicht. Aus diesem Grund ist eine Übertragung eines eventuell aus Art. 264 Abs. 2 AEUV zu gewinnenden Rechtsprinzips auf die vertikale Ebene zwischen Mitgliedstaaten und Europäischer Union nicht möglich.78
herangezogene Entscheidung des EuGH „ist nicht einschlägig. Sie betrifft einen anderen Sachverhalt und enthält nicht ansatzweise Ausführungen zur Frage einer Durchbrechung des Anwendungsvorrangs.“ 72 Vgl. Terhechte, EuR 2006, 838. 73 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 52 – CIA Security. 74 EuGH, Slg. 1996, I-2201, Rn. 53 – CIA Security. 75 So aber das OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 76 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 77 In die Richtung auch das OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (722 f.). 78 Terhechte, EuR 2006, 836.
I. Rechtsunsicherheit nach der Sportwettenentscheidung
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(3) Generalanwaltliche Schlussanträge Zur Begründung hat das OVG Münster weiterhin zwei generalanwaltliche Schlussanträge herangezogen, die das Ergebnis jedoch ebenfalls nicht stützen. In den Schlussanträgen der Generalanwälte Jacobs und Stix-Hackl79 geht es ähnlich wie bei Art. 264 Abs. 2 AEUV um die zeitliche Beschränkung eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV. Auch hierbei handelt es sich um einen unterschiedlichen Gegenstand, aus dem sich kein allgemeines Rechtsprinzip herleiten lässt.80 (4) Jarass/Beljin Das OVG Münster beruft sich ferner auf einen Aufsatz von Jarass und Beljin aus dem Jahre 2004, wobei eine Passage aus dem Beitrag nahezu wörtlich übernommen wird, in welchem es heißt: „Der Nichtanwendungspflicht sind gewisse Grenzen gesetzt. Entsteht durch die Nichtanwendung eine inakzeptable Gesetzeslücke, kann der Vorrang nicht greifen. Eine eindeutige Aussage des EuGH dazu fehlt zwar. Doch bemüht er sich in mehreren Entscheidungen um den Nachweis, dass keine inakzeptable Lücke entsteht.“81 Wenngleich sich die Ausführungen von Jarass und Beljin prima facie in den rechtlichen Kontext des Beschlusses des OVG Münster einfügen, stützt der Beitrag das Ergebnis des OVG Münster nicht.82 Nach Jarass/Beljin sei eine solche Beschränkung aus Sicht des Unionsrechts nur sinnvoll, wenn es um eine Bestimmung gehe, ohne die keine Entscheidung getroffen werden könne, da ansonsten dem Unionsrecht mit der Unanwendbarkeit einer unionsrechtswidrigen Bestimmung weniger gedient sei als bei deren Anwendung.83 Als Beispiel wird die Schließung von Gesetzeslücken durch den EuGH in Diskriminierungsfällen angeführt, da der EuGH in Fällen einer unionsrechtswidrigen Vorenthaltung einer Begünstigung ggf. verlangt, dass die benachteiligten Personen dieselbe Begünstigung erhalten wie die Begünstigten.84 In den Diskriminierungsfällen fehlt es bisweilen an einer unionsrechtlichen Norm, welche die Verteilung der Begünstigungen regelt und das nationale Recht gewährt sie de lege lata nicht.85 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts kann dann nicht dazu führen, dass niemand etwas erhält, sondern der Gerichtshof wendet das nationale
79 Schlussanträge der Generalanwälte Jacobs, Slg. 2006, I-9375, Rn. 84 ff. und Stix-Hackl, Slg. 2006, I-9394, Rn. 135 ff. – Banca Populare di Cremona. 80 So auch Terhechte, EuR 2006, 837 f. 81 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 5. 82 So auch Terhechte, EuR 2006, 839. 83 Jarass/Beljin, NVwZ, 2004, 5. 84 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-345, Rn. 57 m.w.N. – F.C. Terhoeve. 85 Terhechte, EuR 2006, 839.
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
Recht auch auf die Personengruppen an, die eigentlich nicht begünstigt werden sollten.86 Dem EuGH geht es bei den Diskriminierungsfällen um die Sicherung des Unionsrechts, bei den Sportwetten ist die Problematik jedoch gänzlich anders gelagert. Hätte das OVG Münster den Anwendungsvorrang des Unionsrechts nicht vorübergehend suspendiert, hätte es das Sportwettengesetz Nordrhein-Westfalen auf den betreffenden Sachverhalt nicht anwenden können. Aus der Perspektive des Unionsrechts, insbesondere im Lichte der Gambelli-Rechtsprechung des EuGH, ist dieses Ergebnis, welches zu einem vorübergehenden freien Zugang zum Sportwettenmarkt in Nordrhein-Westfalen geführt hätte,87 dann offenbar gewünscht.88 Die Tätigkeit der privaten Wettanbieter könnte dann immer noch auf Grundlage des allgemeinen Gewerberechts kontrolliert werden. Es deutet nichts darauf hin, dass dieser Zustand unerträglich für das Unionsrecht ist. Selbst wenn man wie das OVG Münster im Gegensatz zum EuGH und der hier vertretenen Ansicht eine nationale Perspektive einnimmt, kann man dennoch schwerlich davon sprechen, dass die vorgesehenen Begrenzungen gewerblicher Tätigkeit im allgemeinen Gewerberecht den spezifischen Gefahren des Glücksspiels nicht genügten. Mertens bringt die Sache auf den Punkt, da er darauf hinweist, dass vor der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts private Wettunternehmen überwiegend geduldet wurden und staatliche Wettanbieter genauso massiv geworben und jene öffentliche Belange außer Acht gelassen haben, welche das OVG Münster im Beschlusszeitpunkt schützen will.89 Treffend formuliert er: „Kann derselbe Zustand von heute auf morgen plötzlich so unerträglich werden, dass er keinesfalls bis zum 31. 12. 2007 fortbestehen darf?“90 d) Zusammenfassung Die Rechtsprechungspraxis im Anschluss an die Sportwettenentscheidung gleicht einem Chaos. Insbesondere die Rechtsprechung des OVG Münster ist zu kritisieren, da die Begründung eine temporäre Durchbrechung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts nicht zu tragen vermag. Richtig erscheint der Beschluss des OVG Münster jedoch dahingehend, dass durch die Umsetzung der vom Bundesverfassungsgericht geforderten tatsächlichen Maßnahmen den europarechtlichen Anforderungen nicht genügt ist, weil das Bundesverfassungsgericht den Verstoß gegen die 86
So dann auch EuGH, Slg 1999, I-345, Rn. 57 – F.C. Terhoeve: „Im übrigen haben, wenn das nationale Recht unter Verstoß gegen das Gemeinschaftsrecht eine unterschiedliche Behandlung mehrerer Personengruppen vorsieht, die Angehörigen der benachteiligten Gruppen Anspruch auf die gleiche Behandlung und auf Anwendung der gleichen Regelung wie die übrigen Betroffenen, wobei diese Regelung, solange das Gemeinschaftsrecht nicht richtig durchgeführt ist, das einzig gültige Bezugssystem bleibt.“ 87 Wie dies vom OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 f. für das Saarland bejaht wurde. 88 So auch Terhechte, EuR 2006, 839. 89 Mertens, DVBl. 2006, 1568. 90 Mertens, DVBl. 2006, 1568.
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts
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Berufsfreiheit aus dem Defizit der gesetzlichen Regelung selbst hergeleitet hat,91 weshalb auch die zweite Rechtsprechungslinie, d. h. die Entscheidungen des VGH München, des OVG Bremen und des VG Gelsenkirchen, weder den Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts noch den unionsrechtlichen Vorgaben genügen. Vielmehr war das Vorgehen des OVG Saarlouis, dem Unionsrecht einen unbedingten Vorrang einzuräumen, der vorzugswürdige und im Beschlusszeitpunkt auch der einzig mit dem Unionsrecht vereinbare Weg. Nichtsdestotrotz sollte nicht übersehen werden, dass der maßgebliche Urheber der Rechtsunsicherheit im Anschluss an die Sportwettenentscheidung das Bundesverfassungsgericht war, welches die Fachgerichte über die Behandlung von Sachverhalten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten im Unklaren gelassen hat. Leidtragende der Zurückhaltung durch das Bundesverfassungsgericht waren die Sportwettenvermittler, denen teilweise der Individualrechtsschutz verwehrt wurde, obwohl sie sich vor mitgliedstaatlichen Stellen an sich uneingeschränkt auf ihre Grundfreiheiten berufen können.
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts Die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts und der Beschluss des OVG Münster veranlassen dazu, sich mit der Frage der temporären weiteren Anwendung nationalen Rechts, das gegen das Unionsrecht verstößt, auseinanderzusetzen. Die Möglichkeit der weiteren Anwendung wurde im Anschluss an den Beschluss des OVG Münster überwiegend ablehnend beurteilt.92 Es gibt aber auch Befürworter.93 Aus diesem Grund hat das VG Köln die Frage dem EuGH zur Vorabentscheidung nach Art. 267 AEUV vorgelegt,94 was deshalb erstaunlich ist, weil der Vorlagebeschluss zeitlich nach dem Beschluss des OVG Münster abgefasst wurde und das VG Köln somit dem übergeordneten Oberverwaltungsgericht widerspricht.
91 Das BVerfG, NJW 2006, 1261 (1264) unterstreicht dies wie folgt: „Die Mängel in der konkreten Ausgestaltung von Oddset stellen nicht nur ein Defizit im Vollzug des einfachen Rechts dar. Vielmehr drückt sich darin ein entsprechendes Regelungsdefizit aus.“ 92 Ablehnend äußern sich Terhechte, EuR 2006, 834 ff.; Kruis, EuZW 2006, 606 ff.; Karpenstein/Kuhnert, DVBl. 2006, 1466 f.; Mertens, DVBl. 2006, 1567; Bungenberg, DVBl. 2007, 1408 f. 93 Zu einer weiteren Anwendung tendiert Beljin, NVwZ 2008, 161 f.; die weitere Anwendung bejahen Neuschl/Schumm, ZEuS 2008, 536 ff.; Ehlers/Eggert, JZ 2008, 589 f. halten dies ebenfalls unter bestimmten Voraussetzungen für möglich. 94 Vorlagebeschluss des VG Köln, GewArch. 2006, 467 f.
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
1. Vorabentscheidungsersuchen des VG Köln Das VG Köln hat dem EuGH, bei dem die Rechtssache als C-409/06 („Winner Wetten GmbH gegen Bürgermeisterin der Stadt Bergheim“) anhängig ist, folgende Fragen zur Beantwortung vorgelegt: 1. Sind Art. 49 und 56 AEUV dahingehend auszulegen, dass nationale Regelungen für ein staatliches Sportwettenmonopol, die unzulässige Beschränkungen der in Art. 49 und 56 AEUV garantierten Niederlassungsfreiheit und Dienstleistungsfreiheit enthalten, weil sie nicht entsprechend der Rechtsprechung des Gerichtshofs (EuGH, NJW 2004, 139 – Gambelli) in kohärenter und systematischer Weise zur Begrenzung der Wetttätigkeit beitragen, trotz des grundsätzlichen Anwendungsvorrangs unmittelbar geltenden Unionsrechts ausnahmsweise für eine Übergangszeit weiterhin angewandt werden dürfen? 2. Bei Bejahung der Frage 1: Welche Voraussetzungen gelten für die Annahme einer Ausnahme vom Anwendungsvorrang und wie ist die Übergangszeit zu bemessen? Am 26. Januar 2010 hat Generalanwalt Yves Bot seine Schlussanträge in dieser Rechtssache veröffentlicht, auf welche im Anschluss zu den Ausführungen zum Anwendungsvorrang des Unionsrechts eingegangen wird.
2. Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts Die Möglichkeit einer weiteren Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts muss sich an der Figur des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts orientieren. Am 1. Dezember 2009 ist der Vertrag von Lissabon in Kraft getreten und hat viele Neuerungen im unionsrechtlichen Gefüge mit sich gebracht.95 Hinsichtlich des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist festzuhalten, dass sich dessen Reichweite ausgedehnt hat,96 wenngleich die im Verfassungsvertrag vorgesehene Vorrangregel im Lissaboner Vertrag nicht übernommen wurde.97 Dem Vertrag von Lissabon wurde jedoch eine Erklärung beigefügt (Nr. 17), in der es heißt: „Die Konferenz weist darauf hin, dass die Verträge und das von der Union auf der Grundlage der Verträge gesetzte Recht im Einklang mit der ständigen Rechtsprechung des EuGH unter den in dieser Rechtsprechung festgelegten Bedingungen Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten haben…“.98 95 s. dazu z. B. die Monographien von Fischer sowie von Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon. 96 s. dazu C. II. 2. e) bb). 97 In Art. I-6 EVV heißt es: „Die Verfassung und das von den Organen der Union in Ausübung der der Union übertragenen Zuständigkeiten gesetzte Recht haben Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten.“ 98 Vgl. dazu auch Hatje/Kindt, NJW 2008, 1762.
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts
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a) „Costa/ENEL-Entscheidung“ Auf Grundlage dieser Erklärung ist für die Bestimmung des Anwendungsvorrangs weiterhin die Rechtsprechung des EuGH maßgeblich, welche für den Anwendungsvorrang in der berühmten „Costa/ENEL-Entscheidung“ aus dem Jahre 1964 ihren Anfang genommen hat, in welcher es heißt: „Diese Aufnahme der Bestimmungen des Gemeinschaftsrechts99 in das Recht der einzelnen Mitgliedstaaten und, allgemeiner, Wortlaut und Geist des Vertrages haben zur Folge, dass es den Staaten unmöglich ist, gegen eine von ihnen auf der Grundlage der Gegenseitigkeit angenommene Rechtsordnung nachträgliche einseitige Maßnahmen ins Feld zu führen. Solche Maßnahmen stehen der Anwendbarkeit der Gemeinschaftsrechtsordnung daher nicht entgegen…Aus alledem folgt, dass dem vom Vertrag geschaffenen, somit aus einer autonomen Rechtsquelle fließenden Recht wegen dieser seiner Eigenständigkeit keine wie immer gearteten innerstaatlichen Rechtsvorschriften vorgehen können, wenn ihm nicht sein Charakter als Gemeinschaftsrecht aberkannt und wenn nicht die Rechtsgrundlage der Gemeinschaft selbst in Frage gestellt werden soll.“ Hinter der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs steht die Überlegung, dass das Unionsrecht als eigenständige Rechtsordnung nicht mehr dem Völkerrecht zuzurechnen ist und daher die üblichen Lösungsversuche des Verhältnisses des Völkerrechts zum nationalen Recht abzulehnen sind.100 Die Geltung von völkerrechtlichen Normen im innerstaatlichen Bereich tritt erst nach einem Transformationsakt ein, mit welchem der jeweilige Staat auch über das Rangverhältnis gegenüber nationalem Recht entscheidet.101 In der Bundesrepublik Deutschland bestimmen die Art. 25 und Art. 59 Abs. 2 GG die innerstaatliche Geltung des Völkerrechts. Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts, d. h. Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts,102 werden durch den verfassungsrechtlichen Vollzugsbefehl bzw. den generellen Transformator in Art. 25 GG in das innerstaatliche Recht einbezogen.103 Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts sind Bestandteil des Bundesrechts und gehen den Gesetzen vor, womit ein Zwischenrang zwischen dem Grundgesetz und den einfachen Gesetzen verbunden ist.104 Das Völkervertragsrecht erlangt innerstaatliche Geltung über Art. 59 Abs. 2 GG und hat innerstaatlich den Rang des Zustimmungsgesetzes als Bundesgesetz.
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Seit 1. 12. 2009 Unionsrecht. Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 184. 101 Vgl. Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 154. 102 Vgl. Streinz, in: Sachs, Art. 25 Rn. 32 ff. 103 Vgl. Streinz, in: Sachs, Art. 25 Rn. 38. 104 Vgl. BVerfGE 6, 309 (363). 100
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
b) Verankerung im Primärrecht Rechtsdogmatisch handelt es sich bei dem Prinzip des Anwendungsvorrangs um einen allgemeinen Grundsatz auf der Ebene des Primärrechts.105 Der EuGH hat im Wege einer Vertragsexegese den Primat des Unionsrechts aus der Schaffung einer eigenständigen Rechtsordnung, die Beschränkung der Souveränität der Mitgliedstaaten durch Übertragung von Hoheitsrechten auf die Europäische Union, dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit (Art. 4 Abs. 3 EUV), dem allgemeinen Diskriminierungsverbot (Art. 18 AEUV) sowie der unmittelbaren Geltung von Verordnungen in jedem Mitgliedstaat (Art. 288 Abs. 2 AEUV) hergeleitet.106 c) Unionsrechtskonforme Auslegung Allgemein gesprochen begründet der Anwendungsvorrang für alle innerstaatlichen Organe die Verpflichtung, unmittelbar anwendbares Unionsrecht anzuwenden und entgegenstehendes innerstaatliches Recht unberücksichtigt zu lassen.107 Bevor jedoch nationales Recht durch entgegenstehendes Unionsrecht verdrängt wird, sind die innerstaatlichen Stellen dazu berufen, das nationale Recht unionsrechtskonform auszulegen. Aus der Rangordnung der Rechtsquellen resultiert, dass das höherrangige Recht vorrangig bei der Auslegung des niederrangigen Rechts beachtet werden muss, womit aus dem Vorrang des Unionsrechts das Gebot unionsrechtskonformer Auslegung des mitgliedstaatlichen Rechts folgt.108 Die Verpflichtung zur unionsrechtskonformen Auslegung führt dazu, dass von mehreren zur Auswahl stehenden Auslegungsmöglichkeiten diejenige zu wählen ist, die mit den Vorgaben des Unionsrechts im Einklang steht.109 Eine unionsrechtskonforme Auslegung setzt voraus, dass das mitgliedstaatliche Recht ausgelegt werden kann, d. h. mehrere Deutungen zulässt.110 Ist dies nicht der Fall, kann die Übereinstimmung mit dem Unionsrecht nicht durch Auslegung, sondern gegebenenfalls nur durch die Nichtanwendung der nationalen Norm erreicht werden.111 d) Voraussetzungen des Anwendungsvorrangs Kann eine Übereinstimmung nationaler Regelungen mit dem einschlägigen Unionsrecht durch Auslegung nicht hergestellt werden, kommt der Anwendungsvorrang 105
Terhechte, EuR 2006, 835. Vgl. Herdegen, § 11 Rn. 1; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 185; EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) – Coast/ENEL. 107 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal; Herdegen, § 11 Rn. 1. 108 Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 28. 109 Dörr/Lenz, Rn. 384. 110 Vgl. Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 31. 111 Dörr/Lenz, Rn. 385. 106
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts
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zum Einsatz, wenn die einschlägigen Normen des Unionsrechts und des nationalen Rechts wirksam sind, die unionsrechtliche Norm innerstaatlich unmittelbar anwendbar ist und das Unionsrecht mit dem nationalen Recht kollidiert.112 aa) Wirksamkeit der kollidierenden Vorschriften Eine Kollision kommt nur in Frage, wenn die betreffenden Normen wirksam sind.113 Auch im nationalen Recht scheidet eine Normenkollision nach Art. 31 GG aus, wenn das Landes- oder Bundesrecht beispielsweise bereits aus Kompetenzgründen nichtig ist.114 Für den Anwendungsvorrang hat das zur Folge, dass die kollidierenden unionsrechtlichen und nationalen Vorschriften wirksam sein müssen, d. h. nicht bereits aus Gründen, die dem jeweiligen Rechtskreis entspringen, ungültig sein dürfen. bb) Unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts Der Anwendungsvorrang entfaltet als Kollisionsregel nur seine verdrängende Wirkung, wenn die fragliche Bestimmung des Unionsrechts unmittelbar anwendbar bzw. wirksam ist.115 Die Termini Anwendbarkeit und Wirksamkeit werden hier synonym verwendet.116 Unmittelbare Anwendbarkeit bedeutet, dass das Unionsrecht, wie ansonsten im Völkerrecht üblich, nicht nur für die Mitgliedstaaten der Europäischen Union gilt, sondern dass es die jeweiligen Adressaten unmittelbar, d. h., ohne dass es einer Durchführung bedarf, bindet.117 Besonders bedeutsam ist in diesem Zusammenhang, dass das Unionsrecht auch den Unionsbürgern und sonstigen Personen unmittelbar Rechte und Pflichten verleihen kann.118 Der EuGH begründet diese Besonderheit des Unionsrechts mit dem Umstand, dass die Europäische Union eine neue Rechtsordnung des Völkerrechts darstellt, deren Rechtssubjekte nicht nur die Mitgliedstaaten, sondern auch die Einzelnen sind.119 Unionsrechtliche Normen sind nicht in jedem Fall unmittelbar anwendbar, sondern nur, wenn sie so vollständig und präzise sind, dass sie sich zur Anwendung auf einen konkreten Fall eignen.120 Das ist der Fall, wenn die Norm rechtlich vollkommen ist (d. h., nicht mehr weiter konkretisiert werden muss), unbedingt ist (d. h., nicht 112
Vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 3. Vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 3. 114 Vgl. Brüning, NVwZ 2002, 34. 115 Niedobitek, VerwArch 2001, 67. 116 Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 8 verwendet die Ausdrücke ebenfalls synonym; Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 178 verwenden die Begriffe dagegen unterschiedlich. 117 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 16. 118 Vgl. EuGH, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. 119 EuGH, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. 120 Niedobitek, VerwArch 2001, 68. 113
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
von unbestimmten künftigen Ereignissen abhängt), in einer Handlungs- oder Unterlassungspflicht besteht, die keine weiteren Vollzugsmaßnahmen erfordert und den Normadressaten keinen Ermessensspielraum lässt.121 Die unmittelbare Anwendbarkeit einer Norm des Unionsrechts hängt somit maßgeblich von ihrer Struktur und ihrem Inhalt ab,122 wobei teleologische und funktionale Betrachtungen und nicht der Wortlaut einer Norm entscheidend sind.123 Die unmittelbare Anwendbarkeit von Unionsrecht hat für den Einzelnen die praktische Bedeutung, dass er sich vor den Behörden und Gerichten der Mitgliedstaaten und der Europäischen Union auf dieses berufen kann.124 Die unmittelbare Anwendbarkeit und damit die Zuerkennung des im Völkerrecht anerkannten „self-executingEffekts“ hat die Wirkungsintensität des Unionsrechts in besonderer Weise gesteigert.125 (1) Primärrecht Unmittelbar anwendbar können sowohl Bestimmungen des Primärrechts als auch des Sekundärrechts sein. Für primärrechtliche Bestimmungen ist dabei nicht entscheidend, ob die Verträge ausdrücklich die unmittelbare Anwendbarkeit bestimmen, sondern diese entstehen auch aufgrund von eindeutigen Verpflichtungen, welche die Verträge den Einzelnen, den Mitgliedstaaten und den Organen auferlegen.126 Zu den unmittelbar anwendbaren Bestimmungen im Primärrecht zählen jedenfalls die Grundfreiheiten einschließlich des allgemeinen Diskriminierungsverbotes (Art. 18 AEUV),127 die Unionsgrundrechte,128 das Freizügigkeitsrecht in Art. 21 AEUV und die speziellen Diskriminierungsverbote in Art. 157 AEUV (Lohngleichheit bei Männern und Frauen)129 sowie in Art. 110 AEUV (Verbot höherer Abgaben für Waren aus anderen Mitgliedstaaten).130
121 Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 168; vgl. auch EuGH, Slg. 1966, 257 (266) – Alfons Lütticke GmbH/Hauptzollamt Saarlouis: „Die Verbotsnorm ist daher vollständig, rechtlich vollkommen und infolgedessen geeignet, unmittelbare Wirkungen in den Rechtsbeziehungen zwischen den Mitgliedstaaten und den ihrem Recht unterworfenen Personen zu erzeugen.“ 122 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33 Rn. 14 123 Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 17; vgl. auch EuGH, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. 124 Vgl. EuGH, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. 125 Pechstein, 62. 126 EuGH, Slg. 1963, 1 (25) – van Gend & Loos. 127 Dörr/Lenz, Rn. 371; s. dazu auch Bievert, in: Schwarze, Art. 249 EGV Rn. 5; mit umfangreichen Nachweise auch Schmidt, in: v. d. Groeben/Schwarze, Art. 249 EGV Rn. 9. 128 Vgl. Ehlers, in: ders., § 14 Rn. 49. 129 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 19. 130 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33 Rn. 16.
II. Die weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts
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(2) Sekundärrecht Die Europäische Union kann seit dem Vertrag von Lissabon nach Art. 288 AEUV verbindliche Rechtsakte in Form der Verordnung, der Richtlinie und des Beschlusses (ehemals Entscheidung) erlassen. Verordnungen sind der Typfall der unmittelbar anwendbaren Norm, da diese nach Art. 288 Abs. 2 AEUV allgemeine Geltung haben, in allen ihren Teilen verbindlich sind und unmittelbar in allen Mitgliedstaaten gelten, weshalb Art. 288 Abs. 2 AEUV als positiv-rechtlicher Beleg für die Möglichkeit der unmittelbaren Anwendbarkeit des Unionsrechts herangezogen werden kann.131 Verordnungen sind demnach in der Regel unmittelbar anwendbar und erzeugen ohne Transformationsakt Rechtswirkungen in den Mitgliedstaaten. Einschränkend ist aber zu bemerken, dass die in einer Verordnung enthaltenen Vorschriften eine unmittelbare Anwendbarkeit nicht zu entfalten vermögen, wenn es ihnen an der inhaltlichen Unbedingtheit und Bestimmtheit mangelt, von deren Vorliegen der EuGH die unmittelbare Anwendbarkeit einer jeden Norm des Unionsrechts abhängig macht.132 Anders als die Verordnung ist die Richtlinie dem Wortlaut von Art. 288 Abs. 3 AEUV nach für die Mitgliedstaaten nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles verbindlich. Richtlinien verpflichten die Mitgliedstaaten, den Inhalt der Richtlinien in nationales Recht umzusetzen. Die Richtlinie ist damit das klassische Mittel zur Harmonisierung der mitgliedstaatlichen Rechtsvorschriften.133 Aufgrund des zweistufigen Rechtsetzungsverfahrens scheint die unmittelbare Anwendbarkeit einer Richtlinie und damit einhergehend die unmittelbare Begründung von Rechten Einzelner prima facie ausgeschlossen zu sein. Um der mangelhaften Richtlinienumsetzung durch die Mitgliedstaaten entgegenzuwirken, befürwortet der EuGH allerdings unter bestimmten Voraussetzungen auch die unmittelbare Anwendbarkeit von Richtlinien. Danach kann ein Mitgliedstaat, der die in der Richtlinie vorgeschriebenen Durchführungsmaßnahmen nicht fristgemäß erlassen hat, dem Einzelnen nicht entgegenhalten, dass er die aus dieser Richtlinie erwachsenen Verpflichtungen nicht erfüllt hat.134 Vielmehr sind die Einzelnen in all den Fällen, in denen Bestimmungen einer Richtlinie inhaltlich als unbedingt und hinreichend genau erscheinen, berechtigt, „sich gegenüber dem Staat auf diese Bestimmungen zu berufen, wenn der Staat die Richtlinie nicht fristgemäß in nationales Recht umsetzt oder eine unzutreffende Umsetzung der Richtlinie vornimmt“.135 Anerkannt ist somit die Möglichkeit des Einzelnen, sich gegenüber dem Staat auf die Richtlinie zu berufen (vertikale Direktwirkung). Ausgeschlossen ist aber die umgekehrt vertikale Direktwirkung von Richtlinien, d. h., eine vom Staat nicht umge131 132 133 134 135
Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 16, 19. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33 Rn. 21. vgl. Herdegen, § 9 Rn. 36. EuGH, Slg. 1982, 53, Rn. 24 – Becker. EuGH, Slg. 1986, 723, Rn. 46 – Marshall I.
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setzte Richtlinienbestimmung kann nur zu Gunsten, nicht aber zu Lasten Einzelner wirken.136 Eine horizontale Direktwirkung von Richtlinienbestimmungen im Verhältnis Privater zueinander hat der EuGH stets ausgeschlossen, weil eine Richtlinie nicht selbst Verpflichtungen für einen Einzelnen begründen kann.137 Eine Ausdehnung der Rechtsprechung zur vertikalen Direktwirkung von Richtlinien auf den Bereich der Beziehungen zwischen den Bürgern hieße, der Union „die Befugnis zuzuerkennen, mit unmittelbarer Wirkung zu Lasten der Bürger Verpflichtungen anzuordnen, obwohl sie dies nur dort darf, wo ihr die Befugnis zum Erlass von Verordnungen zugewiesen ist.“138 Soweit ein Beschluss (Art. 288 Abs. 4 AEUV) an einzelne Marktbürger oder Gruppen adressiert ist, ist die unmittelbare Anwendbarkeit zu bejahen, da dieser Rechtsakt für die Adressaten in allen Teilen verbindlich ist.139 Sind Beschlüsse dagegen an Mitgliedstaaten gerichtet, entfalten diese auch zugunsten der Marktbürger unmittelbare Wirkungen, falls diese hinreichend genaue und unbedingte Bestimmungen enthalten und eine zur Vornahme der geforderten Handlungen gegebenenfalls gesetzte Frist ergebnislos abgelaufen ist,140 womit hinsichtlich solcher an die Mitgliedstaaten gerichteter Beschlüsse für die unmittelbare Anwendbarkeit die gleichen Regeln gelten wie bei den Richtlinien.141 cc) Kollision Ist das Unionsrecht in den Mitgliedstaaten unmittelbar anwendbar, kann es mit dem mitgliedstaatlichen Recht kollidieren. Nationale Bestimmungen müssen jedoch nur unangewendet bleiben, wenn wirklich eine Kollision gegeben ist, wobei in der Literatur vielfach zwischen direkten und indirekten Kollisionen unterschieden wird.142 (1) Direkte Kollision Eine direkte Kollision liegt vor, wenn mitgliedstaatliche Normen und unionsrechtliche Normen auf denselben Sachverhalt anwendbar sind und bei gleichzeitiger Anwendung miteinander unvereinbare Rechtsfolgen zeitigen würden.143 Niedobitek weist zutreffend darauf hin, dass dieser vom Bundesverfassungsgericht für Normen136
Vgl. EuGH, Slg. 1987, 3969, Rn. 10 – Kolpinghuis Nijmegen. EuGH, Slg. 1986, 723, Rn. 48 – Marshall I. 138 EuGH, Slg. 1994, I-3325, Rn. 24 – Faccini Dori; von dieser Rechtsprechung weicht der EuGH jedoch unverständlicherweise in Slg. 2005, I-9981-Mangold ab. 139 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33 Rn. 39. 140 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 33 Rn. 39; vgl. auch EuGH, Slg. 1970, 825 (838 f.) – Grad; EuGH, Slg. 1970, 881 (893 ff.) – Haselhorst. 141 Vgl. Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 310. 142 Vgl. Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 11; Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 3 f.; Niedobitek, VerwArch 2001, 73 f.; Kadelbach, 27 ff.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 52; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 11 Rn. 31. 143 Vgl. Niedobitek, VerwArch 2001, 73. 137
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kollisionen zwischen Bundes- und Landesrecht bei Art. 31 GG entwickelte Kollisionsbegriff144 deshalb ohne weiteres auf das Verhältnis zwischen Unionsrecht und nationalem Recht übertragen werden kann, weil dieser nicht verfassungsrechtlicher, sondern rechtslogischer Art ist.145 Nicht erforderlich ist, dass die kollidierende Norm des Unionsrechts einen Sachverhalt positiv regelt, sondern es liegt auch eine direkte Kollision vor, wenn ein Unionsrechtsakt bestimmte Inhalte eines nationalen Rechtsaktes oder den Erlass des Rechtsaktes als solchen verbietet und der Inhalt des nationalen Rechtsaktes oder dessen Erlass gegen das unionsrechtliche Verbot verstößt.146 Betrachtet man die Entscheidung des OVG Münster vom 28. Juni 2006, lag zum Zeitpunkt des Beschlusses eine direkte Kollision zwischen der Nieder- und Dienstleistungsfreiheit und dem Sportwettengesetz Nordrhein-Westfalen vor.147 Die unmittelbar anwendbare Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und Dienstleistungsfreiheit (Art. 57 AEUV) sind als Verbote formuliert und verbieten solche mitgliedstaatliche Regelungen, welche die Vermittlung von Sportwetten in andere Mitgliedstaaten untersagen, wenn das bestehende Staatsmonopol nicht wirklich dem Ziel dient, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern, und die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik ist.148 Im Beschlusszeitpunkt bestand deshalb zwischen dem Sportwettengesetz Nordrhein-Westfalen und der Dienst- und Niederlassungsfreiheit ein Widerspruch149 und mithin eine direkte Kollision, welche die Rechtsfolgen des Anwendungsvorrangs auslöst. Da die vom OVG Münster vorgebrachten Argumente für eine Relativierung des Anwendungsvorrangs nicht tragfähig sind, wäre das Gericht demnach verpflichtet gewesen, den Grundfreiheiten unbedingten Vorrang vor dem Sportwettenrecht in Nordrhein-Westfalen einzuräumen. (2) Indirekte Kollision Eine indirekte Kollision soll dagegen bei jeder sonstigen Beeinträchtigung der Wirksamkeit des Unionsrechts durch nationale Rechtsakte vorliegen,150 was insbesondere der Fall sein wird, wenn es zu Konflikten zwischen Normen kommt, die ver144
Vgl. BVerfGE 36, 342 (363). Niedobitek, VerwArch 2001, 73 f. 146 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 3. 147 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080): „Allerdings geht der Senat davon aus, dass sich die gegenwärtige Rechtslage in Nordrhein-Westfalen in derselben Weise im Widerspruch zur Nieder- und Dienstleistungsfreiheit befindet, wie sie dem Grundrecht der Berufsfreiheit aus Art. 12 I GG widerspricht. Dies folgt daraus, dass die vom EuGH insoweit zum Gemeinschaftsrecht formulierten Vorgaben und die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts parallel laufen.“ 148 Vgl. OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080); EuGH, NJW 2004, 139 (140) – Gambelli. 149 So auch das OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 150 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 4. 145
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schiedene Materien regeln.151 Der Konflikt tritt bei der indirekten Kollision nicht bei der Frage der Rechtsgewährung auf, sondern im Verhältnis zwischen unionsrechtlicher Rechtsgewährung und mitgliedstaatlicher Rechtsrealisierung.152 Eine indirekte Kollision liegt demnach vor, wenn das Unionsrecht dem Einzelnen ein Recht gewährt, ihm jedoch kein Instrument der Rechtsdurchsetzung zur Verfügung stellt und die Verwirklichung des Rechts daher mit Hilfe der mitgliedstaatlichen Rechtsordnungen erfolgen muss.153 Es ist dann Sache der Mitgliedstaaten, die zuständigen Gerichte zu bestimmen und die Verfahren auszugestalten, mit denen der Schutz der unionsrechtlich verbürgten Rechte gewährleistet wird,154 was freilich dazu führen kann, dass es zu „unvermeidlichen Unterschieden“ bei der Rechtsdurchsetzung unionsrechtlicher Rechte in den einzelnen Mitgliedstaaten kommt.155 (a) Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz Der Europäische Gerichtshof unterwirft die mitgliedstaatliche Rechtsdurchsetzung unionsrechtlich verbürgter Rechte daher dem Äquivalenz- und Effektivitätsgrundsatz. Die Anwendung des nationalen Rechts darf erstens die Tragweite und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Effektivitätsgrundsatz).156 Zweitens dürfen keine Unterschiede im Vergleich zu Verfahren gemacht werden, in denen über gleichartige, rein nationale Streitigkeiten entschieden wird (Äquivalenzgrundsatz).157 Eine indirekte Kollision des nationalen Verfahrensrechts mit dem Effektivitätsoder mit dem Äquivalenzgrundsatz hat zur Folge, dass die betreffende Verfahrensvorschrift, die zur Vereitelung der unionsrechtlichen Rechtsposition führte, unangewendet bleiben muss.158 Der Unterschied zwischen einer direkten und indirekten Kollision besteht dann darin, dass „bei einer direkten Kollision das nationale Recht die unionsrechtliche Rechtsposition als solche negiert, während es bei einer indirekten Kollision die unionsrechtliche Rechtsposition gewissermaßen durch die Hintertür sabotiert.“159 Die Unterscheidung zwischen den Kollisionsarten, die vom Gerichtshof derart begrifflich nicht durchgeführt wird, soll den Blick darauf richten, dass Kollisionen zwischen dem Unionsrecht und dem mitgliedstaatlichen Recht nicht immer leicht zu erkennen sind, womit jedoch keine Relativierung des Anwendungsvorrangs des Uni151 152 153 154 155 156 157 158 159
Kadelbach, 26. Niedobitek, VerwArch 2001, 74. Vgl. Niedobitek, VerwArch 2001, 74. Vgl. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 17 – Milchkontor. Vgl. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 21 – Milchkontor. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 22 – Milchkontor. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 23 – Milchkontor. Vgl. Niedobitek, VerwArch 2001, 76. Niedobitek, VerwArch 2001, 76.
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onsrechts verbunden ist.160 Auch bei indirekten Kollisionen greift ohne jede Einschränkung der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ein.161 (b) Übergangsfrist als indirekte Kollision? Teilweise wird die Überlegung angestellt, die vom Bundesverfassungsgericht eingeräumte Übergangsfrist, losgelöst von der direkten Kollision zwischen Grundfreiheiten und deutschem Sportwettenrecht während der Übergangszeit, selbst als indirekte Kollision einzustufen, da sich diese den Rechtsschutzregeln zuordnen lasse und der Gerichtshof bei mitgliedstaatlichen Regelungen dieser Gruppe deshalb regelmäßig von indirekten Kollisionen ausgehe, weil unionsrechtliche Vorgaben dazu fehlten.162 Die Einstufung der Übergangsfrist als indirekte Kollision habe nach Beljin zur Folge, dass diese der Äquivalenz- und Effektivitätskontrolle standhalten müsse.163 Die selbständige Einordnung der Übergangsfrist als indirekte Kollision begegnet Bedenken. Beljin ordnet diese deshalb als indirekte Kollision ein, weil er zu der Bewertung gelangt, dass die Übergangsfrist sowohl die Beseitigung des Verstoßes gegen die (deutschen) Grundrechte als auch gegen die Grundfreiheiten aufschiebe.164 Er begründet dies damit, dass in der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts jeder Hinweis auf eine Beschränkung auf rein innerstaatliche Sachverhalte fehle und nach dem Bundesverfassungsgericht die Sportwettenverbote in paralleler Weise die Berufsfreiheit und die Grundfreiheiten beeinträchtigen.165 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt die Übergangsfrist aber deshalb nicht auf innerstaatliche Sachverhalte, weil es sich für die Rüge der Verletzung europäischen Unionsrechts für unzuständig erklärt hat.166 Auch der Hinweis auf den Gleichlauf der verfassungsrechtlichen Vorgaben mit denen des Unionsrechts167 ändert nichts an der erklärten Unzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts, sondern erfolgte wohl allein zu dem Zweck, das gefundene Ergebnis unionsrechtlich abzusichern. Die Unzuständigkeit für die unionsrechtlichen Fragen wird zwar nicht befürwortet, führte aber nichtsdestotrotz dazu, dass Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts von der Übergangsfrist nicht erfasst wurden. Aus diesem Grund kann die 160
Zutreffend Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 27; auch Niedobitek, VerwArch 2001, 74 ff.; anders aber Kadelbach, 27 f. und 486: „Die Lösung einer indirekten Kollision wird hingegen durch ein Optimierungsgebot zugunsten des Gemeinschaftsrechts beeinflusst, das auf Rechtsanwendungsebene zu einer Abwägung zwischen den beteiligten Interessen zwingt. Die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Gemeinschaftsrechts wirken insoweit zum einen als Prinzipien, welchen diese Abwägung genügen muss.“ 161 So zutreffend Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 27. 162 So Beljin, NVwZ 2008, 159. 163 Vgl. dazu Beljin, NVwZ 2008, 159 ff. 164 Beljin, NVwZ 2008, 156. 165 Beljin, NVwZ 2008, 156. 166 Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261. 167 Vgl. BVerfG, NJW 2006, 1261 (1266 f.).
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Übergangsfrist auch nicht selbst als indirekte Kollision eingestuft werden, sondern ist unionsrechtlich indifferent. Davon unabhängig bleibt die Frage interessant, ob und unter welchen Umständen unionsrechtswidriges nationales Recht übergangsweise weiter angewendet werden kann. e) Wirkungen des Vorrangs für das nationale Recht aa) Geltungs- und Anwendungsvorrang Im Falle einer Kollision kann sich der Vorrang des Unionsrechts entweder dadurch durchsetzen, dass das entgegenstehende nationale Recht nichtig ist (Geltungsvorrang) oder dieses unangewendet bleibt (Anwendungsvorrang). Diese Frage hatte der EuGH in der Rechtssache „Costa/ENEL“ noch offen gelassen und schien in der Rechtssache „Simmenthal“ sogar zu einem Geltungsvorrang zu tendieren, da der Vorrang des Unionsrecht auch zur Folge habe, dass ein wirksames Zustandekommen neuer staatlicher Gesetzgebungsakte insoweit verhindert werde, als diese mit Normen des Unionsrechts unvereinbar seien.168 Später hat der Gerichtshof jedoch bekräftigt, dass das Unionsrecht nur die Wirkung eines Anwendungsvorrangs hat, indem er ausführt: „Aus dem Urteil Simmenthal kann nicht hergeleitet werden, dass die Unvereinbarkeit einer später ergangenen Vorschrift des innerstaatlichen Rechts mit dem Unionsrecht dazu führt, dass diese Vorschrift inexistent ist. In dieser Situation ist das nationale Gericht vielmehr verpflichtet, diese Vorschrift unangewendet zu lassen.“169 Der Anwendungsvorrang ist schonender für die nationalen Rechtsordnungen, da er diese weniger beeinträchtigt als ein Geltungsvorrang und der einheitlichen Geltung und Anwendung des Unionsrechts in den Mitgliedstaaten ebenfalls ausreichend Rechnung trägt.170 Ferner kann der Konflikt zwischen nationalem Recht und Unionsrecht durch eine spätere Änderung des Unionsrechts auch wieder aufgehoben werden.171 Die nationale Regelung hat somit fortwährend Geltungskraft und ist in allen Sachverhalten ohne Unionsbezug weiterhin anzuwenden, so dass beispielsweise das deutsche Reinheitsgebot aus dem Jahre 1516 Anwendung finden kann, wenn kein Unionsbezug gegeben ist.172
168
EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 17/18 – Simmenthal. EuGH, Slg. 1998, I-6307, Rn. 21 – IN.CO.GE.Ì90. 170 So auch Herdegen, § 11 Rn. 3; Streinz, Rn. 222. 171 Herdegen, § 11 Rn. 3. 172 Nach EuGH, Slg. 1987, 1227, Rn. 35 ff. – Reinheitsgebot für Bier verstieß die deutsche Regelung, nach der nur aus Malz, Hopfen, Hefe und Wasser hergestellte Erzeugnisse als Bier bezeichnet werden durften, gegen die Warenverkehrsfreiheit aus Art. 34 AEUV, da mithilfe einer Verpflichtung zu einer angemessenen Etikettierung den Erfordernissen des Verbraucherschutzes gebührend Rechnung getragen worden wäre. 169
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Greift der Anwendungsvorrang, tritt an die Stelle unanwendbaren nationalen Rechts – soweit vorhanden – subsumtionsfähiges Unionsrecht und im Übrigen das verbleibende nationale Recht.173 Der Anwendungsvorrang zeitigt seine Wirkungen also auch, wenn es kein subsumtionsfähiges Unionsrecht gibt und kann folglich (1) entweder nur das fragliche nationale Recht verdrängen oder (2) es unanwendbar machen und zusätzlich selbst unmittelbar zur Anwendung gelangen.174 bb) Änderungen durch den Vertrag von Lissabon Mit dem Vertrag von Lissabon wurde die vormals bestehende Säulenstruktur der Europäischen Union aufgehoben. Die Europäische Union tritt nach Art. 1 Abs. 3 S. 2 EUV an die Stelle der Europäischen Gemeinschaft, deren Rechtsnachfolgerin sie wird, womit die Unterscheidung zwischen dem Gemeinschaftsrecht und dem Unionsrecht ebenfalls der Vergangenheit angehört, was eine begrüßenswerte Reduktion der rechtlichen und begrifflichen Komplexität des Europarechts darstellt.175 (1) Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen Durch die Verschmelzung von Gemeinschaft und Union erfährt auch der Anwendungsvorrang eine Ausdehnung, da sich dieser nicht mehr nur auf das Gemeinschaftsrecht erstreckt.176 Die Regelungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen wurden in den Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechts (Art. 82 ff. AEUV) im Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union überführt und damit der supranationalen Gemeinschaftsrechtsmethodik unterworfen.177 Das führt dazu, dass nunmehr neben den bisherigen Normen des Gemeinschaftsrechts auch die Regelungen über die polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen imstande sind, im Kollisionsfall entgegenstehendes nationales Recht zu verdrängen.178 (2) Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Schwieriger ist dagegen die Frage zu beurteilen, ob nun auch die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik Vorrang vor dem mitgliedstaatlichen Recht genießen. Die Schwierigkeiten resultieren daraus, dass auch nach dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon die Unterscheidung zwischen supranationalen und intergouvernementalen Strukturen sowie Handlungsformen im Grundsatz er-
173 174 175 176 177 178
Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 4. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 5. Lindner, BayVBl. 2008, 422. Vgl. Hatje/Kindt, NJW 2008, 1762. Vgl. Lindner, BayVBl. 2008, 422 f. Vgl. Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 120.
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halten bleibt.179 Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik (Art. 23 ff. EUV), welche im EU-Vertrag geblieben ist und somit nicht in den Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union überführt wurde, gilt auch weiterhin der intergouvernementale Ansatz.180 Für die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik gelten nach Art. 24 Abs. 1 EUV besondere Bestimmungen und Verfahren. Sie wird vom Europäischen Rat und vom Rat einstimmig festgelegt und durchgeführt, soweit in den Verträgen nichts anderes vorgesehen ist. Der Erlass von Gesetzgebungsakten ist in diesem Bereich ausgeschlossen und der Gerichtshof ist für die Kontrolle der Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik grundsätzlich nicht zuständig (Art. 24 Abs. 1 EUV). Die spezifisch supranationalen Handlungsformen sind demnach nicht auf die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik anwendbar.181 Dieser Umstand spricht dafür, dass die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik nicht fähig sind, den Anwendungsvorrang vor nationalem Recht auszulösen und letzteres im Kollisionsfall in der Anwendung zu verdrängen.182 Teilweise wird jedoch angenommen, dass auch die Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik imstande seien, Anwendungsvorrang gegenüber nationalen Vorschriften zu entfalten, was vor allem darauf gestützt wird, dass nunmehr ebenfalls der (geänderte) EU-Vertrag Teil der eigenen Rechtsordnung sei, deren einheitliche Geltung auch einheitliche Rechtswirkungen verlange.183 Aus diesem Grund könnten die Rechtswirkungen des EU-Vertrages als „Grundlagenvertrag“ nicht hinter jenen des „Ausführungsvertrages“ zurückbleiben.184 Im Bereich der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik dürfte die Rolle des Vorrangs aufgrund der unterschiedlichen Bewertungsmöglichkeiten noch für Diskussionen sorgen.185 Nichtsdestotrotz spricht derzeit mehr dafür, auf Grundlage der weiterhin unterschiedlichen Struktur der Gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik den Anwendungsvorrang nicht auf diesen Bereich zu erstrecken. cc) Vorrang vor nationalem Verfassungsrecht Das Unionsrecht genießt auch Vorrang gegenüber nationalem Verfassungsrecht, was der Europäische Gerichtshof in der Rechtssache „Internationale Handelsgesell-
179
Lindner, BayVBl. 2008, 422. Vgl. Terhechte, EuR 2008, 149. 181 Vgl. Weber, EuZW 2008, 13. 182 Dahin tendieren wohl auch Lindner, BayVBl. 2008, 422 f.; unsicher Terhechte, EuR 2008, 154. 183 So Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 120. 184 Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 120. 185 Vgl. Terhechte, EuR 2008, 155. 180
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schaft“ deutlich gemacht hat.186 Aus der Perspektive des Unionsrechts gilt der Vorrang des Unionsrecht demnach absolut, d. h., es ist irrelevant, ob es sich auf der unionalen Seite um Normen des primären oder sekundären Unionsrechts handelt und ob es sich auf mitgliedstaatlicher Ebene um einfachgesetzliche Regelungen oder um Verfassungsrecht handelt.187 Der absolute Vorrang lässt sich aus Sicht des deutschen Rechts dagegen nicht durchhalten, da der Wirkungsanspruch des Unionsrechts durch den Rechtsanwendungsbefehl des Integrationsgesetzes in die deutsche Rechtsordnung inkorporiert wird.188 Der deutsche Rechtanwendungsbefehl unterliegt daher den verfassungsrechtlichen Grenzen der deutschen Integrationsgewalt und findet diese materiellrechtlich in der „Grenze des Übertragbaren“ und kompetenzrechtlich in der „Grenze des Übertragenen“.189 Die „Grenze des Übertragbaren“ bezeichnet den materiellen Kernbestand staatlicher Eigenheit, welcher einer rechtlichen Europäisierung verschlossen ist,190 der Vorrang des Unionsrechts kann in diesem Bereich nicht greifen. Dieser Kernbereich erstreckt sich nach Art. 23 Abs. 1 S. 3 GG auf die Gewährleistungen des Art. 79 Abs. 3 GG, d. h. die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung und die in den Art. 1 und 20 GG niedergelegten Grundsätze. Die „Grenze des Übertragenen“ schützt vor kompetenzübersteigenden Sekundärhandeln (sog. „ultra vires Akte“), weil der in den deutschen Zustimmungsgesetzen enthaltene Rechtsanwendungsbefehl auf das im Primärrecht angelegte Integrationsprogramm beschränkt ist.191 Spätere wesentliche Änderungen des Integrationsprogramms und der primärrechtlichen Handlungsermächtigungen durch die Europäische Union werden demnach nicht mehr vom Zustimmungsgesetz gedeckt.192 Das Bundesverfassungsgericht prüft diesbezüglich, ob Rechtsakte der europäischen Einrichtungen und Organe sich in den Grenzen der ihnen eingeräumten Hoheitsrechte halten oder aus ihnen ausbrechen.193 Wenngleich zwischen der unionsrechtlichen und deutschen Perspektive Diskrepanzen zum Vorschein treten, ist der Unterschied bisher ausschließlich von theoreti186 EuGH, Slg. 1970, 1125, Rn. 3 – Internationale Handelsgesellschaft: „Daher kann es die Gültigkeit einer Gemeinschaftshandlung oder deren Geltung in einem Mitgliedstaat nicht berühren, wenn geltend gemacht wird, die Grundrechte in der ihnen von der Verfassung dieses Staates gegebenen Gestalt oder die Strukturprinzipien der nationalen Verfassung seien verletzt.“ 187 Vgl. Terhechte, JuS 2008, 403. 188 Vgl. Dörr, 140. 189 Vgl. Dörr/Lenz, Rn. 391. 190 Dörr/Lenz, Rn. 392. 191 Vgl. Dörr/Lenz, Rn. 394. 192 BVerfGE 89, 155 (156) – Maastricht. 193 BVerfGE 89, 155 (156) – Maastricht.
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scher Bedeutung und praktisch deshalb irrelevant, weil das Bundesverfassungsgericht bis dato in keinem Fall die vorrangige Anwendbarkeit des Unionsrechts in Deutschland verneint hat.194 dd) Vorrang gegenüber nationalen Einzelakten Der Anwendungsvorrang erfasst neben abstrakt-generellen Rechtsakten auch konkret-individuelle Verwaltungsentscheidungen (z. B. Verwaltungsakte).195 Das ist darauf zurückzuführen, dass der Rechtsschutz nicht von der Art der entgegenstehenden Bestimmung des innerstaatlichen Rechts abhängen kann.196 Es wäre nämlich nicht zu rechtfertigen, wenn der Individualrechtsschutz, der sich aus der unmittelbaren Wirkung des Unionsrechts ergibt und den die innerstaatlichen Gerichte zu gewährleisten haben, nur deshalb verweigert würde, weil es um die Gültigkeit eines Verwaltungsaktes geht.197 ee) Adressaten des Anwendungsvorrangs Adressaten des Anwendungsvorrangs sind neben Gerichten auch nationale Behörden.198 Diese haben von Amts wegen nationales Recht auf die Unionsrechtskonformität zu überprüfen und im Konfliktfalle außer Anwendung zu lassen.199 Gerichte haben anders als bei angenommener Verfassungswidrigkeit eines Gesetzes, die sie nach Art. 100 Abs. 1 GG zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht verpflichtet, insoweit kraft Unionsrechts selbst die Verwerfungskompetenz.200 Die Normkontrollbefugnis deutscher Gerichte nach Unionsrecht geht damit deutlich weiter als nach deutschem Verfassungsrecht.201 Die unmittelbare Anwendbarkeit und der Vorrang des Unionsrechts können der Verwaltung nicht unwesentliche Schwierigkeiten bereiten, da der Sinngehalt des Unionsrechts nicht immer eindeutig ist und Behörden anders als nationale Gerichte nach Art. 267 AEUV bei Zweifeln über die richtige Auslegung des Unionsrechts nicht den Europäischen Gerichtshof anrufen können.202 Aus diesem Grund ist in der Literatur vorgeschlagen worden, die Nichtanwendungspflicht auf eindeutige Verstöße des na-
194
Vgl. Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 17. Vgl. Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 6; Terhechte, JuS 2008, 404; EuGH, Slg. 1999, I-2517, Rn. 33 – Ciola. 196 Vgl. EuGH, Slg. 1999, I-2517, Rn. 33 – Ciola. 197 EuGH, Slg. 1999, I-2517, Rn. 33 – Ciola. 198 Vgl. EuGH, Slg. 2003, I-8055, Rn. 49 – Fiammiferi. 199 Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 4. 200 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal II. 201 Dörr/Lenz, Rn. 390. 202 Vgl. Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 39. 195
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tionalen Rechts gegen das Unionsrecht zu begrenzen.203 In der Rechtsprechung des Gerichtshofs lässt sich eine solche Einschränkung jedoch nicht festmachen. Vielmehr betont er, dass es widersprüchlich wäre, wenn sich der Einzelne zwar vor mitgliedstaatlichen Gerichten auf das Unionsrecht berufen könnte, die Verwaltung aber nicht verpflichtet wäre, das Unionsrecht uneingeschränkt anzuwenden.204 Die in der Literatur vorgeschlagene Begrenzung auf eindeutige Verstöße liefe auf eine zu weit gehende Relativierung des Anwendungsvorrangs voraus und ist deshalb abzulehnen.205 f) Relativierung des Anwendungsvorrangs? aa) Zur deutschen Rechtsprechung Die bisherigen Erkenntnisse deuten nicht daraufhin, dass eine Relativierung des Anwendungsvorrangs möglich erscheint. Dem Vorrang des Unionsrechts kommt nämlich eine schlechterdings essentielle, jede Relativierung ausschließende Bedeutung zu, weil die Union sich als Rechtsgemeinschaft selbst aufgeben würde, wenn der Umfang der Durchsetzung des Unionsrechts den Mitgliedstaaten überlassen bliebe.206 Das OVG Saarlouis hat insofern zutreffend darauf hingewiesen, dass der EuGH in seiner Rechtsprechung prinzipiell von der aktuellen Anwendungspflicht unmittelbar anwendbaren Unionsrechts durch alle staatlichen Träger ausgeht.207 Besonders deutlich sind diesbezüglich die Aussagen des Gerichtshofs in der Rechtssache „Simmenthal“, in welcher der EuGH wie folgt formuliert: „Aus alledem folgt, dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Gemeinschaftsrecht208 uneingeschränkt anzuwenden und die Rechte, die es den Einzelnen verleiht, indem er jede möglicherweise entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts, gleichgültig, ob sie früher oder später als die Gemeinschaftsnorm ergangen ist, unangewendet lässt. Sonach wäre jede Bestimmung einer nationalen Rechtsordnung oder jede Gesetzgebungs-, Verwaltungs- oder Gerichtspraxis mit den in der Natur des Gemeinschaftsrechts liegenden Erfordernissen unvereinbar, die dadurch zu einer Abschwächung der Wirksamkeit des Gemeinschaftsrechts führen würde, dass dem für die Anwendung dieses Rechts zuständigen Gericht die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt dieser Anwendung alles Erforderliche zu tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit der Gemeinschaftsnormen
203 204 205 206 207 208
Vgl. Zuleeg, 217; Everling, DVBl. 1985, 1201 f. Vgl. EuGH, Slg. 1989, 1839, Rn. 31 – Constanzo. So auch Ehlers, in: Schulze/Zuleeg/Kadelbach, § 11 Rn. 39; Herdegen, § 11 Rn. 1. Ehlers/Eggert, JZ 2008, 587. OVG Saarlouis, NVwZ 2007, 717 (722 f.). Seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon am 1. 12. 2009 Unionsrecht.
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
bilden.“209 Diese Rechtsprechung hat der EuGH mehrfach bestätigt.210 Es ist demnach einem Mitgliedstaat verwehrt, einer innerstaatlichen Vorschrift Vorrang vor einer entgegenstehenden Norm des Unionsrechts einzuräumen.211 Auf der Grundlage dieser Rechtsprechung, welche die uneingeschränkte Anwendung des Unionsrechts herausstellt, mit welcher auch die Verpflichtung von innerstaatlichen Stellen verbunden ist, dem Vorrang des Unionsrecht ohne jegliche zeitliche Verzögerung zur vollen Wirksamkeit zu verhelfen, vermögen „inakzeptable Gesetzeslücken“ im nationalen Recht212 den Anwendungsvorrang nicht einzuschränken. Der Aussage des OVG Münster, dass dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts „und der damit korrespondierenden Nichtanwendungspflicht hinsichtlich des nationalen Rechts gewisse Grenzen gesetzt sind“, kann demnach nur entschieden widersprochen werden. bb) Ansatz bei Ehlers/Eggert Einen anderen Lösungsweg suchen dagegen Ehlers und Eggert, nach denen es ähnlich wie im deutschen Recht auch im Unionsrecht geboten sein könne, eine unionsrechtswidrige Norm übergangsweise weiter anzuwenden. Eine übergangsweise weitere Anwendung soll möglich sein, wenn durch die Unanwendbarkeit unionsrechtswidrigen nationalen Rechts im nationalen Rechtskreis ein Zustand geschaffen würde, welcher der Unionsrechtsordnung noch ferner stünde als eine befristete weitere Anwendung nationalen Rechts.213 Der Anwendungsvorrang könne nämlich mit gegenläufigen unionsrechtlichen Regelungen oder Grundsätzen, wie z. B. dem unionsrechtlichen Grundsatz der Rechtssicherheit, in Widerstreit geraten. Ehlers/Eggert räumen zwar ein, dass eine flexible Bestimmung des Zeitpunkts der Unanwendbarkeit einer nationalen Norm, die mit dem Unionsrecht kollidiert, mittelbar die Effektivität und Einheitlichkeit des Unionsrechts beeinträchtige; auf diesem Wege würden jedoch nur die sich aus dem Unionsrecht selbst ergebenden unterschiedlichen Anforderungen zum Ausgleich gebracht, womit dem Gebot der Widerspruchsfreiheit und Einheit der Rechtsordnung Rechnung getragen würde.214 Die Entscheidungszuständigkeit für diese Frage liege aber nicht bei den nationalen Gerichten, sondern allein bei der Unionsgerichtsbarkeit, was Ehlers/Eggert vor allem mit der Foto-Frost-Rechtsprechung des EuGH begründen, da es nach dieser allein der Unionsgerichtsbarkeit vorbehalten sei, die Ungültigkeit einer Unionshandlung festzustellen.215 Die Übergangsfristen führten dazu, dass Primär- und nicht nur Sekundär209
EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. Vgl. EuGH, Slg. 1993, I-4287, Rn. 9 – Levy; EuGH, Slg. 1998, I-937, Rn. 30 – Solred; EuGH, Slg. 1998, I-6307, Rn. 20 – IN.CO.GE.Ì90. 211 So ausdrücklich der EuGH, Slg. 1998, I-6307, Rn. 20 – IN.CO.GE.Ì90. 212 So das OVG Münster, NVwZ 2006, 1078 (1080). 213 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 589. 214 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 589. 215 Ehlers/Eggert, JZ 2008, 590. 210
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recht im Ergebnis unangewendet bleibe. Es obliege daher allein der Unionsgerichtsbarkeit zu entscheiden, ob eine übergangsweise Hinnahme unionsrechtswidrigen Rechts zulässig sei, wie lange die Übergangsfrist zu bemessen sei und welche Maßnahmen während dieser Zeit noch hingenommen werden könnten.216 Ehlers/Eggert plädieren jedoch nicht für eine Orientierung an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts, welches überaus häufig nur die bloße Unvereinbarkeit feststellt und die Fortgeltung bis zur gesetzlichen Neuregelung anordnet, sondern eine vorübergehende Hinnahme des unionsrechtswidrigen Zustandes komme nur in Betracht, wenn sich eine aus der Sicht des Unionsrechts nicht hinnehmbare Gesetzeslücke andernfalls nicht vermeiden lasse, wozu strenge Maßstäbe anzulegen seien.217 Bei dem vom OVG Münster entschiedenen Fall handele es sich nicht um einen solchen Ausnahmefall.218 cc) Anmerkungen Die von Ehlers/Eggert vorgeschlagene Lösung konzentriert sich demnach auf zwei Fragen, nämlich ob ein Ausgleich von unterschiedlichen unionsrechtlichen Anforderungen dazu führen kann, dass unionsrechtswidriges nationales Recht vorübergehend hinzunehmen ist und ob dies im Einzelfall nur vom Europäischen Gerichtshof oder auch von mitgliedstaatlichen Gerichten entschieden werden kann. (1) Entscheidungszuständigkeit des EuGH Hinsichtlich der zweiten Frage ist Ehlers/Eggert zuzustimmen. Falls der Gerichtshof eine übergangsweise Hinnahme von nationalem Recht, das gegen das Unionsrecht verstößt, für möglich hält, muss das Entscheidungsmonopol in dieser Fragestellung auch bei ihm liegen. In der Rechtssache „Foto-Frost“ hat sich der EuGH mit der Vorlagepflicht unterinstanzlicher Gerichte nach Art. 267 Abs. 2 AEUV beschäftigt und deutlich gemacht, dass Art. 267 Abs. 2 AEUV mit der Vorlageberechtigung unterinstanzlicher Gerichte nicht die Frage entschieden hat, ob diese Gerichte selbst die Ungültigkeit von Handlungen der Unionsorgane feststellen können.219 Nationale Gerichte, deren Entscheidungen selbst noch mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, sind zwar dazu befugt, die Gültigkeit einer Unionshandlung zu prüfen und diese positiv festzustellen, sie können Handlungen der Unionsorgane aber nicht für ungültig erklären.220 Der EuGH stützt seine Rechtsansicht dabei auf den Zweck von Art. 267 AEUV, der die einheitliche Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichten gewährleistet, sowie 216 217 218 219 220
Ehlers/Eggert, JZ 2008, 591. Ehlers/Eggert, JZ 2008, 590. Ehlers/Eggert, JZ 2008, 590. EuGH, Slg. 1987, 4199, Rn. 13 – Foto Frost. EuGH, Slg. 1987, 4199, Rn. 14 f. – Foto Frost.
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auf die Kohärenz des vom Vertrag geschaffenen Rechtsschutzsystems, da Art. 263 AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für die Nichtigerklärung der Handlungen von Unionsorganen dem EuGH zuweist, weshalb die Feststellung der Ungültigkeit einer Handlung, wenn sie vor einem nationalen Gericht geltend gemacht wird, ebenfalls dem Gerichtshof vorbehalten ist.221 Zu beachten ist jedoch, dass sich die „Foto-Frost-Entscheidung“ nur auf die Gültigkeit von Sekundärrecht erstreckt und es sich beim Anwendungsvorrang als Rechtsanwendungsregel um einen Bestandteil des Primärrechts handelt.222 Die Grundsätze der „Foto-Frost-Entscheidung“ müssen aber erst recht gelten, wenn an sich einschlägiges Primärrecht unangewendet bleiben soll,223 womit in diesen Fällen eine Vorlagepflicht aller nationalen Gerichte besteht. An diesem Ergebnis ändert auch der Umstand nichts, dass auch der EuGH nach Art. 267 Abs. 1a AEUV nur zur Auslegung des Primärrechts befugt ist und dieses nicht – wie das Sekundärrecht gemäß Art. 267 Abs. 1b AEUV – für ungültig erklären kann. Wenngleich dem EuGH keine Verwerfungskompetenz bezüglich des primären Unionsrechts zukommt, so kann er doch positiv dessen Gültigkeit und die uneingeschränkte oder eingeschränkte Anwendung des Vorrangs des Unionsrechts auf bestimmte Bereiche, wie z. B. Sportwetten, feststellen.224 Festzuhalten ist damit, dass das Entscheidungsmonopol für eine vorübergehende Hinnahme unionsrechtswidrigen nationalen Rechts beim Europäischen Gerichtshof liegt. (2) Vorübergehende Hinnahme unionsrechtswidrigen nationalen Rechts Der Ansatz von Ehlers/Eggert hat gegenüber dem OVG Münster, welches die Suspendierung des Anwendungsvorrangs allein mit inakzeptablen Gesetzeslücken im nationalen Recht und somit rein national begründet, den Vorteil, dass die miteinander in Einklang zu bringenden Rechtsgüter allein im Unionsrecht verortet werden. Allerdings lässt sich auch für eine solche Lösung die Rechtsprechung des Gerichtshofs nicht fruchtbar machen. Insbesondere die später mehrfach bestätigten Aussagen in der Rechtssache „Simmenthal“ sprechen gegen eine Beschränkung des Anwendungsvorrangs in zeitlicher Hinsicht. Das zuständige nationale Gericht muss hiernach bereits zum Zeitpunkt der Rechtsanwendung alles Erforderliche tun, um diejenigen innerstaatlichen Rechtsvorschriften auszuschalten, die unter Umständen ein Hindernis für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts bilden.225 Im Falle einer Kollision kommt demnach der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zum Tragen und 221
EuGH, Slg. 1987, 4199, Rn. 17 – Foto Frost. Vgl. BVerfGE 75, 223 (244): „ungeschriebene Norm des primären Gemeinschaftsrechts“; Streinz, in: ders., Art. 249 EGV Rn. 41. 223 So auch Kruis, EuZW 2006, 608. 224 So auch Terhechte, EuR 2006, 842. 225 EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. 222
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setzt sich gegenüber nationalem Recht ohne zeitliche Verzögerung uneingeschränkt durch. Die Möglichkeit, den Anwendungsvorrang mit anderen unionrechtlichen Rechtsgütern in die Abwägung einzustellen, ist in der Rechtsprechung des Gerichtshofs somit bisher nicht anerkannt. Es spricht auch nicht viel dafür, dass sich der EuGH hinsichtlich dieser Fragestellung an der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts orientieren wird. Den Grund der Unvereinbarerklärung sieht das höchste deutsche Gericht in der Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers oder darin, dass die Nichtigkeit des Gesetzes einen Zustand zur Folge hätte, der noch weniger mit dem Grundgesetz vereinbar wäre als die Rechtslage, die als verfassungswidrig beurteilt wurde. Letzteres legt dem Bundesverfassungsgericht eine Folgenverantwortung dahingehend auf, die Entstehung eines Rechtsvakuums oder von Regelungsdefiziten zu verhindern. Der Anwendungsvorrang als Kollisionsregel trifft jedoch keine Geltungsentscheidung über die nationale Norm, die daher weder rechtswidrig noch nichtig ist.226 Die Folgenverantwortung für ein entstehendes Rechtsvakuum hat deshalb zwar das Bundesverfassungsgericht zu beachten, für den EuGH gilt dies jedoch nicht gleichermaßen. Dies spricht ebenfalls gegen eine Relativierung des Anwendungsvorrangs.227 dd) Zwischenergebnis Der Anwendungsvorrang ist nicht relativierbar und eine übergangsweise weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts damit ausgeschlossen.
3. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot in der Rechtssache C-409/06 Am 26. Januar 2010 hat der Generalanwalt Yves Bot seine Schlussanträge in der Rechtssache C-409/06, welche die Vorlagefragen des VG Köln betreffen, veröffentlicht. a) Funktion der Generalanwälte Die Generalanwälte unterstützen nach Art. 252 Abs. 1 AEUV den Gerichtshof. Sie stellen nach Art. 252 Abs. 2 AEUV öffentlich in völliger Unparteilichkeit und Unabhängigkeit begründete Schlussanträge zu den Rechtssachen, in denen nach der Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union die Mitwirkung erforderlich ist. Bei der Institution des Generalanwalts handelt es sich um eine Einrichtung, die aus dem französischen Rechtsraum stammt und im deutschsprachigen Raum unbekannt ist.228 Die Generalanwälte haben eine wichtige Funktion innerhalb der dem Ge226 227 228
Vgl. Funke, DÖV 2007, 735, 738. In die Richtung auch Funke, DÖV 2007, 740. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 3 Rn. 10.
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richtshof zugewiesenen Rechtsprechungsaufgabe, da sie mit den von ihnen erstatteten Schlussanträgen am Entstehen der künftigen Entscheidung des Gerichtshofs mitwirken.229 Im Verfahrensverlauf erfolgen die Schlussanträge nach Art. 59 EuGH-Verfahrensordnung zum Schluss der mündlichen Verhandlung. b) Ausführungen des Generalanwalts Die Ausführungen des Generalanwaltes stützen das hier gefundene Ergebnis, da er dem Gerichtshof empfiehlt, dem VG Köln zu antworten, dass ein Gericht eines Mitgliedstaats seine nationale Regelung über Sportwetten nicht ausnahms- und übergangsweise weiter anwenden darf, wenn diese Regelung eine nicht gerechtfertigte Beschränkung der Dienstleistungsfreiheit darstellt, weil sie nicht in kohärenter und systematischer Weise zur Begrenzung der Wetttätigkeiten beiträgt.230 Aus der Verneinung der ersten Vorlagefrage resultiert folgerichtig, dass der Generalanwalt eine Prüfung der zweiten Vorlagefrage nicht für erforderlich hält.231 Bei seinen Erörterungen geht der Generalanwalt ebenfalls von den Ausführungen des Gerichtshofs in dem Urteil „Simmenthal“ aus, auf die er mehrfach hinweist und zurückgreift.232 Er diskutiert sodann – auf Grundlage der Begründung der Vorlagefragen durch das VG Köln233 – unter zwei unterschiedlichen Gesichtspunkten, ob von der im Urteil „Simmenthal“ aufgestellten Verpflichtung zur uneingeschränkten Anwendung des Unionsrechts durch nationale Behörden und Gerichten abgewichen werden kann. aa) Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Der erste Grund ist die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts, in welcher die streitige Regelung bis zum 31. Dezember 2007 aufrechterhalten wird.234 Wenngleich diese nur die bayerische Rechtslage betraf, weist der Generalanwalt zutreffend daraufhin, dass das Bundesverfassungsgericht mit Beschluss vom 2. August 2006 die gleichen Übergangsmaßnahmen hinsichtlich der Regelung des Landes Nordrhein-Westfalen getroffen hat.235 Generalanwalt Yves Bot macht deutlich, dass die Kontrolle der Verfassungsmäßigkeit und die der Vereinbarkeit mit dem Unionsrecht ihre Wirkungen entfalten kön229
Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 3 Rn. 11. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 120. Die Schlussanträge sind noch nicht in der amtlichen Sammlung erschienen, sind aber abrufbar unter http://curia.europa.eu/jurisp/cgi-bin/form.pl?lang=de, Aktenzeichen: C-409/06. 231 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 121. 232 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 70, 74, 96, 97, 99, 119, 121. 233 Vgl. VG Köln, GewArch 2006, 467 f. 234 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 66. 235 Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 65. 230
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nen müssen, ohne miteinander in Widerspruch zu geraten.236 „Eine Entscheidung des Verfassungsgerichts, mit der die aus der Unvereinbarkeit der nationalen Rechtsvorschrift mit der Verfassung zu ziehenden zeitlichen Konsequenzen zeitlich hinausgeschoben werden, überlagert nicht die Pflicht des nationalen Richters, den Vorrang des Unionsrechtsrechts immer dann sicherzustellen, wenn er sich einem derartigen Konflikt gegenübersieht.“237 Das führt dazu, dass im Ausgangsfall der Umstand, dass die streitige Regelung auch gegen das Grundgesetz verstößt und dass das Bundesverfassungsgericht entschieden hat, sie für eine Übergangszeit aufrechtzuerhalten, in keiner Weise die Verpflichtung des vorlegenden Gerichts mindert, die Regelung in dem bei ihm anhängigen Rechtsstreit unangewendet zu lassen, wenn es der Auffassung ist, sie verstößt gegen die Dienstleistungsfreiheit.238 bb) Gesetzeslücken im nationalen Recht Der zweite Grund ist die Notwendigkeit, eine Gesetzeslücke zu vermeiden, die für die Verbraucher im Land Nordrhein-Westfalen nachteilig sein könnte.239 Das führt zur Würdigung der Frage, ob die streitige Regelung, obwohl sie gegen die Dienstleistungsfreiheit verstößt, so lange aufrechterhalten werden kann, bis die zuständigen nationalen Stellen eine neue Regelung erlassen haben, die mit dem Unionsrecht vereinbar ist.240 „Eine solche Aufrechterhaltung hätte den Zweck, zu verhindern, dass während dieser Frist eine Gesetzeslücke entsteht, die es allen Anbietern von Sportwetten, die in anderen Mitgliedstaaten niedergelassen sind, erlauben würde, den Verbrauchern im Land Nordrhein-Westfalen ihre Wetten anzubieten, ohne dass andere Regulierungsmaßnahmen bestünden als die in ihrem Herkunftsland geltenden.“241 Der Generalanwalt hält eine solche Aufrechterhaltung nicht für möglich, da die übergangsweise Aufrechterhaltung der streitigen Regelung den Vorrang des Unionsrechts und den Anspruch auf effektiven Rechtsschutz beeinträchtigte.242 Hinsichtlich des Anwendungsvorrangs ist die Beeinträchtigung offenkundig.243 Der effektive Rechtsschutz würde in Abrede gestellt, weil das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV sowie die unmittelbare Wirkung der Grundfreiheiten es gerade dem Einzelnen ermöglichen sollen, sich gegen eine Rechtsvorschrift eines Mitgliedstaats zu wenden und zu erreichen, dass sie auf ihn nicht angewandt wird, wenn sie
236 237 238 239 240 241 242 243
Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 72. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 72. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 73. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 66. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 75. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 76. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 83 f. Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 101.
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C. Konflikte mit dem Unionsrecht
gegen das Unionsrecht verstößt.244 Auch der zweite Grund führt demnach nicht dazu, dass von der im Urteil „Simmenthal“ aufgestellten Verpflichtung mitgliedstaatlicher Stellen zur uneingeschränkten Anwendung des Unionsrechts abgewichen werden kann. c) Zusammenfassung Der Generalanwalt Yves Bot hält in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C409/06 die übergangsweise Aufrechterhaltung einer nationalen Norm, die gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstößt, für nicht möglich und stützt damit das hier gefundene Zwischenergebnis.
4. Ergebnis Die Aufrechterhaltung von nationalem Recht, das gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstößt, ist ausgeschlossen.
244
Vgl. Schlussanträge des Generalanwalts Yves Bot vom 26. Januar 2010, Rn. 105.
D. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte Dem Bundesverfassungsgericht erwächst heutzutage von zwei Seiten Konkurrenz1: Einerseits supra- bzw. international durch den Europäischen Gerichtshof in Luxemburg und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg und andererseits innerstaatlich durch die Verfassungsgerichte der Länder.2 Gegenüberstellungen des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof auf der einen sowie den Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite werden zwar selten angestellt, können aber im Mehrebenensystem als Vergleichsfolie durchaus hilfreich sein,3 da das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Europarechts zum Europäischen Gerichtshof in einem ähnlichen Verhältnis steht wie ein Landesverfassungsgericht zum Bundesverfassungsgericht,4 wenngleich das Bundesverfassungsgericht davon ausgeht, dass es sich bei der Europäischen Union nicht um einen Bundesstaat, sondern nur um einen Staatenverbund handelt.5 Aus diesem Grund sind die Beziehungen und Verflechtungen nur ähnlich und nicht identisch, was dazu führen kann, dass die Kompetenzen der mitgliedstaatlichen Verfassungsgerichtsbarkeit noch etwas eigenständiger und stärker sind als die der Landesverfassungsgerichte bei einem Bundesstaat.6 Ein derartiger Vergleich kann dazu führen, mögliche Missstände und strukturelle Mängel, die im Verhältnis vom Bundesverfassungsgericht zum EuGH bestehen, aufzudecken und mithilfe der Beziehung zwischen Landesverfassungsgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgerichtsbarkeit nach Lösungen zu suchen, die zu einem Mehr an Rechtsschutz in der Europäischen Union führen. Und eines darf nicht übersehen werden: Gerade im Bereich der Gerichtsbarkeit sind die Verflechtungen zwischen der Europäischen Union und den Mitgliedstaaten besonders groß. Unionsrecht
1 Der Begriff wird im Anschluss an den Vierten Beratungsgegenstand: „Rechtsprechungskonkurrenz zwischen nationalen Verfassungsgerichten, Europäischem Gerichtshof und Europäischem Gerichtshof für Menschenrechte“ der Staatsrechtslehrertagung 2006 gewählt, vgl. VVDStRL 66, 361 ff. 2 Schlaich/Korioth, Rn. 346. 3 Dass ein solcher Vergleich interessant sein kann, wird auch von Oeter, in: VVDStRL 66, 362 angedeutet. 4 So auch Böckstiegel, LKV 1994, 359. 5 Vgl. BVerfG, NJW 1993, 3047 – Maastricht. 6 Vgl. auch Böckstiegel, LKV 1994, 359 Fn. 58.
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und nationales Wirtschaftsverfassungsrecht bilden materiellrechtlich eine Einheit,7 sodass vom Richter ein kontinuierliches Zusammenfügen und Zusammenführen von Recht aus unterschiedlicher Quelle verlangt wird.8 Der Blick des das Europarecht anwendenden Richters wandert also stets zwischen deutschem Gesetzesrecht, Europarecht und Verfassungsrecht.9 Betrachtet man das Rechtsprechungschaos im Anschluss an die Sportwettenentscheidung, so resultierte dieses maßgeblich aus dem Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts im Verfassungsbeschwerdeverfahren, welcher das Unionsrecht nicht umfasst. Etwas anderes gilt jedoch für die Landesverfassungsgerichte bei Landesverfassungsbeschwerden, da das Grundgesetz bei Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte Berücksichtigung findet,10 obwohl die Verfassungsräume des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander stehen.11 Diese Rückkoppelung der Landesverfassungsgerichte an das Grundgesetz führt zu adäquaten Ergebnissen. Es wird dadurch auch ausgeschlossen, dass Landesverfassungsgerichte Normen des Landesrechts, die sowohl gegen die Landesverfassung als auch gegen das Grundgesetz verstoßen, übergangsweise für weiter anwendbar erklären. Die Unvereinbarerklärung als alternative Entscheidungsvariante steht nämlich nicht nur dem Bundesverfassungsgericht, sondern auch den Landesverfassungsgerichten zu.12
I. Vergleichbarkeit der Ebenen Eine Gegenüberstellung des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof auf der einen sowie den Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite setzt die Vergleichbarkeit der Ebenen voraus. Diese ist möglich, wenn es sich bei der Europäischen Union wie auch bei der Bundesrepublik um ein föderales System handelt.
1. BVerfG: Europäische Union als Staatenverbund Das Bundesverfassungsgericht versteht die Europäische Union als Staatenverbund und hat diesen in seinem Urteil zum Vertrag von Lissabon wie folgt definiert: „Der Begriff des Verbunds erfasst eine enge, auf Dauer angelegte Verbindung souve7
Vgl. Pernice, VVDStrL 60, 172 ff. Bungenberg, DVBl. 2007, 1413. 9 So Kirchhof, in: Cremer/Giegerich/Richter/Zimmermann, 1235. 10 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 350. 11 Vgl. BVerfGE 4, 178 (189). 12 Vgl. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 85. 8
I. Vergleichbarkeit der Ebenen
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rän bleibender Staaten, die auf vertraglicher Grundlage öffentliche Gewalt ausübt, deren Grundordnung jedoch allein der Verfügung der Mitgliedstaaten unterliegt und in der die Völker – das heißt die staatsangehörigen Bürger – der Mitgliedstaaten die Subjekte demokratischer Legitimation bleiben.“13 Das von der Präambel und Art. 23 Abs. 1 GG vorgegebene Integrationsziel sage zwar nichts über den endgültigen Charakter der politischen Verfasstheit Europas, jedoch ermächtige das Grundgesetz die für Deutschland handelnden Organe nicht, durch einen Eintritt in einen Bundesstaat das Selbstbestimmungsrecht des Deutschen Volkes in Gestalt der völkerrechtlichen Souveränität aufzugeben.14 Ein solcher Schritt sei allein dem unmittelbar erklärten Willen des Deutschen Volkes vorbehalten.15 Für eine derartige Rückstufung Deutschlands zu einem Gliedstaat einer europäischen Föderation biete im geltenden Verfassungsrecht allein Art. 146 GG eine tragfähige normative Grundlage.16 Allerdings räumt auch das Bundesverfassungsgericht ein, dass die Europäische Union zur Ausübung supranationaler Zuständigkeiten befugt ist und dass das europäische Primärrecht eine im politischen Alltag durchaus weitreichende überstaatliche Autonomie begründet.17 Der Begriff des Staatenverbundes ist ein hilfreicher Ausgangspunkt der Charakterisierung der Europäischen Union, indem die Definition des Bundesverfassungsgerichts zum einen herausstellt, dass es sich um eine enge und auf Dauer angelegte Staatenverbindung handelt und dass diese auch selbst öffentliche Gewalt auszuüben vermag. Andererseits hat die Bundesrepublik Deutschland ihre völkerrechtliche Souveränität (bisher) nicht aufgegeben. Die völkerrechtliche Souveränität ist ein qualitatives Unterscheidungsmerkmal zwischen staatlichen und nichtstaatlichen Staatenverbindungen.18 Unter ihr versteht man die Unterwerfung unter keine andere Rechtsmacht als diejenige des Völkerrechts bzw. die geborene Fähigkeit, Träger völkerrechtlicher Rechte und Pflichten zu sein, verbunden mit der gleichberechtigten Teilhabe am Rechtssetzungsprozess des Völkerrechts.19 Die geborene Völkerrechtssubjektivität hat in Bundesstaaten nur der Bund und nicht die Gliedstaaten, bei Staatenbünden dagegen nur die Mitgliedstaaten; die Völkerrechtsfähigkeit des Staatenbundes ist nur eine von den Mitgliedstaaten abgeleitete.20 Letzteres gilt auch für die Europäische Union, welche nach Art. 47 EUV Rechtspersönlichkeit besitzt.21 Art. 47 EUV ist nur eine abstrakte Zuweisungsnorm, durch die der Union keine Kom-
13 14 15 16 17 18 19 20 21
BVerfG, NJW 2009, 2267 (2271). BVerfG, NJW 2009, 2267 (2270 f.). BVerfG, NJW 2009, 2267 (2271). Dreier, in: ders., Art. 146 Rn. 16. BVerfG, NJW 2009, 2267 (2271). Giegerich, Europäische Verfassung, 336. Giegerich, Europäische Verfassung, 336. Giegerich, Europäische Verfassung, 336. Eingehend dazu Erlbacher, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 123 ff.
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
petenzen übertragen werden.22 Es verbleibt vielmehr bei dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung nach Art. 5 Abs. 2 EUV, in deren Rahmen die Union mit abgeleiteter Völkerrechtssubjektivität ausgestattet ist.23 Dies hindert aber nicht daran, die Europäische Union als Föderation zu bezeichnen.24
2. Die Europäische Union als föderales System Die Europäische Union erreicht mit dem am 1. Dezember 2009 in Kraft getretenen Vertrag von Lissabon, welcher bei Verzicht auf staatstypische Formulierungen Großteile der gescheiterten Europäischen Verfassung übernommen hat, eine neue und noch tiefergehende Integrationsstufe.25 Die Europäische Union unterscheidet sich wesentlich von herkömmlichen internationalen Organisationen. Diese Unterschiede hat der Europäische Gerichtshof bereits im Jahre 1964 in der Rechtssache „Costa/ ENEL“ herausgestellt: „Zum Unterschied von gewöhnlichen internationalen Verträgen hat der EWG-Vertrag26 eine eigene Rechtsordnung geschaffen, die bei seinem Inkrafttreten in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufgenommen worden und von ihren Gerichten anzuwenden ist. Denn durch die Gründung einer Gemeinschaft für unbegrenzte Zeit, die mit eigenen Organen, mit der Rechts- und Geschäftsfähigkeit, mit internationaler Handlungsfähigkeit und insbesondere mit echten, aus der Beschränkung der Zuständigkeit der Mitgliedstaaten oder der Übertragung von Hoheitsrechten der Mitgliedstaaten auf die Gemeinschaft herrührenden Hoheitsrechten ausgestattet ist, haben die Mitgliedstaaten, wenn auch auf einem begrenzten Gebiet, ihre Souveränitätsrechte beschränkt und so einen Rechtskörper geschaffen, der für ihre Angehörigen und sie selbst verbindlich ist.“27 Von besonderer Bedeutung in diesen Ausführungen des EuGH ist, dass der Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union (ehemals EWG-Vertrag) eine eigene Rechtsordnung geschaffen hat. Diese beruht zwar auf einer vertraglichen Willenseinigung der Mitgliedstaaten, sie hat sich jedoch trotz völkerrechtlicher Grundlage verselbständigt und zu einer autonomen Rechtsordnung entwickelt.28 Während nämlich herkömmliches Völkerrecht auf einen innerstaatlichen Rechtsanwendungsbefehl angewiesen ist, gilt das Unionsrecht aus sich heraus.29
22 23 24 25 26 27 28 29
Erlbacher, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 128. Erlbacher, in: Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 128. So auch Giegerich, Europäische Verfassung, 337. s. dazu Streinz, Rn. 62 ff. Heute: Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union. EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269) – Costa/ENEL. Herdegen, § 6 Rn. 10. Terhechte, JuS 2008, 403.
I. Vergleichbarkeit der Ebenen
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a) Supranationalität der Europäischen Union Die Europäische Union wird gemeinhin als „supranational“ (überstaatlich) beschrieben.30 Der Begriff der „Supranationalität“, der nicht ganz einheitlich verwendet wird,31 ist eine nachträglich entwickelte Kategorie, um bestimmte Eigenheiten der Unionskonstruktion erklären und analytisch fassen zu können.32 Er kennzeichnet die Wesenszüge der Europäischen Union, die in der Übertragung von Hoheitsrechten durch die Mitgliedstaaten und dem hohen Grad verselbständigter Willensbildung ihre Grundlage haben.33 Zu den wesentlichen Merkmalen einer supranationalen Rechtsordnung zählen nach dem Gerichtshof der Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten und die unmittelbare Wirkung zahlreicher für ihre Staatsangehörigen (die damit zu Rechtssubjekten werden) und für sie selbst geltenden Bestimmungen.34 Nimmt man keine Engführung der Supranationalität auf die unmittelbare Wirkung und den Vorrang des Unionsrechts vor, gehören zu den supranationalen Elemente der Union folgende Elemente: Breite der Aufgabenbereiche der Union (v. a. weite Teile des öffentlichen Wirtschaftsrecht), die Verpflichtung der Union auf gemeinsame politische Grundwerte, die autonome und intensive Rechtsetzungsgewalt der EU (hierhin zählen die unmittelbare Wirkung und der Anwendungsvorrang), die Selbständigkeit der EU-Organe (mit der Möglichkeit von Mehrheitsentscheidungen), die finanzielle Selbständigkeit der Union, umfänglicher Rechtsschutz sowie die Unvollendetheit und Dauerhaftigkeit der Union.35 Diese Züge der Europäischen Union sind zwar jeweils für sich genommen – z. B. verfügen auch die Vereinten Nationen über breite Aufgabenfelder und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte gewährt ebenfalls einen überstaatlichen Rechtsschutz – nicht originär, die Union hebt sich aber dadurch von anderen zwischenstaatlichen Organisationen ab, dass die genannten Elemente in einer einzigen Einrichtung zusammengefasst werden.36 b) Föderale Verbindung von Union und Mitgliedstaaten Das Bild der „Supranationalität“ hat die Phänomene, die es erklären wollte, mindestens so sehr befördert und angetrieben wie es sie analytisch einzufangen gesucht hat.37 Mit Fortschreitung des Integrationsprozesses, welcher mit der Änderung des Primärrechts durch den Vertrag von Lissabon seinen vorläufigen Höhepunkt erreicht 30 Vgl. z. B. Schweitzer/Hummer/Obwexer, Rn. 152; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 8; Oeter, in: von Bogdandy/Bast, 83; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 41. 31 Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 41. 32 Oeter, in: von Bogdandy/Bast, 83. 33 Herdegen, § 6 Rn. 8. 34 Vgl. EuGH, Slg. 1991, I-6079, Rn. 21 – EWR-Vertrag. 35 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 11 ff. 36 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 18. 37 So Oeter, in: von Bogdandy/Bast, 83.
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
hat, verstärken sich die Elemente der „Supranationalität“ zunehmend, sodass die Europäische Union sichtlich föderale Züge ausgebildet hat.38 In dieser Hinsicht eignet sich besonders der von Bogdandy eingeführte Begriff des „supranationalen Föderalismus“, um die Europäische Union zu charakterisieren.39 Ein um die Supranationalität modifiziertes föderales Modell ist am ehesten in der Lage, die Entwicklungen des Mehrebenensystems zu fassen und auf dieser Grundlage Perspektiven für die weitere Ausprägung der Gestalt zu entwickeln.40 Die föderale Verbindung der Union und der Mitgliedstaaten zeigt sich in den Verflechtungen des politischen Prozesses, in denen überstaatliche Organe und mitgliedstaatliche Amtswalter gemeinsamen zusammenwirken.41 Dies zeigt sich an der Mitwirkung der Mitgliedstaaten bei der Unionswillensbildung über den Europäischen Rat (Art. 15 EUV) und den Rat (Art. 16 EUV) und seit dem Vertrag von Lissabon auch an Art. 12 EUV, wonach die nationalen Parlamente aktiv zur guten Arbeitsweise der Union beitragen. Dies erfolgt u. a. dadurch, dass die Parlamente der Mitgliedstaaten am unionalen Rechtssetzungsprozess beteiligt werden, indem sie von den Organen der Union unterrichtet und ihnen die Entwürfe von Gesetzgebungsakten der Union zugeleitet werden (Art. 12a EUV). Ferner findet die aus dem deutschen Bundesstaatsrecht bekannte Bundestreue im Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bzw. Unionstreue nach Art. 4 Abs. 3 EUVein Äquivalent.42 Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung ihrer Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben. Für den EuGH ist insbesondere Art. 4 Abs. 3 EUV Grundlage für eine umfangreiche Rechtsprechung zur Sicherung der „praktischen Wirksamkeit“ des Unionsrechts.43 In einem föderativen Gemeinwesen muss die Aufteilung der Hoheitsgewalt festgelegt sein.44 Im Unionsrecht erfolgt dies durch Art. 2 – 6 AEUV, welche deutliche Parallelen zu Art. 71 – 74 GG erkennen lassen. Die Union hat nach Art. 3 AEUV die ausschließliche Zuständigkeit für die dort genannten Materien (z. B. Zollunion). Nach Art. 4 AEUV teilt die Union ihre Zuständigkeit mit den Mitgliedstaaten in den dort aufgeführten Bereichen (z. B. Binnenmarkt). Im Rahmen der geteilten Zustän-
38 Vgl. Oeter, in: von Bogdandy/Bast, 84; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 25; Giegerich, Europäische Verfassung, 733 ff.; von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 61 ff.; Kadelbach, in: VVDStRL 66, 10 ff. 39 Vgl. von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 61 ff. 40 von Bogdandy, Supranationaler Föderalismus, 63. 41 Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 26; Kadelbach, in: VVDStRL 66, 31 ff. 42 Vgl. Giegerich, Europäische Verfassung, 744 f.; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 26; Zuleeg, NJW 2000, 2846 f.; s. zum Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit auch D. V. 3. 43 Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 26. 44 Zuleeg, NJW 2000, 2847.
II. Rechtlicher Rahmen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit
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digkeit nehmen die Mitgliedstaaten ihre Zuständigkeit wahr, sofern und soweit die Union ihre Zuständigkeit nicht ausgeübt hat (Art. 2 Abs. 2 S. 2 AEUV). Das föderale Zusammenwirken der Ebenen wird durch stabilisierende Gewährleistungsnormen abgesichert und legitimiert: Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG verlangt z. B., dass die Union demokratischen, rechtsstaatlichen, sozialen und föderativen Grundsätzen und dem Grundsatz der Subsidiarität verpflichtet ist und darüber hinaus einen dem Grundgesetz im Wesentlichen vergleichbaren Grundrechtsschutz gewährleistet.45 Auf der anderer Seite stellt auch das Unionsrecht Anforderungen an die Mitgliedstaaten, indem allen Mitgliedstaaten die Achtung der Menschenwürde, Freiheit, Demokratie, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit und die Wahrung der Menschenrechte gemeinsam sind (Art. 2 EUV). Verletzungen dieser Werte muss die Union nicht hinnehmen, sondern es besteht auf Grundlage von Art. 7 EUV die Möglichkeit, eine schwerwiegende und anhaltende Verletzung der in Art. 2 EUV genannten Werte festzustellen und dadurch zu sanktionieren, dass Rechte ausgesetzt werden, die sich aus der Anwendung der Verträge auf den betroffenen Mitgliedstaat herleiten. Dies beinhaltet auch die Möglichkeit, Stimmrechte des Vertreters der Regierung dieses Mitgliedstaates im Rat auszusetzen (Art. 7 Abs. 3 S. 1 EUV). Für einen föderalen Zusammenschluss ist schließlich ein Kollisionsrecht unerlässlich,46 im Verhältnis der Union zu ihren Mitgliedstaaten gilt der Anwendungsvorrang des Unionsrechts.47 Die Einordnung der Europäischen Union als ein föderales System ermöglicht eine Gegenüberstellung des Verhältnisses von Bundesverfassungsgericht und dem Europäischen Gerichtshof auf der einen sowie den Landesverfassungsgerichten und dem Bundesverfassungsgericht auf der anderen Seite.
II. Rechtlicher Rahmen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit Die Bundesländer können ihr Verfassungsrecht und ihre Verfassungsgerichtsbarkeit nach eigenem Ermessen ordnen,48 was Ausdruck ihrer Staatsqualität ist.49 Obliegt dem Bundesverfassungsgericht ein Wächteramt hinsichtlich des Grundgesetzes, so sind die Landesverfassungsgerichte die autorisierten Interpreten der Landesverfassungen.50 Alle Bundesländer verfügen inzwischen über ein eigenes Landesverfassungsgericht, seitdem Schleswig-Holstein als letztes Bundesland zum 1. Mai 2008 45
Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 5 Rn. 27. Zuleeg, NJW 2000, 2848. 47 s. dazu C. II. 2. 48 Vgl. BVerfGE 4, 178 (189). 49 Begeistert Pestalozza, § 21 Rn. 4: „Die gliedstaatliche Autonomie findet ihre Bestätigung und Krönung in der eigenständigen Verfassungsgerichtsbarkeit.“ 50 Waack, in: Caspar/Ewer/Nolte/Waack, LVerfG S-H, 1. 46
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
ein eigenes Landesverfassungsgericht errichtet hat.51 Zuvor hatte Schleswig-Holstein von Art. 99 GG Gebrauch gemacht, dem Bundesverfassungsgericht die Entscheidungen über Verfassungsstreitigkeiten innerhalb Schleswig-Holsteins zuzuweisen und damit das Bundesverfassungsgericht im Wege der Organleihe auch als Landesverfassungsgericht in Anspruch zu nehmen.52 Die Landesverfassungsgerichte sind in drei Phasen entstanden. Bereits vor dem im Jahre 1951 errichteten Bundesverfassungsgericht haben Bayern (1947), Bremen (1949), Hessen (1947) und Rheinland-Pfalz (1949) eigene Verfassungsgerichtshöfe eingerichtet.53 In den 50er Jahren entstanden unter dem erheblichen Einfluss des Bundesverfassungsgerichts Landesverfassungsgerichte in Baden-Württemberg (1955), Hamburg (1954), Niedersachsen (1955), Nordrhein-Westfalen (1952) und im Saarland (1958), da weitgehend Anleihen bei den Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften des Bundesverfassungsgerichts gemacht wurden.54 Die dritte Phase nach der deutschen Wiedervereinigung am 3. Oktober 1990 führte zur Errichtung von Verfassungsgerichten in Berlin (1990), Brandenburg (1993), Mecklenburg-Vorpommern (1994), Sachsen (1993), Sachsen-Anhalt (1993) und Thüringen (1994).55 Das Landesverfassungsgericht Schleswig-Holstein (2008) orientiert sich ebenfalls hinsichtlich der Zuständigkeits- und Verfahrensvorschriften56 in großem Umfang am Bundesverfassungsgericht. Die Landesverfassungsbeschwerde konnte vor der Wiedervereinigung nur in drei von neun Bundesländern angestrengt werden. Allerdings haben die neuen Bundesländer sowie Berlin allesamt ihren Bürgern den Zugang zum Gericht über diese Verfahrensart eröffnet57 und auch Rheinland-Pfalz hat im November 1992 die Landesverfassungsbeschwerde eingeführt,58 sodass mittlerweile in zehn Bundesländern für die Bürger die Möglichkeit besteht, neben der Bundesverfassungsbeschwerde das Äquivalent auf Landesebene zu erheben. Insgesamt hat der Einigungsprozess der Landesverfassungsgerichtsbarkeit Auftrieb gegeben,59 wozu auch der „Honecker-Beschluss“ des Berliner Verfassungsgerichtshofs beigetragen hat,60 der die Existenz 51
Vgl. Art. 44 Verf. S-H, § 57 LVerfGG S-H. Vgl. Waack, in: Caspar/Ewer/Nolte/Waack, LVerfG S-H, 1. 53 Vgl. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 6. 54 Vgl. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 6, 8. 55 Vgl. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 6. 56 s. die Abfassung des Zuständigkeitskatalogs in Art. 44 Abs. 2 Verf. S-H. 57 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 347. 58 Dazu Held, NVwZ 1995, 534 ff. 59 Schlaich/Korioth, Rn. 347. 60 BerlVerfGH, NJW 1993, 515 ff.; der Berliner Verfassungsgerichtshof hat in der Entscheidung entgegen der Praxis der anderen Landesverfassungsgerichte die Anwendung von Bundesrecht (StPO) durch ein Landesgericht am Maßstab der mit Bundesverfassungsrecht inhaltsgleichen Gewährleistungen der Landesverfassung überprüft, vgl. Starck, in: Isensee/ Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 120. 52
III. Verfahren – ein Überblick
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und Bedeutung der Landesverfassungsgerichtsbarkeit auf spektakuläre Weise ins Bewusstsein gerückt hat.61
III. Verfahren – ein Überblick Neben der in zehn Bundesländern vorgesehenen Verfassungsbeschwerde kennen alle Bundesländer das Organstreitverfahren,62 welches zum „traditionellen Kernbestand“ deutscher Verfassungsgerichtsbarkeit gehört.63 Ferner ist auch die abstrakte Normenkontrolle in allen Bundesländern möglich; antragsberechtigt sind die Landesregierung und eine Landtagsminderheit, wobei das Quorum variiert.64 In Bayern gibt es dagegen kein Quorum, weil jedermann mithilfe einer Popularklage eine abstrakte Normenkontrolle initiieren kann.65 Weiterhin kann auch die konkrete Normenkontrolle in allen Bundesländern angestrengt werden; bereits Art. 100 Abs. 1 GG weist Verfahren, bei denen es um die Verletzung einer Landesverfassung durch ein entscheidungserhebliches Gesetz geht, den Verfassungsgerichten der Länder zu. Die Wiederholung dieser Zuständigkeitszuweisung in Landesverfassungen hat deshalb lediglich deklaratorische Bedeutung.66 Es gibt auf Landesebene weitere Verfahren, die wie die Wahl- und Mandatsprüfung in allen Bundesländern, z. B. Art. 63 BayVerf., und die kommunale Verfassungsbeschwerde in allen Flächenländern, z. B. Art. 44 Abs. 2 Nr. 4 LV S-H, auch vor dem Bundesverfassungsgericht angestrengt werden können.67 Allerdings kommen manchen Landesverfassungsgerichten auch Kompetenzen zu, die sich von den Verfahrensarten, für welche das Bundesverfassungsgericht zuständig ist, unterscheiden. Genannt seien Verfahren, welche die Zulässigkeit von Volksbegehren auf Landesebene betreffen,68 die präventive Normenkontrolle in Hamburg und Bremen69 sowie die so-
61 Schlaich/Korioth, Rn. 347; Wilke, NJW 1993, 887 spricht von einem „juristischen Paukenschlag“. 62 Ein tabellarischer Überblick über die Verfahren vor allen Landesverfassungsgerichten mit den betreffenden Vorschriften der Landesverfassungen und den Gerichtsgesetzen der Verfassungsgerichte findet sich bei Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130, 375 ff. 63 Lorenz, in: Starck, Bd. I, 226. 64 M.w.N. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 50; in Schleswig-Holstein sind beispielsweise neben der Landesregierung ein Drittel der Mitglieder des Landtages, zwei Fraktionen oder eine Fraktion gemeinsam mit den Abgeordneten, denen die Rechte einer Fraktion zustehen, antragsberechtigt, Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 Verf. S-H. 65 Vgl. Art. 48 Abs. 3 BayVerf i.V.m. Art. 55 Abs. 1 BayVerfGHG. 66 Sturm, in: Sachs, Art. 100 Rn. 23. 67 Dazu Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 54 ff., 63 ff. 68 Vgl. Art. 71 Abs. 2 SächsVerf.; Art. 42 Abs. 1 S. 4 Verf. S-H; Art. 82 Abs. 3 ThürVerf.
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
genannte Ministeranklage.70 Letztere ist ein Relikt des Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts, von dem seit 1946 deshalb kein Gebrauch gemacht wurde, weil die Minister sich seitdem vor den Landesparlamenten zu verantworten haben.71
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten Bei der Abgrenzung der Kompetenzen zwischen den Verfassungsgerichtsbarkeiten des Bundes und der Länder ist von folgender Prämisse auszugehen: „In einem betont föderativ gestalteten Staatswesen wie der Bundesrepublik Deutschland stehen die Verfassungsbereiche des Bundes und der Länder grundsätzlich selbständig nebeneinander. Entsprechendes gilt für die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes und der Länder.“72 Für die Abgrenzung zwischen den Gerichtsbarkeiten ergeben sich aus diesem vom Bundesverfassungsgericht formulierten Gedanken der getrennten Verfassungsräume sowohl Konsequenzen für den Prüfungsgegenstand als auch den Prüfungsmaßstab in verfassungsgerichtlichen Verfahren. Hinsichtlich des Prüfungsgegenstandes ist festzuhalten, dass die Landesverfassungsgerichte nur Akte der Landesstaatsgewalt überprüfen dürfen73 und eine Kontrolle von Bundeshoheitsakten schlechthin ausgeschlossen ist.74 Auf der anderen Seite ist das Bundesverfassungsgericht nicht darauf beschränkt, nur Akte der Bundesstaatsgewalt zu überprüfen, sondern es ist aufgrund seiner „alles überragenden und umfassenden Zuständigkeit“ auch dazu befugt, Hoheitsakte der Bundesländer einer verfassungsgerichtlichen Kontrolle zu unterziehen.75 Das macht Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG deutlich, der den Bürgern die Verfassungsbeschwerde allgemein bei einer Grundrechtsverletzung durch die öffentliche Gewalt eröffnet. Dass sich dadurch die Zuständigkeiten von Bundesverfassungsgericht und den Landesverfassungsgerichten überschneiden können und es hinsichtlich desselben Prüfungsgegenstandes zu doppelspurigen Verfahren mit der Möglichkeit divergierender Entscheidungen kommen kann, resultiert aus dem „Luxus einer doppelten Verfassungsgerichtsbarkeit.“76 Allerdings haben die Landesverfassungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht für ihren jeweiligen Rechtskreis die abschließende Entscheidungszuständigkeit, weshalb – dies betrifft schon die Frage des Prüfungsmaßstabes – jedes Verfassungs69 In Bremen (Art. 140 Abs. 1 S. 1 BremVerf.) und Hamburg (Art. 65 Abs. 3 Nr. 1 HambVerf.) wird aus sehr offenen Formulierungen geschlossen, dass vorbeugende Normenkontrollen statthaft sind, vgl. Starck, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 50. 70 Vgl. Art. 40 NdsVerf.; Art. 63 Verf. NRW. 71 Vgl. Starck, Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 130 Rn. 67. 72 BVerfGE 41, 88 (118). 73 Vgl. Pestalozza, § 21 Rn. 4; Böckstiegel, LKV 1994, 355. 74 Vgl. Burmeister, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 432. 75 Pestalozza, § 21 Rn. 4. 76 Vgl. Pestalozza, § 21 Rn. 4.
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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gericht im Ausspruch (Tenor) seiner Entscheidungen nur die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm mit „seinem” Landesrecht bzw. mit Bundesrecht feststellen darf.77 Letzteres führt jedoch nicht dazu, dass die Landesverfassungsgerichte völlig von grundgesetzlichen Bindungen frei sind. Die Verfassungsräume sind zwar selbständig, stehen aber eben nicht isoliert voneinander.78 Der Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte wird vielmehr durch die Einbindung der Landesverfassungsgerichte in die bundesstaatliche Ordnung und durch das Rangverhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht beeinflusst.79 Folgen der Existenz der doppelten Verfassungsgerichtsbarkeit ergeben sich somit auf zwei Ebenen: Bei der durch den Prüfungsgegenstand beeinflussten verfahrensrechtlichen Zuständigkeit und beim Prüfungsmaßstab.80
1. Zuständigkeitskonkurrenzen Von Seiten der Landesverfassungsgerichte erwächst dem Bundesverfassungsgericht nur Konkurrenz, soweit die Gerichtshöfe der Bundesländer gleichartige Aufgaben wahrnehmen. Sind Verfahren dagegen nur auf Landes- oder auf Bundesebene möglich, sind keine Zuständigkeitskonflikte zu befürchten. Das führt dazu, dass sich etwa bei Parteiverbots- und Bund-Länder-Verfahren sowie Richteranklagen, die nur vor dem Bundesverfassungsgericht durchgeführt werden können,81 eine Abgrenzung zur Landesverfassungsgerichtsbarkeit erübrigt. Bei sämtlichen Verfahren können Zuständigkeitskonkurrenzen nur erwachsen, wenn und soweit es um einen Hoheitsakt geht, der einem Bundesland zuzurechnen ist,82 weil dieser sowohl einer bundesverfassungsgerichtlichen als auch einer landesverfassungsgerichtlichen Kontrolle unterzogen werden kann. Das Bundesverfassungsgericht kann in den Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle (Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG; Art. 100 Abs. 1 GG) sowie der Verfassungsbeschwerde (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG) sowohl Hoheitsakte des Bundes als auch der Länder überprüfen, wenn ein Verstoß gegen das Grundgesetz gerügt wird.83 Maßnahmen der öffentlichen Gewalt des Bundes werden dagegen nur vom Bundesverfassungsgericht überprüft; doppelspurige Verfahren sind diesbezüglich ausgeschlossen. Bisweilen ist es jedoch schwierig, einen Hoheitsakt eindeutig der Bundes- oder Landesstaatsgewalt zuzuordnen, weil die Rechtsordnung des Bundes und der Länder weitgehend
77 78 79 80 81 82 83
BVerfGE 69, 112 (118). Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 553. Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 553. Böckstiegel, LKV 1994, 355. Pestalozza, § 21 Rn. 5. Pestalozza, § 21 Rn. 5. Rozek, 54.
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
ineinander greifen.84 Die zentrale Frage diesbezüglich ist, ob die Anwendung von Bundesrecht durch die Landesgerichte noch die Ausübung von Landesstaatsgewalt darstellt und ein Landesverfassungsgericht diese Rechtsanwendung überprüfen darf.85 a) Die Anwendung von Bundesrecht als Landesstaatsgewalt? Im Mittelpunkt der Diskussionen steht u. a. der bereits erwähnte „Honecker-Beschluss“ des Berliner Verfassungsgerichtshofs.86 In dem Beschluss hatte der Gerichtshof im von Erich Honecker angeregten Verfassungsbeschwerdeverfahren Beschlüsse des Landgerichts und Kammergerichts Berlin, welche die Einstellung des Strafverfahrens und die Aufhebung des Haftbefehls wegen Totschlags in mittelbarer Täterschaft abgelehnt hatten, wegen Verletzung des landesverfassungsrechtlichen Grundrechts des Beschwerdeführers auf Achtung seiner Menschenwürde aufgehoben.87 Der Berliner Verfassungsgerichtshof hielt sich für befugt, die Beschlüsse des Land- und Kammergerichts am Maßstab der Landesverfassung zu überprüfen, obwohl die Beschlüsse auf Bundesrecht beruhten.88 Der höhere Rang der angewandten StPO als Bundesrecht schränke die Prüfungsbefugnis des Gerichtshofs deshalb nicht ein, weil es „nicht um die Prüfung eines Verfassungsverstoßes durch Normerzeugung, sondern um die Kontrolle eines Akts der Normanwendung (durch ein Organ des Landes)“ gehe.89 Die Grenzen der eigenen Entscheidungsbefugnis ergeben sich insoweit nicht aus dem Verhältnis von Bundes- zu Landesrecht, sondern aus dem Verhältnis der Verfassungsgerichtsbarkeit zur sonstigen Gerichtsbarkeit.90 Die These, dass ein Akt der Rechtsanwendung durch ein Landesgericht stets und isoliert von dem anzuwendenden Recht auf seine Vereinbarkeit mit der Landesverfassung überprüft werden kann, hat „das partikularisierende Energiepotential der Landesverfassungsgerichtsbarkeit verdeutlicht“91 und Kontroversen ausgelöst.92 Stern merkt u. a. an, dass die Rechtsprechung des Berliner Verfassungsgerichtshofs die Einheitlichkeit der Rechtsauslegung im Bundesstaat ernsthaft in Frage stellt.93 Nach Rozek lässt sich die Normanwendung nicht dergestalt von ihrer bundesrechtli84
Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 351. Dazu Zierlein, AÖR 120 (1995), 205 ff.; Rozek, AöR 119 (1994), 470 ff. 86 BerlVerfGH, NJW 1993, 515; bestätigt wird diese Rechtsprechung ausdrücklich im „Mielke-Beschluss“, NJW 1994, 436 ff.; vgl. zu den Grenzen der Entscheidungsbefugnis des BerlVerfGH auch NJW 1993, 513. 87 s. die Zusammenfassung des Sachverhalts bei Schlaich/Korioth, Rn. 351. 88 BerlVerfGH, NJW 1993, 515 (517): „Dem steht nicht entgegen, daß diese Beschlüsse auf Bundesrecht, vornehmlich auf der Strafprozessordnung beruhen.“ 89 BerlVerfGH, NJW 1993, 513 (514). 90 BerlVerfGH, NJW 1993, 513 (514). 91 So Schlaich/Korioth, Rn. 352. 92 Umfangreiche Nachweise finden sich bei Zierlein, AöR 120 (1995), 212 Fn. 46. 93 Stern, Staatsrecht III/2, 1511. 85
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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chen Grundlage lösen, dass eine isolierte Überprüfung der Normanwendung am Maßstab des Landesverfassungsrechts durch das Landesverfassungsgericht möglich wäre.94 Das Bundesverfassungsgericht hat die in Rede stehende Frage aufgrund einer Vorlage des Sächsischen Verfassungsgerichtshofs nach Art. 100 Abs. 3 GG (sog. Divergenzvorlage) im Jahre 1997 entschieden.95 Demnach dürfen die Landesverfassungsgerichte die Anwendung von Bundesrecht des gerichtlichen Verfahrens durch Landesgerichte an Landesgrundrechten und grundrechtsgleichen Gewährleistungen nachprüfen, soweit sie den gleichen Inhalt wie entsprechende Rechte des Grundgesetzes haben.96 Ob gleiches neben dem Verfahrensrecht auch für materielle Normen gilt, hat das Bundesverfassungsgericht offen gelassen; es hält zur Beantwortung dieser Frage einen zusätzlichen Prüfungsaufwand für erforderlich.97 Das Landesverfassungsgericht hat eine mehrstufige Prüfung vorzunehmen.98 Führt die Anwendung eines Grundrechts im konkreten Fall zu demselben Ergebnis wie ein Grundrecht des Grundgesetzes, kann dieses inhaltsgleiche Landesgrundrecht Prüfungsmaßstab im Landesverfassungsbeschwerdeverfahren sein. Ist das Ergebnis nicht gleich, ist das Verfahren vor dem Landesverfassungsgericht unzulässig. Das Bundesverfassungsgericht hat durch seine Entscheidung die Gefahr einer Rechtssprechungszersplitterung eingedämmt, da die Landesverfassungsgerichte bei der Auslegung der Landesgrundrechte an die Auslegung der Grundrechte des Grundgesetzes durch das Bundesverfassungsgericht gebunden sind.99 Es kann letztlich nur zu autonomen Entscheidungen von Landesverfassungsgerichten kommen, wenn es für eine bestimmte Fallgestaltung noch keine grundrechtsspezifische Auslegung des Bundesrechts gibt.100 b) Konkurrenzen bei einzelnen Verfahrensarten Anhand des Prüfungsgegenstandes sind Zuständigkeitskonkurrenzen zwischen den Verfassungsgerichtsbarkeiten in den Verfahren der abstrakten und konkreten Normenkontrolle sowie der Verfassungsbeschwerde denkbar, nicht jedoch beim Organstreitverfahren und bei den Wahl- und Mandatsprüfungen. Die Organstreitverfahren bergen deshalb keinen Konfliktstoff, weil entweder Landes- oder Bundesorgane streiten.101 Für Streitigkeiten letzterer ist nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 1 GG nur das Bundesverfassungsgericht zuständig. Bei den Wahl- und Mandatsprüfungen gibt es eben94
Rozek, AöR 119 (1994), 464. Vgl. BVerfG, NJW 1998, 1296. 96 BVerfG, NJW 1998, 1296 (1297). 97 BVerfG, NJW 1998, 1296 (1298). 98 s. dazu im Einzelnen BVerfG, NJW 1998, 1296 (1301). 99 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 354. 100 Schlaich/Korioth, Rn. 354. 101 Schlaich/Korioth, Rn. 348. 95
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
falls keine Zuständigkeitsprobleme, weil die Landesverfassungsgerichte und das Bundesverfassungsgericht für die Überprüfung von Wahlen zu verschiedenen Körperschaften jeweils ausschließlich zuständig sind.102 aa) Konkrete Normenkontrolle Nach Art. 100 Abs. 1 GG ist ein gerichtliches Verfahren auszusetzen, wenn das Gericht ein entscheidungserhebliches Gesetz für verfassungswidrig hält. Anschließend ist, wenn das Gericht von einem Verstoß gegen Landesverfassungsrecht überzeugt ist, die Entscheidung des betreffenden Landesverfassungsgerichts einzuholen; handelt es sich um die Verletzung von Bundesrecht, ist die Vorlage an das Bundesverfassungsgericht zu richten. Art. 100 Abs. 1 GG zwingt die Länder nicht zur Installation eines Landesverfassungsgerichts.103 Verfügen diese jedoch über ein solches, statuiert die Norm für die Länder die zwingende verfassungsprozessuale Vorgabe, die konkrete Normenkontrolle durch ihr Landesverfassungsgericht für förmliche Landesgesetze am Maßstab der Landesverfassung einzurichten.104 Die konkrete Normenkontrolle ist daher von allen Verfahrensarten am stärksten vereinheitlicht.105 Art. 100 Abs. 1 GG setzt aber insofern nur den Minimalmaßstab und es steht den Ländern frei, die Vorlagepflicht, z. B. über formelle Gesetze hinaus auf Rechtsverordnungen oder auch auf vorkonstitutionelle Normen, weiter auszudehnen.106 Bei förmlichen Landesgesetzen sind dem vorlegenden Gericht sowohl die Vorlage zum Bundesverfassungsgericht als auch zum Landesverfassungsgericht eröffnet, wenn die Maßstabsnormen im Grundgesetz und in der Landesverfassung inhaltsgleich sind.107 Beide Wege stehen damit wahlweise oder auch nebeneinander offen, womit der Verletzte unter Umständen die Chance eines doppelten Gerichtsschutzes erhält.108 Sobald eines der angegangenen Verfassungsgerichte die Norm jedoch für nichtig oder unvereinbar mit der Verfassung erklärt, wird die Vorlage an das andere Gericht gegenstandslos und ist unzulässig.109 102 Böckstiegel, LKV 1994, 357; das BVerfG entscheidet nach § 13 Nr. 3 BVerfGG über Beschwerden gegen Entscheidungen des Bundestages, die die Gültigkeit einer Wahl oder den Erwerb oder den Verlust der Mitgliedschaft eines Abgeordneten beim Bundestag betreffen; der Bayerische Verfassungsgerichtshof entscheidet z. B. gemäß Art. 63 BayVerf. nur über die Gültigkeit der Wahl der Mitglieder des Landtags und den Verlust der Mitgliedschaft zum Landtag. 103 Sturm, in: Sachs, Art. 100 Rn. 25. 104 Vgl. Sturm, in: Sachs, Art. 100 Rn. 23. 105 Pestalozza, § 21 Rn. 1. 106 Vgl. Pestalozza, § 21 Rn. 1. 107 Vgl. BVerfGE 2, 380 (388 f.). 108 Pestalozza, § 21 Rn. 5, 7. 109 Vgl. Pestalozza, § 21 Rn. 7; Schlaich/Korioth, Rn. 348; Sturm, in: Sachs, Art. 100 Rn. 24.
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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bb) Abstrakte Normenkontrolle Die abstrakte Normenkontrolle vor den Landesverfassungsgerichten ist nur zur Überprüfung von Landesrecht möglich (vgl. z. B. Art. 44 Abs. 2 Nr. 2 LV S-H). Diese kann wie die konkrete Normenkontrolle ebenfalls zweispurig verlaufen, wenn diese von einer Landesregierung beantragt wird, da diese sowohl tauglicher Antragsteller nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG als auch nach den einschlägigen Bestimmungen des Landesverfassungsrechts ist. Ebenso können unterschiedliche Antragsteller „ein Verfahren hier, ein anderes dort einleiten.“110 Hat jedoch das Bundesverfassungsgericht oder das Verfassungsgericht eines Landes die maßgebliche Norm für verfassungswidrig erklärt, entfällt im anderen Verfahren das Klarstellungsinteresse und damit die Zulässigkeit.111 Wie auch bei der konkreten Normenkontrolle darf jedes Verfassungsgericht nur die Vereinbarkeit oder Unvereinbarkeit einer Rechtsnorm mit „seinem“ Landesrecht bzw. dem Bundesrecht feststellen.112 cc) Landesverfassungsbeschwerde Nach § 90 Abs. 3 BVerfGG bleibt das Recht, eine Verfassungsbeschwerde an ein Landesverfassungsgericht zu erheben, von der Möglichkeit der Bundesverfassungsbeschwerde unberührt. Das Verfahren der Landesverfassungsbeschwerde gehört nicht zum Rechtsweg gemäß § 90 Abs. 2 S. 1 BVerfGG.113 Vielmehr ergibt sich aus dem Wortlaut des § 90 Abs. 3 BVerfGG, in dem sich die Entstehungsgeschichte niedergeschlagen hat, dass beide Verfahren selbständig nebeneinander stehen, d. h., sie können sowohl parallel eingelegt als auch betrieben werden.114 Vor allem ist ein solches doppelspuriges Vorgehen erforderlich, wenn die beiden Rechtsbehelfe fristgebunden sind.115 Die Konkurrenz der beiden Verfahren kann dadurch vermieden werden, dass die Bundesländer die Landesverfassungsbeschwerde für subsidiär erklären.116 In diesem Fall muss der Betroffene wählen, ob er sich an das zuständige Landesverfassungsgericht oder an das Bundesverfassungsgericht wendet.117
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Pestalozza, § 21 Rn. 7. Schlaich/Korioth, Rn. 348; Pestalozza, § 21 Rn. 7. 112 BVerfGE 69, 112 (118). 113 BVerfG, NJW 1996, 1464. 114 BVerfG, NJW 1996, 1464. 115 BVerfG, NJW 1996, 1464. 116 Nach § 49 Abs. 1 BerlVerfGHG und §§ 12 Nr. 4, 45 Abs. 1 BbgVerfGG kann der Bürger das Landesverfassungsgericht nur anrufen, wenn er nicht in derselben Sache Verfassungsbeschwerde beim Bundesverfassungsgericht erhoben hat; vgl. m.w.N. Schlaich/Korioth, Rn. 349. 117 Vgl. BVerfG, NJW 1996, 1464. 111
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
Hat der Beschwerdeführer in einem der beiden Verfahren Erfolg, so wird ihm jedoch für die weitere Durchführung des anderen Verfahrens regelmäßig das Rechtsschutzbedürfnis fehlen, womit letzteres unzulässig wird.118 Zu beachten gilt es, dass zur öffentlichen Gewalt im Sinne von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG auch die Verfassungsgerichte der Länder zählen, womit Entscheidungen letzterer grundsätzlich mit der Bundesverfassungsbeschwerde angefochten werden können,119 wenngleich das Bundesverfassungsgericht keine zweite Instanz ist, welche befugt ist, die Urteile der Landesverfassungsgerichte in vollem Umfang nachzuprüfen.120 Das Bundesverfassungsgericht kann vielmehr zulässigerweise mit der Verfassungsbeschwerde nur angerufen werden, wenn das Urteil eines Landesverfassungsgerichts eines der in § 90 BVerfGG genannten Grundrechte verletzt.121
2. Prüfungsmaßstab Folgen der doppelten Verfassungsgerichtsbarkeit ergeben sich ferner beim Prüfungsmaßstab, d. h. bezüglich der Frage, welche Normen die Verfassungsgerichte bei der Kontrolle des jeweiligen Beschwerdegegenstandes anzuwenden haben. Wie das Bundesverfassungsgericht in ständiger Rechtsprechung betont, ist die Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes auf das Grundgesetz122 und die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder auf die jeweilige Landesverfassung bezogen.123 Daher dürfen die Landesverfassungsgerichte nur Verstöße gegen die Landesverfassungen feststellen und das Bundesverfassungsgericht grundsätzlich nur Verletzungen des Grundgesetzes.124 Bei dieser Erkenntnis kann man aber deshalb nicht stehen bleiben, weil beide Verfassungsräume nicht völlig unverbunden nebeneinander stehen, sondern im Gegenteil vielfach miteinander verflochten sind.125 Die genannten Festlegungen der jurisdiktionellen Prüfungsmaßstäbe sind folglich auch nur im Grundsatz unbestritten.126 Unproblematischer ist dabei der Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts, welches sowohl Akte der Landesstaatsgewalt als auch der Bundesstaatsgewalt auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz oder dem Bundesrecht überprüft. Nur in Aus118 Pestalozza, § 21 Rn. 6, der das Beispiel nennt, dass der BayVerfGH die angefochtene Gerichtsentscheidung aufhebt. In diesem Fall wird die Verfassungsbeschwerde gegenstandslos, wenn nicht eine spezifische Verletzung andauert. 119 Vgl. BVerfGE 6, 445 (449). 120 BVerfGE 6, 445 (449); 60, 175 (208). 121 BVerfGE 6, 445 (449). 122 BVerfGE 41, 88 (118 f.); 60, 175 (209); 69, 112 (118). 123 Vgl. BVerfGE 60, 175 (209); 69, 112 (118). 124 Vgl. Böckstiegel, LKV 1994, 355. 125 Stern, Staatsrecht III/2, 1505. 126 Stern, Staatsrecht III/2, 1505.
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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nahmefällen, nämlich wenn es Funktionen der Landesverfassungsgerichtsbarkeit übernimmt, zieht es als Prüfungsmaßstab auch die betreffende Landesverfassung heran. Der Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte ist dagegen schwieriger zu ermitteln, wobei unterschiedliche Fragen auseinandergehalten werden müssen. Einerseits kann die Landesverfassung als Prüfungsmaßstab selbst durch höherrangiges Recht, d. h. Bundesrecht und Grundgesetz, insofern beeinflusst werden, als landesverfassungsrechtliche Normen über Art. 31 GG gebrochen werden können.127 Die Landesverfassungsgerichtsbarkeit hat ebenso wie jede andere Instanz der dritten Gewalt auf die Grundgesetzmäßigkeit ihres Prüfungsmaßstabs zu achten.128 Als Vorfrage ist daher in jedem landesverfassungsgerichtlichen Verfahren zu klären, ob die anzuwendenden Bestimmungen des Landesverfassungsrechts noch Gültigkeit besitzen.129 Eine andere Frage ist, ob das Landesverfassungsgericht auch den Prüfungsgegenstand auf die Vereinbarkeit mit dem Grundgesetz und dem Bundesrecht überprüft. Eine landesrechtliche Norm kann unmittelbar und eine Gerichts- oder Verwaltungsentscheidung mittelbar gegen das Bundesrecht verstoßen, wenn sie auf bundesrechtswidrigem Recht beruht.130 Da Art. 100 Abs. 1 GG jedoch auch für die Landesverfassungsgerichte gilt, müssen diese auch landesrechtliche Normen selbst auf die Vereinbarkeit mit dem Bundesrecht und dem Grundgesetz überprüfen und bei Entscheidungserheblichkeit dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen.131 Schließlich kann Bundesverfassungsrecht über das „Phänomen der in die Landesverfassung hineinwirkenden Bundesverfassung“132 zum Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte werden. a) Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts ist grundsätzlich nur das Grundgesetz oder das Bundesrecht.133 Die Nachprüfung von Landesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Landesverfassung ist dagegen prinzipiell Aufgabe der Landesverfassungsgerichte.134
127 128 129 130 131 132 133 134
Vgl. Böckstiegel, LKV 1994, 356. Bethge, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 28. Vgl. Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 558. Pestalozza, § 21 Rn. 8. Vgl. BVerfGE 69, 112 (117 f.); Schlaich/Korioth, Rn. 350; Böckstiegel, LKV 1994, 356. s. dazu Rozek, 100 ff. Vgl. Rozek, 57; BVerfGE 69, 112 (118). Vgl. BVerfGE 6, 376 (382).
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
Das Bundesverfassungsgericht zieht als Prüfungsmaßstab aber die jeweilige Landesverfassung heran, wenn es über Binnenländerstreitigkeiten nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG oder nach Art. 99 GG entscheidet.135 Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG betrifft ausschließlich verfassungsrechtliche Organstreitigkeiten und garantiert die gerichtliche Klärung derartiger Streitigkeiten durch das Bundesverfassungsgericht in der subsidiären Funktion eines Landesverfassungsgerichts am Maßstab der Landesverfassung.136 Der Landesinnenstreit ist inzwischen jedoch von untergeordneter Bedeutung, weil in allen Bundesländern ein Organstreitverfahren eingeleitet werden kann. An sich dürfte der Landesinnenstreit in der Praxis aus diesem Grund gar nicht mehr vorkommen;137 das ist aber deshalb nicht der Fall, weil das Bundesverfassungsgericht eine konkrete Betrachtungsweise dahingehend vornimmt, dass es seine Zuständigkeit immer als gegeben ansieht, wenn einem Antragsteller nach § 73 Abs. 1 Nr. 3 BVerfGG Parteifähigkeit und Antragsbefugnis zukommen, ihm diese aber im Organstreit vor dem Landesverfassungsgericht fehlen.138 Von der Zuweisung von Verfassungsstreitigkeiten an das Bundesverfassungsgericht nach Art. 99 GG hatte nur Schleswig-Holstein Gebrauch gemacht. Da das nördlichste Bundesland seit 2008 über ein eigenes Verfassungsgericht verfügt, entscheidet das Bundesverfassungsgericht auf Grundlage von Art. 99 GG keine Streitigkeiten innerhalb eines Bundeslandes mehr am Maßstab der Landesverfassung. Der Grundsatz der getrennten Prüfungsmaßstäbe wird durch Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3, 99 GG jedoch nur scheinbar durchbrochen, weil das Bundesverfassungsgericht in diesen Fällen landesverfassungsgerichtliche und keine eigenen Funktionen wahrnimmt.139 Es wird dann als ein Verfassungsgericht für ein Land tätig.140 b) Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte Die Landesverfassungen bestimmen Umfang und Grenzen des verfassungsrechtlichen Erkenntnishorizonts der Landesverfassungsgerichte.141 Dementsprechend dürfen die Landesverfassungsgerichte im Tenor ihrer Entscheidungen allein über die Auslegung von Landesverfassungsrecht befinden142 und hinsichtlich des Prü-
135
Böckstiegel, LKV 1994, 355 Fn. 10. Sturm, in: Sachs, Art. 93 Rn. 74. 137 Dafür plädieren auch Voßkuhle, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 93 Rn. 159 sowie Sturm, in: Sachs, Art. 93 Rn. 75, weil dies allein die prinzipielle Verfassungsautonomie berücksichtige. 138 Vgl. BVerfGE 4, 375 (377); 93, 195 (202). 139 Vgl. Rozek, 57; Stern, Staatsrecht I, 708 f; Bethge, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 29. 140 Vgl. BVerfGE 10, 285 (293 f.). 141 Rozek, 57. 142 Vgl. Bethge, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 28; BVerfGE 69, 112 (118). 136
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fungsgegenstandes können sie nur eine Unvereinbarkeit mit Landesverfassungsrecht und nicht mit dem Bundesrecht aussprechen. Wenngleich den Landesverfassungsgerichten die Aufgabe zukommt, die Einhaltung, Anwendung und Achtung der jeweiligen Landesverfassung durch die Landesstaatsgewalt zu sichern,143 merkt Bethge zutreffend an, dass Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte auch das Bundesverfassungsrecht sein kann.144 Veränderungen des landesverfassungsgerichtlichen Prüfungsmaßstabs resultieren aus der Einordnung der Länder in die bundesstaatliche Ordnung und aus dem Rangverhältnis zwischen Bundes- und Landesrecht.145 Für das Organisationsmodell des Grundgesetzes ist nämlich nicht die strikte Trennung der Verfassungsräume von Bund und Ländern, sondern im Gegenteil die Einbindung der Landesstaatsgewalt in das überwölbende bundesrechtliche Normengefüge kennzeichnend.146 aa) Vorfragenkompetenz zur Ermittlung des Prüfungsmaßstabs Erste Voraussetzung für die Anwendung der Landesgrundrechte im Speziellen und des Landesverfassungsrechts im Allgemeinen durch das Landesverfassungsgericht ist die Vergewisserung, ob kein Widerspruch zum Grundgesetz oder zu sonstigem Bundesrecht besteht.147 Diese Vorfrage hat der Bayerische Verfassungsgerichtshof beispielhaft wie folgt formuliert: Es bleibt „Aufgabe des Verfassungsgerichtshofs, im Einzelfall darüber zu befinden, ob und inwieweit durch Einwirken des Bundesrechts – insbesondere des Bundesverfassungsrechts – Normen der Bayerischen Verfassung und damit der Prüfungsmaßstab selbst verändert oder verdrängt worden sind, etwa, ob die Grundrechte der Bayerischen Verfassung nach Inhalt, Geltungsbereich und Schrankensystem durch höherrangiges Recht beeinflusst werden.“148 Diese „Vorfragenkompetenz“ zur Ermittlung des eigenen Prüfungsmaßstabes durch die Landesverfassungsgerichte muss unterschieden werden von der nicht in die Zuständigkeit fallende Befugnis zur letztverbindlichen Entscheidung darüber, ob der Prüfungsgegenstand mit dem Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht im Einklang steht.149 Über letzteres entscheidet nur das Bundesverfassungsgericht. Statt „Vorfragenkompetenz“ kann man – terminologisch anders gewendet – auch davon sprechen, dass das Bundesrecht für das Landesverfassungsgericht zum „Prüfungsmaßstab des Prüfungsmaßstabes“ oder zum „Vorprüfungsmaßstab“ wird.150 Der 143 144 145 146 147 148 149 150
Pestalozza, § 21 Rn. 4. Bethge, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 28. Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 553. Burmeister, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 434. Stern, Staatsrecht III/2, 1505. BayVerfGH 26, 28 (34). Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, 1506. Vgl. Rozek, 60.
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Begriff „Vorprüfungsmaßstab“ macht dabei besonders den Vorfragencharakter deutlich151 und scheint deshalb besonders passend zu sein. (1) Art. 31 GG Hintergrund dieses Vorprüfungsmaßstabs ist das Verhältnis des Bundes- zum Landesrecht, da nach Art. 31 GG letzteres von Bundesrecht gebrochen wird, womit die Rangordnungsnorm des Grundgesetzes die bereits in Art. 13 WRVenthaltene Formulierung übernimmt.152 Art. 31 GG ist eine Grundsatznorm zur Lösung von Normenkollisionen und muss nach dem Prinzip der „Einheit der Verfassung“ im Zusammenhang mit anderen Vorschriften des Grundgesetzes verstanden und gelesen werden.153 Da nach Art. 28 Abs. 1 GG nur ein Mindestmaß an Homogenität der Bundesverfassung und der Landesverfassungen gefordert ist,154 statuiert Art. 31 GG keinen bundesrechtlichen Vorrang um jeden Preis und unter allen Umständen.155 Vorangestellt sei, dass ungeachtet der Regelungsweite des Art. 31 GG nur verfassungsgemäßes Bundesrecht imstande ist Landesrecht „zu brechen“. Verfassungswidriges Bundesrecht ist seinerseits nichtig und lässt deshalb das Landesrecht unberührt.156 (a) Bundesrecht Zum Bundesrecht im Sinne von Art. 31 GG zählt das gesamte Recht des Bundes jeglicher Rangstufe, d. h. das Grundgesetz selbst,157 förmliche Gesetze, Rechtsverordnungen, die allgemeinen Regeln des Völkerrechts und auch die Europäische Menschenrechtskonvention,158 welche durch das innerstaatliche Transformationsgesetz nach Art. 59 Abs. 2 GG den Rang eines Bundesgesetzes hat. (b) Landesrecht Das vom Bundesrecht gebrochene Landesrecht umfasst solches jeglichen Ranges, d. h. Landesverfassungsrecht, einfache Landesgesetze, Rechtsverordnungen und Sat151
rakter. 152 153 154 155 156
34.
Vgl. Rozek, 60; auch Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 558 betont den VorfragenchaArt. 13 Abs. 1 WRV: „Reichsrecht bricht Landrecht.“ Vgl. BVerfGE 36, 342 (362). Vgl. BVerfGE 36, 342 (361). Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 18. Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 47; vgl. auch Brüning, NVwZ 2002,
157 Huber, in: Sachs, Art. 31 Rn. 11 meint dagegen, dass das Grundgesetz selbst an dem von Art. 31 GG normierten Vorrang des Bundesrechts nicht teilnehme, sondern dass sich der Vorrang des Bundesverfassungsrechts bereits aus Art. 20 Abs. 3 GG und für die Grundrechte speziell aus Art. 1 Abs. 3 GG ergebe. Allerdings spricht Art. 142 GG, wie Huber auch selbst einräumt, gegen diese Annahme, da die Norm die Kollision von Landesgrundrechten mit den Grundrechten des Grundgesetzes als Anwendungsfall von Art. 31 GG begreift. 158 Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 32.
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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zungen der unterschiedlichen Selbstverwaltungsträger, was in der Konsequenz dazu führt, dass auch eine Rechtsverordnung des Bundes imstande ist, Landesverfassungsrecht zu brechen.159 (c) Normenkollision Bei Art. 31 GG handelt es sich um eine Vorschrift, die Normenkollisionen lösen soll, weshalb Voraussetzung der Anwendung der Rangordnungsnorm ist, dass überhaupt zwei Normen miteinander kollidieren.160 Das ist aber nur der Fall, wenn, die Kollisionsnorm hinweggedacht, beide Normen auf einen Sachverhalt anwendbar sind und bei ihrer Anwendung zu unterschiedlichen Ergebnissen führen.161 Liegt eine Normenkollision nicht vor, ist es bereits begrifflich unmöglich, eine Kollisionsvorschrift wie Art. 31 GG anzuwenden; zudem besteht dafür auch kein Bedürfnis.162 (d) Inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht Von diesen Prämissen ausgehend wird inzwischen in Abkehr von der Weimarer Lehre und der Auffassung des Parlamentarischen Rates überwiegend angenommen, dass inhaltsgleiches Landesrecht nicht nach Art. 31 GG gebrochen wird.163 Das Bundesverfassungsgericht hat die Frage für inhaltsgleiches Landesrecht bisher offen gelassen, jedoch für das hier relevante Landesverfassungsrecht ausdrücklich anerkannt, dass letzteres bei Inhaltsgleichheit nicht nach Art. 31 GG gebrochen wird.164 Art. 31 GG muss nämlich rechtssystematisch im Zusammenhang mit Art. 28 Abs. 1 GG gelesen und verstanden werden, was zur Folge hat, dass Art. 31 GG nicht zur Derogation einer landesverfassungsrechtlichen Bestimmung führen kann, wenn Art. 28 Abs. 1 GG den Gliedstaaten die Möglichkeit einräumt, Normen in die Landesverfassungen aufzunehmen, die sich vom Grundgesetz unterscheiden oder übereinstimmen.165 Ferner verbietet in einem föderativen System auch der Respekt vor einer Landesverfassung, dass inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht nach Art. 31 GG gebrochen wird.166 159 Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 32; 35; BVerfGE 96, 345 (364): „so bricht Bundesrecht jeder Rangordnung eine landesrechtliche Regelung auch dann, wenn sie Bestandteil des Landesverfassungsrechts ist.“ 160 Vgl. BVerfGE 36, 343 (363). 161 Vgl. BVerfGE 36, 342 (363); 96, 345 (364); 98, 145 (159); Brüning, NVwZ 2002, 34. 162 Vgl. BVerfGE 36, 342 (363). 163 Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 40 m.w.N.; auch Stern, Staatsrecht I, 722 f.; Gubelt, in: v. Münch/Kunig, Art. 31 Rn. 23; a.A. aber Huber, in: Sachs, Art. 31 Rn. 22, der sich für die Einbeziehung allen inhaltsgleichen Landesrechts in den Regelungsbereich von Art. 31 GG ausspricht. 164 Vgl. BVerfGE 36, 342 (366 ff.); 40, 296 (327); 96, 345 (364); so auch Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 61 m.w.N. 165 Vgl. BVerfGE 36, 342 (362). 166 BVerfGE 36, 342 (366).
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
Dieses Ergebnis wird von Art. 142 GG hinsichtlich der Grundrechte konkretisiert,167 weshalb die Vorschrift in den Schlussbestimmungen des Grundgesetzes nicht Ausnahme von der Regel, sondern Ausdruck der Regel selbst ist.168 Nach Art. 142 GG bleiben ungeachtet der Vorschrift des Art. 31 GG „Bestimmungen der Landesverfassungen auch insoweit in Kraft, als sie in Übereinstimmung mit den Artikeln 1 bis 18 dieses Grundgesetzes Grundrechte gewährleisten.“ Wenngleich Art. 142 GG den Art. 31 GG einschränken wollte, so geschieht das nur unvollständig, was das Bundesverfassungsgericht mit den Worten kommentiert: „Das Gesetz kann eben klüger sein als die Väter des Gesetzes.“169 Art. 142 GG ist unvollständig, weil er nicht allgemein formuliert, dass Art. 31 GG das grundsätzliche Verhältnis von Bundes- und Landesverfassung nicht berührt, sondern nur die Grundrechte vom Anwendungsbereich der Rangordnungsnorm ausnimmt.170 (e) Grundrechte Landesgrundrechte bleiben nach Art. 142 GG in Kraft, soweit sie mit Grundrechten und grundrechtsgleichen Rechten übereinstimmen. Die Vorschrift ist über Art. 1 – 18 GG hinaus auf alle Rechte zu erstrecken, die mit einer Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG geltend gemacht werden können.171 Übereinstimmung bedeutet, dass die Landesgrundrechte den gleichen Gegenstand in gleichem Sinne, mit gleichem Inhalt und in gleichem Umfang regeln,172 also sachliche Identität und keine Übereinstimmung des Wortlautes.173 Aber auch soweit Landesgrundrechte einen weitergehenden Schutz oder einen geringeren Schutz verbürgen, kann ein Widerspruch zu den entsprechenden Bundesgrundrechten ausgeschlossen sein. Eine Kollision ist nach Ansicht des Bundesverfassungsgerichts ausgeschlossen, wenn das jeweils engere Grundrecht der Landesverfassung oder des Grundgesetzes nur als Mindestgarantie zu verstehen ist und daher nicht den Normbefehl enthält, einen weitergehenden Schutz zu unterlassen.174 Die grundsätzliche Zulässigkeit einer weitergehenden Gewährleistung in Landesgrundrechten hat man vor allem aus dem Wort „auch“ in Art. 142 GG geschlossen.175 Eine Kollision mit Bundesgrundrechten ist aber anzunehmen, wenn das Grundgesetz klar zu erkennen gibt, dass der Mindeststandard des Freiheits- oder Gleichheitsrechtes zugleich das Höchstmaß sein soll, über das hinaus Gewährleistungen nicht erfol167
BVerfGE 96, 345 (364). Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 41. 169 BVerfGE 36, 342 (362). 170 BVerfGE 36, 342 (362 f.). 171 Vgl. BVerfGE 96, 345 (364). 172 Vgl. BVerfGE 96, 345 (365). 173 Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 51. 174 Vgl. BVerfGE 96, 342 (365) unter Hinweis auf Pietzker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 71; Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 142 Rn. 3. 175 Stern, Staatsrecht III/2, 1472. 168
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gen dürfen.176 Ist dies der Fall und geht die Landesverfassung vom Schutzumfang über das Grundgesetz hinaus, ist das Landesgrundrecht nach Art. 31 GG nichtig. Wenngleich dem Bundesverfassungsgericht nach auch Mindergewährleistungen in Landesgrundrechten nicht zwingend verfassungswidrig sind, tritt die überwiegende Ansicht im Schrifttum dem entgegen, weil weniger gewährende Grundrechte nicht mindestens in Übereinstimmung zu den Bundesgrundrechten stehen mit der Folge, dass sie nach Art. 31 GG gebrochen werden.177 Für die Verfassungsmäßigkeit spricht zwar, dass ein geringerer Schutz durch Landesgrundrechte einen weitergehenden Schutz durch die Bundesgrundrechte nicht ausschließt178 und insofern nur als Ergänzung fungiert,179 jedoch scheint Art. 142 GG dahingehend zu verstehen sein, dass die Gliedstaaten, sofern sie Grundrechte in ihren Landesverfassungen gewähren, den grundrechtlichen Mindeststandard nicht unterschreiten dürfen, d. h., derartige Landesgrundrechte werden nach Art. 31 GG gebrochen. Landesgrundrechte können, auch wenn sie nach Art. 142 GG in Kraft bleiben, dennoch verfassungswidrig sein, wenn eine Kollision mit einfachem Bundesrecht gegeben ist.180 Letzteres kann solchen Landesgrundrechten widersprechen, die mehr oder – wenn man dem Bundesverfassungsgericht folgt – auch weniger Schutz gewährleisten als das Grundrecht des Grundgesetzes, etwa dann, wenn das Bundesrecht zwar dem engeren Gewährleistungsbereich eines Bundesgrundrechts, nicht aber dem weiteren eines Landesgrundrechts genügt.181 (f) Sonstiges Landesverfassungsrecht Auch sonstiges Landesverfassungsrecht kann mit dem Grundgesetz kollidieren und demzufolge den Prüfungsmaßstab des Landesverfassungsgerichts verändern. Für Landesverfassungsrecht gilt die Abgrenzung der Art. 70 ff. GG nicht, da diese nur die Gesetzgebung und nicht die Verfassungsgebung betreffen.182 Einfaches Landesrecht ist ansonsten bei Verstoß gegen die Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes schon wegen der Sperrwirkung der Art. 71, 72 Abs. 1 GG nichtig, die insoweit leges speciales zu Art. 31 GG sind.183 Die Kompetenzfrage ist insofern der Kollisionsfrage vorgeordnet.184 Das führt dazu, dass in den Landesverfassungen Regelungen enthalten sein dürfen, die in Gestalt einfachen Landesrechts wegen Verstoßes
176 177 178 179 180 181 182 183 184
Böckenförde/Grawert, DÖV 1971, 121. Stern, Staatsrecht III/2, 1476 m.w.N. So Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 52. So Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 71. Vgl. BVerfGE 96, 345 (365); s. dazu auch Stern, Staatsrecht III/2, 1477 ff. BVerfGE 96, 345 (366 f.). Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 29. Vgl. Brüning, NVwZ 2002, 34. Pieroth, in: Jarass/Pieroth, Art. 31 Rn. 3.
134
D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
gegen Art. 71, 72 Abs. 1 GG nichtig wären.185 Das bedeutet freilich nicht, dass die Landesverfassungen die Kompetenzverteilung des Grundgesetzes unterlaufen können, sondern nur, dass sich diese Frage nicht nach den Art. 70 ff. GG beurteilt. Es ist vielmehr auf Art. 28 Abs. 1 und Art. 31 GG zurückzugreifen. Widersprüche zwischen Bundes- und Landesverfassungsrecht, welche die Staatsorganisation betreffen, sind über das Homogenitätsgebot des Art. 28 Abs. 1 GG zu lösen, welcher sich als systematisch vorrangig erweist.186 Hält sich die landesverfassungsrechtliche Regelung im vorgegebenen Ausgestaltungsspielraum, ist sie verfassungsgemäß. Verlässt sie diesen, ist die Regelung nach Art. 28 Abs. 1 GG und nicht nach Art. 31 GG nichtig. Im Übrigen ist auf Art. 31 GG zurückzugreifen. Staatszielbestimmungen, andere Programmsätze und sonstiges Landesverfassungsrecht bleiben insofern nach Art. 31 GG nur bestehen, wenn sie Bundesrecht nicht zuwiderlaufen.187 (g) Rechtsfolge: Das Merkmal „brechen“ Im Falle einer Normenkollision mit Bundesrecht wird Landesrecht nach Art. 31 GG gebrochen, d. h., es ist nichtig188 mit der Folge, dass bestehendes Recht endgültig im Sinne einer Derogation beseitigt und zukünftiges verhindert wird.189 Konsequenz der Nichtigkeitsfolge ist, dass das Landesrecht auch nach Wegfall des entgegenstehenden Bundesrechts nicht wieder auflebt, es wird also nicht bloß suspendiert.190 Für das Verhältnis von Bundesrecht und einfachem Landesrecht gilt dieser Grundsatz uneingeschränkt.191 Teilweise wird jedoch angenommen, dass Landesverfassungsrecht nur suspendiert, d. h., im Einzelfall unter Bestehenlassen der Norm nicht angewandt wird,192 wie es auch für den Anwendungsvorrang des Unionsrecht gegenüber nationalem Recht charakteristisch ist.193 Ein solches Verständnis des Art. 31 GG für den Fall des Landesverfassungsrechts respektiere nämlich die Verfassungshoheit der Bundesländer, ohne den Vorrang des Bundesrechts zu beeinträchtigen.194 Eine Differenzierung hinsichtlich der Rechtsfolgen bei einfachem Landesrecht und Landesverfassungsrecht ist jedoch abzulehnen, weil Art. 31 GG nicht zwischen einfachem und höherrangigem Recht auf Landesebene unterscheidet. Der Wortlaut 185 186 187 188 189 190 191 192 193 194
Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 29. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 30, 56. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 58 f. Vgl. BVerfGE 26, 116 (135). Huber, in: Sachs, Art. 31 Rn. 23. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 44. Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 62. Definition bei Pietzcker, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VI3, § 134 Rn. 62. Z.B. Erbguth/Wiegand, DÖV 1992, 778; Sacksofsky, NVwZ 1993, 239. Sacksofsky, NVwZ 1993, 239.
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
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ist insofern eindeutig.195 Darüber hinaus wird die Verfassungshoheit der Bundesländer bereits dadurch ausreichend berücksichtigt, dass inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht in Kraft bleibt.196 (2) Vorlage nach Art. 100 Abs. 1 GG Hält das Landesverfassungsgericht die anzuwendende Vorschrift der Landesverfassung bei der Vorfragenprüfung für unvereinbar mit dem Grundgesetz oder dem einfachen Bundesrecht, hat es die Norm dem Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG vorzulegen, wenn es sich um eine nachkonstitutionelle Norm handelt.197 Eine Vorlagepflicht besteht jedoch nicht, soweit landesverfassungsrechtliche Bestimmungen vorkonstitutionell sind,198 da sich auf diese das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nicht erstreckt. So muss z. B. der Berliner Verfassungsgerichtshof im Gegensatz zum Hessischen Staatsgerichtshof praktisch immer vorlegen, da die Berliner Verfassung weitgehend nach- und die hessische vorkonstitutionell ist.199 Bei Nichtbestehen einer Vorlagepflicht muss das Landesverfassungsgericht selbst von der Ungültigkeit der landesverfassungsrechtlichen Norm ausgehen.200 (3) Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG Bei der Beurteilung des Prüfungsmaßstabs kann für das Landesverfassungsgericht auch eine Vorlage nach Art. 100 Abs. 3 GG in Betracht kommen. Nach Art. 100 Abs. 3 GG hat ein Landesverfassungsgericht die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einzuholen, wenn es bei der Auslegung des Grundgesetzes von einer Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts oder eines anderen Landesverfassungsgerichts abweichen will. Bei der sogenannten Divergenzvorlage201 handelt es sich nicht um ein Verfahren der Kompetenzabgrenzung zwischen den Verfassungsgerichtsbarkeiten der Gliedstaaten und der Verfassungsgerichtsbarkeit des Bundes,202 sondern es will die Verfassungsgerichtsbarkeiten miteinander verbinden und der Einheitlichkeit der Grundgesetzanwendung dienen.203 Unter Entscheidung im Sinne von Art. 100 Abs. 3 GG ist dabei nicht nur die Urteilsformel zu verstehen, sondern die Rechtsauffassung, welche das Bundesverfassungsgericht oder ein Landesverfassungsgericht einem Urteilsspruch zugrunde ge195 196 197 198 199 200 201 202 203
So auch Huber, in: Sachs, Art. 31 Rn. 24; Dreier, in: ders. Art. 31 Rn. 44. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 44. Vgl. Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 559. Vgl. Böckstiegel, LKV 1994, 356. Vgl. Böckstiegel, LKV 1994, 356. Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, 1506; Tilch, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 559 f. Vgl. z. B. Wieland, in: Dreier, Art. 100 Rn. 35. BVerfGE 3, 261 (267). Vgl. Stern, Staatsrecht III/2, 1506 f.
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legt hat.204 Aus Art. 100 Abs. 3 GG ergibt sich ferner, dass auch die Auslegung des Grundgesetzes Gegenstand der Rechtsfindung eines Landesverfassungsgerichts sein kann205, womit Art. 100 Abs. 3 GG das Bundesrecht als Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte bestätigt. Allerdings überlässt es das Bundesverfassungsgericht den Landesverfassungsgerichten, die von einem Verstoß von landesverfassungsrechtlichen Normen gegen das Grundgesetz oder sonstigem Bundesrecht überzeugt sind, ob sie gemäß Art. 100 Abs. 3 GG oder Art. 100 Abs. 1 GG vorlegen. Das ist darauf zurückzuführen, dass Abs. 1 und Abs. 3 zueinander nicht in einem Verhältnis einer lex specialis zu einer lex generalis stehen.206 Die konkrete Normenkontrolle zielt auf eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts, die die Nichtigkeit einer Norm ausspricht; bei der Divergenzvorlage geht es um die authentische Auslegung einer Vorschrift des Grundgesetzes.207 Beide Vorlagen haben besondere verfahrensrechtliche Schwierigkeiten, welche es im konkreten Fall nahelegen können, den einen Weg dem anderen vorzuziehen.208 Insbesondere gebietet es aber die Rücksicht auf die Stellung eines Landesverfassungsgerichts, dass das Bundesverfassungsgericht dessen Vorlageentscheidung respektiert.209 bb) Bundesrechts- bzw. Grundgesetzwidrigkeit des Prüfungsgegenstandes Die Vorlagen nach Art. 100 Abs. 1, 3 GG leiten zur Frage über, ob Landesverfassungsgerichte auch den jeweiligen Prüfungsgegenstand am Maßstab des Bundesrechts und des Bundesverfassungsrechts überprüfen müssen. Art. 100 Abs. 1 GG gilt auch für die Landesverfassungsgerichte, sodass sie zur Vorlage an das Bundesverfassungsgericht verpflichtet sind, wenn „ein für ihre Entscheidung maßgebliches Gesetz grundgesetzwidrig oder bundesrechtsrechtswidrig ist. Dies gilt gleichermaßen für Gesetze, die auf der Vorfragenebene relevant sind, wie auch für solche, die den Gegenstand des Normkontrollverfahrens oder der Rechtssatzverfassungsbeschwerde bilden.“210 Das ist so zu verstehen, dass die Landesverfassungsgerichte hinsichtlich der Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Norm mit Bundesrecht zwar eine Prüfungspflicht,
204
Vgl. BVerfGE 3, 261 (264). Vgl. BVerfGE 60, 175 (206 f.). 206 BVerfGE 36, 342 (356). 207 BVerfGE 36, 342 (356). 208 BVerfGE 36, 342 (356). 209 BVerfGE 36, 342 (356). 210 BVerfGE 69, 112 (118); so auch Böckstiegel, LKV 1994, 356; Schlaich/Korioth, Rn. 350. 205
IV. Abgrenzung der Gerichtsbarkeiten
137
aber keine Verwerfungskompetenz haben; im Tenor dürfen sie daher die Unvereinbarkeit des Prüfungsgegenstandes mit Bundesrecht nicht aussprechen.211 cc) In die Landesverfassungen hineinwirkende Bestimmungen des Grundgesetzes Schließlich avanciert das Bundesverfassungsrecht zum unmittelbaren Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte über das „Phänomen der in die Landesverfassungen hineinwirkenden Bundesverfassung“. Hintergrund ist, dass einige Bestimmungen des Grundgesetzes derart in die Landesverfassungen hineinwirken, dass diese selbst Bestandteil der Landesverfassungen werden.212 Der Prüfungsgegenstand in landesverfassungsgerichtlichen Verfahren kann hier ohne weiteres am Maßstab dieser grundgesetzlichen Bestimmungen geprüft werden, ohne dass es einer Vorlage zum Bundesverfassungsgericht nach Art. 100 Abs. 1 GG bedarf. Bestimmungen des Grundgesetzes können sowohl aufgrund ausdrücklicher Rezeption als auch ohne Rezeption in die Landesverfassungen hineinwirken und als Landesverfassungsrecht gelten.213 Das Bundesverfassungsgericht hat betont, dass in einem Bundesstaat wie der Bundesrepublik die Verfassungen der Bundesländer nicht allein in den jeweiligen Landesverfassungsurkunden enthalten sind, sondern dass Bestimmungen des Grundgesetzes auch derart in die Landesverfassungen hineinwirken, dass beide Elemente erst zusammen die Verfassung eines Gliedstaates ausmachen.214 Eine ausdrückliche Rezeption findet sich beispielsweise in Art. 4 Abs. 1 der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen, wonach die Grundrechte des Grundgesetzes Bestandteil der Landesverfassung und unmittelbar geltendes Landesrecht sind. Im Übrigen besteht kaum Klarheit darüber, welche Bestimmungen des Grundgesetzes ohne ausdrückliche Rezeption Bestandteile der Landesverfassungen werden. Vielfach handelt es sich bei der Einwirkung um allgemeine verfassungsrechtliche Grundsätze; das Bundesverfassungsgericht hat die Bindung des Gesetzgebers an die verfassungsmäßige Ordnung (Art. 20 Abs. 3 GG), den Primat des Völkerrechts vor dem innerstaatlichen Recht (Art. 25 GG), die Gleichheit vor dem Gesetz (Art. 3 GG)215 und den verfassungsrechtlichen Status der politischen Parteien (Art. 21 GG) genannt.216 Anknüpfungspunkt des Hineinwirkens von bundesverfassungsrechtlichen Bestimmungen in die Landesverfassungen scheint für das Bundesverfassungs-
211 212 213 214 215 216
Vgl. Rozek, 60 f.; Böckstiegel, LKV 1994, 356. Vgl. Bethge, in: Starck/Stern, Teilbd. II, 30; Wille, 169. Vgl. Wille, 169. BVerfGE 1, 208 (232); 27, 44 (55). Vgl. BVerfGE 1, 208 (232) zu diesen drei Verfassungsrechtssätzen. BVerfGE 66, 107 (114).
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
gericht Art. 28 Abs. 1 S. 1 GG zu sein.217 Neben den erwähnten Vorschriften des Grundgesetzes wurden in der Literatur ebenfalls das Rechtsstaatsprinzip, die Gewaltenteilung, die Unabhängigkeit der Gerichte, Art. 33 GG sowie die Vorschriften über die Gesetzgebungskompetenzen angeführt.218 dd) Zusammenfassung zum Prüfungsmaßstab Trotz der grundsätzlich getrennten Verfassungsräume von Bund und Ländern existieren die Verfassungsgerichtsbarkeiten nicht isoliert voneinander, sondern Bundesrecht ist von den Verfassungsgerichten der Gliedstaaten in unterschiedlichen Konstellationen als Prüfungsmaßstab heranzuziehen. Dies ist vor allem auf die Höherrangigkeit des Bundesrechts und die damit zusammenhängenden Vorlagepflichten zurückzuführen, welche in einem föderativen Staat wie der Bundesrepublik gerade auch von der Landesverfassungsgerichtsbarkeit beachtet werden müssen. Die Bedeutung des Bundesrechts für landesverfassungsgerichtliche Verfahren ist dabei ungleich größer als die des Landesverfassungsrechts für bundesverfassungsgerichtliche Verfahren, was sich aus der Normenhierarchie in der Verfassungsordnung der Bundesrepublik erklärt, wonach nur höherrangiges Recht niederrangiges Recht zu beeinflussen vermag.
V. Vergleich der Ebenen Der Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte wird maßgeblich von Art. 31 GG, Art. 100 Abs. 1, 3 GG sowie Art. 28 Abs. 1 GG beeinflusst. Das höherrangige Bundesrecht wirkt auf diesem Wege in die Verfassungsräume der Gliedstaaten ein und es wird damit auch zum Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte. Vergleichbar mit den Bestimmungen des Grundgesetzes, die den Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte beeinflussen, sind auf Unionsebene der Anwendungsvorrang des Unionsrechts (mit Art. 31 GG), das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV (mit Art. 100 Abs. 3 GG) und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV.
1. Anwendungsvorrang des Unionsrechts Das Unionsrecht genießt Vorrang vor dem Recht der Mitgliedstaaten; das erklärt sich genuin europarechtlich aus dem Umstand, dass die Verträge eine eigene Rechtsordnung geschaffen haben, die in die Rechtsordnungen der Mitgliedstaaten aufge-
217 218
Auf diesen nimmt es in BVerfGE 27, 44 (55) ausdrücklich Bezug. M.w.N. Wille, 169 f.; eine Aufzählung findet sich auch bei Böckstiegel, LKV 1994, 355 f.
V. Vergleich der Ebenen
139
nommen worden und deshalb von ihren Gerichten anzuwenden ist.219 Durch die Entstehung einer autonomen Rechtsordnung unterscheidet sich die Unionsordnung markant vom „Staatengemeinschaftsrecht“ internationaler Organisationen und nähert sich innerstaatlichen („bundesstaatlichen“) Verhältnissen an.220 Das Unionsrecht wird im Falle der unmittelbaren Anwendbarkeit zum Prüfungsmaßstab für die mitgliedstaatlichen Gerichte, welche entgegenstehende Bestimmungen des nationalen Rechts unangewendet lassen müssen. Sowohl beim Anwendungsvorrang als auch bei Art. 31 GG221 handelt es sich um Kollisionsregelungen. Der Kollisionsbegriff ist dabei identisch, weil dieser nicht spezifisch verfassungs- oder unionsrechtlicher Natur, sondern rechtslogischer Art ist.222 Der Unterschied zwischen den Kollisionsregelungen soll aber nicht unerwähnt bleiben: Art. 31 GG stellt anders als der Anwendungsvorrang zugleich eine Rangordnungsnorm223 dar, das gebrochene Landesrecht ist nichtig und lebt auch nach Fortfall des entgegenstehenden Bundesrechts nicht wieder auf.224 Für den Vorrang des Unionsrechts ist der EuGH dagegen den behutsameren Weg des Anwendungsvorrangs gegangen, das nationale Recht bleibt auch bei einer Kollision weiterhin in Geltung.225 Nichtsdestotrotz führt der Anwendungsvorrang in Verbindung mit der unmittelbaren Anwendbarkeit zu einer erheblichen Verzahnung der Rechtsordnungen und weist insofern strukturelle Ähnlichkeiten zu Art. 31 GG auf.
2. Vorabentscheidungsverfahren Das in Art. 267 AEUV normierte Vorabentscheidungsverfahren sichert die Auslegungshoheit des Europäischen Gerichtshofs hinsichtlich der Verträge, d. h. des EU-Vertrages und des Vertrages über die Arbeitsweise über die Europäische Union und ist deshalb mit Art. 100 Abs. 3 GG zu vergleichen, der die Auslegung des Grundgesetzes beim Bundesverfassungsgericht konzentriert. Art. 267 AEUV und Art. 100 Abs. 3 GG sind gleichermaßen Verfahren, die die Rechtseinheit in Systemen sichern sollen,226 in denen unterschiedliche Rechtsordnungen miteinander verzahnt sind und in denen ansonsten aufgrund einer Vielzahl von Rechtsanwendern die Gefahr einer divergierenden Auslegung der höchsten Rechtsquellen, d. h. des Grund219 220 221 222 223 224 225 226
Rn. 1.
Vgl. EuGH, Slg. 1964, 1251 (1269 ff.) – Costa/ENEL. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 10 Rn. 18. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 19. Vgl. Niedobitek, VerwArch 2001, 73 f. Vgl. Huber, in: Sachs, Art. 31 Rn. 7. Vgl. Dreier, in: ders., Art. 31 Rn. 43. Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 11 Rn. 27. s. zu dieser Funktion des Art. 267 AEUV Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
gesetzes einerseits und der Verträge (EU-Vertrag und Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union) andererseits bestünde. a) Funktion Mit der Funktion des Art. 267 AEUV hat sich der EuGH u. a. in der Rechtssache „Rheinmühlen-Düsseldorf“ auseinandergesetzt. Danach ist Art. 267 AEUV von entscheidender Bedeutung dafür, dass das Unionsrecht wirklich gemeinsames Recht bleibt, da er gewährleistet, dass dieses Recht in allen Mitgliedstaaten immer die gleiche Wirkung hat.227 Auf diese Weise werden unterschiedliche Auslegungen des Unionsrechts verhindert.228 Darüber hinaus zielt das Vorabentscheidungsverfahren auch darauf ab, die Anwendung des Unionsrechts durch die nationalen Gerichte selbst zu gewährleisten, da dem nationalen Richter ein Hilfsmittel an die Hand gegeben wird, um die Schwierigkeiten auszuräumen, die aus der Verpflichtung entstehen können, dem Unionsrecht innerstaatlich die volle Geltung zu verschaffen.229 b) Aufgabenteilung zwischen EuGH und nationalen Gerichten Das Vorabentscheidungsverfahren ist praktisch überaus bedeutsam, da es das entscheidende europäische Integrationsinstrument auf rechtlicher Ebene darstellt und inzwischen die Hälfte aller vor dem Gerichtshof anhängigen Verfahren ausmacht.230 Art. 267 AEUV ist Ausdruck der zwischen den nationalen Gerichten und dem EuGH geteilten Rechtsprechungsfunktion.231 Wesentlich ist daher die bestehende Aufgabenverteilung. Das vorlegende nationale Gericht hat die unionsrechtlich relevanten Fragen zu finden, um diese unter Mitteilung der tatsächlichen und rechtlichen Angaben dem EuGH zu unterbreiten,232 wenn eine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV besteht. Ist das nationale Gericht nicht zur Vorlage verpflichtet, kann es die entscheidungserhebliche Frage selbst beantworten oder dem EuGH nach Art. 267 Abs. 2 AEUV vorlegen. Hat ein mitgliedstaatliches Gericht vorgelegt, so bleibt es dennoch für die Entscheidung des Ausgangsrechtsstreits ausschließlich zuständig.233
227 228 229 230 231 232 233
EuGH, Slg. 1974, 33, Rn. 2 – Rheinmühlen-Düsseldorf. EuGH, Slg. 1974, 33, Rn. 2 – Rheinmühlen-Düsseldorf. EuGH, Slg. 1974, 33, Rn. 2 – Rheinmühlen-Düsseldorf. Vgl. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 14. Dörr/Lenz, Rn. 244. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 15. Dörr/Lenz, Rn. 244.
V. Vergleich der Ebenen
141
Die vornehmliche Aufgabe des EuGH besteht darin, dem vorlegenden nationalen Gericht sachdienliche Antworten zu geben,234 indem er die vorgelegten Fragen zwar fallbezogen, aber abstrakt, d. h. beschränkt auf ihren unionsrechtlichen Gehalt, beantwortet, damit das vorlegende Gericht im Anschluss die Vorgaben der Vorabentscheidung auf den konkreten Fall anwenden kann.235 Art. 267 AEUV erfüllt zudem eine überaus wichtige Funktion des Individualrechtsschutzes.236 c) Vergleich mit Art. 100 Abs. 1 GG Die konkrete Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG weist weniger Ähnlichkeiten mit Art. 267 AEUV auf, da der Gerichtshof nicht über die Vereinbarkeit eines nationalen Rechtsaktes mit unionsrechtlichen Vorgaben entscheidet.237 Die Anwendung von unionsrechtlichen Vorschriften auf innerstaatliche Maßnahmen und Sachverhalte obliegt nämlich den mitgliedstaatlichen Gerichten.238 Der Gerichtshof hat – anders als das Bundesverfassungsgericht für formelle, nachkonstitutionelle Normen des Landesrechts – keine Verwerfungskompetenz für nationales Recht. Allerdings kann der Gerichtshof den mitgliedstaatlichen Gerichten alle Kriterien für die Auslegung des Unionsrechts an die Hand zu geben, die das Gericht in die Lage versetzen, die Vereinbarkeit dieser Rechtsnormen mit der Unionsregelung zu beurteilen.239 Aus diesem Grund wird teilweise davon gesprochen, dass die Auslegung des im Einzelfall anwendbaren Unionsrechts und seine Anwendung auf den konkreten Fall faktisch ineinander übergingen, womit in der Praxis über die Vereinbarkeit einer im Ausgangsfall streitigen nationalen Regelung mit dem Unionsrecht häufig implizit mitentschieden würde.240 Zutreffend ist wohl, dass der prima facie eindeutige Rückzug des EuGH auf die Auslegung des Unionsrechts durch die Zurverfügungstellung von Kriterien zur Vereinbarkeit des nationalen Rechts mit dem Unionsrecht de facto zur Relativierung dieser Beschränkung führen kann. Der formale Unterschied des Art. 267 AEUV zur konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG ist damit größer als der tatsächliche.
3. Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Ein zusätzlicher Mechanismus, der sich auf Unionsebene findet und der zu einer umfangreicher Verzahnung von europäischer Gerichtsbarkeit und nationaler Ge234 235 236 237 238 239 240
Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 15. Dörr/Lenz, Rn. 244. Vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 1. Vgl. EuGH, Slg. 1993, I-6787, Rn. 8 – Ruth Hünermund. Vgl. EuGH, Slg. 1979, 1163, Rn. 10 ff. – ICAP. Vgl. EuGH, Slg. 1993, I-6787, Rn. 8 – Ruth Hünermund. So Dörr/Lenz, Rn. 246.
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D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
richtsbarkeit führt, ist der in Art. 4 Abs. 3 EUV niedergelegte Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bzw. der Unionstreue. a) Änderungen durch den Vertrag von Lissabon Anders als noch Art. 10 EGV, in dem sich der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit im Wortlaut nicht festmachen ließ, spricht Art. 4 Abs. 3 EUV seit dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon nun ausdrücklich vom Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit, weshalb zukünftig nur noch auf diesen Begriff und nicht mehr auf die Unionstreue zurückgegriffen werden sollte. Nach dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit achten und unterstützen sich die Union und die Mitgliedstaaten gegenseitig bei der Erfüllung der Aufgaben, die sich aus den Verträgen ergeben (Art. 4 Abs. 3 S. 1 EUV). Die Mitgliedstaaten ergreifen dabei alle Maßnahmen allgemeiner oder besonderer Art zur Erfüllung der Verpflichtungen, die sich aus den Verträgen oder den Handlungen der Organe der Union ergeben (Art. 4 Abs. 3 S. 2 EUV). Ferner unterstützen die Mitgliedstaaten die Union bei der Erfüllung ihrer Aufgabe und unterlassen alle Maßnahmen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden könnten (Art. 4 Abs. 3 S. 3 EUV). Art. 4 Abs. 2 S. 2 und S. 3 EUV sind nahezu wortlautgetreu von Art. 10 EGV übernommen worden. Art. 4 Abs. 2 S. 1 EUV dagegen stellt eine Neuerung gegenüber Art. 10 EGV dar und bringt zum Ausdruck, dass sich der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nicht nur an die Mitgliedstaaten, sondern auch an die Union richtet, die ebenfalls zur Unterstützung der Mitgliedstaaten verpflichtet ist. b) Parallelen zur Bundestreue Eine Parallele zum Loyalitätsgrundsatz findet sich in der Bundesrepublik in Gestalt der Bundestreue241 bzw. in der Pflicht zu bundesfreundlichem Verhalten.242 Zuleeg meint sogar, dass deutsches Verfassungsrecht für den Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit Pate gestanden hat.243 Die Bundestreue ist nicht ausdrücklich im Grundgesetz verankert. Sie findet ihre Rechtsgrundlage aber im bundesstaatlichen Prinzip, wie Art. 20 Abs. 1 GG es vorgibt.244 Die Bundestreue verpflichtet zur wechselseitigen Rücksichtnahme im Rahmen der bundesstaatlichen Ordnung des Grundgesetzes, wobei diese Pflicht sowohl für die Länder untereinander, in ihrem Verhältnis zum Bund und umgekehrt im Verhältnis des Bundes zu den Ländern gilt.245
241 242 243 244 245
So auch Zuleeg, NJW 2000, 2846; Unruh, EuR 2002, 58 ff. Diesen Begriff benutzt das Bundesverfassungsgericht, vgl. BVerfGE 1, 299 (315). Zuleeg, NJW 2000, 2846. Isensee, in: Kirchhof/Isensee, Bd. VI3, § 126 Rn. 162. Degenhart, Rn. 481.
V. Vergleich der Ebenen
143
Der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit bringt die vertikale Mehrebenenstruktur der Union zum Ausdruck, in der die Notwendigkeit der Abstimmung der unterschiedlichen Ebenen existiert.246 Die Funktionsfähigkeit der Union als Rechtsgemeinschaft bedarf eines der Bundestreue vergleichbaren Prinzips.247 Bei den Parallelen zur Bundestreue geht es demnach um die Übertragbarkeit des Treuegedankens und den daraus resultierenden Pflichten.248 Das Unionsrecht ist ungeachtet seiner formalen Autonomie in seiner Erarbeitung und Anwendung erheblich auf die Mitgliedstaaten und die nationalen Rechtsordnungen angewiesen.249 Letztlich rundet der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit den Anwendungsvorrang und auch das Vorabentscheidungsverfahren ab, da der Anwendungsvorrang seine Wertigkeit verlöre, wenn dieser nicht von den mitgliedstaatlichen Stellen beachtet und durchgesetzt würde. Gleiches gilt für Art. 267 AEUV, da der EuGH seinen Aufgaben nur nachkommen kann, wenn die mitgliedstaatlichen Gerichte mit ihm kooperieren. Art. 4 Abs. 3 EUV begründet insofern die Pflicht der nationalen Gerichte zum gerichtlichen Dialog mit dem Europäischen Gerichtshof.250 c) Einzelpflichten der Mitgliedstaaten Der EuGH hat aus dem Grundsatz eine Reihe von konkreten Einzelpflichten der Mitgliedstaaten abgeleitet, was die Bejahung der unmittelbaren Anwendbarkeit dieser Vorschrift gegenüber den Mitgliedstaaten voraussetzt.251 Die Union ist auf die legislative Umsetzung (Transformation) sowie die administrative und judikative Anwendung (Implementation) des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten existentiell angewiesen.252 Hinsichtlich der hier bedeutsamen judikativen Implementation müssen die nationalen Gerichte aller Gerichtszweige das unmittelbar anwendbare Unionsrecht uneingeschränkt anwenden und entgegenstehendes nationales Recht unangewendet lassen,253 womit die mitgliedstaatlichen Gerichte funktionell zu Unionsgerichten werden.254 Die nationalen Gerichte kommen regelmäßig mit dem Unionsrecht in Berührung, wenn die Mitgliedstaaten für dessen Vollzug verantwortlich sind, was ganz überwiegend der Fall ist, weil die Union ihr Recht nur ausnahmsweise selbst vollzieht.255 246 247 248 249 250 251
2847. 252 253 254 255
Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 6. Vgl. Unruh, EuR 2002, 58 f.; v. Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 67. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 6. Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 1. Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 47. Streinz, Rn. 160; Beispiele finden sich bei Herdegen, § 7 Rn. 13 und Zuleeg, NJW 2000, Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 8. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal II. Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 43. Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 43.
144
D. Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte
Die effektive Durchsetzung des Unionsrechts fordert auch eine verfassungsgerichtliche Durchsetzung, wenn der normale Instanzenzug und damit die eigentlich für die Wahrung des Unionsrechts Verantwortlichen entsprechende Rechtsfragen ausblenden.256 Es besteht nämlich eine gemeinsame Verpflichtung aller beteiligten hoheitlichen Stellen für die Verwirklichung des Rechts innerhalb der Union, womit Art. 4 Abs. 3 EUV eine Schlüsselstellung bei der Europäisierung der nationalen Rechtsordnungen zukommt.257
VI. Fazit Die Mechanismen auf Unionsebene ähneln denen des Grundgesetzes. Allerdings ziehen die Landesverfassungsgerichte hinsichtlich des Grundgesetzes und das Bundesverfassungsgericht hinsichtlich des Unionsrechts daraus unterschiedliche Schlussfolgerungen. Die Einwirkung des Bundesrechts auf den Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichtsbarkeit führt zu adäquaten Ergebnissen; dies hat zur Folge, dass der Prüfungsgegenstand nicht übergangsweise für weiter anwendbar erklärt werden kann, wenn die in Rede stehende Norm nicht nur gegen das Landesverfassungsrecht, sondern auch gegen das Grundgesetz verstößt. Das Bundesverfassungsgericht dagegen zieht das Unionsrecht im Rahmen seiner Zuständigkeiten nicht als Prüfungsmaßstab heran.258 Der Vergleich der Ebenen streitet aber bereits dafür, dass das Bundesverfassungsgericht bei der Beurteilung deutscher Hoheitsakte das Unionsrecht nicht unberücksichtigt lassen kann und auf diesem Wege eine übergangsweise weitere Anwendung unionsrechtswidrigen nationalen Rechts verhindert.
256 257 258
Bungenberg, DVBl. 2007, 1413. Vgl. von Bogdandy, in: Grabitz/Hilf, Art. 10 EGV Rn. 3. Eine Ausnahme bildet insofern nur Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, s. dazu E. III. 2. a).
E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts Das Gesagte leitet über zu der Frage, ob das Bundesverfassungsgericht dazu angehalten ist, deutsche Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts zu überprüfen. Es geht dabei nicht um den verfassungsgerichtlichen Rechtsschutz gegen staatliche Maßnahmen zur Ausführung des Unionsrechts und damit letztlich um dessen Abwehr, sondern um die umgekehrte Frage, ob und inwieweit das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Zuständigkeiten zur Durchsetzung des Unionsrechts beitragen muss.1 Zu einer partiellen Durchsetzung des Art. 267 AEUV sorgt das Bundesverfassungsgericht über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG i.V.m. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, indem es den EuGH als gesetzlichen Richter i.S.v. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG anerkennt.2 Das hat zur Folge, dass die Verletzung der Vorlagepflicht durch ein deutsches Gericht im Verfassungsbeschwerdeverfahren gerügt werden kann und nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgericht zum Erfolg führen soll, wenn die Entscheidung des zur Vorlage verpflichteten Gerichts nicht mehr verständlich erscheint oder offensichtlich unhaltbar ist.3 Unabhängig von der Tragfähigkeit dieses Willkürmaßstabes integriert das Bundesverfassungsgericht den Art. 267 AEUV in das Verfassungsbeschwerdeverfahren, womit die primärrechtliche Norm zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts wird. Im Übrigen ist die Bereitschaft des Bundesverfassungsgerichts, deutsche Hoheitsakte am Maßstab des vorrangigen Unionsrechts zu überprüfen und auf diesem Wege zur innerstaatlichen Verwirklichung beizutragen, aber nicht ausgeprägt.4
I. Unionsrecht in Normenkontrollverfahren Unter deutschen Hoheitsakten sind alle Rechtsakte zu verstehen, die mit dem Unionsrecht kollidieren können, d. h. neben abstrakt-generellen Rechtsnormen auch kon1
Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 50. Vgl. BVerfGE 73, 339 (366 f.) – Solange II. 3 Vgl. BVerfGE 29, 178 (207). 4 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 59; dies zeigt auch BVerfG, NJW 2006, 1261. 2
146
E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
kret-individuelle Rechtsakte (Verwaltungsakte). Letztere können als Akte der öffentlichen Gewalt i.S.v. Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren auf dem Prüfstand stehen. Abstrakt-generelle Rechtsnormen werden im Verfassungsbeschwerdeverfahren inzident (bei einer Urteilsverfassungsbeschwerde) oder ausdrücklich (bei einer Rechtssatzverfassungsbeschwerde) auf ihre Verfassungsmäßigkeit hin überprüft. Ferner ist das Bundesverfassungsgericht zur Normenkontrolle in den Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG (konkret) und Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG (abstrakt) berufen. Es scheint somit auf den ersten Blick denkbar, dass das Bundesverfassungsgericht in den genannten Verfahren Rechtsakte auch einer Prüfung am Maßstab des Unionsrechts unterzieht. Im Schrifttum wird die Frage zumeist hinsichtlich der Verfassungsbeschwerde diskutiert. Es geht darum, ob man diese zur Durchsetzung von unionsrechtlich gewährleisteten Rechten öffnet.5 Die nachfolgende Untersuchung bezieht auch die abstrakte und konkrete Normkontrolle mit ein.
1. Keine Individualbeschwerde zum EuGH Das Bestreben, das Verfassungsbeschwerdeverfahren für das Unionsrecht zu öffnen, wird vor dem Hintergrund verständlich, dass auf Ebene der Europäischen Union kein der Verfassungsbeschwerde oder dem Art. 34 EMRK vergleichbarer Individualrechtsbehelf existiert. Nach Art. 34 EMRK kann der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte von jeder natürlichen Person, nichtstaatlichen Organisation oder Personengruppe wegen einer Verletzung der Europäischen Menschenrechtskonvention durch eine Vertragspartei angerufen werden. Auf unionsrechtlicher Ebene ist es natürlichen und juristischen Personen nicht möglich, jede Verletzung des Unionsrechts vor dem Gerichtshof der Europäischen Union zu rügen. Als Individualrechtsbehelf steht zwar die Individualnichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV zur Verfügung, welche aber deshalb keine vergleichbare Stellung im Rechtsschutzsystem einnimmt, weil diese hohe Anforderungen an die Klagebefugnis stellt.6
2. Duales Rechtsschutzsystem Nach Art. 19 Abs. 1 EUV sichert der Gerichtshof der Europäischen Union die Wahrung des Rechts bei der Auslegung und Anwendung der Verträge, womit er Hüter des Unionsrechts ist. Neben dem Gerichtshof der Europäischen Union werden auch die Mitgliedstaaten insofern in die Pflicht genommen, als diese gemäß Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV dazu verpflichtet sind, die erforderlichen Rechtsbehelfe zu schaffen, damit ein wirksamer Rechtsschutz in den vom Unionsrecht erfassten Bereichen gewährleistet ist. Der Gerichtshof ist aus diesem Grund nicht für die Abwehr jeglicher 5
414. 6
Vgl. Gellermann, in Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 57; Frenz, DÖV 1995, s. dazu E. II. 2.
II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union
147
Verletzung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten zuständig, sondern neben dem Gerichtshof treten die Gerichte der Mitgliedstaaten als Rechtsschutzakteure in Erscheinung. Das Rechtsschutzsystem der Union ist somit dualistisch ausgestaltet.7 Art. 19 Abs. 1 S. 2 EUV entspricht der bisherigen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union8 und gibt dieser eine primärrechtliche Grundlage. Die Mitgliedstaaten sind danach verpflichtet, einen Rechtsweg zu Verfügung zu stellen, auf dem eine Gerichtsentscheidung über die Vereinbarkeit einer staatlichen Maßnahme oder Norm mit Unionsrecht erwirkt oder Rechte unionsrechtlichen Ursprungs durchgesetzt werden können.9 Das Rechtsschutzsystem vor dem Gerichtshof vertraut eher den Anstößen zur objektiven Rechtskontrolle durch die Organe der Europäischen Union und die Mitgliedstaaten und weniger der Geltendmachung von subjektivem Rechtsschutz durch den einzelnen EU-Bürger.10 Der Einzelne kann selbst nur in Ausnahmefällen Verfahren vor dem Gerichtshof einleiten und muss sich zur Durchsetzung seiner Rechte daher zumeist an ein mitgliedstaatliches Gericht wenden. Das Rechtsschutzsystem und der Rechtsschutz des Einzelnen haben Änderungen durch den Vertrag von Lissabon erfahren, weshalb sich nachfolgend ein kurzer Überblick über die bisher vorhandenen Individualrechtsschutzmöglichkeiten auf Ebene der Europäischen Union und nationaler Ebene verschafft werden soll, bevor der Frage der Integration des Unionsrechts in verfassungsgerichtliche Verfahren – insbesondere in das Verfassungsbeschwerdeverfahren als Individualrechtsbehelf – nachgegangen wird.
II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union Wenn auch fehlender Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht für sich allein ausreicht, um die Verfassungsbeschwerde auch zur Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechte zu öffnen, da dem nationalen Recht insofern keine reine Lückenfüllungsfunktion zukommt, so sollte doch im Interesse der Träger von subjektiv öffentlichen Rechten versucht werden, Rechtsschutz7
Vgl. Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 240. Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-6677, Rn. 41 f. – Union de Pequenos Agricultores: „Es ist somit Sache der Mitgliedstaaten, ein System von Rechtsbehelfen und Verfahren vorzusehen, mit dem die Einhaltung des Rechts auf effektiven gerichtlichen Rechtsschutz gewährleistet werden kann. In diesem Rahmen haben die nationalen Gerichte…die nationalen Verfahrensvorschriften über die Einlegung von Rechtsbehelfen möglichst so auszulegen und anzuwenden, dass natürliche und juristische Personen die Rechtmäßigkeit jeder nationalen Entscheidung oder anderen Maßnahme, mit der eine Unionshandlung allgemeiner Geltung auf sie angewandt wird, gerichtlich anfechten und sich dabei auf die Ungültigkeit dieser Handlung berufen können.“ 9 Schröder, DÖV 2009, 62. 10 Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19 IV Rn. 17; vgl. auch Brüning, in: Stern/Becker, Art. 19 Rn. 142. 8
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
lücken im europäischen Mehrebenensystem soweit wie möglich auf juristischem Wege zu schließen. Die EU-Bürger darauf zu vertrösten, dass es eine politische Aufgabe ist, einen Individualrechtsbehelf für Verletzungen des Europarechts durch Änderung des Primärrechts einzuführen,11 kann als Bemühung nicht ausreichen. Auf europäischer Ebene stehen den EU-Bürgern lediglich die bedeutungsarme Untätigkeitsklage nach Art. 265 Abs. 3 AEUV, die subsidiäre Amtshaftungsklage nach Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2, 3 AEUV sowie die Nichtigkeitsklage nach Art. 263 Abs. 4 AEUV zur Verfügung.12 Die EU-Bürger haben zudem weder einen Anspruch gegenüber der Kommission auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens nach Art. 258 AEUV noch einen Anspruch gegenüber nationalen Gerichten auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV. Auf europäischer Ebene eröffnet sich somit eine individualrechtliche Rechtsschutzlücke,13 die auf nationaler Ebene geschlossen werden muss, wofür als Durchsetzungsinstrument subsidiär, d. h., nachdem fachgerichtlicher Rechtschutz erfolglos geblieben ist, auch die Verfassungsbeschwerde in Frage kommen muss.
1. Gerichtshof, Gericht, Fachgerichte Das judikative Organ der Europäischen Union ist der Gerichtshof der Europäischen Union, zu welchem gemäß Art. 19 Abs. 1 EUV der Gerichtshof, das Gericht und die Fachgerichte zählen. Der Begriff Gerichtshof bezeichnet dabei nur noch die Rechtsprechungsinstanz Europäischer Gerichtshof (EuGH); das Gericht erster Instanz (ex Art. 225 EGV) wird seit dem 1. Dezember 2009 nur noch als „Gericht“ bezeichnet.14 Die dem Gericht beigeordneten Kammern (ex Art. 225a EGV) erhalten nunmehr die Bezeichnung „Fachgerichte“. Art. 257 Abs. 1 AEUV ermächtigt den Rat und das Parlament dazu, Fachgerichte im Verordnungswege zu bilden. Diese sind in diesem Fall für Entscheidungen im ersten Rechtszug über bestimmte Kategorien von Klagen zuständig, die auf besonderen Sachgebieten erhoben werden (Art. 257 Abs. 1 AEUV). Die Abgrenzung der sachlichen Zuständigkeit zwischen dem Gerichtshof, dem Gericht und den Fachgerichten erfolgt nach Art. 256 AEUV. Allerdings kann die Satzung des Gerichtshofs der Europäischen Union, die nach Art. 281 Abs. 1 AEUV in einem besonderen Protokoll festgelegt wird, Abweichungen von der in Art. 256 AEUV festgelegten Zuständigkeitsverteilung treffen (Art. 256 Abs. 1 S. 2 AEUV).
11 12 13 14
So Schlaich/Korioth, Rn. 366. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19 IV Rn. 17. So auch Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19 IV Rn. 23. Vgl. Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 242 f.
II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union
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2. Nichtigkeitsklage Natürlichen und juristischen Personen eröffnet Art. 263 Abs. 4 AEUV die Möglichkeit, gegen Handlungen der in Art. 263 Abs. 1 AEUV genannten Organe der Union Nichtigkeitsklage zu erheben. Die Klage ist auf die in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Anfechtungsgründe beschränkt.15 Wie Art. 264 AEUV verdeutlicht, ist die Nichtigkeitsklage eine Gestaltungsklage, d. h., das stattgebende Urteil beseitigt erga omnes und grundsätzlich ex tunc die auch einem rechtswidrigen Akt bis zu seiner Aufhebung zukommende Geltung.16 Natürliche und juristische Personen sind gegenüber den in Art. 263 Abs. 2 AEUV genannten Klageberechtigten, die nicht die Verletzung eigener Rechte geltend machen müssen,17 nur eingeschränkt klagebefugt, da sie nur gegen „die an sie gerichteten oder sie unmittelbar und individuell betreffenden Handlungen sowie gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter, die sie unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen, Klage erheben“ können. Bei Art. 263 Abs. 4 AEUV handelt es sich um eine prominente Neuregelung durch den Vertrag von Lissabon,18 da die Norm gegenüber Art. 230 Abs. 4 EGV, der noch vor dem 1. Dezember 2009 die Individualnichtigkeitsklage regelte, wesentlich modifiziert worden ist. Die Neuerung wird deshalb als bedeutsam angesehen, weil mit dieser eine Verbesserung des Individualrechtsschutzes einhergehen soll.19 Trotz der Neuregelung ist der Wortlaut nicht leicht verständlich und führt zu Auslegungsschwierigkeiten. Art. 263 Abs. 4 AEUV umfasst drei Konstellationen der Nichtigkeitsklage einer natürlichen oder juristischen Person, in denen abgeleitetes Unionsrecht angegriffen werden kann. a) Einschränkung des Rechtsschutzes durch die „Plaumann-Formel“ Für die Normanalyse ist es sinnvoll, sich kurz mit der alten Regelung zu beschäftigen, da die den Rechtsschutz stark beschränkende „Plaumann-Formel“ vom Gerichtshof zu Art. 230 Abs. 4 EGV entwickelt wurde und die Frage, ob diese für Art. 263 Abs. 4 AEUV gilt, nur durch eine Gegenüberstellung der alten und neuen Regelung beantwortet werden kann. Nach Art. 230 Abs. 4 EGV konnten natürliche und juristische Personen gegen an sie ergangene Entscheidungen sowie gegen diejenigen Entscheidungen Klage erheben, die, obwohl sie als Verordnung oder als eine an 15
Vgl. Herdegen, § 10 Rn. 9. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 230 EGV Rn. 1. 17 Vgl. Streinz, Rn. 586. 18 Nach Everling, EuR – Beiheft 1 – 2009, 73 handelt es sich hinsichtlich des Rechtsschutzes um „die wohl bedeutendste Neuregelung durch den Vertrag von Lissabon.“ 19 Vgl. Hummer/Obwexer, Der Vertrag von Lissabon, 254 ff. 16
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eine andere Person gerichtete Entscheidung ergangen ist, sie unmittelbar und individuell betreffen. Über den Wortlaut hinaus war es auch vor dem Vertrag von Lissabon theoretisch möglich, alle verbindlichen Rechtsakte des Gemeinschaftsrechts mit der Nichtigkeitsklage nach Art. 230 Abs. 4 EG anzufechten.20 Die unmittelbare Betroffenheit bejaht der Gerichtshof, wenn die beanstandete Maßnahme sich auf die Rechtsstellung des Klägers unmittelbar auswirkt und den Adressaten, die mit der Durchführung betraut sind, keinerlei Ermessensspielraum lässt, diese Durchführung vielmehr rein automatisch erfolgt und sich allein aus der Unionsregelung ergibt, ohne dass dabei weitere Vorschriften angewandt werden.21 Der Anwendungsbereich der Individualnichtigkeitsklage blieb jedoch sehr beschränkt, weil der EuGH die „individuelle Betroffenheit“ im Sinne der sog. „Plaumann-Formel“ eng auslegte. Nach dieser in der Rechtssache „Plaumann“ entwickelten Formel war eine Person, die nicht Adressat einer Handlung ist, nur im Sinne von Art. 230 Abs. 4 EG individuell betroffen, „wenn die Entscheidung ihn wegen bestimmter persönlicher Eigenschaften oder besonderer, ihn aus dem Kreis aller übrigen Personen heraushebender Umstände berührt und ihn daher in ähnlicher Weise individualisiert wie den Adressaten.“22 Die Zugehörigkeit zu einer allein nach gattungsmäßigen Merkmalen bestimmten Personengruppe war danach nicht ausreichend.23 Vielmehr verlangte der EuGH, dass der Kreis der Betroffenen zum Zeitpunkt der Entscheidung nach Zahl und Personen feststehen muss.24 Nach dieser Rechtsprechung, an der der EuGH trotz generalanwaltlicher Kritik festgehalten hat,25 waren Direktklagen gegen Verordnungen und Richtlinien, d. h. gegen Rechtsakte mit allgemeiner Geltung, regelmäßig unzulässig und die Betroffenen wurden darauf verwiesen, den Unionsrechtsakt inzident vor mitgliedstaatlichen Gerichten anzugreifen.26 Nach dem Gerichtshof ist ein anderes System der Rechtmäßigkeitskontrolle der Unionshandlungen allgemeiner Geltung zwar vorstellbar, es liegt jedoch an den Mitgliedstaaten, durch Reform des Primärrechts das Rechtsschutzsystem zu ändern.27 Mit dem Vertrag von Lissabon ging eine Änderung der Nichtigkeitsklage einher. Fraglich ist daher, ob nunmehr Direktklagen Einzelner gegen Verordnungen und Richtlinien möglich sind.
20
Vgl. Borowski, EuR 2004, 888. EuGH, Slg. 1998, I-2309, Rn. 43 – Dreyfus. 22 EuGH, Slg. 1963, 211 (238) – Plaumann. 23 Vgl. Streinz, Rn. 606. 24 Vgl. EuGH, Slg. 1971, 411, Rn. 16/22 – NV International Fruit Company; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 230 EGV Rn. 50. 25 Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 – Union de Pequenos Agricultores. 26 Vgl. Cremer, DÖV 2010, 59. 27 EuGH, Slg. 2002, I-6677, Rn. 45 – Union de Pequenos Agricultores. 21
II. Individualrechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union
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b) Klagebefugnis des Adressaten (Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV) Nach der 1. Variante des Art. 263 Abs. 4 AEUV können Personen gegen die an sie gerichteten Handlungen Klage erheben. Die Rechtsakte der Union werden in Art. 288 AEUV aufgeführt: Rechtsverbindliche Rechtsakte sind die Verordnung, die Richtlinie und die Beschlüsse. Art. 288 Abs. 4 AEUV zählt zwei Arten von Beschlüssen auf, den adressatenlosen und den an einen Adressaten gerichteten Beschluss. Der an einen Adressaten gerichtete Beschluss (Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV) entspricht der Entscheidung im Sinne von Art. 249 Abs. 4 EGV. Nur der Beschluss nach Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV kommt dem Wortlaut nach als Handlung im Sinne von Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV in Betracht,28 weshalb die 1. Variante trotz der weitergehenden Bezeichnung „Handlung“ zu keiner Ausweitung des Rechtsschutzes gegenüber Art. 230 Abs. 4 Alt. 1 AEUV führt. c) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV Natürliche und juristische Personen können gegen Handlungen, deren Adressat ein anderer ist, oder die keinen Adressaten haben, Klage erheben, wenn sie unmittelbar und individuell betroffen sind.29 Dies stellt insoweit eine Änderung gegenüber Art. 230 Abs. 4 EG dar, als dass Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV nunmehr von Handlungen und nicht mehr von Entscheidungen spricht. Handlungen im Sinne der Norm sind rechtsverbindliche Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse (Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV), die in einem ordentlichen (Art. 289 Abs. 1 AEUV) oder in einem besonderen Gesetzgebungsverfahren (Art. 289 Abs. 2 AEUV) zustande gekommen und deshalb Gesetzgebungsakte gemäß Art. 289 Abs. 3 AEUV sind. Eine materielle Änderung geht damit nicht einher, weil die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Union zu Art. 230 Abs. 4 EGV insofern nur primärrechtlich verankert wird. Verordnungen und Richtlinien konnten nämlich bereits vor dem Inkrafttreten des Vertrages von Lissabon im Wege der Nichtigkeitsklage angefochten werden, wenn der Kläger eine unmittelbare und individuelle Betroffenheit geltend machen konnte.30 Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV gibt dieser Rechtsprechung eine klarere Rechtsgrundlage.31 Die Neuregelung hält für Verordnungen und Richtlinien an der unmittelbaren und individuellen Betroffenheit und damit auch an der engen „Plaumann-Formel“ des Gerichtshofs fest, womit keine Verbesserung des Individualrechtsschutzes verbunden ist. 28
So auch Cremer, DÖV 2010, 60. Vgl. Cremer, DÖV 2010, 60. 30 Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-6677, Rn. 36 – Union de Pequenos Agricultores; zur EuGHRechtsprechung m.w.N. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 230 EGV Rn. 30 ff., 39 ff. 31 Vgl. Schröder, DÖV 2009, 63. 29
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
d) Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV Für die Frage der Verbesserung des Individualrechtsschutzes kommt es somit auf Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV an, wonach eine Klage gegen Rechtsakte mit Verordnungscharakter erhoben werden kann, wenn sie den Kläger unmittelbar betreffen und keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Diese Variante ist gänzlich neu gegenüber Art. 230 Abs. 4 EGVund verzichtet auf das Erfordernis der „individuellen Betroffenheit“ im Sinne der „Plaumann-Formel“. Entscheidend ist demnach, was unter Rechtsakten mit Verordnungscharakter zu verstehen ist. Das Unionsrecht kennt an rechtsverbindlichen Akten nur die Verordnung, die Richtlinie und die Beschlüsse nach Art. 288 AEUV. Diese Rechtsakte können jedoch sowohl als Gesetzgebungsakte im Sinne von Art. 289 Abs. 3 AEUV als auch als Rechtsakte ohne Gesetzescharakter ergehen.32 Diese Regelungstechnik erscheint kompliziert und auch terminologisch nicht sonderlich geglückt, wird aber durch Art. 290 Abs. 1 AEUV bestätigt, wonach der Kommission in Gesetzgebungsakten die Befugnis übertragen werden kann, Rechtsakte ohne Gesetzgebungscharakter mit allgemeiner Geltung zur Ergänzung oder Änderung bestimmter nicht wesentlicher Vorschriften des Gesetzgebungsaktes zu erlassen. Gesetzgebungsakte gemäß Art. 289 Abs. 3 AEUV sind demnach keine Rechtsakte mit Verordnungscharakter im Sinne von Art. 263 Abs. 4 Var. AEUV.33 Dieses Auslegungsergebnis stützt nicht nur der Wortlaut („Verordnungscharakter statt „Verordnung“),34 sondern auch die Hinzuziehung des Verfassungsvertrages, der die Regelung des Art. 263 Abs. 4 AEUV bereits in Art. III-365 VVE wortlautgetreu enthielt. Private sollten danach gerade nicht gegen Gemeinschaftsgesetze vorgehen können,35 sondern nur gegen untergesetzliche Normen und Beschlüsse normativen Inhalts.36 Für den Vertrag von Lissabon gilt insoweit nichts anderes, da er an der Unterscheidung zwischen Rechtsakten mit und ohne Gesetzescharakter festhält.37 Zusammenfassend bedeutet dies, dass im Wege der Nichtigkeitsklage nur solche Rechtsakte angegriffen werden können, die nicht Gegenstand eines Gesetzgebungsverfahrens nach Art. 289 AEUV waren. Klagegegenstand im Sinne von Art. 263 Abs. 4 Var. 3 AEUV sind mithin alle Verordnungen, Richtlinien und Beschlüsse ohne Gesetzescharakter, wobei für Adressaten von Beschlüssen im Sinne von Art. 288 Abs. 4 S. 1 AEUV die Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 1 AEUV
32
Vgl. Cremer, DÖV 2010, 61. So auch Cremer, DÖV 2010, 61; Schröder, DÖV 2009, 64; Hatje/Kindt, NJW 2008, 1767; anders aber Everling, EuR – Beiheft 1 – 2009, 74. 34 Vgl. Hatje/Kindt, NJW 2008, 1767. 35 Dies räumt auch Everling, EuR – Beiheft 1 – 2009, 74 ein. 36 Vgl. Schröder, DÖV 2009, 63. 37 Vgl. Schröder, DÖV 2009, 63. 33
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vorrangig zu berücksichtigen ist.38 Für alle Rechtsakte mit Gesetzescharakter bleibt es demnach bei der Klagebefugnis nach Art. 263 Abs. 4 Var. 2 AEUV. Neben dem Erfordernis einer unmittelbaren Betroffenheit darf der Rechtsakt keine Durchführungsmaßnahmen nach sich ziehen. Dieses Erfordernis, das die Klagebefugnis einengt, erklärt sich daraus, dass der Gerichtshof in ausgewählten Konstellationen die unmittelbare Betroffenheit auch bejaht, wenn ein Unionsrechtsakt noch der Umsetzung bedarf, etwa wenn den Mitgliedstaaten kein Ermessensspielraum zusteht.39 e) Zusammenfassung Art. 263 Abs. 4 AEUV führt nur im Bereich der untergesetzlichen Rechtsakte zu einer Erweiterung des Individualrechtsschutzes. Die Änderungen sind nicht überaus bedeutsam, weil es für die herkömmlichen Verordnungen und Richtlinien (mit Gesetzescharakter) bei der individuellen Betroffenheit und der restriktiven „PlaumannFormel“ verbleibt.
3. Untätigkeitsklage Individualrechtsschutz gegenüber EU-Organen vermittelt den EU-Bürgern auf Unionsebene auch die Untätigkeitsklage nach Art. 265 AEUV. Natürliche und juristische Personen können vor dem Gerichtshof Beschwerde darüber führen, dass ein Organ, eine Einrichtung oder eine sonstige Stelle der Union es unterlassen hat, einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahme an sie zu richten. Die Untätigkeitsklage ist anders als die Nichtigkeitsklage keine Gestaltungsklage, sondern diese zielt – wie Art. 265 Abs. 1 S. 1 AEUV zum Ausdruck bringt – nur auf die Feststellung eines unionsrechtswidrigen Unterlassens ab. Wie auch die Vertragsverletzungsklagen nach Art. 258 f. AEUV beseitigt sie den vertragswidrigen Zustand nicht, sondern führt gemäß Art. 266 AEUV zur Verpflichtung der betreffenden Stelle, die sich aus dem Urteil ergebenden Maßnahmen zu ergreifen.40 Der Anwendungsbereich der Untätigkeitsklage für natürliche und juristische Personen ist beschränkt. Zunächst folgt aus dem Wortlaut („einen anderen Akt als eine Empfehlung oder Stellungnahme“), dass der Klagegegenstand auf rechtsverbindliche Akte begrenzt ist. Ferner ergibt sich aus der Formulierung „an sie zu richten“, dass der Rechtsakt eine individuelle Komponente aufweisen muss, so dass Akte wie Verordnungen und Richtlinien, die ihrer Rechtsnatur nach nicht an Einzelne gerichtet sind, als Gegenstand einer Untätigkeitsklage ausscheiden.41 Als tauglicher Klagegegenstand bleibt demnach nur der Beschluss nach Art. 288 Abs. 4 S. 2 AEUV. Die Zuläs38 39 40 41
So auch Cremer, DÖV 2010, 64 mit Fn. 49. Cremer, DÖV 2010, 65. Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 232 EGV Rn. 1. Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 8 Rn. 26.
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sigkeit der Untätigkeitsklage ist ferner daran geknüpft, dass die betreffende Stelle zuvor zum Tätigwerden aufgefordert worden ist und innerhalb von zwei Monaten keine Stellungnahme erfolgt ist (Art. 265 Abs. 2 AEUV). In der Praxis werden nur wenige Untätigkeitsklagen erhoben.42 Die Klageart hat sich auch bisher nicht als wirksames Instrument zum Schutze Einzelner erweisen können.43
4. Amtshaftungsklage Natürliche und juristischen Personen steht die Amtshaftungsklage nach Art. 268 i.V.m. Art. 340 Abs. 2, 3 AEUV zu. Die Klage ist auf Schadensersatz im Bereich der außervertraglichen Haftung gerichtet; Rechtsakte selbst können mit ihr nicht angegriffen werden. Letzteres ist auch nicht Voraussetzung für die Amtshaftungsklage, welche insofern einen selbständigen Rechtsbehelf darstellt.44 Wenngleich die Unionsgerichtsbarkeit für die Haftung der Union ausschließlich zuständig ist, ist der Rechtsweg zum Gerichtshof gegenüber dem indirekten Vollzug des Unionsrechts durch nationale Verwaltungsmaßnahmen erst nach Erschöpfung der innerstaatlichen Klagemöglichkeiten eröffnet.45
5. Erzwingung einer Aufsichtsklage der Kommission Schließlich könnte es dem EU-Bürger möglich sein, sozusagen „durch die Hintertür“46 Rechtsschutz vor dem Gerichtshof der Union wegen einer Verletzung des Unionsrechts durch die Mitgliedstaaten zu erlangen. Der betroffene EU-Bürger hat nämlich die Möglichkeit, sich mit der Bitte an die EU-Kommission zu wenden, seinen Heimatstaat vor dem Gerichtshof im Wege der Aufsichtsklage nach Art. 258 AEUV zu verklagen.47 Kommt die Kommission der Bitte nach und verklagt den Mitgliedstaat nach ordnungsgemäßer Durchführung eines Vorverfahrens,48 wird der Mitgliedstaat im Falle eines Verstoßes gegen die Verträge nach Art. 260 Abs. 1 AEUV dazu verurteilt, den unionswidrigen Zustand im
42
Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 14 Rn. 49. Herdegen, § 10 Rn. 25. 44 Vgl. Dörr/Lenz, Rn. 220. 45 Vgl. Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 235 EGV Rn. 7; EuGH, Slg. 1979, 623, Rn. 14 – Granaria BV. 46 So Hasselbach, MDR 1994, 850. 47 Zur Aufsichtsklage Streinz, Rn. 578 ff.; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6. 48 Dazu Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 9 ff. 43
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innerstaatlichen Bereich zu beseitigen.49 Obwohl dem Urteil nur eine feststellende Wirkung zukommt und Art. 260 AEUV keine Frist zur Beseitigung der Vertragsverletzung zu entnehmen ist, resultiert aus diesem eine Pflicht zum unverzüglichen Tätigwerden des Mitgliedstaates.50 Aus Rechtsschutzgesichtspunkten ist diese Möglichkeit des EU-Bürgers jedoch nur ausreichend, wenn die EU-Kommission auch im Klagewege gezwungen werden kann, einem Appell zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens Folge zu leisten.51 Ob angesichts des in Art. 258 Abs. 2 AEUVeingeräumten Ermessens („kann“) eine Pflicht der Kommission zur Verfahrenseinleitung besteht, ist zweifelhaft und wird vom EuGH abgelehnt.52 Eine Rechtspflicht der Kommission zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens soll auch deshalb ausscheiden, weil vor dem Hintergrund von unzähligen Bagatellfällen eine unnötige Überlastung des Gerichtshofs die Folge wäre.53 Eine ablehnende Entscheidung der Kommission kann mangels Rechtsqualität nicht im Wege der Nichtigkeitsklage angefochten werden,54 überdies wird ein privater Antragsteller auch nicht unmittelbar und individuell betroffen.55 Die ablehnende Entscheidung kann auch nicht im Wege der Untätigkeitsklage gerügt werden.56
6. Vorabentscheidungsverfahren Schließlich kommt auch dem Vorabentscheidungsverfahren große Bedeutung für den Individualrechtsschutz zu, da es mehr als jedes andere Verfahren die dem Einzelnen durch das Unionsrecht verliehenen Rechte gewährleistet.57 Allerdings kann der Einzelne im Verfahren vor dem nationalen Gericht die Einleitung eines Vorabentscheidungsersuchens nur anregen, einen Anspruch auf die Einlei-
49 Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 228 EGV Rn. 3; Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 6 Rn. 49. 50 Vgl. EuGH, Slg. 2000, I-5047, Rn. 82 – Kommission/Griechenland: „Nach ständiger Rechtsprechung verlangt jedoch das Interesse an einer sofortigen und einheitlichen Anwendung des Gemeinschaftsrechts, dass diese Durchführung sofort in Angriff genommen werden muss und innerhalb kürzestmöglicher Frist abgeschlossen sein muss.“ 51 So auch Hasselbach, MDR 1994, 850. 52 Vgl. EuGH 1989, 291, Rn. 11 – Star Fruit Company. 53 So Burgi, in: Rengeling/Middeke/Gellermann § 6 Rn. 24; Cremer, in: Calliess/Ruffert, Art. 226 EGV Rn. 42. 54 Vgl. EuGH 1990, I-1981, Rn. 6 ff. – Sonito. 55 Vgl. EuGH 1990, I-1981, Rn. 8 – Sonito; EuGH, Slg. 1989, 291, Rn. 13 – Star Fruit Company. 56 Vgl. EuGH 1989, 291, Rn. 7 ff. – Star Fruit Company; Geiger, Art. 226 EGV Rn. 8. 57 Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 1.
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tung des Verfahrens hat er nicht,58 so dass die Beurteilung der Erforderlichkeit einer Vorlage grundsätzlich ausschließlich Sache des nationalen Gerichts ist. Wenn ein nationales Gericht trotz Vorlagepflicht ein Vorabentscheidungsverfahren nicht einleitet, kann dies für natürliche und juristische Personen, die die Durchsetzung ihrer unionsrechtlich verliehenen Rechte begehren, negative Folgen haben, insbesondere wenn das nationale Gericht die unionsrechtlichen Aspekte nicht richtig gewürdigt hat. Dem Einzelnen verbleibt dann nur noch die Möglichkeit Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht zu erheben und eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu rügen. a) Unionsrechtliche Konsequenzen bei Vorlagepflichtverletzungen Auf unionsrechtlicher Ebene kann die Verletzung der Vorlagepflicht zur Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens durch die Kommission (Art. 258 AEUV) oder einen anderen Mitgliedstaat (Art. 259 AEUV) führen, da die rechtswidrige Nichtvorlage durch ein nationales Gericht eine dem jeweiligen Mitgliedstaat zurechenbare Verletzung des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union darstellt.59 Bisher hat die Kommission aber diesbezüglich von der Erhebung von Vertragsverletzungsverfahren abgesehen.60 Ein im Anschluss an eine Aufsichtsklage ergehendes Vertragsverletzungsurteil gegenüber einem Mitgliedstaat führt auch nur dazu, dass der Mitgliedstaat für die Verletzung der Vorlagepflicht durch ein Gericht in Regress genommen wird. Der Exekutive ist es aber hinsichtlich der überall garantierten Unabhängigkeit der Justiz stets verwehrt, einem Gericht eine Anweisung zur Vorlage an den EuGH zu erteilen.61 Die praktischen Auswirkungen eines Feststellungsurteils nach Art. 260 AEUV wären also gering. b) Staatshaftung bei Vorlagepflichtverletzungen Lange Zeit war unsicher, ob der vom EuGH in der Rechtssache „Francovich“62 entwickelte Staatshaftungsanspruch auch auf die Verletzung von Unionsrecht durch nationale Gerichte anwendbar ist. 58 Vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 19, Middeke, in: Rengeling/ Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 8. 59 Vgl. Borchardt, in: Lenz/Borchardt, Art. 234 EGV Rn. 49. 60 Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 68; Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 30. 61 Vgl. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 68. 62 In EuGH, Slg. 1991, I-5357 – Francovich, entwickelte der EuGH die Staatshaftung der Mitgliedstaaten für die Folgen unionsrechtswidrigen Verhaltens eines Mitgliedstaates hinsichtlich einer nicht fristgemäßen Richtlinienumsetzung in nationales Recht.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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Seit der Entscheidung in der Rechtssache „Köbler“ bejaht der Gerichtshof grundsätzlich die Haftung der Mitgliedstaaten für judikatives Unrecht, da der Staat im Völkerrecht und daher erst recht im Unionsrecht als Einheit betrachtet wird und es deswegen nicht darauf ankommt, ob der schadensverursachende Verstoß der Legislative, der Exekutive oder der Judikative zuzurechnen ist.63 Der Gerichtshof trägt aber den Besonderheiten der richterlichen Funktion sowie der Rechtssicherheit Rechnung, da der Staat nur für unionsrechtswidrige letztinstanzliche Entscheidungen haftet und wenn das Gericht offenkundig gegen Unionsrecht verstößt,64 was vor allem der Fall ist, wenn die einschlägige Entscheidung des Gerichtshofs offenkundig verkannt worden ist.65 In der Rechtssache „Traghetti“ hat der EuGH ausdrücklich bekräftigt, dass der Haftungsgrund auch in der Verletzung der Vorlagepflicht durch ein mitgliedstaatliches Gericht liegen kann.66 Der Staatshaftungsanspruch wurzelt unmittelbar im Unionsrecht, ist aber durch die betroffenen natürlichen und juristischen Personen im Rahmen des nationalen Haftungsrechts und somit vor einem mitgliedstaatlichen Gericht geltend zu machen.67
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene Dem nationalen Rechtsschutz kommt aus der Sicht des Einzelnen eine doppelte Funktion zu. Natürliche und juristische Personen können Verfahren vor mitgliedschaftlichen Gerichten gegen nationale Durchführungsakte anstrengen, um ihre unionsrechtlich verliehenen Rechte durchzusetzen.68 Dass den Fachgerichten eine solche Pflicht zukommt, wird nicht nur vom Gerichtshof der Union,69 sondern auch vom Bundesverfassungsgericht betont.70 Andererseits können Einzelne den nationalen Rechtsweg auch dazu nutzen, Rechtsschutz gegen sie beschwerendes Unionsrecht zu erhalten, wobei die Unionsrechtswidrigkeit von Sekundärrecht, d. h. vor allem von Verordnungen und Richtlinien, nicht durch ein nationales Gericht, sondern nur im Wege des Vorabentscheidungsverfahrens durch den Gerichtshof festgestellt werden kann.71 63
EuGH, Slg. 2003, I-10239, Rn. 32 – Köbler. EuGH, Slg. 2003, I-10239, Rn. 53 – Köbler. 65 EuGH, Slg. 2003, I-10239, Rn. 56 – Köbler. 66 Vgl. EuGH, Slg. 2006, I-5177, Rn. 32 – Traghetti. 67 Vgl. EuGH, Slg. 2003, S. I-10239, Rn. 58 – Köbler. 68 Dörr/Lenz, Rn. 364. 69 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal; EuGH, Slg. 1990, I-2433, Rn. 19 – Factortame. 70 BVerfGE 31, 145 (174 f.); 82, 159 (191). 71 Vgl. Dörr/Lenz, Rn. 364. 64
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
Nachfolgend geht es nur um die Durchsetzungsfunktion der nationalen Gerichte für das Unionsrecht, wobei nach Darstellung der Aufgaben der Fachgerichte die Rolle des Bundesverfassungsgerichts beleuchtet wird.
1. Fachgerichtlicher Rechtsschutz Auf nationaler Ebene obliegt es den Fachgerichten, in den vom nationalen Recht vorgesehenen Verfahren auch die Rechte des Einzelnen zu schützen, die ihm das Unionsrecht zuweist.72 Das Unionsrecht wird überwiegend durch nationale Behörden vollzogen. Die Vollzugskontrolle obliegt in diesen Fällen den deutschen Verwaltungsgerichten. Neben dem Verwaltungsrecht ist der nationale Richter aber auch im Zivil- und Strafrecht aus Art. 4 Abs. 3 EUV dazu verpflichtet, dem Unionsrecht Vorrang vor entgegenstehendem nationalem Recht einzuräumen.73 Alle drei Staatsgewalten sind mit dem Vollzug von Unionsrecht betraut, was teilweise auf die Konstruktion des Unionsrechts, teilweise aber auch auf den fehlenden Verwaltungsunterbau der Union zurückzuführen ist.74 a) Vollzug durch die Legislative Für die Legislative wird die Vollzugsbedürftigkeit des Unionsrechts anhand der Umsetzungsverpflichtung von Richtlinien nach Art. 288 Abs. 3 AEUV deutlich, da diese nur hinsichtlich des zu erreichenden Zieles für die Mitgliedstaaten verbindlich sind, den innerstaatlichen Stellen aber im Übrigen die Wahl der Form und der Mittel überlässt. b) Vollzug durch die Exekutive Hinsichtlich der exekutiven Gewalt folgt die Vollzugsbedürftigkeit des Unionsrechts daraus, dass die unionsrechtlichen Normen nur teilweise von den EU-Organen selbst vollzogen werden (direkter Vollzug). Nach dem Prinzip der begrenzten Einzelermächtigung ist die Europäische Union nämlich nur für den Vollzug des Unionsrechts zuständig, soweit Behörden errichtet worden sind und ihnen der Vollzug zugewiesen wurde.75 Der unionsinterne Bereich, zu welchem vor allem Personalangelegenheiten und die interne Organisation gehören, erfolgt im direkten Vollzug. Daneben vollzieht die Kommission, die grundsätzlich für den direkten Vollzug zuständig ist, einige Materien auch extern gegenüber den Mitgliedstaaten und den Unionsbürgern. Der exter72 73 74 75
Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 36 Rn. 1. Vgl. Streinz, Rn. 649; EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 182 Rn. 1. Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 13 Rn. 7.
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ne direkte Vollzug umfasst u. a. die Materien Wettbewerbsrecht (Art. 101 ff. AEUV), Beihilfenkontrolle (Art. 107 f. AEUV), Handelspolitik (Ein- und Ausfuhrkontrolle), die Verwaltung der verschiedenen Fonds (Art. 163 AEUV) und den Haushaltsvollzug, soweit er die Vergabe von Mitteln an Bürger und Mitgliedstaaten betrifft (Art. 317 AEUV).76 In allen anderen Fällen erfolgt der Vollzug durch die Mitgliedstaaten (indirekter Vollzug), die nach Art. 4 Abs. 3 EUV (Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit) zur Anwendung des Unionsrechts über den nationalen Behördenapparat verpflichtet sind.77 Beim indirekten Vollzug kann man wiederum zwischen dem unmittelbaren (die nationalen Behörden wenden unmittelbar wirksames Unionsrecht an) und dem mittelbaren Vollzug (deutsches Ausführungsrecht ist Gegenstand der Rechtsanwendung) unterscheiden.78 Obwohl der Verwaltungsvollzug damit unionsrechtlich determiniert ist, sind die Akte der nationalen Behörden den staatlichen Organen und nicht der Europäischen Union zuzuordnen,79 was dazu führt, dass Verwaltungsorganisation und Verwaltungsverfahren sich ebenfalls nach den nationalen Rechtsordnungen richten. Dazu hat der Gerichtshof folgende Formel verfasst: Soweit das Unionsrecht zur Durchführung der Unionsregelungen „keine gemeinsamen Vorschriften enthält, gehen die nationalen Behörden bei dieser Durchführung nach den formellen und materiellen Bestimmungen ihres nationalen Rechts vor.“80 Der mitgliedstaatliche Vollzug darf aber nicht dazu führen, dass die praktische Wirksamkeit des Unionsrechts beeinträchtigt wird, weshalb der EuGH in der Rechtssache „Milchkontor“ Kriterien entwickelt hat, welche die einheitliche Anwendung des Unionsrechts in allen Mitgliedstaaten sicherstellen sollen, damit Wirtschaftsteilnehmer nicht ungleich behandelt werden.81 Zum einen darf die Anwendung nationalen Rechts die Tragweite und die Wirksamkeit des Unionsrechts nicht beeinträchtigen (Effizienzgebot).82 Zum anderen dürfen bei der Anwendung nationalen Rechts keine Unterschiede im Vergleich zu Verfahren gemacht werden, in denen über gleichartige, rein nationale Rechtsstreitigkeiten entschieden wird (Äquivalenzgebot).83 c) Vollzug durch die Judikative Aus der Zurechnung der Vollzugsakte zu den nationalen Behörden folgt, dass sich der Rechtsschutz gegen diese ebenfalls nach mitgliedstaatlichen Recht richtet. Für den Rechtsschutz ist je nach Behördenzuständigkeit der allgemeine Verwaltungs76 77 78 79 80 81 82 83
Vgl. Streinz, Rn. 535; Oppermann/Classen/Nettesheim, § 13 Rn. 10. Vgl. Oppermann/Classen/Nettesheim, § 13 Rn. 7. s. Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 182 Rn. 4. Dörr/Lenz, Rn. 360; Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 182 Rn. 5. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 17 – Milchkontor. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 17 – Milchkontor. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 22 – Milchkontor. EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 23 – Milchkontor.
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
rechtsweg (Verwaltungsgericht) oder der besondere Verwaltungsrechtsweg (Finanzoder Sozialgericht) eröffnet.84 Zusammenfassend bedeutet das, dass im direkten Vollzug durch EU-Behörden der Rechtsweg zur Unionsgerichtsbarkeit und im Falle des indirekten Vollzuges der Rechtsweg zu den nationalen Gerichten eröffnet ist.85 Aus der dualen Vollzugsstruktur resultiert somit eine duale Vollzugskontrolle, die das Rechtsschutzsystem der Union entscheidend prägt.86 d) Der nationale Richter im Rechtsschutzsystem der Union Aus diesen Grundprinzipien des Unionsrechts resultiert die Stellung, die den nationalen Gerichten im unionsrechtlichen Rechtsschutzsystem zukommt. Die deutschen Gerichte sind dazu verpflichtet, für eine wirksame Durchsetzung des Unionsrechts Sorge zu tragen, indem sie unmittelbar anwendbares Recht anwenden und im Kollisionsfall entgegenstehendes nationales Recht unangewendet lassen. Auf diese Weise kann der Einzelne seine durch das Unionsrecht verliehenen Rechte vor mitgliedstaatlichen Gerichten durchsetzen. Das Unionsrecht wird damit zum verbindlichen Entscheidungsprogramm des Richters und ist „Recht und Gesetz“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG.87 e) Fachgerichtlicher Rechtsschutz im Vorwege der Sportwettenentscheidung Das Bundesverfassungsgericht geht davon aus, dass es aufgrund der umfassenden Prüfungskompetenz Aufgabe der Fachgerichte sei, die Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit einer Regelung des Unionsrechts festzustellen.88 Widerspricht eine nationale Regelung dem Unionsrecht, hat das zur Folge, dass die nationale Bestimmung bereits vom Instanzgericht nicht mehr auf den betreffenden Fall angewendet werden darf. Das der Sportwettenentscheidung zugrunde liegende letztinstanzliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts beschäftigt sich nur überaus knapp mit unionsrechtlichen Fragestellungen, indem am Ende darauf hingewiesen wird, dass auch das Unionsrecht an dem in Bayern uneingeschränkten Verbot der privaten Vermittlung und Veranstaltung von Sportwetten nichts ändere.89 Die Instanzgerichte, die primär zur Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechte berufen sind, haben somit im Vorwege der Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts der Klägerin 84 85 86 87 88 89
Streinz, in: Isensee/Kirchhof, Bd. VII, § 182 Rn. 5. Vgl. Dörr/Lenz, Rn. 361. So auch Dörr/Lenz, Rn. 361. So auch Dörr, 142. BVerfGE 31, 145 (174 f.). BVerwGE 114, 92 (102 f.).
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nicht zur Durchsetzung ihrer Grundfreiheiten verholfen. Anhand der Fälle, in denen es die Instanzgerichte unterlassen haben, unionsrechtlich verliehene Rechte durchzusetzen, wird deutlich, dass dem Bundesverfassungsgericht eine sekundäre Durchsetzungsverantwortung für das Unionsrecht zukommen könnte.90
2. Rechtsschutz durch das Bundesverfassungsgericht Nachdem die Rolle der Fachgerichte beleuchtet wurde, soll sich jetzt der Frage zugewendet werden, inwieweit unionsrechtlich verliehene Rechte durch den Einzelnen vor dem Bundesverfassungsgericht geltend gemacht werden können, d. h., wie das Bundesverfassungsgericht zur Durchsetzung des Unionsrechts bisher beiträgt und de lege ferenda beitragen könnte. a) Verfassungsbeschwerde wegen einer Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG Der Einzelne kann in nationalen Gerichtsverfahren die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV an den Gerichtshof nur anregen; ein Anspruch darauf hat er nicht. Jedoch steht ihm bei Verletzung der Vorlagepflicht durch ein nationales Gericht möglicherweise Rechtsschutz vor dem Bundesverfassungsgericht zu. Ausweislich von Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG kann eine Verfassungsbeschwerde nämlich auch auf die Verletzung von Art. 101 GG gestützt werden. aa) Gewährleistung des gesetzlichen Richters Art. 101 GG ist die zentrale Norm für die Gerichtsorganisation nach dem Grundgesetz.91 Die entscheidende Aussage des Art. 101 GG enthält Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, wonach niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden darf. Art. 101 Abs. 1 S. 1 GG und Art. 101 Abs. 2 GG stellen lediglich zwei Spezialfälle des subjektiven Individualrechtes auf den gesetzlichen Richter dar.92 Die Gewährleistung des gesetzlichen Richters ist eine besondere Ausprägung des allgemeinen rechtsstaatlichen Objektivitätsgebots und stellt sicher, dass der zuständige Richter generell vorbestimmt ist und nicht ad hoc und ad personam bestellt werden kann.93
90 91 92 93
In die Richtung auch Bungenberg, DVBl. 2007, 1409 sowie 1412 ff. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 101 Rn. 14; Degenhart, in: Sachs, Art. 101 Rn. 1. Vgl. Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 101 Rn. 17. BVerfGE 82, 159 (184).
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bb) Gerichtshof als gesetzlicher Richter Das Bundesverfassungsgericht hat den Gerichtshof als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG erstmals im „Solange II-Beschluss“ aus dem Jahre 1986 anerkannt,94 so dass eine Verfassungsbeschwerde auch darauf gestützt werden kann, dass ein nationales Gericht die aus Art. 267 AEUV resultierende Vorlagepflicht verletzt hat. Das Bundesverfassungsgericht betont zwar, dass der Gerichtshof kein Organ der Bundesrepublik Deutschland, sondern ein Organ der Europäischen Union ist. Die funktionelle Verschränkung der Gerichtsbarkeiten der Mitgliedstaaten und der Union sowie der Umstand, dass aufgrund des innerstaatlich erteilten Rechtsanwendungsbefehls nach Art. 23 Abs. 1 S. 295 sowie Art. 59 Abs. 2 S. 1 GG das Unionsrecht auch innerstaatlich von den Gerichten zu beachten, auszulegen und anzuwenden ist, qualifiziert den EuGH jedoch als gesetzlichen Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG, soweit ihm durch die Zustimmungsgesetze zu den Verträgen darin enthaltene Rechtsprechungsfunktionen aufgetragen sind.96 Dazu zählt vor allem die Kompetenz des Gerichtshofes zu Vorabentscheidungen nach Art. 267 AEUV.97 Diese funktionale Eingliederung des EuGH in die mitgliedstaatliche Gerichtsbarkeit zeigt, dass die mitgliedsstaatliche Rechtsordnung und die Unionsrechtsordnung nicht unvermittelt und isoliert nebeneinander stehen, sondern in vielfältiger Weise aufeinander bezogen, miteinander verschränkt und wechselseitigen Einwirkungen geöffnet sind.98 Ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG kommt aber nur in Betracht, wenn das nationale Gericht gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV zur Vorlage verpflichtet war, wobei sich der EuGH zur Bestimmung solcher Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angefochten werden können, einer konkreten Betrachtungsweise bedient,99 so dass es nur darum geht, ob das Gericht im konkreten Fall die letzte Instanz ist. Die Vorlagepflicht betrifft also nicht nur die obersten Gerichte (abstrakte Betrachtungsweise). Das Unterlassen einer fakultativen Vorlage nach Art. 267 Abs. 2 AEUV kann nicht zu einer Verletzung der Garantie des gesetzlichen Richters führen.100
94
BVerfGE 73, 339 (366 f.). Bis 1992 erfolgte die Übertragung von Hoheitsrechten im Zuge der europäischen Integration noch auf Grundlage von Art. 24 Abs. 1 GG, vgl. Streinz, in: Sachs, Art. 24 Rn. 5; Art. 23 GG, der den Bund dazu ermächtigt, Hoheitsrechte auf die EU zu übertragen, wurde erst durch Gesetz zur Änderung des Grundgesetzes vom 21. 12. 1992, BGBl. I 1992, 2086 in das Grundgesetz eingefügt. 96 BVerfGE 73, 339 (366 ff.) – Solange II. 97 BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. 98 BVerfGE 73, 339 (368) – Solange II. 99 Vgl. EuGH, Slg. 2002, I-4839, Rn. 14 ff. – Lyckeskog. 100 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellerman, § 35 Rn. 53. 95
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cc) Willkürliche Verletzung erforderlich Allerdings führt nicht jede Verletzung einer nach Art. 267 Abs. 3 AEUV bestehenden Vorlagepflicht zum Erfolg einer auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützten Verfassungsbeschwerde, da ein verfassungsrechtlich relevanter Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts nur bei Willkür gegeben sei.101 Das Bundesverfassungsgericht sieht sich nämlich nicht in der Rolle eines Kontrollorgans, das jeden Verfahrensfehler eines Gerichts korrigiert, sondern es beanstandet die Auslegung und Anwendung von Zuständigkeitsnormen nur, wenn die Handhabung durch das Gericht bei Würdigung des Grundgesetzes nicht mehr verständlich sei und offensichtlich unhaltbar erscheine.102 Allein ein solcher Maßstab entspreche der Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts,103 die in der funktionalen Beschränkung auf spezifisches Verfassungsrecht bestehe.104 Zur Konkretisierung des Willkürmaßstabes hat das Bundesverfassungsgericht bezüglich einer Nichtbeachtung der in Art. 267 AEUV begründeten Vorlagepflicht Fallgruppen gebildet.105 Die Vorlagepflicht werde offensichtlich unhaltbar gehandhabt, wenn ein letztinstanzliches Hauptsachegericht eine Vorlage, obwohl es selbst Zweifel bezüglich der richtigen Beantwortung der Frage habe, überhaupt nicht in Erwägung ziehe (grundsätzliche Verkennung der Vorlagepflicht). Ferner sei eine offensichtlich unhaltbare Handhabung gegeben, wenn das letztinstanzliche Hauptsachegericht bewusst von der Rechtsprechung des EuGH abweiche und gleichsam nicht oder nicht erneut vorlege (bewusstes Abweichen ohne Vorlagebereitschaft). Existiere zu einer entscheidungserheblichen Frage noch keine Rechtsprechung des EuGH, werde Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nur verletzt, wenn das Gericht den zukommenden Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten habe. Dies sei vor allem gegeben, wenn mögliche Gegenauffassungen zu der entscheidungserheblichen Frage des Unionsrechts gegenüber der vom Gericht vertretenen Meinung eindeutig vorzuziehen seien (Unvollständigkeit der Rechtsprechung). Eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wegen Nichtbeachtung der Vorlagepflicht kommt wegen des eingeschränkten Prüfungsmaßstabs wohl nur in Extremfällen in Betracht.106 101
So bereits BVerfGE 73, 339 (366) – Solange II. Vgl. BVerfGE 82, 159 (194). 103 BVerfGE 82, 159 (195). 104 Degenhart, in: Sachs, Art. 101 Rn. 17. 105 Zu den Fallgruppen s. BVerfG 82, 159 (195 f.). 106 So auch Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellerman, § 35 Rn. 56; Streinz, Grundrechtsschutz, 443; s. aber exemplarisch die Aufhebung einer Entscheidung des BFH durch das Bundesverfassungsgericht, NJW 1988, 1459. Grund für die Aufhebung war der Umstand, dass der BFH entgegen der ständigen Rechtsprechung des EuGH zur unmittelbaren Wirkung von Richtlinien entschied, ohne die Frage gemäß Art. 267 Abs. 3 AEUV vorzulegen. 102
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
dd) Anmerkungen zum Willkürmaßstab Der Willkürmaßstab hat in der Literatur Kritik erfahren, was nicht sonderlich überrascht, wenn man bedenkt, dass das Bundesverfassungsgericht nur in Ausnahmefällen die betreffende Entscheidung gemäß § 95 Abs. 2 BVerfGG aufhebt und somit dem Einzelnen Rechtschutz gewährt. Entscheidend dürfte sein, dass das Bundesverfassungsgericht den Maßstab des Gerichtshofs nicht übernommen hat und auf einen eigenen Prüfungsmaßstab rekurriert. Vom Standpunkt des Gerichtshof ausgehend dürfen letztinstanzliche mitgliedstaatliche Gerichte eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts nämlich nur eigenständig beantworten, wenn diese bereits Gegenstand einer Auslegung durch die Unionsgerichtsbarkeit war oder ihre Beantwortung auch aus Sicht von Gerichten der anderen Mitgliedstaaten derart offenkundig ist, dass für vernünftigen Zweifel keinerlei Raum bleibt.107 Diesen Maßstab, den die letztinstanzlichen Gerichte bei der Frage zugrunde zu legen haben, ob sie eine entscheidungserhebliche Frage des Unionsrechts dem Gerichtshof vorzulegen haben, wird auch als „acte clair-Maßstab“ bezeichnet.108 Ein Gericht, das trotz entsprechender europarechtlicher Verpflichtung eine solche Frage nicht dem Gerichtshof vorlegt, entzieht den Verfahrensbeteiligten daher den gesetzlichen Richter.109 Indem das Bundesverfassungsgericht aber auf einen eigenständigen Willkürmaßstab zurückgreift, löst es sich vom „acte clair-Maßstab“ des EuGH und verpasst dadurch die Möglichkeit, Verstöße der Fachgerichte gegen die Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV zu korrigieren und zu einem verbesserten Individualrechtsschutz im europäischen Mehrebenensystem beizutragen. Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts führt zu nicht unerheblichen Diskrepanzen gegenüber der EuGH-Rechtsprechung.110 (1) Übernahme des „acte clair-Maßstabes“ Aus diesem Grund lehnen einige den Willkürmaßstab gänzlich ab und wollen bereits einfache Verstöße gegen die Vorlagepflicht unter den Schutz des gesetzlichen Richters fallen lassen.111 Verlangt wird damit eine Übernahme des vom EuGH definierten „acte clair-Maßstabes“ durch das Bundesverfassungsgericht.112 Die angeführ-
107
Vgl. EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – CILFIT. Vgl. Giegerich, in: Grabenwarter, 121. 109 Fastenrath, in: Bröhmer, 481. 110 So auch Fastenrath, in: Bröhmer, 482. 111 So Rabe, in: Bender, 211 f.; Giegerich, in: Grabenwarter, 122 f.; Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, 123 f.; Fastenrath, in: Bröhmer, 481; Scherer, JA 1987, 487 f.; Hilf, EuGRZ 1987, 5 f. 112 So ausdrücklich Giegerich, in: Grabenwarter, 122 f. 108
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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ten Begründungen sind jedoch divergent, da man ein solches Ergebnis sowohl europarechtlich als auch verfassungsrechtlich herleiten kann. (a) Europarechtliche Begründungslinien Teilweise wird vorgebracht, dass das Bundesverfassungsgericht aus dem in Art. 4 Abs. 3 EUV verbürgten Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit verpflichtet sei, mit den Mitteln des verfassungsgerichtlichen Rechtsschutzes Vorlageverstöße zu korrigieren.113 Andere nehmen an, dass dieses Ergebnis aus dem Vorrang des Unionsrechts vor dem nationalen Verfassungsrecht folge und Art. 267 Abs. 3 AEUV den Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG insofern überlagere.114 Diese vom Europarecht ausgehenden Begründungen überzeugen jedoch nicht. Das Unionsrecht selbst gewährt dem Einzelnen keinen Anspruch auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens, sondern sanktioniert Verletzungen der Vorlagepflicht im Wege der Staatshaftung.115 Es verlangt deshalb auch kein nationales Rechtsmittel gegen das Unterlassen einer Vorlage, sondern allein die Beachtung von Art. 267 AEUV durch die nationalen Gerichte.116 Deshalb kann auch nicht der Anwendungsvorrang des Unionsrechts ins Feld geführt werden. Eine solche Verpflichtung folgt auch nicht aus Art. 4 Abs. 3 EUV.117 Die praktische Wirksamkeit von Art. 267 Abs. 3 AEUV wird nämlich durch die Gewährung der Möglichkeit der Verfassungsbeschwerde auf Grundlage von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG nicht eingeschränkt, sondern erweitert. (b) Verfassungsrechtliche Begründung Giegerich begründet die Übernahme des „acte clair-Maßstabes“ durch das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich, indem er anführt, dass Vorlagepflichtverletzungen zu einer ungleichen Rechtsanwendung führten und damit eine rechtsstaatliche Unionsrechtsordnung konterkariert werde.118 Die rechtsstaatliche Struktur der Europäischen Union sei aber ausweislich von Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG Voraussetzung der deutschen Mitgliedschaft, was dazu führe, dass Entscheidungen deutscher Gerichte verfassungswidrig seien, wenn sie dieser Rechtsstaatlichkeit entgegenwirkten.119 Fastenrath stützt die Verschärfung des Prüfungsmaßstabes auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und seine besonderen Wirkungsbedingungen im Zusammenhang mit völker- und
113 114 115 116 117 118 119
So Ehlers, Die Europäisierung des Verwaltungsprozessrechts, 123 f. Rabe, in: Bender, 212. s. dazu E. II. 6. b). Classen, in: v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 101 Rn. 56; Fastenrath, in: Bröhmer, 483. So auch Fastenrath, in: Bröhmer, 483. Giegerich, in: Grabenwarter, 122. Giegerich, in: Grabenwarter, 122.
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
europarechtlichen Regeln über gerichtliche Zuständigkeiten.120 Die Auslegung des EuGH zur Vorlagepflicht sei auch verbindlicher Maßstab für das Bundesverfassungsgericht, da jede Abweichung davon bedeute, die gesetzliche Vorgabe für die Bestimmung des gesetzlichen Richters zu übergehen bzw. deren europarechtlich vorgegebenen Interpretationsrahmen zu überspringen.121 Vor allem führe nach Ansicht Fastenraths eine derartige Bestimmung des gesetzlichen Richters auch nicht dazu, dass das Bundesverfassungsgericht in die Funktionen der Fachgerichte eingreife, da letztere anders als im nationalen Recht gerade keine Auslegungs- und Anwendungsfreiheit bis zur Willkürgrenze hätten, sondern im gleichen Umfang wie die Bundesrepublik an bestimmte normative Gehalte völker- und europarechtlicher Bestimmungen gebunden seien.122 (2) Stärkere Orientierung am Gerichtshof Andere gehen einen Mittelweg und plädieren für eine stärker an der Rechtsprechung des EuGH orientierte Erweiterung des Prüfungsmaßstabes des Bundesverfassungsgerichts,123 was im Zusammenhang mit Art. 267 AEUV zu einer Ausdehnung des Willkürbegriffs führte, ohne jedoch den „acte clair-Maßstab“ zu übernehmen. Es wird vorgeschlagen, nicht danach zu fragen, ob die angegriffene Entscheidung gerade noch unter irgendeinem rechtlichen Gesichtspunkt nachvollziehbar sei, sondern umgekehrt danach, ob eine Vorlage ohne sachlich einleuchtenden Grund unterblieben sei.124 Begründet wird die bloße Ausdehnung des Willkürbegriffes im Zusammenhang mit Art. 267 AEUV damit, dass es bei der Übernahme des „acte clair-Maßstabes“ durch das Bundesverfassungsgericht zu einer sachlich nicht zu rechtfertigenden Ungleichbehandlung zwischen unionsrelevanten und rein innerstaatlichen Verfahren käme125 oder dass es dem verfassungsrechtlichen Stellenwert widerspreche, einfache, irrtümliche Verstöße gegen Art. 267 AEUV unter den Schutz des gesetzlichen Richters fallen zu lassen.126 (3) Stellungnahme Mit dem Willkürmaßstab vergibt das Bundesverfassungsgericht die Möglichkeit, Verstöße der Fachgerichte gegen das Unionsrecht zu korrigieren,127 womit der Gefahr der unionsrechtlichen Staatshaftung, die in diesen Fällen die Bundesrepublik treffen 120
Fastenrath, in: Bröhmer, 483. Fastenrath, in: Bröhmer, 481. 122 Fastenrath, in: Bröhmer, 481. 123 So Vedder, NJW 1987, 531; Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 56; wohl auch Classen, v. Mangoldt/Klein/Starck, Art. 101 Rn. 56 f. 124 Vedder, NJW 1987, 531. 125 Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 56. 126 Vedder, NJW 1987, 531. 127 So auch Fastenrath, in: Bröhmer, 483. 121
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kann,128 nicht vorgebeugt wird. Eine stärkere Orientierung an der EuGH-Rechtsprechung ist zwar ein erster Schritt, jedoch erscheint die Übernahme des „acte clair-Maßstabes“ durch das Bundesverfassungsgericht verfassungsrechtlich geboten. Insofern ist Fastenrath zuzustimmen, der dieses Ergebnis auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und seine besonderen Wirkungsbedingungen im Zusammenhang mit völker- und europarechtlichen Regeln über gerichtliche Zuständigkeiten stützt. Obwohl das Unionsrecht selbst keine verfassungsrechtliche Kontrolle erfordert, gewährt Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG dem Einzelnen das Recht auf den gesetzlichen Richter, das im Wege der Verfassungsbeschwerde eingefordert werden kann. Wie das Bundesverfassungsgericht zutreffend erkannt hat, ist der Gerichtshof gesetzlicher Richter im Sinne von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Dessen Zuständigkeit bei Vorlagefragen ergibt sich jedoch nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus Art. 267 AEUV und der dazu ergangenen Rechtsprechung des EuGH, die damit auch zum verbindlichen Maßstab des Bundesverfassungsgerichts im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG wird.129 Dies hätte auch keine Überlastung des Bundesverfassungsgerichts zur Folge, da eine Kammer feststellen kann, ob das letztinstanzliche Gericht in vertretbarer Weise angenommen hat, dass die Antwort auf eine unionsrechtliche Frage offenkundig ist.130 Dies ist nicht aufwendiger als die gegenwärtig praktizierte Kontrolle der inhaltlichen Haltbarkeit der Antwort.131 ee) Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG im Zusammenhang mit den Sportwetten Eine auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützte – und interessante Rechtsfragen aufwerfende – Verfassungsbeschwerde hat es auch im Zusammenhang mit den Sportwetten gegeben, welche sich u. a. gegen eine Entscheidung des OVG Münster richtete,132 die sich als Parallelentscheidung zu der bereits mehrfach erwähnten und viel diskutierten Entscheidung des OVG Münster vom 28. Juni 2006 darstellt.133
128
Vgl. EuGH, Slg. 2006, I-5177, Rn. 32 – Traghetti. So auch Fastenrath, in: Bröhmer, 481. 130 Giegerich, in: Grabenwarter, 122 f. 131 Giegerich, in: Grabenwarter, 123. 132 U.a. deshalb, weil mithilfe der Verfassungsbeschwerde neben der Aufhebung des Beschlusses des OVG Münster vom 23. 10. 2006 – 4 B 1060/06 auch die Aufhebung des Beschlusses des VG Gelsenkirchen vom 29. 5. 2006 – 7 L 737/06 und der Bescheid der Stadt Lünen vom 5. 5. 2006 begehrt wurde. 133 OVG Münster, NVwZ 2006, 1078. 129
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
(1) Beschluss des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2006 Mit Beschluss vom 7. Dezember 2006 hat das Bundesverfassungsgericht diese Verfassungsbeschwerde nicht zur Entscheidung angenommen.134 (a) Beschluss des OVG Münster Das OVG Münster wies die Beschwerde wie im Beschluss vom 28. Juni 2006 zurück, da sich weder aus Art. 12 GG noch aus Art. 49, 56 AEUV durchgreifende Bedenken gegen die Rechtmäßigkeit der Untersagungsverfügung, mit der dem privaten Sportwettenvermittler unter Anordnung des Sofortvollzuges die Vermittlung untersagt wurde, ergäben.135 Zwar stehe die Rechtslage in Nordrhein-Westfalen in derselben Weise zur Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit im Widerspruch wie zur Berufsfreiheit, der Anwendungsvorrang des Unionsrechts greife aber nicht, wenn ansonsten durch die Nichtanwendung einer nationalen Rechtsvorschrift eine inakzeptable Gesetzeslücke entstehe. Die Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens nach Art. 267 AEUV wegen der Frage, unter welchen Voraussetzungen und in welchem Umfang der Anwendungsvorrang des Unionsrechts begrenzt ist, lehnte das OVG Münster mit der Begründung ab, dass hinsichtlich der Eilbedürftigkeit der Rechtssache für ein Verfahren nach Art. 267 AEUV kein Raum sei und das Gericht im einstweiligen Rechtsschutz zu einer Vorlage an den EuGH auch nicht verpflichtet sei, da es nur um die Auslegung und nicht um die Wirksamkeit von Unionsrechts gehe. (b) Begründung des Beschwerdeführers Der Beschwerdeführer sah sich durch den Beschluss des OVG Münster in seinem Recht auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verletzt, da das OVG entsprechend der auch in Eilverfahren bestehenden Vorlagepflicht nationaler Gerichte bei der Aussetzung eines auf Unionsrecht beruhenden nationalen Verwaltungsaktes diese Frage dem EuGH hätte vorlegen müssen.136 Insbesondere könne eine Suspendierung von Primärrecht, wie sie vom OVG Münster für richtig gehalten werde, nicht durch nationale Gerichte, sondern nur durch den EuGH erfolgen.137
134
BVerfG, NJW 2007, 1521; in die gleiche Richtung hatte das Bundesverfassungsgericht bereits auch am 19. 10. 2006 entschieden, als es eine auf Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gestützte Verfassungsbeschwerde, die sich gegen einen Beschluss des VGH München vom 23. 8. 2006 richtete, mit den entsprechenden Erwägungen nicht zur Entscheidung annahm, vgl. BVerfG, EuR 2006, 814. 135 s. die Zusammenfassung der Entscheidung bei BVerfG, Beschluss vom 7. 12. 2006 – 2 BvR 2428/06. 136 BVerfG, Beschluss vom 7. 12. 2006 – 2 BvR 2428/06. 137 BVerfG, Beschluss vom 7. 12. 2006 – 2 BvR 2428/06.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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(c) Entscheidungsgründe Das Bundesverfassungsgericht folgte den Ausführungen des Beschwerdeführers nicht und verneinte deshalb eine Verletzung von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG. Das Bundesverfassungsgericht ordnete den Beschluss der Fallgruppe der „Unvollständigkeit der Rechtsprechung“ zu und stellte sich deshalb der Frage, ob das OVG Münster seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat.138 Art. 267 AEUV sei nicht unhaltbar gehandhabt worden, weil das OVG Münster eine Pflicht zur Vorlage des Rechtsstreites im Einklang mit der Rechtsprechung des EuGH verneint habe.139 Im Verfahren des einstweiligen Rechtsschutzes bestehe nämlich grundsätzlich keine Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV. Es habe auch nicht ausnahmsweise deswegen eine Pflicht zur Vorlage bestanden, weil nach Ansicht des OVG Münster der Anwendungsvorrang für eine Übergangszeit zurücktreten müsse. Eine Pflicht zur Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens im einstweiligen Rechtsschutz lasse sich der Rechtsprechung des EuGH nur für den Fall entnehmen, dass ein nationales Gericht die Aussetzung der Vollziehung eines auf einer Unionverordnung beruhenden nationalen Verwaltungsaktes anordnen wolle.140 Nach Auffassung des Beschwerdeführers sei die Vorlagepflicht im Eilverfahren auf den Fall einer temporären Aussetzung der Anwendbarkeit von Primärrecht zu erstrecken. Der Beschwerdeführer nehme dadurch aber lediglich eine erwartete Auslegung von Art. 267 Abs. 3 AEUV durch den EuGH vor, worauf sich eine verfassungsrechtliche Pflicht zur Vorlage an den EuGH nicht stützen lasse.141 Es sei auch nicht festzustellen, dass mögliche Gegenauffassungen der Ansicht des OVG eindeutig vorzuziehen seien, weil die vom OVG verfolgte Rechtsansicht an eine in Ansätzen bereits entwickelte Ansicht anknüpfe.142 (2) Anmerkungen Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2006 begegnet sogar auf Grundlage des selbstgewählten Prüfungsmaßstabes Bedenken.143 Auch bei Einordnung der Entscheidung in die Fallgruppe der „Unvollständigkeit der Rechtsprechung“ spricht einiges dafür, dass das OVG Münster seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat. Das Bundesverfassungsgericht stützt 138
BVerfG, NJW 2007, 1521. BVerfG, NJW 2007, 1522. 140 BVerfG, NJW 2007, 1522 unter Bezugnahme auf EuGH, Slg. 1991, I-415, Rn. 22 ff. – Zuckerfabrik Süderdithmarschen und Zuckerfabrik Soest; EuGH, Slg. 1995, I-3761, Rn. 19 ff. – Atlanta Fruchthandelsgesellschaft. 141 BVerfG, NJW 2007, 1522. 142 BVerfG, NJW 2007, 1522 unter Hinweis auf Jarass/Beljin, NVwZ 2004, 5. 143 Kritisch äußern sich auch Ehlers/Eggert, JZ 2008, 592 f., die ebenfalls davon ausgehen, dass das OVG Münster die Vorlagepflicht des Art. 267 AEUV offensichtlich unhaltbar gehandhabt hat und dass das Bundesverfassungsgericht der Verfassungsbeschwerde wegen Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG hätte stattgeben müssen. 139
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
sich darauf, dass das OVG Münster im Einklang mit dem EuGH die Vorlagepflicht im einstweiligen Rechtsschutz verneint hat, und zitiert dabei die einschlägige Judikatur des EuGH. Richtig ist, dass grundsätzlich eine Vorlagepflicht im einstweiligen Rechtsschutz nicht besteht, soweit die Auslegung von Unionsrecht in Frage steht.144 Hintergrund ist, dass den Parteien weiterhin das Hauptsacheverfahren offen steht, in welchem noch ein Vorabentscheidungsverfahren eingeleitet werden kann.145 Zweifelt das nationale Gericht dagegen an der Gültigkeit einer unionsrechtlichen Norm und will diese aus diesem Grund einstweilig unangewendet lassen, besteht auch im Rahmen von §§ 80, 80a, 123 VwGO eine Pflicht zur Vorlage an den EuGH, da das Verwerfungsmonopols für das Sekundärrecht beim EuGH konzentriert ist.146 Dies gilt erst recht, wenn es wie im Verfahren vor dem OVG Münster um die Gültigkeit und Anwendbarkeit von Primärrecht geht.147 b) Verfassungsbeschwerde als Mittel zur Durchsetzung von Unionsrecht Für gewöhnlich richten sich die Betrachtungen schwerpunktmäßig darauf, inwiefern verfassungsrechtlicher Rechtsschutz imstande ist, aus dem Unionsrecht resultierende Belastungen abzuwehren.148 Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts diesbezüglich kann wohl inzwischen als gefestigt angesehen werden. Das Gericht verweist seit dem „Solange IIBeschluss“ darauf, dass es seine Gerichtsbarkeit über die Anwendbarkeit von abgeleitetem Unionsrecht, das als Rechtsgrundlage für ein Verhalten deutscher Gerichte oder Behörden im Hoheitsbereich der Bundesrepublik Deutschland in Anspruch genommen wird, nicht mehr ausüben und dieses Recht nicht mehr am Maßstab der Grundrechte des Grundgesetzes überprüfen wird, solange die Europäische Union einen wirksamen Grundrechtsschutz gegenüber der Hoheitsgewalt der Union generell gewährleistet, der dem vom Grundgesetz als unabdingbar gebotenen Grundrechtsschutz im Wesentlichen gleichzuachten ist.149 Es soll nachfolgend deshalb nicht darum gehen, inwieweit im Wege des Verfassungsrechtsschutzes unionsrechtliche Belastungen abgewehrt werden können, sondern umgekehrt darum, inwieweit mithilfe der Verfassungsbeschwerde unionsrechtlich verliehene Rechte durchgesetzt werden können. 144 Vgl. Dörr, in: Sodan/Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 127; Terhechte, EuR 2006, 841. 145 Vgl. Dörr, in: Sodan/Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 127. 146 So auch Dörr, in: Sodan/Ziekow, Europäischer Verwaltungsrechtsschutz, Rn. 127; Terhechte, EuR 2006, 841. 147 s. dazu C. II. 2. f) cc) (1). 148 Vgl. Gellermann, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 35 Rn. 57. 149 BVerfGE 73, 339 (340) – Solange II.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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Di Fabio bezeichnet diese Frage als noch nicht abschließend geklärt, verweist aber darauf, dass das Bundesverfassungsgericht es im Zusammenhang mit Verfassungsbeschwerden ablehnt, eine Eingriffsnorm aufgrund einer möglichen Kollision mit Unionsrecht als nicht von der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne des Art. 2 Abs. 1 GG gedeckt anzusehen.150 Für die Integration des Unionsrechts in das Verfassungsbeschwerdeverfahren werden neben der verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG noch weitere Möglichkeiten diskutiert. Denkbar ist insofern, die Nichtbeachtung von Unionsrecht als Verletzung des thematisch einschlägigen Grundrechts in Verbindung mit Art. 23 Abs. 1 GG einzustufen,151 eine selbständige Prüfung der Unionsrechtskonformität im Rahmen der Schranken-Schranken der Grundrechte zu integrieren152 oder aber dem Einzelnen die Befugnis einzuräumen, sich wegen einer Verletzung in subjektiv-öffentlichen Rechten aus Unionsrechts im Verfassungsbeschwerdeverfahren auf Art. 19 Abs. 4 GG zu berufen.153 aa) Ablehnende Haltung des Bundesverfassungsgerichts Das Bundesverfassungsgericht hat das Unionsrecht bisher – mit Ausnahme der Vorlagepflicht nach Art. 267 Abs. 3 AEUV im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG – aus dem Prüfungsmaßstab der Verfassungsbeschwerde ausgeschlossen. Das Gericht hält die Rüge der Verletzung von Unionsrecht im Verfassungsbeschwerdeverfahren für unzulässig, da unionsrechtlich begründete Rechte nicht zu den Grundrechten oder grundrechtsgleichen Rechten gehörten, gegen deren Verletzung eine Verfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG anzustrengen sei.154 Überdies schiebt es auch der bereits angedeuteten Möglichkeit, dass es wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an einem den Gesetzesvorbehalt eines Grundrechts ausfüllenden Gesetz fehlt, einen Riegel vor, indem es darauf hinweist, dass es für die insoweit maßgebliche Frage der Vereinbarkeit einfachen nationalen Rechts mit dem Unionsrecht nicht zuständig sei.155 Weder Art. 2 Abs. 1 GG noch Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG eröffneten dem Bundesverfassungsgericht insoweit eine Prüfungskompetenz.156 Vielmehr sei die Lösung von Normkonflikten zwischen nationalem Recht und Unionsrecht der umfassenden Prüfungskompetenz der zuständigen Fachgerichte überlassen.157 150
(191). 151 152 153 154 155 156 157
Di Fabio, in: Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 43 unter Hinweis auf BVerfGE 82, 159 So Giegerich, in: Grabenwarter, 119. So Bungenberg, DVBl. 2007, 1413 f. So Frenz, DÖV 1995, 416. BVerfGE 115, 276 (299); 110, 141 (154 f.). BVerfGE 115, 276 (299 f.); 31, 145 (174 f.); 82, 159 (191). BVerfGE 110, 141 (154 f.). BVerfGE 31, 145 (174 f.).
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
Dass bereits die Fachgerichte Normenkollisionen insoweit aufzulösen haben, als sie dem Unionsrecht Vorrang vor nationalem Recht einräumen, ist unzweifelhaft. Das Bundesverfassungsgericht bleibt aber eine Begründung schuldig, warum es für den durchaus denkbaren Fall, dass die Fachgerichte das Unionsrecht nicht ausreichend berücksichtigen, für sich nicht eine Auffangkompetenz in Anspruch nimmt und auf diesem Weg zur Schließung von Rechtsschutzlücken beiträgt. Die zitierten Entscheidungen aus dem 115. Band, dem 110. Band und dem 82. Band verweisen allesamt auf die Entscheidung aus dem 31. Band, die zunächst folgende allgemeine Aussage enthält: „Nach der Regelung, die das Verhältnis zwischen Gesetzgebung und Rechtsprechung im Grundgesetz gefunden hat, gehört es zu den Aufgaben der rechtsprechenden Gewalt, jede im Einzelfall anzuwendende Norm zuvor auf ihre Gültigkeit zu prüfen. Steht eine Vorschrift im Widerspruch zu einer höherrangigen Bestimmung, so darf sie das Gericht auf den von ihm zu entscheidenden Fall nicht anwenden. Dies gilt nur insoweit nicht, als die Verwerfungskompetenz bei Unvereinbarkeit formellen nachkonstitutionellen Rechts mit dem Grundgesetz gemäß Art. 100 Abs. 1 GG dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist.“158 Zur Frage der Beachtung von vorrangigem Unionsrecht durch das Bundesverfassungsgericht äußert sich dieses dann wie folgt: „Zur Entscheidung der Frage, ob eine innerstaatliche Norm des einfachen Rechts mit einer vorrangigen Bestimmung des Unionsrechts unvereinbar ist und ob ihr deshalb die Geltung versagt werden muss, ist das Bundesverfassungsgericht nicht zuständig; die Lösung dieses Normkonflikts ist daher der umfassenden Prüfungs- und Verwerfungskompetenz der zuständigen Gerichte überlassen.“159 Die Begründung des Bundesverfassungsgerichts beschränkt sich somit darauf, dass es selbst nicht zuständig ist, weil die Fachgerichte zuständig sind. Diese Begründung ist überaus dürftig und vermag auch deshalb nicht zu überzeugen, weil auch in anderen Bereichen ein Nebeneinander von Fachgerichten und Bundesverfassungsgericht gegeben ist, wenngleich die Abgrenzung im Detail schwierig sein kann.160 So obliegt der Grundrechtsschutz beispielswiese sowohl den Fachgerichten als auch dem Bundesverfassungsgericht.161 Das Bundesverfassungsgericht beschränkt sich jedoch auf die Frage, ob bei Auslegung und Anwendung des einfachen Rechts durch die Fachgerichte der Einfluss der Grundrechte grundlegend verkannt wurde.162 Dagegen obliegt es den Fachgerichten, wie sie auf Grundlage des einfachen Rechts den Grundrechtsschutz im Einzelnen gewähren.163
158
BVerfGE 31, 145 (174). BVerfGE 31, 145 (174 f.). 160 s. zur Abgrenzung von Fachgerichtsbarkeit und Bundesverfassungsgericht die Referate von Alexy, VVDStrL 61, 7 ff.; Kunig, VVDStrL 61, 34 ff.; Heun, VVDStrL 61, 80 ff. und Hermes, VVDStrL 61, 119 ff. 161 Höfling, in Sachs: Art. 1 Rn. 105, bezeichnet die staatliche Gerichtsbarkeit als grundrechtsschützende Gewalt schlechthin. 162 Vgl. BVerfGE 89, 276 (285). 163 Vgl. BVerfGE 89, 276 (285). 159
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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Im Bereich des Grundrechtsschutzes führt das Nebeneinander von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten zu einer Schließung von Rechtsschutzlücken. Ein mehr an Rechtsschutz wäre auch gewonnen, wenn das Bundesverfassungsgericht eine sekundäre Verantwortung für die Durchsetzung von Unionsrecht im Verfassungsbeschwerdeverfahren annähme. bb) Zustimmung im Schrifttum Diese Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts hat im Schrifttum teilweise Zustimmung erfahren. (1) Di Fabio Di Fabio hält das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts deshalb für konsequent, weil das Unionsrecht entgegenstehendes mitgliedstaatliches Recht nur in der Anwendung verdränge und deshalb auch innerstaatlich nicht nichtig mache.164 Gleichwohl sei es durchaus denkbar, dass sich aus der Europa- und Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes eine Pflicht der Verfassungsorgane ergeben könne, auf eine Vereinbarkeit der innerstaatlichen Rechtsordnung und der supranationalen Rechtsebenen hinzuwirken, was allerdings sowohl durch eine Änderung der nationalen als auch der supranationalen Rechtsordnung erfolgen könne.165 (2) Schlaich/Korioth Nach Schlaich/Korioth sei das Bundesverfassungsgericht gut beraten, sich im Verfassungsbeschwerdeverfahren wie bisher auf das Grundgesetz als Prüfungsmaßstab zu beschränken, da es nach dem Grundgesetz weder zur Anwendung noch zur Durchsetzung des Unionsrechts berufen sei und eine Erweiterung des Verfahrens zum Schutz von unionsrechtlich gewährleisteten Individualrechten ohnehin nur dazu führte, dass das Bundesverfassungsgericht in der Regel zur Vorlage nach Art. 267 Abs. 3 AEUV verpflichtet wäre.166 Vielmehr sei es eine politische Aufgabe durch Änderung des Primärrechts einen Individualrechtsbehelf auf Unionsebene zu schaffen, wenn dies für notwendig erachtet werde.167 (3) Paul Kirchhof Zustimmung erfährt die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts auch von Paul Kirchhof.168 Im Falle, dass ein deutsches Gesetz mit Unionsrecht unvereinbar ist, 164 165 166 167 168
Di Fabio, in Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 43. Di Fabio, in Maunz/Dürig, Art. 2 Abs. 1 Rn. 43. Schlaich/Korioth, Rn. 366. Schlaich/Korioth, Rn. 366. Kirchhof, in: Merten, 118.
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unterliege dieser Normenkonflikt nicht der Prüfungs- und Verwerfungskompetenz des Bundesverfassungsgerichts.169 Das Unionsrecht gehe dem nationalen Recht zwar vor, habe jedoch keinen Verfassungsrang und betreffe daher auch keine verfassungsrechtliche Streitigkeit.170 Verstöße gegen Unionsrecht durch den deutschen Gesetzgeber und deutsche Gerichte könnten lediglich zu einem Vertragsverletzungsverfahren vor der europäischen Gerichtsbarkeit führen.171 An diesem Ergebnis ändere auch die Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes oder der Vorbehalt der verfassungsmäßigen Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG nichts.172 Überdies sei es nach Paul Kirchhof auch zweifelhaft, ob das Verfassungsbeschwerdeverfahren ein geeignetes Instrument sei, um die völkerrechtliche Verantwortlichkeit der Bundesrepublik Deutschland einzufordern.173 (4) Hillgruber Ob die Europarechtswidrigkeit deutschen Rechts, das die allgemeine Handlungsfreiheit beschränkt, im Verfassungsbeschwerdeverfahren unter Berufung auf Art. 2 Abs. 1 GG gerügt werden kann, hänge nach Hillgruber, der sich insofern – wenn auch umfassender – in eine ähnliche Richtung wie Paul Kirchhof äußert, davon ab, ob Europarecht Verfassungsrang habe bzw. seine Beachtung und vorrangige Anwendung ein Gebot objektiven Verfassungsrechts sei.174 Dies sei aber deswegen nicht der Fall, weil die Grundlage eines solchen Verfassungsgebotes nur Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG sein könne und diese Grundgesetzvorschrift lediglich eine Ermächtigungsnorm darstelle.175 Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG ordne nicht selbst die unmittelbare Geltung und Anwendbarkeit des von der Europäischen Union gesetzten Rechts an und regele somit auch nicht das Rangverhältnis in Form des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts.176 Erst die innerstaatlichen Zustimmungsgesetze zum Primärrecht führten zur vorrangigen Anwendung des primären und sekundären Unionsrechts im deutschen Hoheitsbereich.177 Aus diesem Grund könne dem Europarecht selbst kein höherer Rang zukommen als den Zustimmungsgesetzen selbst, was dazu führe, dass die Rüge der Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit Unionsrecht nicht im Rahmen einer auf Art. 2 Abs. 1 GG gestützten Verfassungs169
Kirchhof, in: Merten, 118. Kirchhof, in: Merten, 118. 171 Kirchhof, in: Merten, 118. 172 Kirchhof, in: Merten, 118. 173 Kirchhof, in: Merten, 118. 174 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 194. 175 Hillgruber in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 194 nennt zunächst Art. 24 Abs. 1 GG (alte Ermächtigungsnorm), weist aber darauf hin, dass für Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG nichts anderes gelten könne als für Art. 24 Abs. 1 GG. 176 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 194. 177 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 194. 170
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beschwerde geltend gemacht werden könne.178 Es handele sich insofern nur um die Rüge einfachen Rechts und noch nicht um einen objektiven Verfassungsverstoß,179 weshalb nicht das Bundesverfassungsgericht, sondern nur die Fachgerichte zuständig seien. (5) Zusammenfassung Die Argumentationen der Autoren unterscheiden sich, wobei Hillgruber und Paul Kirchhof ganz ähnlich argumentieren, indem darauf abgehoben wird, dass in der Unvereinbarkeit nationalen Rechts mit Unionsrecht kein objektiver Verfassungsverstoß liege. Di Fabio stellt darauf ab, dass das Unionsrecht nur einen Anwendungs- und keinen Geltungsvorrang genieße und Schlaich/Korioth betonen allgemein, dass das Bundesverfassungsgericht nach dem Grundgesetz nicht zur Durchsetzung des Unionsrechts berufen sei. cc) Integration des Unionsrechts in die Verfassungsbeschwerde Das Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts begegnet Bedenken, insbesondere weil es bis dato keine plausible Begründung für den Ausschluss des Unionsrechts geliefert hat. Ob die zustimmenden Begründungen aus dem Schrifttum überzeugen können, wird zu prüfen sein. Für die nachfolgende Prüfung ist vom folgenden Sachverhalt auszugehen: Ein grundrechtseinschränkendes deutsches Gesetz, auf dessen Grundlage ein Exekutivakt ergeht oder welches self-executing ist, verstößt gegen unmittelbar anwendbares Sekundärrecht oder Primärrecht (vornehmlich gegen im Einzelfall anwendbare Unionsgrundrechte oder Grundfreiheiten). Dann ist die Frage zu beantworten, ob die Verletzung des Unionsrechts zur Folge hat, dass das deutsche Gesetz als Schranke für den Grundrechtseingriff ausscheidet. Ausgangspunkt für die Beantwortung der zugrunde liegenden Frage muss die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes sein, da sich daraus bereits eine Richtschnur für jedes staatliche Handeln unter dem Grundgesetz ergibt, welche bei der Rechtsetzung und Rechtsanwendung zu beachten ist.180 (1) Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes Das Verhältnis einer staatlichen Verfassungsordnung zu internationalen rechtlichen Einflüssen hängt entscheidend davon ab, wie die nationale Verfassung dieses
178 179 180
Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 195. Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 195. Dörr, 61.
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Verhältnis selbst bestimmt.181 Das Grundgesetz als deutsche Verfassung ist von einer besonderen Offenheit gegenüber dem Völkerrecht und der Europäischen Integration geprägt.182 Gegenüber seinen Vorgängern ist die Völker- und Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes in der deutschen Verfassungsgeschichte beispiellos, was daraus verständlich wird, dass die Völkerrechtsordnung und die deutsche Verfassungsordnung an der Wahrung des Friedens und der Menschenrechte in der Vorkriegszeit gescheitert waren.183 Die Völkerrechtsfreundlichkeit zeigt sich an der Öffnung für völkerrechtliche Normen in Art. 25,184 Art. 59 GG, in der Möglichkeit der Zurücknahme des Souveränitätsanspruches in Art. 24 GG, in dem Bekenntnis zu den Menschenrechten in Art. 1 Abs. 2 GG, dem Verbot des Angriffskrieges in Art. 26 GG sowie in der Präambel, in der sich das deutsche Volk dazu verpflichtet, dem Frieden der Welt zu dienen. Wichtiger ist an dieser Stelle jedoch die besondere Offenheit des Grundgesetzes für die europäische Integration, welche über die Völkerrechtsfreundlichkeit hinausgeht. Verfassungsrechtlich zeigt sich diese in der Präambel („als gleichberechtigtes Glied in einem vereinten Europa“), in Art. 23 GG, der die Mitwirkung Deutschlands bei der Entwicklung der Europäischen Union regelt, in Art. 88 S. 2 GG, welcher zur Übertragung der Währungshoheit auf die Europäische Zentralbank ermächtigt, sowie in Art. 45 GG, der obligatorisch einen Bundestagsausschuss für die Angelegenheiten der Europäischen Union verlangt. Diese völker- und europarechtsfreundliche Grundentscheidung des Verfassungsgebers verleiht auch dem Verfassungsbeschwerdeverfahren eine internationale Dimension, da die grundrechtlichen Gewährleistungen des Grundgesetzes in einen internationalen Normenverbund mit wechselseitigen Einflüssen, welchem neben dem allgemeinen Völkerrecht vor allem die Europäische Menschenrechtskonvention und das Europäische Unionsrecht angehören, hineingewachsen sind.185 Dieser Normenverbund wird durch einen Entscheidungsverbund ergänzt, in welchem auf höchster Ebene das Bundesverfassungsgericht, der Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte und der Gerichtshof der Europäischen Union zusammenwirken.186 (2) Unionsrechtliches Äquivalenzprinzip Anknüpfend an die Integrationsoffenheit des Grundgesetzes für die Europäische Union könnte sich die Pflicht des Bundesverfassungsgerichts zur Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechte bereits aus dem Unionsrecht selbst ergeben, da aus 181
Dörr, 61. Vgl. BVerfGE 6, 309 (362); 41, 88 (120); 63, 343 (370); 75, 1 (17). 183 Giegerich, in: Grabenwarter, 101. 184 Die allgemeinen Regeln i.S.v. Art. 25 GG betreffen das Völkergewohnheitsrecht und die allgemeinen Rechtsgrundsätze des Völkerrechts, vgl. BVerfGE 31, 145 (177); 96, 68 (86). 185 Giegerich, in: Grabenwarter, 102. 186 Giegerich, in: Grabenwarter, 102. 182
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Art. 4 Abs. 3 EUV (Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit) resultiert, dass Verstöße gegen das Unionsrecht von den Mitgliedstaaten nach ähnlichen sachlichen und verfahrensrechtlichen Regeln geahndet werden müssen wie nach Art und Schwere gleichartige Verstöße gegen nationales Recht (Äquivalenzprinzip).187 Das Äquivalenzprinzip und Effektivitätsprinzip,188 d. h. die Pflicht, die Tragweite und Wirksamkeit des Unionsrechts nicht zu beeinträchtigen, trifft bei der Durchsetzung von Unionsrecht auch die mitgliedstaatlichen Gerichte.189 Die Voraussetzung einer Anwendung des Äquivalenzprinzips auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren sei, so Giegerich, die Vergleichbarkeit der jeweiligen Rechtspositionen, da nur für solche unionsrechtlichen Rechte, deren Rang in der Unionsrechtsordnung dem Rang der grundrechtlichen Gewährleistungen in der deutschen Rechtsordnung entspreche, eine Gleichbehandlungspflicht bestehe.190 Dazu zählten die grundlegenden Individualrechte des Unionsrechts.191 Verfassungsrechtlich lasse sich die gebotene Gleichbehandlung dadurch erreichen, dass man die Missachtung der unionsrechtlichen Individualrechte als Verletzung des thematisch einschlägigen Grundrechts i.V.m. Art. 23 Abs. 1 GG einstufe. Indem das Bundesverfassungsgericht das Unionsrecht nicht als Maßstab im Verfassungsbeschwerdeverfahren heranziehe, werde es der in der Präambel und Art. 23 Abs. 1 GG festgeschriebenen Integrationsoffenheit des Grundgesetzes nicht gerecht.192 Es begegnet jedoch Bedenken, das Äquivalenzprinzip auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren anzuwenden, wenn man in Rechnung stellt, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren einen außerordentlichen Rechtsbehelf darstellt und sich das Äquivalenz- und Effektivitätsprinzip vordergründig an die mitgliedstaatlichen Instanzgerichte richtet. Überdies spricht mehr dafür, den Anknüpfungspunkt für die Integration des Unionsrechts in das Verfassungsbeschwerdeverfahren im deutschen Verfassungsrecht selbst zu suchen, da man sich in diesem Fall nicht vom Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG entfernen muss. Im Übrigen tendiert auch das Bundesverfassungsgericht dazu, beispielsweise bei der Begründung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts,193 Einwirkungen des Unionsrechts auf das nationale Recht verfassungsrechtlich zu begründen.
187
EuGH, Slg. 1989, 2965, Rn. 24 – Kommission/Griechenland. s. hinsichtlich der Anwendung der Prinzipien auf den Verwaltungsvollzug durch nationale Behörden EuGH, Slg. 1983, 2633, Rn. 22 f. – Milchkontor. 189 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, Art. 10 EGV Rn. 44. 190 Giegerich, in: Grabenwarter, 119. 191 Giegerich, in: Grabenwarter, 119. 192 Giegerich, in: Grabenwarter, 119. 193 Vgl. BVerfGE 89, 155 (190). 188
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(3) Art. 19 Abs. 4 GG Die Durchsetzung des Unionsrechts könnte auch über Art. 19 Abs. 4 GG in den Jurisdiktionsbereich der Verfassungsbeschwerde gelangen. Die Heranziehung von Art. 19 Abs. 4 GG geht auf Frenz zurück,194 der allerdings zwischen EU-Grundrechten und Grundfreiheiten auf der einen Seite und individualrechtsverleihendem Sekundärrecht auf der anderen Seite unterscheiden will. (a) Verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG Die Rüge der Verletzung von EU-Grundrechten und Grundfreiheiten durch nationale Gesetze sei nach Frenz im Verfassungsbeschwerdeverfahren über eine verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG möglich, indem „Grundrechte“ im Sinne der Norm auch EU-Grundrechte und Grundfreiheiten seien.195 Die EUGrundrechte ergeben sich gemäß Art. 6 Abs. 1 EUV aus der EU-Grundrechtecharta196, der EMRK und den gemeinsamen Verfassungsüberlieferungen der Mitgliedstaaten (Art. 6 Abs. 3 EUV). Sie sind gemäß Art. 6 Abs. 3 EUVals allgemeine Grundsätze Teil des Unionsrechts. Die verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG ergebe sich dabei aus der Herstellung einer praktischen Konkordanz zwischen Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG und Art. 19 Abs. 4 GG.197 Letzteren will Frenz nämlich als „europäisiert“ verstanden wissen,198 da unionrechtlich verliehene Rechte, die dem Einzelnen die Rechtsmacht einräumten, dem Staat gegenüber eine Verhaltenspflicht durchzusetzen, die Merkmale eines subjektiv-öffentlichen Rechts und damit eines verletzbaren Rechts im Sinne der Rechtsschutzgewährleistung erfüllten.199 Werden die unionsrechtlich verliehenen Rechte durch nationale Gesetze eingeschränkt und sei eine andere Abwehr nicht möglich, gebiete Art. 19 Abs. 4 GG zur Vermeidung von Rechtsschutzlücken die Eröffnung der Verfassungsbeschwerde gegen Gesetze auch wegen einer Verletzung in subjektiv-öffentlichen Rechten aus Unionsrecht.200 Notwendig sei dafür jedoch die Einbeziehung von Gesetzen in den Begriff der öffentlichen Gewalt und die Anerkennung der Verfassungsbeschwerde als möglichen Rechtsweg im Sinne der Rechtsschutzgarantie.201 194
s. Frenz, DÖV 1995, 414 ff. Vgl. Frenz, DÖV 1995, 416 ff. 196 Nach Art. 6 Abs. 1 EUV sind die Verträge und die Grundrechtecharta nunmehr rechtlich gleichrangig. Während der Verfassungsvertrag noch die Inkorporation der Grundrechtscharta vorsah, ist deren Text nicht mehr Bestandteil des Vertrages von Lissabon bzw. der durch diesen erzielten Änderungen, vgl. Hatje/Kindt, NJW 2008, 1766 f. 197 Frenz, DÖV 1995, 416. 198 So auch die Interpretation durch Dörr, 211. 199 Frenz, DÖV 1995, 416. 200 Frenz, DÖV 1995, 416. 201 Frenz, DÖV 1995, 416. 195
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Allerdings könne über eine verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG individualrechtsverleihendes Sekundärrecht nicht in den Jurisdiktionsbereich der Verfassungsbeschwerde integriert werden, da dies an der Wortlautgrenze („Grundrechte“) scheitere.202 (b) Verfassungsbeschwerde unmittelbar auf der Basis von Art. 19 Abs. 4 GG Bei der Verletzung von Sekundärrecht durch nationale Gesetze sei wegen der sonst zu befürchtenden Rechtsschutzdefizite „der Rechtsweg zum Bundesverfassungsgericht“ unmittelbar eröffnet.203 Dies gelte für Verordnungen, an säumige Mitgliedstaaten adressierte Richtlinien und Beschlüsse, soweit sie Individuen von ihrem Gehalt her unbedingt und hinreichend genau betreffen und an Individuen gerichtete Beschlüsse.204 Die Möglichkeit einer Zuständigkeit der ordentlichen Gerichte gemäß Art. 19 Abs. 4 S. 2 GG komme deshalb nicht in Frage, weil diese Gerichte ausweislich Art. 100 Abs. 1 GG nicht über die Gültigkeit von Gesetzen entscheiden könnten.205 Vorhandene Rechtsschutzlücken müssten über eine Erweiterung des „sachnächsten Rechtsweges“ geschlossen werden.206 Dies sei bei der Überprüfung von Gesetzen im Allgemeinen der Weg zum Bundesverfassungsgericht und zur Durchsetzung subjektiver Rechte im Besonderen die Verfassungsbeschwerde.207 (c) Anmerkung Gegenüber der Konstruktion von Frenz, über Art. 19 Abs. 4 GG die Durchsetzung von Unionsrecht zur Aufgabe des Bundesverfassungsgerichts zu machen, sind Bedenken angebracht. Gemäß Art. 19 Abs. 4 GG steht demjenigen der Rechtsweg offen, der durch die öffentliche Gewalt in seinen Rechten verletzt wird. Öffentliche Gewalt ist nach traditionellem Verständnis jedenfalls die vollziehende Gewalt, wohingegen die Rechtsprechung als Staatsfunktion ausgenommen ist,208 da Art. 19 Abs. 4 GG keinen Instanzenzug gewährleistet.209 Die Gesetzgebung kann auch nicht zur öffentlichen Gewalt zählen, da nach Art. 20 Abs. 3 sowie Art. 97 Abs. 1 GG das Gesetz nur Grundlage und nicht Gegenstand einer richterlichen Entscheidung ist.210 Vielmehr bringen 202 203 204 205 206 207 208 209 210
Frenz, DÖV 1995, 417. Frenz, DÖV 1995, 418. Frenz, DÖV 1995, 418. Frenz, DÖV 1995, 418. Frenz, DÖV 1995, 418. Frenz, DÖV 1995, 418. Vgl. Brüning, in: Stern/Becker, Art. 19 Rn. 83, 85; Sachs, in: ders., Art. 19 Rn. 118 ff. BVerfGE 92, 365 (410); 112, 185 (207). Vgl. BVerfGE 24, 33 (49 ff.).
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die als abschließend zu verstehenden Art. 93 Abs. 1 Nr. 2, Nr. 4a GG und Art. 100 Abs. 1 GG zum Ausdruck, dass die Überprüfung von Gesetzen auf ihre Verfassungsmäßigkeit dem Bundesverfassungsgericht vorbehalten ist, da nur dessen Entscheidungen Allgemeinverbindlichkeit zukommt (vgl. Art. 94 Abs. 2 GG).211 Wollte man auch die Gesetzgebung unter die öffentliche Gewalt fassen, dürften Entscheidungen der ordentlichen Gerichte nicht nur eine inter-partes-Wirkung haben, sondern müssten erga omnes wirken, was mit den Vorgaben des Grundgesetzes nicht zu vereinbaren ist. Der Gewährleistung individuellen Rechtsschutzes in Art. 19 Abs. 4 GG wird dadurch ausreichend nachgekommen, dass gerichtlicher Rechtsschutz gegen Vollzugsakte gewährt wird und dabei die angewendete Norm inzident überprüft wird.212 Die weitere Vorbedingung der Konstruktion über Art. 19 Abs. 4 GG ist die Anerkennung der Verfassungsbeschwerde als Rechtsweg im Sinne der Rechtsschutzgarantie. Wie § 90 Abs. 2 BVerfGG klar zum Ausdruck bringt, ist die Verfassungsbeschwerde erst nach Erschöpfung des Rechtsweges zulässig, diesem also nachgeordnet und selbst nicht durch Art. 19 Abs. 4 GG garantiert.213 Bei der Verfassungsbeschwerde zum Bundesverfassungsgericht wie auch bei Landesverfassungsbeschwerden handelt es sich um außerordentliche Rechtsbehelfe, die nicht von der Rechtsweggarantie umfasst werden. Aus diesem Grund ist die Verfassungsbeschwerde bei der Verletzung individualrechtsverleihenden Sekundärrechts durch nationale Gesetze „wegen der sonst zu befürchteten Rechtsschutzdefizite“ nicht unmittelbar eröffnet.214 § 90 Abs. 1 BVerfGG gibt lediglich einfachrechtlich Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG wieder und geht deshalb materiell auch nicht über die Grundgesetzbestimmung hinaus. Dem Wortlaut nach ist Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG auf Grundrechte und grundrechtsgleiche Rechte des Grundgesetzes beschränkt.215 Inwiefern methodisch eine verfassungskonforme Auslegung des § 90 Abs. 1 BVerfGG dazu führen kann, dass der Jurisdiktionsbereich auf die Durchsetzung von EU-Grundrechten und Grundfreiheiten erweitert wird, ist unklar, da in diesem Fall § 90 Abs. 1 BVerfGG und Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine unterschiedliche Bedeutung erhielten. Dem von Frenz propagierten Weg kann nicht gefolgt werden.216 Das Bundesverfassungsgericht ist nach Art. 19 Abs. 4 GG weder zur Durchsetzung von EU-Grundrechten und Grundfreiheiten noch von individualrechtsverleihendem Sekundärrecht verpflichtet.
211
Vgl. BVerfGE 24, 33 (50) hinsichtlich Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG und Art. 100 Abs. 1 GG. Brüning, in: Stern/Becker, Art. 19 Rn. 88. 213 BVerfGE 1, 332 (344); 16, 1 (2). 214 So auch Dörr, 211 Fn. 182, der betont, dass Art. 19 Abs. 4 GG die von Frenz befürwortete Rechtsfolge von der Norm nicht vorgesehen sei. 215 Dies sieht auch Frenz, DÖV 1995, 416 f. ein. 216 Ablehnend auch E. Klein, in: Burmeister, 1309. 212
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(4) Art. 2 Abs. 1 GG Ein anderer Weg besteht darin, über Art. 2 Abs. 1 GG, gegebenenfalls i.V.m. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG, die Durchsetzung von Unionsrecht in den Jurisdiktionsbereich der Verfassungsbeschwerde zu integrieren. Es geht namentlich um die Frage, ob ein Verstoß eines deutschen Gesetzes gegen das Unionsrecht zur Folge hat, dass dieses Gesetz aus der „verfassungsmäßigen Ordnung“ des Art. 2 Abs. 1 GG ausscheidet. Lerche hat zutreffend – und metaphorisch – betont, dass die aufgeworfene Frage nach der Definition der verfassungsmäßigen Ordnung in Richtung des Unionsrechts zwar schlicht klingt, in Wirklichkeit aber ganze Landschaften umschließt.217 Das liegt daran, dass hier verschiedene Fragestellungen zusammenlaufen, nämlich vor allem der von Di Fabio ins Spiel gebrachte Unterschied zwischen Geltungs- und Anwendungsvorrang und auch die umstrittene Bedeutung von Art. 23 Abs. 1 GG für die Bestimmung der „verfassungsmäßigen“ Ordnung. Die Verfassungsbeschwerde über Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG wird ferner deshalb für möglich gehalten, weil ein Teil der Literatur darin einen Parallelfall zur Durchsetzung allgemeiner Regeln des Völkerrechts nach Art. 2 Abs. 1 i.V.m. Art. 25 GG erachtet,218 was vom Bundesverfassungsgericht für zulässig erachtet wird.219 (a) Die verfassungsmäßige Ordnung Nach ganz herrschender Auffassung wird menschliches Verhalten von Art. 2 Abs. 1 GG umfassend geschützt,220 da mit der „freien Entfaltung der Persönlichkeit” nicht nur die Entfaltung innerhalb jenes Kernbereichs der Persönlichkeit gemeint sein kann, der das Wesen des Menschen als geistig-sittliche Person ausmacht.221 Art. 2 Abs. 1 GG schützt daher die allgemeine Handlungsfreiheit, was zu einer umfassenden sachlichen Auffangfunktion führt, d. h., das Grundrecht greift überall dort ein, wo ein spezielles Freiheitsrecht nicht einschlägig ist.222 Die Weite des Schutzbereichs zieht nach sich, dass unter der „verfassungsmäßigen Ordnung“ die verfassungsmäßige Rechtsordnung zu verstehen ist, welche die materiellen und formellen Normen der Verfassung zu beachten hat.223 Das bedeutet, dass die allgemeine Handlungsfreiheit eines Bürgers nur wirksam beschränkt wird, wenn die Eingriffsnorm, auf deren Grundlage ein hoheitlicher Akt ergeht, formell und materiell mit 217 218
430. 219
Lerche, in: Horn/Häberle, 41. So Hasselbach, MDR 1994, 852; Frowein, in: Starck, Bd. I, 200; Giegerich, JuS 1997,
BVerfGE 23, 288 (300); 31, 145 (177 f.); 77, 170 (232 f.). St. Rspr. seit BVerfGE 6, 32 (36) – Elfes; s. auch BVerfGE 80, 137 (152) – Reiten im Walde; vgl. Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 27 m.w.N. 221 BVerfGE 6, 32 (36). 222 Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 30. 223 BVerfGE 6, 32 (37 f.). 220
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
der Verfassung im Einklang steht. Verfahrensrechtliche Konsequenz ist, dass jedermann im Wege der Verfassungsbeschwerde geltend machen kann, dass ein seine Handlungsfreiheit beschränkendes Gesetz nicht zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört, weil es formell oder inhaltlich gegen einzelne Verfassungsbestimmungen oder allgemeine Verfassungsgrundsätze verstößt.224 Die der herrschenden Auffassung entgegengestellten Alternativpositionen, wie beispielsweise die „Persönlichkeitskerntheorie“, haben sich nicht durchsetzen können.225 (b) Allgemeine Regeln des Völkerrechts als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung Die allgemeinen Regeln des Völkerrechts im Sinne von Art. 25 GG zählen zur verfassungsmäßigen Ordnung nach Art. 2 Abs. 1 GG.226 Allgemeine Regeln des Völkerrechts sind das Völkergewohnheitsrecht sowie die allgemeinen Rechtsgrundsätze im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. b, c IGH-Statut.227 Völkervertragsrecht im Sinne von Art. 38 Abs. 1 lit. a IGH-Statut fällt nicht unter Art. 25 GG, da Bestimmungen völkerrechtlicher Verträge innerstaatliche Wirkung über Art. 59 Abs. 2 GG erlangen, der Art. 25 GG als lex specialis verdrängt.228 Nach Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts kann eine Verfassungsbeschwerde zwar nicht unmittelbar auf Art. 25 GG gestützt werden, jedoch kann mit ihr geltend gemacht werden, dass Vorschriften eines nationalen Gesetzes zu einer allgemeinen Regel des Völkerrechts im Widerspruch stehen und von dieser verdrängt werden.229 Wegen Art. 25 GG gehört es nämlich zur verfassungsmäßigen Ordnung, dass bei Gestaltung und Anwendung des nationalen Rechts den durch Art. 25 GG in das Bundesrecht inkorporierten allgemeinen Regeln des Völkerrechts Rechnung getragen wird.230 Ein nationales Gesetz, das mit einer solchen Regel kollidiert, ist deshalb keine wirksame Eingriffsgrundlage und vermag die allgemeine Handlungsfreiheit des jeweiligen Beschwerdeführers nicht zu beschränken.231 Nichts anderes gilt für Gerichtsentscheidungen, da Art. 2 Abs. 1 GG verletzt wird, wenn die Entscheidung auf einer dem allgemeinen Völkerrecht widersprechenden Norm des innerstaatlichen Rechts beruht.232
224 225 226 227 228 229 230 231 232
BVerfGE 6, 32 (41). Vgl. Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 28 f. BVerfGE 23, 288 (300). Vgl. Pernice, in: Dreier, Art. 25 Rn. 19 ff. Streinz, in Sachs, Art. 25 Rn. 29. BVerfGE 23, 288 (300); 31, 145 (177); 96, 68 (96). BVerfGE 23, 288 (300). Vgl. BVerfGE 23, 288 (300). BVerfG, NJW 1986, 1425 (1426).
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Entscheidend ist, dass Art. 25 GG zur Folge hat, dass die allgemeinen Regeln des Völkerrechts ohne ein Transformationsgesetz – also unmittelbar – Eingang in die deutsche Rechtsordnung finden und dem deutschen innerstaatlichen Recht, nicht jedoch dem Verfassungsrecht vorgehen.233 Genau genommen ist es also nicht die Verletzung einer individualschützenden allgemeinen Regel des Völkerrechts, sondern die daraus resultierende Missachtung des Art. 25 GG, die einen Verstoß gegen objektives Verfassungsrecht darstellt und über Art. 2 Abs. 1 GG im Verfassungsbeschwerdeverfahren geltend gemacht werden kann.234 (c) Unionsrecht als Teil der verfassungsmäßigen Ordnung Ob das Unionsrecht zur verfassungsmäßigen Ordnung zählt, ist deshalb schwieriger zu beantworten als bei den allgemeinen Regeln des Völkerrechts, weil sich Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG von Art. 25 GG unterscheidet. (aa) „Verfassungsmäßige“ Ordnung Dies wird verständlich, wenn man zunächst einen Fokus der Betrachtung auf das Attribut „Verfassungsmäßige“ legt und die Auslegung der Ordnung als Rechtsordnung zunächst zurückstellt. Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG hat nicht wie Art. 25 GG zur Folge, dass europarechtliche Rechtsakte ohne Transformationsakt innerstaatliche Geltung erlangen, sondern ermächtigt den Bund nur dazu, durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrates Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen. Ebenso wenig können aus Art. 23 Abs. 1 S.2 GG Rückschlüsse auf das Verhältnis von innerstaatlichem Recht und Unionsrecht, etwa zur Frage des Anwendungsvorranges, gezogen werden. Der „Integrationshebel“ des Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG öffnet die deutsche Rechtsordnung für das Recht der Europäischen Union, ohne jedoch eine über diese Öffnung hinausgehende Anordnung zu treffen.235 (a) Einfaches Zustimmungsgesetz als Integrationshebel Erst die einfachgesetzlichen Zustimmungsgesetze zum EU-Vertrag und zum Vertrag über die Arbeitsweise der Europäischen Union vermitteln die Geltung und die vorrangige Anwendung des primären und sekundären Unionsrechts im deutschen Hoheitsbereich.236 Aus diesem Grund kann, wie Hillgruber und wohl auch Kirchhof zutreffend deutlich gemacht haben, dem Europarecht innerstaatlich kein höherer Rang zukommen als den Integrationsgesetzen, welche die innerstaatliche Anwendung erst anordnen. Daraus zieht Hillgruber nun den Schluss, dass eine auf Art. 2 233 BVerfGE 6, 309 (363); 37, 271 (278 f.); Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 204. 234 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 204. 235 Dörr, 109. 236 Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 194.
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
Abs. 1 GG gestützte Verfassungsbeschwerde, welche die Unvereinbarkeit einer nationalen Eingriffsnorm mit Unionsrecht rügt, deshalb keinen Erfolg haben könne, weil es sich um eine Frage einfachen Rechts handele und ein rügefähiger Verstoß gegen objektives Verfassungsrecht darin nicht zu sehen sei.237 (b) Art. 23 Abs. 1 GG i.V.m. der Präambel Insbesondere Giegerich gelangt jedoch zu einem anderen Ergebnis. Er räumt zwar ein, dass Art. 23 Abs. 1 GG im Unterschied zu Art. 25 GG keinen verfassungsrechtlichen Rechtsanwendungsbefehl enthält.238 Allerdings formuliere Art. 23 Abs. 1 GG anders als die Ermessensvorschrift des Art. 24 Abs. 1 GG einen konkreten Verfassungsauftrag eines solchen Rechtsanwendungsbefehls und setze damit die europäische Verfassungszielbestimmung der Präambel um.239 Wenngleich der Bund nach Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG Hoheitsrechte auf die Europäische Union übertragen „kann“, identifiziere die Verpflichtung der Bundesrepublik auf die Mitwirkung bei der Entwicklung der Europäischen Union in Art. 23 Abs. 1 S. 1 GG die Kann-Bestimmung in Satz 2 als Kompetenz- und nicht als Ermessens-Kann.240 Aus diesem Grund verletzten Verstöße gegen den gesetzlichen Rechtsanwendungsbefehl zugleich den Verfassungsauftrag.241 Dieser Konstruktion Giegerichs ist zwar zugutezuhalten, dass Unterschiede zwischen Art. 23 Abs. 1 GG und Art. 24 Abs. 1 GG herausgearbeitet werden und die „Kann-Bestimmung“ in Art. 23 Abs. 1 S. 2 – liest man sie zutreffend i.V.m. Satz 1 – in der Tat anders verstanden werden kann als die „Kann-Bestimmung“ in Art. 24 Abs. 1 GG. Nichtsdestotrotz können unter Rekurrierung auf die Unterschiede zu Art. 24 Abs. 1 GG und den Verfassungsauftrag der Präambel die Unterschiede zu Art. 25 GG nicht gänzlich ausgeräumt werden. Trotz der von Giegerich gewählten Konstruktion wird Art. 23 Abs. 1 GG nicht zu einem verfassungsunmittelbaren Integrationshebel. Somit scheint das Unionsrecht aus der verfassungsmäßigen Ordnung auszuscheiden. Das führte dazu, dass ein wegen Kollision mit Unionsrecht nicht anwendbares deutsches Gesetz wirksam die allgemeine Handlungsfreiheit des Art. 2 Abs. 1 GG beschränken könnte. (c) Möglichkeit einer Analogie Man kann jedoch eine Analogie dahingehend in Betracht ziehen, als dass das „Unionsrechtsgemäße“ unter dem Aspekt des Art. 2 Abs. 1 GG in Verbindung mit der prinzipiellen Unionsrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes dem „Verfassungsge-
237 238 239 240 241
So Hillgruber, in: Umbach/Clemens, GG, Art. 2 I Rn. 195; ebenso Dörr, 108 f. Giegerich, in: Grabenwarter, 119 f. Giegerich, in: Grabenwarter, 120. Giegerich, in: Grabenwarter, 120. Giegerich, in: Grabenwarter, 120.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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mäßen“ gleich zu achten ist.242 Das Unionsrecht führt nämlich auch in anderen Beziehungen zu analogen Erweiterungen deutscher Rechtsnormen.243 Methodisch setzt jeder Analogieschluss eine Gesetzeslücke voraus, wobei der Gesetzeswortlaut die Möglichkeit offen lassen muss, dass der Gesetzgeber den problematischen Fall nicht genügend bedacht und ihn deshalb in seiner Regelung nicht berücksichtigt hat.244 Die Gesetzeslücke muss planwidrig sein. Durch einen Analogieschluss wird dann die für einen Tatbestand im Gesetz gegebene Regel auf einen vom Gesetz nicht geregelten, jedoch ähnlichen Tatbestand übertragen.245 Dem Analogieschluss liegt die Bewertung zu Grunde, dass die Unterschiede zwischen den gesetzlich geregelten und gesetzlich nicht geregelten Fällen nicht gewichtig genug sind, um eine unterschiedliche Behandlung zu rechtfertigen, womit dieser zu einem Anwendungsfall des Gleichheitsgrundsatzes wird.246 Ob auch Verfassungsnormen ohne weiteres einer Analogie zugänglich sind, ist zweifelhaft, wenn man bedenkt, dass man der rechtsprechenden Gewalt die Lückenschließung deshalb überantwortet, weil Gesetz und Recht, wie Art. 20 Abs. 3 GG deutlich macht, sich nicht notwendig und immer decken.247 Gegenüber den geschriebenen Gesetzen kann nämlich unter Umständen ein Mehr an Recht bestehen, das seine Quelle in der verfassungsmäßigen Rechtsordnung als einem Sinnganzen besitzt und dem geschriebenen Gesetz gegenüber als Korrektiv zu wirken vermag.248 Ausgehend von Art. 20 Abs. 3 GG wird demnach ein enger Gesetzespositivismus abgelehnt.249 Im Allgemeinen wird auch die Europarechtsfreundlichkeit der deutschen Rechtsordnung schon dadurch realisiert werden können, dass die jeweils in Rede stehenden unterverfassungsrechtlichen Normen analog gehandhabt werden.250 Die Frage der analogen Anwendung einer Verfassungsnorm, hier Art. 2 Abs. 1 GG, kann aber offen bleiben, wenn schon kein Bedürfnis für eine Analogie besteht. Das ist der Fall, wenn das Unionsrecht trotz des Umstandes, dass es prima facie nicht dem „Verfassungsmäßigen“ zuzurechnen ist, auf Grundlage des herrschenden weiten Schrankenverständnisses unter die „verfassungsmäßige Ordnung“ gefasst werden muss.
242 243 244 245 246 247 248 249 250
Die Idee dieser Analogie stammt von Lerche, in: Horn/Häberle, 44. Lerche, in: Horn/Häberle, 44. Vgl. Zippelius, 67. Vgl. Röhl/Röhl, 634. Zippelius, 68. Vgl. BVerfGE 34, 269 (286 f.). BVerfGE 34, 269 (287). Vgl. BVerfGE 34, 269 (286). Lerche, in: Horn/Häberle, 44.
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(bb) Verfassungsmäßige „Ordnung“ Wendet man sich dem zweiten Begriffsmerkmal, der „Ordnung“, zu, welche als Rechtsordnung verstanden wird, dann sind nur solche Eingriffsnormen imstande, die allgemeine Handlungsfreiheit zu beschränken, die zu dieser gerechnet werden können, d. h. formell und materiell mit den Normen des Grundgesetzes im Einklang stehen. Danach ist die Norm, auf dessen Grundlage der Eingriffsakt der öffentlichen Gewalt ergeht, materiell nicht nur an Art. 2 Abs. 1 GG, sondern auch an der Verfassung in sonstiger Hinsicht zu messen. Es ist also insbesondere zu prüfen, ob die Vorschrift den Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes entspricht, und bei landesrechtlichen Regelungen ist zusätzlich danach zu fragen, ob diese im Hinblick auf Art. 31 GG inhaltlich mit Bundesrecht vereinbar sind.251 Ist die Norm unter Zuständigkeits-, Verfahrens-, Formgesichtspunkten formell verfassungswidrig oder liegt ein Verstoß gegen Art. 31 GG vor, scheidet diese aus der verfassungsmäßigen Ordnung aus, weil eine Verletzung des Grundgesetzes gegeben ist und die betreffende Norm nichtig ist. Wenngleich die Unvereinbarkeit mit Verfassungsrecht die Hauptursache dafür ist, dass Normen nicht unter die verfassungsmäßige Ordnung fallen, sind, wie Lerche zutreffend deutlich gemacht hat, auch Fälle denkbar, die nichts mit Verfassungsrecht zu tun haben und dennoch nicht als Komponente der verfassungsmäßigen Rechtsordnung gelten können.252 (a) Ursachen außerhalb des Verfassungsrechts Lerche selbst nennt den Fall, dass eine einfachgesetzliche Norm durch eine spätere gleichen Ranges außer Kraft gesetzt wird und damit nichtig ist.253 Der Grundsatz „lex posterior derogat legi priori“ hat zur Folge, dass zwischen einfachen Gesetzen die widerstreitende ältere auch außer Kraft gesetzt wird, wenn sie diese nicht ausdrücklich aufhebt.254 Auch in diesem Fall kann kein Zweifel daran bestehen, dass die ältere Norm nicht mehr zur verfassungsmäßigen Ordnung gehört und daher auch nicht als Rechtsgrundlage für Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit herhalten kann.255 Daneben sind weitere Konstellationen vorstellbar, bei denen sich das Ausscheiden aus der verfassungsmäßigen Ordnung nicht aus dem Grundgesetz ergibt. Neben Bundes- und Landesgesetzen vermögen nämlich auch Rechtsverordnungen, Satzungen und sogar Richterrecht die allgemeine Handlungsfreiheit zu beschränken, womit es sich bei der verfassungsmäßigen Ordnung um einen allgemeinen Rechtsvorbehalt handelt; faktisch lässt sich unter sie die gesamte Rechtsordnung fassen.256 Die verfas251 252 253 254 255 256
Vgl. BVerfG, NJW 1989, 2525. Lerche, in: Horn/Häberle, 45. Lerche, in: Horn/Häberle, 45. Zippelius, 41. Vgl. Lerche, in: Horn/Häberle, 45. Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 54 f.
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sungsmäßige Ordnung in Art. 2 Abs. 1 GG gewinnt damit eine andere Bedeutung als in Art. 9 Abs. 2 GG (zentrale Verfassungsprinzipien) oder Art. 20 Abs. 3 GG (Gesamtheit der Verfassungsgrundsätze).257 Satzungen können ebenfalls rechtswidrig und nichtig sein und scheiden in diesem Fall als taugliche Eingriffsgrundlage aus der verfassungsmäßigen Ordnung aus. Satzungen sind Rechtsnormen, die von Selbstverwaltungskörperschaften zur Regelung ihrer eigenen Angelegenheiten erlassen werden.258 Satzungsermächtigungen sind nicht an dem für Verordnungsermächtigungen vorgeschriebenen Bestimmtheitsgrundsatz des Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG zu messen,259 weshalb sich die Nichtigkeit im Einzelfall nicht aus dem Grundgesetz, sondern aus einfachem Recht ergibt, beispielsweise wenn die Satzung einer Handwerksinnung nicht die nach § 55 Abs. 2 HandwO erforderlichen Bestimmungen enthält. An dem Ausscheiden aus der verfassungsmäßigen Rechtsordnung ändert sich aber nicht deshalb etwas, weil die Nichtigkeit der Satzung nicht aus dem Grundgesetz folgt. (b) Folge für das Unionsrecht Nichts anderes kann für das Unionsrecht gelten. Führt der Anwendungsvorrang im Einzelfall dazu, dass eine nationale Rechtsnorm von staatlichen Stellen unangewendet bleiben muss, können auf ihrer Grundlage keine wirksamen Eingriffe in die allgemeine Handlungsfreiheit vorgenommen werden. Es ist daher irrelevant, welches Gewicht man im Detail Art. 23 Abs. 1 GG zumessen will,260 d. h., ob man mit Giegerich Verstöße gegen den gesetzlichen Rechtsanwendungsbefehl zugleich als Verstoß gegen den Verfassungsauftrag des Art. 23 GG i.V.m der Präambel ansieht oder ob man wie Hillgruber dies nur als Verstoß gegen einfaches Recht qualifiziert. Die Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit muss nämlich nicht zwingend aus dem Grundgesetz folgen. Aus diesem Grund muss auch die Konstruktion einer Analogie dahingehend, dass das „Unionsrechtsgemäße“ dem „Verfassungsgemäßen“ gleich zu achten ist, nicht weiter verfolgt werden. (c) Zwischenergebnis Das Unionsrecht fällt unter die verfassungsmäßige Ordnung des Art. 2 Abs. 1 GG,261 wenn es unmittelbar anwendbar ist und zur Folge hat, dass eine nationale Norm auf einen Sachverhalt nicht angewendet werden kann. Eines Rückgriffes auf 257
Vgl. Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 54. Ipsen, Allgemeines Verwaltungsrecht, Rn. 301. 259 BVerfGE 12, 319 (325); 33, 125 (157 f.); 49, 343 (362). 260 So auch Lerche, in: Horn/Häberle, 46. 261 So letztlich auch Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 59; Schulze-Fielitz, in: Dreier, Art. 19 IV Rn. 23; Murswiek, in: Sachs, Art. 2 Rn. 89; Lorenz, in: BK, Art. 2 Abs. 1 Rn. 121 ff.; Höfling; in: Friauf/Höfling, Art. 2 Rn. 71; Horn, in: Stern/Becker, Art. 2 Rn. 95; E. Klein, in: Burmeister, 1309; auch Rengeling, DVBl. 1986, 311; Frowein, in: Starck, Bd. I, 200; Hasselbach, MDR 1994, 852, der dieses Ergebnis aber eher von Art. 23 Abs. 1 GG ausgehend begründet. 258
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Art. 23 Abs. 1 GG bedarf es dazu ebenso wenig wie der Konstruktion einer Analogie.262 (d) Substanzverlust des „Verfassungsmäßigen“ Zwei Fragen sind damit aber noch nicht gänzlich beantwortet, nämlich der von Di Fabio geltend gemachte Unterschied zwischen Anwendungs- und Geltungsvorrang sowie der mit dem Zwischenergebnis verbundene Substanzverlust des „Verfassungsmäßigen“ in der verfassungsmäßigen Ordnung. Letzterer ist, worauf Lerche zutreffend hingewiesen hat, zwingende Konsequenz der vom Bundesverfassungsgericht und der herrschenden Lehre vertretenen Ausdehnung des Art. 2 Abs. 1 GG zur allgemeinen Verhaltensfreiheit und der dadurch resultierenden weiten Ausdehnung der Schranke der verfassungsmäßigen Ordnung.263 Woraus sich im Einzelfall ergibt, dass die in Betracht kommende Eingriffsgrundlage nichtig oder unanwendbar ist, ist unerheblich. Die Nichtigkeit oder Unanwendbarkeit muss vor allem nicht aus dem Grundgesetz selbst folgen, wenn man die verfassungsmäßige Ordnung wie die h.M. letztlich nicht als verfassungsmäßige Rechtsordnung, sondern nur als Rechtsordnung versteht. (e) Anwendungsvorrang versus Geltungsvorrang Zur ersten Frage ist zu sagen, dass das Unionsrecht nicht deshalb, wie Di Fabio meint, aus der verfassungsmäßigen Ordnung ausscheidet, weil es entgegenstehendes nationales Recht nur in der Anwendung verdrängt und nicht zu dessen Nichtigkeit führt.264 Hier zwischen Geltungsvorrang- und Anwendungsvorrang zu unterscheiden, leuchtet vor allem deshalb nicht ein, weil der Hintergrund der nur vorrangigen Anwendung des Unionsrechts ist, dass seiner praktischen Wirksamkeit („effet utile“) bereits durch einen Anwendungsvorrang genügt wird – ein Geltungsvorrang also nicht erforderlich ist – und dieser im Regelfall, da die Norm auf rein innerstaatliche Sachverhalte weiterhin Anwendung finden kann, für die Mitgliedstaaten auch schonender ist.265 Da der Anwendungsvorrang des Unionsrechts im Kollisionsfall nicht zur Nichtigkeit deutscher Rechtsnormen führt, bleiben diese zwar grundsätzlich weiterhin Bestandteil der verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG, gleichwohl sind sie im Kollisionsfall europarechtlich als Eingriffsgrundlage suspendiert, sodass die Freiheitsentfaltung des Einzelnen auf Grundlage der suspendierten Norm nicht beschränkt werden kann.266 Auf die von Di Fabio ins Spiel gebrachte Un262 263 264 265 266
So auch Lerche, in: Horn/Häberle, 44, 46. Lerche, in: Horn/Häberle, 46 f. So auch Lorenz, in: BK, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 123. s. dazu C. II. 2. e) aa). Ebenso Lorenz, in: BK, Art. 2 Abs. 1 GG Rn. 123; Lerche, in: Horn/Häberle, 43 f.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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terschiedlichkeit von Anwendungs- und Geltungsvorrang kommt es somit nicht. Wollte man anders urteilen, müsste man konsequenterweise stets die Möglichkeit bejahen, dass zwar gültige, aber unanwendbare Rechtsnormen in der Lage wäre, wirksam die allgemeine Handlungsfreiheit zu beschränken; ein Ergebnis, das vor dem Hintergrund des von Art. 2 Abs. 1 GG angestrebten umfassenden Grundrechtsschutzes jedenfalls zweifelhaft ist. (cc) Zwischenergebnis Das Unionsrecht zählt zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und wirkt insofern zugunsten des Grundrechtsträgers, als dass eine wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbare Eingriffsgrundlage die allgemeine Handlungsfreiheit nicht beschränken kann. (5) Weiterungen Ausgehend von diesem Zwischenergebnis ist fraglich, ob sich dieses Ergebnis verändert, wenn man sich im Anwendungsbereich spezieller Freiheitsrechte befindet und man sich gleichsam mit einem Gesetzesvorbehalt konfrontiert sieht. Das weite Verständnis als allgemeine Handlungsfreiheit führt zur umfassenden sachlichen Auffangfunktion des Art. 2 Abs. 1 GG.267 Fällt ein Verhalten in den Schutzbereich zweier Freiheitsrechte, zwischen denen ein Spezialitätsverhältnis besteht, bestimmt sich sein Schutz allein nach dem speziellen Grundrecht („lex specialis derogat legi generali“).268 Dies ist der Fall, wenn eine Norm alle Tatbestandsmerkmale einer anderen Norm und zusätzlich mindestens ein weiteres Tatbestandsmerkmal aufweist.269 Die allgemeine Handlungsfreiheit tritt als subsidiäres Grundrecht hinter die anderen Freiheitsrechte zurück, soweit eine Verletzung des Art. 2 Abs. 1 GG und einer besonderen Grundrechtsnorm unter demselben sachlichen Gesichtspunkt in Betracht kommt.270 (a) Erstreckung auf spezielle Freiheitsrechte Das für Art. 2 Abs. 1 GG gewonnene Ergebnis verändert sich hinsichtlich spezieller Freiheitsrechte mit Gesetzesvorbehalten nicht, wenn auch bei diesen bereits eine Grundrechtsverletzung zu bejahen ist, falls die schrankenziehende Eingriffsgrundlage ausscheidet, entweder weil sie objektiv verfassungswidrig ist oder aus einem anderen Grund nichtig oder unanwendbar ist. Es geht also um die Frage, ob bei speziellen Freiheitsrechten mit Gesetzes- oder Regelungsvorbehalten ebenso wie bei Art. 2 Abs. 1 GG die Eingriffsgrundlage nicht nur am Grundrecht selbst, sondern 267 268 269 270
Dreier, in: ders., Art. 2 I Rn. 30. Pieroth/Schlink, Rn. 351. Berg, in: Merten/Papier, Bd. III, § 71 Rn. 27. BVerfG, NJW 1995, 2279.
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
auch auf ihre Verfassungsmäßigkeit in sonstiger Hinsicht (z. B. die Einhaltung der Kompetenzvorschriften des Grundgesetzes) zu untersuchen ist. (aa) Kompetenzrüge Gegenüber einer vom unzuständigen Gesetzgeber erlassenen Rechtsnorm, die ein Grundrecht nicht inhaltlich tangiert, lässt sich argumentieren, dass der Kompetenzverstoß des Gesetzgebers der grundrechtlichen Verfassungsrüge deshalb entzogen ist, weil das betreffende Gesetz jederzeit vom zuständigen Gesetzgeber mit unverändertem Inhalt erneut erlassen werden könnte.271 Eine solche Argumentation lässt andererseits den Grundsatz von der Einheit der Verfassung außer Betracht.272 Das Bundesverfassungsgericht hat jedoch betont, dass unabhängig davon, ob ein Verbot den Grundrechtsbereich der Art. 2 Abs. 1, Art. 12 Abs. 1 oder Art. 14 Abs. 1 GG berührt, der Eingriff nur verfassungsmäßig ist, wenn der Gesetzgeber sich bei Erlass der Verbotsvorschriften im Rahmen seiner Kompetenzen gehalten hat.273 Eine Differenzierung zwischen dem Auffanggrundrecht des Art. 2 Abs. 1 GG und speziellen Freiheitsrechten wird vom Bundesverfassungsgericht hinsichtlich der Komeptenzrüge demnach nicht vorgenommen. (bb) Vollumfängliche Verfassungsmäßigkeit Auch im Übrigen hat das Gericht deutlich gemacht, dass die gesetzliche Grundlage, auf der ein Grundrechtseingriff in spezielle Freiheitsrechte ergehen kann, vollumfänglich verfassungsgemäß sein muss: „Ein Eingriff in die Freiheit der Berufsausübung bedarf der gesetzlichen Grundlage (Art. 12 Abs. 1 S. 2 GG); diese muss in jeder Hinsicht verfassungsmäßig sein.“274 Dass das insbesondere im „Elfes-Urteil“ zur verfassungsmäßigen Ordnung Dargelegte auch für die Gesetzesvorbehalte der speziellen Freiheitsrechte gilt, wird besonders an folgender Aussage des Bundesverfassungsgerichts deutlich, in der sich das Gericht sogar zitatmäßig auf „Elfes“ beruft: „Art. 12 Abs. 1 GG ist auch insoweit nicht verletzt, als der Beschwerdeführer geltend macht, die Erhebung der Schankerlaubnissteuer falle nicht in die Kompetenz der Länder, sei unvereinbar mit § 7 Abs. 1 Nr. 6 GewO und beruhe auf einer dem Art. 80 Abs. 1 S. 2 GG nicht entsprechenden Ermächtigungsnorm. Diese verfassungsrechtlichen Einwendungen sind am Grundrecht der freien Berufswahl und nicht an Art. 2 Abs. 1 GG zu prüfen, weil die Schankerlaubnissteuer selbst an dem besonderen Freiheitsrecht des Art. 12 Abs. 1 GG gemessen wurde und jede Regelung, die diese Bestimmung erlaubt, immer auch in sonstiger Hinsicht verfassungsmäßig sein muss, sofern sie Bestand haben soll [vgl.
271 272 273 274
So auch Scholz, AÖR 100 (1975), 107 f. Scholz, AÖR 100 (1975), 107 f. BVerfGE 32, 319 (326). BVerfGE 15, 226 (231).
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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BVerfGE 9, 83 (88); 6, 32 (37)].“275 Die Norm, auf dessen Grundlage in ein spezielles Freiheitsrecht eingegriffen wird, muss deshalb in gleicher Weise einer objektiven Verfassungskontrolle standhalten wie bei der verfassungsmäßigen Ordnung im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG. (cc) Gründe für die Erstreckung Wenngleich das Bundesverfassungsgericht nie eine ausdrückliche Begründung für diese Erstreckung auf die speziellen Freiheitsrechte gegeben hat, kann der Grund darin gesehen werden, dass sich das Garantieverhältnis von General- und Spezialrecht in sein Gegenteil verkehrt sähe, wenn im Rahmen des Gesetzesvorbehalts nicht der mittelbare Garantieeffekt des auch objektiv-rechtlich verfassungsgemäßen Gesetzes wirksam wäre.276 Wenn das Bundesverfassungsgericht betont, dass die Schrankentrias des Art. 2 Abs. 1 GG nicht für die Spezialgrundrechte gelten soll,277 so kann dies nämlich nicht bedeuten, dass derjenige, der sich nur auf Art. 2 Abs. 1 GG berufen kann, besser als derjenige gestellt wird, der sich sogar auf ein Spezialfreiheitsrecht berufen kann, das unter Gesetzesvorbehalt steht.278 (dd) Kritik an der Ausdehnung Hält man die Ausdehnung der Grundrechtsprüfung zur auch objektiven Verfassungskontrolle, wie sie das Bundesverfassungsgericht vorgenommen hat, bereits bei Art. 2 Abs. 1 GG für falsch, wird man sich mit der Übertragung auf andere Freiheitsrechte mit Gesetzesvorbehalt noch schwerer tun. Dem Bundesverfassungsgericht ist vorgeworfen worden, dass es mit seiner Rechtsprechung zu Art. 2 Abs. 1 GG – und demnach sinngemäß auch zu den speziellen Freiheitsrechten – das Grundprinzip des Rechtsstaats zum Grundrecht erhoben habe.279 Die Verfassungsbeschwerde werde dadurch zu einem Instrument objektiver Verfassungskontrolle und nehme damit Funktionen wahr, die nach dem verfassungsprozessualen Rechtsschutzsystem der abstrakten Normenkontrolle zukämen.280 Allerdings ist zu beachten, dass die Grundrechte nicht nur individuelle Abwehrrechte darstellen, sondern dass das Grundgesetz in seinem Grundrechtsabschnitt auch eine objektive Wertordnung aufgerichtet hat, wodurch eine prinzipielle Verstärkung der Geltungskraft der Grundrechte zum Ausdruck kommt.281 Die Grundrechte stehen demnach nicht getrennt von den übrigen Verfassungsbestimmungen, sondern vereinigen sich mit diesen zur verfassungsrechtlichen Grundordnung insgesamt.282 Die Er275 276 277 278 279 280 281 282
BVerfGE 13, 181 (190). So Scholz, AÖR 100 (1975), 109. BVerfGE 30, 173 (192 f.); 32, 98 (107). Scholz, AÖR 100 (1975), 109. So Ehmke, VVDStRL 20, 84. Vgl. Papier, in: Starck, Bd. I, 438. Vgl. BVerfGE 7, 198 (204 f.). Scholz, AÖR 100 (1975), 109.
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streckung der zu Art. 2 Abs. 1 GG ergangenen Rechtsprechung auf spezielle, mit einem Vorbehalt versehene Freiheitsrechte ist deshalb konsequent. (b) Gesetzesvorbehalte und Unionsrecht Ausgehend von diesem Gleichlauf der verfassungsmäßigen Ordnung des Art. 2 Abs. 1 GG mit Gesetzesvorbehalten bei speziellen Freiheitsrechten kann hinsichtlich des Unionsrechts nichts anderes gelten als bei Art. 2 Abs. 1 GG. Resultiert die Unanwendbarkeit der Eingriffsgrundlage aus dem Anwendungsvorrang des Unionsrechts, liegt bei speziellen Freiheitsrechten wie bei Art. 2 Abs. 1 GG eine Grundrechtsverletzung vor.283 (6) Unionsrechtskonformität als Schranken-Schranke Der Vollständigkeit halber soll darauf hingewiesen werden, dass Bungenberg dafür plädiert, die Prüfung der Unionsrechtskonformität nationaler Maßnahmen in die Schranken-Schranken der nationalen Grundrechte zu integrieren.284 Diesbezüglich verweist Bungenberg auf zwei Möglichkeiten. Die Prüfung der Unionsrechtskonformität könne in die Verhältnismäßigkeitsprüfung integriert werden. Der Grundsatz der Verhältnismäßigkeit verlange, dass das vom Staat eingesetzte Mittel als solches überhaupt eingesetzt werden dürfe,285 was bei einem Verstoß gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht aufgrund seines Anwendungsvorrangs gegenüber nationalem Recht nicht der Fall sei.286 Alternativ sei auch eine selbständige Prüfung der Unionsrechtskonformität im Rahmen der Schranken-Schranken möglich.287 Die Unionsrechtskonformität muss dann neben anderen Schranken-Schranken, welche dem Staat bei Grundrechtseingriffen Grenzen ziehen, als eigener Prüfungspunkt beachtet werden. Der von Bungenberg propagierte Weg ist der hier vertretenen Ansicht deshalb nicht vorzuziehen, weil die Frage, ob eine taugliche Rechtsgrundlage für einen Grundrechtseingriff gegeben ist, im Rahmen einer Grundrechtsprüfung stets vor den Schranken-Schranken zu erörtern ist. Darüber hinaus liegt der hier vertretene Ansatz – auch wenn das Gericht dies selbst offenbar nicht so sieht – eher auf der Rechtsprechungslinie des Bundesverfassungsgerichts, weil er die ständige Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts konsequent weiterverfolgt.
283 284 285 286 287
So auch Lerche, in: Horn/Häberle, 48 f. Vgl. Bungenberg, DVBl. 2007, 1413 f. Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 283. Bungenberg, DVBl. 2007, 1414. Bungenberg, DVBl. 2007, 1414.
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
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(7) Verfassungsprozessuale Konsequenz Nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG, § 90 Abs. 1 BVerfGG kann jedermann mit der Behauptung, durch die öffentliche Gewalt in seinen Grundrechten verletzt zu sein, Verfassungsbeschwerde erheben. Auf Grundlage der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts zur verfassungsmäßigen Ordnung des Art. 2 Abs. 1 GG und der Übertragung dieses Verständnisses auf spezielle Freiheitsrechte mit Gesetzes- oder Regelungsvorbehalt muss sich daher ein Beschwerdeführer nach Erschöpfung des Rechtsweges auch an das Bundesverfassungsgericht wenden können, wenn ein Grundrechtseingriff der öffentlichen Gewalt gegeben ist und die herangezogene Schranke im Einzelfall aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar ist. Die Grundrechtsverletzung kann dabei sowohl von der Exekutive im Wege eines Vollzugsaktes erfolgen als auch durch das (unanwendbare) Gesetz selbst, entweder weil dieses self-executing ist und es insofern keines Vollzugsaktes bedarf oder aber weil das Abwarten, wie bei Sanktionen des Straf- und Ordnungswidrigkeitenrechts, dem Betroffenen nicht zugemutet werden kann.288 Das Bundesverfassungsgericht hält sich aber nicht für zuständig. Das Bundesverfassungsgericht verweist das Problem, dass es wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts an einem den Gesetzesvorbehalt eines Grundrechts ausfüllenden Gesetz fehlen kann,289 ohne nähere Begründung an die Fachgerichte und deren umfassender Prüfungskompetenz. Eine vom Bundesverfassungsgericht zwar nicht selbst angestellte, aber mögliche Überlegung ist, dass es durch die ausschließliche Überantwortung dieses Normkonfliktes an die Fachgerichte nicht in die Kompetenzen des Gerichtshofs der Union eingriffen will.290 (a) Landesrecht und Art. 2 Abs. 1 GG Eine derartige Überlegung stellt das Bundesverfassungsgericht nämlich bei dem Verhältnis von einfachem Landesrecht und Landesverfassungsrecht an. Dabei geht es um die Frage, ob das Bundesverfassungsgericht befugt ist, im Rahmen einer Verfassungsbeschwerde in Zusammenhang mit einer gerügten Verletzung von Art. 2 Abs. 1 GG die Vereinbarkeit von Landesrecht mit einer Landesverfassung zu prüfen.291 Dies verneint das Bundesverfassungsgericht aufgrund der grundsätzlichen Trennung der Verfassungsräume von Bund und Ländern.292 Die Nachprüfung von Landesgesetzen auf ihre Vereinbarkeit mit der Landesverfassung ist deshalb Sache der Landesverfassungsgerichte. Art. 28 Abs. 1 GG fordert zwar ein gewisses Maß an Homogenität der Landesverfassungen und der Bundesverfassung; im Übrigen sind die Län288 289 290 291 292
Vgl. BVerfGE 81, 70 (82 f.); Pieroth/Schlink, Rn. 1252. BVerfGE 115, 276 (299 f.). Vgl. auch Weber, 100. Vgl. BVerfGE 41, 88 (118). BVerfGE 41, 88 (118 f.).
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
der aber frei in der Ausgestaltung ihrer Verfassung und damit auch frei von jeglicher bundesverfassungsrechtlicher Zuständigkeit.293 Wenn das Bundesverfassungsgericht über Art. 2 Abs. 1 GG die Prüfung der Vereinbarkeit von Landesrecht mit der Landesverfassung zuließe, wäre die Verfassungsgerichtsbarkeit der Länder praktisch weitgehend ausgehöhlt.294 Aus diesem Grund überprüft das Bundesverfassungsgericht im Rahmen von Art. 2 Abs. 1 GG eine landesrechtliche Norm nur auf ihre Vereinbarkeit mit Bundesrecht, nicht aber am Maßstab des Landesverfassungsrechts.295 (aa) Fruchtbarmachung für das Verhältnis BVerfG – EuGH Das geschilderte Vorgehen des Bundesverfassungsgerichts könnte für das Verhältnis von einfachem Bundes- oder Landesrecht und dem Unionsrecht fruchtbar gemacht werden, wenn die Beantwortung von derartigen Normenkollisionen allein dem Gerichtshof obliegt. Wäre dies der Fall, könnte man ebenso wie beim Verhältnis von Landesrecht zum Landesverfassungsrecht darauf abstellen, dass das Bundesverfassungsgericht deshalb unzuständig ist, weil ansonsten die Zuständigkeit der Unionsgerichtsbarkeit weitgehend ausgehöhlt würde. Verfahrensrechtlich ist insofern an das in Art. 267 AEUV normierte Vorabentscheidungsverfahren zu denken. Gemäß Art. 267 AEUVentscheidet der Gerichtshof nur über die Auslegung der Verträge und über die Gültigkeit und Auslegung der Handlungen der Unionsorgane. Dagegen ist der Gerichtshof im Rahmen des Art. 267 AEUV nicht befugt, Bestimmungen des nationalen Rechts auszulegen oder sich über deren etwaige Unvereinbarkeit mit dem Unionsrecht zu äußern.296 Der Gerichtshof ist bei der ihm zur Entscheidung vorgelegten Frage nur dazu berechtigt, die Bedeutung und Tragweite der vorgelegten Unionsnormen abstrakt zu klären und diese dem nationalen Gericht zu erläutern.297 Die Anwendung des Unionsrechts auf den Ausgangsrechtsstreit obliegt dem mitgliedstaatlichen Gericht.298 Der Gerichtshof ist somit für die maßgebliche Frage der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht nicht zuständig, weshalb ein Eingreifen in seine Zuständigkeit nicht zu befürchten ist. (bb) Zwischenergebnis Anders als bei der Frage der Vereinbarkeit einfachen Landesrechts mit dem Landesverfassungsrecht sind bei der Frage der Vereinbarkeit nationalen Rechts mit dem Unionsrecht Rechtsprechungskonflikte mit dem Gerichtshof der Europäischen Union nicht zu befürchten. 293 294 295 296 297 298
BVerfGE 41, 88 (119). Vgl. BVerfGE 41, 88 (119). BVerfGE 41, 88 (120). EuGH, Slg. 1977, 2203, Rn. 20/22 – Enka BV; EuGH, Slg. 1982, 1299, Rn. 8 – Holdijk. Middeke, in: Rengeling/Middeke/Gellermann, § 10 Rn. 38. Vgl. EuGH, Slg. 1992, I-4341, Rn. 24 – Knoch.
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(b) Abgrenzung zur Fachgerichtsbarkeit Ein weiterer Einwand gegen die Integration des Unionsrechts in das Verfassungsbeschwerdeverfahren könnte in der Funktionenteilung von Bundesverfassungsgericht und Fachgerichten gesehen werden.299 Um einer Ausuferung des Verfassungsbeschwerdeverfahrens entgegenzuwirken und die Arbeit der Fachgerichte nicht zu ersetzen, sondern zu ergänzen, prüft das Bundesverfassungsgericht gerichtliche Entscheidungen nur in beschränktem Umfang nach, wobei der Prüfungsumfang von der Zielrichtung der Verfassungsbeschwerde abhängt.300 Hintergrund einer eingeschränkten Prüfungskompetenz bei der Urteilsverfassungsbeschwerde ist vor allem, dass die Annahme, dass die Verletzung jeglichen Verfassungsrechts eine Grundrechtsverletzung bedeutet, dazu führte, dass Gesetzesverstöße als Grundrechtsverletzungen qualifiziert werden müssten, weil zum Verfassungsrecht auch der in Art. 20 Abs. 3 GG verbürgte Vorrang des Gesetzes zählt, wonach das Handeln der Verwaltung und der Gerichte nicht gegen Gesetze verstoßen darf.301 Das hätte zur Folge, dass das Bundesverfassungsgericht zur „Superrevisionsinstanz“ über allen anderen Gerichten aufstiege, obgleich das Grundgesetz in Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eindeutig statuiert, dass dem Verfassungsgericht im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur die Überprüfung der Grundrechte und grundrechtsgleichen Rechte obliegt. (aa) Erforderlichkeit der Verletzung spezifischen Verfassungsrechts Aus diesem Grund hat das Bundesverfassungsgericht bereits ganz am Anfang seiner Rechtsprechung darauf hingewiesen, dass die Gestaltung des Verfahrens, die Feststellung und Würdigung des Tatbestandes, die Auslegung der Gesetze und ihre Anwendung auf den einzelnen Fall grundsätzlich den Fachgerichten obliegt und diese Gegenstände damit der Nachprüfung durch das Bundesverfassungsgericht entzogen sind, es sei denn, es liegt eine Verletzung spezifischen Verfassungsrechts vor.302 Eine solche Verletzung ist aber nicht schon gegeben, wenn eine Entscheidung, am einfachen Recht gemessen, objektiv fehlerhaft ist, sondern der Fehler muss gerade in der Nichtbeachtung von Grundrechten liegen.303 Das Bundesverfassungsgericht überprüft deshalb nur, ob „Auslegungsfehler sichtbar werden, die auf einer grundsätzlich unrichtigen Anschauung von der Bedeutung eines Grundrechts, insbesondere vom Umfang seines Schutzbereichs beruhen und auch in ihrer materiellen Bedeutung für den konkreten Rechtsfall von einigem Ge299
So Dörr, 210. Schlaich/Korioth, Rn. 286; eingehend zum Prüfungsumfang bei der Urteilsverfassungsbeschwerde dies., Rn. 287 ff. 301 Vgl. Pieroth/Schlink, Rn. 1277. 302 BVerfGE 1, 418 (420). 303 BVerfGE 18, 85 (92 f.). 300
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
wicht sind.“304 Zusammengefasst bedeutet das, dass das Bundesverfassungsgericht im Verfassungsbeschwerdeverfahren nur den Vorrang und den Vorbehalt des Verfassungsgesetzes, nicht aber den Vorrang und Vorbehalt des einfachen Gesetzes durchsetzt.305 (bb) Normgültigkeitsprüfung Ist die Zielrichtung der Urteilsverfassungsbeschwerde darin zu erblicken, die Verfassungswidrigkeit des der Entscheidung zugrundeliegenden Gesetzes mittelbar geltend zu machen, gelten jedoch die Grundsätze, die den Prüfungsumfang jeder Normenkontrolle bestimmen, d. h., das Bundesverfassungsgericht prüft die Verfassungsmäßigkeit des Gesetzes in vollem Umfang nach.306 Das Bundesverfassungsgericht betont diesbezüglich, dass die Gerichte zunächst dazu verpflichtet sind, die jeweils anzuwendenden Gesetze, wenn sie sie für unvereinbar mit dem Grundgesetz halten, verfassungskonform auszulegen.307 „Ist eine solche Auslegung nicht möglich, haben sie nach Art. 100 Abs. 1 Satz 1 GG die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die Vereinbarkeit des anzuwendenden Gesetzes mit dem Grundgesetz einzuholen. Unterlässt ein Gericht diese Prüfung und stellt sich damit nicht der Frage nach der Tragweite und Wirkkraft eines Grundrechts, kann schon das eine Verletzung dieses Grundrechts begründen.“308 Demnach wird die Begrenzung auf Verletzungen „spezifischen Verfassungsrechts“ vom Bundesverfassungsgericht nicht bei solchen Urteilsverfassungsbeschwerden verwendet, die sich gegen die exekutive oder judikative Vollziehung ungültiger Rechtssätze richten.309 Das ist darauf zurückzuführen, dass hier das Verhältnis zum Gesetzgeber und nicht zu den Gerichten in Rede steht, weshalb das Bestreben des Bundesverfassungsgerichts, nicht „Superrevisionsinstanz“ zu sein, bei dieser Urteilsverfassungsbeschwerde keine Bedeutung hat.310 Die Normnichtigkeit kann bei diesen „verkappten Rechtssatzverfassungsbeschwerden“ darauf beruhen, dass die Eingriffsgrundlage inhaltlich grundrechtswidrig ist oder aber gegen objektives Verfassungsrecht verstößt.311 Auch bei der Unionsrechtswidrigkeit der Eingriffsgrundlage steht die Kontrolle des zugrundeliegenden Gesetzes und nicht die Überprüfung bloßer fachgerichtlicher Auslegungsfehler in Rede, weshalb – auch wenn freilich das Bundesverfassungsgericht aufgrund der selbst erklärten Unzuständigkeit sich zu dieser Frage noch nie ge304 305 306 307 308 309 310 311
BVerfGE 18, 85 (93); ebenso BVerfGE 102, 347 (362); 111, 366 (373). Papier, in: Starck, Bd. I, 435. Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 326. BVerfGE 66, 313 (319). BVerfGE 66, 313 (319). Papier, in: Starck, Bd. I, 436. Schlaich/Korioth, Rn. 326. Vgl. Papier, in: Starck, Bd. I, 436 f.
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äußert hat – die Funktionenteilung zwischen Verfassungs- und Fachgerichtsbarkeit kein Grund dafür sein kann, dass Eingriffsgrundlagen vom Bundesverfassungsgericht nicht am Maßstab des Unionsrechts geprüft werden. Aus der Abgrenzung von Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit ergibt sich daher nicht die Unzuständigkeit im unterstellten Sachverhalt.312 (c) Verfahrensrelevanz des Verstoßes gegen das Unionsrecht? Lerche meint nun aber, dass im Fall, dass ein freiheitseinschränkendes deutsches Gesetz gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstößt, die behauptete Beeinträchtigung von Art. 2 Abs. 1 GG bzw. des jeweils spezielleren Grundrechts insofern unspezifisch sei, als diese Beeinträchtigung nur die automatische Folge des Verstoßes des einschränkenden Gesetzes gegen das unmittelbar anwendbare Unionsrecht sei.313 Aus diesem Grund soll die verfassungsrechtliche Relevanz dieser Fallgestaltung zwar nicht ein bloßes Abfallprodukt sein, sie präge das Verfahren aber nicht.314 Dem kann jedenfalls in dieser Allgemeinheit nicht gefolgt werden. Richtig ist zwar, dass das Verfassungsbeschwerdeverfahren in diesen Fällen nicht ausschließlich von den Grundrechten, sondern auch vom Unionsrecht geprägt wird; jedoch ist dies zwingende Folge des weiten Verständnisses der verfassungsmäßigen Ordnung bei Art. 2 Abs. 1 GG und der Übertragung auf die speziellen Freiheitsrechte. Auch Lerche erkennt, dass ein innerer Widerspruch verbleibt, wenn das Bundesverfassungsgericht sich einerseits bei einem Unionsrechtsverstoß für unzuständig erklärt und andererseits dahingehend an der Erweiterung der Verfassungsbeschwerde festhält, dass auch Verfassungsinhalte, wie z. B. Kompetenzverstöße, im Verfassungsbeschwerdeverfahren gerügt werden können, deren spezifische Quelle außerhalb der Grundrechte liegt.315 Bisher misst das Bundesverfassungsgericht insofern mit zweierlei Maß. Ein wichtiger Aspekt sollte jedoch nicht übersehen werden: Lerche bringt nämlich hinsichtlich der Verletzung von EU-Grundrechten und Grundfreiheiten vor, dass in solchen Fällen ohnehin zugleich ein deutsches Grundrecht verletzt sein werde, so dass auf den Verstoß gegen das Unionsrecht nicht zurückgegriffen werden müsse, um die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu begründen.316 In der Regel ist diese Schlussfolgerung auch zutreffend. Statt die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts darüber zu begründen, dass ein deutsches Gesetz wegen eines Verstoßes gegen das Unionsrecht keine taugliche Eingriffsgrundlage ist, um die allgemeine Handlungsfreiheit oder ein spezielleres Grundrecht zu beschränken, sollte in der Tat zunächst in jeder Fallgestaltung untersucht werden, ob nicht bereits 312 313 314 315 316
In die Richtung auch Lerche, in: Horn/Häberle, 49 f. Lerche, in: Horn/Häberle, 50. Lerche, in: Horn/Häberle, 50. Lerche, in: Horn/Häberle, 51. Lerche, in: Horn/Häberle, 51.
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– unabhängig vom Unionsrecht – ein Verstoß gegen deutsche Grundrechte gegeben ist. Bei einem Verstoß eines deutschen Gesetzes gegen EU-Grundrechte sind kaum Fälle denkbar, in denen aufgrund des weiten Grundrechtsschutzes in der Bundesrepublik nicht zugleich ein Verstoß gegen deutsche Grundrechte gegeben sein wird. Der Verstoß gegen Grundfreiheiten kann zwar auch dazu führen, dass zugleich eine Verletzung eines Grundrechts des Grundgesetzes vorliegt, jedoch wird dies wegen der unterschiedlichen Schutzrichtung der Grundfreiheiten, welche insbesondere zur Anwendung gelangen, wenn mitgliedstaatliche Regelungen den unionsinternen Wirtschaftsverkehr behindern,317 nicht immer der Fall sein. Führt der Verstoß gegen die Grundfreiheiten nicht zugleich zu einer Verletzung deutscher Grundrechte, ist dieser Unionsrechtsverstoß weiterhin für das Verfassungsbeschwerdeverfahren zuständigkeitseröffnend. Letzteres dürfte auch bei einer Verletzung gegen unmittelbar anwendbares Sekundärrecht nicht selten der Fall sein. (aa) Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts Die Sportwettenentscheidung illustriert den möglichen Gleichlauf von Grundfreiheiten und deutschen Grundrechten. In Augenschein zu nehmen sind folgende Erwägungen des Bundesverfassungsgerichts: Es konstatiert, dass das in Bayern errichtete staatliche Wettmonopol im Urteilszeitpunkt in seiner gesetzlichen und tatsächlichen Ausgestaltung einen unverhältnismäßigen Eingriff in die Berufsfreiheit darstellt.318 Nach Begründung dieses Ergebnisses weist das Gericht daraufhin, dass insofern die Anforderungen des deutschen Verfassungsrechts parallel zu den vom EuGH zum Unionsrecht formulierten Vorgaben verlaufen und daher die Vorgaben des Unionsrechts denen des Grundgesetzes entsprechen.319 Ohne darauf zurückzugreifen, dass die bayerische Eingriffsgrundlage aufgrund des Verstoßes gegen die Grundfreiheiten nicht imstande ist, die Berufsfreiheit wirksam zu beschränken, verstieß das bayerische Wettmonopol ohnehin bereits gegen die Berufsfreiheit aus Art. 12 Abs. 1 GG. Der Verstoß gegen die Niederlassungsfreiheit (Art. 49 AEUV) und die Dienstleistungsfreiheit (Art. 56 AEUV) musste demnach vom Beschwerdeführer gar nicht vorgebracht werden, um die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu begründen. In diesem Fall prägt der Verstoß gegen das Unionsrecht das Verfahren grundsätzlich nicht. 317
Zur Funktion der Grundfreiheiten Kingreen, in: Calliess/Ruffert, Art. 28 EGV Rn. 10 ff. BVerfG, NJW 2006, 1261 (1264). 319 BVerfG, NJW 2006, 1261 (1266 f.), womit sogar ausdrücklich auf die Gambelli – Rechtsprechung des EuGH Bezug genommen wird: „Nach dessen Rechtsprechung ist die Unterbindung der Vermittlung in andere Mitgliedstaaten mit dem Gemeinschaftsrecht nur vereinbar, wenn ein Staatsmonopol wirklich dem Ziel dient, die Gelegenheiten zum Spiel zu vermindern, und die Finanzierung sozialer Aktivitäten mit Hilfe einer Abgabe auf die Einnahmen aus genehmigten Spielen nur eine nützliche Nebenfolge, nicht aber der eigentliche Grund der betriebenen restriktiven Politik ist (vgl. EuGH, NJW 2004, 139 – Gambelli).“ 318
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(a) Bedeutung der Übergangsfrist Es darf aber nicht übersehen werden, dass der – insofern subsidiäre – Verstoß gegen das unmittelbar anwendbare Unionsrecht wieder Bedeutung erlangt, falls das Bundesverfassungsgericht zu der Unvereinbarerklärung mit kombinierter Weitergeltungsanordnung, d. h. zur hier so benannten Übergangsfrist greift, wenn also der Verfassungsverstoß für eine Übergangszeit hingenommen wird und die verfassungswidrige Rechtslage durch die Exekutive und Judikative vorübergehend weiter anzuwenden ist. Die Unvereinbarerklärung konnte nämlich nicht dazu führen, dass die bayerische Eingriffsgrundlage auch im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten weiter anzuwenden ist, denn zu einer – darauf hinauslaufenden – Suspendierung des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts ist das Bundesverfassungsgericht nicht befugt. Würde das Bundesverfassungsgericht deutsche Rechtsnormen, die zu Eingriffen in Grundrechte ermächtigen, am Unionsrecht prüfen, müsste es auch Stellung dazu beziehen, wie bei einer Übergangsfrist mit Fällen umzugehen ist, die sich im Anwendungsbereich des Unionsrechts abspielen. Da sich aus der Rechtsprechung des EuGH nicht ergibt, dass unionsrechtswidriges nationales Recht für eine Übergangszeit weiter angewendet werden darf, müsste das Bundesverfassungsgericht dann ausdrücklich judizieren, dass die Eingriffsgrundlage auf solche Sachverhalte nicht übergangsweise weiter angewendet werden darf. Bei Unsicherheit über die Frage, wie solche Fälle zu behandeln sind, hätte das Bundesverfassungsgericht dem EuGH die Frage vorlegen können, ob die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit dahingehend auszulegen sind, dass nationale Regelungen trotz des Verstoßes gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht für eine Übergangszeit weiter angewandt werden dürfen. Das Bundesverfassungsgericht sieht sich nämlich ebenfalls als grundsätzlich vorlageverpflichtet an,320 wenngleich es aufgrund des eigenen Prüfungsmaßstabes bisher dem Gerichtshof keine Frage nach Art. 267 AEUV vorgelegt hat.321 (b) Keine Vorlagepflicht auf Grundlage des „acte clair-Maßstabs“ Mitgliedstaatliche Gerichte, deren Entscheidungen selbst nicht mehr mit Rechtsmitteln des innerstaatlichen Rechts angreifbar sind, können auf Grundlage des „acte clair-Maßstabs“ von einer Anrufung des Gerichtshofs absehen, wenn die gestellte Frage tatsächlich bereits in einem gleichgelagerten Fall Gegenstand einer Vorabentscheidung gewesen ist oder wenn die richtige Anwendung des Unionsrecht derart offenkundig ist, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel an der Entschei-
320 321
BVerfGE 37, 271 (282); 52, 187 (201). Vgl. Wegener, in: Calliess/Ruffert, Art. 234 EGV Rn. 23.
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dung der gestellten Frage bleibt.322 Letzteres hat zur Folge, dass das innerstaatliche Gericht die Frage in eigener Verantwortung löst.323 Dass dem Unionsrecht ein unbedingter Vorrang vor dem nationalen Recht einzuräumen ist, ist derart offenkundig, dass keinerlei Raum für einen vernünftigen Zweifel besteht, weshalb das Bundesverfassungsgericht diese Frage in eigener Verantwortung hätte lösen können. Das Verfassungsgericht hätte die private Vermittlung von Sportwetten im Anwendungsbereich der Grundfreiheiten mit der Folge von der Übergangsfrist ausnehmen müssen, dass diese nicht weiterhin als verboten anzusehen gewesen wären und auch eine ordnungsrechtliche Unterbindung nicht möglich gewesen wäre. (bb) Zusammenfassung Der Verstoß gegen Unionsrecht ist spezifisch, wenn nicht zugleich ein Verstoß gegen deutsche Grundrechte gegeben ist. Häufig wird zwar ein Gleichlauf von deutschen und europäischen Grundrechten gegeben sein, eine Verletzung von Sekundärrecht oder Grundfreiheiten kann aber unter Umständen für sich allein zuständigkeitseröffnend sein. Ferner ist der Verstoß gegen Unionsrecht immer – wie in der Sportwettenentscheidung – bedeutsam, wenn das Bundesverfassungsgericht eine Übergangsfrist anordnet. (d) Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts? Schließlich könnte gegen die Integration des Unionsrechts in das Verfassungsbeschwerdeverfahren noch eine mögliche Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts streiten, insbesondere weil nicht selten eine Vorabentscheidung des Gerichtshofs der Union nach Art. 267 Abs. 3 AEUV eingeholt werden müsste. Allerdings weist Giegerich darauf hin, dass die Einleitung des Vorabentscheidungsverfahrens entweder nach § 93d Abs. 2 BVerfGG durch die Kammern geschehen könnte oder aber unter Umständen auch eine Aufhebung und Zurückweisung an ein Fachgericht zum Zwecke der Vorlage in Betracht käme.324 Nach Bungenberg hätte die Prüfung des Unionsrechts im Verfassungsbeschwerdeverfahren sogar aus prozessökonomischen Gründen den Vorteil, dass sich ein wirkliches Kooperationsverhältnis zwischen dem Bundesverfassungsgericht und dem Gerichtshof entwickeln könnte.325 Unabhängig davon darf nicht übersehen werden, dass Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht auch auf Grundlage des hier vertretenen Ansatzes weiterhin die Ausnahme wären, weil die Fachgerichte ihrer primären Durchsetzungsverantwortung für das Unionsrecht zumeist im gebotenen Maße nachkommen. Wird nämlich schon im fachgerichtlichen Verfahren im Falle einer Kollision entgegenstehendes nationa-
322 323 324 325
Vgl. EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 13 ff. – C.I.L.F.I.T. Vgl. EuGH, Slg. 1982, 3415, Rn. 16 – C.I.L.F.I.T. Giegerich, in: Grabenwarter, 120. Bungenberg, DVBl. 2007, 1415.
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les Recht unangewendet gelassen und dem Einzelnen auf dieser Grundlage Rechtsschutz gewährt, bedarf es nicht mehr der Erhebung einer Verfassungsbeschwerde. (8) Ergebnis Ein Beschwerdeführer kann sich nach Erschöpfung des Rechtsweges im Verfassungsbeschwerdeverfahren an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn ein Grundrechtseingriff der öffentlichen Gewalt gegeben ist und die herangezogene Schranke im Einzelfall aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar ist, da in diesem Fall eine Grundrechtsverletzung gegeben ist. c) Erstreckung auf die konkrete Normenkontrolle? Die gewonnenen Ergebnisse beschränken sich bisher auf das Verfassungsbeschwerdeverfahren. Es ist aber auch denkbar, das nach Art. 100 Abs. 1 GG bestehende Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts auf unionsrechtswidrige Gesetze zu erstrecken.326 Das Bundesverfassungsgericht hält sich für unzuständig, im Verfahren nach Art. 100 Abs. 1 GG die Unanwendbarkeit eines deutschen Gesetzes wegen seiner Unvereinbarkeit mit einer vorrangigen Unionrechtsnorm festzustellen, weil dies in die Zuständigkeit der Fachgerichte falle.327 Dem muss anders als beim Verfassungsbeschwerdeverfahren auch zugestimmt werden, womit kein innerer Widerspruch des hier vertretenen Ansatzes hervortritt, da ein solches Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts seinerseits unionsrechtswidrig wäre.328 Der Gerichtshof hat sich mit dieser Fallgestaltung in der Rechtssache „Simmenthal“ auseinandergesetzt.329 Nach der italienischen Verfassung war eine unionsrechtswidrige Vorschrift verfassungswidrig, die Verwerfungskompetenz für diese lag aber ausschließlich beim italienischen Verfassungsgericht.330 Zu der Frage eines verfassungsgerichtlichen Verwerfungsmonopols und der damit zusammenhängenden Geltung des Unionsrechts hat der EuGH betont, dass die Bestimmungen des Unionsrechts ihre volle Wirkung einheitlich in sämtlichen Mitgliedstaaten vom Zeitpunkt ihres Inkrafttretens an und während der gesamten Dauer ihrer Gültigkeit entfalten müssen.331 Daraus folgt, dass jeder im Rahmen seiner Zuständigkeit angerufene staatliche Richter verpflichtet ist, das Unionsrecht uneingeschränkt 326 Diskutiert wird diese Möglichkeit – soweit ersichtlich – nur von Giegerich, in: Grabenwarter, 118 f. 327 BVerfGE 85, 191 (203 ff.). 328 Ebenso Giegerich, in: Grabenwarter, 118 f. 329 Vgl. EuGH, Slg. 1978, 629 – Simmenthal. 330 s. die Zusammenfassung des Sachverhalts bei Pechstein, 4. 331 EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 14/16 – Simmenthal.
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E. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts
anzuwenden.332 Jede Bestimmung, die dazu führt, dass dem für die Anwendung des Unionsrechts zuständigen Gerichts die Befugnis abgesprochen wird, bereits zum Zeitpunkt der Anwendung alles Erforderliche zu tun, um Hindernisse für die volle Wirksamkeit des Unionsrechts auszuschalten, ist unionsrechtsrechtswidrig.333 Dies ist der Fall, wenn die Lösung eines Normenkonfliktes zwischen nationalem Recht und Unionsrecht „einem über ein eigenes Beurteilungsermessen verfügenden anderen Organ als dem Gericht, das für die Anwendung des Unionsrechts zu sorgen hat, vorbehalten wäre.“334 Die Frage, ob eine nationale Rechtsnorm aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unangewendet bleiben muss, ist somit zwingend von der mitgliedstaatlichen Stelle zu beantworten, die mit dieser Frage befasst ist, d. h. bereits von den Behörden und Fachgerichten. Die Konzentrierung dieser Frage bei einer anderen Instanz, wie einem Verfassungsgericht, führte nämlich dazu, dass sich der Vorrang des Unionsrechts nicht ohne Verzögerung durchsetzen könnte.335 Das nach Art. 100 Abs. 1 GG bestehende Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgericht erstreckt sich demnach nicht auf unionsrechtswidrige Gesetze. Ein Widerspruch zum Verfassungsbeschwerdeverfahren entsteht deshalb nicht, weil deutsche Gerichte im Rahmen von Art. 100 Abs. 1 GG von der Unionsrechtswidrigkeit des deutschen Gesetzes überzeugt sein müssten. Sind sie aber bereits von dieser überzeugt, müssen sie, wie der EuGH in der Rechtssache „Simmenthal“ deutlich gemacht hat, bereits ihrerseits entgegenstehende Bestimmung des nationalen Rechts unangewendet lassen. Die Verfassungsbeschwerde greift als subsidiärer Rechtsbehelf nur ein, wenn gerade dieses – wie im Vorwege der Sportwettenentscheidung – nicht der Fall gewesen ist. d) Erstreckung auf die abstrakte Normenkontrolle? Fraglich ist, ob das Unionsrecht auf Grundlage der gewonnenen Erkenntnisse in die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG zu integrieren ist. Gegenstand der abstrakten Normenkontrolle ist nicht das Interesse eines Antragstellers, sondern die Norm als solche.336 In diesem Verfahren kommt es daher zu einer von der konkreten Rechtsanwendung losgelösten Nachprüfung einer Rechtsvorschrift.337 Der Anwendungsvorrang des Unionsrechts zeitigt als Kollisionsregel seine Wirkungen gegenüber nationalem Recht jedoch stets nur im Kollisionsfalle, d. h. bei einer 332
EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. 334 EuGH, Slg. 1978, 629, Rn. 21/23 – Simmenthal. 335 Ebenso Giegerich, in: Grabenwarter, 118 f.; Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 55. 336 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 123. 337 Vgl. Schlaich/Korioth, Rn. 124. 333
III. Individualrechtsschutz auf nationaler Ebene
203
konkreten Rechtsanwendung.338 Die Vorrangregel spricht aber keine Rechtsfolgen für die zukünftigen Rechtswirkungen der nationalen Norm aus.339 Eine deutsche Norm kann deshalb nicht abstrakt unionsrechtswidrig sein. Aus diesem Grund scheidet eine Integration des Unionsrechts in die abstrakte Normenkontrolle nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG aus.
338 339
Vgl. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 55. Nettesheim, in: Grabitz/Hilf, Art. 1 EGV Rn. 55.
F. Zusammenfassung der Ergebnisse Die nachfolgende Darstellung der Ergebnisse erfolgt zur besseren Übersichtlichkeit getrennt für jeden Abschnitt.
I. Übergangsfristen durch das Bundesverfassungsgericht Die einfach-rechtliche Grundlage der Unvereinbarerklärung in den §§ 31, 79 BVerfGG ist zwar lückenhaft, der Gesetzgeber hat aber mit dem 4. Änderungsgesetz zum Bundesverfassungsgerichtsgesetz im Jahre 1970 die bereits vorher praktizierte Tenorierungsvariante des Bundesverfassungsgerichts billigend zur Kenntnis genommen und die Schließung der Lücke dem Bundesverfassungsgericht übertragen. Die Theorie der ipso-iure-Nichtigkeit ist im Grundgesetz nicht ausdrücklich normiert, sondern nur ein Produkt verfassungsrechtlicher Exegese. Sie ist rechtslogisch nicht zwingend, was Art. 140 des österreichischen Bundes-Verfassungsgesetz und Art. 264 AEUV beweisen. Die Vernichtbarkeitslehre als Gegenansicht ist ebenfalls ein Produkt verfassungsrechtlicher Exegese. Das Bundesverfassungsgericht wird von beiden Ansichten in Anspruch genommen, es lässt sich aber weder der einen noch der anderen Theorie eindeutig zuordnen. Praktisch gibt es keine Unterschiede zwischen den Theorien, wenn man, wie ein Teil der Vernichtbarkeitslehre, auch die ex-tunc-Wirkung von Normenkontrollentscheidungen bejaht, da die Verfassungswidrigkeit des Gesetzes erst nach der Nichtigerklärung durch das Bundesverfassungsgericht rechtserheblich wird. Unterschiede verbleiben, wenn man, wie ein anderer Teil der Vernichtbarkeitslehre, nur eine Wirkung ex nunc annimmt. Wird ein Änderungs- oder Reformgesetz für nichtig erklärt, lebt das geänderte oder aufgehobene Altrecht wieder auf, wenn dieses seinerseits verfassungsmäßig ist. Gerichte und Behörden sind nicht dazu befugt, von sich aus Parallelnormen unangewendet zu lassen. Sie sind dazu nur berechtigt, wenn das Bundesverfassungsgericht Unvereinbarerklärungen gemäß § 35 BVerfGG oder § 95 Abs. 1 S. 2 BVerfGG auf Parallelnormen erstreckt hat. Den Gesetzgeber trifft hinsichtlich von Parallelnormen keine Beseitigungspflicht. Es steht ihm aber frei, erlassene Regelungen im Anschluss an eine Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts einer Überprüfung zuzuführen. Die Sportwettenentscheidung des Bundesverfassungsgerichts betraf nur die Rechtslage in Bayern und ließ die Regelungen, die in anderen Bundesländern ein Wettmonopol begründeten, unberührt. Fachgerichte außerhalb von Bayern konnten
II. Konflikte mit dem Unionsrecht
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die Entscheidung im Hauptsacheverfahren nicht auf ihr Bundesland übertragen, es sei denn, das Bundesverfassungsgericht hatte gesondert die Unvereinbarkeit des Wettmonopols angeordnet. Im einstweiligen Rechtsschutz konnten die Fachgerichte die Sportwettenentscheidung auf ihr Bundesland übertragen, wenn dies mit dem Charakter des Verfahrens, in dem es um die maßgeblichen Erfolgsaussichten in der Hauptsache geht, begründet wurde. Nur das Bundesverfassungsgericht ist dazu befugt, eine interimistische Weitergeltungsanordnung zu treffen. Die Weitergeltungsanordnung erfolgt auf Grundlage von § 35 BVerfGG, welchem nicht der enge Vollstreckungsbegriff der fachgerichtlichen Prozessordnungen zugrunde liegt. Die Vollstreckung gemäß § 35 BVerfGG umfasst alle Maßnahmen, die zur Durchsetzung der Entscheidung notwendig sind.
II. Konflikte mit dem Unionsrecht Das Bundesverfassungsgericht geht in der Sportwettenentscheidung davon aus, dass die bayerische Rechtslage nicht nur verfassungswidrig ist, sondern auch gegen das Unionsrecht verstößt. Daraus wurden keine Rechtsfolgen gezogen, weil das Bundesverfassungsgericht das Unionsrecht aus dem Prüfungsmaßstab ausgeschlossen hatte. Die vom OVG Münster angenommene Durchbrechung des Anwendungsvorrangs ist abzulehnen. Die zur Begründung herangezogene EuGH-Entscheidung „CIA Security“ enthält keinerlei Anhaltspunkte dahingehend, dass unionsrechtswidriges nationales Rechts übergangsweise weiter angewendet werden kann. Ebenso wenig lassen sich aus Art. 264 Abs. 2 AEUV Rückschlüsse ziehen, da es bei der Rechtsfolgenregelung nur um das Verhältnis von Primär- und Sekundärrecht, nicht aber um das Verhältnis zwischen nationalem Recht und Unionsrecht geht. Bei den herangezogenen generalanwaltlichen Schlussanträgen geht es um die zeitliche Beschränkung eines Urteils im Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV und damit um einen völlig anderen Gegenstand. Schließlich stützen auch Jarass/Beljin, die vor allem Diskriminierungsfälle im Blick haben, die Annahme des OVG Münster nicht. Die Unterscheidung zwischen direkten und indirekten Kollisionen führt nicht zu einer Relativierung der Wirkungen des Anwendungsvorrangs. Indirekte Kollisionen müssen einer Äquivalenz- und Effektivitätskontrolle standhalten. Die dem Gesetzgeber in der Sportwettenentscheidung eingeräumte Übergangsfrist stellt keine indirekte Kollision dar, da Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts von der Übergangsfrist nicht erfasst wurden. Die Übergangsfrist ist daher unionsrechtlich indifferent. Der Anwendungsvorrang erstreckt sich seit dem 1. Dezember 2009 grundsätzlich auf das gesamte Unionsrecht. Bestimmungen über die Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik, welche im EU-Vertrag verbleibt und für welche weiterhin der inter-
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F. Zusammenfassung der Ergebnisse
gouvernementale Ansatz gilt, vermögen aber weiterhin nicht nationales Recht in der Anwendung zu verdrängen. Die Nichtanwendungspflicht von entgegenstehendem nationalem Recht ist bei Verwaltungsbehörden nicht auf eindeutige Verstöße beschränkt, sondern diese müssen ebenso wie mitgliedstaatliche Gerichte dem Unionsrecht einen uneingeschränkten Vorrang einräumen. Das Unionsrecht setzt sich ohne zeitliche Verzögerung gegenüber nationalem Recht durch. Eine vorübergehende Hinnahme unionsrechtswidrigen nationalen Rechts, ggf. unter Orientierung am Chaos-Argument des Bundesverfassungsgerichts, kommt deshalb nicht in Betracht. Diese Ansicht stützt auch Generalanwalt Yves Bot in seinen Schlussanträgen in der Rechtssache C-409/06, der eine übergangsweise Aufrechterhaltung von nationalem Recht, das gegen unmittelbar anwendbares Unionsrecht verstößt, für ausgeschlossen hält. Das Entscheidungsmonopol hinsichtlich dieser Frage liegt im Übrigen nicht bei den nationalen Gerichten, sondern beim Gerichtshof der Europäischen Union.
III. Vergleichsfolie: Bundesverfassungsgericht und Landesverfassungsgerichte Das Bundesverfassungsgericht steht hinsichtlich des Europarechtes zum Europäischen Gerichtshof in einem ähnlichen Verhältnis wie ein Landesverfassungsgericht zum Bundesverfassungsgericht. Das erklärt sich daraus, dass es sich auch bei der Europäischen Union um ein föderales System handelt. Ein Vergleich kann dazu führen, strukturelle Mängel im Verhältnis des Bundesverfassungsgerichts zum Gerichtshof aufzudecken und gegebenfalls zu beheben. Die Existenz einer doppelten Verfassungsgerichtsbarkeit hat Auswirkungen auf die durch den Prüfungsgegenstand beeinflusste verfahrensrechtliche Zuständigkeit und den Prüfungsmaßstab. Zuständigkeitskonkurrenzen sind nur möglich, wenn es um Hoheitsakte geht, die den Bundesländern zuzurechnen sind. Landesverfassungsgerichte dürfen die Anwendung von bundesrechtlichem Verfahrensrecht durch Landesgerichte an Landesgrundrechten und grundrechtsgleichen Gewährleistungen nachprüfen, soweit sie den gleichen Inhalt wie entsprechende Rechte des Grundgesetzes haben. Entscheidungen der Landesverfassungsgerichte können mit der Bundesverfassungsbeschwerde angegriffen werden, wenn die Entscheidungen Grundrechte des Grundgesetzes verletzen. Das Landesverfassungsrecht wird zum Prüfungsmaßstab des Bundesverfassungsgerichts, wenn es über Binnenländerstreitigkeiten (Art. 93 Abs. 1 Nr. 4 Var. 3 GG) oder im Wege der Organleihe (Art. 99 GG) entscheidet.
IV. Deutsche Hoheitsakte und Unionsrecht
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Das Bundesrecht wird über Art. 31 GG insofern zum Vorprüfungsmaßstab für die Landesverfassungsgerichte, als dass es den eigentlichen Prüfungsmaßstab (das Landesverfassungsrecht) brechen kann. Inhaltsgleiches Landesverfassungsrecht wird nicht nach Art. 31 GG gebrochen, weil Art. 31 GG im Zusammenhang mit Art. 28 Abs. 1 GG verstanden werden muss. Landesgrundrechte, die vom Gewährleistungsgehalt hinter den Grundrechten des Grundgesetzes zurückbleiben, werden nach Art. 31 GG gebrochen. Landesverfassungsrecht wird im Falle einer Normenkollision nicht nur suspendiert, sondern ist wie einfaches Landesrecht gemäß Art. 31 GG nichtig. Aus Art. 100 Abs. 3 GG ergibt sich, dass auch die Auslegung des Grundgesetzes Gegenstand der Rechtsfindung eines Landesverfassungsgerichts sein kann. Hinsichtlich der Vereinbarkeit einer landesrechtlichen Norm mit Bundesrecht trifft die Landesverfassungsgerichtsbarkeit zwar eine Prüfungspflicht, sie hat aber keine Verwerfungskompetenz (Art. 100 Abs. 1 GG). Das Bundesverfassungsrecht avanciert ferner zum Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte über das „Phänomen der in die Landesverfassungen hineinwirkenden Bundesverfassung“. Vergleichbar mit den Bestimmungen des Grundgesetzes, die den Prüfungsmaßstab der Landesverfassungsgerichte beeinflussen, sind auf Unionsebene der Anwendungsvorrang des Unionsrechts (mit Art. 31 GG), das Vorabentscheidungsverfahren nach Art. 267 AEUV (mit Art. 100 Abs. 3 GG) und der Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit nach Art. 4 Abs. 3 EUV. Die unionalen Instrumente dienen wie Art. 31 GG und Art. 100 Abs. 3 GG der Rechtseinheit in einem föderalen System. Auf landesverfassungsrechtlicher Ebene führen die Mechanismen folgerichtig zu einer Integration des Bundesrechts in den Prüfungsmaßstab; das Bundesverfassungsgericht zieht das Unionsrecht bisher (abgesehen von Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG) nicht als Prüfungsmaßstab heran, was aber wegen der vergleichbaren Mechanismen auf Unionsebene angezeigt wäre.
IV. Prüfung deutscher Hoheitsakte am Maßstab des Unionsrechts Art. 263 Abs. 4 AEUV führt gegenüber Art. 230 Abs. 4 EG nur im Bereich der untergesetzlichen Rechtsakte zu einer Erweiterung des Individualrechtsschutzes. Für die Anfechtung von Verordnungen und Richtlinien mit Gesetzescharakter bedarf es weiterhin der individuellen Betroffenheit im Sinne der „Plaumann-Formel“. Natürliche und juristische Personen haben weder einen Anspruch auf Einleitung eines Vertragsverletzungsverfahrens noch auf Einleitung eines Vorabentscheidungsverfahrens. Insgesamt gewährt das Unionsrecht Individualrechtsschutz auf EUEbene nur in Ausnahmefällen, weshalb es Sache der Mitgliedstaaten ist, durch ein System von Rechtsbehelfen einen effektiven Rechtsschutz zu gewährleisten. Aus der dualen Vollzugsstruktur resultiert eine duale Vollzugskontrolle, welche das Rechtsschutzsystem der Union entscheidend prägt. Das Unionsrecht ist für den
208
F. Zusammenfassung der Ergebnisse
nationalen Richter verbindlich und zählt damit zu „Gesetz und Recht“ im Sinne von Art. 20 Abs. 3 GG. Im Vorwege der Sportwettenentscheidung haben die Fachgerichte der Beschwerdeführerin nicht zur Durchsetzung ihrer Grundfreiheiten verholfen. Eine Pflicht zur Übernahme des „acte clair-Maßstabs“ folgt unionsrechtlich weder aus dem Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit noch aus dem Vorrang des Unionsrechts vor nationalem Verfassungsrecht, sondern ist verfassungsrechtlich geboten. Dies folgt aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG und dessen besonderen Wirkungsbedingungen im Zusammenhang mit unionsrechtlichen Regeln über die gerichtliche Zuständigkeit. Die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom 7. Dezember 2006 begegnet auch beim selbstgewählten Willkürmaßstab Bedenken, weil das OVG Münster seinen Beurteilungsspielraum in unvertretbarer Weise überschritten hat. Nationale Gerichte sind nämlich auch im einstweiligen Rechtsschutz zur Vorlage an den Gerichtshof verpflichtet, wenn sie an der Gültigkeit von Primär- oder Sekundärrecht zweifeln. Die völker- und europarechtsfreundliche Grundentscheidung des Verfassungsgebers verleiht auch dem Verfassungsbeschwerdeverfahren eine internationale Dimension. Die Durchsetzung unionsrechtlich verliehener Rechte folgt nicht bereits aus dem Äquivalenzprinzip, da das Verfassungsbeschwerdeverfahren einen außerordentlichen Rechtsbehelf darstellt und man sich nicht vom Wortlaut des Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG entfernen muss, wenn man die Einwirkungen des Unionsrechts auf das nationale Recht verfassungsrechtlich begründet. Das Bundesverfassungsgericht ist aus Art. 19 Abs. 4 GG weder zur Durchsetzung von Unionsgrundrechten und Grundfreiheiten noch von individualrechtsverleihendem Sekundärrecht verpflichtet, da die Gesetzgebung nicht Teil der „öffentlichen Gewalt“ und die Verfassungsbeschwerde kein Rechtsweg im Sinne von Art. 19 Abs. 4 S. 1 GG ist. Überdies kann § 90 Abs. 1 BVerfGG im Wege „einer verfassungskonformen Auslegung“ keine andere Bedeutung erhalten als Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG. Das Unionsrecht wird nicht über Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG in den Jurisdiktionsbereich der Verfassungsbeschwerde integriert, weil dem Europarecht innerstaatlich kein höherer Rang zukommt als den Integrationsgesetzen, welche die innerstaatliche Anwendung anordnen. Bei Art. 23 Abs. 1 S. 2 GG handelt es sich nämlich anders als bei Art. 25 GG nicht um einen verfassungsunmittelbaren Integrationshebel. Das Unionsrecht zählt zur verfassungsmäßigen Ordnung im Sinne von Art. 2 Abs. 1 GG und wirkt insofern zugunsten des Grundrechtsträgers, als dass eine wegen des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbare Eingriffsgrundlage die allgemeine Handlungsfreiheit nicht beschränken kann. Dazu bedarf es weder eines Rückgriffes auf Art. 23 Abs. 1 GG noch der Konstruktion einer Analogie. Der Substanzverlust des „Verfassungsmäßigen“ in der verfassungsmäßigen Ordnung ist zwingende Konsequenz der Ausdehnung des Art. 2 Abs. 1 GG zur allgemeinen Ver-
IV. Deutsche Hoheitsakte und Unionsrecht
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haltensfreiheit. Das Unionsrecht scheidet auch nicht deshalb aus der verfassungsmäßigen Ordnung aus, weil ihm nur ein Anwendungsvorrang und kein Geltungsvorrang zukommt, da anderenfalls unanwendbare Rechtsnormen in der Lage wären, wirksam die allgemeine Handlungsfreiheit zu beschränken. Eine Eingriffsgrundlage scheidet auch bei speziellen Grundrechten mit Gesetzesvorbehalt als taugliche Schranke aus, wenn diese aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar ist. Hintergrund dieser Weiterung ist, dass sich das Garantieverhältnis von General- und Spezialrecht anderenfalls in sein Gegenteil verkehrt sähe. Nach Erschöpfung des Rechtsweges kann sich der Beschwerdeführer im Verfassungsbeschwerdeverfahren an das Bundesverfassungsgericht wenden, wenn ein Grundrechtseingriff der öffentlichen Gewalt gegeben ist und die herangezogene Schranke im Einzelfall aufgrund des Anwendungsvorrangs des Unionsrechts unanwendbar ist. Dadurch wird nicht in die Kompetenzen des Gerichtshofs eingegriffen, weil dieser nicht über die Vereinbarkeit von nationalem Recht mit dem Unionsrecht entscheidet. Ebenso wenig ergibt sich aus der Abgrenzung von Fachgerichtsbarkeit und Verfassungsgerichtsbarkeit die Unzuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts. Auf den Verstoß gegen das Unionsrecht braucht, um die Zuständigkeit des Bundesverfassungsgerichts zu eröffnen, nicht zurückgegriffen werden, wenn ohnehin zugleich ein Grundrecht des Grundgesetzes verletzt sein wird. Ist letzteres nicht der Fall, ist der Verstoß gegen das Unionsrecht weiter zuständigkeitseröffnend. Liegt sowohl ein Verstoß gegen Grundrechte des Grundgesetzes als auch gegen das Unionsrecht vor, ist der Verstoß gegen das Unionsrecht auch wieder von Bedeutung, wenn das Bundesverfassungsgericht – wie in der Sportwettenentscheidung – eine Übergangsfrist anordnet. Das Bundesverfassungsgericht müsste dann auch Stellung dazu beziehen, inwiefern Sachverhalte im Anwendungsbereich des Unionsrechts von der Übergangsfrist betroffen sind, wozu eine Vorlage an den Gerichtshof nach Art. 267 Abs. 3 AEUV erforderlich sein kann. In der Sportwettenentscheidung hätte es aber auf Grundlage des „acte clair-Maßstabs“ keiner Vorlage bedurft. Die Integration des Unionsrechts hätte keine Arbeitsüberlastung des Bundesverfassungsgerichts zur Folge. Im Rahmen der konkreten Normenkontrolle nach Art. 100 Abs. 1 GG erstreckt sich das Verwerfungsmonopol des Bundesverfassungsgerichts nicht auf unionsrechtswidrige nationale Gesetze. Ist das nationale Fachgericht von der Unionsrechtswidrigkeit des nationalen Gesetzes überzeugt, ist dieses bereits selbst verpflichtet, die nationale Norm unangewendet zu lassen. Bei der abstrakten Normenkontrolle gemäß Art. 93 Abs. 1 Nr. 2 GG scheidet die Integration des Unionsrechts aus, weil sich der Anwendungsvorrang nur im Einzelfall und damit nicht abstrakt realisieren kann.
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Sachwortverzeichnis Abstrakte Normenkontrolle 202 acte clair-Maßstab 164, 199 Allgemeine Handlungsfreiheit 189, 197 Allgemeine Regeln des Völkerrechts 182 Amtshaftungsklage 154 Analogie 184 Anwendungsvorrang des Unionsrechts 22, 38, 138, 188 – Adressaten 102 – Costa/ENEL-Entscheidung 89 – Durchbrechung 26, 80 – Grenzen der Nichtanwendungspflicht 85 – Relativierung 103 – Unbedingter Vorrang 78 – Urteil OVG Münster 81 – Urteil VGH Kassel 80 – vor nationalem Verfassungsrecht 100 – Voraussetzungen 90 – Wirkungen 98 Äquivalenzgrundsatz 96 Berufsfreiheit 21, 48, 198 Bundestreue 116, 142 Bundesverfassungsgericht 29, 39, 111 Bundesverfassungsgerichtsgesetz 41 Chaos-Argument
47
Divergenzvorlage 27, 135 Duales Rechtsschutzsystem 146 Ebenenvergleich 138 Effektivitätsgrundsatz 96 Elfes-Urteil 190 EU-Grundrechte 198 Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte 146 Europarechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 175
Föderalismus 23, 116 – supranationaler 116 Funktion der Generalanwälte
107
Geltungsvorrang 188 Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik 99 Gerichtshof der Europäischen Union 36 Gesetzlicher Richter 161 – EuGH als gesetzlicher Richter 162 Gestaltungsfreiheit des Gesetzgebers 44 Gleichheitswidriger Begünstigungsausschluss 45 Glücksspielrecht 61 – Gambelli-Entscheidung 76 – Gesetzgebungskompetenz 61 – Lotteriestaatsvertrag 62 – Placanica-Entscheidung 77 Grundfreiheiten 22, 198 Grundrechte 191 Grundsatz der loyalen Zusammenarbeit 141, 159, 165 Hans Kelsen
34
Individualrechtsschutz vor dem EuGH 147 Integrationshebel 183 ipso-iure-Nichtigkeitstheorie 31 Kollision 94 – direkte 94 – indirekte 95 Konkrete Normenkontrolle 201 Kooperationsverhältnis 19, 200 Landesgrundrechte 132 Landesverfassungsbeschwerde 125 Landesverfassungsgerichtsbarkeit 117, 193 – Abgrenzung zum BVerfG 120 – Prüfungsmaßstab 128 lex posterior – Grundsatz 186
218 Mehrebenensystem
Sachwortverzeichnis 23, 111, 116
Nichtigkeitserklärung 41, 49 – ex-tunc-Wirkung 49 – Verfassungsprozessuale Rechtsfolgenregelung 50 – Wiederaufleben des Altrechts 51 Nichtigkeitsklage 35, 149 – Plaumann-Formel 149 – Rechtsakte mit Verordnungscharakter 152 Normenkontrollentscheidungen 30 Normenkontrollverfahren 145 Numerus-Clausus-Entscheidung 48 Österreichisches Bundes-Verfassungsgesetz 33 Polizeiliche und justizielle Zusammenarbeit in Strafsachen 99 Prüfungskompetenz der Fachgerichte 193 Rechtsschutzlücken 23 Rechtsunsicherheit 22 Satzungen 187 Säulenstruktur der Europäischen Union 35 Simmenthal 201 Solange II-Beschluss 162 Sportwettenentscheidung 60, 73, 108, 198 – Unionsrechtliche Aspekte 73 Sportwettenmonopol 20 Staatenverbund 112 Staatsverträge 59 Stufenbau der Rechtsordnung 32 Südweststaat-Urteil 39 Superrevisionsinstanz 195 f. Supranationalität 115
Transformationsakt
183
Übergangsfristen 26, 29, 104, 199 ultra vires Akte 101 Unmittelbare Anwendbarkeit des Unionsrechts 91 – Primärrecht 92 – Sekundärrecht 93 Untätigkeitsklage 153 Unvereinbarerklärung 41, 52 – Anlassfälle 54 – Anwendungssperre 53 – Parallelfälle 55 – Parallelnormen 55 Verfassungsbeschwerde 30, 170 – Abgrenzung zur Fachgerichtsbarkeit 171 – Durchsetzung des Unionsrechts 175 – Urteilsverfassungsbeschwerde 195 Verfassungsexegese 40 Verfassungsmäßige Ordnung 181 Verfassungsräume 138 Vernichtbarkeitslehre 37 Vertrag von Lissabon 99, 112, 142, 147, 150 – Lissabon-Urteil des BVerfG 112 Vertragsverletzungsverfahren 156 Verwerfungskompetenz 38 Völkerrechtsfreundlichkeit des Grundgesetzes 176 Vollzug des Unionsrechts 158 Vorabentscheidungsverfahren 139, 155 – Aufgabenteilung 140 – Funktion 140 – Vorlagepflichtverletzungen 156 Weitergeltungsanordnung Willkürmaßstab 163
71