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German Pages 363 [369] Year 2006
Frank Bücher
Verargumentierte Geschichte Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik
96 Klassische Philologie Franz Steiner Verlag
HERMES Einzelschriften - Band 96
Verargumentierte Geschichte. Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik
HERMES Zeitschrift für klassische Philologie ---------------------------Einzelschriften HERAUSGEGEBEN VON Siegmar Döpp Karl-Joachim Hölkeskamp Wolfgang Kullmann Heft 96
Frank Bücher
Verargumentierte Geschichte Exempla Romana im politischen Diskurs der späten römischen Republik
Franz Steiner Verlag Stuttgart 2006
HERMES-EINZELSCHRIFTEN (ISSN 0341-0064) ———————————————————————————————————— Redaktion: Prof. Dr. SIEGMAR DÖPP, Universität Göttingen, Seminar für Klassische Philologie, Humboldtallee 19, D-37073 Göttingen (verantwortlich für Latinistik) Prof. Dr. KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP, Universität Köln, Institut für Altertumskunde/Alte Geschichte, D-50923 Köln (verantwortlich für Alte Geschichte) Prof. Dr. WOLFGANG KULLMANN, Bayernstr. 6, D-79100 Freiburg (verantwortlich für Gräzistik) Erscheinungsweise: Jährlich 3–6 Bände verschiedenen Umfanges Bezugsbedingungen: Bestellung zur Fortsetzung möglich. Preise der Bände nach Umfang. Eine Fortsetzungsbestellung gilt, falls nicht befristet, bis auf Widerruf. Kündigung jederzeit möglich. Verlag: Franz Steiner Verlag GmbH Stuttgart. Birkenwaldstr. 44, D-70191 Stuttgart, Postfach 101061, D-70009 Stuttgart Die Herausgeber bitten, Manuskripte an die oben genannten Redaktionsadressen zu senden. Erwünscht sind für alle Manuskripte Schreibmaschinenblätter mit einseitiger Beschriftung (links 4 cm freier Rand erforderlich). Der Redaktion angebotene Manuskripte dürfen nicht bereits veröffentlicht sein oder gleichzeitig veröffentlicht werden; Wiederabdrucke erfordern die Zustimmung des Verlages. Textverarbeitung: Der Verlag begrüßt es, wenn möglichst viele Manuskripte über PC realisiert werden können. Nähere Auskünfte auf Anforderung
Bibliographische Information der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliographie; detaillierte bibliographische Daten sind im Internet über abrufbar. ISBN-10: 3-515-08870-9 ISBN-13: 978-3-515-08870-1
Jede Verwertung des Werkes außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Übersetzung, Nachdruck, Mikroverfilmung oder vergleichbare Verfahren sowie für die Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen. Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. © 2006 by Franz Steiner Verlag GmbH, Stuttgart. Druck: Printservice Decker & Bokor, München Printed in Germany
INHALTSVERZEICHNIS Vorwort ..............................................................................................................................................9 Einleitung: Eine epochenübergreifende und universalhistorische Fragestellung .............................11
Erster Teil DIE POLITISCHE KLASSE UND IHRE KOMMUNIKATION MIT DEM POPULUS ROMANUS Wie es eigentlich gewesen ...............................................................................................................16 Ein kurzes Plädoyer für die historische Phantasie............................................................................17
1. DER POLITISCH-INSTITUTIONELLE UND DER SOZIO-KULTURELLE RAHMEN VON REDE IN ROM..............................................................20 POLITISCHE KULTUR – DIE SPEZIFISCHE KULTUR DER POLITIK.........................................................22 VERSAMMLUNGS- UND REDEPRAXIS ................................................................................................24 Rede als Mittel der alltäglichen, politischen Kommunikation......................................................24 DER VERSAMMELTE POPULUS ROMANUS – TYPEN VON RÖMISCHEN VOLKSVERSAMMLUNGEN .......26 Die Übermacht des Versammlungsleiters – eine Gemeinsamkeit aller Versammlungen.............27 „Verba facere ad populum“ – tägliche Kommunikation in contiones .........................................29 Comitia – die formellen Versammlungen des populus Romanus .................................................34 Autonomie des Verfahrens: Fristen – reguläre Verfahren – reservierte Orte ...............................36 Die politische Bedeutung der comitia – Inszenierung von Hierarchie und Konsens....................37 Zwei Fragen zur politischen Praxis – Wer stimmte ab? An wen richtete sich die Rede?.............38 DIE RHETORISCHE PRAXIS: TAXIS UND TAKTIK – DIE INSZENIERUNG ARISTOKRATISCHER ÜBERLEGENHEIT ................................................................41 Der Auftritt des Magistraten und die Wahrung der „species in republica“ .................................41 Mit Witz und Würde gegen die „maximi motus populi“..............................................................43 Charme, Witz, Jovialität ...............................................................................................................45 Überwältigende Autorität .............................................................................................................46 Flucht in den Gestus – wenn Worte nicht mehr helfen.................................................................48 Ciceros Maniliana – eine gelungene contio-Premiere ..................................................................49
2. ROMS SPRECHENDE ‚POLITISCHE KLASSE‘ – VON KLEIN AN AUFS REDEN GEEICHT.................................................................................52 ORATIO A PUERIS ..............................................................................................................................52 PRAXIS UND THEORIE – DER KÖNIGSWEG EINER RÖMISCHEN AUSBILDUNG .....................................62 Rhetorica ad Herennium ..............................................................................................................64 Die Behandlung der exempla in der Rhetorik an Herennius.........................................................67 Ciceros De inventione und Antonius’ Redelehre..........................................................................71 Fazit: ein dreifacher Eindruck ......................................................................................................74 SELBSTPRÄSENTATION EINES NOBILIS – CICERO UND SEINE REDEN .................................................75
3. EINE BESONDERE (UND BESONDERS) POLITISCHE KLASSE – NACH RÄNGEN GETRENNT UND DURCH GESCHICHTE GEEINT ...........................................81 Wettbewerb und Hierarchie..........................................................................................................81 Einende Erinnerung ......................................................................................................................85 (MENTALE) BEDINGUNGEN FÜR REDE UND REDNER IN DER SPÄTEN REPUBLIK ...............................90 Junge gegen Alte ..........................................................................................................................90 Wo sind die Alten? .......................................................................................................................97
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INHALTSVERZEICHNIS
Zweiter Teil POLITISCHER DISKURS UND SEINE RÖMISCHE MATRIX: ERINNERUNG IN ROM – WAS JEDER SAH, LAS, HÖRTE UND KANNTE 1. ‚POLITISCHER DISKURS‘ UND ‚ERINNERUNG‘ – BEGRIFFLICHE VORKLÄRUNGEN...........102 ‚Politischer Diskurs‘...................................................................................................................102 ‚Erinnerung‘ kontra ‚Historie‘....................................................................................................106 Rom als Fallbeispiel für die Assmannsche Theorie....................................................................109
2. DIE ALTEN VOR AUGEN UND DER HERKUNFT ZUGEWANDT – ERINNERUNG IN DER FAMILIE UND AN DIE FAMILIE ........................................................110 Das Ritual, das Helden feiert I: das römische Leichenbegängnis – private und zugleich öffentliche Familienerinnerung .................................................................110 Ein Haus als Politicum – Pompeius’ Porticus ............................................................................116
3. MEDIEN DER ERINNERUNG IN DER ÖFFENTLICHKEIT – BILDLICHE, SZENISCHE UND GESCHRIEBENE GESCHICHTE(N) .........................................119 Die politischen Zentren: Comitium – Forum – Capitol ..............................................................119 Münzbilder .................................................................................................................................123 Eine censorische Aufräumaktion................................................................................................126 Das Ritual, das Helden feiert II: der römische Triumph – die Siegesfeier im Schatten von Erinnerungsmonumenten ........................................................127 Selbstdarstellung der Nobilität im öffentlichen Raum seit 300 v. Chr. ......................................129 Geschichte(n) im Theater ...........................................................................................................131 Geschichte im römischen Epos...................................................................................................136 ALLEN GEHÖRT ALLES – MEDIEN EINES ALLGEMEIN GETEILTEN WISSENS UND DIE ‚VERÖFFENTLICHUNG‘ DER FAMILIALEN ERINNERUNG.....................................................137 GESCHICHTSSCHREIBUNG ...............................................................................................................138
4. CICEROS ARBEIT ALS ‚HISTORIKER‘ ................................................................................141 Ciceros Quellen ..........................................................................................................................141 Die Vorwürfe gegen und Ereignisse um Servius Sulpicius Galba..............................................143 Schlußfolgerungen: Historikerlektüre für spezielle Probleme und Fragen.................................145
5. ERINNERUNG UND ‚KOLLEKTIVE IDENTITÄT‘ ..................................................................148
Dritter Teil VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE: DIE EXEMPLA ROMANA IM POLITISCHEN DISKURS 1. EXEMPLA IN THEORIE UND STATISTISCHEN BEFUNDEN ..................................................152 EXEMPLA IN DER THEORIE ..............................................................................................................152 Alte oder neue Beispiele – Was soll man bevorzugen? ..............................................................155 DER BLICK AUFS GANZE – STATISTISCHE BEFUNDE ZU DEN EXEMPLA ROMANA ............................157 Zahlen – Daten – Fakten.............................................................................................................157
2. DIE MAIORES UND IHRE STELLUNG IN DEN REDEN ..........................................................162 Die maiores als Rechtsschöpfer..................................................................................................163 Periodisierung: maiores und nostra et patrum memoria ............................................................167 Das Imperium der maiores als Erbschaft....................................................................................169 Ein imperatives Mandat besonderer Art .....................................................................................171
INHALTSVERZEICHNIS
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3. DIE PROBE AUFS EXEMPEL – ALTE BEISPIELE .................................................................174 Exempla der Königszeit..............................................................................................................174 Das Gründungsjahr der Republik ...............................................................................................177 Marcus Furius Camillus – der Retter des Vaterlandes................................................................180 Appius Claudius Caecus – Keiner schimpft so schön wie er......................................................182 Familienehre und Familienpflicht – die devotiones der Decii ....................................................185
4. WORTE UND ORTE DER ERINNERUNG ..............................................................................190 Die Dimension des Rederaums...................................................................................................190 Im Schatten eines pater patriae – Cicero und Camillus .............................................................191 Alte exempla in Wort und Stein .................................................................................................192 Eine geradezu exemplarische Harmonie von Ort und Wort .......................................................195
5. DIE IMPERIALE REPUBLIK – ERINNERUNG AN DIE PUNISCHEN KRIEGE ...........................196 DER ERSTE PUNISCHE KRIEG ...........................................................................................................196 DER ZWEITE PUNISCHE KRIEG – HANNIBAL AD PORTAS .................................................................200 Historiographische Quellen ........................................................................................................201 Öffentliche Erinnerung ...............................................................................................................202 Fazit: ein karges Bild..................................................................................................................207 Ciceros historische Kenntnisse über die Zeit des zweiten punischen Krieges............................207 DIE ZEIT DES ZWEITEN PUNISCHEN KRIEGES UND SEINE VERARGUMENTIERUNG IN DEN REDEN ....214 Drei Beispiele aus der Rednerschule ..........................................................................................214 Einblick in Ciceros rhetorische Praxis – das exemplum Publius Cornelius Scipio Africanus maior in den Reden ....................................215 Hannibal .....................................................................................................................................218 Fabius Maximus – „unus homo nobis cunctando restituit rem“................................................220 EXKURS UND ABGRENZUNG: CICEROS SCHRIFT CATO MAIOR DE SENECTUTE – DIE EXEMPLA-GENERATIONEN CATOS ............................................................................................222
6. REDEN VOR VOLK UND SENAT .........................................................................................228 Ciceros Theorie ..........................................................................................................................228 CICERO GEGEN RULLUS ..................................................................................................................229 Vor dem Senat ............................................................................................................................229 Vor dem Volk.............................................................................................................................232 Fazit: Anpassung an den Hörerkreis und Retter in willkommener Gefahr.................................236 CICERO GEGEN CATILINA ...............................................................................................................238 Vor dem Volk.............................................................................................................................238 Vor dem Senat ............................................................................................................................239 NACH DER RÜCKKEHR AUS DEM EXIL – CICEROS DANKADRESSEN AN VOLK UND SENAT .............242 Vor dem Senat ............................................................................................................................245 Vor dem Volk.............................................................................................................................246 Gemeinsamkeiten und Unterschiede ..........................................................................................248 VOR SENAT UND VOLK FÜR SENAT UND VOLK – CICEROS DRITTE UND VIERTE PHILIPPICA ...........250 Vor dem Senat ............................................................................................................................251 Vor dem Volk.............................................................................................................................254 Verschiedene Wege führen zum selben Ziel – Cicero will den Kampf gegen Antonius............255
7. PROMINENTE FIGUREN DES KOMMUNIKATIVEN GEDÄCHTNISSES ...................................258 Marcus Porcius Cato – ein Bild von einem Römer ....................................................................258 Scipio Aemilianus – Ciceros großer Held ..................................................................................263 Lucius Cornelius Sulla und seine Zeit – die Hölle auf Erden.....................................................271 Von Krisenherden und Krisenmanagern – aufrührerische Volkstribune und ihre optimatischen Bezwinger................................................281 Zum Vergleich: eine populare Rede bei Sallust .........................................................................296
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INHALTSVERZEICHNIS
8. VON NAMENLOSEN GEWINNERN UND NAMHAFTEN VERLIERERN – CICEROS REDE FÜR PLANCIUS .........................................................................................300 „Fere octingenti consules“ ........................................................................................................303
9. REDEN UNTER VERÄNDERTEN BEDINGUNGEN – CICERO VOR CAESAR ...........................307 10. ANSPRUCH AUF DEUTUNGSHOHEIT – DIE ‚KREATION‘ NEUER EXEMPLA ....................................................................................310 Catilina – ein neues exemplum malum im politischen Diskurs...................................................310 Die Caesarmörder – Befreier des Vaterlandes............................................................................315
Schluß „JA, ERINNERUNG IST VIEL, IST ALLES.“ DIE RÖMER UND IHRE EXEMPLA VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE – DIE RÖMER UND IHRE EXEMPLA ...........................318 Memoria und ‚kollektive Identität‘.............................................................................................318 Die Erinnerungen Roms – historia magistra vitae .....................................................................319 Die Macht der Erinnerung und das Selbstbild des Nobilis .........................................................321 Kein exemplum ist tabu ..............................................................................................................322 Zu viel Macht der Erinnerung – „Quantus est honos virtutis!“..................................................325 Drei Generationen ......................................................................................................................327 Die ‚exempla-Fabrik‘ Rom.........................................................................................................328
LITERATURVERZEICHNIS ........................................................................................................333 HINWEISE ZU DEN ABBILDUNGEN ..........................................................................................350 REGISTER ................................................................................................................................350 QUELLENSTELLEN ............................................................................................................350 NAMENREGISTER ..............................................................................................................359 SACHREGISTER .................................................................................................................362
CD-ROM MIT DEN ANHÄNGEN
VORWORT Nachdem ich bisher schon einige Buchprojekte als Mitarbeiter habe begleiten dürfen, bin ich nun selbst in der glücklichen Situation, die ersten Worte meines eigenen Buches ganz am Ende seiner Entstehung schreiben zu dürfen. Es handelt sich dabei um die leicht überarbeitete Fassung meiner Dissertation, die im Wintersemester 2004/05 von der Philosophischen Fakultät der Universität zu Köln angenommen wurde. Der Blick und die Gedanken gehen zurück zu vielen anregenden Gesprächen, manchen Momenten des Zweifelns, dann aber natürlich auch zu Aufmunterungen und Motivationen und bestärken die Einsicht, daß es ohne die Hilfe vieler Lehrer, Kollegen und Freunde kaum hätte gelingen können. Dabei hatte ich zu Beginn der Promotionsphase das Glück, Stipendiat des Graduiertenkollegs „Vormoderne Konzepte von Zeit und Vergangenheit“ zu sein. Der Deutschen Forschungsgemeinschaft, den professoralen Mitgliedern des Kollegs, vor allem dem damaligen Sprecher Herrn Professor Dr. BERND MANUWALD, sowie den Mitstipendiaten fühle ich mich verbunden, weil sie mir in der ersten Phase der Promotion ein ideales Arbeitsumfeld gewährten. Das Institut für Altertumskunde an der Universität zu Köln bot mir dann seit 2001 eine sehr förderliche Umgebung, vor allem durch die Tätigkeit am Lehrstuhl meines Doktorvaters Professor Dr. KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP. Ihm verdanke ich nicht nur die Entwicklung des Projekts, sondern ebenfalls eine unverzichtbare, geduldige wie auch anspornende Betreuung bei meinen Bemühungen um das Thema. Statt vieler Worte sei hier nur bekannt: Er ist für mich ein Lehrer im umfassenden Sinne des Wortes. Mein herzlicher Dank gilt auch Herrn Professor Dr. MICHAEL ZAHRNT, der das Koreferat übernommen hat und dessen Lektüre und Ratschläge mir sehr weitergeholfen haben. Unser Kölner ‚Denktank‘ bot stetige Inspiration wie auch Unterstützung und ermöglichte eine besonders angenehme Atmosphäre, die das Interesse am anderen und seiner Arbeit lebendig hielt – eine Zeit, an die ich gerne zurückdenke und an der Anteil gehabt zu haben, mich auch mit Stolz erfüllt. So danke ich meinen nunmehr ehemaligen Kölner Kollegen Professor Dr. UWE WALTER und Dr. TANJA ITGENSHORST (beide jetzt Bielefeld) für wissenschaftliche und freundschaftliche Hilfe. Professor Dr. HANS BECK (jetzt McGill University Montréal) hatte stets eine offene Tür und ein offenes Ohr, wenn es einmal wieder um meine exempla ging. Dr. ANGELA KÜHR, Dr. GUNNAR SEELENTAG sowie Dr. PETER EICH und – last but not least – BARBARA SCHETTER begleiteten mich interessiert, freundschaftlich und zu jedem Rat und jeder Korrektur bereit – Hilfen, die ich gerne in Anspruch genommen habe.
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VORWORT
Auch den Studierenden meiner Seminare gilt mein Dank, wenngleich sie womöglich gar nicht gewußt haben, daß ich ihnen gelegentlich meine Thesen und Überlegungen vorgestellt habe, um ihre Verständlichkeit zu testen und durch die im Seminargespräch aufkommenden Fragen meine Argumentationen abzurunden wie auch zu schärfen. Daß das Buch in der Reihe der Hermes-Einzelschriften erscheint, ehrt mich besonders, und ich danke den Gutachtern Herrn Professor Dr. SIEGMAR DÖPP und Professor Dr. WOLFGANG KULLMANN sowie wiederum Herrn Professor Dr. KARL-JOACHIM HÖLKESKAMP für die Aufnahme in die Reihe sehr herzlich. Die Mitarbeiter des Steiner-Verlags waren bei allen Fragen der Edition hilfsbereit und haben die Publikation in angenehmer Weise begleitet und vorangetrieben. Frau LISA MIEBACH schließlich hat mir bei der Erstellung der Register und der Endredaktion des Manuskripts mit Ruhe und der für diese Arbeiten unabdingbaren Geduld geholfen. Ohne die Genannten, mit denen mich im Laufe der Jahre mehr als nur die uns gemeinsame Hingabe an die Alte Geschichte verbindet, ginge kaum etwas. Doch nichts ginge ohne meine Eltern. Ihnen sei das Buch von Herzen gewidmet.
EINLEITUNG Eine epochenübergreifende und universalhistorische Fragestellung Die Frage nach Erinnerungsmodi in Gesellschaften, nach der Bedeutung und Funktion von memoria ist epochenübergreifend und universalhistorisch, und sie inspiriert seit einigen Jahren eine interdisziplinäre Debatte über (vor-)moderne Erinnerungskulturen. Historiker lenken ihr Augenmerk auf mehrere Fragen und Problemkreise, die sich einerseits mit den Inhalten des Überlieferten beschäftigen, aber zugleich auch danach fragen, warum bestimmte Inhalte überliefert wurden: Die Funktion und Verwertung von tradierter Geschichte werden dabei im Zusammenhang ihrer Einbettung in gemeinschaftliches Handeln gesehen. Die Memoriaforschung integriert somit soziologische, psychologische, historische und mentalitätsgeschichtliche Elemente und verortet sich im Bereich der Kulturwissenschaften. Das kulturelle Gedächtnis ist ein relativ junger Gegenstand historischer Untersuchung.1 Die vorliegende Studie untersucht vor dem Hintergrund dieser skizzierten kulturwissenschaftlichen Debatte die Weitergabe der Erinnerung und ihrer Bedeutung in der politischen Kultur des republikanischen Roms unter folgenden Leitfragen: Warum wurden welche Erinnerungen auf welche Art und Weise bewahrt? Welche mentalen Bedingungen standen dahinter – ideologisch, strukturell und politisch-kulturell? Die herkömmlichen Methoden der Verfassungs- und Sozialgeschichtsschreibung werden dabei für eine derartige Fragestellung als zunehmend unzureichend empfunden.2 Man muß also weitergehend fragen als nur feststellen zu wollen, was die Römer denn von sich wußten.3 Die Wege der Bewahrung und Tradierung von 1
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Vgl. zur Entwicklung der Begriffe wie ‚(kollektives) Gedächtnis‘ oder ‚social memory‘ WISCHERMANN 1996, 12f. mit weiterer Literatur in den Anm.; GROSSE-KRACHT 1996 und jetzt FRIED 2004, 84ff. Überblicke über Fragen und Entwicklungen der kulturwissenschaftlichen Diskussion, vor allem mit einem Schwerpunkt auf der ‚politischen Kultur‘, bieten STOLLBERG-RILINGER 2005, HÖLKESKAMP 2004, LANDWEHR 2003, MERGEL 2002 jeweils mit Literatur. Dies formulierte CHRISTIAN MEIER bereits in der Einleitung zur ersten Auflage von Res publica amissa (1966), s. MEIER 1980a, 5. JOCHEN BLEICKEN beschreibt in seinem Standardwerk „Die Verfassung der römischen Republik“ (71995) die Praxis der res publica viel eher, als daß er sie ‚jurifiziert‘. Der Stand der Forschungsdiskussion zur politischen Kultur wird jetzt von HÖLKESKAMP 2004 interepochal und interdisziplinär angeregt und zusammengefaßt. Zur Praxis der Rede in Rom hat MORSTEIN-MARX 2004 jüngst ein grundlegendes Buch vorgelegt. Solche rein positivistische und additive Arbeiten liegen seit Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts vor, zu nennen sind die Arbeiten von SCHÜTZ 1913 und SAUER 1909/1910. Die moderne Arbeit von STINGER 1993 sammelt die historischen Verweise in chronologischer Abfolge der
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EINLEITUNG
Erinnerung rücken neben den Inhalten des Erinnerten in den Mittelpunkt des Interesses. Historiker, die sich mit vormodernen Gesellschaften, mit face to facesocieties befassen, erhalten durch die oral-tradition-Forschung anregende und aufschlußreiche Hinweise.4 Rede und institutionalisierte Mündlichkeit bilden in vormodernen Gesellschaften den lebendigen Mittelpunkt der politischen Kultur, dies gilt vor allem für die antike Stadtstaatlichkeit.5 Die Arbeit beschäftigt sich unter den erwähnten Fragestellungen vor allem mit der späten römischen Republik.6 Ciceros Reden, die als maßgebliche Quellen für den „politischen Diskurs“ herangezogen werden, können nicht ‚at face value‘ interpretiert werden.7 Zwei Ebenen sind zunächst auseinanderzuhalten, um sie dann später miteinander zu verbinden und ihre Komplementarität erhellen zu können. Die Texte müssen in und mit ihren Kontexten gelesen, Rede und Redner im Umfeld ihrer politischen Kultur gesehen werden. Bedingungen für und Praxis von Rede müssen daher vorgestellt werden, genauso wie man sich vor Augen führen muß, daß Rede für die politische Klasse Roms ein Herrschaftsmittel war, welches ihre Mitglieder in ihren verschiedenen Rollen benötigten und worin sie von klein an ausgebildet wurden, um in Roms politischer Klasse bestehen zu können. Dies soll im ersten Teil der Untersuchung geschehen. Daß die Stadt Rom ein riesiges Museum voller Erinnerungsmonumente war, ist intensiv untersucht und dargestellt worden.8 Überall in Rom begegneten die Römer der eigenen Geschichte. Dies hatte natürlich politische Bedeutung, weil gerade auch die politischen Zentren in Rom mit Erinnerungsgegenständen geschmückt waren. Diese Erinnerungsorte wiederum waren in Rituale integriert, die Erinnerungen wachhielten. Die verschiedenen Medien dieser kulturellen Matrix von Erinnerung in Rom werden im zweiten Teil dargestellt.
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Reden. Einzelne Personen (Catilina und Gracchen) untersucht die Studie von ROBINSON 1986. Vgl. HÖLSCHER 1995, 154; VANSINA 1985; LASLETT 1970, 161ff., zieht den Vergleich zur Familie, in der jeder mit jedem über alles spreche und auch von allem wisse. Vgl. außerdem die Beiträge in UNGERN-STERNBERG/REINAU (Hgg.) 1988; und die Literatur aus Anm. 1. Einen Überblick über die kulturwissenschaftliche Beschäftigung mit dem Thema der memoria bietet OEXLE 1995, 9–78 mit Literatur. Vgl. HÖLSCHER 1995, 157f.; HÖLKESKAMP 1996, 304. – HEUSS 1959 hat sich bereits intensiv mit dem „Verlust der Geschichte“ in der Moderne auseinandergesetzt und sozusagen e negativo die Bedeutung der Geschichte für eine Erinnerungsgemeinschaft herausgestellt. Vgl. zu den Forschungen, die die politische Kultur der römischen Republik betreffen, jetzt ausführlich HÖLKESKAMP 2004. Für ein solches Unterfangen scheinen die Bemerkungen von MEIER 1980a, 5, immer noch zu gelten: „… man muß … eine weitere Entfernung zum Gegenstand einnehmen, als dies gewöhnlich geschieht, und eine gewisse Unschärfe einkalkulieren …“. Diese Kritik kann man zumindest passagenweise den Interpretationen MILLARs entgegenhalten, wenn er Rom zur Demokratie erklärt, MILLAR 1998 und dazu HÖLKESKAMP 2000a; MORSTEIN-MARX 2004, 13. Vgl. nur HÖLSCHER 1978; 1980; 1984; ZANKER 1987; HÖLKESKAMP 1996.
EINLEITUNG
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Es ist ein Gemeinplatz, daß die antiken Redner exempla benutzten. Für Rom soll hier im dritten Teil die Frage gestellt werden, welche exempla Romana in den Reden Ciceros angeführt und wie diese verargumentiert werden. Unterschiedliche Herangehensweisen sollen das Material aus verschiedenen Perspektiven in den Blick nehmen: Statistische Befunde werden dargelegt, der Kollektivbegriff maiores wird untersucht, die punischen Kriege werden als Zeitraum betrachtet, einzelne alte wie auch jüngere exempla und ihr ‚Einsatz‘ in den Reden werden vorgestellt, Vergleiche zwischen Senats- und Volksreden gezogen, weiterhin Betrachtungen einzelner Reden vorgenommen und die ‚Kreation‘ neuer exempla untersucht. Die Methodik und Reihenfolge sollen und können nicht zwingend zu einem bestimmten Ergebnis führen, das sich in einem Spannungsbogen regelrecht selbst entfaltet. Trotz der individuellen Schwerpunktsetzung haben sich zudem gewisse Überschneidungen nicht ganz vermeiden lassen. Auch wenn die Gefahr des Eindrucks von Disparität und willkürlicher Anordnung besteht, soll die Multiperspektivität des summarischen Zugriffs wie auch der detaillierten Einzeluntersuchungen vor allem die verschiedenen Facetten und die Mehrdimensionalität dieses komplexen Untersuchungsgegenstandes vorstellen. Historiker untersuchen vornehmlich die Frage, wie Gesellschaften funktionierten. Die res publica Romana stützte sich vor allem auf ihre Erinnerungen, mit den lateinischen Vokabeln formuliert: auf die exempla und die mores maiorum. Diese ideologischen Stützen waren Grundbestandteile einer politischen Kultur, die von dauerhaftem Erfolg und – bei allen Problemen – einer außergewöhnlichen Stabilität geprägt wurde. Die exempla waren in den Reden zunächst einfach Wörter, aber sie standen natürlich in einem gesamten Sinngefüge und konnten ihre Wirkung in einem gesellschaftlichen Kontext und Wertekosmos entfalten.9 Sie darin zu sehen und einzuordnen, somit die beiden Ebenen, rhetorische Praxis und Erinnerungskultur, zusammenzuführen und das Funktionieren dieser politischen Kultur alla Romana zu beschreiben, ist Anliegen der Schlußbetrachtung.
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Vgl. REICHARD 1998, 15 mit weiterer Literatur.
ERSTER TEIL DIE POLITISCHE KLASSE UND IHRE KOMMUNIKATION MIT DEM POPULUS ROMANUS
„Wir Zeitungsleser können uns kaum mehr die gewaltige Wirkung des gesprochenen Wortes auf einen unbefangenen und unwissenden Geist vorstellen.“ J. Huizinga, Herbst des Mittelalters, Stuttgart 1941/1987, S. 5
Wie es eigentlich gewesen Die Reaktion des Publikums ließ nicht auf sich warten. Schon während seiner Rede brandete an verschiedenen Stellen immer wieder Applaus auf, mehr als einmal hatte der orator das zustimmende Nicken in der Menge bemerkt, die sich vor seinen Füßen drängte, und oft hatte er Rufe gehört, die Zustimmung zum Ausdruck brachten. Er hatte offensichtlich alles richtig gemacht: Jetzt stand er mit ausgebreiteten Armen auf der Rednerbühne und empfing die Ovationen des populus Romanus: schweißüberströmt, mit verrutschter Toga und zerzausten Haaren, sichtlich erschöpft und mit heiserer Stimme, so konnte ihm jeder ansehen, welche Strapaze es gewesen war. Die bewegendsten Momente der letzten Stunden – er hatte lange gesprochen – standen vor seinem geistigen Auge. Innerlich freute er sich, wie gut seine Gestik und seine Bewegungen zu seinen Ausführungen gepaßt hatten; das lange Training hatte sich gelohnt. Stolz erinnerte er sich, wie er die Gemüter der Zuhörer in seinen Bann hatte schlagen können, als er wirklich ohne Fehl und Tadel die Verse aus den Stücken des Accius rezitiert hatte – die Plautus-Passagen vor ein paar Tagen waren nicht so erfolgreich gewesen, davon hatte er sich mehr erhofft. Aber diesmal haben die Leute an ein paar markanten Stellen sogar laut mitgesprochen! Besonders gut war angekommen, wie er den alten Caecus aus dem Grabe hatte auferstehen und eine strenge censorische Rede halten lassen – für diese Passage hatte der Redner extra einen grimmigen Gesichtsausdruck eingeübt und war ganz vorne an den Rand der rostra herangetreten, damit dies auch möglichst viele sehen könnten. Kein Mucks war im Publikum zu hören gewesen. Und als er die in Trauerkleidung anwesenden Familienmitglieder des Angeklagten, allen voran dessen kleinen Sohn, den Bürgern von Rom vor Augen gestellt hatte, da hatte es kein Halten mehr gegeben: Laute Rufe des Mitleids und des Wehklagens erschallten aus dem Auditorium. Besonders ein Eindruck war ihm haften geblieben: Er hatte ein intensives Gefühl der Macht empfunden, die er über seine Hörer, die Bürger Roms, gehabt zu haben schien, als sich alle Köpfe in dem Moment drehten, als er auf die Statue seines Vorfahren zeigte. Ebenso hatten alle auf seinen Fingerzeig hin zum Capitol hinaufgeschaut, als er seine flehentliche Bitte an den obersten Stadtgott Iuppiter formulierte. Daß der Redner selbst beinahe die Fassung verloren und gegen Ende seiner Rede in seinem echt empfundenen Ärger
WIE ES EIGENTLICH GEWESEN
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wie wild auf der Rednerbühne herumgetobt hatte und mit dem Fuß aufstampfend von einem Ende der rostra zum anderen gelaufen war, konnte er selbst nicht mehr recht begreifen. Er hatte sich offensichtlich selbst überzeugt. Ein Großteil seines Vortrags hatte mit der Sache, um die es eigentlich ging, nichts oder nur kaum etwas zu tun. Das war ihm selbst bewußt. Aber so hatte er es gelernt: Man müsse die Dinge immer ins Grundsätzliche ziehen, in ihrem Kern sei jede Auseinandersetzung auf allgemeine und grundsätzliche Gesichtspunkte zu reduzieren. Wer wollte, konnte das Ablenkung nennen. Aber die Ablenkung war erfolgreich gewesen, und was Erfolg brachte, war in Ordnung. Der nicht enden wollende Applaus umtoste ihn noch immer. Er sah sich um und bemerkte genüßlich die neidvollen Blicke seines Gegners, der vor ihm gesprochen hatte. Dessen Auftritt war wirklich nicht schlecht gewesen. Man kannte sich von klein auf und hatte lange Jahre bei denselben Lehrern zusammen gelernt, aber diesmal konnte nur einer der Bessere sein. Zum Glück waren am heutigen Tag erst kurz vorher die Senatsverhandlungen, die in der nur wenige Meter entfernten curia Hostilia stattgefunden hatten, zu Ende gegangen, so daß viele wichtige Senatoren seine Rede mitbekommen hatten. Eine bessere Werbung in eigener Sache konnte es gar nicht geben. Überhaupt war das Forum am heutigen Tage besonders belebt. Der Bruder des orator hatte dafür gesorgt, daß die Clienten möglichst zahlreich erschienen waren. Da jener sich gerade im Wahlkampf befand, konnte er recht viele mobilisieren. Er wird sich ebensosehr über den gelungenen Auftritt seines Bruders gefreut haben, weil dieser Erfolg auch ihm Bekanntheit und Zuneigung einbrachte. Es war ein besonders guter Tag für die persönliche Karriere des Redners und für die Ambitionen der Familie. Nicht jeder Auftritt verlief so glänzend. Glück und Können gehörten für den erfolgreichen Redner zusammen. Am heutigen Tag hatte er eine Chance erhalten, und er hatte sie nutzen können. Es war ein langer Weg bis hierher gewesen.
Ein kurzes Plädoyer für die historische Phantasie Ist eine solche historische Phantasie zulässig? Kann etwas Ausgedachtes historische Wahrheit wiedergeben? Immerhin scheint die in der Überschrift zitierte, berühmte Wendung Rankes diesen Wahrheitsanspruch zu erheben. Jede Einzelheit dieser Phantasieszene kann mit Quellenstellen belegt werden, die Beschreibung als solche ist jedoch in keiner Quelle zu finden. „Das ist das Paradox der Geschichte: Der Historiker, der forscht, wird zum sprachlichen Schöpfer der Welten, die er erforscht. Wo ist dann Wahrheit?“1 „Es geht in der geschichtlichen Erkenntnis immer um mehr als um das, was in den Quellen steht. Eine Quelle kann vorliegen oder gefunden werden, aber sie
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FRIED 1996, 300.
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kann auch fehlen. … Jede Quelle, genauer gesagt jeder Überrest, den wir erst durch unsere Fragen in eine Quelle verwandeln, verweist uns auf eine Geschichte, die mehr ist oder weniger, jedenfalls etwas anderes als der Überrest selber.“2 Dieses Problem begleitet die Geschichtsschreibung seit ihren Anfängen. Insbesondere für Thukydides stellte es sich bei der Darstellung des tatsächlich Geschehenen einerseits und seiner Wiedergabe der Reden andererseits. In seinem Methodenkapitel bekennt er sich dazu, „nur wie meiner Meinung nach ein jeder in seiner Lage etwa sprechen mußte, so stehen die Reden da, in möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn des in Wirklichkeit Gesagten.“3 Ohne historische Phantasie ist keine Rekonstruktion von Verläufen, Strukturen und Zusammenhängen möglich, erst recht sind überpersönliche Prozesse des Wandels sonst nicht erkennbar. „Nichts macht sich selbst zum Faktum, nichts reimt sich von selbst zusammen; jedes Faktum, alle Geschichte bedarf eines schöpferischen Aktes des Historikers“, hat JOHANNES FRIED formuliert. THEODOR MOMMSEN schrieb scharfzüngig gegen eine Form von Geschichtsschreibung, die nur das konkret Überlieferte sehen will: „Von der Plattheit derjenigen historischen Forschung, welche das was sich nie und nirgend begeben hat, bei Seite lassen zu dürfen meint, schützt den Juristen seine genetisches Verständnis fördernde Wissenschaft.“4 Hier wurde der Versuch unternommen, in der historischen Phantasie einen glanzvollen Redevortrag auf dem römischen Forum vorzustellen. Vielleicht ist dies kühn, aber der Historiker kann und muß wissenschaftlich fragen, ob die Quellen eine solche Rekonstruktion bestätigen. Gerade für die historische Phantasie soll gelten, was FRIED ebenfalls eingefordert hat: „... historische Plausibilität muß sie zähmen, Referentialität sie lenken.“5 „Die Quellen haben ein Vetorecht.“6 „Wir müssen als Historiker einen Schritt weitergehen, wenn wir Geschichte bewußt machen oder Vergangenheit in Erinnerung rufen wollen. Der Schritt über die immanente Quellenexegese hinaus ist um so mehr geboten, wenn sich ein Historiker von der sogenannten Ereignisgeschichte abwendet, um längerfristige Abläufe, Strukturen und Prozesse in den Blick zu bekommen. Ereignisse mögen in schriftlichen Zeugnissen noch unmittelbar greifbar sein, Abläufe, Strukturen von längerer Dauer oder Prozesse sind es nicht, jedenfalls nicht unmittelbar. Und 2 3
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KOSELLECK 1979, 204. Thuk. 1,22: „... æv d' ¨n ™dÒkoun ™moˆ ›kastoi perˆ tîn a„eˆ parÒntwn t¦ dšonta m£list' e„pe‹n, ™comšn‚ Óti ™ggÚtata tÁv xump£shv gnèmhv tîn ¢lhqîv lecqšntwn, oÛtwv e‡rhtai.“ (Übersetzung von LANDMANN) – Der ‚Gesamtsinn’ der politischen Situation wird immer noch möglichst eng und getreu abgebildet, d.h. bei aller Optimierung und evtl. auch historischen Phantasie berichtet Thukydides eine höhere Wahrheit, den exemplarischen Charakter einer Situation. So war es „eigentlich“. Der Kern, das Eigentümliche der historischen Situation ist in seinen Augen erhalten. JOHANNES FRIED in seiner Entgegnung auf die von ALTHOFF verfaßte Rezension zu seinem Buch „Der Weg in die Geschichte“, HZ 260, 1995, 119-130; Zitat S. 120. ALTHOFFs Rezension ibd. 107-117; MOMMSEN 1893, VIIf. FRIED 1995, 120. KOSELLECK 1979, 206.
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wenn ein Historiker davon ausgehen muß, daß ihn die Bedingungen möglicher Ereignisse ebenso interessieren wie die Ereignisse selbst, so ist er genötigt, alle einmaligen Zeugnisse der Vergangenheit zu transzendieren. Denn jedes bildliche oder schriftliche Zeugnis bleibt situationsgebunden, und die Überschußinformation, die es enthalten kann, reicht nie hin, jene geschichtliche Wirklichkeit zu erfassen, die sich quer durch alle Zeugnisse hindurchzieht.“7 In diesem Sinne sollen die nächsten Abschnitte die Referenz für die historische Phantasie darstellen und sie als plausibel erscheinen lassen. Es gilt nach den Bedingungen von Rede in der res publica zu fragen. Was befähigte zur Ansprache an das Volk? Welche individuellen Voraussetzungen waren dazu nötig? Die in dieser Szene entworfene Komposition einer symbolischen Ordnung soll in ihre einzelnen Komponenten zerlegt werden und eine politische Kultur aufscheinen lassen, in welcher die Macht ganz wesentlich auf dem gesprochenen Wort und seinen Trägern beruhte. Im größeren Zusammenhang geht es um die Position und Funktion von Rede, also sowohl um strukturelle und institutionelle als auch mentale Bedingungen von Rede in Rom. Um die Frage noch einmal mit HUIZINGA zu stellen, dessen Zitat doch auch deutlich die Fremdheit des Gegenstandes für den modernen Menschen aufzeigt: Wie war es möglich, daß das gesprochene Wort eine so gewaltige Wirkung ausüben konnte?8
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KOSELLECK 1979, 205. MERGEL 2002, 588 unterstreicht, daß man sich als Historiker mit kulturhistorischem Blick „den Symbolen einer fremden Welt nähert“.
1. DER POLITISCH-INSTITUTIONELLE UND DER SOZIO-KULTURELLE RAHMEN VON REDE IN ROM Der konkrete Gegenstand der Untersuchung bildet einen Schnittpunkt der aktuellen Debatten über den ‚politischen Charakter der römischen Republik‘, die durch die provokanten Interpretationen von FERGUS MILLAR neu entfacht wurden. Seine Bewertung Roms als „direkte Demokratie“ hat eine Diskussion angeregt, die vor allem dazu führte, sich um eine dichte Beschreibung der ‚politischen Kultur‘ der res publica zu bemühen. Das ganze Spektrum von Inhalten und Formen der Interaktion, die Relation der Beteiligten untereinander, die Bedeutung der Orte von Zusammenkünften, das gesamte Instrumentarium und die mentalen Bedingungen von Kommunikation müssen hier berücksichtigt werden. Dazu gehören weiterhin auch allgemein geteilte, nicht weiter hinterfragte Grundüberzeugungen, auf denen die Kommunikation einerseits ruhte und sie zugleich stabilisierte. Die Diskussion ist in den verschiedenen Bereichen schon weit fortgeschritten, wie im Verlauf der Untersuchung ersichtlich wird.1 Da Rede als politisch-kulturelle Praxis im Schnittpunkt der verschiedenen Ebenen dieser Debatte eine zentrale Stellung einnimmt und ihre systematische Untersuchung als Gegenstand sui generis noch aussteht, bietet es sich an, die bisher gewonnenen Erkenntnisse einmal konsequent auf Ciceros Redecorpus, das als einziges aus republikanischer Zeit überliefert ist, anzuwenden und auszuwerten. Die römische Lebenswelt, ein erfolgreicher Redeauftritt, wurde an den Anfang der Arbeit gestellt. Die gewählte Situation ist eine Ansprache an das Volk unter freiem Himmel, der die Bürger Roms beiwohnten, der Senatoren interessiert lauschten und die von den Mitbewerbern und Altersgenossen argwöhnisch beobachtet wurde. Jede dieser Teilgruppen hatte eine unterschiedliche Beziehung zur vorgetragenen Rede, aber jede stand in einer speziellen Beziehung zur Rede, die somit ins Zentrum rückt. Die Gedanken, die dem Modellredner durch den Kopf gehen, kreisen sowohl um die Strategie seines Auftritts als auch um die Perspektiven, die sich aus seinem Erfolg ergeben können: Er konnte sich durch die Qualität seiner Rede von seinen Mitbewerbern absetzen und so in eigener Sache für sich und seine Familie werben. Sein Erfolg zeigte, daß er den Nerv des Publikums getroffen hatte, so daß es ihn mit seiner Zustimmung zum gefeierten Sieger des heutigen Tages machte. Die Nähe zum Tagungsort des Senats verschaffte ihm ein Publikum, das eine wohl-
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Daher sei an dieser Stelle auf eine notwendig umfangreiche Anmerkung verzichtet und die einschlägige Literatur im Verlaufe der Studie suo loco notiert.
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wollende Aufmerksamkeit zeigte, die wiederum der Grundstein für Förderung und Unterstützung schon in naher Zukunft sein könnte. Für eine politische Karriere in Rom war Beredsamkeit unverzichtbar. Sie bildete in einer antiken stadtstaatlichen Kultur das tagtägliche Medium der Kommunikation. Auf ihr beruhte im wesentlichen das Funktionieren des Stadtstaats Rom, und zwar in mindestens zweifacher Hinsicht: Zum einen war die Rede dazu da, die politischen Themen vorzutragen und zur Meinungsbildung und Entscheidungsfindung grundlegend beizutragen. Zum anderen war die Beredsamkeit ein bedeutendes, wenn nicht das wichtigste Mittel zur Stabilisierung und gleichzeitigen Hierarchisierung des populus Romanus insgesamt und der ihn führenden politischen Klasse im besonderen. Denn Redner waren die Mitglieder einer politischen Klasse, die mit Rhetorik über ein wesentliches Herrschaftsinstrument verfügten – sowohl im Hinblick auf ihre Autorität vor dem Volk als auch im Wettstreit untereinander.2 Um die Bedeutung von Beredsamkeit besser einschätzen zu können, muß beschrieben werden, wer sich der Beredsamkeit bediente. Ein bestimmter sozialer Typ führte in Rom nämlich das Wort. Die politische Kultur Roms stellte hohe Anforderungen, um in ihr bestehen und erfolgreich sein zu können, der einzelne mußte viele Qualitäten und Fähigkeiten unter Beweis stellen. Die Rede war in der politischen Kultur Roms tief verwurzelt und unabdingbar. Sie war in ein sozio-politisches Umfeld eingebaut, welches sie genauso prägte, wie sie auch von ihm geprägt wurde und wodurch der spezifische römische politische Diskurs ermöglicht wurde. Dieser Diskurs war erstens in seiner institutionellen Ausgestaltung ritualisiert3 und stets autoritär hierarchisiert, was noch
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HÖLKESKAMP 1995, 22. Zum Ritualbegriff ALTHOFF 1999; HOPKINS 1991; JEHNE 2001, 89f.: Rituale sind wiederholbare und wiederholte Abläufe gemeinschaftlichen Handelns, die nach bestimmten Mustern vollzogen werden. Je nachdem haben Rituale unterschiedliche Tendenzen. Sie können mehr das Trennende und Unterscheidende betonen, sie können aber auch integrativ wirken (JEHNE am Beispiel der Volksversammlungen). Es ist auch möglich, die Rituale als System zu betrachten („a system whose business it was to constitute and reconstitute a Roman sense of identity“; HOPKINS 1991, 484). Rituale beziehen sich auch nicht auf einen einzelnen bestimmten Bereich, sondern auf das familiäre und gesellschaftliche Leben wie auch auf das politisch-gemeinschaftliche und natürlich auch das religiöse Handeln, das man aber nicht als dumpfe Gewohnheit oder unbewußte Regelbefolgung betrachten sollte, sondern als ein Mittel von symbolischer Kommunikation, die durchaus rational und reflektiert eingesetzt werde, (ALTHOFF 1999, 141). Hopkins führt an den drei staatlichen Bereichen der Heeresaushebung, des Zensus und der Volksversammlung die Wirkung von Ritualen vor. Die (Ein)bindungskraft von Ritualen ist nach HOPKINS (1991, 485) kaum zu überschätzen: „Perhaps all states, but particularly pre-industrial states, because of their limited capacitiy to enforce widespread obedience among citizens, depend on rituals to enhance their legitimacy.“ Daher sollte man staatliches Handeln nicht nur als institutionelles und konstitutionelles Handeln begreifen, sondern auch als rituelles Handeln ansehen. – Die Kompliziertheit gerade des römischen Ritus und die dadurch vorausgesetzten Kenntnisse trennen die einzelnen, die am Ritual teilnehmen, in Wissende und Unwissende bzw. wenig Wissende. In diesem Punkt wie auch zum Beispiel durch das äußere Erscheinungsbild (Trachten, Standesabzeichen) oder durch die Ein-
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näher auszuführen sein wird. Die Argumentationsstrategien basierten zweitens vor allem auf der vergemeinschaftenden Erinnerung des populus Romanus. Rede war Teil der römischen Erinnerungskultur und nahm beständig auf sie Bezug, und ebensosehr – wie es an Ciceros Reden konkret vorzuführen sein wird – formte, instrumentalisierte, manipulierte und reproduzierte sie den Erinnerungshaushalt der res publica.
POLITISCHE KULTUR – DIE SPEZIFISCHE KULTUR DER POLITIK Der Begriff der politischen Kultur kann von mehreren Aspekten her eingegrenzt und beschrieben werden. In den kulturwissenschaftlichen Disziplinen wird darunter die „fundamentale Fähigkeit des Menschen zur Symbolerzeugung“ verstanden. Demzufolge umfaßt sie „die Gesamtheit der symbolischen Hervorbringungen“ und spannt dabei den Bogen „von der Sprache über die Institutionen und Alltagspraktiken bis zur Wissenschaft.“ Sie stellt eine methodische Herangehensweise dar, die prinzipiell für alle historischen Gegenstände aufschlußreich sein kann. Damit ist aber auch der Weg des historischen Arbeitens als „Rekonstruktion von Diskursen, Praktiken und Objektivationen, in denen sich die zeitgenössischen Bedeutungsstrukturen greifen lassen, ohne die wiederum die zeitgenössischen Macht- und Herrschaftsstrukturen nicht angemessen zu verstehen sind.“4 Äußere Faktoren wären etwa Handlungsrahmen, institutionelle Bedingungen wie auch Verfahrensregeln. Räume – in Form von Plätzen oder Gebäuden – bilden einen wichtigen Aspekt und stehen für staatliches Handeln in Institutionen sozusagen am Anfang – schlicht deshalb, weil man sich dort zunächst einfindet. Die spezifische Strukturierung und Gestaltung von eigens für die gemeinschaftlichen Handlungen reservierten Plätzen sind mithin im selben Maße charakteristi-
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teilung in Handelnde und Zuschauende werden bei Ritualen Unterschiede erkennbar inszeniert, und durch die Wiederholung werden solche Unterschiede und die daraus resultierenden Hierarchien eingeschärft und akzeptiert. Vgl. SCHLÖGL 2004, 24 Anm. 47 und auch die Definition von ANDREAS BENDLIN, DNP 10, 2001, 1024 s.v. Ritual: „Der Begriff Ritual bezeichnet die komplexe Handlungssequenz einzelner, in einem logischen Funktionszusammenhang und nach einer festgelegten Ritual-Syntax miteinander verbundener Riten. Rituale finden sich nicht nur in religiösen, sondern auch in anderen gesellschaftlichen – politischen wie sozialen – Kontexten. Die Bedeutung von Ritualen für die Teilnehmer läßt sich weder auf eine integrative (Legitimations-Ritual) noch auf eine die normale Ordnung temporär außer Kraft setzende Funktion – dies die beiden Extrempositionen der Ritual-Forschung – reduzieren; die enorme Funktionsbreite von Ritualen muß im historischen Einzelfall vielmehr auf ihren performativen Gehalt hin kontextualisiert und mit den die rituelle Handlung begleitenden kognitiven und emotionalen Aspekten, die R. bei den Teilnehmern hervorrufen, abgeglichen werden.“ Zitate aus STOLLBERG-RILINGER 2005, 10–13; siehe passim mit weiterer Literatur. Zur politischen Kulturforschung siehe die Überblicke von MERGEL 2002 passim, bes. 583ff.; LANDWEHR 2003; HÖLKESKAMP 2004, 57ff.; ROHE 1990.
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sche Bestandteile einer politischen Kultur. Dies deutet auf einen Politikbegriff hin, der Politik als ein soziales Geschehen versteht.5 In den reservierten Räumen werden Entscheidungen herbeigeführt, die für eine Gemeinschaft allgemeine Verbindlichkeit beanspruchen. Ein Kollektiv wird hier zur politisch handelnden Gemeinschaft und zugleich auch zum Gegenstand politischen Handelns. Zur Ausdrucksseite der politischen Kultur gehören aber auch die Auftritte von Führungspersönlichkeiten auf diesen Plätzen, die von einem bestimmten Habitus geprägt sind, und zwar vom Eintreffen bis zum Ende: Welche Faktoren prägten die Kommunikationssituationen zwischen einem einzelnen, der im Mittelpunkt stand, und den anderen Umstehenden, um es einmal ganz simpel zu formulieren? Den inneren Faktoren spürt die Frage nach, was die unverzichtbaren Grundlagen für das Hauptgeschehen bildete; also könnte man die Suche nach den inneren Bedingungen politischen Handelns mit Begriffen wie „Weltbildern“, „Wertvorstellungen“, „Wahrnehmungsweisen“, „Verhaltensmustern“ und dem „Selbstbild“ schlagwortartig umreißen. Mit anderen Worten geht es um die a priori vorhandene „Ebene der kollektiven ethischen und kognitiven Dispositionen“ einer Gemeinschaft.6 Die Beschreibung einer politischen Kultur darf also diese verschiedenen institutionellen Verfahren und Ebenen sowie die Medien der Kommunikation nicht nur separat berücksichtigen. Über die Beschreibung hinaus muß man den Versuch unternehmen, diese Ebenen in ihrer gegenseitigen Verschränkung zu sehen und einen Eindruck davon zu gewinnen, wie sie aufeinander wirkten. Denn in ihren stets anzutreffenden Kombinationen bestätigten die verschiedenen Elemente und Medien die politische und soziale Ordnung und bereiteten so die Grundlage für ihre gegenseitige Lesbarkeit.7 Politische Kulturforschung nimmt „das politische Bewußtsein oder die durch die Geschichte geprägten und in ihr gewachsenen Traditionen und Besonderheiten des politischen Denkens und Verhaltens“8 einer Gemeinschaft und ihrer Identität in den Blick. Denn gerade die tief eingerasteten Grundüberzeugungen und selbstverständlichen Praktiken gemeinschaftlichen Handelns bilden vielfach die Referenzebene für die Entscheidungen in der tagtäglichen politischen Auseinandersetzung. Politische Kultur ist somit etwas Gewachsenes, sie beruht auf Tradition, Ritualisierung, Wiedererkenn- und Wiederholbarkeit, die Stabilität und Legitimität politischer Entscheidungsfindung garantieren. Politische Kommunikation ist verfahrenstechnisch geordnet und habituell verfestigt.9 Durch die Erwartbarkeit und Berechenbarkeit von politischen Handlungen werden die Positionen der unterschiedlichen partizipierenden Gruppen einer politischen Gemeinschaft bestätigt. Politische Kultur stiftet Ordnung und setzt sie
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In Abgrenzung vom Weberschen Begriff mit seiner Konzentration auf gewaltgestütztes Handeln, SCHLÖGL 2004, 21; LANDWEHR 2004, 96,104f.; MERGEL 2002, 605. HÖLKESKAMP 2000, 223, und 2003, 84f.; 2004, 57ff., bes. 58; REICHARDT 1998. SCHLÖGL 2004, 53; vgl. STOLLBERG-RILINGER 2005, 16; SUMI 2005, 7ff. SONTHEIMER, 1991, 10. Zur Theorie der „politischen Kultur“ ROHE 1990; LIPP 1996; HÖLKESKAMP 2004 und jetzt STOLLBERG-RILINGER 2005. SCHLÖGL 2004, 24.
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gleichsam auch voraus. Sie legt die Relationen der einzelnen Teilgruppen untereinander fest, weist diesen ihre jeweilige Funktion zu und verleiht einer politischen Ordnung dahingehend ‚Sinn‘, daß sie stabil funktionieren kann. Sie bietet einen Rahmen, in dem eine politische Gemeinschaft sich verständigen und Entscheidungen treffen kann,10 was nicht bedeutet, daß eine funktionierende politische Kultur Konfliktfreiheit oder etwa hundertprozentige Harmonie herstellt. Der Begriff der Tradition deutet auf einen – gerade für Rom – weiteren wichtigen Aspekt: Eine politische Kultur ist über einen längeren Zeitraum entstanden, sie besteht auf der Ausdrucksseite aus regelmäßigen Praktiken und stellt ein in seinen Abläufen selbstverständliches und bewußtes Verfahren politischer Entscheidungsfindung dar. Die soziale Stratifizierung und die zeichenhafte, sich in Gesten und Ritualen abspielende Kommunikation zwischen verschiedenen Schichten sind das Ergebnis der historischen Entwicklung einer politischen Kultur.11 Im Falle Roms ist die Frage nach Status und Gewicht von Geschichte untrennbar damit verbunden. Die Gedächtnis- oder auch Erinnerungskultur war ein sehr wichtiger Bestandteil der politischen Kultur Roms. Historische Ereignisse und Personen wurden als Maßstab und Korrektiv herangezogen. So halfen Geschichte und Geschichten einer jeweiligen Gegenwart, die eigene Identität zu bilden.12 Die Römer zitierten vielfach die mores maiorum: Die Vorfahren waren Vorbilder in familiären, rechtlichen, staatspolitischen und religiösen Angelegenheiten. Der mos maiorum war – eine gleichsam lapidare wie auch altbekannte Aussage – im politischen Diskurs der späten Republik allgegenwärtig.
VERSAMMLUNGS- UND REDEPRAXIS Rede als Mittel der alltäglichen, politischen Kommunikation Mit den institutionellen Versammlungen, in denen Rede im Mittelpunkt stand, soll zunächst einer der äußeren Faktoren einer politischen Kultur untersucht werden. Im Stadtstaat Rom war es unverzichtbar, bei einem Entscheidungsprozeß in Angelegenheiten der res publica die cives Romani einzubeziehen. Die größte Breitenwirkung konnte nur die Rede erzielen. Durch sie präsentierte sich die politische Klasse nach außen, sie stellte ihre Überlegungen bei der Lenkung des Staates dar. Dies geschah nicht nur wenige Male im Jahr, sondern mehr oder weniger täglich.
10 STOLLBERG-RILINGER 2005, 14. 11 Vgl. DANIEL 2001, 190f. (über Bourdieu). 12 GEHRKE 1996, 384: „Der Blick auf die Vergangenheitsvorstellungen einer Gemeinschaft war zugleich ein Blick auf diese selbst und ihr Selbstverständnis – und vice versa.“ STEMMLER 2000, 166: „Die exempla stiften die kollektive Identität eines erfolgreichen populus.“
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Gerade über das Medium der Rede mußten die Angehörigen der politischen Klasse den populus Romanus ansprechen und um Zustimmung werben.13 Schon die Performanz politischer Kommunikation ist für die politische Kultur Roms charakteristisch. Das Verfahren war zu großen Teilen eine Inszenierung von Überlegenheit und sozialer Macht der politischen Klasse. Es stellte immer die „Aufführung einer Ordnung und ihre gleichzeitige Interpretation“ dar.14 Die Bedeutung von Rede als dem alltäglichen Mittel der politischen Kommunikation wird noch stärker betont durch die Abwesenheit einer publizistischen Öffentlichkeit. Briefe, Pamphlete, Broschüren, edierte Redetexte, Zensur – alle diese Dinge rücken nach Erkenntnis der neueren Forschung in den Hintergrund, sie erzielten praktisch keine bedeutsame Wirkung. Schriftliche Debatte gab es in einem vielleicht kleinen Kreis, doch war sie aufs Ganze gesehen für die ‚Öffentlichkeit‘ nicht nennenswert.15 Rede, also das öffentlich gesprochene Wort, hatte somit als das Mittel des politischen Diskurses einen sehr starken kommunikativen und vermittelnden ‚Sitz im Leben‘ der politischen Kultur der römischen Republik. Dies gilt sowohl für die Debatte innerhalb der politischen Klasse im Senat wie auch vor allem für den Kontakt zwischen senatorischem Adel und dem übrigen populus Romanus. In politicis über die Angelegenheiten des Gemeinwesens zu verhandeln, bedeutete immer zu sprechen (seitens der führenden Schicht) und zuzuhören (seitens der cives Romani). Reden wurden nicht nur gehört, sondern auch weitererzählt, dann
13 Allerdings wurde die aktive politische Partizipation der einfachen römischen Bürger nie gefördert. Politische Praxis war ein Monopol der politischen Klasse. Siehe HÖLKESKAMP 2004, 78ff.; LASER 1997, 181; PINA POLO 1996, 10; NORTH 1990, 15. MEIER 1980a, 47 mit seiner ‚klassischen‘ Definition: „Wer Politik trieb, gehörte zum Adel, und wer zum Adel gehörte, trieb Politik.“ Die Alltäglichkeit der Kommunikation hebt ebenfalls MORSTEIN-MARX 2004 hervor. 14 SCHLÖGL 2004, 48. 15 Zum Begriff ‚Öffentlichkeit‘ s.u. 88f.; EICH 2000 passim. Eich gibt einen guten Eindruck davon, was es überhaupt heißt, wenn Cicero über die editio eines Buches spricht. Nur wenige Leute kannten das neue Werk und konnten es in Händen halten, von einem großen Umlauf könne keine Rede sein. Ibd.: 143: Die politische Bedeutung einer lesenden „Öffentlichkeit“ wird in den Quellen in keiner Form sichtbar. 162: Die Rezeption seiner Ideen scheint Cicero nicht interessiert zu haben. 166: Texte haben keine intellektuelle Präsenz über längere Zeiträume. 168: Adressat publizierter Reden ist die Jugend, die den cursus honorum noch vor sich hat. 268: Debattierendes Lese-„Publikum“ existierte als „Strukturelement“ in der römischen Gesellschaft nicht. Vgl. zur Edition eines Buches in Rom jetzt auch HEIL 2003, 8 mit Anm.14 und zu den literarischen Kommunikationsräumen ibd. passim. Eigene Werke wurden in wenigen Exemplaren an Freunde weitergegeben oder eben auch anläßlich von convivia vorgetragen, siehe Nep. Att. 14,1: „Nemo in convivio eius aliud acroama audivit quam anagnosten, quod nos quidem iucundissimum arbitramur; neque umquam sine aliqua lectione apud eum cenatum est, ut non minus animo quam ventre convivae delectarentur.“ / „Bei seinen [Atticus’, F.B.] Galabanketten gab es als Ohrenschmaus ausschließlich Lektürevorträge, in meinen Augen die angenehmste Unterhaltung. Auch fand bei ihm kein Abendessen statt ohne irgendeine Lesung, so daß Geist und Magen der Gäste gleichermaßen erfreut wurden.“ (Übersetzung nach KRAFFT / OLEF-KRAFFT).
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oft natürlich auch auf markante, memorierbare Dicta reduziert, wie Ciceros Briefe an Atticus zeigen. Aber die Eloquenz ist nicht auf die zusammenhängende Ansprache an eine Versammlung allein beschränkt. Der Redner mußte schlagfertig sein können, Rede war auch eine Waffe im innenpolitischen und damit auch inneraristokratischen Konflikt. Die Selbstbehauptung an Ort und Stelle und zwar persönlich, nicht durch eine Vertretung, war gefordert, wenn man in der Volksversammlung, im Senat oder vor Gericht auf Einwürfe oder Angriffe reagieren mußte.16 Der ‚Sozialtyp‘ eines römischen Adligen war auf Beredsamkeit angewiesen, um die verschiedenen Rollen, die er insgesamt ausfüllen mußte, bewältigen zu können. Eloquenz und die für sie geforderte Bildung benötigte der Nobilis als Anwalt, als Diplomat, als ratgebender Patron. Die Fähigkeit zur Rede hob ihn von anderen ab, sie war ein distinguierendes Merkmal, und die Belohnung der Beredsamkeit war der höhere soziale Rang. Rede bildete also ein Herrschaftsmittel.17 Sie mußte dabei dauernd zur Verfügung stehen, für andere erreichbar sein. Der soziale Vorrang und die damit verbundene Überlegenheit mußten durch permanente Interaktion aufrecht erhalten werden.
DER VERSAMMELTE POPULUS ROMANUS – TYPEN VON RÖMISCHEN VOLKSVERSAMMLUNGEN Im Gegensatz zu Athen unterscheidet man in Rom verschiedene Typen der Volksversammlung. Die einfachste Unterteilung trennt zunächst einmal in beschließende (comitia, concilium) und in nicht beschließende Versammlungen (contiones). Es gab verschiedene Typen der beschließenden Versammlung, die jeweils auch verschiedene Zuständigkeiten hatten und deren Abstimmungsverfahren jeweils unterschiedlich war. Darauf wird zurückzukommen sein. Zuerst sollen aber die Gemeinsamkeiten der verschiedenen römischen Versammlungstypen dargestellt werden. 16 Tac. dial. 36,7; SCHOTTLAENDER 1967, 128; FANTHAM 1997, 112ff.; BLÄNSDORF 2001, 212f. mit dem berühmten Beispiel der altercatio zwischen Cicero und Clodius, in welcher Cicero in der Senatsverhandlung an den Iden des Mai 59 v. Chr. den Sieg davontrug: Cic. Att. 1,16,9f. Zur altercatio MOMMSEN, Staatsrecht 3, 947 Anm. 8: Sie kam häufiger in den Verhandlungen vor der Bürgerschaft vor als im Senat. 17 Tac. dial. 37,1: „Ergo non minus rubore quam praemiis stimulabantur, ne clientulorum loco potius quam patronorum numerarentur, ne traditae a maioribus necessitudines ad alios transirent, ne tamquam inertes et non suffecturi honoribus aut non impetrarent aut impetratos male tuerentur.“ / „Also wurden sie von ihrem Ehrgefühl nicht weniger angespornt als durch Belohnungen, daß sie weniger den Klienten als den Patronen zugezählt würden; daß die ihnen von den Vorfahren überkommenen Verbindungen nicht auf andere übergingen; daß sie nicht als wären sie träge oder für Ämter ungenügend, solche gar nicht erst erreichten oder die erreichten schlecht versähen.“ (Übersetzung GUGEL/KLOSE).
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Die Übermacht des Versammlungsleiters – eine Gemeinsamkeit aller Versammlungen Man muß zunächst betonen, daß nur Magistrate Versammlungen – contiones wie comitia – des populus Romanus einberufen konnten. Sie konnten dann aber wiederum andere Politiker einladen und ihnen Rederecht erteilen.18 Stets war eine starke Stellung des Versammlungsleiters gegeben. Jede Versammlung stand ausschließlich unter der Leitung des Magistraten, der sie einberufen hatte. Es war immer ein Sprechen von oben herab, zu jeder Zeit wurde die Hierarchie visuell umgesetzt. Auf den Redner richteten sich alle Blicke, da er erhöht – am Comitium bzw. Forum – auf den rostra stand.19 Er allein entschied über die Tagesordnung, er erteilte das Wort an andere Redner, beispielsweise an Kandidaten (dies geschah bei Wahlabstimmungen wohl nur selten20), Antragsteller oder Berichterstatter. Der Versammlungsleiter hatte die Kontrolle über die Reihenfolge und Redezeit. Außerdem wurden in einer contio wie in den beschließenden comitia nie zwei rogationes besprochen oder gar als Alternativen zur Wahl gestellt21 – der Versammlungsleiter hatte am Ende die Sicherheit: entweder sein Antrag oder kein Antrag. Das Schlußwort stand ihm ohnehin zu. Eventuell erhielten auch privati das Wort, aber auch dabei konnte der Magistrat deutliche Signale einer Hierarchie geben. Wenn er wollte, konnte er einem privatus zwar das Wort erteilen, diesem aber zugleich verweigern, nach oben auf die Rednerbühne vorzutreten, so daß er statt dessen von einer der unteren Stufen („ex inferiore loco“) der rostra sprechen mußte. Eine solche Demütigung hatte der Praetor Caesar dem ehrwürdigen Nobilis Q. Lutatius Catulus zugefügt.22 Das moderne Verständnis des Begriffs ‚Privatperson‘ führt schnell zu der falschen Vorstellung und Einschätzung, jeder römische Bürger hätte auf sein Ver18 HEIL 2003, 35; THOMMEN 1989, 173f. Vgl. zur „Kommunikation unter Anwesenden“ SCHLÖGL 2004, 29. 19 BELL 1997, passim; LASER 1997, 187. HEIL 2003, 29, formuliert eine interessante Beobachtung. Im Theater war diese Anordnung von Darbietenden und Rezipienten genau umgekehrt. Die Zuschauer sahen herab. Es ist bezeichnend, daß Cicero, als er in seinem Consulatsjahr eine Empörung über bzw. gegen den Praetor Otho bewältigen wollte, die Menge außerhalb des Theaters vor dem Tempel der Bellona zu einer contio einberief und überzeugend im Sinne des Otho sprach, aber in der üblichen Anordnung von oben nach unten. Das Theater sei kein Raum, in dem eine offizielle Interaktion zwischen einem römischen Magistrat und dem Volk stattfinden könne; vgl. Plut. Cic. 13. 20 Während der Kandidatur nutzte man natürlich jede sich bietende Gelegenheit, mit den bzw. zu den cives Romani zu sprechen: „… the voting day was the culmination of prolonged electioneering.“, HOPKINS 1991, 493. 21 FLAIG 1995b, 95; 2003, 197. Allerdings war es möglich, auf den bejubelten Modifizierungsvorschlag eines anerkannten und beliebten Nobilis einzugehen. Beispiel Att. 1,19,4 (März 60 v. Chr.): Der Consular Cicero versuchte mit Zustimmung der Volksversammlung („voluntate contionis“) alle nachteiligen Regelungen für Privatleute aus dem flavischen Ackergesetzantrag zu entfernen. 22 Cic. Att. 2,24,3; Suet. Iul. 15; Dio 37,44,6. S. MORSTEIN-MARX 2004, 163 (Redezeit); 51 (Catulus).
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langen hin sprechen können. Die hauptsächliche Bedeutung von privatus besagt, daß jemand ‚(zur Zeit) ohne Staatsamt‘ war. Als privati scheinen ebenfalls vor allem Angehörige der politischen Klasse das Wort an die Bürger gerichtet zu haben.23 Die cives Romani hörten zu. Auch wenn die Beratungs- und Entscheidungsgegenstände der Volksversammlungen sehr weit reichten, konnte der populus Romanus nicht auf seinen Wunsch hin befragt werden. Denn die cives Romani wurden versammelt, ein Initiativrecht der Bürger für spontane Versammlungen gab es nicht. Die starke Position des einberufenden Magistraten galt allerdings auch für den Senat, der sich ebenfalls nicht selbst einberufen konnte. Auf der anderen Seite gab es keine Verpflichtung der Einberufenen zu den Versammlungen von Volk bzw. Senat zu erscheinen. Wer an einer Entscheidung bzw. Debatte teilnehmen wollte, mußte kommen; wer bei einer Abstimmung nicht dagewesen war, mußte eine getroffene Entscheidung hinnehmen. Das autoritäre Gefälle galt – was die Form angeht – sowohl für die beschließenden Versammlungen (comitia) wie auch für die contiones.24 Selbst wenn ein Volkstribun eine contio einberief und leitete, fand sie grundsätzlich unter denselben hierarchischen Bedingungen statt wie alle anderen Versammlungen. Der Volkstribun, von dem jeder Plebejer auxilium erbitten konnte, der in der Lage, magistratisches Handeln durch intercessio aufgrund seiner sacrosanctitas zu verhindern, agierte vor seinen sonst Schutzbefohlenen wie jeder andere Magistrat. Die tribunizischen contiones hatten keinen besonderen demokratischen oder egalitären Charakter.25 Und dies wurde offensichtlich von den cives Romani weder erwartet noch gar eingefordert. Die Rollenverteilung in dieser Konsensgesellschaft war klar: Der Magistrat, dazu zählten ebenfalls die Volkstribunen, leitete die Versammlung mit seiner überragenden Position. Er bestimmte, wer wann worüber wie lange reden durfte. Aber die Zuschauer brachten durch ihre Reaktionen ihre Meinung zum Ausdruck.
23 Siehe hierzu MOMMSEN, Staatsrecht 1, 200f.; HÖLKESKAMP 1995, 29; 34f.; THOMMEN 1989, 172. – Die von Livius (42,34,1–35,2) breit dargestellte contio zum Jahre 171 v. Chr., in der der privatus Sp. Ligustinus zum Volk spricht, zeichnet kein Bild eines mit Selbstbewußtsein und Selbstverständlichkeit das Wort ergreifenden römischen privatus. Er bittet um das Wort, erhält es und wird abschließend noch einmal von der Versammlungsleitung belobigt. Durch den Abriß seiner Lebensgeschichte gibt Ligustinus zugleich eine Rechtfertigung für seine Ansprache. Er ist ein älterer, erprobter und treuer Bürger und Soldat der res publica, der eine große Familie gegründet und ernährt hat und sozusagen als ein idealer civis Romanus zu den anderen spricht. 24 Vgl. THOMMEN 1989, 175f. 25 MEIER 1980a, 52: „Bereitwilligkeit des Volkes …, sich mit Selbstverständlichkeit in die aristokratisch geprägte Ordnung zu fügen.“ Vgl. jetzt auch MORSTEIN-MARX, besonders seine „Conclusion“, 280f. (paternalistische Grundstrukturen); 287.
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Dies alles deutet auf eine klare Zweiteilung hin: eine handelnde, regierende Seite und eine zuschauende, passive, ihr ergebene, gehorchende Seite. Praktisch alles im Prozedere und bei der Performanz von Rede weist darauf hin, daß ein hierarchisches Gefälle zwischen Redner(n) und Zuhörern bestand. Hierarchie und Autorität wurden inszeniert und dadurch permanent reproduziert. Der Magistrat war aber darauf angewiesen, beständig die Zustimmung der Bürger einzuholen und in den comitia einen Konsens mit ihnen zu finden. Er mußte zu einem nicht unbeträchtlichen Teil Überzeugungsarbeit leisten. Dies betraf sämtliche Bereiche der res publica.26 Der Wille des Volkes war keine zu vernachlässigende Größe in Rom: „So passiv das Volk war, ragt es dennoch in die Entscheidungsprozesse hinein“, formulierte JOCHEN BLEICKEN.27 Doch vor dem Konsens in den comitia steht die alltägliche Interaktion der politischen Klasse mit dem populus Romanus in den contiones. „Verba facere ad populum“ – tägliche Kommunikation in contiones Contiones (< co(nve)ntio) waren Zusammenkünfte der Bürger ohne eine bestimmte Gliederung und die Art von Versammlung, die am häufigsten durchgeführt wurde. Weil sie keine offizielle Entscheidung herbeiführten, treten contiones vielleicht allzu schnell in den Hintergrund – von der Forschung wurden sie lange Zeit stiefmütterlich behandelt.28 Allerdings boten gerade contiones Ort und Gelegenheit für Debatten über alle Angelegenheiten, die in die Mitte des Gemeinwesens geholt wurden.29 Innerhalb der drei Marktwochen, also der Frist – beginnend mit der promulgatio – vor Abstimmungen in den comitia, wurde in den contiones über eine Sache gestritten, für sie geworben bzw. gegen sie gesprochen30 – und dies alles vollzog sich ebenfalls im politischen Zentrum Roms, auf dem Forum Romanum, vor den Augen und Ohren der Bürger Roms. Traten hier doch Politiker jeden Alters und Ranges in sämtlichen Angelegenheiten der res publica vor das Volk, um die Öffentlichkeit von ihren politischen Standpunkten zu überzeugen.
26 Vgl. HÖLKESKAMP 1995, 29; LASER 1997, 186. 27 BLEICKEN 1995, 214, vgl. 130. LASER 1997, 171, sieht das Hauptziel der Redner im emotionalen Affekt, der weitere Beweise unnötig mache. S. MEIER 1980a, 29f. zur engen Verbindung zwischen Senatsaristokratie und „allen Angelegenheiten der Bürger“. 28 FLAIG 2003, 194; MORSTEIN-MARX 2004, 34ff. 29 HÖLKESKAMP 1995, 33–41 und passim; LASER 1997, 138ff.; PINA POLO 1996, 6;14. Vgl. FLAIG 1995b, passim; THOMMEN 1989, 171ff.; HEIL 2003, 34f.; Cicero (Brut. 303f.) berichtet, daß er als 15/16jähriger täglich die Reden hörte, die die Magistrate in Versammlungen hielten („Reliqui [sc. oratores], qui tum principes numerabantur, in magistratibus erant cotidieque fere a nobis in contionibus audiebantur.“) Publius Sulpicius habe während seines Tribunatsjahres (88 v. Chr.) praktisch täglich zum populus gesprochen, so daß Cicero seinen Stil präzise kennenlernte („Tum P. Sulpici in tibunatu cotidie contionantis totum genus dicendi cognovimus.“; Brut. 306). 30 MORSTEIN-MARX 2004, 8.
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Man konnte seine Beredsamkeit unter Beweis stellen, präsent sein, also im wahrsten Sinne des Wortes nobilis, „bekannt“ werden.31 Nach den Worten des Gellius durfte man in der contio „Worte an das Volk richten“ („verba facere ad populum“).32 Nicht besonders viele Beispiele im überlieferten ciceronischen Corpus sind contio-Reden,33 einige weitere Beispiele sind in der historiographischen Literatur zu finden.34 Die Überlieferung darf jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, daß gerade diese ungegliederte, ohne Rücksicht auf Fristen anzusetzende, nicht mit einem umständlichen religiösen Prozedere eingehegte35 und somit insgesamt praktikablere Form der Versammlung alltäglich war und den Begriff der face to face-society am ehesten mit Inhalt füllte.36 Der Versammlungsleiter konnte sich des Rückhalts prominenter Politiker versichern, indem er sie einlud, auf seiner contio zu sprechen. Auf diese Weise präsentierte jemand (in) der Öffentlichkeit seine guten Beziehungen, ganz zu schweigen davon, daß ein solches Aufgebot auf den rostra auf die Zuhörerschaft, die „einen großen Respekt vor Senat und Magistraten“ hegte, ohnehin einen enormen Eindruck machte.37 Über die Bemühungen um Ciceros Rückberufung aus dem Exil sind einige Details bekannt, die diese akkumulierte Autorität illustrieren. Der heimgekehrte Cicero sprach in seiner Dankesrede ans Volk von den Auftritten des Pompeius, rief sogar den Aufbau von dessen Reden in Erinnerung und schilderte dann auch, wie Mitglieder der Politprominenz das Ansinnen des Pompeius unterstützten.38
31 PINA POLO 1996, 14. – Vgl. SCHLÖGL 2004, 46 zur Stadt der frühen Neuzeit: „Die politische und soziale Ordnung der spätmittelalterlichen und frühneuzeitlichen Stadt war auf Sichtbarkeit angelegt.“ 32 Gell. 13,16; vgl. LASER 1997, 138. Es bleibt festzuhalten, daß nur Magistrate mit dem Recht des cum populo bzw. plebe agendi die contiones veranstalten durften, in denen sie dann natürlich Rederecht verliehen; siehe MEYER, 1975, 190. Die contio, in der Cicero dem populus die angeblich erfolgte hostis-Erklärung gegen Antonius mitteilte (vierte Philippica), war von dem anwesenden Volkstribunen M. Servilius einberufen worden (Cic. Phil. 4,16), der gerade erst zehn Tage im Amt war. Vgl. BROUGHTON MRR 2, 340. 33 Manil.; leg. agr. II, Rab., Cat. II und III, Red. ad Quir.; Phil. IV und VI. Vgl. zu weiteren verlorenen contio-Reden FANTHAM 2000, 110f. 34 Siehe die Anhänge bei PINA POLO 1989, 244–361, der alle überlieferten contiones der römischen Geschichte aufführt. 35 Nur ein Gebet leitete sie ein – „wenigstens in älterer Zeit“, s. MOMMSEN, Staatsrecht 1, 199; MEYER, 1975, 191. 36 LASER 1997, 38 mit Anm. 143 (mit der pointierten Feststellung, Rom sei in der späten Republik längst keine face to face-society mehr gewesen); vgl. hierzu aber CORNELL 1991. Zur contio HÖLKESKAMP 1995, 16ff.; 26ff.; PINA POLO 1996; BELL 1997, 1ff.; LASER 1997, 138ff.; MOURITSEN 2001, 38ff. und passim, BLEICKEN 1995, 127, 212f.; MORSTEIN-MARX 2004 passim; MOMMSEN, Staatsrecht 3, 389ff. 37 FLAIG 2003, 196f.; s. auch YAKOBSON 1999, 190. 38 Cic. p. red. ad Quir. 16ff. (Auszüge aus der Übersetzung von FUHRMANN): „So haben für mich, der ich keine Angehörigen hatte und mich nicht auf Verwandte stützen konnte, die Konsuln, Praetoren und Volkstribunen, der Senat und ganz Italien immer wieder Fürbitte bei
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Die Redner standen zwar physisch über dem populus, wodurch Superiorität visuell umgesetzt wurde, aber untereinander befanden sie sich in Rivalität und Konkurrenz, was sich nicht nur in Redeauftritten auf verschiedenen contiones niederschlug, sondern sich auch in geradezu Duellcharakter aufweisenden Konfrontationen entladen konnte. Denn der einberufende Magistrat hatte die Möglichkeit, einen Gegner ein- bzw. vorzuladen („in contionem producere“)39 um ihn zu bestimmten Aussagen zu bewegen und im besten Falle durch eine geschickt gewählte Strategie seinen Widerstand bzw. Widerspruch coram publico zu brechen. Üblicherweise erschien der Vorgeladene auch zu derartigen Befragungen, hätte er doch sonst im Ruf gestanden, Fersengeld gezahlt zu haben. Argumente für und wider eine rogatio standen sich in der öffentlich geführten Debatte also zuletzt doch gegenüber – entweder direkt oder bei Verteilung auf mehrere Contionen mit einer gewissen zeitlichen und räumlichen Distanz. Im Kern handelt es sich um einen Streit innerhalb der politischen Klasse. Dieser Streit wurde jedoch gerade nicht intern, sondern öffentlich – mit Worten und Gesten – vor den Augen und Ohren der cives Romani ausgetragen, die darauf reagierten.40 Rivalität konnte andererseits auch ausgetragen werden, wenn sich die herrschende Klasse zwar einig, aber die Zustimmung des populus Romanus nur schwer erreichbar war. Wer in einer solch verfahrenen Situation die schwere Aufgabe meisterte, mit seinem Auftritt das Ruder herumzureißen und die Zustimmung der Bürger zu erhalten, war den Standesgenossen offensichtlich an auctoritas überlegen.41 Der Aspekt der Hierarchisierung galt somit nicht nur zwischen senatorischem Redner und seinem Publikum, auch innerhalb der politischen Klasse ist das Recht zur Rede ein Signal für überlegene Autorität und ein Markenzeichen des sozialen Status innerhalb der politisch den ‚Ton‘ angebenden Gruppe.42
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euch eingelegt. ... An der Spitze derer, die euch anriefen und baten, stand Cn. Pompeius, der durch seine Tatkraft, seine Weisheit und seinen Ruhm über alle Menschen der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft hinausragt. … Ihr habt ja zur gleichen Zeit und am gleichen Ort vernommen, wie bedeutende Männer, hervorragende und hochangesehene Persönlichkeiten, die Häupter unsrer Bürgerschaft, wie alle ehemaligen Konsuln und ehemaligen Praetoren dasselbe sagten.“ MORSTEIN-MARX 2004, 40 zum ‚in contionem producere‘. Vgl. auch u. S. 95. BLEICKEN 1995, 130ff., 214; JEHNE 2001, 91f.; LASER 1997, 138–142 (Bezug auf Reaktionen in contiones); FLAIG 2003, 193ff.; MEIER 1980a, 191f. Siehe auch unten den Abschnitt „Wettbewerb und Hierarchie“ S. 81ff. MORSTEIN-MARX 2004, 122ff. und passim, sieht keine ‚Debattenkultur‘ in der römischen Republik. Den Nobiles sei es nicht darum gegangen, dem populus alternative Politikentwürfe vorzustellen. In seinen Augen sind Meinungsverschiedenheiten in erster Linie dem Umstand geschuldet, daß Politiker hofften, größere Anhängerschaften gewinnen zu können, indem sie sich an die Spitze eines von ihnen selbst konstruierten Volkswillens setzten. Vgl. FLAIG 2003, 195ff. Siehe zur Illustration Cic. Lael. 96. JEHNE 2000, 180; BLEICKEN 1995, 89f.
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Tatsächlich entschied sich in den contiones, ob über ein Thema überhaupt noch in den comitia tributa bzw. im concilium plebis oder in den comitia centuriata abgestimmt wurde.43 Die cives Romani hörten auch in den contiones nur zu – es gab keine Wortmeldungen oder -beiträge aus dem Auditorium –, aber sie konnten ihre Meinung zum Ausdruck bringen: Zustimmung und Ablehnung waren nämlich durch Reaktionen des Publikums lesbar und meßbar. ‚Mitreden‘ der cives geschah durch Raunen, Zwischenrufe, durch Beifall, Ausbuhen oder Fortgehen,44 so daß in Contionen die Tendenzen vor einer Abstimmung zu ermitteln waren. Der Ort der Entscheidung war also oft nicht eine formelle Versammlung, sondern ‚entscheidend‘ waren die vorher stattfindenden contiones, in denen Politiker zum Volk sprachen und für ihre Ansichten warben. Hier konnte man einen sicheren Eindruck gewinnen, ob eine rogatio Chancen hatte. Daher sind nur sehr wenige Fälle überliefert, in denen ein Antrag bei einer Abstimmung scheiterte. Daraus wird ersichtlich, daß Verweigerung von Zustimmung für die Bürger Roms in den contiones viel leichter artikulierbar war als in den regulären Versammlungen und in der politischen Praxis als der ‚Normalfall‘ anzunehmen ist. Vor diesem Hintergrund relativiert sich auch die oben skizzierte sehr starke hierarchische Übermacht des Versammlungsleiters etwas. Neben dem politischen Wettbewerb bzw. sogar Kampf stellte die contio auch das Verfahren für die alltägliche Kommunikation mit dem populus Romanus dar und fungierte somit ebenfalls als Informationskanal der politischen Klasse zu den Bürgern: Man berichtete, was kurz zuvor im Senat besprochen bzw. entschieden
43 FLAIG 2003, 193ff.; DÖBLER 1999, 200f. 44 Cic. Brut. 192; vgl. auch Cic. Sest. 105: „Itaque temporibus illis, qui populares erant, offendebant illi quidem apud gravis et honestos homines, sed populi iudiciis atque omni significatione florebant. His in theatro plaudebatur, hi suffragiis quod contenderant consequebantur, horum homines nomen, orationem, vultum, incessum amabant. Qui autem adversabantur ei generi, graves et magni homines habebantur; sed valebant in senatu multum, apud bonos viros plurimum, multitudini iucundi non erant; suffragiis offendebatur saepe eorum voluntas; plausum vero etiam si quis eorum aliquando acceperat, ne quid peccasset pertimescebat. Ac tamen, si quae res erat maior, idem ille populus horum auctoritate maxime commovebatur.“ / „So haben die Volksfreunde von damals zwar bei den bedeutenden und angesehenen Leuten Anstoß erregt; das Volk aber hat ihnen durch Äußerungen des Wohlwollens und jede Art von Auszeichnung gehuldigt. Bei ihrem Erscheinen wurde im Theater Beifall geklatscht; sie erreichten bei den Abstimmungen, was immer sie wollten; ihr Name und ihr Wort, ihre Miene und ihr Auftreten waren allgemein beliebt. Diejenigen wiederum, die sich diesem Schlage widersetzten, galten als wichtige und bedeutende Persönlichkeiten; sie hatten zwar im Senat großen und bei den Rechtschaffenen sehr großen Einfluß, stießen jedoch bei der Menge auf Ablehnung; bei den Abstimmungen wurden ihre Absichten oft durchkreuzt, und wenn gar jemand von ihnen bei irgendeiner Gelegenheit mit Beifallklatschen empfangen worden war, dann fürchtete er, einen Fehler begangen zu haben. Und dennoch, wenn es um etwas Wichtiges ging, dann ließ sich das Volk vor allem durch ihr Ansehen bestimmen.“ (Übersetzung FUHRMANN).
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worden war;45 man referierte beispielsweise über die neu eingetroffenen Berichte der erfolgreich in den Provinzen operierenden Feldherren; religiöse Maßnahmen, die durchgeführt werden müßten, wurden verkündet – alle Themen sind vorstellbar.46 Pompeius sprach in Contionen über seine Bauvorhaben auf dem südlichen Teil des Esquilin („in carinis“).47 Triumphatoren berichteten im Umfeld ihres Triumphzugs über ihre Erfolge und luden dann zu Spielen und Banketten ein.48 Die contio ist also gerade der Versammlungstyp, der als der alltägliche Normalfall anzusehen ist. Sie erfüllte zwei Funktionen, indem sie erstens vorbereitend den eigentlichen comitia voranging und – wie gerade die letzten Beispiele zeigen – als Informationscontiones dienten. In beiden Fällen stand die Rede bzw. der Redner im Zentrum. Cicero erinnert sich daran, daß in seinen Jugendjahren manche Magistrate täglich vor das Volk traten, ja geradezu auf den rostra „übernachteten“49, um nicht zu sagen: „wohnten“.50 Cicero selbst hatte – nach eigenem Bekunden – erst als Praetor seinen ersten Auftritt in einer contio, als er die lex Manilia befürwortete, die Pompeius mit dem Kommando gegen Mithridates ausstattete. Immerhin hielt Cicero es zu Beginn seines Plädoyers für nötig, sein bisheriges Fortbleiben vom Comitium zu erläutern. Er stellte es als eine persönliche Entscheidung hin.51 Daß andere es anders handhabten, ergibt sich als Umkehrschluß aus Ciceros Worten. Die Gelegenheit, vor das Volk treten und sprechen zu dürfen, wurde normalerweise wohl schon in jüngeren Jahren angestrebt und wahrgenommen. Wenn man für eines der unteren Ämter kandidierte, erhielt man vielleicht durch einen befreundeten Magistraten die Möglichkeit, sich in einer contio vorstellen und für sich werben zu dürfen. Regelmäßig traten natürlich die Volkstribune vor das Volk. Sie waren normalerweise auch jung und standen noch am Anfang ihrer politischen Karriere. Doch auf das Amt des Volkstribunen hatte Cicero verzichtet, 45 Vgl. oben Anm. 26. Vgl. zur geradezu drängenden Neugierde der cives nach Informationen aus dem Senat auch App. civ. 2, 542ff. 46 PINA POLO 1996, 14: „Die contiones wurden zum Informationskanal für die gesamte Gemeinschaft…“. THOMMEN 1989, 175; siehe mit zahlreichen Beispielen MORSTEIN-MARX 2004, 10f. Vgl. auch Cic. Brut. 303f. 47 Cic. har. resp. 49; vgl. HÖLSCHER 1980, 358. Siehe dazu unten S. 116ff. den Abschnitt „Ein Haus als Politicum: Pompeius’ Porticus“. 48 FLOWER 2004, 327. 49 Tac. dial. 36,3. 50 Cic. Brut. 305. Vgl. MORSTEIN-MARX 2004, 9. 51 Cic. Manil. 1,1; vgl. u. S. 49ff. – Vergleicht man Ciceros späten ersten Auftritt auf den rostra etwa mit Caesars Karriereanfang, erkennt man einen deutlichen Unterschied. Sueton schildert die ersten Karriereschritte, bei denen Caesar den Kontakt zum Volk suchte: Das Militärtribunat, auch dies ein Wahlamt, war der erste honor, den das Volk Caesar verlieh. Im Jahre 70 v. Chr. unterstützte er die Wiederherstellung des Volkstribunats und sprach in einer contio zugunsten der lex Plotia. In seinem ersten cursus-Amt hatte er auf den rostra große laudationes funebrae auf seine Tante Iulia und seine Frau Cornelia gehalten und setzte dabei Zeichen, als er die imago des Marius mitführte und sein eigenes Geschlecht auf den göttlichen Ursprung von Venus und Anchises zurückführte, dies alles bis zu seinem 31. Lebensjahr. Suet. Iul. 5f.; Plut. Caes. 5; vgl. MILLAR 1998, 75. – Vgl. auch unten S. 90-100.
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was an den sullanischen Regelungen für das Volkstribunat gelegen haben dürfte, die ja dem Amt nicht nur wesentliche Kompetenzen entzogen hatten, sondern auch das Ende der Ämterlaufbahn für gewesene Volkstribune vorsahen. Statt dessen war Cicero bei den Wahlen zur Aedilität für 69 v. Chr. erfolgreich gewesen.52 Viele contio-Reden hatten eine brisante politische Situation zum Anlaß, man schaue nur auf Ciceros Consulatsjahr: Er eröffnete es – wie es die Regel war – mit einer Ansprache an das römische Volk in einer contio, als er am 2. Januar apud populum contra legem Serviliam sprach und mit diesem Auftritt gleich eine Vorentscheidung im Kampf gegen Rullus herbeiführen konnte.53 Gegen Ende des Jahres sprach Cicero gegen die Catilinarier in Contionen und schwor die cives auf seinen kompromißlos harten Kurs ein. Die Macht, die der Rede in der antiken Stadtstaatlichkeit zukam, benötigte durchaus nicht den konkreten Zusammenhang mit einer Abstimmung. Es konnten bereits in den informellen Versammlungen bedeutende politische Entwicklungen und Entscheidungen eingeleitet werden. Es ist somit kein Wunder, daß Cicero in seiner Abhandlung über den Redner die contio für den politisch Agierenden als den zentralen Ort der Bewährung anerkennt. Hier müsse der Redner seine gesamte Kraft aufbringen, alle Register der Beredsamkeit ziehen. Die contio sei des Redners „maxima scaena“,54 und sie war der eigentliche Ort der Vorentscheidung. Comitia – die formellen Versammlungen des populus Romanus Die formellen Beschlüsse fielen in den comitia (offiziell beschließende Versammlungen des populus Romanus). Abstimmungen über Gesetze, Wahlen, gerichtliche Urteile, Entscheidungen über Krieg und Frieden oder etwa – wenn auch nur sehr selten, dann aber prominent (Metellus, Cicero) – Rückberufungen von Exilierten fielen in ihre Zuständigkeitsbereiche. Comitia waren wie gesehen nicht die einzige Möglichkeit, bei weitem nicht einmal die häufigste Form für Versammlungen und Ansprachen. Es ist ja gerade ein sehr auffälliges Merkmal, daß ausgerechnet in den formal beschließenden Versammlungen die Rede als diskursive Form der Kommunikation praktisch aus-
52 HABICHT 1990, 33. 53 Laut Plut. Cicero 12,5, hielt Cicero die erste Rede gegen die lex agraria als Gastredner in einer von Rullus einberufenen Contio. Die andere Rede habe er in von ihm selbst einberufenen Contionen gehalten. Siehe dazu auch THOMMEN 1989, 177. Anders PINA POLO 1989, 291, Nr. 258: Cicero sei auch bei der ersten contio Einberufender und Redner gewesen. Vgl. u. S. 232ff. (Rullus); S. 246ff. (Catilina). 54 De orat. 2,338, Tac. dial. 39, 4: Redner braucht das Beifallsgeschrei und gleichsam ein gewisses Theater; vgl. Cic. Lael. 97; Brut. 192, 305 berichtet Cicero von täglichen Versammlungen. Ascon. Mil. 45 spricht von täglichen Contionen, die von Q. Pompeius Rufus, C. Sallustius Crispus und T. Munatius Plancus gegen Milo und seine Anhänger veranstaltet wurden. Vgl. BLÄNSDORF 2001, 222f.; FANTHAM 1997, 113; HEIL 2003, 35.
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geschlossen war. Diese comitia bzw. das concilium plebis standen am Ende der ‚Beratungsphase‘. Contiones konnten zwar auch noch einmal unmittelbar vor comitia, also abstimmenden Versammlungen, stattfinden, dies geschah allerdings eher selten.55 Die Weisung des Versammlungsleiters „Ite in suffragium!“ leitete von einer contio in die comitia über. Es war auch möglich, comitia zu unterbrechen, um in einer contio zu den Bürgern zu sprechen. Aber dies sind Ausnahmen. Normalerweise schlossen die Comitien öffentliche Reden aus. Daher war es für die Politiker wichtig, ihre Standpunkte in den vorangehenden contiones vorzutragen und für sie – und somit für sich – zu werben.56 Die beschließenden Versammlungen unterschieden sich erstens nach der Organisation, in der die Bürger Roms bei der Abstimmung auseinandertraten. Die comitia centuriata waren nach einem Census, die comitia tributa und das concilium plebis territorial gegliedert. Seit der Centurienreform des Jahres 241 v. Chr. gab es in den comitia centuriata eine Mischung von Census- und Territorialprinzip. In den reformierten comitia centuriata hatten equites, die prima classis und die ersten zehn centuriae der zweiten classis bereits eine Mehrheit – wenn sie denn einheitlich stimmten.57 Zweitens muß man die Zuständigkeitsbereiche differenzieren: Worüber entschieden werden konnte, hing von der Kompetenz des einberufenden Magistraten ab.58 Obwohl in den verschiedenen Versammlungen stets der populus Romanus versammelt wurde, konnten die Bürger nicht immer über alles, sondern jeweils nur über rogationes abstimmen, die im Kompetenzbereich des Magistraten lagen. Rederecht oder Antragsrecht für Bürger gab es nicht, gefragt wurde nur nach Zustimmung oder Ablehnung. Dabei galt jedoch nie jede Stimme für sich, es wurde stets korporativ abgestimmt, womit ein Census verbunden war.59 Die nur von Imperiumsträgern einberufenen comitia centuriata hatten die bedeutendsten Ent-
55 Dies ist übrigens ganz anders als in Athen. Die ekklēsía beriet und entschied unmittelbar anschließend. 56 FANTHAM 2000, 101: „Since actual voting assemblies excluded all public speakers, it was vital for the politician to have made his political point and established his goodwill at one of the proceeding informal contiones.“ 57 YAKOBSON (1999) stellt die These auf, daß die unteren Klassen nicht unwichtig waren und sogar durchaus entscheidende Bedeutung gewannen (59; 65: „voting power of the Roman plebs … quite considerable“), wenn die oberen Klassen sich gerade nicht einig waren (49: „... deep split in the vote of the upper strata of the assembly ...“). Vgl. zum Aufbau der Centuriatscomitien HOPKINS 1991, 494; YAKOBSON 1999, 20ff. 58 MEYER 1975, 201. 59 Auch in den territorial gegliederten comitia tributa war ein Ungleichgewicht festzustellen. Die sehr vielen cives Romani, die in die vier städtischen tribus eingetragen waren, konnten von einer relativ geringen Anzahl von Bürgern der wesentlich lockerer besiedelten ländlichen tribus überstimmt werden. Aus diesen ländlichen tribus kamen natürlich nur diejenigen, die sich die Anreise nach Rom und den Aufenthalt leisten konnten oder die ohnehin zu diesem Zeitpunkt in Rom zu tun hatten; vgl. JEHNE 2001.
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scheidungen zu fällen: über Krieg und Frieden, die Wahl der höchsten Beamten, sie dienten als Appellationsgericht bei Anklagen auf Leben und Tod, aber natürlich konnten hier auch Gesetze verabschiedet werden. Die comitia tributa bzw. das concilium plebis waren für die Wahlen der niederen Beamten zuständig, außerdem wurde über die meisten Gesetze in den Tribuscomitien abgestimmt. Autonomie des Verfahrens: Fristen – reguläre Verfahren – reservierte Orte Daß der Versammlungsleiter eine überlegene Position hatte, wurde oben schon dargelegt. Die Versammlungen waren ein reguläres Element der Verfassung der römischen Republik und als solche nicht ganz der Willkür des Magistraten unterworfen, es gab einzuhaltende Rahmenregeln.60 Das Verfahren für Comitien war terminlich, örtlich und in seinen technischen Abläufen festgelegt. Die Versammlung mußte vom Versammlungsleiter fristgerecht – mindestens drei Markttage vorher – angekündigt werden, die Tagesordnungspunkte waren durch Aushang bekanntzugeben. Innerhalb des pomerium traf sich der populus auf dem Comitium bzw. dem Forum Romanum, dem Zentrum des öffentlichen politischen Lebens.61 Auch das Capitol wurde als Versammlungsort genutzt. Die berühmte Versammlung, die zum Tod des Tiberius Gracchus führte, fand dort statt. In der späten Republik diente das Capitol allerdings kaum noch als Versammlungsort.62 Außerhalb der Stadtgrenze fand man sich auf dem Marsfeld für die comitia centuriata zusammen. Am Tag selbst riefen die Herolde die Versammlung ein, die Fahne auf dem Ianiculum mußte gehißt werden. Die Versammlung, die einen Staatsakt vollziehen sollte, begann mit einem Opfer des die Auspizien führenden Magistraten und Versammlungsleiters. Die Götter wurden in den staatlichen Akt von Beginn an einbe-
60 Vgl. MOMMSEN, Staatsrecht 3, 385–388. FANTHAM 1997, 113; PINA POLO 1996; BLEICKEN 1995, 120ff.; HOPKINS 1991, 493ff.; NICOLET 1976/1988, 207ff.; ROSS TAYLOR 1966, passim. „Autonomie des Verfahrens“ ist ein Zitat aus SCHLÖGL 2004, 37, der hier aufschlußreiche Parallelen zur Stadt der frühen Neuzeit darlegt. 61 Die Gerichtshöfe befanden sich ebenfalls am Forum Romanum, dessen große Basiliken für die Rechtsprechung Raum boten. Zu den Gerichtsverhandlungen auf dem Forum Romanum siehe JEHNE 2000, 173 mit Literatur in Anm. 20. Typisch für antike stadtstaatliche Strukturen ist die Nähe der Institutionen, so daß zum politischen Geschehen auf dem bzw. am Forum Romanum natürlich auch die Senatsverhandlungen zu rechnen sind. Der Senat tagte in der Regel in der curia Hostilia bzw. später Iulia am Comitium oder auch in inaugurierten und überdachten Räumen auf dem Marsfeld außerhalb des Pomerium. Das Tribunal von Magistraten stand oft unter freiem Himmel. Vgl. allgemein zur Öffentlichkeit magistratischen Handelns: KUNKEL 1995, 105ff.; bes. 108f.; DÖBLER 1999, 34ff. – Cicero (Catil. 3,7) spricht zu seinen Hörern, daß sie gesehen hätten, wie er, der Consul, am Morgen den Senat einberufen habe. 62 DÖBLER 1999, 152.
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zogen, ihre Anwesenheit und ihr Interesse an der und ihre Fürsorge für die res publica wurden selbstverständlich vorausgesetzt. Das Prozedere war zeitlich aufwendig, und vor allem geschah es öffentlich. Im geheimen – etwa nur mit der eigenen Anhängerschaft – Beschlüsse herbeizuführen und vollendete Tatsachen zu schaffen, war nicht möglich. Das Verfahren, das allgemein akzeptierte und eingeübte bürgerstaatliche Praxis war, mußte eingehalten werden. Die politische Bedeutung der comitia – Inszenierung von Hierarchie und Konsens Die Kontrolle über die Versammlung lag allein beim Versammlungsleiter. Er konnte die Abstimmung abbrechen oder kurz vor Beginn absagen, etwa weil schlechte Vorzeichen aufgetreten waren.63 Die Verkündung des Ergebnisses, die renuntiatio, lag ebenfalls in der Hand des Magistraten. Erst wenn er das Ergebnis anerkannt und verkündet hatte, war die Wahl geschehen bzw. ein Antrag entschieden. Nicht einmal ein wirkliches Endergebnis wurde veröffentlicht.64 Der Wille des populus Romanus kam also nie realiter zum Ausdruck, die mögliche Knappheit eines Ergebnisses wurde praktisch nie bekannt, da mit dem Erreichen einer Mehrheit die Auszählung beendet wurde – es sei denn, der Wahlausgang hätte erst nach einer langen Auszählung festgestanden. Man gewinnt also den Eindruck, daß der Magistrat mit seiner Hoheit über eine Versammlung die Willensbildung des populus Romanus – trotz der zu beachtenden Regularien – beliebig manipulieren und letztlich geradezu außer Kraft setzen konnte. Die comitia bzw. das concilium waren in mehreren Punkten der Willkür des Versammlungsleiters ausgesetzt.65 Inszenierung von Hierarchie und Autorität war die eine prägende Funktion der formellen Versammlungen. Diese Kräfteverteilung von Hegemonie und Ohnmacht führte jedoch nicht dazu, daß sich in der Tradition massenhaft Zerwürfnisse zwischen Volk und Magistrat nachweisen ließen, etwa weil die Bürger Roms sich nicht anders zu wehren gewußt hätten, als ungehorsam zu sein. Im Gegenteil ist ja der hohe Grad an Zustimmung und Konfliktfreiheit das markante Kennzeichen für die Beziehung beider staatlicher Institutionen. EGON FLAIG hat für diesen Befund festgehalten, daß die Volksversammlungen in Rom keine Entscheidungsorgane gewesen seien, sondern ihr eigentlicher Sinn in der stetigen Manifestierung und Inszenierung von Konsens gelegen habe.66 Auch wenn die Partizipation der cives Romani alles an-
63 Siehe zu den Versammlungen den Überblick bei MEYER 1975, 191ff. Beispiele für Wahlabbruch: Plut. Pompeius 52f. zur drohenden Wahl Catos zum Praetor; Liv. 23,31 zur Wahl eines consul suffectus für 215 v. Chr.; Liv. 24,7,10ff. zu den Wahlen für 214 v. Chr. Siehe auch HOPKINS 1991, 493. 64 Siehe dazu den Überblick bei BLEICKEN 1995, 120ff.; MEYER 1975, 182ff. 65 Siehe zur Rolle des Versammlungsleiters grundlegend RILINGER 1976. 66 FLAIG 1995b passim, bes. 84ff.; 2003, 167ff. Vgl. JEHNE 2000, 173 mit Anm. 19; JEHNE 2000a, 220; MEIER 1980, 52: „Andererseits läßt sich als notwendiges Komplement des wohl-
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dere als egalitär war,67 so war sie doch auch nicht ohne jede Bedeutung. Zum Zerwürfnis, also zur discordia, durfte es nicht kommen. Ein Magistrat, der die sich im Vorfeld, also in contiones, abzeichnende Ablehnung nicht erkannte und eine rogatio trotz deutlicher Signale des Scheiterns nicht zurückzog, habe offensichtlich die politischen Spielregeln nicht verstanden.68 Zwei Fragen zur politischen Praxis – Wer stimmte ab? An wen richtete sich die Rede? Das soziale und ökonomische Gefälle galt vor allem für die comitia centuriata, in denen die Wahlen zu den höchsten Ämtern stattfanden. Sie waren im besonderen Maße hierarchisiert: Relativ wenige Reiche verfügten über eine Mehrheit der Stimmeinheiten und votierten auch zuerst, so daß schnell eine Entscheidung herbeigeführt war, wenn die Oberen sich einig waren.69 Nur wenn es eine Spaltung in
begründeten Zusammenhalts im Adel die Bereitwilligkeit des Volkes beobachten, sich mit Selbstverständlichkeit in die aristokratisch geprägte Ordnung zu fügen.“ Gegen FLAIGs Auffassung wendet sich LASER 1997, 51 (mit Anm. 34); 55 (Taktiererei vor und bei Abstimmungen passe nicht zur Vorstellung eines Konsensrituals); 69 (Entscheidendes Kriterium für die Abstimmenden sei die Frage gewesen, ob die Rogation den persönlichen Vorteil fördere oder nicht). Vgl. zur Frage der Bedeutung der Volksversammlung auch die Beiträge in JEHNE (Hg.) 1995, besonders JEHNEs Einleitung mit einem Überblick über die Debatte seit den Beiträgen von MILLAR 1984, 1986, 1989, jetzt in MILLAR 2002, 85ff.; BLEICKEN 1999, 201f.; BECK 2005 18ff. 22ff. Siehe vor allem HÖLKESKAMP 2004, 6ff. und passim. – JEHNE 2001, 96: Die Attraktivität der Wahlen sei in ihrer symbolischen Bedeutung zu suchen. (101) Abstimmung in comitia centuriata ein Hierarchisierungsritual, in den comitia tributa ein Egalisierungsritual; (106) „... die Integration in die römische Gesellschaft war wohl deshalb besonders intensiv, weil es eben die beiden Rituale nebeneinander gab. So konnte einerseits der identitätsstiftende Zauber der Gleichheit erfahren werden und andererseits die ehrgeizentfachende Abstufung, die den eigenen Platz in der Hierarchie sichtbar und den eigenen Erfolg darstellbar macht.“ Das Nebeneinander der Volksversammlungen ergebe einen sich verstärkenden Integrationsimpuls, betont JEHNE (ibd. Anm. 81) als Kritik an MILLARs Beurteilung, daß die „Tributcomitien gegenüber den Centuriatscomitien systemisch signifikanter“ seien. 67 JEHNE 2001, 94. 68 FLAIG 1995b, 93: „Eine ansehnliche Menge von Initiativen scheiterte in den contiones, vor allem Ackergesetze und Einbürgerungsgesetze; das heißt, der Widerstand des Volkes, sichtbar und hörbar am Gemurre, Geschrei und erhobenen Fäusten, war so groß, daß der Antragsteller und seine Unterstützer darauf verzichteten, den Antrag einzubringen. So gesehen konnten die Comitien als Konsensorgan deswegen fungieren, weil in den contiones der erforderliche Konsens erst hergestellt wurde bzw. weil er partout nicht zu erreichen war.“; jetzt auch DERS. 2003, 198. – Cicero nennt Phil. 1,36 mehrere Orte, an denen das Volk seine Meinung zum Ausdruck bringe: Er erwähnt die Fechterspiele, das Theater des Pompeius (besonders Pompeius’ dortige Statue), und die Apollinarischen Spiele. 69 Ein wichtiges Instrument zur Lenkung des Votums existierte in Form der centuria praerogativa. Sie wurde aus den iuniores der prima classis ausgelost. Ihr Votum wurde zunächst eingeholt und veröffentlicht. Dann wurde classis für classis abgestimmt mit jeweiliger Bekanntgabe des Ergebnisses, s. MEIER 1956; BLEICKEN 1995, 68; 124ff.; ROSS TAYLOR 1966; 91ff.
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den oberen Klassen gab, konnten auch die niedriger eingestuften Bürger abstimmen. Allerdings stellt sich auch bei einer Einigkeit der oberen Klassen die Frage, welche Bürger dort vertreten waren. Daß dieser Kreis der reicheren Bürger nicht besonders exklusiv war und schon ordentlich verdienende Bürger hier einzuordnen sind, wird für möglich gehalten.70 Daß allerdings alle Bürger bei Abstimmungen in den comitia centuriata regelmäßig zur Stimmabgabe gekommen sind, ist praktisch auszuschließen. Anders verhält es sich bei den comitia tributa, die als der häufigste Fall einer römischen Volksversammlung anzusetzen sind:71 Alle tribus stimmten gleichzeitig ab. JOCHEN BLEICKEN leitet die Entstehung der comitia tributa aus dem ausschließlich für Plebeier während der Ständekampfphase geschaffenen concilium plebis her. „Da es sich auch in der Abstimmungspraxis praktikabler als die anderen erwies, schuf man doch noch zusätzlich eine nach Tribus organisierte Volksversammlung, in der auch Patrizier abstimmen und die ordentlichen (ehemals patrizischen) Beamten, wie Konsuln, Praetoren und Aedile, den Vorsitz führen konnten (patrizisch-plebejische Tributcomitien).“72 Immerhin – und das ist hervorzuheben – haben in den comitia tributa alle Bürger abgestimmt,73 die Ergebnisse der einzelnen tribus wurden durch Losentscheid nacheinander bekanntgegeben. Die Auszählung wurde wohl auch hier nach Erreichen einer Mehrheit abgebrochen.74 Aber es darf wohl als recht gesichert angesehen werden, daß alle cives Romani gleichzeitig abgestimmt haben.75 So scheint es zumindest bei Gesetzen gewesen zu sein. Bei Wahlen gab es dagegen eine ausgeloste Tribus, die zuerst abstimmte und deren Ergebnis wohl auch bekanntgegeben wurde (principium).76 In den Tributcomitien habe es, so Meyer,
70 Siehe YAKOBSON 1999, 20ff. mit Literatur. 71 GREENIDGE 1901, 253, sagt über diese Versammlung, sie sei „the most handy of all the assemblies of the full Populus, and was, consequently, the most frequently employed for the passing of leges.“ 72 BLEICKEN 1995, 123. JEHNE 2001, 91, glaubt „nach wie vor“, es seien „eine rein plebeische und eine patricisch-plebeische Variante auseinanderzuhalten“. Vgl. LINTOTT 1999, 53ff.; HOPKINS 1991, 492. 73 Vgl. insgesamt JEHNE 2001, 98ff. mit grundlegenden Ausführungen zu den comitia tributa. Ibd. 93: „... festzuhalten sei, daß die meisten nicht am meisten zählten“ mit Verweis auf Cic. Rep. 2,39; zum Abstimmungsmodus vgl. RYAN 2001. 74 TAYLOR 1966, 80f. 75 Siehe zum Abstimmungsmodus in den comitia tributa MEYER 1975, 197; JEHNE 2001, 99; Varr. rust. 3,17,1: „Interea redit ad nos Pavo et, Si vultis, inquit, anc[h]oras tollere, latis tabulis sortitio fit tribuum, ac coepti sunt a praecone recini[i], quem quaeque tribus feceri[n]t aedilem.“ / „Unterdessen kehrt Pavo zu uns zurück und sagt: ‚Wenn ihr die Anker lichten wollt – nach Abgabe der Stimmenverzeichnisse findet die Auslosung der Tribus statt, und der Herold hat bereits zu verkünden begonnen, wen die jeweiligen Tribus zum Aedilen gewählt haben.‘“ (Übersetzung FLACH). 76 MEYER 1975, 197.
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eine feste Reihenfolge bei Wahlen gegeben. „Gestimmt haben aber bei den Tribusversammlungen anscheinend stets alle Tribus.“77 Allein dieser Umstand, daß wahrscheinlich alle Bürger abstimmten, bedeutete einen großen Unterschied zwischen den territorial gegliederten comitia tributa und den viel stärker sozial und ökonomisch hierarchisierten comitia centuriata. Aufgrund des „demokratischsten Gliederungsprinzips“78 der Tribusversammlung war sie wesentlich egalitärer als die comitia centuriata: Arm und reich standen sich näher, ebensowenig gab es eine autoritäre und zahlenmäßige Überlegenheit von seniores über iuniores, wie die prima classis der centuriata noch strukturiert war. Trotz der Ungleichheit innerhalb der tribus – in Hinsicht auf die soziale Zusammensetzung wie auch auf die Anzahl der in einer Tribus zusammengefaßten Bürger – gab es wohl „keine ausgeprägte Hierarchie im Abstimmungsmodus“.79 Somit kann man die comitia tributa als „strukturell egalitär“80 bewerten. Für die Bedeutung von Rede haben diese Faktoren naheliegende Konsequenzen. Der Redner mußte – wie schon in den Contionen – alle ansprechen, für alle Bürger den richtigen Ton treffen. Denn wer die Bürger für seine Sache im Vorfeld gewann, konnte auch hoffen, daß sie zur Abstimmung kommen würden. Bei den comitia selbst war außerdem zum einen vorher nicht abzusehen, welche der tribus das principium sein würde. Zum anderen stimmten ja tatsächlich alle anwesenden cives Romani gleichzeitig ab. Die Rede mußte also gerade bei Gesetzesvorlagen, über die in den comitia tributa abgestimmt wurde, alle Anwesenden einbinden, erreichen und überzeugen.81
77 MEYER 1975, 197; anders sieht dies JEHNE 2001, 99 mit den Anm. 49–51: „Und bei Gesetzes- und Gerichtscomitien wurden die Tribus zwar nacheinander aufgerufen, aber auch hier wurde durch die Auslosung der erststimmenden Tribus vor jedem Abstimmungsvorgang gesichert, daß keine feste Hierarchie etabliert wurde.“ 78 BLEICKEN 1995, 123. 79 JEHNE 2001, 99. 80 Ibd. 100. 81 Bei Wahlen kommt noch das Phänomen des ambitus, der Wahlbestechung, hinzu. Aber dies ist wohl eher eine Erscheinung der Wahlen zu den höheren Ämtern (Praetur, Consulat). Für die in comitia tributa bzw. im concilium plebis stattfindenden Wahlen war ambitus nicht so bedeutend. Denn in den unteren Stufen standen in der nachsullanischen Ordnung 20 Quästuren und vier Aedilen-Stellen plus zehn Volkstribunatsstellen zur Verfügung, wobei das Volkstribunat erst durch die Gesetze von 75 (lex Aurelia) und 70 (lex Licinia et Pompeia) wieder attraktiv wurde. Evtl. umstrittene Gesetzesvorlagen könnten Anlaß für Bestechungsversuche geboten haben, um die Verabschiedung zu ermöglichen oder mit Hilfe des Stimmenkaufs zu verhindern. Aber gerade die Abwesenheit von ambitus bei Abstimmungen über rogationes stellt nach JEHNE 1995b, 56, einen „frappierenden Kontrast“ zu den Wahlcomitien dar. „Tatsächlich sind die Gesetzescomitien das Feld der Gewalt, die bei den Wahlen nur ganz vereinzelt und systematischer erst im letzten Jahrzehnt der Republik eingesetzt wurde.“ (JEHNE ibd., mit Anm. 31) Man könnte auch an die Form der Gegenagitation denken, um unliebsame Gesetze zu verhindern: M. Livius Drusus’ Gegenvorschläge gegen C. Gracchus’ rogationes wären ein Beispiel. Oder man bediente sich des Mittels der Dauerinterzession, wie etwa Bibulus gegen Caesar handelte. Die nächste Stufe war die offene Gewalt, hierzu mit Beispielen und Lit. in den Anm. THOMMEN 1989, 181ff.; 253.
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DIE RHETORISCHE PRAXIS. TAXIS UND TAKTIK – DIE INSZENIERUNG ARISTOKRATISCHER ÜBERLEGENHEIT Der Auftritt des Magistraten und die Wahrung der „species in republica“ Die Bühne (scaena) ist ein zweideutiger Begriff. Tatsächlich stand der Redner auf einer „Bühne“. Die rostra, die nach den bei Antium erbeuteten Schiffsschnäbeln benannte Rednerbühne am Comitium, waren der vornehmliche Ort der Rede: Hier stand der Redner und sprach zum vor ihm und zu seinen Füßen versammelten und stehenden Volk. Der Zuschauer- bzw. Zuhörerraum war nicht gegliedert oder in einem symbolischen Sinne markiert. Er verfügte nicht über Sitzplätze; es gab keine Dächer, die vor Sonne oder Regen Schutz boten. Das Wort „Bühne“ weist noch auf einen zweiten Umstand. Die Veranstaltungen waren inszenierte Auftritte von Amtsträgern und ihren politischen Standesgenossen. Der Praetor oder Konsul etwa konnte kraft seines Amtes seine eigene contio einberufen und sich mit einer Ansprache an die cives Romani wenden. Er trat mit den Insignien seines Amtes auf. Er war natürlich umgeben von seinen Lictoren, die ihm vorausgingen, ihm den Weg durch die Leute bahnten und die Abzeichen seiner Macht trugen, innerhalb des pomerium ‚nur‘ die fasces als Zeichen der Züchtigungs- und Strafgewalt. Der Magistrat betrat die Bühne für seine ‚Show‘, oder – in den Worten Q. Ciceros – er wahrte seine „species in re publica“.82 Er konnte sich gebärden als Funktionsträger, als Machthaber, als Herr, als res publica in persona. Einen solch spektakulären Auftritt konnten sich die Volkstribune, die aufgrund der Größe des Kollegiums besonders häufig tribunizische contiones einberiefen, nicht ohne weiteres verschaffen, da ihnen kein magistratischer Apparat mit Lictoren zur Verfügung stand. Immerhin sind Inschriften83 überliefert, die die Existenz von tribunizischen viatores bezeugen, die wohl die Aufgaben der Lictoren erledigt haben.84 Allein die Anhängerscharen eines populären Tribuns konnten ebenfalls eine aufmerksamkeiterregende Eskorte bilden.
82 Comm. pet. 41, dazu BELL, 1997, 10, jetzt auch DERS. 2004, 199ff.; vgl. weiterhin FLOWER 2004, 324f.; LASER 1997, 237; SUMI 2005, 6ff.;17ff. FANTHAM 1997, 114, legt ebenfalls dar, daß die Ansprache an das Volk die Möglichkeit des großen Auftritts darstellte, während man doch im Senat stets nur als einer von vielen und insgesamt zurückhaltender sprach. Cicero (de orat. 2,333) sagt ganz explizit: „Atque haec in senatu minore apparatu agenda sunt; sapiens enim est consilium multisque aliis dicendi relinquendus locus, vitanda etiam ingeni ostentationis suspicio.“ / „Dieses Ziel [als Redner groß auftreten zu wollen, F.B.] sollte man im Senat mit kleinerem Aufwand verfolgen; man findet in ihm ja eine verständige Versammlung und muß noch vielen anderen Gelegenheit zum Reden geben. Vermeiden sollte man auch den Verdacht, man stelle sein Talent zur Schau.“ (Übersetzung MERKLIN). Vgl. dazu auch den Abschnitt über Ciceros Aussagen zu Reden vor dem Volk und dem Senat. 83 CIL VI 1934; 1935. 84 MOMMSEN, Staatsrecht 1, 360ff.: „… und bei denjenigen Magistraten, die keine Lictoren hatten, werden deren Verrichtungen, soweit sie hier überhaupt vorkommen können, nament-
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Aber auch hier gilt es, zwei Seiten zu betrachten. Der Akteur auf den rostra brauchte das Publikum, das sich zu seinen Füßen drängte. Es sollte erschauern, Beifallsstürme spenden, starr vor Staunen auf ihn blicken. Der beste Redner war „in ihren Augen sozusagen ein Gott unter den Menschen“.85 Aber ohne Publikum war auch der beste Redner nichts. Er brauchte die bewundernden staunenden Blicke, den guten Leumund, der die Gerüchte über den staunenswerten orator durch die Straßen Roms fliegen ließ. Was wäre der Redner ohne den Applaus seines Publikums?86 Die Menschen, seine Zuhörer, machen den Redner erst wirklich zum Redner. Wie ein Flötenspieler ohne seine Flöte nicht zu spielen in der Lage sei, so wenig könne ein Redner ohne sein zahlreiches (!) Publikum beredt sein, zieht Cicero einen Vergleich.87 „Das aber ist es, was ich meinem Redner wünsche: Wenn man hört, er werde sprechen, dann wird der Platz auf den Bänken im voraus besetzt, das Tribunal füllt sich, die Schreiber zeigen sich gefällig, Plätze zuzuweisen oder abzutreten, der Kreis der Interessierten ist bunt und vielfältig, der Richter gespannt. Wenn jener sich erhebt und zu sprechen ansetzt, gibt man sich im Kreis Zeichen zur Stille. Alsbald folgen dicht aufeinander zahlreiche Bekundungen der Zustimmung und der Bewunderung; Lachen, wenn er will – wenn er es will, Weinen. Wer das von Ferne sieht, der merkt, auch wenn er nicht weiß, was wirklich vor sich geht, daß hier jemand Anklang findet, daß ein Roscius auf der Bühne steht. Wem das gelingt, der, sollst du wissen, redet echt attisch, so wie wir es von Perikles vernehmen, von Hypereides, Aischines – vor allem von Demosthenes selbst.“88 Um wie ein Perikles, ein Aischines oder gar ein Demosthenes zu sein, um die Bewunderung der Zuhörer zu erlangen und dadurch auch solche Macht über sie
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lich die Coercition, durch den Viator beschafft. Insbesondere gilt dies von Volkstribunen, deren Viatoren weniger bei der eigentlichen Vocation als bei der Coercition erwähnt werden.“ (ibd. 362). Cic. de orat. 3,53: „In quo igitur homines exhorrescunt? Quem stupefacti dicentem intuentur? In quo exclamant? Quem deum, ut ita dicam, inter homines putant?“ Vgl. ibd. 3,101; siehe auch FANTHAM 2000, 99. Tac. dial. 39,4. Damit verbunden ist die Frage, wie viele Teilnehmer bei einer Versammlung zu erwarten sind; PINA POLO 1996, 6: „Es waren höchstens einige hundert und in Ausnahmefällen einige tausend Menschen anwesend, aber diese verbreiteten das Gehörte unter der Bevölkerung der Stadt, so daß sich schließlich eine bestimmte öffentliche Meinung herausbilden konnte.“ An diesem Punkt muß der Begriff der „öffentlichen Meinung“ in einer Gesellschaft wie der römischen hinterfragt werden, zu dieser Diskussion jetzt EICH 2000. Cic. de orat. 2,338: „Habet enim multitudo vim quandam talem, ut, quem ad modum tibicen sine tibiis canere, sic orator sine multitudine audiente eloquens esse non possit.“ Übersetzung von KYTZLER zu Cic. Brut. 290: „Volo hoc oratori contingat, ut cum auditum sit eum esse dicturum, locus in subselliis occupetur, compleatur tribunal, gratiosi scribae sint in dando et cedendo loco, corona multiplex, iudex erectus; cum surgat is qui dicturus sit, significetur a corona silentium, deinde crebrae adsensiones, multae admirationes; risus, cum velit, cum velit, fletus: ut, qui haec procul videat, etiam si quid agatur nesciat, at placere tamen et in scaena esse Roscium intellegat. haec cui contingant, eum scito Attice dicere, ut de Pericle audimus, ut de Hyperide, ut de Aeschine, de ipso quidem Demosthene maxume.“ Vgl. FANTHAM 1998, 125; MAY 2002, 57.
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gewinnen zu können, wie Cicero es hier beschreibt – dafür mußte ein orator sich mit aller Kraft einsetzen. Am Ende seiner Ansprache sollte ihm die Anstrengung ins Gesicht geschrieben sein: Die Toga saß alles andere als perfekt, die Frisur durfte jetzt ruhig zerzaust sein, der Schweiß rann von der Stirn.89 Die Zuschauer erwarteten, daß ein Redner sich wirklich ins Zeug legte. Sie galten dabei als ein fachkundiges Publikum, das es bemerkte, wenn eine Rede hinkte; die cives Romani achteten auf Unsicherheiten, aber sie belohnten auch den Könner.90 Durch ihre positive Reaktion verliehen sie einem orator Glanz und Rang oder durch ihre Ablehnung einen tiefen Sturz. Auf den rostra, der „maxima scaena“, konnte man im Zentrum des Jubels stehen oder ausgezischt werden; der Redner trug dies in jedem Fall alleine, beides haftete an seiner Person.91 Mit Witz und Würde gegen die „maximi motus populi“ Ciceros Ausführungen zeigen auch, daß der Redner je nachdem mit Vorurteilen aufräumen mußte und evtl. Ressentiments abzubauen hatte. Diese konnten sich gegen seine Person oder gegen die von ihm vertretene Sache richten. Die Stimmung war verschieden, und ein Redner mußte das rechte Gespür haben, um die Situation in den Griff zu bekommen, um sie zu seiner eigenen machen zu können – ein schwieriges Unterfangen, wie Cicero selbst ausführt: „Doch um politischen Rat zu erteilen, ist es wesentlich, die Politik, und um mit Überzeugungskraft zu reden, den Charakter der Bürgerschaft zu kennen. Weil sich diese Faktoren häufig ändern, muß man auch oft den Stil der Rede ändern. Es gibt im allgemeinen zwar nur eine Wirkung der Beredsamkeit, doch weil die Würde des Volkes am höchsten steht, das Interesse des Gemeinwesens am schwersten wiegt und die Leidenschaften der Menge am heftigsten sind, hat man sich, wie es scheint, auch eines erhabeneren und eindrucksvolleren Stils zu bedienen. Den größten Teil der Rede muß man ja darauf verwenden, die Herzen mitunter durch Ermahnung oder durch Erinnerung in Hoffnung oder Furcht, Verlangen oder Ehrgeiz zu versetzen, oft
89 Quint. inst. 11,3,137–147; ALDRETE 1999, 40f. – Respektvoll erinnert Cicero Cat. sen. 14 daran, daß Cato mit 65 Jahren noch „mit voller Stimmgewalt eines Redner, dem die Luft nicht wegbleibt“, zu den cives Romani für die lex Voconia sprechen konnte; Cicero legt Cato die Worte in den Mund: „Cum ego quinque et sexaginta annos natus legem Voconiam magna voce bonis lateribus suasissem.“ Vgl. ibd. 28; 32. – Gaius Gracchus war nach Plutarch (Ti. Gracch. 2,2) der erste Redner, der auf den rostra herumging und die Toga von der Schulter zog, wenn er sprach. Siehe CORBEILL 2004, 113. Zum Auftreten des Redners auch MORSTEIN-MARX 2004, 270. 90 Cic. or. 168 („Contiones saepe exclamare vidi, cum apte verba cecidissent.“); Tac. dial. 39; vgl. BLÄNSDORF 2001, 210. 91 Cic. de orat. 2,227; Cic. Brut. 192, 305: Der Tribun Curio (tr.pl. 90 v. Chr.) zog es vor, nicht mehr öffentlich zu reden, nachdem ihn die Zuschauer im wahrsten Sinne alleine auf der Bühne zurückgelassen und sich entfernt hatten („Erat enim tribunus plebis tum C. Curio, quamquam is quidem silebat, ut erat semel a contione universa relictus.“). BELL 1997, 21f. mit Anm. 149ff.; JEHNE 2000a, 214ff.; PINA Polo 1996, 145.
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auch von Unbesonnenheit, Zorn, Hoffnung, Ungerechtigkeit, Gehässigkeit und Roheit abzubringen.“92 Wenn „schwierige“ Punkte Thema einer contio waren, dann sah sich der orator einer kritischen Konfrontation und einem recht ernsten politischen Test ausgesetzt.93 Der Wille und die Stimmung des populus Romanus mußten erkundet werden, was ein schwieriges und nicht ungefährliches Unterfangen war. In den antiken Texten begegnet die Meermetapher: Wahlen können wie ein tosendes Meer sein. Politische Kundgebungen werden als aufbrausend beschrieben. Die Menschenmengen erscheinen als wogendes Wasser.94 Der Redner mußte sich fragen, wie eine Versammlung zusammengesetzt war, zu der er sprechen wollte. Vor einer von Veteranen gut besuchten contio mußte man sicherlich andere Akzente setzen als vor der plebs urbana an einem Markttag. Die Zuhörer, die als populus Romanus apostrophierten anwesenden cives Romani, waren in ihrer Zusammensetzung stets verschieden. Je nach Thema beeinflußten spezifische Bindungen und Integrationskreise, in denen sich jeder bewegte, die Meinungsbildung: Familie, Klientel, städtisches Proletariat (leges frumentariae), Veteranen (leges agrariae), Römer (etwa gegenüber Bundesgenossen). „Welche Bindungen überwogen, war hochgradig themenabhängig.“95 Aber die Zuhörerschaft war, wie sie war, und der Redner mußte die Leistung vollbringen, sie auf seine Seite zu ziehen. Er mußte die Stimmung einschätzen können und die Reaktionen auf seine Rede aufnehmen und gegebenenfalls die eingeschlagene Richtung verstärken oder seine Strategie ändern können. Die Aufgebrachten galt es zu beschwichtigen, die Uninteressierten aufmerksam zu machen, die Ablehnenden zu gewinnen, die Erregten oder Verängstigten zu beruhigen. Für diese Aufgaben, die sich dem Redner stellten, gab es „Medizin“: die „Rüge“, die „Mahnung“, den „milden Verweis“, die „Zusicherung, man werde einverstanden sein, wenn man erst einmal zugehört habe“, schließlich eine „Bitte“. „Doch nirgends profitiert man mehr von Witz, Schlagfertigkeit und einer wirkungsvollen, eleganten Pointe. Denn nichts läßt sich so leicht wie eine Menge
92 Übersetzung von MERKLIN zu Cic. de orat. 2,337: „Ad consilium autem de re publica dandum caput est nosse rem publicam; ad dicendum vero probabiliter nosse mores civitatis, qui quia crebro mutantur, genus quoque orationis est saepe mutandum; et quamquam una fere vis est eloquentiae, tamen quia summa dignitas est populi, gravissima causa rei publicae, maximi motus multitudinis, genus quoque dicendi grandius quoddam et inlustrius esse adhibendum videtur; maximaque pars orationis admovenda est ad animorum motus non numquam aut cohortatione aut commemoratione aliqua aut in spem aut in metum aut ad cupiditatem aut ad gloriam concitandos, saepe etiam a temeritate, iracundia, spe, iniuria, invidia, crudelitate revocandos.“ 93 FANTHAM 2000, 96. Vgl. Ciceros Schilderung Planc. 11. 94 FANTHAM 2000, 96 mit Verweis auf Verg. Aen. 1,148–153 (Der Seesturm, den Neptun gegen die Troianer losläßt, wird mit der aufgepeitschten Atmosphäre einer Volksversammlung verglichen). Vgl. auch DÖBLER 1999, 200f.; MORSTEIN-MARX 2004, 165; SUMI 2005, 17ff. 95 FLAIG 2003, 196. Vgl. auch MACK 1937, 74, über die heterogene Zusammensetzung des Publikums bei Volksreden.
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durch eine vorteilhafte, kurze, treffende und launige Bemerkung von Verdrießlichkeit und häufig von Verbitterung ablenken.“96 Charme, Witz, Jovialität Der orator konnte sich gegenüber dem Volk heiter und ausgelassen, geradezu humorvoll geben. Er konnte Witze machen und die Lacher auf seine Seite bringen. Dies ist nach Cicero sogar der beste Weg, um einen guten Draht zum populus zu gewinnen.97 Offensichtlich gab es für Witzeleien dabei keine Tabus: Aussehen, Namen, Habitus, Lebenswandel, Kleidung etc.98 Was geistesgegenwärtig und scharfzüngig war, kam wohl auch gut an. Es ist zum Beispiel in Ordnung, die gerade ablaufende pompa funebris einer Iunia in eine Rede einzubeziehen und sich auf diese Weise über den Gegner lustig zu machen.99 Witze mit mythologischen Anspielungen erwähnt Caesar in seiner Abhandlung über den Witz (in Ciceros De oratore) ebenfalls.100 Cicero selbst karikierte den stoischen Rigorismus eines Cato minor und insgesamt Elemente der stoischen Lehre in seiner Verteidigungsrede für Murena. Auch über das Aussehen oder die Figur eines anderen konnte man sich lächerlich machen, indem man den häßlichen Gallier auf dem Kimbernschild des Marius zum Spiegelbild des Gegners erklärte.101 Über Ruchlosigkeit (improbi96 Übersetzung von MERKLIN zu Cic. de orat. 2,339f.: „… medicinae opponuntur: tum obiurgatio, si est anctoritas; tum admonitio quasi lenior obiurgatio; tum promissio, si audierint, probaturos; tum deprecatio, quod est infirmum, sed non numquam utile. (340) Nullo autem loco plus facetiae prosunt et celeritas et breve aliquod dictum nec sine dignitate et cum lepore; nihil enim tam facile quam multitudo a tristitia et saepe ab acerbitate commode et breviter et acute et hilare dicto deducitur.“; siehe auch LEEMANN/PINKSTER ad loc. (Bd. 4 p. 56); vgl. FANTHAM 2000, 100f.; ALDRETE 1999, 26. 97 Cicero läßt Caesar Strabo eine lange Abhandlung über den Witz halten, in der viele Beispiele vorgestellt werden, Cic. de orat. 2,217–290; in 2,227 rühmt er Crassus’ Rede vor dem Volk, die er gegen Cn. Domitius Ahenobarbus gehalten hatte: „Nec enim maior contentio umquam fuit nec apud populum gravior oratio quam huius contra conlegam in censura nuper neque lepore et festivitate conditior.“ / „Denn es gab niemals einen größeren Einsatz, noch eine Rede, die beim Volk mehr Eindruck hinterlassen hätte, aber auch keine, die mit mehr Humor und Heiterkeit gewürzt gewesen als diese, die er jüngst gegen seinen Kollegen im Amt des Censors hielt.“ (Übersetzung MERKLIN); vgl. die ausführliche Einleitung zu diesem Abschnitt bei LEEMANN/PINKSTER ad loc. BONNER 1977, 82, gibt zu bedenken, wie sehr es auch von persönlicher Begabung abhängt, humorvolle Sentenzen aufführen zu können. Daher ist es auch gar nicht möglich, eine Technik des Witzes lehrbuchartig zusammenzustellen. Caesars Referat über den Witz und die Schlagfertigkeit wird vor allem mit exempla illustriert. 98 CORBEILL 1996; FANTHAM 2000, 100ff. 99 Cic. de orat. 2,225. 100 Cic. de orat. 2,265. 101 Cic. de orat. 2,266: „Valde autem ridentur etiam imagines, quae fere in deformitatem aut in aliquod vitium corporis ducuntur cum similitudine turpioris: ut meum illud in Helvium Manciam ‚iam ostendam cuius modi sis,‘ cum ille ‚ostende, quaeso‘; demonstravi digito pictum Gallum in Mariano scuto Cimbrico sub Novis distortum, eiecta lingua, buccis fluentibus; risus est commotus.“ Vgl. Quint. inst. 6,3,38. Vgl. auch CORBEILL 1996, 40.
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tas) und außergewöhnliches Elend (miseria) sollte man aber nicht witzeln.102 „Es sind also die Rücksicht auf die Situation, die richtige Dosierung des Witzes sowie die Zurückhaltung und Sparsamkeit in seinem Gebrauch, die den Redner vom Spaßmacher unterscheiden werden.“103 Der Magistrat oder Nobilis konnte als Redner die herrschaftliche Pose ablegen und als jovialer, zu schlagfertigen Antworten aufgelegter Mensch erscheinen, der sich mit den vor ihm Stehenden beschäftigte und die Begegnung mit ihnen suchte – die Strategie der Nähe und Minimierung der Hierarchie war also ein gangbarer Weg, auf welchem der Redner um Zustimmung für seine Argumente und vor allem für sich als Person werben konnte. Überwältigende Autorität Zu Beginn des Amtsjahres 200 v. Chr. lehnte der von den Folgen des Hannibalkrieges erschöpfte und nunmehr kriegsunwillige populus Romanus es in den comitia centuriata ab, dem Makedonenkönig Philipp V. den Krieg zu erklären. Im Vorfeld dieser Abstimmungsniederlage muß es eine heftige tribunizische Agitation des Volkstribunen Q. Baebius gegeben haben, über den man sich im Senat besonders aufgeregt habe. Wie soll man es sich anders vorstellen, als daß er oft die Bürger zu contiones eingeladen und dort gewettert hatte: „Die Senatoren reihen Krieg an Krieg, damit ihr, die Bürger Roms, nie den Frieden genießen könnt!“104 Die Senatoren waren erbost und rieten energisch zu einer erneuten Abstimmung. „Bei der Zusammenkunft auf dem Marsfeld berief der Konsul, bevor er die Zenturien abstimmen ließ, zunächst „eine Volksversammlung zum Anhören seiner Rede“105 ein, diese endet in Livius’ Version im Imperativ: „Schreitet zur Abstimmung mit dem Beistand der Götter und ordnet das an, was die Senatoren für gut befunden haben. Zu dieser Entscheidung rät euch nicht nur der Konsul, sondern auch die unsterblichen Götter, die mir, als ich opferte und betete, daß dieser Krieg für mich, den Senat und euch, für die Bundesgenossen und Latiner, für unsere Flotten und Heere gut und glücklich ausgehe, glückverheißende und günstige Zeichen gegeben haben.“ Galba bot ein großes Ensemble von Autoritäten auf, um sich durchzusetzen. Er wußte als Consul, daß die Götter die Römer unterstützen würden. Da er das auspicium führte, hatte er qua Amt eine besondere
102 Cic. de orat. 2,237. 103 Cic. de orat. 2,247: „Temporis igitur ratio et ipsius dicacitatis moderatio et temperantia et raritas dictorum distinguent oratorem a scurra …“. 104 Die Geschichte bei Livius 31,5,1 – 7,15. Liv. 31,6,4: „Tum Q. Baebius tribunus plebis, viam antiquam criminandi patres ingressus, incusaverat bella ex bellis seri ne pace unquam frui plebs posset.“ 105 Übersetzung HILLEN zu Liv. 31,7,1: „Consul in campo Martio comitiis, priusquam centurias in suffragium mitteret, contione advocata.“
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Nähe zu den Göttern. Und Galba betonte das große „Wir“106, um das es gehe: „für mich, den Senat und euch, für die Bundesgenossen und Latiner, für unsere Flotten und Heere“.107 Die Strategie ging auf: Danach befürworteten die Bürger den Kriegszug, den sie vorher abgelehnt hatten. Der magistratische Redner konnte also andererseits höchst autoritär vor das Volk treten und ihm sagen, was es zu beschließen habe. „Schweigt, bitte, Quiriten, ich weiß besser als ihr, was für die res publica gut ist!“ fuhr der Consul Scipio Nasica im Jahre 138 v. Chr. die vor ihm versammelten cives Romani an.108 Aufgrund der Autorität seines Standes, seines Namens, aufgrund der Möglichkeiten, als Magistrat der res publica vor das Volk zu treten, nahm es sich ein römischer Nobilis heraus, den Bürgern Roms mit solch herrschaftlicher Pose gegenüberzutreten. Die Bürger verstummten und waren gehorsam. Die Anrede des populus als dominus omnium gentium war wiederum eine Form, den Bürgern Roms Reverenz zu erweisen, sie war von einem starken Pathos geprägt, in dem mahnende und verpflichtende Töne mitschwangen, ein dominus müsse mit Pflichtbewußtsein und Verantwortung Entscheidungen treffen.109 Es galt dann in der Regel, sich der Verantwortung für das Erbe der Vorfahren bewußt zu sein, die mores maiorum zu befolgen und nicht in Frage zu stellen. Für diese und weitere Verhaltensweisen finden sich zahlreiche Beispiele in der Überlieferung.110 Ein anderer Aspekt ist sicher ebenfalls wirksam gewesen: Neben den Appell an die Verantwortung fürs Ganze tritt die Absicht der Affirmation: Die Bestätigung eines Machtgefühls macht Zustimmung wahrscheinlicher.
106 HÖLKESKAMP 1995, 39ff.: Es gebe „eine als selbstverständlich geltende Gemeinsamkeit der Orientierung auf die (Nützlichkeit für die) res publica. Diese verläßlichen Gemeinsamkeiten und das selbstverständliche Teilen von Überzeugungen wird zunächst dadurch beschworen, daß das „Ich“ des orator und das „Ihr“ der Adressaten immer wieder zum gemeinschaftsbetonenden „wir“ zusammengezogen wird.“ (41). 107 Liv. 31,7,14f.: „Ite in suffragium bene iuvantibus divis et quae patres censuerunt vos iubete. huius vobis sententiae non consul modo auctor est sed etiam di immortales, qui mihi sacrificanti precantique ut hoc bellum mihi, senatui uobisque, sociis ac nomini Latino, classibus exercitibusque nostris bene ac feliciter eveniret, laeta omnia prosperaque portendere.“ Die Historizität der Rede wie auch ihr konkreter Anlaß – Verweigerung der Kriegserklärung an Philipp – sind umstritten, siehe HEFTNER 1997, 461 Anm. 4 und 6. Die Frage der Historizität spielt bei meinen Überlegungen keine Rolle. Livius stellte sich eine mächtige Rede so vor, er wies dem magistratischen Auftritt und der magistratischen Rede eines Oberbefehlshabers eine solche Wirkung zu, daß vorherige Beschlüsse – immerhin über Krieg und Frieden – gekippt werden konnten. 108 Val. Max. 3,7,3: „Tacete, quaeso, Quirites, plus ego enim quam vos quid rei publicae expediat intellego.“ Siehe für weitere Beispiele HÖLKESKAMP 1995, 37f.; FLAIG 2003, 197f. 109 Siehe LASER, 1997, 235; HÖLKESKAMP 1995, 37ff.: „… der dignitas und der vielzitierten maiestas populi Romani Reverenz zu erweisen, direkt und indirekt, explizit und implizit, gehört zu den unbedingt zu respektierenden Konventionen jeder Rede ... “ (38). JEHNE 2000a, 217: „In den Volksversammlungen gehörte es zu den wesentlichen Verhaltensmustern, daß die dort auftretenden Anhänger der Oberschicht die Freiheit des römischen Volkes auch in Bezug auf seine Entscheidungsrechte betonten.“ 110 JEHNE 2000a passim.
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Für derartige Mahnungen waren vor allem die höchsten Amtsträger und Inhaber der summa dignitas prädestiniert.111 „Von einem Konsul wird verlangt, daß er durch seine Rede hin und wieder die von den Tribunen entfesselte Raserei zu bändigen, das erregte Volk umzustimmen, dem Geschenkemachen entgegenzutreten vermag.“112 Bei den tribunizischen Versammlungen kam es also dagegen oft zu aufgewühlten und hoch emotionalisierten Situationen, den von Cicero erwähnten „maximi motus multitudinis“.113 Flucht in den Gestus – wenn Worte nicht mehr helfen Wenn mit den Worten kein Erfolg mehr erzielt werden konnte, bedienten sich die Redner des demonstrativen Gestus. Von Tiberius Gracchus heißt es, er habe während der heißen Phase der Auseinandersetzung mit Octavius täglich auf dem Forum zu den Bürgern gesprochen.114 Wenn dann – wie in diesem Falle – Worte nicht halfen, weil beispielsweise der Kollege unter keinen Umständen bereit war, seine Interzession zurückzuziehen, nahmen Redner auch Zuflucht zu bittenden Gesten. Das Beispiel des Konflikts von Tiberius mit Octavius sei hier in den Worten Plutarchs geschildert. „In diesem Augenblick [….] verlegte sich [Tiberius] noch einmal aufs Bitten. Er umarmte und küßte Octavius vor allem Volk und flehte ihn an, eine derartige Schande doch nicht gleichgültig hinzunehmen und ihm nicht die Verantwortung für eine so schwere und harte Maßnahme aufzubürden. Octavius war nun doch bewegt, er vermochte es nicht, mit starrer Miene diese Bitten anzuhören. Seine Augen, so wird erzählt, füllten sich mit Tränen, und lange Zeit stand er schweigend da.“ Die beiden Kontrahenten standen vor den Augen des populus Romanus auf der Rednerbühne und begegneten sich mit ihren unvereinbaren Positionen. Der Bittgestus des Tiberius war zwar eine zwingende Geste, die auch heftige Reaktionen hervorrief – die Tränen des Octavius sollten Signal seiner inneren Zerrissenheit sein. Aber dennoch gab Octavius nicht nach.115 Ähnlich bat Caesar seinen Kollegen Bibulus kniefällig – und vergeblich – um die
111 HÖLKESKAMP 1995, 37f. mit weiteren Beispielen. 112 Übersetzung von FUHRMANN zu Mur. 24: „Quaeritur consul qui dicendo non numquam comprimat tribunicios furores, qui concitatum populum flectat, qui largitioni resistat.“ Zur aufgeheizten Atmosphäre bei Contionen auch FANTHAM 2000, 107, dort auch die Beispiele von Contionen, die Cicero kritisch erwähnt: Sie seien von unerfahrenen Leuten („imperiti“) beherrscht, oft chaotisch und aufgeheizt. Nicht ohne Grund hätten die Vorfahren gewollt, daß derartige Versammlungen gerade keine Macht besäßen („nullam vim contionis esse“, Flacc. 15). Vgl. sonst. Cat. 4,17; Mur. 38; Sest. 13; 110; Cluent. 77; 93; 103; 105; Flacc. 96. 113 Cic. de. orat. 2, 337. Vgl. auch Ciceros Äußerungen (Sest. 77) über die sich stufenweise steigernde Aggressivität bei Versammlungen oder Wortwechseln von Beamten. 114 Plut. Ti. Gracch. 10. MORSTEIN-MARX 2004, 172ff. – Tiberius’ Gegner verzichteten darauf, öffentlich gegen ihn aufzutreten, sondern organisierten die Blockade durch Einflußnahme auf Octavius. 115 Plut. Ti. Gracch. 12 in der Übersetzung von KONRAT ZIEGLER.
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Aufgabe seines Vetos gegen die lex Iulia agraria.116 Diese Gesten gehörten zur politischen Kommunikation in Rom. Andere Beispiele solchen Verhaltens wären das Anlegen von Trauerkleidung, das Zeigen von Narben, das Vorführen von Kindern eines Angeklagten. Römische Redner konnten Zuflucht zu diesen Formen der Kommunikation nehmen, weil das Publikum damit vertraut war und diese Zeichen deuten konnte. Allerdings mußte auch beim Einsatz dieser Mittel fein austariert werden, ob die Situation geeignet war, auf diese theatralischen Elemente zurückzugreifen oder ob sie – was auch passieren konnte – lächerlich wirken würden. Ciceros Maniliana – eine gelungene contio-Premiere Am Beispiel von Ciceros erstem Auftritt vor einer contio, die der Volkstribun Manilius einberufen hatte, können die verschiedenen Aspekte, die bisher herausgearbeitet wurden, nachvollzogen werden. Diese Rede integriert die bisher dargestellten Komponenten und illustriert die Rollenverteilung in der politischen Kommunikation Roms, die rhetorische Strategie und die (Selbst)Präsentation des Magistraten, die Einbeziehung der Örtlichkeiten und die Rivalität innerhalb der politischen Klasse um die Meinungsführerschaft sinnfällig. Der Magistrat – Cicero war Prätor des Jahres 66 v. Chr. – sprach zu den Quirites – im übrigen nur als einer von mehreren Rednern, die Manilius eingeladen hatte.117 Die Kommunikationsstrategie Ciceros weist verschiedene Modi und Ebenen auf: Der Redner achtete die maiestas des populus Romanus: Er dankte dem Volk für das verliehene Amt, das seine Worte als beneficium seitens der Quiriten hatte erscheinen lassen; stolz äußerte er sich über seinen ersten Platz bei den Wahlen. Er betonte, daß seine auctoritas gerade so hoch sei, wie die Bürger bereit waren, ihm Amt und somit Ehre anzuvertrauen. Er verwies außerdem auf die Entscheidungshoheit der Bürger in allen Fragen. Gleichwohl unterstrich Cicero die Bedeutung der Sache, um die es ging, indem er die Leistungen der Vorfahren betonte und seiner Sorge um das Bestehende durch illustrierende Beschreibungen starken Ausdruck verlieh.
116 Die Darstellung Cassius Dios von Caesars Kampf um seine lex agraria, Cass. Dio. 38,4,3 in der Übersetzung von VEH, illustriert dies: „In seiner Antwort beschränkte sich dieser [Bibulus, F.B.] auf die Erklärung, daß er in seinem Amtsjahr keinerlei Neuerungen hinnehmen wolle; daraufhin ging Caesar so weit, ihn persönlich zu bitten, und veranlaßte auch das Volk, sein Ersuchen zu unterstützen, indem er erklärte: ‚Ihr werdet das Gesetz bekommen, wenn dieser Mann da es will.‘ Doch Bibulus erwiderte mit lauter Stimme: ‚Ihr werdet dieses Gesetz im laufenden Jahre nicht bekommen, selbst wenn ihr alle es wollt.‘“ Vgl. MORSTEIN-MARX 2004, 166; zu den „zwingenden Gesten in der römischen Republik“ das gleichnamige Kapitel von FLAIG 2003, 99ff., bes. 116ff. mit Beispielen, zum Phänomen der symbolischen Kommunikation in Form von Gesten, Gebärden und Ritualen auch ALTHOFF 1999, 142ff. 117 FANTHAM 1997, 115.
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Denn als der auf den von den Vorfahren geschmückten rostra redende Magistrat befand er sich zugleich in der Position, ein aktives Glied in der ununterbrochenen Kette der – höchst erfolgreichen – römischen Imperiumsträger zu sein und mit der auctoritas seiner Position zu sprechen; also sagte er den Quiriten in unmißverständlichen Formulierungen, was sie zu tun und zu entscheiden hätten. Er könne den Bürgern auctores aus der Senatorenschaft benennen, die positive Gutachten für die lex Manilia abgeben würden. Die lex Manilia war innenpolitisch – und dies meint vor allem innerhalb der politischen Klasse – umstritten. Die Opposition des Catulus und Hortensius wurde keineswegs mit Stillschweigen übergangen, sondern explizit benannt, was vordergründig dem Begriff der ‚Konsensherstellung‘ zu widersprechen scheint. Cicero behandelte die Einwände, wies sie rhetorisch und inhaltlich damit zurück, daß der eigentliche Sündenfall doch schon geschehen sei: Er habe in der lex Gabinia bestanden, und da hätten die Herren, die jetzt Einspruch erhöben, ja schon deutlich, jedoch vergeblich ihre Einwände artikuliert. „Zwar nahm das römische Volk damals an, du, Quintus Hortensius, und die anderen, die derselben Meinung waren, ihr sprächet in gutem Glauben und eurer Überzeugung gemäß; gleichwohl wollte sich dasselbe römische Volk, da es um das Heil aller ging, lieber von seiner Entrüstung als von eurer Willensmeinung leiten lassen. So hat uns denn ein Gesetz, ein Mann, ein Jahr nicht nur von diesem Elend und dieser Schande befreit, sondern zugleich bewirkt, daß wir endlich einmal wahrhaft als die Macht erscheinen, die zu Wasser und zu Lande über alle Völker und Stämme gebietet.“118 Cicero versuchte also einen Konsens herzustellen, indem er der Gemeinschaft insgesamt suggerierte, daß das, worüber man abstimmen sollte, etablierte politische Methode, sozusagen bereits mos sei. Außerdem sei derjenige, der mit der lex Manilia betraut werden sollte, geradezu ein Abbild jener maiores, die alle so verehrten. Der von Teilen der Senatoren vorgebrachte Einwurf, so etwas sei noch nie dagewesen, ging in Ciceros Augen also ins Leere.119 Cicero wandte sich in seinen Schlußausführungen explizit an die Gottheiten, die am Forum beheimatet sind: „Ich rufe alle Götter zu Zeugen auf, und am meisten diese, die diesem Ort und heiligen Bezirk („loco temploque“) vorstehen und
118 Übersetzung FUHRMANN zu Cic. Manil. 56f.: „Bono te animo tum, Q. Hortensi, populus Romanus et ceteros qui erant in eadem sententia dicere existimavit et ea quae sentiebatis; sed tamen in salute communi idem populus Romanus dolori suo maluit quam auctoritati vestrae obtemperare. Itaque una lex, unus vir, unus annus non modo nos illa miseria ac turpitudine liberavit sed etiam effecit ut aliquando vere videremur omnibus gentibus ac nationibus terra marique imperare.“ Vgl. MILLAR 1998, 79ff.; FANTHAM 2000, 102f. 119 Anrede Quirites: passim – Entscheidungshoheit der Quiriten: 2;26;27;56;59;64;71 – Sorge um das Bestehende/Leistungen der Vorfahren: 6;11f.;14;45;55;60 – Dank für das Amt: 2 – rostra: 55,70 – Anweisungen an die Bürger: 15;22;48 – senatorische Opposition: 51ff. – Gutachter / auctores: 68 – der Magistrat Cicero: 70 – Pompeius als exemplum / Integration in mos: 40–49;61ff.; vgl. auch FANTHAM 2000, 103f., sie rügt, daß gerade die deutsche Forschung den Passagen des Lobbyisten Cicero für die Steuerpächter zu wenig Aufmerksamkeit widme: „This is a component of society ignored by the recent German studies which seem to polarize Roman political classes between the senate and the plebs urbana.“ (104).
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die Gesinnung aller derer, die sich dem Staat widmen und ihm dienen, genau in Augenschein nehmen.“120 Der Ort des politischen Handelns selbst war ein religiöser Platz – loco temploque meint die rostra;121 als Redner stellte er sich selbst unter den Schutz der Götter, und als amtierender Praetor, der mit imperium auspiciumque ausgestattet war, konnte er auf den besonderen göttlichen Segen seiner Handlungen und somit auch seiner Rede verweisen und die Macht seines Wortes unterstreichen. Der Redner Cicero war insgesamt darum bemüht, einer strittigen Sache den Anstoß zu nehmen, indem er versuchte, die Inhalte, die zur Debatte standen, in die bisherigen politischen Erfahrungen und Verfahrensweisen zu integrieren und so Konsens herbeizuführen. Dies geschah in einer konkreten und direkten Kommunikationssituation, an der jede der Teilgruppen ihren spezifischen, nicht egalitären, sondern autoritär geschichteten Anteil hatte. Am Ende mußte ein von allen getragenes Ergebnis stehen. Eine dauerhafte Anhängerschaft war nicht mit dem einmaligen Auftritt in der contio gewonnen. Es mußte den römischen Nobiles um Stabilisierung und Perpetuierung der Zustimmung gehen. Dies wurde ihnen auch als Erwartungshaltung entgegengebracht und fand in rituellen Interaktionen seinen Ausdruck. Der Auftritt auf den rostra stellte nur eine Variante dar, der Beistand vor Gericht als Patron, öffentliche Feste und Spiele im Anschluß an Triumphe oder Beerdigungen, ostentative Geschenke in Form von Stiftungen oder privat bezahlte Infrastrukturmaßnahmen zählten ebenfalls hierzu. Eine zuverlässige Anhängerschaft in der Masse war das Ergebnis eines mühevollen täglichen Interagierens und keine Selbstverständlichkeit.122 In den contiones war der Kontakt der einzelnen Gruppen des populus Romanus besonders dicht und häufig. Das verbindende, vergemeinschaftende Bewußtsein fand hier seine Entsprechung, Abbildung und Ausformung. Und das Mittel der Kommunikation ist die politische Ansprache. Wer aber sprach eigentlich zu den cives Romani? Die öffentliche Tätigkeit als Redner war ausgesprochen voraussetzungsvoll und verlangte eine umfangreiche Ausbildung, die nur wohlhabende Familien ihren Kindern angedeihen lassen konnten. Diese Ausbildung war wiederum eine unverzichtbare Bedingung, um in der politischen Klasse Roms reüssieren zu können, was die beiden nächsten Abschnitte vorstellen sollen.
120 Cic. Manil. 70: „… testorque omnis deos, et eos maxime qui huic loco temploque praesident, qui omnium mentes eorum qui ad rem publicam adeunt maxime perspiciunt.“ Vgl. ALDRETE 1999, 25. 121 Vgl. HALM ad loc.; vgl. Cic. Vat. 24; Liv. 8,4,12. 122 LASER 1997, 63, 217, 235; YAKOBSON 2001, 141ff., 228ff., JEHNE 1995b; FLAIG 2003, 199ff. (200: „Die herrschende Klasse konnte nicht müßig bleiben, wollte sie ihre Position halten. Sie bekam den Konsens des Volkes in den Comitien nicht einfach geschenkt. Gelegentlich mußte sie diesen Konsens dem Volk abnötigen. Sie mußte sich abmühen, ständige soziale Arbeit leisten und sich fallweise zu politischen Hochleistungen aufschwingen.“); SUMI 2005, 6.
2. ROMS SPRECHENDE ‚POLITISCHE KLASSE‘ – VON KLEIN AN AUFS REDEN GEEICHT
ORATIO A PUERIS Ciceros Abhandlung über die Geschichte der römischen Beredsamkeit, wie er sie im Brutus gegeben hat, greift weit in das dritte Jahrhundert zurück. Und doch weiß er auch schon aus der Zeit der Wende vom vierten zum dritten Jahrhundert von Reden etwa des Appius Claudius Caecus. Er nennt weitere prominente Redner dieser entfernten Vergangenheit: C. Fabricius, Manlius Curius, Marcus Popilius. Diese wichtigen Männer hätten große Entscheidungen durch Reden erzielt.1 Allerdings muß Cicero eingestehen: „Daß aber alle diese Männer wirklich als Redner galten oder daß überhaupt die Beredsamkeit seinerzeit Anerkennung gefunden habe, darüber etwas gelesen zu haben kann ich mich allerdings nicht erinnern. Ich komme allein durch Mutmaßung dazu, derartiges anzunehmen.“2 Auf in seinen Augen sicheren Grund, d.h. auf schriftliche Nachrichten über einen Redner, gelangte Cicero erst mit dem „idoneus auctor“ Ennius, der in seinen Annales über Marcus Cornelius Cethegus Zeugnis ablegte.3 In Ciceros Sicht mußten die noch älteren bekannten Persönlichkeiten aus der Republik ebenfalls glänzende Redner gewesen sein, anders konnte er es sich gar nicht denken.
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Cicero geht sogar davon aus, daß die Vertreibung der Könige und somit die Konstituierung der res publica ohne die Wirkung einer rhetorischen Überzeugungskraft nicht möglich gewesen wären, Brut. 53: „... quod [die Vertreibung des letzten Königs, F.B.] certe effici non potuisset, nisi esset oratione persuasum.“ Dazu HELDMANN 1977, 205f.: „Cicero hat das Verhältnis von Ursache und Wirkung umgekehrt, indem er die römische Beredsamkeit nicht deshalb mit Iunius Brutus beginnen läßt, weil mit ihm die Grundvoraussetzung … erfüllt war, sondern weil die Redegewalt des Brutus die Ursache für den Sturz der Königsherrschaft gewesen sei.“ Cicero zählt im folgenden weitere Beispiele auf, durch die deutlich wird, daß er es sich gar nicht anders vorstellen konnte, als daß diese Männer der frühen Geschichte Roms über Redefähigkeit verfügten. In De oratore (1,35f.) läßt Cicero Scaevola der These des Antonius, „die Staaten seien in ihrem Entstehen von Rednern gegründet und oft erhalten worden“ („... quod ab oratoribus civitates et initio constitutas et saepe conservatas esse ...“, „höflich wie immer“ („... comiter, ut solebat ...“) widersprechen. Übersetzung von KYTZLER zu Brut. 56f.: „... sed eos oratores habitos esse aut omnino tum ullum eloquentiae praemium fuisse nihil sane mihi legisse videor: tantummodo coniectura ducor ad suspicandum.“ Cic. Brut. 57; Enn. ann. 304 SKUTSCH; FANTHAM 2000, 95.
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Die Beredsamkeit war in den Augen der Mitglieder von Roms politischer Klasse ein Herrschaftsmittel von fundamentaler Bedeutung. Daher zielte die Erziehung der jungen Römer in besonderem Maße auf die Ausbildung im Rhetorikunterricht; der lange Weg zur vollkommenen eloquentia begann bereits im Kindesalter. Eine Rede halten zu können war eine zu erlernende Schlüsselkompetenz für jeden politisch ambitionierten Römer. Man kann aber selbst für das zweite Jahrhundert nicht von der ‚Institutionalisierung‘4 der Rhetorik in Rom sprechen – es gab weder allgemeine Redeschulen noch im speziellen lateinische Rhetorikschulen. Die jungen adligen Römer wurden im Hause für ihre spätere Betätigung als Redner ausgebildet, häufig lehrten griechische Sklaven in den Adelshäusern die Rhetorik.5 Plutarch berichtet, wie Aemilius Paullus für die Erziehung seiner Kinder gesorgt hat: „Denn nicht nur griechische Grammatiker, Philosophen und Redelehrer, sondern auch Bildhauer, Maler, Stallmeister, Hundemeister und Lehrer der Jagdkunst waren immer um die Jünglinge, und der Vater – es sei denn, daß ein öffentliches Geschäft ihn daran hinderte – war stets bei den Lehrstunden und Übungen zugegen, kinderlieb wie nur irgendein Römer.“6 Die seltenen und verstreuten Hinweise auf rhetorische Ausbildung sollten nicht dazu führen, die belegten Beispiele lediglich als Einzelfälle zu bewerten. Vielmehr scheint es nicht zu weit zu gehen, sie als Indizien für eine verbreitete Praxis zu sehen.7 Schließlich war die Rede eine allgemeine Anforderung an die
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Zum Begriff MELVILLE 1992, 9ff.: Er nennt als Grundmerkmale von Institutionalität bzw. Institutionalisierung „normative Verhaltensstrukturen“, „objektive Formvorgaben“ sowie „Transpersonalität“. Das Zitat ACHAMS (in Melvilles Beitrag S. 15) „Wir sind immer schon in Institutionalität“ und Melvilles Schlußfolgerung: „Es gibt offensichtlich gegenüber Institutionalität keine Vorgängigkeit.“ erschweren letztlich eine schärfere Begrifflichkeit. Vgl. HÖLKESKAMP 2003, 82f.: Er betont die Dauerhaftigkeit, Regelhaftigkeit, Wiederholbarkeit institutionellen Handelns. Vgl. allgemein HLL 1 §191,2b mit Lit.3; BONNER 1977, 65. – Zu einem sehr teuren Preis verkaufte Accius aus Pisaurum den Sklaven Daphnis, der ein gelehrter Grammatiker war. 700 000 Sesterzen zahlte der princeps senatus M. Aemilius Scaurus für ihn. Nach dem Tod des Scaurus im Jahre 90 v. Chr. zahlte Quintus Lutatius Catulus nochmals dieselbe Summe für Daphnis und ließ ihn dann bald frei, Suet. gramm. 3 mit dem Kommentar von KASTER, siehe auch MÜNZER 1927a. Plut. Aemilius 6 in der Übersetzung von ZIEGLER. Vgl. SCHMIDT 1975, 190: In der Forschung gab es auch die These, daß „…seit der Schlacht von Pydna implizit oder explizit mit griechischen Rhetorenschulen zu rechnen sei.“ Schon damals gab es Ressentiments gegen einen allzu starken griechischen Einfluß. Aufgrund eines Senatsbeschlusses von 161 v. Chr. wurden Rhetoren und Philosophen aus der Stadt gewiesen, siehe Suet. de rhet. 1: „Rhetorica quoque apud nos perinde atque grammatica sero recepta est paululo etiam difficilius quippe quam constet nonnumquam etiam prohibitam exerceri. quod ne cui dubium sit vetus item censorum edictum subiciam: ‚ Fannio Strabone M. Valerio salla coss. M. Pomponius praetor senatum consuluit. quod verba facta sunt de philosophis et rhetoribus de ea re ita censuerunt, ut M. Pomponius praetor animadverteret curaretque uti ei e re publica fideque sua videretur uti Romae ne essent.‘“; Vgl. BONNER 1977, 65.
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ROMS SPRECHENDE ‚POLITISCHE KLASSE‘
Mitglieder der politischen Klasse mit ihren Betätigungsfeldern Gericht – Volksversammlung – Senat. Auch Cato maior, ein „Bild von einem Römer“,8 wollte seinen Sohn nicht ohne Anweisungen für den Redner erziehen. So soll er im Rahmen seiner enzyklopädischen Erziehung für seinen Sohn eine erste Rhetorik in lateinischer Sprache abgefaßt haben.9 Die Schrift ist nicht überliefert, aber das Schlagwort des ‚rem tene, verba sequuntur‘ stellt einen Grundsatz Catos dar: Es muß zunächst um die Sache gehen, nicht um schöne Worte. Aber, so ist zu unterstreichen, die Rhetorik ist letztlich doch unentbehrlich. Aufschlußreich ist auch Catos Definition eines tüchtigen und erfolgreichen Römers, den er als vir bonus peritus dicendi bezeichnet.10 Bei ihm steht an erster Stelle der charakterfeste, integre Römer, der dann aber eben auch erfahren ist im Reden. Die Erziehung zur Rede war selbst in Catos Augen unverzichtbar. Und Cato selbst war ein erfahrener und gefürchteter Redner, er machte das Wort zu einer seiner Hauptwaffen, wie seine zahlreichen Anklagen beweisen. Noch am Ende seines Lebens engagierte sich der 85jährige Cato für die Lusitaner gegen Sulpicius Galba. Dabei habe es sich um eine Redeschlacht gehandelt, die alles enthalten habe: von heftigen leidenschaftlichen Anklagereden Catos gegen Galba, der wiederum von einem Intimfeind Catos, Fulvius Nobilior, energisch verteidigt wurde, bis zum Mitleidsgestus der umarmten Kinder Galbas.11 Vertrautheit im Umgang mit Texten ist bei Römern schon von jungen Jahren an vorauszusetzen. Der Elementarunterricht und die weiterführenden Unterweisungen beim grammaticus12 brachten bereits römischen Kindern die ‚Klassiker‘ wie etwa Hauptpassagen aus Homers Epen13 oder Ennius’ Annalen, aber auch das ganz unliterarische Zwölftafelgesetz nahe – bzw. sie wurden eingebleut.14 Im
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So der von GEHRKE gewählte Untertitel zu seinem Cato-Porträt (GEHRKE 2000). Aber zu diesem „Bild von einem Römer“ stilisierte sich Cato im Laufe seiner Karriere: „Seine Idealisierung des mos maiorum wirkte sich auf seine Selbststilisierung aus: Er war jetzt der echte, alte Römer, wie er im Buche steht (das er freilich selbst geschrieben hat).“ Quint. inst. 3,1,19: „Romanorum primus, quantum ego quidem sciam, condidit aliqua in hanc materiam M. Cato, post M. Antonius [ille censorius] inchoauit: nam hoc solum opus eius atque id ipsum inperfectum manet.“ Vgl. auch FANTHAM 1998, 32; GEHRKE 2000, 156f. Cato selbst lernte griechisch und zeigte im Alter höchstes Interesse für die griechische Literatur (Cic. sen. 3): „... litteris Graecis, quarum constat eum [sc. Catonem, F.B.] perstudiosum fuisse in senectute.“ Vgl. ibd. 26; 38. Sen. contr.1 praef.9; Vgl. auch CHRISTINE WALDE, DNP 10, 2001, 958–978 s.v. Rhetorik, hier 966f. Vgl. die Ausführungen von FANTHAM 1997, 155f. zum Redner Cato. Zu den Vorgängen um Galba s. o. S. 143ff. und weiterhin Cic. de orat. 1,227f.; Liv. per. 49; vgl. auch MÜNZER 1931, 762ff.; HÖLKESKAMP 1995, 23f. Vgl. dazu Cato FRH 3 F 7,1ff.; Plut. Cat.mai. 15. Vgl. allgemein BONNER 1977, 47. Siehe FANTHAM 1998, 24ff. Vgl. BONNER 1977, 47ff. Zu Ennius vgl. Cic. sen. 16. — Der durch Horaz berühmte plagosus Orbilius brachte den Livius Andronicus schlagkräftig bei. (Hor. epist. 2,1,65–78; bes. 70f.); vgl. zu Orbilius BONNER 1977, 58f; Cicero mußte die Zwölftafeln noch auswendig lernen, heute (46 v. Chr.) tue das keiner mehr, Cic. leg. 2,59. Zum Schulalltag beim paedagogus und auch zur ‚Zucht‘
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Vergleich zum Umgang mit Texten war die Beschäftigung mit Mathematik und Naturwissenschaften eher gering. Nur wenn sich eine besondere Begabung technischer Art herausstellte, wurde der Unterricht in dieser Richtung intensiviert. „Im allgemeinen ist der höhere Unterricht lediglich der Unterricht des Grammatikers.“15 Die Rhetorik gehörte eigentlich erst zur höchsten Ausbildungsstufe, obwohl die sprachlichen Übungen beim grammaticus bisweilen schon Berührungspunkte mit ihr hatten. Wie aus Nachrichten über die kaiserzeitliche Ausbildung bekannt ist, kostete die Unterweisung durch einen orator den Schüler schon einiges mehr an Geld, als man dem grammaticus zu zahlen hatte.16 Der soziale Faktor ist beim Bildungsgut Rhetorik nicht zu vergessen, nur wohlhabenden Familien war es möglich, ihre Söhne in den Rhetorikunterricht zu schicken, der innerhalb des römischen Bildungssystems das wichtigste Fach darstellte.17 Das Trainingsfeld steckten sowohl mythologische Situationen oder fiktive Fälle als auch historische Entscheidungsfragen ab. Die Eleven sollten pro und contra abwägen und für jede Seite eine optimale Rede halten können, Themen waren zum Beispiel: Welchen Grund hatte Odysseus, den Aiax zu töten?18 Was soll Hannibal machen: Wie befohlen nach Karthago zurückkehren? In Italien bleiben? Nach Ägypten aufbrechen?19 Die Schüler erhielten in der Kaiserzeit, für die mehr Informationen zu Verfügung stehen, zur Belohnung die Erlaubnis, die gelungenen declamationes veröffentlichen zu dürfen. Die Feuerprobe bestand im Vortrag vor den Eltern, Freunden und Verwandten als kritisch-wohlwollendem Publikum.20
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als gängiges Mittel vgl. MARQUARDT 1886, 12f. Cicero zitiert lateinische wie auch griechische Dichtung in allen drei Bereichen seiner schriftstellerischen Tätigkeit. Ganze Passagen aus Accius verarbeitet er in der Rede für Sestius (102,120–122); vgl. dazu auch HEIL 2003, 30f.; ausführlicher Rückgriff auf dramatische Texte und Techniken ebenfalls in Pro Caelio: HEIL 2003, 48. Die Schrift De divinatione enthält zahlreiche Ennius-Zitate, die Briefe sind gespickt mit griechischen Homer-Zitaten. Interessanterweise begegnen die jungen Dichter Catull und Lucretius nicht als zitierte Autoren. MARROU 1977, 518; vgl. FUHRMANN 1992, 37 („Rhetorik war, wie aller Unterricht in der Antike, eine Schöpfung der Griechen; Die Römer übernahmen…Formen und Inhalte…“). Vgl. zur Mathematik BONNER 1977, 78: „It is true, that only rarely do we hear of Romans, who acquired high expertise in mathematical subjects, as did Sextus Pompeius, uncle of Pompey the Great, in geometry, and Sulpicius Gallus (cos. 166), the first Roman to predict an eclipse of the moon, in astronomy. But it is quite possible that interest among young Romans was wider than the rather limited evidence suggests.“ Vgl. MARROU 1977, 521 mit Quellenbelegen in den Anmerkungen; BONNER 1977, 65ff. BONNER 1977, 79: „... teaching of rhetoric, the most important subject in Roman education.“ Rhet. ad. Her. 2,28. Ibd. 3,2. MARROU 1977, 525 mit Anm. 26; SCHMIDT 1975, 202ff.; 216. (Wirken des Plotius ein epochaler Einschnitt). Tacitus bewertet die rhetorische Ausbildung in seiner Zeit sehr kritisch: siehe Tac. dial. 35 (aus Platzgründen nur die Übersetzung von GUGEL/KLOSE): „(1) Dagegen werden jetzt unsere Jungen in die Schulen der sogenannten Rhetoren gebracht; daß es solche kurz vor Ciceros Zeiten gegeben hat und daß sie unseren Vorfahren nicht angenehm waren,
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Die kaiserzeitliche Rhetorik und ihre Praxis hatten sich vor allem in die Hörsäle und Privatgemächer zurückgezogen. Sie bildete mehr einen ästhetischkünstlerischen Teil der Erziehung. Tacitus bringt es auf den Punkt: „Davon waren jene Alten überzeugt; … sie [waren] sich der Notwendigkeit bewußt, nicht in den Schulen der Redelehrer herumzudeklamieren und nicht in erdichteten Streitreden, die in keiner Beziehung zur Wirklichkeit stehen, nur Sprache und Stimme zu üben, sondern mit den Wissenschaften die Brust zu erfüllen, in denen über das Gute und Böse, über das Anständige und Schändliche, über Recht und Unrecht gehandelt wird; das ist nämlich der Stoff, der einem Redner für seine Rede vorgegeben ist.“21 Die Redeschüler zur Zeit der späten Republik konnten ein ganz anderes Bewußtsein von der rhetorischen Praxis, den Möglichkeiten als Redner und der Rolle eines Redners, nämlich in der Öffentlichkeit agieren zu können, entwikkeln. Die declamationes, die Fragen zu historischen wie auch mythologischen Situationen als Zurede (suasoria) oder als Widerrede (controversia) durchspielten, bildeten auch in früherer Zeit schon üblichen Lernstoff, wie die im Auctor ad Herennium angeführten Aufgabenstellungen belegen. Aber die Perspektive zum Einsatz des Gelernten war eine andere, nicht private, sondern gerichtliche und – sozusagen auf dem Gipfel – öffentlich-politische.22 Die Texte, an denen und mit deren Hilfe man lernte, stellten insofern eine Hürde dar, als sie in griechischer Sprache verfaßt waren. Lateinische Schriften waren selten und natürlich stilistisch nicht so ausgefeilt wie die Werke der grie-
erhellt daraus, daß ihnen von den Censoren Crassus und Domitius befohlen wurde, ihre „Schule der Unverschämtheit“, wie Cicero es nennt, zu schließen. (2) Aber wie ich auszuführen begonnen hatte, heute werden sie in die Schulen gebracht, von denen ich nicht leicht sagen könnte, ob der Ort selbst oder die Mitschüler oder die Art der Studien ihren Begabungen mehr Schaden bringen. (3) Denn es gibt an einem solchen Ort keine Achtung, den nur gleichermaßen Unerfahrene betreten; bei den Mitschülern gibt es keine Förderung, da Knaben unter Knaben und junge Burschen unter jungen Burschen mit gleicher Unbekümmertheit reden und angehört werden; die Übungen selbst aber sind großenteils unsinnig. (4) So werden nämlich zwei Stoffarten bei den Redelehrern behandelt, Beratungsreden und Streitreden. Von diesen nun werden die Beratungsreden, als eindeutig ziemlich leicht und weniger Klugheit erfordernd, den Knaben zugeschoben, die Streitreden den Fortgeschrittenen zugewiesen, aber was für welche, meiner Treu, und wie unglaubwürdig ausgedacht! Es ergibt sich aber, daß man für einen der Wahrheit widersprechenden Stoff auch noch leeres Deklamieren anwendet. (5) So kommt es, daß man Belohnungen für Tyrannenmörder oder Wahlmöglichkeiten geschändeter Mädchen oder Abwehrmittel gegen die Pest oder Inzeste von Müttern oder was eben in der Schule täglich abgehandelt wird, auf dem Forum selten oder nie mit gewaltigen Worten schildert: wenn man vor wirkliche Richter gekommen …“. 21 Übersetzung GUGEL/KLOSE zu Tac. dial. 31,1: „Hoc sibi illi veteres persuaserant, … intellegebant opus esse non ut in rhetorum scholis declamarent nec ut fictis nec ullo modo ad veritatem accedentibus controversiis linguam modo et vocem exercerent, sed ut iis artibus pectus implerent, in quibus de bonis ac malis, de honesto et turpi, de iusto et iniusto disputatur; haec enim est oratori subiecta ad dicendum materia.“ 22 Vgl. GELZER 1969, 2: „Das Ziel dieser Römer war natürlich die praktische Anwendung im Senat, in Contionen und Prozessen, wofür Rom den größten Spielraum bot.“ Siehe auch BONNER 1977, 66; FANTHAM 1997, 117–119; siehe Cic. Brut. 106.
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chischen Rhetorik. Ohnehin waren Griechen in der Regel ja auch die Lehrer der römischen Kinder, zumindest in den reicheren Haushalten, die sich oft einen eigenen grammaticus leisten konnten bzw. ihn als Sklaven besaßen. Die rhetorische Technik der Griechen wurde mit besonderem Argwohn beobachtet, sobald sie allgemein und vor allem in lateinischer Sprache zugänglich wurde und sich zu institutionalisieren begann. Die per censorischem Edikt verhängte Schließung der Rhetorikschule des Plotius Gallus im Jahres 92 v. Chr. legt für diesen Argwohn Zeugnis ab. In den Worten des Antonius, eines der damaligen Censoren, waren es ja „Schulen der Unverschämtheit“ („impudentiae ludus“), die nichts anderes beibrachten, als „eine kesse Lippe zu riskieren“.23 Cicero selbst wollte diese Schule gerne besuchen. Und er war bei weitem nicht allein, der Andrang war groß. Dies mag andererseits zeigen, wie schwer es war, rhetorische Unterweisung zu erhalten, bevor die Schule eröffnet wurde.24 Die Schließung hatte nichts mit pauschaler Griechenfeindlichkeit zu tun – geschweige denn mit Rhetorikfeindlichkeit.25 Im Gegenteil läßt Cicero Antonius die guten Einflüsse, die aus Griechenland nach Rom gekommen seien, in seinem Dialog über den Redner ausdrücklich loben.26 Gelehrsamkeit und Wissenschaft (doctrina) sowie feine menschliche Bildung (humanitas) seien Attribute der Griechen, die auch für jeden Römer erstrebenswert sein müßten.27 Von einer generellen Ab-
23 Cic. de orat. 3,94: „... hos vero novos magistros nihil intellegebam posse docere, nisi ut auderent.“ 24 Dazu LEO 1913, 314ff.; ausführlich PINA POLO 1996, 81–88; Schmidt 1975, 186ff., bes. 194 (Rhetorenschule sei „eine selbständige, öffentliche, für die Phase der iuventus bestimmte Rhetorikschule.“); HLL 1 §191 2e mit Lit.4; CORBEILL 2002, 27; Cic. de orat. 3,93; Quint. inst. 2,4,41f. Vgl. auch Suet. Rhet. 26, der einen Brief von Cicero an M. Titinius zitiert: Cicero wollte damals selbst gerne die Schule des Plotius besuchen, denn jeder wollte dorthin. Durch die Autorität sehr gelehrter Männer sei er davon abgehalten worden. Ihnen zufolge hätten sich griechische Übersetzungen besser zur Ausbildung der geistigen Fähigkeiten geeignet, was Cicero insgesamt sehr bedauerte. („M. Titinium sic refert: ‚Equidem memoria teneo pueris nobis primum Latine docere coepisse Plotium quendam. ad quem cum fieret concursus quod studiosissimus quisque apud eum exerceretur, dolebam mihi idem non licere. continebar autem doctissimorum hominum auctoritate qui existimabant Graecis exercitationibus ali melius ingenia posse.‘“) – Der Erfolg der Schließung scheint sehr zweifelhaft: Plotius Gallus blieb in Rom und war weiterhin als Redenschreiber tätig. Noch im Jahr 56 v. Chr. verfaßte er die Anklagerede gegen den von Cicero verteidigten M. Caelius, s. TILL 1976, 280; FUHRMANN 1995, 47; BONNER 1977, 71ff. bes.73; SUERBAUM spricht ebenfalls, von einer „faktischen Wirkungslosigkeit, da keine coercitio verfügt“ worden sei (HLL 1 §191 2e mit Lit.4). 25 Anders SCHMIDT 1975, 194: „Tendenz des Edikts darf also wohl als generelle Skepsis gegenüber der Rhetorik, ja als latente Theoriefeindlichkeit gedeutet werden.“ 26 Sehr schön zusammengestellt bei BONNER 1977, 70f. 27 De orat. 3,94. Allerdings scheint Plotius die Art der Ausbildung von den Griechen übernommen zu haben. Dies gilt insbesondere für die Stimme, Antonius klagt über die Schreihälse, die sich Redner nennen. (ibd. 2,86: „... tertium vero illud, clamare contra quam deceat et quam possit, hominis est, ut tu, Catule, de quodam clamatore dixisti, stultitiae suae quam plurimos testis domestico praeconio conligentis.“) Die Tatsache, daß es diese schreienden Redner eben auch gab, führt BONNER 1977, 73, auf das Wirken der rhetores Latini und deren am Asianismus ausgerichteten Lehrmethoden zurück. Vgl. Cic. Brut. 321 zur Neuartigkeit von Ciceros
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neigung gegen Rhetorik als vermittelbare Wissenschaft kann jedenfalls keine Rede sein. Rhetorik war ein wesentlicher und auch begehrter Bestandteil der Ausbildung eines jungen nobilis. Die Rhetorikschule war dabei nur ein – und nicht einmal der althergebrachte – Weg des Rede-Lernens. Die Schule hatte natürlich den Nachteil, daß sie nicht einmal entfernt konkret und praxisnah ausbilden konnte. Ihr Angebot bestand darin, einem breiteren Publikum – eben jedem, der bezahlen konnte – téchnē zu vermitteln.28 In dieser Popularisierung mag eher ein Grund für die rabiate Ablehnung der Schulrhetorik durch die römische Oberschicht bestanden haben: Ihr Monopol auf rhetorisch-politische (Aus-)Bildung wurde bedroht29 und damit im Kern ihr Alleinanspruch auf die Kontrolle über die Sozialisation und Reproduktion des politischen Nachwuchses. Wie sollten sie sonst auf Dauer die Etablierung irgendwelcher Emporkömmlinge verhindern, die mit ihrem ureigenen Herrschaftsinstrument, der Rede, am Ende noch die Zustimmung der cives Romani erringen konnten?30 Die Schließung der Schule des Plotius war also politisch motiviert. Allerdings sind auch für die Folgezeit wenigstens einige Namen von Rhetoriklehrern bekannt.31 Es gab in ciceronischer Zeit weiterhin beide Wege, mit Rhetorik vertraut gemacht zu werden: Die jungen Herren konnten also auf Studienreisen nach Kleinasien und Griechenland der griechischen Rhetorik begegnen oder eben doch in Rom selbst, in vielen Fällen war es eine Kombination beider Möglichkeiten. Die griechische Rhetorik fand auch nach 92 v. Chr. Einlaß und Einfluß in Rom. Die von Sueton erwähnten Redelehrer waren vor allem Vertreter
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Stil, was er als einen Hauptgrund dafür ansieht, daß er so viel Aufmerksamkeit erringen konnte. Siehe BONNER 1977, 68, zum Einfluß griechischer Lehrbücher bereits in der Generation von Lucius Licinius Crassus (140–91 v. Chr.) und Marcus Antonius (143–87 v. Chr.). PINA POLO 1996, 81f.; 87; FANTHAM 1997, 119ff.: Die Einrichtung ständiger Gerichtshöfe und die geheime Abstimmung waren für die Entwicklung der Rednertätigkeit zwei wichtige Umstände; JEHNE 2000, 175 mit Anm. 34. Wichtig ist dabei, daß der gesteigerte Wunsch nach Ausbildung in der Beredsamkeit seit der Mitte des zweiten Jahrhunderts dadurch bedingt wurde, daß es eine Intensivierung und Vervielfachung der Gerichte und Prozesse gab. Es entstanden also ein sich gut entwickelnder Markt und eine prosperierende Nachfrage nach guten Rednern und Anwälten. Ebenso zum Konflikt zwischen novitas und nobilitas PINA POLO 1996, 6; JEHNE 2000, 175, versteht das zensorische Edikt von 92 v. Chr. als den „eigentlich systemgerechte[n] Versuch, die Vermittlung der rhetorischen Technik an die Einschärfung der gesellschaftlichen Hierarchie zu knüpfen.“ (1) L. Voltacilius war ein Freigelassener, in der Darstellung Suetons (de rhet. 27) ein rhetorischer Selfmademan, der Cn. Pompeius unterrichtet hat; (2) M. Epidius, Lehrer des Marcus Antonius und Octavians, angeblich auch des Vergil. Wegen Verleumdung („calumnia“) wurde er öffentlich gerügt. (Suet. de rhet. 28). (3) Weiterhin berichtet Sueton von einem Sextus Clodius aus Sizilien (de rhet. 29), daß er in griechischer und lateinischer Sprache deklamierte, wohl recht schlecht sah, dafür aber um so schärfer formulierte („male oculatus et dicax“). Antonius war einer seiner Schüler. Ciceros abschätziges Urteil über diesen Redelehrer (Phil. 2,42f.) hätte vielleicht etwas mehr Gewicht, würde er nicht jeden in dieser Invektive angreifen und diskreditieren, nur weil er mit Antonius in Berührung gekommen ist.
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des Asianismus mit seiner grandiosen Diktion und seinen tönenden Phrasen.32 Der spätere Triumvir Marcus Antonius war einer ihrer Schüler, so daß Plutarch festhalten konnte, daß sein Redestil, den er in Asien gelernt hatte, seinem prahlerischen Lebensstil und seiner eitlen Anmaßung ganz entsprochen habe.33 Die Abwehrreaktionen der Nobilität unterstreichen andererseits, daß Rede das entscheidende Instrument gewesen ist, um in Rom den politischen Aufstieg zu schaffen. Die Öffentlichkeit einer face to face-society verlangte die Fähigkeit des Darstellens und Überzeugens ganz fundamental. Mit Hilfe der Rede mußte sich das Individuum durchzusetzen verstehen. Zugleich konnte Kompetenz in der Rede den sozialen Status sichern und somit auch den Einfluß einer Person stärken. Beredsamkeit war ein entscheidendes Kriterium dafür, in die politische Klasse hineinzukommen und in ihr aufzusteigen.34 Vor allem mit ihrer Hilfe konnte man in die eifersüchtig gehüteten Reservate der politischen Klasse eindringen, wie es Cicero gelungen ist.35 Ehrgeizige Neureiche ließen sich natürlich auf die Dauer von diesem Bildungsgut nicht ausschließen. Sie konnten die Ausbildung ihrer Söhne mit einem entsprechenden privaten Vermögen finanzieren, indem man Rhetoriklehrer als Sklaven kaufte bzw. die Söhne zur Bildungsreise und zum Rhetorikstudium nach Griechenland sandte.36 Die – jedenfalls zur Schau getragene – Ablehnung der griechischen Rhetoriklehre in Rom verhinderte also durchaus nicht, daß die herangewachsenen jungen Herren sich auf ausgiebigen Studienreisen im griechischen Osten von den Meisterlehrern der Rhetorik vor Ort unterrich-
32 BONNER 1977, 75; 80. Cicero wollte dem Streit zwischen Attizisten und Anhängern des asianischen Stils mit der Grundanforderung an jeden Redner begegnen, daß ein vir bonus sämtliche Redestile zu beherrschen habe; vgl. Cic. orat. 29, 100–104. Im Brutus (325–327) wandelt er es ab und hält den Asianismus für einen Stil, der nur für jüngere Redner passend ist. 33 Plut. Antonius 2,5: „Dabei schloß er sich der sogenannten asianischen Richtung an, die zu jener Zeit besonders in Blüte stand und eine große Ähnlichkeit mit seinem großartigen, prahlerischen, von eitler Anmaßung und übertriebenem Ehrgeiz geschwellten Lebensstil aufwies.“ (Übersetzung von ZIEGLER). Ciceros abschätzige Meinung über Antonius’ Redestil bzw. seinen Rhetoriklehrer: Phil. 2,42f.; 3,22. 34 JEHNE 2000, 170f.; bes. 185: „Die Eloquenz konterkarierte also bis zu einem gewissen Grade die ererbte Hierarchie und deren Perpetuierungsmechanismen und produzierte damit Statusdissonanzen.“ 35 HÖLKESKAMP 2004, 74ff. — Dem Aufstieg Ciceros kann man die Karrieren etwa des Marius oder Sulla entgegenhalten, die über ihre militärischen Fähigkeiten Karriere machen konnte. Allerdings waren sie durch akute außenpolitische Krisen und durch die Konsequenzen der Heeresumbildung zur Macht gekommen. Die Soldatenklientel war ihre maßgebliche Basis. Aber gerade Marius’ Rede in Sallusts Bellum Iugurthinum (85ff.) ist in großen Zügen eine Auseinandersetzung mit den mündlich permanent vorgetragenen Verdiensten der sog. Nobiles in Rom, auf die Marius despektierlich herabschaut und denen er seine eigenen Verdienste (Die Narben auf seiner Brust sind seine imagines) selbstbewußt entgegenhält – und doch um eine entsprechende Anerkennung wortreich kämpfen muß. Ciceros Karriere beruht vor allem auf seinem Prestige als Anwalt und seinem Sieg gegen Verres – alles Siege seiner Beredsamkeit. 36 Siehe zur rhetorischen Ausbildung JEHNE 2000, 171 mit Anm. 11; FANTHAM 1998, 28.
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ten ließen.37 Bisweilen kamen prominente Vertreter der griechischen Rhetorik auch zu Besuch nach Rom. Als das Haupt der Akademie, Philon von Larissa, in Rom weilte, nutzte Cicero die Gelegenheit, sich diesem anzuschließen und seine Lehren kennenzulernen.38 Daß aber die Beherrschung der griechischen Rhetoriklehre für den vollkommenen Redner nicht entscheidend ist, macht Cicero in seinem Werk De oratore ganz deutlich. Die Situation des Dialogs wird von Cicero so angelegt, daß er selbst in die Vergangenheit zurückschaut und die besten Redner seiner Vorgängergeneration zu Wort kommen läßt, „als die Menschen besonders glücklich sein und im besten Staat leben durften“.39 In diesem Gespräch äußern sich Musterredner über die beste Ausbildung, den besten Werdegang, die besten Methoden des vollkommenen Redners unter (wiederholter) Ablehnung eines Systems,40 wie die Griechen es entwickelt haben – Cicero läßt Crassus solche griechenkritischen Ansichten vortragen.41 „In der Generation des Crassus vermied man es also in der Öffentlichkeit, griechische oder gar fachliche Spezialbildung erkennen zu lassen.“42 „Es war der Wunsch des Crassus, nicht so sehr den Eindruck zu erwecken, nicht studiert zu haben, wie jene Studien zu verachten und das Wissen unserer Landsleute in jeder Hinsicht dem der Griechen vorzuziehen. Antonius aber meinte, seine Rede werde das Volk um so eher überzeugen, wenn man von ihm glaube, er habe überhaupt niemals studiert.“43 37 Beispiele: Kreis des jungen Cicero: Att. 12,32,3; Plut. Brutus 24; Caesar 76 v. Chr. in Rhodos: Suet. Iul. 4. Ciceros Lehrjahre beschreibt mit Nennung der einschlägigen Quellen GELZER 1969, 2ff., zu Caesar siehe DENS., 1960, 17. Vgl. allgemein FUHRMANN 1995, 43f.; 57 (zum Praxisbezug); BONNER 1977, 81; MARQUARDT 1886, 110ff.; KROLL 1933 II, 118–120 mit Anm. 14 (auf S. 182). 38 Brut. 306; Plut. Cic. 3,1. 39 Cic. de orat. 1,1: „Cogitanti mihi saepe numero et memoria vetera repetenti perbeati fuisse, Quinte frater, illi videri solent, qui in optima re publica, cum et honoribus et rerum gestarum gloria florerent, eum vitae cursum tenere potuerunt, ut vel in negotio sine periculo vel in otio cum dignitate esse possent.“ 40 Cic. de orat. 1,101; 2,1–5; 149; 3,75; Vgl. vor allem die Aussage des Catulus: 2,75: „Nec mihi opus est Graeco aliquo doctore, qui mihi pervulgata praecepta decantet, cum ipse numquam forum, numquam ullum iudicium aspexerit.“ / „Ich kann auch keinen griechischen Lehrmeister brauchen, der mir abgedroschene Vorschriften herunterleiert, ohne daß er selbst jemals das Forum, je einen Gerichtshof zu Gesicht bekommen hat.“ (Übersetzung MERKLIN). 41 Aber auch Crassus gibt natürlich zu, die griechischen Regeln gelernt zu haben, nur das läßt man nicht durchblicken. Mit griechischen Rhetorikregeln fängt alles an, und die sind dann auch leicht zugänglich; vgl. de orat. 1,23. 42 SUERBAUM, HLL 1, §182 (M. Antonius) Lit.2d. (S. 507); siehe auch BONNER 1977, 65f.: Ti. und C. Gracchus, die Großneffen des Pydnasiegers, waren auch von griechischen Rhetoriklehrern in ihren rhetorischen Studien unterwiesen worden, Cic. Brut. 100; bes. 104; vgl. auch Brut. 247 zu C. Memmius, der es in der griechischen Literatur zur Vollkommenheit gebracht habe, die lateinische Literatur habe er nicht so gemocht. Er sei ein feiner Redner gewesen, aber den labor dicendi habe er vermieden. 43 Übersetzung von MERKLIN zu Cic. de orat. 2,4: „(Sed fuit hoc in utroque eorum,) ut Crassus non tam existimari vellet non didicisse, quam illa despicere et nostrorum hominum in omni genere prudentiam Graecis anteferre; Antonius autem probabiliorem hoc populo orationem
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Der griechische Bildungsstand der römischen Redner entwickelte sich offensichtlich allmählich. Etwa in der Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. waren nach Cicero deutlichere Züge von griechischer Bildung zuerst bei Porcina zu bemerken, einem Lehrer des Tiberius Gracchus.44 Allerdings konnte man als römischer Redner auch ohne feine griechische Bildung erfolgreich sein wie beispielsweise die angesehenen und erfolgreichen Redner Carbo und Curio avus. Carbo galt trotz erheblicher Lücken in der Kenntnis des römischen Rechts45 als der beste Gerichtsredner seiner Zeit, der mit vielen Qualitäten überzeugte: seiner wohlklingenden Stimme, seiner gewandten und scharfen, zugleich energischen, anziehenden und witzigen Art; dazu beeindruckte er mit Fleiß und Sorgfalt „bei seinen Übungen und Ausführungen“46 – kurzum: Er war ein erfolgreicher Profi, aber ohne griechische Bildung. Jedoch war die rednerische Zeit vor Cicero aufs Ganze gesehen ein geistiges Brachland, wenn man sich seinem Urteil anvertrauen mag: Die Redner vor ihm hätten sich nur gerade so viel mit Literatur und Philosophie beschäftigt wie die Menge („volgus hominum“), zu der sie sprachen. Alles Wichtige würde man vergeblich suchen: Kenntnisse des römischen Rechts; Kenntnisse der römischen Geschichte, damit man wenigstens einen Zeugen aus der Unterwelt auftreten lassen könne; die Fähigkeit zur auflockernden spöttelnden Bemerkung; die Strategie, vom konkreten Fall zum allgemein zugrundeliegenden Problem zurückzuführen oder zwischendurch einmal zur Auflockerung vom Thema abschweifen zu können! Vor allem aber vermißt Cicero zwei Elemente, die seiner Meinung nach den guten Redner ausmachen, die Beherrschung der Affekterzielung und die Psychagogie: „Keiner, der des Richters Sinn – was die wesentlichste Eigenschaft des Redners ist – in jede beliebige Richtung zu lenken vermocht hätte, wohin auch immer der Fall es erforderte.“47
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fore censebat suam, si omnino didicisse numquam putaretur; atque ita se uterque graviorem fore, si alter contemnere, alter ne nosse quidem Graecos videretur.“ Vgl. GELZER 1969, 188. Brut. 95f. Cic. de orat. 1,40: „ignarus legum“. Cic. Brut. 105: „Canorum oratorem et volubilem et satis acrem atque eundem et vehementem et valde dulcem et perfacetum fuisse dicebat; addebat industrium etiam et diligentem et in exercitationibus commentationibusque multum operae solitum esse ponere. multum operae solitum esse ponere. hic optimus illis temporibus est patronus habitus eoque forum tenente plura fieri iudicia coeperunt. nam et quaestiones perpetuae hoc adulescente constitutae sunt, quae antea nullae fuerunt.“ / „Dieser nannte ihn einen Redner mit wohlklingender Stimme, gewandt und recht scharf, dazu aber auch zugleich sehr energisch wie auch sehr anziehend und sprühend von Witz. Er fügte hinzu, er sei außerdem fleißig und sorgfältig gewesen und habe regelmäßig auf seine Übungen und Ausarbeitungen viel Mühe verwendet. Er galt als der beste Rechtsanwalt seiner Epoche, und es war zu der Zeit, da er auf dem Forum die Vorherrschaft besaß, daß sich die Gerichtsverhandlungen zu mehren begannen. Denn als er ein junger Mann war, wurden einerseits die ständigen Gerichtshöfe konstituiert, die es zuvor nicht gegeben hatte.“ (Übersetzung KYTZLER). Paraphrase von Cic. Brut. 322. Oben in Übersetzung zitierter Schluß von KYTZLER ibd.: „Nemo qui ad iracundiam magno opere iudicem, nemo qui ad fletum posset adducere, nemo
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Dieser Abqualifizierung der gesamten vorciceronischen Rhetorik paßt natürlich nicht zu dem Lob, das er einer ganzen Reihe von Rednern aus der Zeit vor seinem eigenen Wirken zollt wie etwa dem alten Cato oder den Gracchen. Hier wirkt wohl allzu stark Ciceros Ideal des vollkommenen, enzyklopädisch gebildeten Redners, das er in seinen späteren Schriften, vor allem De oratore, entwickelte.48
PRAXIS UND THEORIE – DER KÖNIGSWEG EINER RÖMISCHEN AUSBILDUNG Junge adlige Römer wurden im Idealfall von ihrem Vater in den Senat und zu Versammlungen mitgenommen und so in die politische Praxis eingeführt: Anschauungsunterricht durch Zusehen und Zuhören eines aktiven Politikers, Redners und Anwalts galt als der Königsweg der Ausbildung.49 Der tägliche Gang zu contiones bzw. zu den Gerichten stand jedem offen und konnte sozusagen als Schule fungieren.50 Ununterbrochene Übung, Disziplin und besonderer Fleiß gehörten
qui animum eius, quod unum est oratoris maxume proprium, quocumque res postularet impellere.“ 48 Vgl. Cic. de orat. 1,32. 49 Tac. dial. 34 passim, bes. 6: „Atque hercule sub eius modi praeceptoribus iuvenis ille, de quo loquimur, oratorum discipulus, fori auditor, sectator iudiciorum, eruditus et adsuefactus alienis experimentis, cui cotidie audienti notae leges, non novi iudicum vultus, frequens in oculis consuetudo contionum, saepe cognitae populi aures, sive accusationem susceperat sive defensionem, solus statim et unus cuicumque causae par erat.“ / „Und, beim Hercules, unter derartigen Lehrern wurde jener junge Mann, von dem wir sprechen, als Schüler der Redner, Zuhörer am Forum und eifriger Besucher der Gerichtssäle ausgebildet und ihm waren die Gesetze vom täglichen Hören vertraut, nicht neu die Mienen der Richter, häufig vor Augen der gewohnte Ablauf der Volksversammlungen, oft erprobt der Geschmack des Volkes; so war er, hatte er nun eine Anklage oder eine Verteidigung übernommen, allein und ganz auf sich gestellt sogleich jedem Prozeß gewachsen.“ (Übersetzung GUGEL/KLOSE). Als Cicero gegen seinen Rivalen Q. Caecilius um die Anklage gegen Verres kämpfte, betonte er seine eigene in Rom und Athen erhaltene Bildung und hielt sich u.a. von daher für den geeigneteren Ankläger, während der Freigelassene Caecilius, der in Lilybaeum griechisch und in Sicilia lateinisch studiert habe, kein echter römischer Ankläger sein könne; Cic. div. in Caecil. 39f. 50 Plut. Cicero 3. Cicero (Brut. 303ff.) berichtet über seinen eigenen Werdegang: Er hielt sich praktisch täglich auf dem Forum auf und lauschte den Gerichtsrednern und den Magistraten. Außerdem hatte er das Glück, bei Quintus Scaevola Aufnahme zu finden. „Dieser nahm zwar keine Schüler an, jedoch konnten interessierte Zuhörer aus den Rechtsgutachten lernen, die er auf Antrag erteilte.“ (Brut. 306: „Ego autem iuris civilis studio multum operae dabam Q. Scaevolae P. f., qui quamquam nemini ad docendum dabat, tamen consulentibus respondendo studiosos audiendi docebat.“ Übersetzung von KYTZLER) Vgl. Cic. de orat. 1,25: Crassus kommt in Begleitung zweier junger hoffnungsvoller Redner zu dem Gespräch: C. Aurelius Cotta und P. Sulpicius Rufus (beide im tribunatsfähigen Alter, also um die dreißig); 1, 95: Sulpicius wähnt sich und seinen Mitschüler glücklich, bei diesem Gespräch dabei sein zu können; 1,133: Crassus wird von Cotta und Sulpicius gedrängt, „…daß du uns belehrst.“;
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dazu, wenn man wirklich gut werden wollte. Cicero legt in diesem Sinne Zeugnis für Hortensius ab, der an den Tagen, an denen er nicht auf dem Forum sprach, zu Hause Übungsreden erarbeitete.51 Junge Männer des Adels bemühten sich darüber hinaus darum, in den Kreis eines prominenten Zeitgenossen zu gelangen, ihm als sein Schüler und Mündel zu folgen, ihn bei seiner täglichen Arbeit begleiten zu dürfen und so direkt vom großen Vorbild zu lernen.52 Erst mit diesem Schritt begann in der Regel das Kennenlernen des Rechts. So kam Cicero bereits als zehnjähriger Junge in Kontakt zu Lehrern, mit denen Antonius verkehrte,53 oder mit dem gebildeten griechischen Dichter Archias.54 In Ciceros Haus lebte über einen langen Zeitraum der erblindete stoische Philosoph Diodotos, von dem Cicero in seinen Kinderjahren („a primo tempore aetatis“) unterrichtet wurde: ‚Hauptfächer‘ waren Philosophie und tägliche Rede- und Deklamationsübungen.55 Gleichzeitig konnte der junge nobilis im Hause seines Lehrers wichtige Kontakte knüpfen und erste Fäden seines personalen Netzes spinnen.56 Die Formen von in Rom akzeptierter Rhetoriklehre sind nur selten greifbar und zudem noch relativ spät. Erst in den achtziger Jahren des ersten vorchristlichen Jahrhunderts lagen zwei schriftliche Abhandlungen vor: Der anonyme Auctor ad Herennium und Ciceros De inventione. Bis zur Veröffentlichung von Ciceros Verres-Reden gab es für Redeschüler keine ‚modernen‘ schriftlich zu greifenden Redebeispiele in lateinischer Sprache. Cicero selbst hatte noch vorwiegend
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1,146: Das Forum ist laut Crassus wie ein Schlachtfeld, die Lernphase eine Vorbereitung darauf. „‚Hanc [sc. exercitationem, F.B.] ipsam‘ inquit Sulpicius ‚nosse volumus; ac tamen ista, quae abs te breviter de arte decursa sunt, audire cupimus, quamquam sunt nobis quoque non inaudita‘“ / „‚Gerade diese Vorübung‘, fiel Sulpicius ein, ‚möchten wir gerne kennenlernen … doch auch jene Kunstregeln, die du nur kurz durchlaufen hast, wünschen wir zu hören, obwohl sie uns nicht ganz neu sind.‘“ (Übersetzung MERKLIN). Vgl. auch SCHOTTLAENDER 1967, 126; BONNER 1977, 42; SCHULZ 1997, 27f.; EICH 2000, 239. Siehe weiterhin Cicero de orat. 2,2; 3,74; Brut. 306; Lael. 1; Arch. 1. Cic. Brut. 302. Siehe auch BLÄNSDORF 2001, 209. Tac. dial. 34. Das, was dem Lehrer auf dem Forum zustieß – Positives wie Negatives –, sollte den Schülern vermittelt werden („eruditus et adsuefactus alienis experimentis“; Tac. dial. 34,6); vgl. SCHOTTLAENDER 1967, 126. Siehe auch Cic. sen. 29. Verwandtschaftliche Nähe zu Marcus Antonius, siehe GELZER 1969, 1. Cic. Arch.1. Vgl. auch BONNER 1977, 76f. Cic. nat. deor. 1,6; vgl. auch Brut. 309; Lucull. 115; Tusc. 5,113; fam. 13,16,4; BONNER 1977, 77. GELZER 1969, 5, stellt zusammen, welche Kontakte Cicero nach dem Empfang der toga virilis knüpfen konnte: der damals bereits 80jährige Quintus Mucius Scaevola (cos. 117 v. Chr., augur), Schwiegersohn des C. Laelius (cos. 140) und Schwiegervater des L. Crassus, bedeutete nicht nur die beste Einführung in die Rechtskunde, sondern durch Erzählungen auch gleichzeitig eine Verbindung zur Generation des jüngeren Africanus sowie der Gracchen; er lernte hier T. Pomponius Atticus kennen, P. Sulpicius Rufus (tr.pl. 88 v. Chr.), Ser. Sulpicius Rufus (cos. 51 v. Chr.); nach dem Tod des alten Scaevola (87 v. Chr.) schloß er sich Quintus Mucius Scaevola (cos. 95, pont. max. seit 89? v. Chr.) an; er verkehrte mit L. Aelius Stilo, „dem bedeutendsten Gelehrten seiner Zeit, der als Berater mit vielen vornehmen Senatoren in naher Verbindung stand.“; die einschlägigen Quellenbelege ibd. in Anm. 36–50.
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auf griechisch gelernt, wie er es dem zwanzig Jahre jüngeren Brutus erklärend darstellt.57 Griechische Reden wurden studiert, übersetzt, auswendig gelernt und deklamiert.58 Rhetorica ad Herennium „Die Rhetorik ist ganz griechisch“, überschreibt HENRI MARROU einen Abschnitt in seinem Werk über die Erziehung im klassischen Altertum und fährt fort: „Es gibt keine eigentlich lateinische Rhetorik.“59 Was als lateinische Rhetorik vorliegt, sind erlernte griechische Lehren, die in lateinische termini technici übertragen wurden. Der uns überlieferte Traktat „ad Herennium“, entstanden zwischen 86 und 82 v. Chr., gibt eine relativ detaillierte und vor allem praxisorientierte Anleitung zur Redegestaltung, insbesondere von Gerichtsreden.60 Geradezu katalogartig werden die einzelnen Schritte bei der Herstellung einer Rede besprochen, die anzuwendenden Stilmittel werden genannt, erklärt und mit einem Beispiel belegt bzw. illustriert, wodurch der didaktische Charakter der Schrift unterstrichen wird. Nur an einigen Stellen wird das psychagogische Element, die „potentia oratoris“ (2,40), hervorgehoben, dann aber auch als ein sehr bewußtes Ziel des Redners: Zornausbrüche, Empörung (4,51) oder Mitleid (3,24), Sinn für einen feinen und entspannten Humor (3,25)– all dies kann der Redner bei seinem Publikum erreichen, wenn er sich von den Anweisungen des Lehrers leiten läßt. Gerade in diesem Zusammenhang widmet der Auctor längere Passagen der actio bzw. pronuntiatio einer Rede. Er hebt gerade diesen Abschnitt seines Werkes hervor, wenn er festhält, daß er hier sozusagen Neuland betrete. Niemand habe bisher darüber geschrieben, und daher fülle er jetzt diese Lücke.61 Insbesondere
57 Cic. Brut. 310. Vgl. FANTHAM 1998, 26ff.; BLÄNSDORF 2001. In De oratore 1,155 berichtet Crassus von seinen Studien. Er lernte griechische Reden der besten Redner auswendig und versuchte das Eingeprägte in lateinischer Übersetzung wiederzugeben. 58 Cic. de orat.1,155; Quint. inst. 1,11,14; BLÄNSDORF 2001, 206f. 59 MARROU 1977, 524. 60 Diese Einschätzung wird allgemein geteilt, siehe nur SCHANZ-HOSIUS 1927, §197 (S. 587); GÖHRLE 1990, 32; VON ALBRECHT 1992, 471; FUHRMANN 1995, 49. 61 Rhet. ad Her. 3,11;19: „... quia de ea re nemo scripsit diligenter.“ – Aristoteles hatte die Theorie über den Vortrag nicht voll ausgebreitet und entwickelt (Rhet. 3,1. 1403b). Es gab aber in hellenistischer Zeit zumindest das Werk des Theophrast perˆ Øpokr…sewv, das von Diog. Laert. 5,48 erwähnt wird. Zeitnah zum Auctor schrieb L. Plotius Gallus über die rednerische Gestik seiner Zeit, siehe Quint. inst. 11,3,143: „Togam ueteres ad calceos usque demittebant, ut Graeci pallium: idque ut fiat, qui de gestu scripserunt circa tempora illa, Plotius Nigidiusque, praecipiunt.“ / „Die Alten ließen die Toga bis zu den Schuhen reichen, wie die Griechen das Pallium; und daß man es so mache, findet sich als Vorschrift bei den Schriftstellern jener Zeiten über das Gebärdenspiel, Plotius und Nigidius.“ (Übersetzung RAHN); vgl. WÖHRLE 1990, 41f.; BONNER 1977, 80f.
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äußert er sich zu Körperhaltung, Mimik und zur Modulation der Stimme.62 Er erläutert dies auf zwei Ebenen. Zum einen wird deutlich, daß das Halten einer Rede eine große körperliche Anstrengung ist und man mit seinen Kräften haushalten muß. Die Stimme darf nicht gleich total belastet werden, sondern benötige sozusagen eine Aufwärmphase, um zu möglichst dauerhafter Lautstärke zu kommen.63 Pausen zwischen Worten, Sätzen und Absätzen müssen ebenfalls eingehalten und sinnvoll eingesetzt werden. Denn die zweite Ebene neben der körperlichen Belastung für den orator ist die der psychologischen Wirkung, die er auf seine Zuhörer ausüben möchte. Hierzu sind Gestik, Mimik und Stimmführung ebenfalls von entscheidender Bedeutung. Zu diesem Zweck gab es eine detaillierte Lehre für die Bewegungen, die das Sprechen begleiten sollten.64 So muß man, je nachdem was der Inhalt fordert, ruhig stehen oder aufgeregt hin- und hergehen, ja sogar mit dem Fuß aufstampfen. Will man die Zuhörer packen und eindringlich ermahnen, muß der Redner sein Gesicht den Zuhörern zuwenden und, so weit es geht, an sie heranragen lassen (3,27), damit das Gesagte sich im Minenspiel ablesbar wiederfinden läßt. Besondere Wirkung erzielt auch der – bei gleichzeitigem Hin- und Herlaufen – fixierte Blick, der sich erst bei Anbringen des eigentlichen Punkts löst und die Zuschauer wieder trifft.65 Es gibt einzelne Körperhaltungen,
62 Rhet. ad Her. 3, 19–27; vgl. Cic. de orat. 3,220ff. Vgl. auch ALDRETE 1999, 72. Zum Vortrag auch BLÄNSDORF 2001, 220ff.; WÖHRLE 1990. 63 Cicero (de orat. 3,225) schildert den Flöten-Trick des Gracchus pater: Gracchus habe, immer wenn er als Redner auftrat, einen kunstverständigen Mann mit einer Flöte hinter sich gestellt, der ihm schnell den Ton anblasen mußte, wodurch er ihn, wenn er zu schlaff redete, anspornte, oder wenn er in zu große Heftigkeit geriet, zurückpfiff. Vgl. auch allgemein SCHOTTLAENDER 1967, 138f. Quintilian inst. 11,3,47 führt dies am Eröffnungssatz der Miloniana vor, vgl. BLÄNSDORF 2001, 226. – Cicero forderte für den Redner Stimme und Gebärde eines Schauspielers ein (de orat. 1,128: „vox tragoedorum, gestus paene summorum actorum est requirendus“). Zur Stimmbildung besuchte man den Unterricht eines Schauspielers: siehe WÖHRLE 1990, 41f.; KRUMBACHER 1920, 81ff. 64 Vgl. dazu ausführlich ALDRETE 1999, 3ff. Die umfassendste Quelle für die Regeln der Gestik ist die institutio oratoria des Quintilian, auf den sich ALDRETE in der Hauptsache beruft. Cic. de orat. 1,252f. zu Gestik, Stimme und Gebärdensprache. Zur Stimmausbildung auch BONNER 1977, 72f. mit den Anmerkungen. 65 Die Arbeit mit Mienenspiel und vor allem den Augen sowie der Blickkontakt zu den Zuhörern sind äußerst wichtig. Der fixierte Blick kann nur effektvoll sein, wenn er sich dann auch löst und nicht ‚kleben bleibt‘. So lehrte es bereits Theophrast, den Cicero (de orat. 3,221) mit dem Beispiel des Tauriskos zitiert; siehe auch Cic. or. 60. Für Cotta war es lohnend, Crassus’ Mienenspiel in den entscheidenden Momenten von dessen Auftritten zu beobachten (Cic. de orat. 3,17); vgl. WÖHRLE 1990, 40. Cicero erinnert in De oratore 2,242 an eine gelungene Aktion des Crassus, eine karikierende Wiedergabe wohl des ahnenstolzen Domitius Ahenobarbus: „‚Per tuam nobilitatem, per vestram familiam.‘ Quid aliud fuit, in quo contio rideret, nisi illa vultus et vocis imitatio? ‚Per tuas statuas!‘ vero cum dixit et extento bracchio paulum etiam de gestu addidit, vehementius risimus.“ / „‚Bei deinem Adel, bei deiner Familie!‘ Was war es anderes als die Nachahmung des Gesichtsausdrucks und Tonfalls, worüber die Volksversammlung lachte? Als er aber ‚Bei deinen Statuen!‘ rief und mit ausgebreiteten Armen noch eine Andeutung der Gebärde hinzufügte, da lachten wir noch mehr.“ (Übersetzung MERKLIN).
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die entweder Kummer und Angst oder Schrecken zum Ausdruck bringen sollen.66 Und nicht zuletzt spielen auch an der passenden Stelle angebrachte und stilistisch korrekt vorgetragene historische Beispiele eine wichtige Rolle. Aber eines solle dem Redner nicht unterlaufen: Man darf ihn nicht für einen Schauspieler halten.67 Dem Auctor geht es darum, der Rede Würde und Glaubwürdigkeit zu verleihen.68 Die actio ist, wie die Beispiele zeigen, in Teilen an die Schauspielerei angelehnt, und sie entlehnt ihr auch einzelne Elemente. Die Darbietung des Redners soll aber letztlich nur eine die Worte unterstreichende, jedoch nie sie überlagernde Funktion haben.69 Theatralische Effekte sollten als Klimax eingestreut werden, die heftigsten Gesten gehören in den Schlußteil der Rede, in die peroratio.70 „Dies muß man jedoch wissen, daß ein guter Vortrag es bewirkt, daß der Anschein erweckt wird, die Rede komme aus dem innersten Herzen.“ Ein bißchen Schauspielerei ist also stets dabei gewesen. Der Auctor kann allerdings nur die Grundregel aufstellen, für den Rest gilt: ‚Übung macht den Meister!‘71 66 Quint. 11,3,104; 113; dazu ALDRETE 1999, 9ff.; 70f. 67 Rhet. ad Her. 3,26: „Convenit igitur in vultu pudorem et acrimoniam esse, in gestu nec venustatem conspiciendam nec turpitudinem esse, ne aut histriones aut operarii videamur esse.“ Vgl. auch Cic. de orat. 2,242; 3,220; ALDRETE 1999, 71: „The line between brilliant orator and a buffoonish one was very fine, a reality acknowledged by ancient practitioners of rhetoric.“ 68 Siehe Rhet. ad Her. 3,24: „sermo in dignitate“; 3,26: „sermo cum dignitate“. – Ganz ähnlich Cic. inv. 1,25. 69 Quint. inst. 11,3,109 lehrt, daß die Bewegungen und der angemessene Einsatz von Mimik und Gestik bereits bei der Ausarbeitung von Reden berücksichtigt wurden: „Unde id quoque fluit vitium, ut iuvenes cum scribunt, gestu praemodulati cogitationem, sic componant quo modo casura manus est. Inde et illud vitium, ut gestus, qui in fine dexter esse debet, in sinistrum frequenter desinat.“ / „Daraus entspringt dann auch der Fehler, daß die jungen Leute, während sie ihre schriftliche Fassung ausarbeiten, da sie in Gedanken das Gebärdenspiel vorauseinteilen, die Wortfügung so anlegen, wie dann die Hand den Takt schlagen wird. Daher denn auch der Fehler kommt, daß häufig eine Gebärde, die am Ende rechts sein muß, links endet.“ (Übersetzung RAHN). Es ist wahrscheinlich, daß auch Überlegungen zur Stimmführung dazuzurechnen sind; vgl. WÖHRLE 1990, 40f.; bes.42: „Allen drei vollständig erhaltenen Texten zum rednerischen Vortrag, der Auct. ad Her., Ciceros De oratore (daneben auch der Orator) und Quintilians Institutio oratoria ist im übrigen die Stellungnahme gegen eine allzu schauspielerisch übertriebene manierierte Vorgehensweise gemein …“. 70 SCHOTTLAENDER 1967, 140f. mit dem antoninischen Beispielpaar des Narben- bzw. Wundenzeigens bei der Verteidigung des Aquilius (98 v. Chr.; de orat. 2,195) und der Leichenrede für Caesar (44 v. Chr.). Die Reden wurden von Großvater und Enkel gehalten. Hält man sich vor Augen, daß der junge Marcus Antonius seinen Großvater im Rahmen der römischen Ahnenverehrung als Vorbild ansah und genau um dessen große Taten als Redner wußte, so wird die Geste des Narben-Zeigens des älteren Antonius für den jüngeren Antonius zum exemplum maioris, das er ,einholte‘, ja wohl sogar übertraf, als er im späteren Verlauf der Rede Caesars blutgetränktes Gewand hochhielt und dem populus so die Wunden Caesars sinnbildlich vor Augen führte, vgl. Plut. Antonius 14. Vgl. auch FLAIG 2003, 123ff. 71 Rhet. ad Her. 3,27: „Reliqua trademus exercitationi. Hoc tamen scire oportet, pronuntiationem bonam id perficere, ut res ex animo agi videatur.“ Der Redner soll also mit und in seinem Stoff aufgehen, vgl. ibd. 4,69 (Wichtigkeit von Ausdauer und Übung); Cic. de orat. 2,189: „Neque fieri potest ut doleat is, qui audit, ut oderit, ut invideat, ut pertimescat aliquid,
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Die Behandlung der exempla in der Rhetorik an Herennius Der Titel der vorliegenden Untersuchung legt von vornherein das Hauptaugenmerk auf die „verargumentierte Geschichte“. Für die Untersuchung der öffentlichen politischen Erinnerungskultur liegt somit ein Schwerpunkt auf den exempla Romana. Was lehrt der Auctor nun über die exempla? Die Beispiele der Herennius-Rhetorik entstammen – wenn sie historische sind – überwiegend der näheren Vergangenheit des Auctors. Oft geht es um die Auseinandersetzung gegen germanische Stämme, der Bundesgenossenkrieg ist ein wichtiges Thema. Die exempla weisen eine populare Tendenz auf, beispielhaft sei hier die Darstellung des Mords an Tiberius Gracchus erwähnt, die am Schluß der Schrift plaziert ist.72 Aber der Auctor geht auch durchaus weiter in die Vergangenheit zurück, spricht vom Sieg über Karthago und meint damit wohl eher den jüngeren als den älteren Scipio – aber gerade diese Offenheit historischer Anspielungen macht exempla doppelt lesbar. Im ganzen bleibt festzuhalten, daß zeitnahe Anspielungen deutlich überwiegen. Einmal notiert er das Beispiel der devotio der Decii73 und geht damit ins vierte bzw. dritte Jahrhundert zurück. Bei seinen Ausführungen zum Gebrauch der exempla weist der Auctor die griechische Lehrmeinung zurück.74 Er hält es für besser, die Beispiele insgesamt zu kennen und auch anführen zu können. Als Fundgrube für Beispiele dienen Cato, die Gracchen, Laelius, Scipio, Galba, Porcina, Crassus, Antonius und „die übrigen Redner“, auch Dichter und Geschichtsschreiber liefern exempla.75 Aber sie sind eher Beispiele für vorbildliche Beredsamkeit als historische exempla. Dies hängt vor allem mit der auctoritas zusammen, die diese alten Beispielgeber hät-
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ut ad fletum misericordiamque deducatur, nisi omnes illi motus, quos orator adhibere volet iudici, in ipso oratore impressi esse atque inusti videbuntur.“ / „Es ist auch gar nicht möglich, daß der Zuhörer Schmerz oder Haß, Neid oder Furcht empfindet, daß er sich zu Tränen und Mitleid bewegen läßt, wenn alle die Gefühle, zu denen der Redner den Richter bringen will dem Redner selbst nicht eingebrannt und eingeprägt erscheinen.“ (Übersetzung MERKLIN). Vgl. BLÄNSDORF 2001, 226f. Siehe auch Cic. de orat. 2,192–195 (Bezug zu Antonius’ berühmter Verteidigung des M’. Aquilius aus dem Jahre 98 v. Chr.). — Die Frage des aptum sei nie zu vergessen: Wer unangemessen theatralisch sei, laufe Gefahr, zur Witzfigur und zum Spottobjekt zu werden, siehe Cic. de orat. 1,177 („caput esse artis decere quod facias“); 2,242; Brut. 216–217; vgl. ALDRETE 1999, 68; vgl. auch WÖHRLE 1990, 39f.; 45; CORBEILL 2004, 114. Die Wahrhaftigkeit zwischen der Aussage des Redners und seiner eigenen Einschätzung bzw. Empfindung bei einer Sache, über die er spricht, betont schon Dem. 18,282; vgl. OBER 1989, 320 mit Anm. 53. Rhet. ad Her. 4,67. – Zur popularen Tendenz der gesamten Schrift vgl. UNGERN-STERNBERG 1973, 143–162. Rhet. ad Her. 4,57. Rhet. ad Her. 4,1–10. Rhet. ad Her. 4,7. – Im Laufe seiner Abhandlung zitiert der Auctor Ennius (2,34), Pacuvius (2,36) und auch Plautus (2,35). GELZER 1969, 11 Anm. 91 hält zu der Liste fest: „Natürlich hat diese Aufzählung nichts mit Politik zu tun.“
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ten.76 Die Gracchen können in doppelter Hinsicht exemplum sein: Sie sind zum einen historisches,77 und zum anderen rhetorisches exemplum für den Redeschüler. Besonders für das genus der deliberatio sei es sehr zuträglich, möglichst viele Beispiele aus der Vergangenheit anzubringen.78 Weshalb dies so sei, wird allerdings nicht erläutert. Der Auctor reflektiert weniger auf den historischen Gehalt der angeführten exempla als auf deren stilistische und rhetorische Präsentation. Zu unterstreichen bleibt die Selbstverständlichkeit im Umgang und in der Benutzung historischer Beispiele der eigenen römischen Geschichte, diese ‚Kulturtechnik‘ steht für den Auctor ganz außer Frage. Für die Präsentation eines exemplum reicht – dies handelt er unter dem Stichwort der Kürze (brevitas) ab79 – die einfache Nennung eines Namens oder eines Kerninhaltes, um Vergleiche ziehen zu können. Mit einer Umschreibung für Marius wird dies an der angegebenen Stelle vorgeführt.80 Zur Verstärkung oder zur Abschwächung kann man ebenfalls den geschichtlichen ‚Kurzvergleich‘ anwenden. Man benennt eine Person einfach mit dem Namen einer historischen Person, und gibt damit seinen Ausführungen die gewünschte Tendenz, etwa wenn man jemanden einen „Gracchus“ nennt.81 Dieses Stilmittel der brevitas setzt unausgesprochen voraus, daß man dem Publikum zutraute, derartige Anspielungen und Umschreibungen decodieren zu können. Man unterstellte also zumindest eine grobe, fundamentale Kenntnis der römischen Geschichte und der sie tragenden Hauptpersonen oder – vorsichtiger gesagt: – man ging davon aus, daß eine bestimmte Reaktion auf Namen oder Symbole der eigenen Geschichte antizipierbar war. Dies gilt natürlich für alle drei genera dicendi. Je nach Art eines Falles gilt es das Publikum auf seine Seite zu ziehen, dafür gibt der Auctor Anweisungen.82 Daß der Redner mit der Macht („potentia“), die er über das Publikum hat, auch verantwortlich umgehen muß, betont der Verfasser.83
76 Rhet. ad. Her. 4,2: „Quid? Ipsa auctoritas antiquorum non cum res probabiliores tum hominum studia ad imitandum alacriora reddit? Immo erigit omnium cupiditates et acuit industriam, cum spes iniecta est posse imitando Graeci aut Crassi consequi facultatem?“ / „Wie? Macht das Ansehen der alten Schriftsteller allein nicht den Sachverhalt glaubwürdiger und besonders den Eifer der Menschen, sie nachzuahmen, nicht feuriger? Sicher weckt es das Verlangen aller und schärft ihren Fleiß, wenn die Hoffnung eingeflößt ist, man könne durch Nachahmung die Fähigkeit eines Gracchus oder Crassus erreichen.“ (Übersetzung NÜSSLEIN). 77 Zum Beispiel Rhet. ad Her. 4,31; 38; 42. 78 Rhet. ad Her. 4,9: „plurima rerum ante gestarum exempla“. 79 Rhet. ad. Her. 4,68. 80 Rhet. ad Her. 4,68: „Item: ‚Modo consul quondam, is deinde primus erat civitatis; tum proficiscitur in Asiam; deinde hostis et exul est dictus; post imperator, et postremo factus est consul.‘“ – Vgl. z.B. Cic. Pis. 14; ähnlich Verr. 2,5,31; Phil. 13,25. 81 Rhet. ad Her. 4,46. 82 Rhet. ad Her. 1,6. 83 Rhet. ad Her. 2,40.
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Exempla stehen in den Augen des Auctors an der Stelle eines testimonium. Sie verfügen über besonderen Belegcharakter.84 Aber dies ist nicht die einzige Verwendung, denn der geschichtliche Vergleich (argumentum) dient vor allem auch der allgemeinen Verstärkung bzw. Abschwächung bei einer Argumentation.85 Sie sind geradezu universell einsetzbar: „Beispiel ist das Vorführen irgendeiner Tat, irgendeines Ausspruches aus der Vergangenheit, wobei ein bestimmter Urheber genannt wird. Man nimmt es aus nämlichem Grunde wie den Vergleich. Es macht eine Sache geschmückter, wenn man es aus keinem anderen Grunde als um der würdigen Darstellung willen nimmt; offenkundiger, wenn es das, was zu dunkel, heller erscheinen läßt; glaubhafter, wenn es die Sache wahrscheinlicher macht; es stellt sie vor Augen, wenn es alles klar ausdrückt, so daß man die Sache sozusagen mit der Hand berühren kann.“86
Drei Funktionen werden den aus der Vergangenheit entnommenen „Taten“ oder „Aussprüchen“ zugeschrieben: Sie dienen an erster Stelle dem Schmuck der Rede, sie tragen weiterhin zur Erhellung des Sachverhalts bei, und sie stützen die Glaubwürdigkeit der getroffenen Aussagen, indem sie Unmittelbarkeit erzeugen. Die exempla werden also als Bestandteil der exornatio aufgefaßt, die zum vierten Teil des fünfgliedrigen Schemas einer vollständigen Argumentation gehört.87 Aber es besteht auch die Gefahr, falsche Beispiele anzuführen. Dies unterläuft, wenn das Beispiel für die eigentliche Sache zu gering oder zu gewaltig ist: „exemplum … aut maius aut minus, quam res postulat.“88 Der Auctor warnt davor, „fremde Beispiele“89 zu gebrauchen, und spricht für seine eigene Person selbstbewußt davon, er werde „unsere Beispiele“90 verwenden. Die Bedeutung dieser Aussage wird unterschiedlich interpretiert. VON UNGERN-STERNBERG übersetzt „nostra“ mit „selbstgebildet“, womit er sich von BÉRANGER absetzt, der „nostra exempla als römische Beispiele mißversteht“.91 Allerdings merkt VON UNGERN-STERNBERG auch gleichzeitig an, daß griechische und römische Bezugsquellen vom Auctor herangezogen werden. Diese Kritik am Verständnis BÉRANGERS sollte m.E. hinterfragt werden. Zwar wiederholt der Auctor seine Forderung, keine fremden Beispiele anzuführen,92
84 Rhet. ad Her. 4,2: „Praetera exempla testimoniorum locum optinent.“ 85 Rhet. ad Her. 4,46. 86 Übersetzung von NÜSSLEIN zu 4,62: „Exemplum est alicuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio. Id sumitur isdem de causis, quibus similitudo. Rem ornatiorem facit, cum nullius rei nisi dignitatis causa sumitur; apertiorem, cum id, quod sit obscurius, magis dilucidum reddit; probabiliorem, cum magis veri similem facit; ante oculos ponit, cum exprimit omnia perspicue, ut res prope dicam manu temptari possit.“ 87 Der Auctor ad Herennium erläutert diese fünf partes argumentationis in seiner Rhetorik 2,27–46: propositio (Themenangabe) – ratio (Begründung) – rationis confirmatio (Bekräftigung der Begründung) – exornatio (Ausschmückung) – complexio (Zusammenfassung). 88 Rhet. ad Her. 2,46. Vgl. KLEIN 1996, 62. 89 Rhet. ad Her. 4,3: „exempla aliena“. 90 Rhet. ad Her. 4,1,1: „exempla nostra“. 91 UNGERN-STERNBERG 1973, 149 mit Anm. 35; BÉRANGER 1972. 92 Rhet. ad Her. 4,7; 9.
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aber was heißt es auf der anderen Seite eigentlich, ein Beispiel „selbst zu bilden“? Kann ein Redner, sozusagen aus freien Stücken, die gängigen exempla erweitern? Oder kann er das übliche Verständnis eines exemplum zumindest in Nuancen ändern und variieren? Liegt der Rückgriff auf das allgemein Altbekannte nicht im Wesen des exemplum selbst begründet, und widerspricht dem semantisch und sachlich das selbst-gebildete exemplum nicht von vornherein? Ein Beispiel aus der Herennius-Rhetorik kann eine Lösungsmöglichkeit für diese Fragen bieten. VON UNGERN-STERNBERG zeigt auf, daß sich „im Text des Auctors ... erstmals die vollständige Reihe der großen popularen Volkstribune“93 findet: Ti. und C. Gracchus, L. Appuleius Saturninus, M. Livius Drusus und P. Sulpicius Rufus. Von diesem Befund aus kann man die nostra exempla als selbstgebildete exempla nachvollziehen. Gleichwohl hat diese Auffassung den Unterton, man könne sich seine eigenen exempla machen, während doch eigentlich exempla eher auf das allgemein Geteilte und das Gemeinsame als auf das Trennende verweisen sollen. Aber die rhetorische Praxis – und für sie will der Auctor mit seinem normativen Text ausbilden – eröffnete den Rednern die Möglichkeit, exempla zu bilden. Somit war Rede ein maßgebliches Medium für die römische „Traditionsbildung“.94 An der Liste der popularen Vorkämpfer, die beim Auctor erstmals vorliegt, fällt vor allem das Beispiel Sulpicius Rufus auf, das den Schlußpunkt bildet. Denn dieses exemplum ist gerade zwei Jahre alt (setzt man die Abfassungszeit der Schrift auf 86 v. Chr. an).95 Die Vergangenheit, der die exempla entnommen werden, reicht also nahe an die Gegenwart heran. Sie bietet und bildet stets neue Beispiele, die der erfolgreiche römische Redner kennen und anbringen muß, „nehmen doch die Beispiele die Stelle von Belegen ein“.96 Also, resümiert der Auctor an Herennius, „... folgte ich, obwohl ich die Auffindung der Lehre durch die Griechen für richtig hielt, ihrem Verfahren bei den Beispielen nicht.“97 Nicht viel älter ist das Beispiel des Livius Drusus (tr.pl. 91 v. Chr.). Bei ihm kommt allerdings noch hinzu, daß er sich als popularer Vorkämpfer nur schwer einordnen läßt. „Er hatte sein Amt als Vorkämpfer des Senats angetreten, sah sich aber gezwungen, zur Verbreiterung seiner Basis auf große Teile des Programms der Gracchen, insbesondere des C. Gracchus zurückzugreifen.“ Man erkennt hier also den Versuch, der Sache der Popularen so viele Anhänger und wichtige Vertreter zu geben, wie es möglich ist. Der Historiker hat ein exemplum sozusagen ‚in
93 UNGERN-STERNBERG 1973, 155. 94 UNGERN-STERNBERG 1973, 154f. bringt die „Selbstbildung“ von Beispielen mit dem Begriff der „Traditionsbildung“ in Verbindung. – An dieser Stelle soll auf die popularen Tendenzen des Auctors und die damit verbundenen älteren Parteiungstheorien nicht näher eingegangen werden. Siehe zur Diskussion UNGERN-STERNBERG 1973; VON ALBRECHT 1992, 470f. 95 UNGERN-STERNBERG 1973, 153 mit Anm. 62. 96 Rhet. ad Her. 4,2: „Praeterea exempla testimoniorum locum optinent.“ Vgl. STEMMLER 2000, 150 (These vom offenen Ende des mos maiorum); 190 (Gegenwart kann durchaus noch Material für exempla bieten). 97 Rhet. ad Her. 4,10.
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statu nascendi‘ vor Augen. „Dem Versuch der Popularen, Livius Drusus als einen der Ihren für sich in Anspruch zu nehmen, war kein dauernder Erfolg beschieden. Bereits Cicero nennt ihn nur einmal neben den vier anderen Tribunen.“ 98 Neben die ‚gesicherte‘ Tradition tritt also der Versuch der Traditionsbildung. Einerseits geht es um Deutungshoheit über Geschehenes und andererseits um Anschließbarkeit gegenwärtigen Handelns vor der Folie eines tradierten vorbildlichen Handelns aus älterer Zeit. Bevor jemand allerdings seinen Platz im ‚Erinnerungsschatzhaus‘ der res publica erhält, kann es darum eine heftige Konkurrenz geben. Das Sulpicius- bzw. Drusus-Beispiel bezeugt auch eine Kontroverse um Deutungshoheit und Deutungsansprüche von exempla recentia. Aus den Worten des Auctor über den Umgang mit exempla spricht nicht nur Selbstbewußtsein, sondern ebenfalls die bewußte Feststellung, daß die Römer mit den exempla anders umgingen als die Griechen. Daher kann der Auctor auch auf die Darstellung der griechischen Lehre verzichten. Die praktischen Beispiele, die er anführt, zeigen die römische Praxis, reflektieren sie aber nicht. Es bleibt bisher also festzuhalten: Der Vorrat an exempla ist nicht ausgeschöpft, sondern entwickelt sich weiter, die exempla werden angereichert durch exempla recentia. Warum dies so ist, darüber äußert sich der Auctor nicht. Für die Rhetorik selbst ist es ja auch nicht wichtig, kommt es hier doch vor allem darauf an, die Beispiele stilistisch einwandfrei einzubringen. Dem Blick des Historikers enthüllt diese Praxis die Fähigkeit, neues aufnehmen und anbinden zu können. Die ‚frischen‘ res gestae wurden nach den üblichen Rastern und Mustern eingeordnet und bewertet. Die Möglichkeit, an bestehende Traditionslinien anzugliedern und auf diese Weise harmonisierend und einend zu wirken, scheint gerade bei den so wichtigen exempla ausgesprochen groß gewesen zu sein. Sie wurden durch Reden in den politischen Diskurs eingebracht. Wie sie dann von den Standesgenossen und vom römischen Publikum rezipiert wurden, war durchaus nicht von vornherein abzusehen. Aber es war vor allem die Rede, die bei dieser Traditionsbildung das entscheidende Medium darstellte. Ciceros De inventione und Antonius’ Redelehre Ciceros Jugendschrift De inventione weist viele Überschneidungen mit dem Lehrbuch des Auctors ad Herennium auf.99 Zu Beginn der Schrift legt Cicero allgemeine Grundgedanken zur Bedeutung von Rede im Verlauf der Kulturgenese dar. Sowohl die besonders positiven als auch die besonders negativen Entwicklungen seien jeweils der Rede zu verdanken bzw. anzulasten.
98 Beide Zitate in UNGERN-STERNBERG 1973, 155 mit Anm. 73f. 99 Ciceros Schrift ist unvollendet, zwei Bücher sind überliefert. – Vgl. den überblicksartigen Abschnitt „Ciceros de inventione und die Rhetorica ad Herennium“ in NÜSSLEIN 1994, 335f.; siehe auch CORBEILL 2002 passim.
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Nach diesen grundsätzlichen Erwägungen, die Ciceros Schrift vom Auctor unterscheiden, ähneln sich die beiden Lehrbücher stark. Cicero stellt vor, in welchen Fällen welche Strategie – es geht vor allem um Gerichtsrhetorik – von einem Anwalt sinnvollerweise zu verfolgen ist. Es gibt für den römischen Redner bestimmte Bausteine und regelmäßig wiederkehrende Grundmuster, mit deren Hilfe man sich innerhalb eines Falles schnell zurechtfinden kann. Die Ausführungen beschäftigen sich ganz konkret mit Situationen und Modellfragestellungen, die aber nicht vollständig durchexerziert werden, sondern anhand derer Cicero seinem Leser den entscheidenden Punkt der inventio, also der Stoffauffindung, darlegen möchte. Insofern finden sich in der Schrift zahlreiche exempla im Sinne von ‚Fallbeispielen‘, die dem Redeschüler Hilfe und Anleitung sein sollen, wie er den Stoff schnell in den Griff bekommen kann. Entsprechend schulisch-technisch ist auch die Betrachtung der exempla, die in einer Definition neben ‚Vergleich‘ und ‚Bild‘ eingeordnet werden: „Vergleichbar aber ist, was bei verschiedenen Dingen irgendeinen ähnlichen Gesichtspunkt ausmacht. Davon gibt es drei Arten: das Bild, das Gleichnis und das Beispiel. Ein Bild ist eine Aussage, die eine körperliche oder Wesensähnlichkeit aufzeigt. Ein Gleichnis ist eine Aussage, die eine Sache mit einer Sache infolge der Ähnlichkeit zusammenbringt. Ein Beispiel ist das, was eine Sache durch das Gewicht oder durch den Fall irgendeines Menschen oder eines Geschäfts bekräftigt oder entkräftet. Beispiele und Beschreibungen dafür wird man bei den Vorschriften für die stilistische Gestaltung kennenlernen.“100
Die Funktion des exemplum wird hier nicht so differenziert wie in der HerenniusRhetorik: ‚bekräftigen‘ bzw. ‚entkräften‘ ist die einzige genannte Funktion. Als exemplum dienen in erster Linie Taten eines Menschen, dann auch der „Fall eines Geschäfts“. In beiden Fällen wird das exemplum durch auctoritas („Gewicht“) oder casus („Fall“) geprägt. Cicero betont vor allem mit dem Begriff der auctoritas die starke Wirkung, die ein exemplum entfalten kann. Cicero bringt mehrere fiktive juristische Beispiele, dann auch tatsächlich geschehene Präzedenzfälle,101 historische Beispiele aus der griechischen Geschichte,102 einige aus der römischen Geschichte.103 Aber immer geht es darum, eine strittige Frage – auch bei einem historischen Beispiel – auf den Punkt zu bringen:
100 Übersetzung NÜSSLEIN zu inv. 1,49: „Comparabile autem est, quod in rebus diversis similem aliquam rationem continet. eius partes sunt tres: imago, conlatio, exemplum. imago est oratio demonstrans corporum aut naturarum similitudinem. conlatio est oratio rem cum re ex similitudine conferens. exemplum est, quod rem auctoritate aut casu alicuius hominis aut negotii confirmat aut infirmat. horum exempla et descriptiones in praeceptis elocutionis cognoscentur. Horum exempla et descriptiones in praeceptis elocutionis cognoscentur.“ Vgl. KLEIN 1996, 62f. 101 Cicero stellt einige Fälle im zweiten Buch von De inventione vor und listet sie 2,124 nochmals kurz auf. 102 Cic. inv. 1,69; 2,69f.; 144. 103 Cic. inv. 1,49;71; 2,171.
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Wie soll man mit Karthago verfahren? Wie soll man Fregellae behandeln?104 Worum muß sich die Erörterung drehen und auf welche Fragen hin angegriffen oder verteidigt werden? In diesen ‚Übungsfällen‘ war die Zerstörung beider Städte historische Realität. Man konnte also gegen oder für den extremen historischen Ausgang übungshalber reden. Es geht Cicero darum, seinem Leser bzw. Schüler vor Augen zu führen, wann welches Mittel der Rhetorik erfolgversprechend einzusetzen ist.105 Über die Affekte der Zuhörer kann man sich das Publikum gewogen machen und sich als Redner durchsetzen. Dabei gibt Cicero Beispiele, die man in seinen späteren Reden auch bei ihm selbst nachvollziehen kann:106 So soll man etwa den Charakter des Angeklagten oder des Klienten so darstellen, daß man Zorn bzw. Mitleid bei den Richtern produziert. Mit der zu verhandelnden Sache brauche dieses gar nichts zu tun zu haben, ja es ist im Gegenteil sinnvoll, je nachdem wie die Sache steht, vom eigentlichen Verhandlungspunkt abzulenken. Statt dessen empfehle es sich zum Beispiel, von den verdienstvollen Taten des Klienten für die res publica zu sprechen, seine Kontakte zu höchsten Autoritäten hervorzuheben, seine edle Abstammung und die Verdienste seiner Vorfahren für den römischen Staat zu unterstreichen, davon zu sprechen, welche Bedeutung eine Verurteilung für den jungen, zu vielen Hoffnungen berechtigenden Sohn, jedoch nicht nur für ihn und die ruhmreiche Familie, sondern für das Gemeinwesen selbst hätte.107 Die Verwurzelung einer familia in der res publica hervorzuheben, die Verdienste der Lebenden und Toten einer Familie aufzulisten, nach Ehrverlust für vorherige und nachkommende Generationen im Falle einer Verurteilung zu fragen – diese Rücksichtnahmen können die tatsächlichen Streitpunkte und Anschuldigungen überlagern. Cicero lehrt dies. In diesen Kategorien dachte man in der res publica, und mit derartigen Argumenten war es möglich, Freisprüche zu errei104 Cic. inv. 1,11. Zu Karthago: Die Stadt war von Scipio minor besiegt und erobert worden. Wie soll der siegreiche Scipio minor die Stadt behandeln? Er hatte sie zerstören lassen. Zu Fregellae: Nach einer Rebellion im Jahre 125 v. Chr. wurde die Stadt endgültig durch den Praetor L. Opimius zerstört. Die Übungsfrage zielt also auf die Situation, daß die Stadt besiegt war und die Römer nun entscheiden sollten, wie mit ihr im weiteren zu verfahren sei. 105 Cicero war bei Abfassung der Schrift noch keine dreißig Jahre alt. Er hat diese Schrift also mit ziemlicher Sicherheit auch für sich selbst verfaßt, denn den Materialteil konnte er für die eigene Tätigkeit ebenfalls sehr gut gebrauchen. 106 Etwa inv. 2,35ff.; 113–115. 107 Vgl. auch Rhet. ad Her. 4,51. Für den Fall, daß jemand die Anklage zu führen hat, ist die Strategie natürlich genau entgegengesetzt, wie Cicero (inv. 2,32) lehrt: „Nam causa facti parum firmitudinis habet, nisi animus eius, qui insimulatur, in eam suspicionem adducitur, uti a tali culpa non videatur abhorruisse.“ / „Denn der Beweggrund für eine Tat besitzt zu wenig Beweiskraft, wenn nicht die Gesinnung des Angeklagten so einem Verdacht ausgesetzt wird, daß es scheint, er sei von einer solchen Schuld nicht zurückgeschreckt.“ (Übersetzung NÜSSLEIN). Ein Beispiel für ein solches Vorgehen berichtet Cic. de orat. 1,228 (Galba-‚Prozeß‘). Eine andere Variante bestand zum Beispiel darin, über das luxuriöse Leben eines Gegners zu sprechen und dies mit Bildmaterial zu unterstreichen: Gabinius zeigte als Tribun ein Gemälde der Villa des Lucullus, um auf diese Weise dessen Villenluxus zu geißeln. (Cic. Sest. 93), siehe hierzu HEIL 2003, 15 mit weiteren Beispielen.
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chen. Cicero selbst wandte diese Ablenkungsstrategie erfolgreich an, als er Fonteius oder auch Flaccus verteidigte.108 Hinter diesen Vorschriften steckt, ohne daß es eigens thematisiert würde, die typisch römische Wertvorstellung, daß große Verdienste einer Familie durchaus dazu führen dürfen, auch über bestimmte Delikte hinwegzusehen. Ein Anwalt darf, ja muß so etwas ausnutzen. Das kleine Büchlein De ratione dicendi des großen Redners Antonius ist aus Äußerungen Ciceros bekannt, jedoch nicht überliefert. Offensichtlich wurde es aus Versehen und gegen den Willen des Verfassers in Umlauf gebracht, stellte es doch wohl kaum mehr dar als einen commentarius, also eine Art von Aufzeichnungen im Sinne einer Stoffsammlung bzw. Gedächtnisstütze. Vor allem enthielt es praktische Anweisungen für den am Beginn seiner Rednertätigkeit stehenden jungen Adligen und stellte keine theoretische Abhandlung zur Redekunst dar. Cicero kannte es und notiert es im Brutus als „libellus exilis“.109 Fazit: ein dreifacher Eindruck Versucht man aus dem bisher zur rednerischen Ausbildung Zusammengestellten ein Fazit zu ziehen, kann man festhalten: Es gab detaillierte Anweisungen für die rhetorische Präsentation, die sich – soweit sie in schriftlicher Form vorlagen – vor allem an junge Redeschüler richteten und sie auf den Schwerpunkt ihrer ersten Tätigkeiten vor Gericht vorbereiten sollten. Für diese Zwecke existierten Versatzstücke, und es gab Deutungsmuster, wie man an einen Fall heranzugehen hatte. Die Praxis war die Lehrmeisterin, das Gespräch zwischen Lehrer und Schüler und die Begleitung des Lehrers zur ‚Arbeit‘ der Normalfall, so daß man durch Zuhören und Zuschauen lernen konnte. Was der Auctor ad Herennium lehrte und was Cicero in De inventione zusammenstellte, war nichts Neues, sondern Ausdruck der seltenen, fakultativen Lehrmethode der schriftlichen Niederlegung. Inhaltlich steht sie aber mit der traditionellen mündlichen Ausbildung im Einklang. Daher bietet die Überlieferung ein eher mageres Bild von den Vorschriften und Anweisungen für Redelehrer und Redeschüler. Aber das Vorliegende vermittelt doch einen präzisen, ‚dreifachen‘ Eindruck: Erstens gab es detailreiche, präzise und zweckdienliche Ausbildungsvorschriften für den angehenden Redner. Zweitens orientierte man sich dabei an der Praxis, vor allem der Gerichtspraxis, die die erste Bewährungsprobe für einen aufstrebenden jungen Römer darstellte, und drittens vermitteln die beiden Abhandlungen das Bild einer auf rednerische Professionalität ausgerichteten politischen Kultur.
108 Vgl. Cic. Font. 38. Zur Verteidigung des Flaccus siehe CLASSEN 1985, 180–217, bes. 184f.; 216. 109 Brut. 163. Den aktuellen Stand zu Antonius mit der Zusammenstellung der Belege bei SUERBAUM HLL 1, §182 (S. 509f.).
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SELBSTPRÄSENTATION EINES NOBILIS – CICERO UND SEINE REDEN Überliefert sind als veröffentlichte Reden der späten Republik lediglich Reden Ciceros. Sie werden oft in die Abteilungen von Senatsreden, Volksreden und Gerichtsreden unterteilt. In Ciceros Redencorpus sind nur relativ wenige contioReden enthalten, insgesamt acht. Vierundzwanzig Gerichtsreden machen den größten Teil aus, weiterhin sind einundzwanzig Senatsreden erhalten (davon allein zwölf Philippica). So hilfreich und sinnvoll eine solche spezifizierende Einteilung sein mag, sollte sie jedoch nicht die Ähnlichkeiten in den Hintergrund treten lassen. Die Ansprache an die cives Romani – in welcher Angelegenheit auch immer – war alltäglich. Gerade Gerichtsverhandlungen fanden oft unter freiem Himmel statt und ähnelten Volksversammlungen darin, daß man sich je nachdem vor einem großen Publikum beweisen mußte.110 Es wurde nicht immer – ja sogar am wenigsten – in Versammlungen gesprochen, die direkt eine Entscheidung fällten, aber leider sind gerade die Beispiele von contio-Reden im ciceronischen Redencorpus selten (acht Reden). Natürlich war Cicero nicht der einzige Politiker, der seine Reden veröffentlicht hat. Davon legt seine große Geschichte der römischen Beredsamkeit, der Dialog Brutus, Zeugnis ab. Insbesondere Senatsreden wurden wohl in Form von Mitschriften der Öffentlichkeit zugänglich gemacht.111 Welche Überlegungen und Gründe können dafür angeführt werden, daß Cicero seine Reden herausgegeben hat? Im Grunde ist die Rede für den Moment bestimmt. Sobald in einer Sache eine Entscheidung gefallen ist, verliert die Rede mit dem Anlaß auch ihre primäre Funktion.112 Ein weiteres Problem schließt sich direkt daran an: Sind die aufgeschriebenen Reden identisch mit den gehaltenen oder unterscheiden sie sich und – falls ja – in welcher Hinsicht sind sie voneinander verschieden? Die Verschriftlichung und Herausgabe von Reden waren nicht durchweg üblich gewesen und auch erst spät aufgekommen.113 Als Archeget gilt hier der ältere
110 Vgl. Cic. div. in Caecil. 41f. 111 EICH 2000, 23ff.: Cicero hielt es für das Gewöhnliche, „daß ein Senator, der nur irgend rhetorische Fähigkeiten hatte, die ein oder andere Rede zeit seines Lebens veröffentlichte.“ Veröffentlicht wurden vollständige Reden wahrscheinlich auch in den acta diurna oder in den acta senatus. Als Adressat gelte das große Publikum außerhalb es Senats (ebenda 25 mit Anm. 25 und 28 mit Verweis auf BONNEFOND-COUDRY 1989); Caesar und Clodius veröffentlichten ihre Reden ebenfalls, siehe EICH 2000, 138 mit Anm. 16. — Die Vielzahl von Reden, die Cicero in seinem Brutus nennt und zitiert bzw. bewertet, zeigt an, daß schriftliche Aufzeichnungen zugänglich waren. Vgl. auch SCHMIDT 1974, 164f. 112 FUHRMANN 1985, 28; 1990, 54; HEIL 2003, 34ff.; bes. 39f. 113 BLÄNSDORF 2001, 210f. mit den Anm.: Daß schriftliche Aufzeichnungen von den Rednern angefertigt wurden, ist selbstverständlich. Die völlig extemporierte Rede ist die seltene Ausnahme. Hortensius soll in der Lage gewesen sein, seine Reden gedanklich auszuarbeiten und – wenn der Anachronismus erlaubt ist – druckreif vorzutragen. „Man könnte hierfür den paradoxen Begriff vermündlichter Schriftlichkeit prägen.“ (BLÄNSDORF). Der Normalfall dürfte
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Cato. Bis dahin war es in älterer Zeit nicht gang und gäbe, daß Reden vom Verfasser herausgegeben wurden. Die Edition von Reden darf nicht als obligatorisch angesehen werden. Im Vergleich zur mündlich vorgetragenen Lehre, die an erster Stelle stand, stellte sie eine sekundäre und fakultative Lehrmethode dar.114 Dennoch kannte Cicero zumindest passagenweise viele Reden im Original. Ebenso konnte der Auctor ad Herennium viele Musterredner und Musterreden für einen Redeschüler benennen,115 unter anderem auch von Antonius, obwohl dieser es doch ausdrücklich abgelehnt habe, Reden schriftlich zu fixieren. Zum einen könnten natürlich Mitschriften existiert haben, nicht allein von seinen Reden, sondern auch von seiner Lehrtätigkeit. Zum anderen erhält man einen Einblick in eine funktionierende oral tradition, auf der die Nachrichten und Beispiele, sicher oft zu markanten Dicta verkürzt, beruhen müssen.116 Drei Gründe werden in Ciceros Brutus (92) für die Veröffentlichung von Reden angegeben: Ein Motiv für eine Publikation sei die memoria ingeni sui. Weiterhin strebe man danach, gloria dicendi bei der Nachwelt zu erlangen. Die veröffentlichten Reden sollten natürlich auch als Musterreden und Unterrichtsvorlagen dienen und eine Unterstützung für das tirocinium fori sein.117 Daß schriftlich fixierte Äußerungen von einem Opponenten instrumentalisiert und gegen einen selbst verwendet werden könnten, war die Befürchtung des Antonius, mit der er seine Nichtherausgabe von Reden begründete.118 Weitere gewichtige Gründe sprächen gegen die Veröffentlichung von Reden, müßten sie doch sorgfältig und mühevoll überarbeitet werden. Wenn man ein vielbeschäftigter Anwalt und politisch involvierter Römer war, hatte man zu intensiver Bearbeitung bereits gehaltener Reden, die ihre primäre Funktion damit abgeleistet haben, nicht unbedingt die Zeit, wenn die nächsten Aufgaben schon anstanden.119
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die schriftliche Vorarbeit gewesen sein. Voll ausgearbeitet und entsprechend auswendig gelernt wurden des öfteren Beginn und Ende einer Rede. Vgl. auch HEIL 2003, 39f. Nepos berichtet, die Schlußpartie der Rede Pro Cornelio sei in der Schriftfassung identisch mit Ciceros Vortrag gewesen: Corn. Nepos, Vitae fr. 38MARSHALL apud Hieron, Contra Iohann Ierosol. 12 (Migne, PL 23,381) = CRAWFORD (ed.), Cicero, The Fragmentary Speeches, Pro Cornelio T 10: „Refert enim Cornelius Nepos, se praesente, iisdem paene verbis quibus edita est, eam pro Cornelio seditioso tribuno defensionem peroratam.“ Vgl. SUERBAUM in HLL 1§175 f. – Zu Cato z.B. Cic. sen. 38. Rhet. ad Her. 4,7. SUERBAUM HLL 1 §175 g (S. 467). Cicero schildert (Brut. 127), daß er den berühmten Epilog des Galba auswendig lernte. Vgl. BONNER 1977, 81. Vgl. zum tirocinium fori WALTER 2004, 42ff., bes. 42 mit Anm.1. S. zu Antonius oben S. 71f. Cic. Cluent 140. Vgl. SUERBAUM HLL 1 §175 g; GELZER 1969, 188 mit Anm. 156. Es sei denn, jemand war so unentwegt fleißig wie Cicero. Er schildert seine unablässige Arbeit und stellt dies dem Laterensis in der Planciana (66) vor Augen: „Nam postea quam sensi populi Romani auris hebetiores, oculos autem esse acris atque acutos, destiti quid de me audituri essent homines cogitare; feci ut postea cotidie praesentem me viderent, habitavi in oculis, pressi forum; neminem a congressu meo neque ianitor meus neque somnus absterruit. Ecquid ego dicam de occupatis meis temporibus, cui fuerit ne otium quidem umquam otiosum? Nam quas tu commemoras, Cassi, legere te solere orationes, cum otiosus sis, has ego scripsi ludis et feriis, ne omnino umquam essem otiosus.“ / „Denn als ich erst gemerkt hatte, daß das
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Weiterhin erschienen die Schriftreden womöglich als viel schwächer im Vergleich zum Vortrag. Denn bei der Lektüre fehlen ja Stimme, Gestik und Mimik, Bewegungen, Pausen und überhaupt jede Dramatik. Ein schönes Beispiel bietet der berühmte und erfolgreiche Redner Galba: Sein Auftritt war stark, seine schriftliche Form kann Cicero nur matt, ja fast tot nennen.120 Dasselbe galt für Hortensius. Seine veröffentlichten Reden lasen sich fade; dennoch galt er als der princeps orator seiner Zeit. Seine actio muß ausgezeichnet und mitreißend gewesen sein. Quintilian bestätigte Ciceros Urteil, daß Hortensius durch etwas, was man beim Lesen nicht fand, Beifall ernten konnte.121 Cicero selbst hat nicht alle gehaltenen Reden ediert und nicht alle edierten Reden gehalten122 – berühmte Beispiele sind die Reden der actio secunda gegen Verres oder die Rede für Milo. Milo bedankt sich nach der Lektüre des ihm ins Exil nachgesandten Manuskripts, daß Cicero am Tag der Verhandlung nicht imstande war, seine Rede zu halten. Denn sonst könne er jetzt wohl kaum die herrlichen Seebarben in Marseille schlürfen.123 Sicherlich hat Cicero nur solche Reden veröffentlicht, die er für besonders gelungen hielt. Er hat den Zeitraum seines Consulats als ein Kriterium gewählt, die Reden dieses Jahres an die Öffentlichkeit zu geben.124
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römische Volk ziemlich taube Ohren, hingegen scharfe und durchdringende Augen hat, da dachte ich nicht mehr darüber nach, was die Leute wohl von mir erfahren würden; ich legte es darauf an, daß sie mich nunmehr Tag für Tag vor sich hatten, ich lebte förmlich unter ihren Augen, ich ließ nicht vom Forum; niemand wurde von meinem Pförtner oder meinem Schlaf daran gehindert, bis zu mir vorzudringen. Soll ich nun noch von den Zeiten drangvoller Tätigkeit reden, in denen ich mich nicht einmal an Tagen der Erholung habe erholen können? Denn die Reden, Cassius, von denen du sagst, daß du sie zu lesen pflegst, wenn du dich erholst: die habe ich an Feier- und Ferientagen geschrieben, um niemals nur der Erholung zu leben.“ (Übersetzung FUHRMANN). Cic. Brut. 93f.: „quem [sc. Galbam, F.B.] fortasse vis non ingeni solum sed etiam animi et naturalis quidam dolor dicentem incendebat efficiebatque ut et incitata et gravis et vehemens esset oratio; dein cum otiosus stilum prehenderat motusque omnis animi tamquam ventus hominem defecerat, flaccescebat oratio. quod iis qui limatius dicendi consectantur genus accidere non solet, propterea quod prudentia numquam deficit oratorem, qua ille utens eodem modo possit et dicere et scribere; ardor animi non semper adest, isque cum consedit, omnis illa vis et quasi flamma oratoris exstinguitur. hanc igitur ob causam videtur Laeli mens spirare etiam in scriptis, Galbae autem vis occidisse.“ Quint. inst. 11,3,8: „... Antonium et Crassum multum valuisse, plurimum uero Q. Hortensium. Cuius rei fides est, quod eius scripta tantum infra famam sunt, qua diu princeps orator, aliquando aemulus Ciceronis existimatus est, novissime, quoad vixit, secundus, ut appareat placuisse aliquid eo dicente quod legentes non invenimus.“ Vgl. BLÄNSDORF 2001, 221; WÖHRLE 1990, 42. CRAWFORD 1984. Cass. Dio 40,54,1. Zu der editio der Consulatsreden CLASSEN 1985, 5; MCDERMOTT 1972 hält es für möglich, daß die Reden, unmittelbar nachdem sie gehalten worden waren, einzeln verbreitet wurden, bevor im Jahre 60 v. Chr. das Kompendium aller Reden des Consulatsjahres veröffentlicht wurde, allerdings nur derer, „die ich consularische genannt wissen möchte“ (Att. 2,1,3: „quae consulares nominarentur“).
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Der Consular stellte keine besondere Ausnahme dar. Bereits Cato war so selbstbewußt gewesen, eigene Reden in seine Werke einzuarbeiten.125 Cicero berichtet im Brutus, daß er die Reden vieler älterer Redner lesen konnte, und bewertet sie im einzelnen unter stilistischen Gesichtspunkten und die Entwicklung der römischen Beredsamkeit im ganzen. Die Veröffentlichung von Reden ist somit ein nicht unüblicher, in spätrepublikanischer Zeit regelmäßig anzutreffender Zug aristokratischer Selbstdarstellung, dies um so mehr, wenn man wie Cicero keine militärischen Erfolge vorweisen konnte.126 Die Reden des Consulatsjahres sind somit eine Art dokumentarischer Tatenbericht des Amtsjahres und stellen praktisch ein Monument dar.127 Die herausgegebenen Reden dienten bei der Ausbildung und Schulung der nächsten Rednergeneration als Muster und Vorbilder. Sie waren geradezu exempla der Beredsamkeit. An ihnen sollten die Eleven studieren und sie nachahmen. Cicero hielt seinen Stil für die größte geistige Errungenschaft Roms; prägend auf die Schulrhetorik einzuwirken, dürfte ein zweiter Grund für die Edition gewesen sein.128 Diese Überlegung macht eigentlich wesentliche Änderungen von der gehaltenen zur aufgeschriebenen Rede eher unwahrscheinlich. Außerdem gab es ja Ohrenzeugen der Reden.129 Die Schüler sollten sinnvolles Arbeitsmaterial erhalten. An Reden zu lernen, die in der Wirklichkeit keine Chance hätten, weil sie Kunstobjekte ohne realen Bezug sind, konnte nicht zweckdienlich sein. Die Modellreden mußten über Plausibilität und Realitätsnähe verfügen. Cicero strebte bei der Edition danach, seinen Reden Authentizität und Plausibilität zu verleihen. Auch heute ist noch kenntlich, daß an einigen Stellen Zeugenbefragungen, die Verlesung einer Urkunde130 oder andere Beweismittel vorgesehen waren, so daß der Vortrag unterbrochen wurde.
125 Zu seinen tabulae, die er als Konzepte verwahrt hatte: orat.fr. 173 MALCOVATI; vgl. auch VON ALBRECHT 1992, 318. 126 Im Brutus (256) sagt er offen, daß Redekunst besser sei als militärische Erfolge: „Verum quidem si audire volumus, omissis illis divinis consiliis, quibus saepe constituta est imperatorum sapientia salus civitatis aut belli aut domi, multo magnus orator praestat minutis imperatoribus.“ 127 Cic. off. 3,4 über Scipio: „Nulla enim eius ingenii monumenta mandata litteris…“ 128 Cic. Att. 2,1,3; Brut. 123, siehe Rhet. ad Her. 4,7: „Allatis igitur exemplis a Catone, a Graccis, a Laelio, a Scipione, Galba, Porcina, Crasso, Antonio, ceteris, item sumptis aliis a poetis et historiarum scriptoribus necesse erit eum, qui discet, putare ab omnibus omnia, ab uno pauca vix potuisse sumi. Quare unius alicuius esse similem satis habebit; omnia, quae omnes habuerint, solum habere se posse diffidet.“ – Zur Schulfunktion STROH 1975, 52: „Die schriftlichen Reden, so können wir zugespitzt sagen, sind Schulbücher.“ Siehe weiterhin auch CLASSEN 1985, 3ff., bes. 6; 9: „Die sind als Modelle dafür veröffentlicht, wie man Reden halten soll ...“; HEIL 2003, 39f. 129 Zwar gab es in den Gremien keine Protokollführer, die mitschrieben. Aber da die Ausarbeitung einer Rede in der Regel mit einem schriftlichen Entwurf verbunden war und sich der Redner diese schriftliche Fassung dann im Schritt der memoria einprägen mußte, gab es natürlich schriftliche Aufzeichnungen, so daß die Möglichkeit eines originalen bzw. originalnahen Redetextes gegeben war. 130 Zum Beispiel leg. agr. 2,48.
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Der ästhetische Eindruck des Hörers ist also auch aus diesem Grunde – neben der ‚fehlenden‘ actio – mit einer Lektüre nicht zu vergleichen.131 Cicero streut regelmäßig Hinweise auf mündliche Strukturen ein.132 Er spricht Menschen direkt an, sei es den gegnerischen Anwalt oder den Richter, seien es die Geschworenen, die patres conscripti oder die Quirites. Nie, auch nicht in den imaginären Reden (Verres II, Miloniana, 2. Philippica), vergißt Cicero, seine Texte in eine kommunikative Situation zu versetzen. Er spricht seine Zuhörer nicht nur an, sondern signalisiert auch durch seine eigenen Reaktionen, daß er nicht alleine ist. Zum Beispiel spricht er es aus, wenn er auf Reaktionen seines Publikums eingeht: „Die Zwischenrufe da regen mich nicht auf, sondern beruhigen mich.“133 „Wie euer Gemurmel zeigt, Quiriten, entsinnt ihr euch, wer das getan hat... “.134 Ebenso streut er imaginäre Einwände in seine Argumentation ein.135 Das Protokoll der Miloniana, welches dem Kommentator Asconius vorgelegen hatte, wich erheblich von der Schriftfassung ab. Die zweite philippische Rede wurde bekanntlich nicht gehalten, sondern als politisches Pamphlet veröffentlicht. Cicero produziert allerdings ganz konsequent die Vorstellung einer direkten Erwiderungsrede im Senat nach den Vorwürfen und Angriffen des Antonius. Der Consular bemühte sich stets deutlich um die Authentizität der Situation. Im Hinblick auf seine Argumente und seine Argumentationsstrukturen mußte er glaubhaft bleiben.136 Aus diesem Grunde dürfen seine Reden auch auf ihre Verwendung von Geschichtsbezügen untersucht werden. Wären diese ein nachgetragenes intellektuelles Füllmaterial, so wären die Reden keine politischplausiblen und nachvollziehbaren und – mit Blick auf den Leserkreis – einflußreichen Äußerungen mehr; zugespitzt könnte man formulieren: Die Reden wären keine Reden. Sie geben ein durchaus realistisches Bild der rednerischen Tätigkeit. Nachrichten belegen jedoch die Überarbeitung der Reden, bei der man sich von Freunden und Kennern helfen ließ.137 Die Länge mancher schriftlicher Reden erscheint dem heutigen Leser für einen mündlichen Vortrag zu lang, man denke
131 Vgl. FUHRMANN 1985, 31; 1990, 55; CLASSEN 1985, 2. 132 FUHRMANN 1990, 56ff. mit mehreren Beispielen; ELVERS 1993, 102ff.; HEIL 2003, 41f. Vgl. nur Cluent. 97, prov. 18, S. Rosc. 46, Phil. 4,1; 7. 133 Rab. perd. 18: „Nihil me clamor iste commovet sed consolatur…“. 134 Manil. 37: „Vestra admurmuratio facit, Quirites, ut agnoscere videamini qui haec fecerint.“ 135 Vgl. zum Beispiel leg. agr. 2,24; 3,2; 10; Einwände: leg. agr. 2,32; prov. 18,20,40; vgl. auch har. resp. 32. Vgl. den Beginn von Pro Milone. 136 FUHRMANN 1990, 61f.; vgl. auch EICH 2000, 174; 188; ELVERS 1993, 8; CLASSEN 1985, 6f. 137 Cic. Tusc. 4,55; Brut. 91. Überarbeitung der Rede für Flaccus: Macrob. Sat. 2,1,3. Vgl. auch HEIL 2003, 39ff. Ciceros Vorbild bei der Ausgabe der Reden des Consulatsjahres ist die Ausgabe der philippischen Reden des Demosthenes, in der er jegliches Gerichtsgepolter beiseite gelassen habe (Att. 2,1,3: „se ab hoc refractariolo iudiciali dicendi genere abiunxerat“). Mit anderen Worten: Cicero hat also seine eigenen Reden offensichtlich auch überarbeitet und geglättet.
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nur an die Cluentiana, an die nie gehaltenen Verres-Reden der imaginären actio secunda: Tatsächlich belegen aber Nachrichten gerade das Gegenteil.138 Ein Redner verfolgte also mit der Veröffentlichung einer Rede mehrere Ziele: Einerseits wollte er sein rhetorisches Können und seine Brillanz unter Beweis und der kommenden Rednergeneration als Lernmaterial zur Verfügung stellen, andererseits warb er durch die schriftliche Niederlegung und Veröffentlichung für seine politischen Ideen. Er konnte über den Moment eines Vortrags hinaus seine politischen Standpunkte zu einer Sache dokumentieren und so vielleicht auch die Erinnerung an das Zustandekommen einer Entscheidung wesentlich prägen. Cicero nutzte dabei die Möglichkeit, Senats- und Volksreden parallel zu veröffentlichen. So konnte er einige Probleme von ‚senatorischen‘ und ‚popularen‘ Standpunkten aus darstellen, womit er je nach politischer Einstellung auf seine Leserschaft Einfluß ausüben konnte.139 Die literarische Form bringt es mit sich, daß der Rezipientenkreis wesentlich kleiner ist als der Hörerkreis und daß vor allem höhere soziale, gebildetere und somit auch politisch gewichtige Schichten erreicht werden. Auch hierdurch müssen Änderungen in Duktus und Argumentation der Reden zumindest einkalkuliert werden.140 Ein Politiker konnte beweisen, daß er verschiedene Register virtuos beherrschte. Veröffentlichte Reden, am besten diejenigen, mit denen man erfolgreich gewesen war, demonstrierten die rednerischen Fähigkeiten und Stärken gegenüber den Standesgenossen. Man plazierte sich sozusagen über den Moment des Auftritts hinaus in der eigenen ‚peer-group‘, deren grundlegende Züge und Eigenschaften im folgenden vorgestellt werden sollen.
138 Quint. inst. 12,10,55ff.; Plinius ep. 1,20,7 wußte von Ciceros Reden, daß sie im Original teilweise länger waren als die edierten Texte. – Aus der langen Rede wurde im 2. Jh. v. Chr. das politische Kampfmittel des Filibusterns, erstmals von Sulpicius Galba angewandt, vgl. MÜNZER 1931, 761 mit den Belegen. Vgl. auch Plut. Cato minor 5: Cato sprach mitunter den ganzen Tag, ohne zu ermatten. 139 Vgl. FUHRMANN 1985, 30; 1990, 55; 61; MACK 1937, 12. EICH 2000, 30 sieht als politische Funktion, über die jeweilige Entscheidungssituation hinausweisende Gedanken, Ideen und Argumente mit der Edition zu vermitteln. CLASSEN 1985, 5: „Das schließt keineswegs aus, daß ihn im Einzelfall politische Überlegungen bestimmten, daß er auch politische Motive verfolgte... “. 140 Vgl. FUHRMANN 1985, 42. Für EICH 2000, 194, ergibt sich folgende Differenzierung: Hörer seien eine zu beeinflussende Masse, die Leser der Reden gehörten zum Kreis der Eingeweihten, die den Vorgang der Manipulation kennten.
3. EINE BESONDERE (UND BESONDERS) POLITISCHE KLASSE – NACH RÄNGEN GETRENNT UND DURCH GESCHICHTE GEEINT Wettbewerb und Hierarchie In Rom sprachen die Mitglieder der politischen Klasse.1 Sie stellte keine Versammlung von Repräsentanten verschiedener sozialer Schichten dar, sondern war eine Mischung aus größtenteils alten mächtigen Familien einerseits und einigen wenigen Neueinsteigern und Emporkömmlingen, den homines novi, andererseits.2 Fast keine Familie war Generation für Generation gleichmäßig erfolgreich. Der Erfolg war schwankend, und wenn es eine Generation an die Spitze geschafft hatte, hieß dies nicht, daß die Söhne, selbst wenn sie die nötigen Voraussetzungen mitbrachten, den Erfolg automatisch wiederholen konnten. Um in die Spitze dieser meritokratischen Aristokratie aufzusteigen, mußte der einzelne eben nicht nur die commendatio maiorum vorweisen können, sondern Kompetenzen auf verschiedenen Gebieten auf hohem Niveau nachweisen: Er mußte eine intensive militärische Ausbildung absolvieren, die natürlich ein hartes körperliches Training darstellte, aber ebenfalls auch strategische Kenntnisse und Fähigkeiten, ein Kommando zu führen, vermitteln sollte. Im zivilen Bereich mußte man ein guter Anwalt und Patron für seine Clienten sein. Eine umfassende Bildung im Recht, in Geschichte, Literatur und in Rhetorik war selbstverständlich, man war zudem natürlich zweisprachig, die Beherrschung des Griechischen war obligatorisch. Die sichere Handhabung diplomatischer, außen- wie auch innenpolitischer Kenntnisse bildete eine weitere Grundanforderung. In der späten Republik (wohl auch schon früher) gehörten Weltgewandtheit und ein souveränes Mitspielen in den gesellschaftlichen Kreisen wie etwa bei Banketten ebenfalls dazu. Dies waren insgesamt hohe Ansprüche, die eine einzelne Person erfüllen sollte. Man muß hinzunehmen, daß natürlich in jeder Generation möglichst viele Familien versuchten, die Spitzenposition in der res publica zu bekleiden. Vor dem Hintergrund dieser permanenten Konkurrenz ist mit einer sozialen Mobilität innerhalb der politischen Klasse nach oben wie auch nach unten zu rechnen. Cicero stellt als homo novus ein Beispiel für einen überaus schnellen Aufstieg dar, weil er das, was sonst ein mehrere Generationen umfassendes Projekt bedeutete, nämlich den Aufstieg bis ins Consulat, schon innerhalb einer Generation bewältigte. Sogar in
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Vgl. FANTHAM 1997, 112, die den kleinen Kreis der Redner in Rom im Vergleich zum zumindest potentiell wesentlich größeren Kreis der Redner in der athenischen Volksversammlung herausarbeitet. Vgl. HÖLKESKAMP 2004, 9ff.; 73ff.
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der folgenden Generation brachten die Tullii Cicerones es zu einer recht beachtlichen Bilanz – freilich unter historisch gewandelten Verhältnissen.3 Die politische Klasse war in sich streng hierarchisch strukturiert.4 Zwei Kriterien waren für die Rangfolge entscheidend: Welche Stufe des cursus honorum konnte ein Politiker erreichen, und wie etabliert war die Familie, aus der er stammte?5 Diese Rangfolge spiegelte sich in der censorischen Senatsliste und in der Reihenfolge der Senatsumfrage, die der Sitzungsleiter einhielt. Die Institution des Senats stellte das kontinuierliche institutionelle Element in der res publica dar, welches die römische Aristokratie regelmäßig zusammenführte. Als Versammlung der gewesenen Magistrate verfügte der Senat über eine Art Wissensmonopol bei der Lenkung der Republik. Die überlegene Kenntnis, wie man die res publica leitet und lenkt, verlieh dem ehrwürdigen Gremium des Senats Autorität, die wiederum wesentlich auf der Weitergabe von Erfahrungen von Generation zu Generation beruhte. 3
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Sein Bruder Quintus hatte im Jahre 62 v.Chr. die Praetur inne. Er verwaltete dann im Anschluß mehrere Jahre die stets sehr begehrte Provinz Asia. Selbst unter den in den kommenden Jahren völlig gewandelten Bedingungen konnten die Tullii Cicerones diesen Status in gewisser Weise halten. Ciceros Sohn war – gefördert von Octavian – wohl Ende 30 v.Chr. consul suffectus, 24/23 v.Chr. verwaltete er die Provinz Asia wie einst sein Onkel Quintus, außerdem bekleidete er die Würde eines pontifex. Ciceros Sohn genoß nie ein gutes Urteil bei der Nachtwelt, die ihn als „Null“ titulierte, vgl. K.-L. ELVERS, DNP 12/1, 2002, 902–903; FUHRMANN 1992, 307. Immerhin konnten die Tullii Cicerones in zwei Generationen zwei Consuln und einen Praetor sowie Mitgliedschaften in den römischen Priesterkollegien vorweisen. Ciceros Sohn starb dann aber kinderlos. Siehe BLEICKEN 1995, 85ff.; HÖLKESKAMP 2004, 78ff.; SIMMEL 1992, 336 (Merkmal der Konkurrenz sei, „daß der Gewinn, weil er dem einen zufällt, dem anderen versagt bleiben muß“.) Daß beide Elemente, Amt und Herkunft, zusammengehörten, macht das Beispiel des homo novus Cicero deutlich. Ein wirklich politisches Schwergewicht war er selbst als consularis nicht. Vgl. HEUSS 1976, 189: Cicero „… war von seiner Bedeutung nicht nur durchdrungen (was sein gutes Recht war), sondern gab es auch bei jeder möglichen und unmöglichen Gelegenheit, im persönlichen und öffentlichen Verkehr, laut und vernehmbar zu verstehen. Das ging den Leuten auf die Nerven, zumal wenn seine Gedanken beinahe monoman immer wieder um seine Karriere als Selfmademan und seine großen Verdienste (bei Niederwerfung des Catilinaputsches) kreisten. So ist Cicero in der Geschichte jener Jahre keineswegs das geworden, wozu ihn seine Bedeutung und sein Ansehen bestimmt haben mochten, und die wesentlichen Entscheidungen sind ohne und gegen ihn gefallen.“ Man kann – um einen militärischen homo novus zu nennen – auch Marius erwähnen. Ihm legt Sallust (Iug. 85) eine flammende Rede gegen die verkrustete Nobilität in den Mund, die sich auf ihren imagines geradezu ausruhe. An der Basis der Verdienste um die res publica, auf denen politischer Führungsanspruch beruhte, hielt Marius fest; vgl. WALTER 2003, 266, HÖLKESKAMP 1987, 206f.; FLAIG 1995, 128 (Rede des Marius [Sall. Iug. 85] kreist besessen um die Ahnenbilder, die er nicht hat); FLOWER 1996, 17–23; BLÖSEL 2003, 70f.: „Im Gegenzug entreißt er [Marius, F.B.] die Vorfahren, welche Rom groß gemacht haben, den einzelnen gentes und spricht sie dem gesamten populus zu. ... Marius beraubt so die kollektive Erinnerung ihres Rückgrates und setzt an dessen Stelle eine amorphe Masse von Vorfahren, die allein durch ihre Herkunft aus dem und Leistung für den populus Romanus, nicht mehr durch ihre Zugehörigkeit zu einer adligen gens gekennzeichnet sind.“
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Innerhalb der Gruppe herrschten – wie gesagt – neben der Hierarchie natürlich gleichzeitig beträchtliche Konkurrenz und scharfe Rivalität. Einzelne Familien hatten ein großes Interesse daran, ihre Mitglieder in die hohen exekutiven Positionen zu bringen. Da die Spitzenpositionen aber zahlenmäßig gering waren, wurde Jahr für Jahr heftig um sie gekämpft.6 So vermittelt die politische Klasse Roms nicht allein den Eindruck einer großen Stabilität, die vor allem auf senatorischer Autorität ruhte. Ihre einzelnen Mitglieder standen zugleich in einer enormen Rivalität um die wenigen wirklich wichtigen Posten der obersten Magistraturen. Spätestens zur Zeit Ciceros war dann noch eine Ebene dazugekommen: die mit weitgehenden Befugnissen ausgestatteten Sonderaufgaben. Sie hatten nicht mit Pompeius begonnen, und er war im Zeitraum von den siebziger bis zu den fünfziger Jahren des ersten Jahrhunderts v. Chr. keineswegs der einzige Sonderbevollmächtigte.7 Aber seit Sulla und vor allem auch durch Pompeius hatten die Sonderkommanden eine neue Qualität, was eine zusätzliche, schwer meßbare Ebene der Akkumulation von Macht und Prestige in diese politische Klasse hineintrug. (Gesteigerte) Konkurrenz bestimmte das Geschäft genauso, wie Autorität und Hierarchie auf der anderen Seite diesen permanenten Agon (noch) bändigten. Die politische Klasse war zwar stark hierarchisiert, aber sie legte die Rangfolge untereinander nicht selbst fest. Mit einer internen Entscheidung der Hierarchiefrage war der aristokratische Gleichheitsgrundsatz nicht vereinbar. Es gab keine feste Bezugsgröße oder Kategorien innerhalb der politischen Klasse, um entscheiden zu können, wer tonangebend sein sollte. Gemeinsam waren den Mitgliedern bestimmte Qualitäten, und gemeinsam waren sie auch Handelnde in einem sozialen Zusammenhang. Die politische Klasse war sich darüber einig: „Man vereinigt sich, um zu kämpfen, und man kämpft unter der beiderseitig anerkannten Herrschaft von Normen und Regeln“,8 was in Roms politischer Kultur bedeutete: Der inneraristokratische Wettbewerb wurde vor den Ohren und Augen der cives Romani auf den rostra ausgetragen. Denn der populus Romanus war durch die Wahlen, Urteile und Entscheidungen über Gesetzesvorlagen in dieses aristokratische Geflecht von Karriere und Hierarchie einbezogen.9 Die cives Romani verliehen die honores, die so etwas wie Kampfpreise darstellten. Darin beruhte ihre wesentliche Funktion innerhalb des stadtstaatlichen Institutionendreiecks. Über die honores wurden zugleich die Rän-
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HÖLKESKAMP 1995, 22f.; jetzt grundlegend BECK 2005. Vgl. hierzu Appendix III bei GRUEN 1974/1995, 534ff. SIMMEL 1992, 304 (Zitat); 312. Cic. Planc. 60: „... honorum populi finis est consulatus ...“ / „... das Ziel der Ämter, die das Volk verleiht, ist das Konsulat ...“ (Übersetzung FUHRMANN). MILLAR 1998, 74: „Roman public life was a constant dialogue, or a set of competing dialogues, between the individual actors who sought public office (honor) by the beneficium of the people themselves, who at times were not merely an audience but became actors themselves in many different contexts, and were leading players in the drama when it came to elections and the voting of laws.“ Siehe jetzt auch HÖLKESKAMP 2004; BECK 2005.
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ge innerhalb der politischen Klasse bestimmt. Voraussetzung für diese Gunst war die gelungene Rede vor dem Volk, die einen erst einmal bekannt machte.10 In der späten Republik gab es sogar die besonderen außerordentlichen Kommanden, durch die für einzelne Aristokraten (Antonius, Metellus, Pompeius, Crassus, Caesar) sogar die althergebrachten Regeln der Magistratur wie etwa die Annuität suspendiert wurden. Die Befehlsgewalten kamen in der Regel durch Plebiszite zustande (Pompeius, Caesar).11 So wurden die abstimmenden und beschließenden cives Romani in direkter und verschärfter Form zu Schiedsrichtern und Preisverleihern für die politische Klasse. Hieraus resultierten Prestige und auctoritas der Nobiles, wodurch die politische Klasse ihre hierarchische Ordnung erhielt. Der römische Adel war so sehr identisch mit der res publica und so in ihr gefangen, daß man von einem geradezu republikanischen Adel sprechen kann.12 Die Frage, wie viele römische Bürger bei den Versammlungen anwesend waren, spielte dabei keine Rolle. Waren es zwei, drei oder fünf Prozent der Wahlberechtigten? Dies sind moderne Fragen, die auf der Prämisse und Grundvorstellung der bürgerlichen Partizipation in einer Nation beruhen. In der politischen Kultur Roms als einer „Anwesenheitsgesellschaft“ war es gleichgültig,13 solange die Volksversammlungen ihre inhaltlichen Aufgaben (Gesetze und Wahlen, Beschlüsse über Krieg und Frieden etc.) erfüllten14 und ihrer rituellen Funktion des Konsensrituals nachkamen.15 10 Vgl. SIMMEL 1992, 327: „Daneben steht doch diese ungeheure vergesellschaftende Wirkung. Sie [d.h. die Konkurrenz, F.B.] zwingt den Bewerber, der einen Mitbewerber neben sich hat und häufig erst hierdurch zum eigentlichen Bewerber wird, dem Umworbenen entgegen- und nahezukommen ...“; vgl. ibd. 328f.; 340.ff. 11 Vgl. THOMMEN 1989, 251f.: „Die großen Einzelnen verstanden es seit Marius am besten, sich des Volkstribunats zu bedienen und sich auf diese Weise Machtzuwachs zu verschaffen.“ LASER 1997, 80 (Entscheidungsrahmen der Masse vergrößerte sich in bezug auf Kommandovergabe). 12 HÖLKESKAMP 2004, 79. 13 In den Quellen gibt es keine Hinweise darauf, daß jemand ein Unbehagen verspürte, weil fünf oder weit weniger Prozent abstimmten. Es stellte kein politisches Problem etwa der Legitimität von Entscheidungen dar. Begriff „Anwesenheitsgesellschaft“ nach SCHLÖGL 2004, 57. 14 Dazu wurden die Massen in der späten Republik (ab 100 v.Chr.) auch durchaus polarisiert und mobilisiert. Einzelne Aristokraten agierten auch mit Trupps und Banden, um sich durchzusetzen, und verfolgten originär populare Politik (Acker- und Getreidegesetze, Coloniegründungen, Sonderkommanden zur Sicherstellung der Versorgung). Vgl. die Ausführungen von FLAIG 1995b, 124ff. und generell die Studien von LASER 1997; DÖBLER 1999; MOURITSEN 2002. — Zu den Kommunikationsformen gehörte auch der ambitus, dabei bedeutet ambitus nicht nur, daß die Abstimmenden käuflich und korrupt waren. Die Geschenke an die Wähler gehörten zum politischen Alltag genauso, wie zu viele Geschenke an die Wähler Vorwand für eine ambitus-Anklage sein konnten. Im Prinzip stellte dies eher einen Gabentausch dar: Der Politiker, der sich per ambitum im richtigen Maße dem populus Romanus näherte und ihn umwarb, erhielt als Gegengabe einen honor, siehe JEHNE 1995b, 76: „Der römische Wahlkampf war ein Ritual ostentativer Fürsorglichkeit und somit die adäquate Ausprägung des Patronagesystems: Der Patron zeigt Hinwendung zum Volk und nimmt die Wahl als angemessene Huldigung entgegen.“ 15 Vgl. FLAIG 1995, 84ff.; 96f.
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Für die Mitglieder dieser politischen Klasse war die rhetorische Interaktion mit den Bürgern also von entscheidender Bedeutung, wenn jemand öffentlich nicht einfach nur tätig, sondern erfolgreich sein wollte. Bewährung in der Konkurrenz ist der „unbestechliche Anzeiger des persönlichen Könnens, das sich in der Leistung objektiviert hat“.16 Für einen Römer beinhaltete Erfolg zwei Aspekte: Zum einen war man ‚bekannt‘ (nobilis) beim populus Romanus,17 zum anderen war man unter seinen Standesgenossen – wenn es gut ging – den meisten überlegen und mit einigen wenigen auf gleicher Augenhöhe. War man so weit, hatte man es in der res publica geschafft. Man hatte praktisch erreicht, was dem einzelnen Aristokraten eine Art Grundprinzip war; bei Homer konnte man es lesen – man hatte es ja im Lektüreunterricht schon in jungen Jahren tatsächlich gelernt – und sich selbst als Lebensaufgabe vor Augen halten: a„n ¢risteÚein kaˆ Øpe…rocon œmmenai ¥llwn· („immer der erste zu sein und die anderen zu überragen“). Gerade der homo novus Cicero bekannte sich zu diesem Programm.18 Einende Erinnerung Angesichts dieser sehr starken Rivalität und divergierenden Tendenzen stellt sich die Frage nach dem Gemeinsamen und Vebindenden, nach einer Art Graviationszentrum, das die politische Klasse zusammenhielt. Eine sehr wichtige, verbindende und auch ausgleichende Klammer für die Senatorenschaft war die jeweilige Geschichte.19 Die Voraussetzung hierfür bestand darin, daß man ein einheitliches
16 SIMMEL 1992, 348. 17 BONNER 1977, 66f., betont vor allem die aufsehenerregenden Kriminalprozesse, am besten vor einem Volksgericht, die einem jungen dynamischen Ankläger viel Bekanntheit einbringen konnten. Siehe auch JEHNE 1995b, 60ff. 18 Hom. Il. 6,208; 11,784; Cic. ad Q. fr. 3,5,4: „Angor, mi suavissime frater, angor nullam esse rem publicam, nulla iudicia, nostrumque hoc tempus aetatis, quod in illa auctoritate senatoria florere debebat, aut forensi labore iactari aut domesticis litteris sustentari, illud vero quod a puero adamaram, ‚a„n ¢risteÚein kaˆ Øpe…rocon œmmenai ¥llwn‘, totum occidisse…“ / „Es quält mich, liebster Bruder, quält mich furchtbar, daß wir keinen Staat mehr haben, keine Gerichte, daß ich meinem Alter, indem ich eigentlich als hochangesehener Senator glänzend dastehen müßte, mich mit Prozessen herumschlage oder mich mit privaten literarischen Arbeiten hinschleppe, daß der Stern, der mir von Kindesbeinen an voranleuchtete – ‚Immer der erste zu sein und sich auszuzeichnen vor allen‘ – völlig erloschen ist ...“ (Übersetzung KASTEN). 19 WALTER 2003, 256 mit Verweis auf Cic. off. 1,55f.: „Magnum est enim eadem habere monumenta maiorum, eisdem uti sacris, sepulchra habere communia. Sed omnium societatum nulla praestantior est, nulla firmior, quam cum viri boni moribus similes sunt familiaritate coniuncti; illud enim honestum, quod saepe dicimus, etiam si in alio cernimus, tamen nos movet atque illi in quo id inesse videtur amicos facit. Et quamquam omnis virtus nos ad se allicit facitque, ut eos diligamus, in quibus ipsa inesse videatur, tamen iustitia et liberalitas id maxime efficit. Nihil autem est amabilius nec copulatius, quam morum similitudo bonorum; in quibus enim eadem studia sunt, eaedem voluntates, in iis fit, ut aeque quisque altero delectetur ac se ipso ...“ / „(55) Denn bedeutsam ist es, dieselben Denkmäler der Vorfahren zu ha-
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Verständnis von Geschichte pflegte und die Vergangenheit entsprechend deutete:20 In der Geschichte manifestierte sich in vorbildlicher Weise, wie ein Römer sein sollte. Man erinnerte sie vor allem personengebunden daran, daß die Geschichte der libera res publica großenteils identisch war mit den heroischen Taten der maiores, deren Erinnerung die Familien wachhielten. Diese Familientraditionen wurden mit Hilfe verschiedener Medien öffentlich vor Augen geführt, bildlich dargestellt oder auch mündlich erinnert – darauf wird weiter unten zurückzukommen sein.21 So wurde ‚symbolisches Kapital‘ zählbar, meßbar und damit vor allem vergleichbar. Die Normengemeinschaft ermöglichte den unmittelbaren Vergleich und die daraus resultierende Rangfolge. Die Vergegenwärtigung, Aktualisierung und Legitimierung von Führungsansprüchen und die dafür nötige Funktionalisierung von Geschichte liefen vor allem über das Medium der Rede. Mit diesem ‚Kapital‘ trat die gesamte Gruppe vor den populus Romanus und leitete ihn. In diesem Punkt war man sich einig.22 Geschichte war in dieser Gesellschaft kein (nationales) Abstraktum, das gelehrten Spezialwissenschaftlern vorbehalten blieb, sondern konkrete und vor allem eigene Erinnerung. So konnte die zitierte Geschichte eine enorme, handlungsleitende Bedeutung entfalten, weil sie einzelne unmittelbar betraf, wie später am Beispiel des Brutus vorgestellt werden soll.23 Die Summe der einzelnen Geschichten mit ihren jeweiligen ‚Botschaften‘ bildete das Corpus der mores maiorum.
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ben, dieselben Heiligtümer zu benützen und gemeinschaftliche Grabmäler zu haben. Aber von allen gesellschaftlichen Bindungen ist keine vorzüglicher, keine fester, als wenn gutgesinnte Männer, ähnlich in ihrer Lebensart, in Vertrautheit verbunden sind. Denn wenn wir jene Ehrenhaftigkeit, von der wir oft sprechen, auch bei einem anderen sehen, so beeindruckt sie uns doch und befreundet uns mit jenem, der sie zu besitzen scheint, (56) und wenngleich jede Vollkommenheit uns anzieht und bewirkt, daß wir die lieben, die sie zu besitzen scheinen, so erwirkt dies doch die Gerechtigkeit und die Freigebigkeit am meisten. Nichts aber ist liebenswürdiger und gewinnender als die Ähnlichkeit in rechter Lebensart. Denn bei Leuten, die dieselben Ziele, dieselben Absichten haben, bei denen tritt der Fall ein, daß ein jeder am anderen dieselbe Freude hat wie an sich selber ...“. Zur memoria der gentes BLÖSEL 2003; WALTER 2004, 84ff. Spätestens seit dem Ende des 2. Jh. v.Chr. gab es unterschiedliche konkrete Ausgestaltungen von geschichtlicher Tradition gab, wenn man plebeische und optimatische Interpretationen der Geschichte unterscheidet. S. dazu unten auch die Fallstudien. Vgl. Teil 3 S. 152ff.; GEHRKE 1996, 386; vgl. STEMMLER 2000, 185. WALTER 2003, 274 spricht davon, daß die Geschichtskultur der römischen Republik und insbesondere der Nobilität nicht nur ein manipulatives Herrschaftsmittel, sondern für den Nobilis eine Möglichkeit war, „im Wirken seiner Vorfahren für die res publica … (auch) … durchaus einfach einen Altersbeweis für seinen Anspruch auf eine führende Stellung oder ein Distinktionskriterium für sein Besonders-Sein [zu] sehen.“ Vgl. auch UNGERN-STERNBERG 1988, 265 (vielfältige Gelegenheiten, in denen Geschichte als Argument, als Legitimationsgrund herangezogen wurde); GEHRKE 1996, 385: („Nirgends ist der Zusammenhang von sozialer Realität und gepflegter Erinnerung, von Gegenwart und Vergangenheit so eng wie in Rom.“). Zum Begriff ‚symbolisches Kapital‘ s. u. Anm. 29. Siehe dazu unten S. 250ff. und vor allem S. 321f. den Abschnitt: „Die Macht der Erinnerung und das Selbstbild des Nobilis“.
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Das Konzept der mores maiorum, deren Illustration die einzelnen exempla sind, bedeutete für die politische Klasse, aber auch für den gesamten populus Romanus einen Vorrat an Handlungs- und Deutungsmustern, Maximen und gelebten Vorbildern.24 Dabei wirkten diese Vorbilder nicht allein im staatlich-politischen Handlungsraum. Sie wurden auch bei der privaten Lebensführung herangezogen, die Vorfahren gaben Präzedenzen für das Staats- und Strafrecht, sie galten als Autoritäten in religiösen und familiären Dingen. Die Führung eines Amtes, das Zusammenspiel der Institutionen, die Verwaltung der Provinzen – stets zitierte man die Vorfahren, die Maßstab waren und Orientierung gaben.25 Die Wirkungsmacht der mores maiorum war um so stärker, wenn man berücksichtigt, daß es niedergeschriebene Regelwerke sehr lange nicht gab. Erst in der späten Republik kann man eine zunehmende „Jurifizierung des mos“ feststellen.26 Das Herkommen regelte praktisch alles, die einzelnen Bereiche waren durch mores (Herkommen) beschrieben, aber nicht ein für allemal festgeschrieben.27 Die Unmittelbarkeit der Geschichte erklärt, wie die enge Bindung an sie zustande kam. Sie äußerte sich vor allem in den Geschichten und Traditionen der familia und konnte daher entscheidende Bedeutung gewinnen.28 Gerade die Vorfahren der senatorischen Familien hatten die besten mores beispielhaft in persona vorgelebt. In den Atrien ihrer Häuser waren die imagines zu sehen, über sie konnte man lesen, von ihnen konnte man Geschichten hören. Der Rang und das Prestige einer Familie beruhten wesentlich auf ihrer Geschichte im Dienste der res publica. Die Taten der Vorfahren waren das „symbolische Kapital“29, das den Anspruch auf Mitsprache und Mitbestimmung ermöglichte. Zugleich waren die Familien selbst streng hierarchisch organisiert: Ein römischer Politiker konnte im 43. Lebensjahr Consul sein, die Auspicien einholen, das imperium innehaben und
24 Vgl. HÖLKESKAMP 2004, 91; FLAIG 2003, 76ff. 25 ROLOFF 1938; TIMPE 1996, 283f.; WALTER 2003 passim, bes. 257: „Weil sich diese Werte aber ausschließlich in Handlungskontexten materialisierten, waren sie nur im Modus des Geschichtlichen kommunizierbar, denn sie gewannen ihre Gestalt und ihre Verbindlichkeit gerade durch die Verbindung vergangener Handlungen, gegenwärtiger Handlungsanforderungen und für die Zukunft erwartbarer oder wünschbarer Handlungen. Wann also eine ‚pietasSituation‘ vorlag, wann eine ‚ fides-Handlung‘ erwartet wurde, war deshalb nur durch geschichtliches Wissen zu erkennen.“ HÖLKESKAMP 2004, 57f., spricht von „Rezeptwissen“, das tief verwurzelt und vortheoretisch sei und daher nicht reflektiert werde. 26 BLEICKEN 1975, 387ff. 27 Durch diesen Umstand können krisenhafte Prozesse und Entwicklungen insbesondere die politische Klasse treffen. Denn letztlich beruht ein solches Konzept wie mos maiorum auf einer konsensualen Grundlage, die die Gemeinschaft der politischen Klasse nicht einfach trägt oder verwaltet, sondern geradezu verkörpert und lebt. 28 WALTER 2003, 256: „Wichtiger war der ‚gelebte‘ und durch primäre Sozialisation vermittelte, erst in zweiter Linie gelernte Traditionsbezug. Der nobilis wuchs buchstäblich im Angesicht vom Sein und Wirken seiner Vorväter auf, soweit diese erfolgreich und damit vorbildlich gewesen waren.“ 29 Diesen Begriff, den PIERRE BOURDIEU geprägt hat, hat FLAIG 1995, 126 (mit Anm. 26), im Zusammenhang der pompa funebris und der Ahnenreihe einer Nobilitätsfamilie auf römische Verhältnisse angewandt; dazu jetzt auch ausführlich HÖLKESKAMP 2004, 93ff.
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große Siege für die res publica erringen, ja sogar im Triumph nach Hause zurückkehren – und doch weiterhin unter der Gewalt des pater familias stehen und noch keine Person sui iuris sein, zumindest der Theorie nach. Die Realität sah natürlich anders aus. Jedoch wird durch die Ideologie der patria potestas und der Autorität, die mit ihr verbunden ist, die Bedeutung der familia unterstrichen. Der lange Weg in den Bahnen der Familie, die spät erworbene Selbständigkeit eines römischen Mannes, die jedem von klein auf vorgehaltenen Geschichten der großen Vorfahren, wie man sie auf ihren tituli der imagines im Atrium in stereotyper Kurzform lesen konnte – dies alles prägte die Mentalität in jeder Generation tief und garantierte die Bewahrung von Traditionen und mores.30 Die einzelnen Elemente der Erinnerungskultur strukturierten diese mentalen Bedingungen von Politik und Bewährung in der Öffentlichkeit. Sie steckten das Feld ab, auf dem man sich im Wettbewerb um Rang, Ehre und Prestige messen mußte. Der Begriff der ‚Öffentlichkeit‘, der sich in seiner heutigen Bedeutung auf ein Phänomen der Moderne bezieht und dessen Anfänge von KOSELLECK in der ‚Sattelzeit‘ um 1750 gesehen werden, ist für die Antike ein Anachronismus.31 Dem ganzen Modell liegt die moderne Trennung von Staat und Öffentlichkeit bzw. Gesellschaft zugrunde. Öffentlichkeit im modernen Sinne hatte zwei wesentliche Voraussetzungen: zum einen eine verschriftlichte Kommunikation breiter Gruppen einer (sich bildenden) Nation, und zum anderen wurde diese publizistische Kommunikation durch Massenmedien ermöglicht. Kommunikation ließ Öffentlichkeit erst entstehen; gleichzeitig brauchte eine so verstandene Öffentlichkeit auch die Kommunikation.32 Dieses Verständnis des Begriffs ‚Öffentlichkeit‘ ist also nicht einfach auf die antiken Verhältnisse in Rom zu übertragen. Wenn man ihn anwenden möchte, so muß man für Rom verschiedene Öffentlichkeiten differenzieren, die sowohl auf Orte als auch auf handelnde Personen und ihre jeweiligen sozialen Rollen innerhalb der römischen politischen Kultur zu beziehen sind. Ein consularischer Senator markierte beispielsweise eine Scheidung zwischen sich und der ihn umgebenden Welt, wenn er mit dem Gefolge seiner Clienten, einer Reihe (junger) Senatoren sowie Gastfreunden aus z.B. der Familie verbundenen Municipien sein Haus verließ und gravitätisch zum Forum schritt, denn dieses Einherschreiten forderte allein schon die Toga als Gewand. Auf diese Weise entstand eine ‚senatorische
30 Vgl. FLAIG 1995, 125: Die erfolgreichsten maiores gaben sozusagen eine Hohlform ab, die von den Nachfahren auszufüllen war. 31 Zu dem Ergebnis, daß es eine (publizistische) Öffentlichkeit nicht gab, kommt die Arbeit von EICH 2000, 382: „Eine personifizierte Öffentlichkeit als eigentümliche politische Potenz existierte in der römischen Geschichte nicht, eben aus dem Grunde, weil sie im Bewußtsein nicht existierte.“ Vgl. zum Begriff „Öffentlichkeit“ allgemein: HABERMAS 1969/1990; HÖLSCHER 1978, 413ff.; FAULSTICH 1999, passim bes. 70ff. erarbeitet eine „quantifizierende Skala von Öffentlichkeit“ in heutiger Zeit; und wiederum EICH 2000, 6ff. 32 HABERMAS 1969/1990, 140.
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Öffentlichkeit‘,33 die die anderen cives Romani wiederum in eine ‚bürgerliche‘ Öffentlichkeit verwies. Wenn jemand als civis Romanus – und auch ein Senator war schließlich ein civis Romanus – beispielsweise das Forum Romanum betrat, dann befand er sich im politischen Zentrum der römischen Welt, dem Relikte aus ältester legendärer Zeit und Erinnerungsgegenstände aus historischer Zeit wiederum eine spezifische historisch-politisch aufgeladene Öffentlichkeit verliehen.34 Diese politische Öffentlichkeit war wiederum zu trennen von der Öffentlichkeit, die im römischen Haus in abgestuften Zonen bestand. Der größte und repräsentativste Raum des Hauses, das Atrium, war für den Empfang von Clienten reserviert. Der Hausherr übte seine soziale Rolle als Patron aus und stellte sich vor dem Hintergrund seiner Familie (Ahnenmasken und Stammbaum) seinen Anhängern zur Verfügung, ihre Sorgen und Anliegen zu hören und ihnen mit Rat zu helfen. Ebenfalls war der morgendliche Besuch beim Patron ein Informationskanal, durch welchen Informationen und Meinungen von oben nach unten, aber auch von unten nach oben weitergeleitet werden konnten.35 Freunde und politische Kollegen zum privaten Dinner am Abend in sein Haus einzuladen, war ebenfalls kein rein privates Vergnügen, sondern erzeugte – wenn auch im privaten Rahmen – eine aristokratische Öffentlichkeit unter Standesgenossen. Der Abschied eines verstorbenen Familienmitglieds war unter Umständen eine sehr öffentliche Angelegenheit, falls der Verstorbene ein curulisches Amt erreicht hatte und daher mit einer imago und pompa funebris geehrt wurde. Das familiäre Ritual der pompa funebris fand öffentlich auf dem Forum statt und ist „ohne Öffentlichkeitsbezug nicht zu denken“.36 Es geht also um die Scheidung unterschiedlicher sozialer Rollen in verschiedenen Räumen und der hier stattfindenden Kommunikation, wenn man von Öffentlichkeit(en) in Rom sprechen möchte. In diesen Öffentlichkeiten begegneten sich die verschiedenen Gruppen des populus Romanus, und hier nahm die politische Kultur der face to face-society Rom konkrete Gestalt an: in Räumen und Monumenten, Ritualen und Gesten und nicht zuletzt in Kommunikation und Worten. Im Gegensatz zur schriftlich-publizistischen Öffentlichkeit könnte man mit dem Begriff einer „Anwesenheitsöffentlichkeit“ einen spezifischen Begriff für eine vormoderne Staatlichkeit wie Rom anwenden.37
33 Vgl. auch EICH 2000, 33. 34 HÖLSCHER 1998, 12 spricht in bezug auf griechische Städte für die hellenistische Zeit von „Ästhetisierung und Semantisierung der öffentlichen Architektur“. HÖLKESKAMP 2003, 93, spricht in face to face-societies sogar von der „Institutionalität des Raumes“. 35 LAURENCE 1994. Zum Atrium vgl. auch WALTER 2003, 260; FLOWER 1996, 185ff. 36 TIMPE 1988, 273; KIERDORF 1980; HÖLKESKAMP 1987, 222f; 1996; 320–323; FLAIG 1995 und jetzt erweitert und modifiziert DERS. 2003, 49–74; WALTER 2003, 259ff.; FLOWER 1996, 91–127; DÖBLER 1999, 101ff.; BLÖSEL 2003, 53ff.; siehe unten S. 110ff. 37 Vgl. SCHLÖGL 2004, 57.
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(MENTALE) BEDINGUNGEN FÜR REDE UND REDNER IN DER SPÄTEN REPUBLIK Junge gegen Alte Bei aller Hierarchie und autoritären Staffelung sollte gerade im Hinblick auf die späte Republik einmal gefragt werden, in welchem Alter man vor das Volk treten konnte. Das Privileg der Rede an den populus Romanus war vor allem den erfahrenen, politisch an der Spitze stehenden Nobiles vorbehalten, dies galt auch für die Ansprache an die Standesgenossen. Diese Aussage ist grundsätzlich nicht falsch, aber man sollte auch danach fragen, an welchen Stellen und bei welchen Gelegenheiten junge Redner zu Wort kamen. Zu nennen sind die Auftritte junger ehrgeiziger Adliger in großen Prozessen, wie man sie vor dem eigentlichen Beginn und in den frühen Stufen des politischen Aufstiegs führte. Und einmal mehr ist Rede das Medium der Selbstdarstellung und -empfehlung. Konnte man sich doch vor Gericht auch gegenüber Älteren profilieren – und dies in einer wesentlich egalitärer angelegten Situation als etwa in der Senatsdebatte.38 Das Prozeßwesen war lebhaft, immerhin gab es seit Sulla acht ständige Gerichtshöfe, in denen an den dies fasti teilweise gleichzeitig Prozesse abgehalten wurden, und die Verhandlungen in den für die Allgemeinheit bedeutsamen Delikten fanden auf dem Forum statt. Hier bot sich bereits für den jungen Nobilis Gelegenheit, öffentlich einen prominenten Angeklagten vorzuführen und sich gleichzeitig mit dessen in der Regel nicht weniger prominentem Verteidiger zu messen.39 Dies konnte gelingen, aber auch schiefgehen. So oder so war man in aller Munde. Im Jahre 90 v. Chr. zitierte der Volktribun Q. Varius auf Geheiß von Q. Servilius Caepio den 72jährigen princeps senatus M. Aemilius Scaurus vor Gericht, ließ den von einer Krankheit gezeichneten alten Mann „per viatorem“ sogar vorführen. Scaurus kam, obwohl seine Freunde ihm davon abgeraten hatten, begleitet von den edelsten jungen Adligen, die ihn stützten, zum Forum. Als die Reihe an ihn kam, das Wort zu führen, sprach Scaurus: „Varius sagt, Scaurus habe die Bundesgenossen zu den Waffen aufgewiegelt. Scaurus, der princeps senatus, aber verneint dies. Zeugen gibt es nicht. Wem, Bürger, ziemt es, Glauben zu schenken?“ Scaurus wurde aufgrund dieser kurzen Rede („qua voce“) entlassen. Mit seinen Worten habe Scaurus den Sinn aller wenden können, notierte Asconi-
38 JEHNE 2000, 176: „Darüber hinaus wiesen die Prozesse mit ihrer formalen Orientierung an einer Sache und der geforderten Gleichrangigkeit von Anklage und Verteidigung eine egalitäre Dimension auf, zudem mußten sie schon durch ihre schiere Zahl der Führungsschicht geradezu zwangsläufig entgleiten.“ 39 JEHNE 2000, 173; FANTHAM 1997, 120; BONNER 1977, 67: „Crassus, Lucullus, Appius Clodius Pulcher, Iulius Caesar, Caelius Rufus and Sempronius Atratinus all began their careers in this way.“ Siehe zu gleichzeitig ablaufenden Prozessen die Cicero-Belege Cluent. 147 und Verr. 2,5,143 und dazu HEIL 2003, 37. Weiterhin Cic. Flacc. 57.
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us. Durch die Autorität des damaligen princeps senatus kam der Prozeß gar nicht erst zustande. Scaurus mußte sich zunächst dem Verfahren formal unterwerfen: Er wurde herbeizitiert, er mußte sich die Anklage anhören, er mußte warten, bis man ihm zu sprechen gestattete. Aber trotzdem konnte er die Anschuldigung des Varius „qua voce“ und mit seiner Autorität abwenden.40 Für den Tribun bedeutete dies eine Niederlage. Aber war sie notwendigerweise karriereschädigend? War Varius blauäugig und unvorsichtig? Immerhin wollte der junge Tribun die Chance ergreifen, einen – in diesem Falle: äußerst – prominenten Senator anzugreifen und auf diese Art selbst bekannt zu werden. Dabei war Varius in anderer Hinsicht nur ein vorgeschickter Ankläger, denn hinter der Anklage stand Scaurus’ alter Intimfeind Caepio. Öffentliches Aufsehen hat Scaurus bestimmt erregt. ‚Wer ist denn der junge Tribun, der diesen alten ehrwürdigen Mann vor Gericht zerrt?‘, konnte man sich in Rom fragen. Man stelle sich dazu nur den Auftritt des von einer Krankheit geschwächten Scaurus vor, wie er „gestützt von den edelsten Jünglingen“ zum Forum kam. Aber auf weitere typische Merkmale des Mitleidsgestus (schwarze Kleidung, ungeschorene Haare) hatte er offensichtlich verzichtet, weil er ganz auf seine auctoritas setzte, die im römischen Verständnis als „Krone des Alters“ angesehen wurde.41 Aller Anfang ist schwer. Dies gilt vor allem auch für die ersten Auftritte in der Öffentlichkeit. Der berühmte Redner Crassus, eine der Hauptfiguren in Ciceros Dialog über den Redner, schildert seine Probleme, die er als junger Ankläger durchstehen mußte, weil die Situation doch die Kräfte rasch überfordern konnte: „Als ganz junger Mensch verlor ich zu Anfang einer Anklage so alle Fassung, daß ich Quintus Maximus von Herzen dafür dankbar war, daß er sogleich die Richter-
40 Asc. P. 22C.: „Non multo ante, Italico bello exorto, cum ob sociis negatam civitatem nobilitas in invidia esset, Q. Varius tr. pl. legem tulit ut quaereretur de iis quorum ope consiliove socii contra populum Romanum arma sumpsissent. Tum Q. Caepio vetus inimicus Scauri sperans se invenisse occasionem opprimendi eius ut Q. Varius tribunus plebis belli concitati crimine adesse apud se Scaurum iuberet anno LXXII. Ille per viatorem arcessitus, cum iam ex morbo male solveretur, dissuadentibus amicis ne se in illa valetudine et aetate invidiae populi obiceret, innixus nobilissimis iuvenibus processit in forum, deinde accepto respondendi loco dixit: ‚Q. Varius Hispanus M. Scaurum principem senatus socios in arma ait convocasse; M. Scaurus princeps senatus negat; testis nemo est: utri vos, Quirites, convenit credere?‘ Qua voce ita omnium commutavit animos ut ab ipso etiam tribuno dimitteretur.“ Vgl. auch MAY 1988, 8. – S. auch Cic. sen. 62: „Non cani nec rugae repente auctoritatem arripere possunt, sed honeste acta superior aetas fructus capit auctoritatis extremos.“ / „Nicht die grauen Haare und auch nicht das zerfurchte Gesicht können einem Menschen mit einem Male Ansehen verschaffen, sondern nur das vorher ehrenwert verbrachte Leben erntet am Ende als Frucht das Ansehen.“ (Übersetzung FALTNER). – Von Varius wählt auch der Auctor ad Herennium einige Beispiele aus, vgl. 4,13; 22 mit den Anmerkungen in der Ausgabe von NÜSSLEIN. 41 Vgl. zur Anklage gegen Scaurus JEHNE 2000, 167f.; Cicero hörte Varius häufig und erinnert sich gut an ihn, weil er und ein paar andere doch praktisch auf den rostra wohnten (Brut. 305: „... et hi quidem habitabant in rostris ...“). Zitat: Cic. sen. 60, s. u. S. 95.
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versammlung entließ, sobald er mich von Furcht entkräftet und geschwächt sah.“42 Das berühmteste Beispiel für eine gelungene Anklage ist wohl Ciceros Prozeß gegen Verres. Der designierte Consul und gleichzeitige Staranwalt Roms, Quintus Hortensius, war einer der Verteidiger. Cicero war bekanntermaßen erfolgreich, und man rechnete ihn nach seinem Erfolg zu den ersten Anwälten und Rednern Roms. Ebenfalls in den siebziger Jahren machte sich Caesar einen Ruf als Ankläger. Er verlor zwar seine Anklage gegen den berüchtigten Dolabella, dennoch kannte man ihn besonders als einen Verfolger ehemaliger Sullani. 43 Alle hier angeführten Ankläger waren höchstens Mitte dreißig, Caesar sogar erst Mitte zwanzig.44 Und sie erreichten in spektakulären Prozessen gegen bekannte Persönlichkeiten ein großes Publikum und konnten so ihren Bekanntheitsgrad steigern. Ciceros eigene Aussagen illustrieren die Möglichkeiten, die dem engagierten Ankläger offenstanden. Die Prozesse waren Spektakel, welche öffentliches Aufsehen erregten: „... trotzdem – so wahr mir die Götter gnädig sein mögen! –, wenn ich an den Tag denke, da der Angeklagte aufgerufen ist und ich meine Rede halten soll, gerät nicht nur mein Verstand in Unruhe, sondern ich erzittere sogar am ganzen Körper. Schon jetzt sehe ich im Geiste und in Gedanken vor mir, welch erregte Teilnahme der Leute, welch Volksauflauf stattfinden wird, welch hochgespannte Erwartung der große Prozeß hervorrufen, welche Menge von Zuhörern der verhaßte Name des C. Verres auf die Beine bringen, endlich, welche Aufmerksamkeit seine Verruchtheit meiner Rede verschaffen wird. Wenn ich hieran denke, so bin ich schon jetzt besorgt, was ich wohl vorbringen könnte, daß es der Empörung seiner Feinde und Widersacher und der allgemeinen Erwartung und der Größe des Gegenstandes entspricht.“ 45
42 Übersetzung von MERKLIN zu Cic. de orat. 1,121: „…adulescentulus vero sic initio accusationis exanimatus sum, ut hoc summum beneficium Q. Maximo debuerim, quod continuo consilium dimiserit, simul ac me fractum ac debilitatum metu viderit.“ 43 Siehe GELZER 1960, 20 mit allen Belegen. 44 Eine exempla-Reihe junger Ankläger bei Tac. dial. 34,7: „nono decimo aetatis anno L. Crassus C. Carbonem, unoetvicesimo Caesar Dolabellam, altero et vicesimo Asinius Pollio C. Catonem, non multum aetate antecedens Calvus Vatinium iis orationibus insecuti sunt, quas hodieque cum admiratione legimus.“ Tacitus’ Altersangaben sind nicht ganz präzise: Crassus war einundzwanzig, Caesar dreiundzwanzig Jahre alt. 45 Cic. div. in Caecil. 41f. Übersetzung von M. FUHRMANN (kursive Hervorhebung von F.B.): „…tamen ita mihi deos velim propitios ut, cum illius mihi temporis venit in mentem quo die citato reo mihi dicendum sit, non solum commoveor animo, sed etiam toto corpore perhorresco. Iam nunc mente et cogitatione prospicio quae tum studia hominum, qui concursus futuri sint, quantam exspectationem magnitudo iudici sit adlatura, quantam auditorum multitudinem infamia C. Verris concitatura, quantam denique audientiam orationi meae improbitas illius factura sit. Quae cum cogito, iam nunc timeo quidnam pro offensione hominum, qui illi inimici infensique sunt, et exspectatione omnium et magnitudine rerum dignum eloqui possim“.; vgl. auch Cic. S. Rosc. 11; vgl. zur corona des Redners JEHNE 2000, 173; zu reich besuchten Versammlungen vgl. z.B. Cic. de orat. 1,180; Vgl. auch die Beschreibung bei MEIER 1982, 138f.
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In späteren Jahren war es die vornehme Aufgabe der mittlerweile etablierten Herren, das Wort nicht mehr als Speerspitze zu führen, sondern mit der souveränen Geste des schützenden Patron die eigene Beredsamkeit als Schutz einem jungen Standesgenossen zur Verfügung zu stellen: „Gentlemen did not prosecute.“46 Vor Gericht ging es um den einzelnen Streitpunkt zwischen zwei Parteien, hier war der Statusunterschied zwischen den Rednern von nicht so entscheidender Bedeutung, daß sie nicht zuließen, auch jüngeren Rednern das Wort zu geben.47 Schon in diesen frühen Karrierestadien sind die Rede und damit einhergehende Prominenz möglich und notwendig für ein Weiterkommen. Die Gerichtsrede bildete somit ein wesentliches Sprungbrett für den Aufstieg innerhalb der politischen Klasse. Im Senat war es – so die gängige Ansicht48 – dagegen anders, hier spielten die Statusunterschiede eine ganz wichtige Rolle für die Erteilung des Rederechts. Die Umfrage orientierte sich an den gradus dignitatis innerhalb der Senatorenschaft und verlief entlang dem cursus honorum von oben nach unten. Und diese gradus waren natürlich auch ein Spiegel der Altersstruktur des Hauses. Allerdings war es – wenn man die Sitzung vom 5.12. 63 v. Chr. als Muster nimmt – so, daß zunächst einmal die designierten Magistrate des kommenden Jahres ihre sententia äußerten, also in der Regel relativ junge Männer.49 Gerade an jenem 5. Dezember 63 v. Chr. hat der zweiunddreißigjährige und damit vergleichsweise junge Redner und tribunus plebis designatus M. Porcius Cato minor den entscheidenden Redebeitrag geliefert. Die Statistik der Senatsredner weist für die Zeit bis 133 v. Chr. mindestens praetorischen Rang der Redner aus, in ciceronischer Zeit sind aber in der Überlieferung auch Reden von – letztlich sehr wenigen – Politikern unterhalb des praeto-
46 Für so etwas hatte man seine jungen aufstrebenden Politiker, hinter denen man dann die Strippen zog, wie es die Anklage des Scaurus durch Varius, hinter der Caepio stand, illustriert. Zitat: FANTHAM 1997, 121 Anm. 19; CORBEILL 2004, 113. Vgl. auch Cic. off. 2,49f. 47 JEHNE 2000, 176. 48 Vgl. JEHNE 2000, 180; BLEICKEN 1995, 89f., gibt eine plastische Schilderung: „Die Gliederung der Senatoren nach Rängen (gradus dignitatis) war für den Senat konstitutiv und galt als Grundsatz, solange es einen Senat gab. Das Gewicht einer Stimme (sententia) bemaß sich danach. Es lag völlig außerhalb des Vorstellungsvermögens eines Senatsmitgliedes, von sich aus außerhalb der Rangfolge zu reden. Hätte eines der niederen Mitglieder es dennoch gewagt, vor dem ihm zukommenden Ort zu sprechen, wäre der ganze Senat erstarrt, und es hätte nicht nur niemand zugehört, sondern der dreiste Mensch hätte sein ganzes Leben hindurch mit großen Schwierigkeiten in seiner Karriere zu rechnen gehabt, denn diese Geschichte wäre so schnell nicht vergessen worden. ... Einen Prätorier oder einen Ädilizier mochte man noch anhören, dies naturgemäß besonders dann, wenn er mit der gerade verhandelten Sache zu tun hatte oder für sie kompetent war; die Masse dieser Senatoren hingegen hörte nur zu: Ihre Funktion lag einzig in der Abstimmung, bei der sie dann zu der Gruppe traten, deren Meinung sie zustimmen wollten.“ 49 Es sei denn, jemand wäre zum zweiten Mal Consul, dann wäre der Betreffende natürlich schon älter.
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rischen Ranges bekannt.50 Hier kann man die Vermutung äußern, daß sich die Redepraxis zu den unteren Rangklassen geöffnet haben könnte – wenn die Überlieferung keinen falschen Eindruck vermittelt.51 Den statistischen Befund kann man doppelt lesen. Zum einen läßt sich sagen, daß die junge Generation in der Zeit nach Sulla selbstbewußter auftrat, sich zu Wort meldete und dabei nicht zurückgedrängt wurde. Damit würde sich die starre Hierarchie der politischen Klasse etwas aufweichen. Zum andern aber kann man – im Sinne RYANs – auch argumentieren, daß sententiae von jüngeren Rednern üblich waren. Sie bedeuteten ja nicht zwangsläufig Äußerungen einer Unzufriedenheit mit der Nobilität oder sogar Widerstand gegen diese. Es bleibt darüber hinaus ebenfalls festzuhalten, daß es aufgrund der Geschäftsordnung im Senat eher nicht zu Redeschlachten kam, daß man ja auch immer nur als einer von vielen sprach und es tunlichst vermeiden sollte, sich als großartiger Redner produzieren zu wollen. Wer auftrumpfen wollte, hatte die Spielregeln des Hauses nicht verstanden.52 Warum sollte ein junger, zu Hoffnungen berechtigender politischer Nachwuchspolitiker nicht einmal im Sinne der Altgedienten – vorherige Absprachen sind gut denkbar – etwas sagen dürfen – zumal wenn eine Angelegenheit gar nicht strittig war? Es ist letzten Endes über das Protokoll des Senats so wenig Sicheres bekannt, daß man eine eindeutige, nur in diese oder jene Richtung weisende Interpretation eines statistischen Befundes nur mit größter Vorsicht, vielleicht am besten aber auch gar nicht verfechten sollte. Den Maßstab für die Frage nach jung und alt dürfte die Gruppe der älteren Consulare im Senat gesetzt haben, die die Spitze der Nobilität bildeten. Ein ‚frischer‘ – also im besten Fall dreiundvierzigjähriger – Consular war in den Augen der würdigen Herren um den princeps senatus ein junger Mann, der bewiesen hatte, daß er sich durchbeißen konnte. Aber verfügte er deswegen über eine gleichrangige dignitas und auctoritas? Was jung und alt trennte, scheint somit nicht das Recht zur Ansprache an die Standesgenossen und an das Volk gewesen zu sein, sondern die überlegene auctoritas der Alten und ihrer Rede. Ciceros Darstellung eines machtvollen Redners vor dem Volk illustriert dies sehr schön: „Freilich scheint mir die Erteilung eines Rates oder das Gegenteil eine Aufgabe einer sehr gewichtigen Persönlichkeit. Denn seine Einsicht in wesentlichen Fragen darzulegen, ist
50 BONNEFOND-COUDRY 1989, 596f. (für Redner 218–133 v.Chr.); 621ff. (für die ciceronische Zeit). 51 RYANs (1998) Durchsicht des Materials kommt zu dem Schluß, daß die Rede auch von Männern nicht-curulischen Ranges durchaus keine Ausnahme, sondern eher Routine gewesen sei. Siehe hierzu JEHNE 2000, 171f. (S. 171 mit Anm. 13). In JEHNEs Sinne jedoch auch BLEIKKEN 1995, 89f. 52 Vgl. Cic. de orat. 2,338; JEHNE 2001, 171. MOMMSEN, Staatsrecht 3, 947 Anm. 3 nennt gerade einmal vier Beispiele für altercationes, die sich im Senat ereigneten, und fährt fort: „Wo ein Senator bei der altercatio betheiligt ist, ist dies immer eine Abweichung von der Geschäftsordnung. Häufiger kommt die altercatio in den Verhandlungen vor der Bürgerschaft vor.“
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Sache eines klugen, ehrenhaften und wortgewandten Mannes, damit die Gabe zur Voraussicht durch den Geist, zur Durchsetzung durch die Autorität, durch Überzeugung durch das Wort gegeben ist.“53 Dieser Redner verfügt über die Erfahrung und die Weisheit des reiferen Alters, das ihm gravitas, sapientia und auctoritas verleiht. „Apex est autem senectutis auctoritas.“54 Der Weg dorthin bestand darin, auch nach dem erfolgreichen cursus honorum in der politischen Debatte durch Klugheit hervorzuragen. Man mußte sich zu Wort melden, politische Situationen einschätzen können und in der Lage sein, Vorschläge zu unterbreiten, denen das Haus im ganzen und die Standesgenossen desselben gradus dignitatis im besonderen zustimmen konnten. Aber auch junge Senatoren konnten damit rechnen, mit dem populus Romanus in Kontakt zu kommen. Als Aedil konnte man für den vorgesehenen Kompetenzbereich Volksversammlungen einberufen.55 Das Volkstribunat als etablierte zweite Stufe des cursus honorum neben der Aedilität gab relativ jungen Männern die Möglichkeit, contiones einzuberufen und so die Ansprache an das Volk zu richten. Man konnte berühmte Politiker einladen, auf diesen contiones zu den cives Romani zu sprechen,56 und sich so durch die bloße Anwesenheit und Teilnahme eines etablierten nobilis politische Unterstützung verschaffen. Man konnte auch Vorladungen durchführen. Darüber hinaus war das Tribunat ein bedeutsames Amt, weil es Gelegenheit zur Durchsetzung von rogationes im concilium plebis bot. Das Amt selbst wurde in der Phase der klassischen Republik in die politische Entscheidungsfindung und -umsetzung, ja sogar in den cursus als anerkannte
53 Übersetzung von MERKLIN zu Cic. de orat. 2,333: „Neque sane iam causa videtur esse cur secernamus ea praecepta, quae de suasionibus tradenda sunt aut laudationibus, sunt enim pleraque communia, sed tamen suadere aliquid aut dissuadere gravissimae mihi personae videtur esse; nam et sapientis est consilium explicare suum de maximis rebus et honesti et diserti, ut mente providere, auctoritate probare, oratione persuadere possis.“ Vgl. auch bes. Cic. sen. 17; 28. 54 „Das Ansehen ist die Krone des Alters.“ Cic. sen. 60, siehe weiterhin ibd. 61f.; vor allem auch 67: „Mens enim et ratio et consilium in senibus est.“ / „Die Alten haben Geist, Vernunft und klugen Rat.“ 55 KUNKEL/WITTMANN 1995, 490f. Zum Beispiel sprach C. Iulius Caesar Strabo während seiner Aedilität täglich zum Volk, Cicero erwähnt ihn im Brutus (305) und lobt seine sorgfältig ausgearbeiteten Volksreden („C. etiam Iulius aedilis curulis cotidie fere accuratas contiones habebat.“). 56 THOMMEN 1989, 173: „Im Normalfall waren daher durchaus auch bedeutende Persönlichkeiten der Oberschicht bereit, auf die Fragen der Tribunen vor der contio zu antworten, um damit vor der Öffentlichkeit zu bestehen. Die Befragung der principes war geradezu institutionalisiert und war sicher auch im Sinne aristokratischer Politik.“ – Berühmtes Beispiel für einen Gastredner: Ciceros Fürsprache für die lex Manilia. Cicero war Praetor und hätte auf einer eigenen Contio sprechen können, unterstützte so aber den Volkstribunen Manilius; vgl. FANTHAM 2000, 102. – Von dieser Möglichkeit, im Volkstribunat Politik zu machen, waren Patrizier ausgeschlossen. Damit war es um ihre Chancengleichheit schlecht bestellt. Berühmt ist die transitio ad plebem des Clodius, um tribunus plebis werden zu können.
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zweite Stufe, integriert, und es gab schließlich eine lange Zusammenarbeit von Senat und Volkstribunat.57 Es war im Rahmen des seit langem funktionierenden Zusammenspiels der Institutionen vorgesehen, daß auch jüngere Politiker zu Wort kamen. Sich als junger ehrgeiziger Aristokrat im Amt völlig still zu verhalten, wurde gar nicht einmal erwartet. Spektakuläre Anklagen führten beispielsweise nicht zum Karriereende. Der Senat arbeitete zudem vielfach mit den Tribunen zusammen,58 die somit stets eine aktive Rolle in der großen Politik der res publica spielten: Davon hatten beide Seiten einen Gewinn: Der Senat hatte stets eine praktische Möglichkeit, bei Abwesenheit von Consuln und Praetoren die notwendigen Gesetze mit Hilfe von Volkstribunen in die Wege zu leiten, und die Volkstribune auf der anderen Seite konnten in der praktischen Arbeit Politik erfahren und lernen. Aus der historischen Distanz und mit dem analysierenden Blick auf die großen Entwicklungslinien in der späten Republik war es einer der entscheidenden Gründe für den Zerfall der res publica, daß diese Zusammenarbeit mit dem markanten Einschnitt der gracchischen Volkstribunate nicht mehr funktionierte59 und die Potenz des Volkstribunats, am Senat vorbei den Bürgern rogationes vorlegen zu können, das Herkommen der Zusammenarbeit sprengte. Uneinigkeit mit dem Senat hatte für einen Volkstribunen nicht unbedingt zur Folge, seine Anliegen fallen lassen zu müssen. Er mußte dann die Bürger mit seinen Mitteln überzeugen, und das stärkste Instrument war für ihn, in contiones zu den Bürgern zu sprechen. Der ‚Unfall‘ der gracchischen Volkstribunate mußte für die Zeitgenossen nicht direkt das ganze System in Frage stellen. Die Römer taten dies auch nicht. Wesentliche Einschränkungen erlitt das Volkstribunat erst durch die sullanischen Reformen, und diese Einschränkungen hielten gerade einmal gut zehn Jahre. Der im Schatten Sullas aufgestiegene Pompeius restituierte das Volkstribunat im Jahre 70 v. Chr., als er gemeinsam mit Crassus Consul war.60 Ein Mangel an Beamten, die zur Gesetzgebung berechtigt waren, kann kein Grund dafür gewesen sein, weil seit den sullanischen Reformen jedes Jahr zehn Imperiumsträger in der Stadt waren. In Rom war das Volkstribunat offensichtlich ein so wichtiges Amt, daß es in seinem vollen Umfang der unbeschränkten Gesetzesinitiative unverzichtbar war: Für die Mitglieder der politischen Klasse war eine Methode verlorengegangen, Politik zu machen und politische Ziele durchzusetzen. Auf der anderen Seite verzichtete die plebs Romana sicher nur ungern auf die Annehmlichkeiten, die die populare Agitation mit sich gebracht hatte: billiges Getreide, Landzuweisungen und andere Vorteile. Warum sollte man die Reformen eines Sulla crudelis nicht wieder zurückdrehen?
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MEYER 1975, 175f.; BLEICKEN 1955, 46ff.; THOMMEN 1989, 130ff. MEYER 1975, 175f. THOMMEN 1989, 254. Dieses Politicum hat er in einer Contio des M. Lollius Palicanus im Jahre 71 angekündigt, s. THOMMEN 1989, 174. – Zur sehr schnellen „Rückkehr“ des Volkstribunats vor allem zur Vergabe von Kommanden s. MILLAR 1998, 77f.
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Die Gracchen hatten der res publica spektakuläre, konfliktreiche und gewaltvolle Amtsjahre gebracht. Relativ betrachtet waren sie aber zwei Ausreißer, deren Zeit vorüberging, denn in jedem Jahr kamen zehn neue Tribune, die – wie immer – die Politik Roms in ihrem Aufgabenfeld und mit ihren Möglichkeiten gestalteten. Die Praxis funktionierte weiterhin. Die politischen Verletzungen, die die Gracchen verursacht bzw. mit sich gebracht haben, ergeben sich bei Analyse des Geschehens durch den Historiker, aber für die politische Praxis Roms fand man es mehrheitlich offensichtlich nicht notwendig, das Amt abzuschaffen.61 Wo sind die Alten? Viele der politischen Weichenstellungen liefen in der späten Republik über das zumindest formal ungebundene Rogationsrecht der Volkstribune. Daran konnten auch die sullanischen Reformen nur übergangsweise etwas ändern.62 Soweit es ersichtlich ist, waren es jeweils ‚junge‘ Politiker in ihren frühen dreißiger Jahren, die die großen Themen bzw. Gravamina auf die Agenda setzten und auch durchsetzten.63 Daß die jungen Politiker gerade in der späten Republik auftraten, lag wohl nicht zuletzt daran, daß in der nachsullanischen Zeit die großen Alten nur vereinzelt da waren und beispielsweise Catulus als einer der letzten seiner Generation 61 v. Chr. starb.64 Die ohnehin wenigen Alten waren nicht mehr da, die
61 Vgl. THOMMEN 1989, 250f. – Sullas Einschätzung, die ja in den dem Volkstribunat auferlegten Restriktionen zum Ausdruck kam, wurde offensichtlich nicht geteilt. 62 Vgl. Cic. leg. 3,26 63 P. Sulpicius Rufus tr.pl. 88 im Alter von 36 Jahren, Manilius (RE 14,1 133f.), Vatinius, ein Munizipale, der im Schlepptau Caesars aufstieg, war etwas älter, schaffte seine Wahl zum Quaestor nicht suo anno, war wohl mit etwa 36 erst Volkstribun, 47 v.Chr. Consul (vgl. auch WISEMAN 1971, 167), siehe M. DEISSMANN-MERTEN, KlP 5, 1979, 1148–1149 s.v. Vatinius; Clodius war wohl im Jahre 58 v.Chr. 35. Der jüngere Cato (geb. 95) war 32, als er als tribunus plebis designatus die große Senatsrede für die Hinrichtung der Catilinarier hielt (Sall. Catil. 52). Zwei Jahre später filibusterte er gegen Caesars Triumph. (Cic. Att. 1,18,7; 2,1,8; Plut. Cato minor 30–33). S. zur Kommandovergabe auch LASER 1997, 80. Anders JEHNE 2000, 180: „Bezeichnenderweise blieb diese Öffnung der Handlungsspielräume junger Männer aber eine eng sektorale: Sie konnten ihre Redefähigkeiten vor Gericht unter Beweis stellen, sich mit der Gegenseite messen, im Wettbewerb Sieg oder Niederlage erleiden, aber vor dem Volk kamen sie normalerweise nicht zu Wort, und wenn sie in den Senat gelangten, hörten sie gefälligst erst einmal zu.“ Allerdings sagt JEHNE ibd. 172: „jung heißt ... bis zum 39. Lebensjahr“. 64 Vgl. die Schilderung bei MEIER 1982, 146ff.: „Das Bild, das der Senat ihm [Caesar, F.B.] bot, war alles andere als imposant. Die außerordentlichen Einbußen an biologischer und moralischer Substanz machten sich inzwischen allzu bemerkbar. Es gab fast keine Principes. Normalerweise lag die Führung des Hauses in den Händen einer Gruppe von zwanzig Consularen. Aus der Zeit vor Sulla hatten aber nur zwei überlebt, von denen der eine, Lucius Philippus (Consul 91) bald nach 75 gestorben war. Der andere (Consul 92) wurde zwar achtundneunzig Jahre alt, aber wir wissen nicht, wie hilfreich er damals noch sein konnte. … Im Grunde hatten zwei Männer, Quintus Lutatius Catulus (Consul 78) und Publius Servilius
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innere Struktur des Senats war verwandelt.65 Die auctoritas war sozusagen nur noch dünn gesät, sie wurde nur selten im wahrsten Sinne personifiziert. Die sullanische Generation konnte nur schwer an die Erfahrung, Herrschaftskenntnis und Autorität der früheren Senatsspitze anschließen, weil sie mit der Erfahrung von Bürgerkrieg(en), Proskriptionen und gewaltsamer Diktatur belastet war. Außerdem war der Blutzoll der Bürgerkriege gerade in der Senatorenschaft erheblich, die Zahl der principes sehr geschrumpft, während gleichzeitig die Zahl der Senatoren verdoppelt worden war und viele Neulinge im Senat saßen. Die Bedingungen und Voraussetzungen für das Nachwachsen der politischen Elite waren für die römische Tradition denkbar schlecht. Die Frage nach den ‚mentalen Bedingungen‘ der politischen Sozialisation verdeutlicht weitere Schwierigkeiten. Was für ein Beispiel hatte diese Generation gegeben bzw. die ihr folgende erhalten? Konnte die junge Generation, wenn sie die Bilanz ihrer Alten prüfte, nicht Zweifel haben und mit Recht zu der Frage kommen, ob sich nicht manches ändern mußte oder wenigstens durfte? Konnte man als junger, politisch ambitionierter Mensch, der zwar mit den altrömischen Vorstellungen der mores maiorum erzogen, aber eben auch im tempus Cinnanum et Sullanum sozialisiert worden war,66 die überkommenen Regeln und Autoritäten wenn schon nicht radikal hinter-, so doch wenigstens ansatzweise befragen? Wenn man etwas will, dann muß man es sich nehmen, dies hatte doch gerade Sulla gelehrt! Warum sollten nicht einmal jüngere Politiker die Richtung angeben? Sollte dann notwendig alles zugrunde gehen? Ihre Alten hatten kein friedliches Miteinander vorleben können, „überall widersprachen die Mittel dem Zweck“.67 Daher könnte man sie und ihre autoritären Ansprüche mit einigem Grund als moralisch fragwürdig betrachten. Für Caesar, einen Vertreter dieser jungen Generation, formuliert MEIER die Konsequenzen: „Dem mitten in dem von Sulla entfachten Bürgerkrieg Aufgewachsenen, der durch Schicksal und Veranlagung in kritische Distanz zu den Dingen geraten war, erschien die alte Ordnung nicht mehr als selbstverständlich.“68 Die Veränderung von Strukturen ist nach WINFRIED SCHULZE der Kern des historischen Prozesses, den der Historiker aufzuspüren und verständlich zu machen beabsichtigt.69 Dieser Strukturwandel war gerade ein Phänomen der späten
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Isauricus (Consul 79 v.Chr.), das zu tun, wofür sonst die ganze Gruppe der Principes aufkam, in der Lenkung der Geschäfte sowohl wie in der maßgebenden und autoritativen Prägung senatorischer Art, senatorischen Stils und Komments. Und sie hatten das zu tun nach der tiefen Erschütterung der alten Disziplin durch Bürgerkriege und Proskriptionen, angesichts überwiegend neuer, nicht in der Zucht der Principes allmählich hochgekommener Senatoren, vielfach Günstlinge Sullas, und angesichts der von dreihundert auf sechshundert Mitglieder vermehrten Stärke des Senats.“ MEIER 1980a, 257f. Vgl. zu dieser Zeit und ihrer politischen Bedeutung die einschlägigen Abschnitte in MEIER 1980a, 207ff.; bes. 229ff. (Zeit des cinnanischen Regimes). MEIER 1980a, 264. MEIER 1980a, 298. SCHULZE 1991, 258.
BEDINGUNGEN FÜR REDE UND REDNER IN DER SPÄTEN REPUBLIK
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Republik, die als Epoche nach der communis opinio mit dem Volkstribunat des Tiberius Gracchus (133 v. Chr.) angesetzt wird.70 Die neue sogenannte popularis ratio brachte nicht nur eine neue politische Methode in die res publica, durch die die Relation der einzelnen politischen Bausteine verschoben und so die „Lagerung der Macht“ verändert wurde, sondern es bestand mit ihr auch die Möglichkeit, in jüngeren Jahren die Politik zu bestimmen und etwas oder sich durchzusetzen, ohne zuvor die permanente Rivalität mit den Altersgenossen Stufe für Stufe der Ämterlaufbahn bis zum Ende durchmachen zu müssen. Das politische Handeln geschah – subjektiv – weiterhin unter den althergebrachten Normen: Verdienste um den populus (etwa leges frumentariae) und somit um die res publica oder die fides des Generals gegenüber seinen Soldaten (imperia extraordinaria, leges agrariae). Daß der Senat derartige politische Inhalte aus Starrsinn und aus Sorge oder gar Angst vor dem übermächtigen Einzelnen vereiteln wollte, legitimierte die populare Methode geradezu, die mehr die Antwort auf die Schwäche des Senats war als eine grundsätzliche systemische Kritik an der res publica. Dieser Möglichkeit setzte sich die senatorische Seite vehement entgegen. Die Pole, deren Hauptvertreter aus derselben sozialen Schicht stammten, bekämpften sich in ihrer gegenseitigen Ablehnung regelrecht bis aufs Blut und bildeten extreme Positionen und Verhaltensweisen aus: Die bekannten Zustände etwa in Caesars Konsulat71 und vor allem in den ‚wilden fünfziger Jahren‘, für die Clodius und Milo unter anderen als Repräsentanten genannt werden können,72 illustrieren diese Entwicklung, die zunächst von der gegenseitigen Obstruktion im institutionellen Rahmen zur immer stärkeren Gewaltbereitschaft auf den Straßen und Plätzen Roms gekennzeichnet war.73 Im Krisen-Prozeß dieser „Extensivierung der res publica“ bestanden die Institutionen und politischen Rituale der Republik weiterhin. Allerdings kann man eine Tendenz zur „Jurifizierung des mos“ feststellen.74 Das ehemals Selbstver-
70 Dies wird natürlich auch dadurch bedingt, daß die Historiker ein im ganzen statisches Bild der mittleren Republik entwickelt haben. Daß diese Statik und Stabilität gerade der politischen Klasse offensichtlich – zu einem größeren Teil – revidiert werden muß, verdeutlicht jetzt die Studie von BECK 2005. 71 MARTIN 1965, 73ff. 72 NIPPEL 1988, 108ff.; DÖBLER 1999, 334ff. (mit Literatur). 73 DÖBLER 1999. Caesar entschied sich in seinem Konsulat, die Zusammenarbeit mit dem Senat ganz fallen zu lassen, nachdem er mit seinem Versuch, das Ackergesetz im Senat zu beraten, gescheitert war. Er wandte sich statt dessen von nun an immer direkt ans Volk, Cassius Dio 38,4,1 in der Übersetzung von OTTO VEH: „Seither machte Caesar während des ganzen Jahres seiner Amtsführung dem Senat keine weitere Mitteilung mehr, sondern brachte seine sämtlichen Anliegen unmittelbar vors Volk. (2) Da er aber auch unter diesen Umständen einige führende Männer zur Unterstützung in der Volksversammlung bekommen wollte – hoffte er doch, daß die Optimaten jetzt ihre Einstellung geändert hätten und sich auch etwas vor dem Volke fürchteten –, so machte er den Anfang bei seinem Mitkonsul und fragte ihn, ob er Bedenken gegen die Bestimmungen des Gesetzes habe.“ 74 „Extensivierung“: MEIER 1980a, 203f. Zur „Jurifizierung des mos“ ausführlich BLEICKEN 1975, 347ff.; TIMPE 1978, 278; MEIER 1980a, 63.
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ständliche bedurfte zunehmend einer gesetzlichen Einschärfung. Die grundlegenden Verhaltensmuster und Wertmaßstäbe verschoben sich jedoch nicht. Die politische Klasse interagierte wie eh und je, ja vielleicht intensiver, mit dem populus Romanus und bemühte sich um Zustimmung und Akzeptanz.75 Die Frage, wer Politik machte, wurde weiterhin klar beantwortet: der Adel. Die Kohäsion und Kapazität des republikanischen Systems waren allerdings in den Grundstrukturen überlastet. Was sich wie in Rom abspielte, hatte eine Bedeutung, aber es gab eben mittlerweile auch andere periphere Ereignisse und Erfolge römischer Aristokraten, deren Reintegration in den innenpolitischen Alltag problematisch wurde, weil sie durch die Dimensionen ihrer res gestae alles Bisherige übertrafen. Einmal mehr wurden die traditionellen Regeln durchbrochen, als Pompeius im Alter von 36 Jahren als erstes Amt das Consulat bekleidete. Grundlage für diese enormen Erfolge war in entscheidendem Maße, daß man die üblichen Regeln der Magistratur suspendierte und somit die Chancengleichheit für aristokratisches Erfolgsstreben aussetzte. Dieses Problem war im Prinzip schon mit den Scipionen vorhanden, akut wurde der Zustand seit Marius. Aber was eben für die römische politische Kultur mit jeder neuen Ausnahme vorlag, war ein exemplum recens, das als Begründung für neue Kommanden dienen konnte und im politischen Diskurs genutzt und angeführt wurde.76 Die republikanischen Strukturen, die überaus erfolgreich funktioniert hatten, wurden überdehnt (CHRISTIAN MEIER nennt dies „Extensivierung“) und dadurch erodiert. Vor dem Hintergrund dieser Entwicklung stellt sich die Frage, ob und in welchem Ausmaß den Zeitgenossen das Versagen der eigenen Strukturen bewußt wurde.77 Schlägt sich dies im öffentlichen politischen Diskurs nieder? Auf diese Frage wird zurückzukommen sein.
75 Vgl. JEHNE 1995b, 76; FLAIG 1995, 105f.; 2003, 199f.; LASER 1997, 181, sieht einen wichtigen Grund für die häufigen Kontakte zwischen Nobilität und „Masse“ darin, daß in jedem Fall vermieden werden sollte, „daß das Volk ohne einen Anführer aus der Führungsschicht eine eigenständige politische Dynamik entwickelte.“ SUMI 2005, 6. 76 Man betrachte nur Ciceros Maniliana (s.o. S. 49ff.), in der der Redner gerade darum bemüht ist, die Brüche und Ausnahmen in die Tradition einzubinden. 77 GRUENS (1974/1995) bekannte These in seiner äußerst detailreichen Studie zur „Last Generation of the Roman Republic“ lautet, daß die Politik im großen und ganzen weiter funktionierte und Brüche bzw. Wechsel nicht oder nur kaum bestanden. Dem kann man entgegenhalten, daß eine Betrachtung derartig vieler Mosaiksteinchen oder Details, wie GRUENs Arbeit sie darstellt, den Blick auf das ganze Bild, auf die strukturellen Veränderungen versperrt. Vgl. dazu den Überblick bei BLEICKEN 1999, 242ff.
ZWEITER TEIL POLITISCHER DISKURS UND SEINE RÖMISCHE MATRIX: ERINNERUNG IN ROM – WAS JEDER SAH, LAS, HÖRTE UND KANNTE
1. ‚POLITISCHER DISKURS‘ UND ‚ERINNERUNG‘ – BEGRIFFLICHE VORKLÄRUNGEN ‚Politischer Diskurs‘ Versucht man den Begriff ‚politischer Diskurs‘ zu umschreiben, muß man sowohl mit den daran beteiligten Gruppen als auch mit Inhalten und Überzeugungsstrategien sowie Wertvorstellungen argumentieren. ‚Politisch‘ ist in einem antiken Stadtstaat alles, was die Polis betrifft. Entschieden – oder vorsichtiger und richtiger: besprochen – werden die politischen Angelegenheiten von bzw. vor allen Bürgern.1 Die Institutionen standen nicht durch bürokratische Apparate untereinander in Verbindung, im Gegenteil: Es gab praktisch keine ausdifferenzierte und personalintensive Bürokratie. Was zu regeln und bekanntzumachen war, wurde von den Verantwortlichen selbst an den zentralen öffentlichen Orten den Bürgern mitgeteilt. Die örtliche Nähe der Institutionen zueinander war daher nur eine logische Konsequenz. Amtslokale der Magistrate, Tagungsort des Senats und Volksversammlungsort lagen in Rom eng beieinander – ein typisches Merkmal antiker Stadtstaatlichkeit.2 Die Institutionen konnten gemeinsam und effektiv agieren, so zum Beispiel wenn die Bürger unmittelbar nach der Senatssitzung über das in der Curie Besprochene informiert wurden. Im Konfliktfall konnten die Institutionen auch aufeinander reagieren. Ein berühmtes Beispiel ist das letzte concilium plebis des Tiberius Gracchus auf dem Capitol anläßlich seiner Wiederwahl zum Volkstribun. Die Wahl des Capitols als Versammlungsort für Tiberius’ Wiederwahl sollte signalisieren, daß er seine Handlungen unter den Schutz des höchsten Staatsgottes stellte. Der zur gleichen Zeit im Fidestempel tagende Senat reagierte auf eine Geste des Tiberius, mit der er angeblich die Königsherrschaft verlangt habe, unter Anführung des privatus Scipio Nasica mit Mord und Totschlag – die konkrete direkte Durchführung dieser (wohl inszenierten) Reaktion war aber eben nur durch die Nähe der Tagungsorte möglich.3
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ALDRETE 1999, XVIII: „Life at Rome was intensely and relentessly public, and because of this, for ambitious members of Rome’s upper class, „politics“ encompassed much more than those activities thought of by modern readers as strictly political.“ S. MILLAR 1998, 74; HÖLKESKAMP 2001, 123 – Eine Einleitung zur ‚Diskursanalyse‘ bietet mit weiterer Literatur REICHARDT 1998, 10ff.; vgl. auch SCHLÖGL 2004 passim; LANDWEHR 2003, 86; 96; MERGEL 2002, 605. Vgl. für Rom DÖBLER 1999, 162ff.; HÖLKESKAMP 2001, 122f.; 2003, 86; 2004, 66–72. Plut. Ti. Gracch. 17ff.; vgl. DÖBLER 1999, 149.
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Wenn man unter „Politik“ definitorisch die „Partizipation an bindenden Entscheidungen“ versteht,4 dann begegnet man im Falle des antiken republikanischen Roms einer Gesellschaft, die einen mehr oder weniger großen Teil ihrer Bürger in jede Entscheidung einbindet.5 Daß nun alle Bürger an der politischen Debatte egalitär beteiligt wären, wäre eine genauso falsche Vorstellung wie die Vermutung, die führende Schicht oder Klasse hätte nach Gutdünken und ohne jede Rücksicht durchsetzen können, was sie wolle. Teilhabe an Entscheidungen in politicis bedeutete nicht eine Egalität zwischen den Beteiligten. Wie alles in Rom war auch die politische Entscheidungsfindung stark hierarchisiert, so daß die wohlhabenden und entsprechend dem aristokratischen Leistungsethos immer im Dienste für die res publica stehenden viri boni auch politisch privilegiert waren. Es gab stets eine hierarchische Struktur, stets ein Oben und Unten, genauer und konkreter: von oben nach unten, was sich tagtäglich auch in der Inszenierung von Rede im republikanischen Rom widerspiegelte. Die-
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Nach FLAIG 1995b, 94; 2003, 195. In der Regel waren es natürlich nur die in oder bei Rom wohnenden abstimmungsberechtigten römischen Bürger, die an den Entscheidungsritualen teilnahmen. Das nach dem Bundesgenossenkrieg über ganz Italien ausgeweitete Bürgerrecht, das ja in der Kaiserzeit auch weit über die italischen Grenzen hinaus verliehen wurde, machte es natürlich unmöglich, alle Bürger im Zentrum selbst, in der urbs, partizipieren zu lassen. Es gibt Berechnungen und Überlegungen, wie viele Bürger (maximal) an Wahlen teilgenommen haben. Die Kalkulationen von MACMULLEN 1980 kommen auf 35000 bis 40 000, was in der Zeit der späten Republik einen verschwindend geringen Prozentsatz der Bürger als Teilnehmer an Wahlen bedeutet; TAYLOR 1966, 47ff.; 113 schätzt anhand der saepta Iulia eine Zahl von 70000 Abstimmenden; siehe HOPKINS 1991, 495; vgl. JEHNE 2001, 107 mit Anm. 82. Hierin wird unter anderem von YAKOBSON 1999 ein nicht unwesentlicher Faktor für die Auflösungserscheinungen der späten Republik gesehen. Einen eher geringen Anteil der breiten Bürgerschaft an den einzelnen Entscheidungen sieht MOURITSEN 2002. Er meint, nur die unmittelbar betroffenen Bürger, die es sich zudem hätten leisten können, ihre Tagesgeschäfte ruhen zu lassen, seien ab und an politisch aktiv geworden. Aber politisches Engagement hing wesentlich auch davon ab, ob es um die persönliche Unterstützung für einen nahestehenden patronus gegangen sei. BLEICKEN 1995, 212: „Die Besucher der Volksversammlungen ebenso wie der ihnen vorausgehenden contiones waren darum jedenfalls im letzten Jahrhundert der Republik weitgehend identisch mit den in der Stadt Rom wohnenden Bürgern, der plebs urbana.“ LASER 1997 meint, daß bei kurzfristig angesetzten Versammlungen ein „Zufallspublikum“ von Leuten zusammengekommen sei, die gerade nichts Besseres zu tun hatten und die Zeit erübrigen konnten. – Über die Frage der ‚Demokratie in Rom‘, die durch die Beiträge von FERGUS MILLAR (wieder) angeregt wurde, äußert sich MOURITSEN 2002 zurückhaltend und skeptisch (145); ablehnend RYAN 2001, 423; vgl. weiterhin EICH 2000, 238 mit Anm. 53 (über die Passivität des römischen Volkes). Vgl. NICOLET 1976/1988, 207–217 („the decision depending on a majority of the votes of individuals and not of constituent groups“ 217); LASER 1997, 93; 147 und insgesamt zur Debatte JEHNE 1995a; HOPKINS 1991, 492 („This is not to say, that Rome was a democracy; far from it. In many respects, it was an ever-changing aristocratic oligarchy. But it had surprisingly strong democratic elements.“); ibd.: „popular assemblies often held the balance of power“); YAKOBSON 1999, 223: „The Roman Republic can a fortiori be defined as an oligarchy – or, more politely, an aristocracy.“; HÖLKESKAMP 2000, und DERS. 2004 passim; MORSTEIN-MARX 2004.
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se Form der Inszenierung von Kommunikation war Teil einer symbolischen Ordnung, die durch mehrere Diskurse bzw. Diskursebenen das Politische konstruierte. Sie produzierte und stabilisierte eine „legitime Form von Wirklichkeit.“6 Die fiktive Szene zu Beginn der Arbeit bezog die bisher erwähnten Elemente ein. In einer politisch-öffentlichen Stadtstaatskultur war die Rede an den populus wesentlich für die Karriere innerhalb der politischen Klasse. Rede war das Mittel für die Aristokraten, um soziale Superiorität und auctoritas gegenüber den cives Romani auf dem Forum zu demonstrieren und sie gegenüber den Standesgenossen zu gewinnen.7 Die Taten der Vorfahren, die Verdienste des einzelnen um die res publica waren sehr oft Maßstab für die Bewertung einer zu verhandelnden Sache, und verhandelt wurde immer in der Öffentlichkeit: Die comitia, die contiones, die Gerichte: Diese staatlichen Einrichtungen waren frei zugänglich und öffentlich.8 Selbst in den Senat konnte jeder zumindest hineinhören, da die Türen der curia stets geöffnet waren.9 Außerdem wurde über die Verhandlungen des Senats – oft im direkten Anschluß – an das Volk in Contionen referiert. Rede stand im Zentrum der römischen politischen Kultur, in allen Gremien und Institutionen war ihre souveräne Beherrschung Grundanforderung. Sie war unverzichtbar, wenn man in den Strukturen der res publica politisch tonangebend sein wollte. Für den sozialen Typ des ‚römischen Aristokraten‘ war sie das entscheidende Mittel, Überlegenheit zu besitzen und auszuüben: Der Patron riet seinen Clienten, er half ihnen vor Gericht. In die Rolle und Aufgaben eines römischen Aristokraten wuchs man hinein, und dies brachte es daher mit sich, daß Rede ein wesentlicher Bestandteil der adligen Erziehung war und – wie gesehen – schon im Kindesalter die Ausbildung sehr stark auf das rhetorische Können abzielte. Die Rede war in der politischen Kultur Roms tief verwurzelt und allgegenwärtig. Sie erfüllte auf mehreren Ebenen ihre jeweiligen Funktionen. Sie war mitentscheidend für die Bildung der Elite und deren interner Hierarchisierung; ferner war sie in ihrer Performanz Ausdruck von Autorität gegenüber den cives, und insgesamt war sie derart in ein sozio-politisches Umfeld verwoben, daß sie es gleichermaßen prägte wie auch von ihm geprägt wurde.
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LANDWEHR 2003, 105; 108. Vgl. HÖLKESKAMP 1995, 22 und passim. Vgl. allgemein zur Öffentlichkeit magistratischen Handelns: KUNKEL/WITTMANN 1995, 105ff.; bes. 108f.: „Die kurulischen Magistrate in der Spätzeit der Republik aber auch die plebeischen Aedile (Cic. Vatin. 34) verrichteten ihre Amtsgeschäfte auf dem tribunal. Die Tribunale, hohe rechteckige Estraden aus Holz, in bestimmten Fällen auch aus Stein, standen stets an allgemein zugänglicher Stelle, wenn auch vielleicht nicht immer, so doch in der Regel, unter freiem Himmel. … Auch die öffentlichen Strafprozesse wurden vom Tribunal aus geleitet, sowohl dann, wenn sie, wie es in älterer Zeit üblich war, im Stile magistratischer Kognition geführt wurden, als auch in den Geschworenengerichten der späten Republik.“ Anschaulich bei Cic. Phil. 3,32.
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Auf zwei Ebenen muß diese mündliche Kommunikationskultur untersucht werden.10 Die vorherigen Kapitel beschäftigten sich mit den äußeren Umständen und beleuchteten die soziale Gruppe der Redner und die institutionellen Voraussetzungen für Rede in Rom. Die zweite Ebene muß nun die Überzeugungsstrategien in den Blick nehmen und somit auf mentale Bedingungen des Überzeugens und Überzeugtwerdens eingehen. Es gilt, die Denkmuster der Beteiligten zu beleuchten und die ideellen und vergemeinschaftenden Grundlagen des Diskurses aufzudecken:11 Wodurch wurde ermöglicht, daß ein Thema so verhandelt wurde, wie es verhandelt wurde? In welche geistige und ideologische Gesamtsituation oder auch Befindlichkeit paßten bestimmte Argumentationen hinein? Was hielt bei aller Rivalität und Konkurrenz der Redner die Gemeinschaft zusammen, weil sich alle darin einig und willens waren, die Worte des Redners in ein bereits vorhandenes und allgemein geteiltes Sinngefüge einzuordnen? Und warum gelang dies?12 Diese zweite Ebene, die jetzt folgen muß, nimmt die kulturelle Matrix in den Blick, in welcher Rede und Redner mit ihrem spezifischen Erinnerungsdiskurs Wirkung entfalten konnten. Erst durch das Ineinandergreifen dieser verschiedenen Ebenen kann der Historiker dem komplexen Gegenstand der politischen Memorialkultur, insbesondere dem Phänomen der „verargumentierten Geschichte“ in Rom näherkommen.
10 ALDRETE 1999, XVIIIf.: „Since oratory, the art of speaking before an audience, was at the center of all these public events, oratory was the center of politics and of urban life.“ 11 HÖLKESKAMP 1995, 39ff. Vgl. die Einschätzung EICHs 2000, 239: „Vermutlich hat gerade ein weitgehender Konsens darüber, daß die politisch-soziale Ordnung erhaltenswert sei, es ermöglicht, einen kommunikativen Sektor auszugliedern, innerhalb dessen zur Erreichung partieller und ephemerer Ziele ohne oder fast ohne weltanschaulich-ideologische Vorgaben um die Gewinnung der jeweiligen Zuhörerschaft öffentlich gestritten werden konnte.“ – Diese Einschätzung wäre an den konkreten politischen Debatten zu überprüfen. Der eingeforderte und in Reden immer wieder als hergestellt beschworene Konsens bzw. die concordia sind das gefeierte Ergebnis, denen jedoch scharfe Auseinandersetzungen vorausgegangen sein können. Man erinnere sich beispielsweise an die Vorgänge, die zum Sonderkommando für Pompeius gegen die Seeräuber führten, an die Catilinarierdebatte vom 5. Dezember 63 v.Chr. oder etwa die Zustände im ersten Konsulat Caesars. 12 REICHARDT 1998, 11f.: „Der kommunikative Akt besteht nicht allein in der sprachlichen Äußerung des „Sprechers“, sondern auch sowohl in dessen Absicht, verstanden zu werden, wie in ihrer Wirkung, d.h. im nachstehenden Vollzug dieses Handlungskalküls durch den „Hörer“. Und weiter: Indem die Hörer beim Verstehen auf in ihrem Gedächtnis sedimentiertes Wissen von Wortbedeutungen und deren Verwendungszusammenhängen in Sätzen, also auf den Hintergrund ihrer Sinn- und Weltdeutung zurückgreifen, überschreitet ihr kommunikatives Handeln den unmittelbaren Kontext und die konkrete Situation in dem Bestreben, das Gehörte in ihr Vorverständnis einzuordnen und vorausgesetzten Sinn bestätigt zu finden.“
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‚Erinnerung‘ kontra ‚Historie‘ Zunächst muß jedoch der Begriff der ‚Erinnerung‘ im Hinblick auf seine kulturwissenschaftliche Anwendung differenziert und genauer gefaßt werden. Der Begriff der ‚Erinnerung‘ bzw. des ‚Gedächtnisses‘ ist insbesondere von NORA in scharfen Kontrast zur wissenschaftlichen ‚Historie‘ bzw. ‚Geschichte‘ gesetzt worden: Die Historie tilge die Erinnerung aus.13 Mag man dieser Bewertung vielleicht in ihrer radikalen Aussage nicht ganz zustimmen, so sollte doch im Sinne NORAs unterstrichen werden, daß die Bedeutung von ‚Erinnerung‘ dem modernen Menschen in ihrer einstigen Tragweite kaum klar werden kann.14 ALFRED HEUSS stellte dies bereits 1959 in seiner größeren geschichtstheoretischen Abhandlung über den „Verlust der Geschichte“ fest. Es steht außer Frage, daß man von der Vergangenheit noch nie so viel, noch nie so gute, das heißt wissenschaftlich und professionell aufbereitete Kunde hatte wie heute. In diesem Sinne kann kein ‚Verlust‘ beklagt werden. Anders sieht es aus, wenn man nach der Lebendigkeit von Geschichte in einer Gemeinschaft fragt, dort wo Geschichte nicht vom Spezialisten gesichtet, bearbeitet und verwaltet wird, sondern wo man sie braucht, weil sie auf die Gegenwart – gemeinsam mit ihrem Pendant, dem Vergessen – einwirkt und Identität stiftet.15 Solche Bedeutung von Erinnerung ist wohl tatsächlich (weitgehend) verlorengegangen und für den Zeitgenossen nur schwer nachvollziehbar. Die Geschichte als Wissenschaft hat wiederum mittlerweile die ‚Erinnerung‘ bzw. das ‚Gedächtnis‘ als historischen Gegenstand aufgespürt16 und fragt nun,
13 NORA 1984/1998, 12f.; OEXLE 1995, 20 mit Verweis auf Nietzsche und Burckhardt; HEUSS 1959, 53; 56f.; vgl. zum Problemfeld Geschichte – Gedächtnis ebenfalls BURKE 1993, 289ff., mit dem wichtigen Hinweis, daß sich sowohl Gedächtnis wie auch Geschichte derselben Mittel und Verfahren bedienten: Auswahlmechanismen, Deutung, Entstellung. Vgl. TIMPE 1996, 279 (Erinnerung ist interessengesteuert, zweckhaft, selektiv oder sozial bedingt); 294; GÖPFERT 1996, 102f.; GROSSE-KRACHT 1996, 21ff.; FRIED 2004, 74ff.; vor allem 83ff. 14 Vgl. OEXLE 1995, 70; HÖLSCHER 1995, 147ff.; WISCHERMANN 1996, 11. 15 FRIED 2001, 562. Vgl. die Überlegungen von HEUSS 1959, 21f.: „Die kollektive Erinnerung kennt verschiedene Grade ihrer Aktualität und damit auch ihrer Wirklichkeit. Sie ist in dieser Hinsicht abhängig von historisch-soziologischen Faktoren und auch von der Lebendigkeit des Geistes. Es gibt Gesellschaften mit einem starken Vergangenheitsbewußtsein und ebenso solche mit einem schwachen und verflachten. … Es gibt bzw. es gab nun einmal Gesellschaftsordnungen, in welche sehr viel Vergangenheit eingebaut war, und wir werden uns nicht wundern, wenn dann schon die Bewältigung des gegenwärtigen Lebens die Erinnerung heraufbeschwört. Wer gewohnt ist, die Grundlagen seiner Rechts- und Verfassungsordnung in jahrhundertealten Statuten zu finden, der kann unmöglich diese fernen Zeiten völlig vergessen. Er bedarf des Wissens um sie schon um der eigenen Gegenwart willen, schon um zu verstehen, was ihm die Vergangenheit für das augenblickliche Leben für Anweisungen gibt. Das ist so im öffentlichen Bereich und nicht minder im privaten.“ 16 BURKE 1993, 291, sieht zwei Möglichkeiten, sich mit dem historischen Gedächtnis zu beschäftigen. Man könne das Gedächtnis als historische Quelle studieren oder das Gedächtnis als geschichtliche Erscheinung im Sinne einer Sozialgeschichte des Erinnerns ansehen. Vgl. im selben Sinne FRIED 2001 passim. GROSSE-KRACHT 1996, 27–29. – Das riesige Erinne-
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welche ‚Geschichte‘ denn eigentlich die ‚Erinnerung‘ hat. Das Gedächtnis hat Geschichte, und obwohl NORA die letztere als Verderberin der ersteren betrachtet, rettet so gesehen der Täter in gewissem Sinn am Ende sein Opfer – jedoch um den Preis der Metamorphose zu einem intellektuellen Gegenstand. Die Forschungen auf dem Gebiet der ‚Erinnerungskultur‘ wurden vor allem durch die Arbeiten von JAN und ALEIDA ASSMANN geprägt. Ihre auf HALB17 WACHS aufbauenden Studien, Beobachtungen und Überlegungen zu den Kulturkreisen des Orients und Ägyptens haben Historiker verschiedener Epochen stark inspiriert.18 Das Gebiet der „Erinnerungsarbeit“ stellt in der Zeitgeschichte schon seit längerem ein Arbeitsfeld in Theorie und Praxis dar, was natürlich gerade in Deutschland mit der Frage des Umgangs mit dem Holocaust in engem Zusammenhang steht.19 Die Struktur der Erinnerung wird in J. ASSMANNs Buch „Das kulturelle Gedächtnis“ in zwei Bereiche eingeteilt: das auf mündlicher Kommunikation beruhende kommunikative Gedächtnis, welches die Erinnerungen der letzten zwei bis drei Generationen beinhaltet, einerseits und das kulturelle Gedächtnis andererseits, das nach ASSMANN vor allem entfernte ‚ktisis-memoria‘ umfaßt. Den dazwischen liegenden Raum nennt er ‚floating gap‘, da das kommunikative Gedächtnis von Generation zu Generation seinen Ausgangspunkt, die (jeweilige) Gegenwart, notwendig verlagert. Das kulturelle Gedächtnis, welches die für eine Gruppe identitätsstiftenden und bereits ‚abgesunkenen‘ Wissensbestände umfaßt, stützt sich vor allem auf kulturelle Praktiken der Gemeinschaft. Geschichten, womöglich in einem rituellen Kontext, Denkmäler, Architektur, Literatur und natürlich mündliche Kommunikation dienen als externalisierte Speichermedien.20 In diesem Rahmen werden kollektive vergemeinschaftende Erinnerungen bewahrt. Irgendwann gemachte Erfahrungen oder nur als gemacht imaginierte Erfahrungen
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rungskompendium NORAs bildet einen geradezu monumentalen Beweis. Die ebenfalls mehr als zweitausend Seiten umfassenden „Deutschen Erinnerungsorte“ sprechen dasselbe Bewußtsein aus: Wir können, was nicht mehr lebendig ist, jetzt wenigstens in den Bücherschrank stellen. Jedoch nehmen sie auf HEUSS 1959 keinen direkten Bezug. Die Fragestellung nach dem Gedächtnis von Kollektiven hat sich trotz der Bedenken, etwa von BLOCH, durchgesetzt und einen eigenen Forschungszweig gebildet. BLOCH warnte davor, individualpsychologische Phänomene leichtfertig auf Kollektive zu übertragen. MAURICE HALBWACHS sah das verbindende Element darin, daß jedes Individualgedächtnis Teil des Gruppengedächtnisses sei, siehe GROSSE-KRACHT 1996, 23 mit entsprechenden Verweisen. Siehe auch HEUSS 1959, 19f.: „Das kollektive Gedächtnis kann im Hinblick auf das Individuelle als seine Erweiterung und als seine Ergänzung aufgefaßt werden. ... Die Fäden, die von mir zum anderen hinübergeschlagen werden und die umgekehrt vom anderen mich erreichen, sind vielfältig und der Möglichkeit nach sogar unendlich bzw. unbegrenzt. Ich kann mich als einen Schnittpunkt von Erinnerungsströmen ansehen und als ein Schaltbrett unzähliger Erinnerungskontakte.“ Siehe auch GÖPFERT 1996, 109; OEXLE 1995, 23 mit den Anm. 71–74. WISCHERMANN 1996, 11 mit Anm. 7. Zur Bedeutung der Mündlichkeit in der frühen römischen Überlieferung und den sich daraus ergebenden Konsequenzen für das Geschichtsbild und seine Proportionen UNGERNSTERNBERG 1988; TIMPE 1988; 1996, 287ff.
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sind symbolisch geworden, und sie wurden durch kollektive Zustimmung und Repetition objektiviert und verfestigt. Das kulturelle Gedächtnis erfüllt verschiedene Funktionen: Es ist identitätsstiftend und damit zugleich identitätskonkret. Auf die Vergangenheit nimmt es einen interessegeleiteten rekonstruktiven Zugriff. Damit hat es eine stabilisierende und Verbindlichkeit schaffende Wirkung, indem es Werte verankert. Es ist organisiert und durch die im Laufe der Zeit erreichte Objektivierung – geformt durch Schriften, Bilder, Riten, Orte und oral tradition – durchaus nicht ins Belieben eines einzelnen gesetzt, sondern steht permanent in Bezug zu einer Gruppe.21 Der Begriff der ‚Objektivierung‘ darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß Verformungen und „Erinnerungsmodulationen“ einzurechnen sind, die bewußt herbeigeführt werden oder sich aber beiläufig und kontingent einstellen können.22 Das kulturelle wie auch das kommunikative Gedächtnis beruhen vielfach auf Erfahrungen, an denen ein Großteil der Gruppe persönlich gar keinen Anteil hatte. Insofern ist es etwas mißlich, von gemeinsamen Erinnerungen zu sprechen.23 Vielleicht ist der Begriff der allgemein geteilten Gewißheiten passender.24 Das Zustandekommen dieser allgemeinen Gewißheiten kann nicht allein mit der kulturellen Praxis (vergegenständlichter und lokal gestalteter Erinnerung) erklärt werden. Darüber hinaus müssen Mechanismen existieren, die zur Assimilation individueller Lebensgeschichten an ein bestimmtes Stereotypenrepertoire beitragen.25 Die Wahrnehmung von Geschichte findet über bestimmte Filter statt. Die Suche nach den erwähnten ‚Stereotypen‘ in der Vergangenheit bedeutet eine Möglichkeit des Zugriffs, die ein breites und identisches Verständnis von Vergangenheit ermöglicht. Allgemein gesprochen sucht und findet eine Gesellschaft Zugang zur Vergangenheit als Erinnerung im Sinne von HEUSS und NORA nur über Kategorien, die zur eigenen, lebensweltlich greifbar-gegenwärtigen Kultur gehören.26 21 ASSMANN 1992 passim; BERING 2001; WISCHERMANN 1996, 14f.; VANSINA 1985; NIETHAMMER 1995, 25; HÖLSCHER 1995, 160; 162f.; BURKE 1993, 291. 22 FRIED 2004, 49ff. 23 FRIED 2001, 563, spricht allgemein davon, daß das „ich und das Kollektiv ... in mancherlei Austauschbeziehungen“ stehen. Vgl. NIETHAMMER 1995, 35–39; BURKE 1993, 290. Siehe auch OEXLE 1995, 23: „Es war das Ziel von Halbwachs, zu zeigen, daß Erinnerung nicht eine einfache Gegebenheit ist, sondern vielmehr eine ‚gesellschaftliche Konstruktion‘, die von der Gegenwart ausgeht, und daß dabei dieser kollektive Bezugsrahmen von Erinnerung nicht bloß nachträglich durch Kombination von individuellen Gedächtnisinhalten entsteht, sondern daß das kollektive Gedächtnis vielmehr von vornherein gruppenbezogen erstellt wird, durch Kommunikation und Interaktion ... Das Individuum erinnert sich also, indem es sich ,auf den Standpunkt der Gruppe stellt‘...“. 24 Dies bezieht sich natürlich nicht allein auf zeitlich Vergangenes. Auch andere Bereiche, wie etwa grundlegende religiöse Vorstellungen, waren von ‚allgemein geteilten Gewißheiten‘ geprägt. Jeder Römer würde einer Aussage ‚Iuppiter Optimus Maximus wacht über Rom‘ zustimmen. 25 BURKE 1993, 296. 26 Vgl. FRIED 2001, 563: Jede erinnerte Vergangenheit sei selektierende, rekombinierende Gegenwart. Vgl. ebd. 574 freilich mit Bezug auf das Frühmittelalter: „Es wurde die Geschichte erzählt, die dem Ort und dem Augenblick ihres Erzähltwerdens angemessen war.“ HEUSS
POLITISCHER DISKURS • ERINNERUNG
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Rom als Fallbeispiel für die Assmannsche Theorie Unter Einbeziehung der Assmannschen Ergebnisse kann man festhalten: Das kulturelle Gedächtnis kann nicht thesaurieren, sondern muß – unter der Voraussetzung, daß es sich selbst genauso verändert, wie Gesellschaften dies tun27 – in einem steten Bezug zur jeweiligen Gegenwart stehen, die Deutung der Lebenswelt einer oder mehrerer Generationen mit ihrem spezifischen Erfahrungshorizont entscheidend prägen und die in dieser Lebenswelt gültigen Deutungs- und Wahrnehmungsmuster herleiten, vorgeben und verankern. Fremdbestimmung und -determinierung (durch die Geschichte der Vorfahren) einerseits und Selbstbestimmung andererseits finden in verschiedenen Generationen ihre jeweils eigene Balance. Das kulturelle Gedächtnis kann somit auch jeweils nur für einen bestimmten Abschnitt einer Epoche untersucht werden und darf ohnehin nicht über die Jahrhunderte hin verallgemeinert werden. Dessen ungeachtet sollte man von einer Stabilität innerhalb einer politischen Kultur ausgehen. Die grundlegenden Handlungsmuster und Wertvorstellungen sind sicher so stabil, wie die sie tragenden Gruppen – im römischen Fall die Nobilität – stabil sind.28 Wenn die Gruppe ihren Zusammenhalt verliert und sich damit das gesellschaftliche Gefüge ändert, dürfte sich auch das kollektive bzw. das kulturelle Gedächtnis ändern. Diesen Prozeß für die sich auflösende Republik zu befragen und zu erforschen soll Gegenstand der weiteren Untersuchung sein. Die späte römische Republik wird in der Regel als eine Zeit der Krise, als Jahrhundert der Revolution oder als die Phase der Desintegration der politischen Klasse charakterisiert.29 Weichen die in ihren vertrauten Strukturen handelnden Personen dabei erkennbar von den alten Mustern ab und macht sich dies auch in der ‚ideologischen‘ Stütze des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses bemerkbar? Oder bleibt in dieser Hinsicht alles beim alten – im wahrsten Sinne des Wortes? War die Krise den Zeitgenossen bewußt? Wenn sich an verschiedenen Stellen im institutionellen Rahmen einer Gemeinschaft, die in hohem Maße auf Herkommen beruhte, Risse und Instabilitäten bemerkbar machten und bewußt wurden, wie wurde dem entgegengewirkt, mit welchen Mitteln sollte oder wollte man Stabilität und Kohärenz weiterhin oder wieder herstellen. Was einte, wenn man sich an so vielen Punkten stritt?
1959, 29, spricht von „vorgeschriebenen Merkschwellen“. S. BERING 2001, 329–332; GROSSE-KRACHT 1996, 23; 29; HÖLSCHER 1995, 155; 157ff.; OEXLE 1995, 23; BURKE 1993, 291. 27 BETTINI 2000, 350ff. 28 Polybios staunt am Beginn seines Werkes über die Stabilität des Erfolgs der römischen Expansion und begründet die Festigkeit der Wertvorstellungen in Rom mit der Pflege der Traditionen, wie er es dann anhand der berühmten Darstellung der pompa funebris (6,53) verdeutlicht. Vgl. TIMPE 1996, 285. 29 Hier sei allgemein auf die Arbeiten zur res publica von HEUSS 1963, MEIER 1980a und BLEICKEN 1999 verwiesen.
2. DIE ALTEN VOR AUGEN UND DER HERKUNFT ZUGEWANDT – ERINNERUNG IN DER FAMILIE UND AN DIE FAMILIE Das Ritual, das Helden feiert I: das römische Leichenbegängnis – private und zugleich öffentliche Familienerinnerung Der Geschichtsschreiber Sallust bezeugt, daß die Begegnung mit den Alten für einen (jungen) Römer aus adligem Hause unausweichlich war: „Ich habe nämlich schon oft gehört, daß ein Quintus Maximus und ein Publius Scipio und auch noch andere berühmte Männer unseres Staates immer wieder folgendes ausgesprochen haben: Wenn sie die Wachsbildnisse ihrer Ahnen anschauten, würden sie in ihrem Inneren aufs stärkste zur Tatkraft entflammt. Selbstverständlich bringe nicht das Wachs und auch nicht das Bildnis eine solche Wirkung mit sich, sondern diese Flamme lodere bei der Erinnerung an geschichtliche Leistungen außergewöhnlicher Männer im Herzen und verglimme nicht eher, als bis die eigene Tüchtigkeit den Ruf und Ruhm der Vorfahren erreicht habe.“1 Nach Sallusts Darstellung ziehen sich Vergangenheit und Gegenwart geradezu an. Es ist nicht nur so, daß, wohin man auch schaute, den Ahnen nicht zu entkommen war, sondern man sich bewußt zu seiner Herkunft hinwandte und erinnerte. Die zitierten Wachsbildnisse befanden sich im Haus des vornehmen Römers. In seinem repräsentativsten Raum, dem Atrium, stellte er stolz die Masken seiner Ahnen auf: sich selbst und seinen Kindern zum Ansporn und seinen Gästen und vor allem den Klienten zum Ausweis dafür, daß sie sich in einem besonderen Hause der res publica mit einer großen Familiengeschichte aufhielten – allein eine große Zahl von Ahnenmasken bewies dies bereits. Diese Wachsbildnisse wurden bei Begräbnissen von Familienangehörigen für die öffentliche pompa funebris verwendet. Polybios stellt dieses Ritual dar, weil es seiner Meinung nach einer der wesentliche Gründe für die enorme Stabilität der römischen res publica war. Polyb. 6,53: Wenn in Rom ein angesehener Mann stirbt, wird er im Leichenzug in seinem ganzen Schmuck nach dem Markt zu den sogenannten rostra, der Rednertribüne, geführt, meist stehend, so daß ihn alle sehen können, nur selten sitzend. Während das ganze Volk
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Sall. Iug. 4,5 (Übersetzung LINDAUER): „Nam saepe ego audivi Q. Maxumum, P. Scipionem, praeterea civitatis nostrae praeclaros viros solitos ita dicere, quom maiorum imagines intuerentur, vehementissume sibi animum ad virtutem adcendi. scilicet non ceram illam neque figuram tantam vim in sese habere, sed memoria rerum gestarum eam flammam egregiis viris in pectore crescere neque prius sedari, quam virtus eorum famam atque gloriam adaequaverit.“ Vgl. Cic. Rab.Post. 2; Tac. dial. 34,1.
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ringsherum steht, betritt entweder, wenn ein erwachsener Sohn vorhanden und anwesend ist, dieser, sonst ein anderer aus dem Geschlecht die Rednertribüne und hält eine Rede über die Tugenden des Verstorbenen und über die Taten, die er während seines Lebens vollbracht hat. Diese Rede weckt in der Menge, die durch sie an die Ereignisse erinnert wird und sie wieder vor Augen gestellt bekommt, und zwar nicht nur bei den Mitkämpfern, sondern auch bei den nicht unmittelbar Beteiligten, ein solches Mitgefühl, daß der Todesfall nicht als ein persönlicher Verlust für die Leidtragenden, sondern als ein Verlust für das Volk im ganzen erscheint. Wenn sie ihn dann begraben und ihm die letzten Ehren erwiesen haben, stellen sie das Bild des Verstorbenen an der Stelle des Hauses, wo es am besten zu sehen ist, in einem hölzernen Schrein auf. Das Bild ist eine Maske, die mit erstaunlicher Treue die Bildung des Gesichts und seine Züge wiedergibt. Diese Schreine öffnen sie bei den großen Festen und schmücken die Bilder, so schön sie können, und wenn ein angesehenes Glied der Familie stirbt, führen sie sie im Trauerzug mit und setzen sie Personen auf, die an Größe und Gestalt den Verstorbenen möglichst ähnlich sind. Diese tragen dann, wenn der Betreffende Konsul oder Praetor gewesen ist, Kleider mit einem Purpursaum, wenn Censor, ganz aus Purpur, wenn er aber einen Triumph gefeiert oder2 dementsprechende Taten getan hat, goldgestickte. Sie fahren auf Wagen, denen Rutenbündel und Beile und die anderen Insignien des Amtes, je nach der Würde und dem Rang, den ein jeder in seinem Leben bekleidet hat, vorangetragen werden, und wenn sie zu den rostra gekommen sind, nehmen alle in einer Reihe auf elfenbeinernen Stühlen Platz. Man kann sich nicht leicht ein großartigeres Schauspiel denken für einen Jüngling, der nach Ruhm verlangt und für alles Große begeistert ist. Denn die Bilder der wegen ihrer Taten hochgepriesenen Männer dort alle versammelt zu sehen, als wären sie noch am Leben und beseelt, wem sollte das nicht einen tiefen Eindruck machen? Was könnte es für einen schöneren Anblick geben? 54. Wenn nun der Redner über den, den sie zu Grabe tragen, gesprochen hat, geht er zu den anderen über, die da auf den rostra versammelt sind, und berichtet, mit dem Ältesten beginnend, von den Erfolgen und Taten eines jeden. Da auf diese Weise die Erinnerung an die Verdienste der hervorragenden Männer immer wieder erneuert wird, ist der Ruhm derer, die etwas Großes vollbracht haben, unsterblich, das ehrende Gedächtnis der Wohltäter des Vaterlandes bleibt im Volke wach und wird weitergegeben an Kinder und Enkel. Vor allem aber wird die Jugend angespornt, für das Vaterland alles zu ertragen, um ebenfalls des Ruhmes, der dem verdienten Manne folgt, teilhaft zu werden. Dies wird durch folgendes bestätigt. Viele Römer haben sich freiwillig zum Zweikampf gemeldet, um damit den römischen Sieg zu entscheiden, nicht wenige haben den sicheren Tod gewählt, teils im Krieg, um die anderen zu retten, teils im Frieden, um die Existenz des Staates zu sichern. Einige haben sogar als Träger eines Amtes ihre eigenen Söhne hinrichten lassen, da sie die Wohlfahrt des Landes höher achteten als die Liebe zu denen, die ihnen am teuersten waren. (Übersetzung DREXLER).
EGON FLAIG hat das Ritual eingehend untersucht und seine eminente Bedeutung für die römische Aristokratie herausgearbeitet.3 Die pompa zeigte an, wie weit die Geschichte einer familia bzw. einer gens in die Geschichte der res publica hineinragte.
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In DREXLERs Übersetzung steht ein ‚und‘. Im griechischen Originaltext steht aber: ½ ti toioàton = oder dementsprechendes. Freundlicher Hinweis von TANJA ITGENSHORST. FLAIG 1995, jetzt erweitert und modifiziert DERS. 2003, 49–74. Vgl. auch UNGERNSTERNBERG 1988, 265; HÖLKESKAMP 1996, 320–323; WALTER 2003, 259ff.; 2004, 89ff.; FLOWER 2004, 331ff.; 1996, 91–127; BLÖSEL 2003, 53ff.; SUMI 2005, 41ff.
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Der Leichenzug nahm seinen Weg vom Haus des Verstorbenen und zog zum Forum Romanum. Leider ist über den genauen Weg einzelner pompae kaum etwas bekannt. Aber es ist gut möglich, daß die familia ihre eigenen Erinnerungsorte, die einzelne ihrer maiores in die Stadt ‚hineingebaut‘ hatten, passierte und so ihren eigenen Ruhmesweg abschritt. Jede pompa endete aber im politischen Zentrum Roms: an den rostra. Das letzte Stück auf der Via Sacra war identisch mit dem Weg des Triumphzugs, bevor dieser sich zum Capitol hin fortsetzte. Eine gewaltige pompa etwa der Cornelii oder der Caecilii Metelli mit sehr vielen Konsuln, oftmals Triumphatoren, und den entsprechenden Liktoren muß einen enormen Eindruck gemacht haben, wobei die teilweise Identität des Weges mit dem des Triumphzuges die Macht dieses Ritual nochmals steigerte. Konnte eine Familie viele Masken ihrer Ahnen4 aufführen, hatte sie so die Möglichkeit, vor dem populus Romanus die Anzahl ihrer republikanischen Würdenträger darzustellen und damit ihren hohen Rang innerhalb der res publica zu dokumentieren. Andererseits stellte das öffentliche Leichenbegängnis die Vergleichbarkeit mit anderen Familien und Geschlechtern her,5 die adligen Familien konnten untereinander ihr jeweiliges ‚symbolisches Kapital‘ vergleichen. Die pompa funebris hatte ihren Höhepunkt auf dem Forum Romanum, wo der erwachsene Sohn des jüngst Verstorbenen auf den rostra die laudatio funebris hielt, zunächst diesen lobte, dann aber die anwesenden Ahnen einzeln ebenfalls mit ihren Verdiensten vorstellte.6 Diese historischen Personen waren nicht etwa in Ranggruppen zusammengefaßt, sondern in der chronologischen Folge, beginnend mit dem Ältesten. Erfolg und Scheitern wurden so unmittelbar augenfällig, jeder hatte seinen Platz und seinen Rang auf ewig. Der jüngst Verstorbene bildete in der nächsten pompa den Abschluß, er reihte sich einfach hinten an seine maiores an. Erfolg war das wesentliche Kriterium für Erinnerung. Nur wer im cursus honorum über die Anfänge hinausgekommen war und mindestens die curulische Aedilität erreicht hatte, wurde für würdig befunden, sich an ihn zu erinnern. Wer dieses Kriterium nicht erfüllt hatte, wurde – zumindest im Rahmen der öffentlichen Erinnerung und Repräsentation einer Familie – schlicht vergessen. Die pompa funebris bildete also keine vollständige Abbildung einer Familie, sondern präsentierte nur deren politisch erfolgreiche Mitglieder. Vor diesem Hintergrund werden der Ansporn und der Druck auf junge Adlige der römischen Nobilität verständlich, wie schon Polybios und später Sallust ihn schilderten. Nur der Erfolg in der res publica zählte. Kein anderer Weg stand offen. Der Wettbewerb um die längste und prächtigste pompa funebris war einerseits Ausdruck familiärer Rivalität in der Öffentlichkeit, gleichzeitig bestätigte er jedoch auch insgesamt den Wertekanon der res publica und ist – wie FLAIG es herausgearbeitet hat – die „Insze4 5 6
Das ius imaginis war an die Bekleidung der Aedilität gebunden, vgl. WERNER EISENHUT, KlP 2, 1979, 1371–1373, s.v. Imagines maiorum. FLAIG 1995, 121 Anm. 15; FLOWER 1996, 53– 59. Nicht selten wurden fiktive Leistungen und Erfolge hinzugedichtet. Cicero beklagt die plures consulatus und die falsi triumphi (Brut. 62). Vgl. KIERDORF 1980, 58ff.; WALTER 2004, 131ff.
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nierung einer Normengemeinschaft“7 gewesen, denn darüber, was wirklich wichtig war und zählte, herrschte Einigkeit. Jede Familie zeigte, was sie hatte; jeder wollte dieses ‚symbolische Kapital‘ für das eigene Prestige und die eigene Karriere bewahren, nutzen und – last but not least – mehren.8 Die imagines wurden bei der pompa funebris zur symbolischen Vergegenwärtigung der Ahnen benutzt. Die pompa selbst stellte somit eine direkte Verbindung der Vergangenheit mit der Gegenwart dar, insofern die anwesenden Ahnen den gerade Verstorbenen feierlich in ihre Reihen aufnahmen und ihn akzeptierten.9 Diese Auf- und Annahme wurde durch das Ritual geradezu sinnlich vor Augen geführt. An zwei Orten konnte man danach dem Verstorbenen ‚begegnen‘: Natürlich wurde seine Wachsmaske im Atrium des Hauses aufgestellt. Der titulus, der auf dem Schrank geschrieben war, in den die Maske gestellt wurde, verkündete die erinnerungswürdigen Taten dieses Verstorbenen. Der zweite Ort lag außerhalb der Stadtgrenze, bildete aber ebenfalls einen repräsentativen Ort. Die großen Familien hatten ihre Grablegen an den Ausfallstraßen Roms, die jeder passierte, der die Stadt betrat oder verließ. Und auch diese Grabanlagen erinnerten an dieselben Verdienste der großen Einzelnen für die res publica.10 Im Innern verkündeten die Inschriften auf den Sarkophagen die Karriere des Beigesetzten und dessen konkrete Verdienste: Die berühmten Scipioneninschriften auf den Särgen listeten den
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FLAIG 1995, 126. Ciceros erste Rede an das Volk in seinem Consulat illustriert diese Einstellung sehr schön, weil er als homo novus gerade in dieser Hinsicht ein Defizit hat. Cic. leg. agr. 2,1 (in der Übersetzung von FUHRMANN): „Die meisten aber rufen nur den Eindruck hervor, man verdanke ihren Vorfahren so viel, daß man auch für ihre Nachkommen noch tief in ihrer Schuld stehe. Ich, Quiriten, habe keinen Anlaß, vor euch über meine Vorfahren zu reden; sie waren gewiß ebenso, wie ihr mich hier seht, der ich von ihrem Blute abstamme und in ihrer Zucht aufgewachsen bin; doch ihnen wurde nie eine Auszeichnung des Volkes und der Glanz eines von euch verliehenen Amtes zuteil. Von mir selbst aber bei euch zu reden, bezeugt, fürchte ich, Dünkel, zu schweigen, Undankbarkeit. ... Nach einer sehr langen Unterbrechung, die fast die ganze Zeit unserer Erinnerung ausfüllt, habt ihr mich als ersten Neuling zum Konsul gemacht; ihr habt unter meiner Leitung den Platz freigelegt, den der Adel durch Schanzen gesichert und auf jede Weise versperrt hatte, und so bekundet, daß er auch in Zukunft der Tüchtigkeit offenstehen solle.“ Vgl. auch WALTER 2003, 258f.; FLAIG 1995, 115. 9 Interpretation von HÖLKESKAMP 1996, 320ff. Vgl. auch RECH 1936, 26f.; LEO 1913, 45f.; FLOWER 1996, 91ff.; FLAIG 1995, passim; DAHLHEIM 1995, 362; KIERDORF 1980 passim; BLÖSEL 2000, 37ff. 10 HÖLSCHER 2001, 204ff.: „So wurde das bekannte Scipionengrab an der Via Appia jeweils auf der Front für den zuletzt beigesetzten Triumphator mit einem neuem Triumphgemälde ausgestattet.“ Diese Aussage wird allerdings nicht mit Quellenbelegen gestützt. Zu den Scipionengräbern: COARELLI 1972; FLOWER 1996, 185–222; HÖLKESKAMP 2004, 77f.; 1996, 319f. mit Anm. 20 zu CIL I2 15 = ILS 6 Es handelt sich um das elogium des Cn. Cornelius Scipio Hispanus (praet. 139). Der hier vorkommende Ausdruck „stirpem nobilitavit honor“ bringt die Erwartungen mustergültig zum Ausdruck, denen sich die jungen Adligen gegenübergestellt sahen. Vgl. zu dem Elogium KRUSCHWITZ 2001, 87 (Elogienvers sei Ausdruck einer Art von certamen virtutis).
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cursus der einzelnen Verstorbenen auf. Dabei ist die Formulierung „apud vos“ als Apostrophe in einem der Elogien an die Leser auffällig. Dies stellt durchaus ein Problem dar: War die Grabanlage für die Öffentlichkeit zugänglich? Es ist wohl eher davon auszugehen, daß identische Inschriften an öffentlichen Plätzen angebracht waren.11 Diese Formen der Erinnerung kann man mit HÖLSCHER als „genealogisches Gedächtnis“12 bezeichnen. Die Familiengeschichte dürfte kein Monopol des Adels gewesen sein. Verehrung der Vorfahren hat die Gesellschaft insgesamt geprägt. Auch wenn ein einfacher Römer natürlich keine imagines vorweisen konnte, dürften auch die ‚einfachen‘ Leute die Geschichte ihrer Familie bewahrt und Erinnerungsgegenstände, die die Ahnen repräsentierten, besessen haben. Die Vorfahren wurden an Altären verehrt, die sich in den Häusern befanden. Am Kult der divi parentes nahmen alle teil, die der potestas des pater familias unterstanden.13 Als Klienten kannten sie die Familiengeschichten ihrer Patrone, war doch die Zugehörigkeit zu einer Klientel erblich. Die Klienten nahmen teil an den öffentlichen pompae funebres und hörten die laudationes. Die großen Taten der eigenen Vorfahren könnten ebenso gut erzählt worden sein, wenn jemand unter dem Kommando eines berühmten Adligen an einer großen Schlacht teilgenommen hatte und vielleicht ein Andenken aus einer Beute schon seit Generationen im Besitz einer Familie war. Daß auch die kleinen Leute ihre Geschichte(n) hatten und pflegten, wird durch Passagen in den Komödien des Plautus unterstrichen.14 Der Komödiendichter legt dem Schmarotzer Saturius Worte des Selbstlobs in den Mund, daß er die Tradition seiner Familie bereits in der siebten Generation pflege, womit der Ahnenkult und Ahnenstolz
11 CIL I2 6; vgl. zur Anrede „apud vos“ auch den Kommentar von KRUSCHWITZ 2001, 44 mit Anm. 149 („... daß das Elogium einer gewissen Öffentlichkeit zugänglich gewesen sein muß, da ansonsten eine solche Apostrophierung…sinnlos wäre“). S. unten S. 205f. 12 HÖLSCHER 2001, 205; UNGERN-STERNBERG 1988, 241f. Die Pflege der Erinnerung an die Heldentaten der Vorfahren in älterer Zeit wird in mehreren Zeugnissen beschrieben, die den Ausgangspunkt und die Stütze für Niebuhrs Heldenliedertheorie bilden; NIEBUHR, Römische Geschichte 1, 268; vgl. SCHANZ 1907, 25ff. Die Zeugnisse für die Ahnenlieder: a) Cato bei Cic. Tusc. 4,2,3: gravissimus auctor in Originibus dixit Cato morem apud maiores hunc epularum fuisse, ut deinceps, qui accubarent, canerent ad tibiam clarorum virorum laudes atque virtutes; b) Brut.75: Recte, inquam, Brute, intellegis. atque utinam exstarent illa carmina, quae multis saeclis ante suam aetatem in epulis esse cantitata a singulis convivis de clarorum virorum laudibus in Originibus scriptum reliquit. c) Val. Max. 2,1,10: Maiores natu in conuiuiis ad tibias egregia superiorum opera carmine conprehensa pangebant, quo ad ea imitanda iuuentutem alacriorem redderent. d) Einführung durch Numa bei Cic. de orat. 3,197: hilaritatem et ad tristitiam saepe deducimur; quorum illa summa vis carminibus est aptior et cantibus, non neglecta, ut mihi videtur, a Numa rege doctissimo maioribusque nostris, ut epularum sollemnium fides ac tibiae Saliorumque versus indicant. e) Varro vit. Pop. lib. II (= Nonius p.77M): in conviviis pueri modesti ut cantarent carmina antiqua, in quibus laudes erant maiorum et assa voce et cum tibicine. 13 M. DEISSMANN-MERTEN, DNP 4, 1998, 412–417 s.v. Familia. B. Rom, hier 416f. 14 BLÖSEL 2000, 27–37; BETTINI 2000, 320ff.; vgl. Mur. 38.
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der Nobilität parodiert werden.15 Die vertikale Wirkung des maiores-Mythos durch den gesamten populus macht erst die Verwendung der Vorfahren als Leitund Vorbilder nachvollziehbar. Eine Gegenwart begegnete in ihrer Gesamtheit voller Respekt, Ehrfurcht und mit dem Gefühl der Verpflichtung der Vergangenheit, ja sie ist sogar der Überzeugung, daß sie sie pflegen und erinnern muß, um die eigenen Handlungen an ihr ausrichten zu können. Das Moment des SichErinnern-Wollens oder auch -Müssens ist für die Pflege des kulturellen Gedächtnisses konstitutiv, man braucht es, um die Gegenwart meistern zu können.16 Die Erinnerung an ein moralisch aufgeladenes Faktum ist natürlich etwas anderes als die reflektierende Betrachtung von Prozessen und sich aus den Fakten ergebenden Entwicklungen und Konsequenzen; dies wäre genau der Unterschied zwischen Erinnerung und Historie. Die Summe der Geschichten erhält in einer Erinnerungskultur einen einheitlichen Charakter, der das große, alle einschließende ‚Wir‘ an- und aussprach.17 Im Falle der res publica lautet das Fazit: ‚Unsere Vorfahren waren erfolgreich. Und das Ergebnis – eben dieser Erfolg – ist unsere Richtschnur.‘18 Die Größe und der unbestreitbare Erfolg der römischen Republik, wie er sich in der späten Republik darstellte, waren das Ergebnis der Taten der Vorfahren. Sie hatten den Gegenstand geschaffen, über dessen Bewahrung und Mehrung die Redner auf den rostra sprachen. Das tiefe Bewußtsein einer kontinuierlichen Verpflichtung gegenüber den Vorfahren erhellt den beständigen Bezug auf die maiores. Vor diesem Hintergrund wurden sie der Maßstab, der sich geradezu von selbst ergab. Die Rede, die Redner und ihre Zuhörer waren im besten Sinne der Herkunft zugewandt.
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Plaut. Pers. 53–61. S. hierzu WALTER 2003, 262. Vgl. TIMPE 1996, 279. Vgl. HÖLKESKAMP 1995, 41. Vgl. TIMPE 1988, 272: „Die römische Geschichtsschreibung und die ihr zugrundeliegende Auffassung wollen die Vergangenheit der politischen Gemeinde, des populus Romanus, lebendig erhalten und damit ein in sich homogenes Schatzhaus der Erinnerung pflegen; der Selektions- und Relevanzmaßstab, der diese Erinnerungsstruktur sowohl konstituiert als auch lebendig und funktionstüchtig erhält, ist das memoria dignum, und die erinnerungswürdige Vergangenheit besteht im Gedächtnis an Taten (res gestae). […] Das spezifische römische Bewußtsein von römischer Geschichte, das noch wir nachlesen können, ist von Glück, Erfolg, Kohärenz und Kontinuität der Herrschaftsklasse abhängig …“ Siehe ebenfalls TIMPE 1996, 281: „Was hier fehlt ist die Vorstellung einer Entwicklung, die verändert; man kennt die Eigenart der Epochen nicht. Das entspricht dem, was aus aristokratischen Gesellschaften unter den Bedingungen von oral tradition bekannt ist. So wie die die Toten, durch Maskenträger repräsentiert, sich nebeneinander versammeln lassen, so ist das Alte überall gleich nah und gegenwärtig.“; sowie DERS. 1972, 958; STEMMLER 2000, 182; T. HÖLSCHER 1995, 223: „Denn die Geschichte, die uns in den Schriftquellen und ‚Monumenten‘ entgegentritt, ist im wesentlichen eine Geschichte der Sieger, der Herrschenden und Oberschichten, und zwar in ihrer eigenen Selbstinterpretation.“
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Ein Haus als Politicum – Pompeius’ Porticus Man brauchte eigentlich nur über die Schwelle des Hauses zu gehen, um wieder an die großen Traditionen einer Familie oder sogar an die herausragenden Taten des derzeitigen Hausherrn erinnert zu werden. Viele Aristokraten schmückten nämlich ihre Häuser mit Beutestücken, die mit der Zeit von der Beutetrophäe zum Erinnerungsgegenstand wurden.19 Vielfach wurden in der Nähe der Türen Waffen aufgehängt, die nie wieder, auch nicht bei einem Wechsel des Hausbesitzers, weggenommen werden durften.20 Dies ist nicht nur ein Phänomen adliger Selbstdarstellung, sondern kann zu einem regelrechten Konkurrenzkampf führen, in welchem Aktion und Reaktion in Form von immer großzügigeren Bauten zum Politicum wurden. Im Zuge der Kämpfe gegen Gaius Gracchus und seine Anhänger kam auch der Consul von 125 v. Chr. Marcus Fulvius Flaccus ums Leben. Weil er ein Anhänger des Volkstribuns war und als Staatsfeind galt, wurde sein Haus konfisziert und zerstört.21 Das zerstörte Grundstück diente offenbar als Mahnmal. Erst nach einem zwanzigjährigen Zeitraum22 wurde das Grundstück wieder bebaut, und auch diese Mal war es ein Politicum. Nach der Schlacht von Vercellae (101 v. Chr.) exponierte sich Q. Lutatius Catulus in mehrfacher Weise: Er feierte gemeinsam mit Marius den Triumph,23 zerstritt sich aber mit seinem ehemaligen Collegen im Consulat, da beide den Hauptanteil des Ruhmes beanspruchten. Auf dem Marsfeld errichtete Catulus den Tempel der Fortuna, den er in der Schlacht gelobt hatte.24 Indem er auf dem Palatin sein eigenes Haus um eine – wohl öffentlich zugängliche – Porticus erweiterte, die dem Zweck diente, Beutestücke aus dem Krieg gegen die Cimbern auszustel-
19 HÖLKESKAMP 1996, 305ff.; HÖLSCHER 1980, 358. Pompeius hatte sein vestibulum mit Schiffsschnäbeln geschmückt: Phil. 2,27 und bes. 68 (die Frage geht an Marcus Antonius): „An tu illa in vestibulo rostra cum aspexisti, domum tuam te introire putas? Fieri non potest.“ / „Oder glaubst du, wenn du in der Vorhalle die erbeuteten Schiffsschnäbel siehst, du beträtest ein Haus, das dir gehört? Unmöglich ...“ (Übersetzung FUHRMANN). 20 Plin. nat. 35,7: „Tabulina codicibus implebantur et monimentis rerum in magistratu gestarum. aliae foris et circa limina animorum ingentium imagines erant adfixis hostium spoliis, quae nec emptori refigere liceret, triumphabantque etiam dominis mutatis aeternae domus.“; HÖLKESKAMP 1996, 308 mit weiterer Literatur in Anm. 27; HÖLSCHER 1980, 355 mit Anm. 33. – Die Plinius-Stelle ist der einzige Beleg für diese Praxis. 21 Cic. dom. 102: Cicero nennt als eindeutigen Grund für die Konfiszierung und Zerstörung die Zusammenarbeit mit und Unterstützung für C. Gracchus. Flaccus’ Haus war ebenfalls mit Trophäen geschmückt, die er bei seinen Kämpfen (125–123 v. Chr.) gegen die Gallier erbeutet hatte. Im Jahre 123 v.Chr. hatte er seinen Triumph gefeiert, vgl. Plut. C.Gracch. 15,1. Vgl. MÜNZER 1910. 22 Cicero (dom. 102) betont den doch recht beträchtlichen Zeitraum („... in qua porticum post aliquanto Q. Catulus de manubiis Cimbricis fecit“), der bis Catulus’ Porticus-Bau verging. Der Platz war also offensichtlich ein Erinnerungsort, weil er leer war bzw. dort Ruinen des Flaccus-Hauses standen. 23 Plut. Marius 27,10; Val. Max. 9,12,4. 24 Plut. Marius 26,3. Vgl. MÜNZER 1927, 2077.
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len, feierte er sich und seinen Erfolg an einem dritten Ort.25 Dem so oft popular auftretenden Marius, Catulus’ Rivalen, war ein Stich versetzt worden, denn es war ja eigentlich sein wesentliches Verdienst gewesen, die Siege von Aquae Sextiae und Vercellae errungen zu haben – nach Plutarch wollten die Römer ihn sogar den Triumph für beide Siege feiern lassen, was Marius aber ablehnte.26 Nun sonnte sich aber Catulus im Erfolg.27 Sein Porticus-Neubau stand auf dem ehemaligen Grundstück des M. Fulvius Flaccus. Damit erhielt die Porticus des Catulus eine weitere symbolische Bedeutung. Sie war ein Monument des Sieges der Optimaten über die popularen Politiker, und sie hatte nicht nur einen Bezug zu einem zwanzig Jahre zurückliegenden Ereignis, sondern auch einen sehr aktuellen: Lutatius beteiligte sich 100 v. Chr. am Widerstand gegen den Volkstribun Lucius Appuleius Saturninus.28 Im Tribunatsjahr des Clodius (58 v. Chr.) wurde diese in ihrer politischen Aussage so stark gegen die Popularen gerichtete Porticus des Catulus sicher nicht zufällig bei der Zerstörung von Ciceros Haus in Mitleidenschaft gezogen, und im Gegenzug sorgten die Consuln des Folgejahres für den Wiederaufbau der beschädigten Catulus-Porticus.29 In dieser Zeit trat Pompeius, der von Clodius so oft drangsaliert wurde, in Contionen auf und kündigte den Bau einer anderen Porticus an – wohl als ‚Anbau‘ an sein eigenes Haus, das am südlichen Esquilin lag, – die der Porticus auf dem Palatin „antworten“ solle. In einer Senatsrede des Jahres 56 v. Chr. erwähnt Cicero die Angelegenheit. „Wenn es für Pompeius, den allermutigsten Mann, den es je gegeben hat, eher bitter als schimpflich war, daß er, solange dieser Mensch Volkstribun war, dem Sonnenlicht auswich und die Drohungen des Tribunen hinnahm (der [gemeint ist Pompeius, F.B.] erklärte nämlich in Volksversammlungen [in contionibus], er wolle in den Carinen eine zweite Säulenhalle errichten, die der auf dem Palatin entspräche [responderet]), dann war es für mich wegen meines privaten Kummers jammervoll, im Hinblick auf den Staat jedoch rühmlich, die Heimat zu verlassen.“30
25 Cic. dom. 102; 114; 116; 137 mit dem Kommentar von NISBET ad. loc.; har. resp. 58; Att. 4,2,5; 4,3,2; Val. Max. 6,3,1. Vgl. HÖLSCHER 1980, 356; RICHARDSON 1992, 312 s.v. Porticus Catuli; E. PAPI, LTUR 4, 1999, 101 s.v. Porticus Catuli. 26 Plut. Mar. 27. 27 Marius selbst wurde auch aktiv und stellte ebenfalls Siegesdenkmäler auf. Sulla zerstörte sie später, Caesar richtete sie zumindest teilweise wieder auf. Die Denkmäler waren den politischen Wechselfällen ausgesetzt; siehe HÖLSCHER 1980, 356 mit Anm. 40. 28 Cic. Rab.perd. 21; 26; Cic. Phil. 8,15. Insgesamt gilt er aber als ein gemäßigter Anhänger der Senatsaristokratie, vgl. W. KIERDORF, in DNP 7, 1999, 524f. s.v. Lutatius [3] L. Catulus, Quintus und ausführlich MÜNZER, 1927, 2077f. („Catulus war einer der führenden Männer der Mittepartei.“). 29 Cic. Att. 4,2,4f.; siehe p. red. ad Quir. 18. 30 Übersetzung von FUHRMANN zu Cic. har. resp. 49: „Nam si Cn. Pompeio, viro uni omnium fortissimo quicumque nati sunt, miserum magis fuit quam turpe, quam diu ille tribunus plebis fuit, lucem non aspicere, carere publico, minas eius perferre, cum in contionibus diceret velle se in Carinis aedificare alteram porticum, quae Palatio responderet, certe mihi exire domo
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Als ‚erste‘ Säulenhalle auf dem Palatin, der Pompeius’ Neubau „antworten“ werde, ist sehr wahrscheinlich die Säulenhalle des Catulus anzusehen, die ja – wie gesagt – von Clodius’ Attacke gegen Ciceros Haus ebenfalls betroffen war und die gleich im nächsten Amtsjahr auf Beschluß der Consuln restauriert wurde. Die Drohungen des Clodius bestanden wohl darin, daß dieses Haus bzw. diese Porticus des Pompeius dasselbe Schicksal wie Ciceros Haus bzw. Catulus’ Porticus ereilen werde. Die Baumaßnahme und alles, was an (symbolischer) Erinnerung daranhing, waren also ein aktuelles Politicum und Thema des öffentlichen Diskurses der Jahre 58/57 v. Chr. Wollte Pompeius mit dem Neubau seine eigene Präsentation als Sieger derjenigen des Catulus gleichstellen? Wollte er, um Clodius einen Stich zu versetzen, auch die symbolische Dimension der Catulus-Porticus nutzen, politische Zeichen setzen und Signale der Annäherung an die optimatische Seite geben? Wollte er mit einer solchen Anti-Clodius-Aktion seine Einstellung zur Verbannung Ciceros verdeutlichen? Eine Mischung aus mehreren Motiven ist denkbar. Die Ausführung des Projektes ist nicht weiter bekannt.31 Aber das spielt hier auch keine so große Rolle. Denn es gab den öffentlich kundgegebenen Plan des Pompeius, und er war Thema in Contionen. Er bedeutete einerseits einen Aspekt seiner Selbstdarstellung in Antwort auf die Präsentation eines Standesgenossen, und andererseits erhielt das Vorhaben eine politische Reaktion von popularer Seite, weil es eine historische – in diesem Fall: antipopulare – Dimension aufwies. Diese gestifteten Erinnerungsorte verfügten über eine politische Symbolik, die durchaus die Geschehnisse mehrerer Generationen einbeziehen konnte. Sie hingen sozusagen diachron und synchron semantisch zusammen – um im Bild von Pompeius’ „Antwort“ zu bleiben, und Clodius kündigte respektive drohte seine eigene Antwort bereits an. Die Präsentation der eigenen Erfolge vor den Augen der anderen begann bereits im und am Haus, und in diesem so scheinbar ‚privaten Ambiente‘ fand sie geradezu unter Wettbewerbsbedingungen statt und war darüber hinaus historisch ‚vorbelastet‘.
mea ad privatum dolorem fuit luctuosum, ad rationem rei publicae gloriosum.“ Siehe auch HÖLSCHER 1980, 358. GEORGES, Ausführliches Lateinisch/Deutsches Handwörterbuch, erläutert die Stelle s.v. respondeo: „Cic.: porticus, quae Palatio respondeat, eine Galerie, die der Galerie auf dem palatinischen Berge ähnlich, das Seitenstück zu ihr sei“. 31 Vielleicht erledigte sie sich mit seinem großen Theaterbau, der ja auch eine Porticus umfaßte, P. GROS, LTUR 4, 1999, 148f. s.v. Porticus Pompei.
3. MEDIEN DER ERINNERUNG IN DER ÖFFENTLICHKEIT – BILDLICHE, SZENISCHE UND GESCHRIEBENE GESCHICHTE(N) Die politischen Zentren: Comitium – Forum – Capitol Über den Kreis von Haus und familia hinaus begegneten viele weitere Bezüge zur Vergangenheit. Für den heutigen Forscher sind sie vor allem aus archäologischen Überresten bzw. aufgrund von Nachrichten über die urbanistische Gestaltung und künstlerische Ausschmückung Roms erkennbar. Materielle Hinterlassenschaft ermöglicht durchaus auch den Blick „auf die kulturelle Lebenswelt der gesellschaftlichen Gruppen“, die sich mit Monumenten präsentiert hätten. Man gewinnt „Einsichten in die Mentalitätsgeschichte“, sie ist somit auch Zeugnis „kollektiver Lebenskultur, also gesellschaftlicher Standards“.1 Dies begann mit der Gestaltung im Haus selbst – wie gerade gezeigt – und setzte sich auf Plätzen und Straßen Roms fort. Die hier gemeinten Erinnerungsgegenstände zielten auf eine breite Öffentlichkeit, sie befanden sich an den zentralen Orten. Manche waren im wahrsten Sinne Instrumente der Selbstrepräsentation, da sie selbstherrlich aufgestellt worden waren; oft gab es aber auch offizielle Beschlüsse. Die wichtigen öffentlichen Räume Roms – das Capitol, das Forum Romanum und das Comitium – waren bewußt mit geschichtsträchtigen Erinnerungsstücken gestaltet worden.2 Die politischen Zentren der res publica dienten den Adligen dazu, an eigene Leistungen zu erinnern und dies – wenn möglich – mit verdienstvollen Vorfahren der Familie zu verbinden: Ein Beispiel bietet die berühmte Trias der drei Marcelli mit neun Consulaten, wie die Inschrift verkündete, vor dem Tempel von Honos und Virtus.3 Am Comitium befand sich die curia Hostilia, der Versammlungsort des Senats. Am Comitium und Forum Romanum befanden sich außerdem die Amtslokale der Magistrate, und natürlich versammelte sich hier das Volk vor der Redner-
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T. HÖLSCHER 1995, 216f. Hierzu insgesamt HÖLKESKAMP 2001; HÖLSCHER 2001, 189ff. jeweils mit Literatur; TIMPE 1996, 285 (Die großen Persönlichkeiten treten als Repräsentanten des Staates auf und wenden sich dabei an die Öffentlichkeit als ihr Publikum und Partner.); VASALY 1993, 60ff.; siehe jetzt auch WALTER 2004, 131ff.; 155ff.; KUTTNER 2004 passim, bes. 300ff.; MORSTEINMARX 2004, 42ff. – DÖBLER 1999, 18ff., bietet eine „Bestandsaufnahme der öffentlichen Plätze“: zum Forum Romanum 22ff. mit Literatur; zum Capitol besonders 142ff.; ebenso SEHLMEYER 1999, 83ff.; F. COARELLI, LTUR 1, 1993, 309–314 s.v. Comitium; COARELLI 2000, 55ff. – Vgl. SCHLÖGL 2004, 36. S. zu diesem Monument unten S. 200ff. den Abschnitt „Der zweite punische Krieg – Hannibal ad portas“ zur öffentlichen Erinnerung an die Zeit des zweiten punischen Kriegs.
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bühne, aber z. B. auch am Tempel von Castor und Pollux zu den contiones und den comitia tributa sowie zum concilium plebis. Der nähere Blick auf das Comitium, den alten Versammlungsplatz des populus Romanus, verdeutlicht, wie dicht es mit verschiedenen Erinnerungsstücken und Ehrenstatuen geradezu übersät war. Oftmals sind die genauen Aufstellungsorte und -umstände nicht bekannt. Der Plan gibt aber einen guten Eindruck von der Fülle der Erinnerungsmonumente.
Das Comitium in der hohen Republik (SEHLMEYER 1999, 318, von ihm selbst nochmals überarbeitet)
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Einige Denkmäler erinnerten an Geschichte(n) der weit entfernten Vergangenheit: Älteste Geschichte repräsentieren auf dem Forum der lacus Curtius und der lapis niger. Auf dem Comitium sah man die Wölfin mit den Zwillingen, die ficus Ruminalis gehört auch in diesen Sagenkreis. Eine weitere Statue stellte den Augur Attus Naevius dar.4 Der legendäre Horatius Cocles hatte sich im Kampf gegen Porsenna geopfert, um so die Stadt zu retten – auch ihm war eine Statue errichtet worden. Die vier von Lars Tolumnius heimtückisch getöteten Gesandten sowie Marcus Furius Camillus5 und C. Maenius hatten Statuen bei den oder sogar auf den rostra erhalten. Diese Beispiele decken einen Zeitraum von der Königszeit bis zum Jahr 338 v. Chr. ab. Nicht alle Geschichten, die sich um diese Plätze ranken, sind Teil einer die gesamte Gemeinschaft umfassenden Erinnerung an die Gründungszeit Roms gewesen.6 Das politische Zentrum stand zwar im Zeichen wichtiger Figuren des Gründungsmythos des Staates, und die einzelnen Erinnerungsstücke repräsentierten die typischen römischen Tugenden wie z.B. pietas und virtus.7 Denn es wurden dort auffälligerweise auch griechische Personen geehrt (Alkibiades, Pythagoras). Anlaß und Zeitpunkt dieser Ehrungen – wie übrigens auch in vielen Fällen der bereits Genannten – sind nicht bekannt und umstritten. Sie sollen im Rahmen dieser Untersuchung nur kurz verzeichnet zu werden, weil sie – wie die Auswertung zeigen wird – für die Reden kaum von Bedeutung sind. Zusätzlich zu diesen altehrwürdigen Erinnerungen aus der Königszeit und der frühen Phase des res publica zierten Monumente der politischen Geschichte die öffentlichen Räume. So standen mehrere Standbilder prominenter Römer an den rostra. Die rostra selbst waren nach den Schiffsschnäbeln benannt, die 338 v. Chr. bei Antium erbeutet worden waren. Sie hatten eine kommemorative Funktion und waren im wahrsten Sinne ein „Beute“-Denkmal.8 C. Maenius, der Sieger von 338 v. Chr., war mit einer Reiterstatue geehrt worden. Zu den Statuen gehörten Inschriften, die den Leser darüber informierten, wer hier aus welchem Anlaß geehrt wurde. Ein großer Held des ersten punischen Krieges, C. Duilius (Consul 260 v. Chr.), wurde mit einer columna rostrata geehrt, deren Inschrift zu einem großen Teil bekannt ist.9
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Vgl. hierzu F. COARELLI, LTUR 4, 1999, 365f. s.v. Statuae Atti Naevii; HÖLSCHER 2001, 192f. Gesandte: vgl. o. S. 193f.; Plin. nat. 34,23, sagt, Camillus war „sine tunica“ abgebildet. HÖLSCHER 2001, 192f. HÖLSCHER 2001, 192 mit den entsprechenden Verweisen. HÖLSCHER 2001, 191. Vgl. Liv. 8,14,12: Die Schiffe waren – wie Livius es schildert – keine unmittelbare Beute des Seesieges, sondern es erfolgte ein Beschluß („placuit“ steht bei Livius), was mit der Flotte der Antiaten, die ja übrigens römische Bürger wurden (Liv. 8,14,8), zu geschehen sei. Eine Abbildung der rekonstruierten rostra bei VASALY 1993, S. 64. Zur Duilius-Inschrift vgl. S. 196ff. den Abschnitt „Der erste punische Krieg“.
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Auf dem Forum Romanum stand die Reiterstatue des Tremulus, auf die Cicero auch einmal zu sprechen kommt.10 Bei den Wechslerstuben, an der Nordseite des Forums, war der Cimbern-Schild des Marius für alle gut sichtbar aufgestellt.11 Außerdem gab es Historiengemälde, die dem Betrachter die Taten eines Adligen, die er militiae geleistet hatte, vor Augen führen und so deren Erinnerung bewahren sollten. L. Hostilius Mancinus (Consul 145 v. Chr.) stellte sich neben sein Bild, das auf dem Forum zu sehen war, und erzählte dem staunenden Publikum, was im einzelnen dargestellt sei – dies geschah während seiner Kandidatur für das Consulat.12 M. Aemilius Lepidus brachte im Jahr 78 v. Chr. imagines clipeatae an der Außenfront der basilica Aemilia an.13 Verres, der berühmt-berüchtigte Statthalter Siziliens, errichtete ein Standbild von seinem Vater und sich selbst auf dem Forum sowie in der curia.14 Die Selbstdarstellung der politischen Elite im öffentlichen Raum beschränkte sich jedoch weder auf die wenigen, hier aufgeführten Statuen und Denkmäler noch auf den Raum von Forum und Comitium. Die Aufstellung ‚zeitgenössischer Denkmäler‘ lief andernorts fort. „Die Area Capitolinis stand offenbar voll mit kleinen Heiligtümern, Opfergaben, Standbildern und Siegeszeichen.“15 Der Spaziergänger auf dem Capitol sah die Statuen der Könige Roms, in deren Mitte der Vertreiber des Tarquinius Superbus, L. Iunius Brutus, abgebildet war. Vor allem auf dem Capitol standen viele Ehrenstatuen, in den Tempeln befanden sich ebenfalls Bildnisse römischer ‚Helden‘. Mit den Monumenten wurde auch Politik gemacht. Die Aufstellung des Bocchusmonuments bietet hierfür ein Beispiel, über das einiges bekannt ist, unter anderem weil es auch auf Münzen abge-
10 Liv. 9,43,23: „Marcius de Hernici triumphans in urbem rediit statuaque equestris in foro decreta est, quae ante templum Castoris posita est.“ Zur Reiterstatue: HÖLKESKAMP 1996, 306. Cicero verwies in der sechsten Philippica auf die Statue (6,13), die vor dem Tempel des Castor stand, und erwähnt dabei auch den Anlaß für die Aufstellung, nämlich den Sieg über die Herniker: „In foro L. Antoni statuam videmus, sicut illam Q. Tremuli, qui Hernicos devicit, ante Castoris.“ 11 De orat. 2,266. Vgl. Quint. inst. 6,3,38. 12 Plin. nat. 35,23: „Non dissimilem offensionem et Aemiliani subiit L. Hostilius Mancinus, qui primus Carthaginem inruperat, situm eius oppugnationesque depictas proponendo in foro et ipse adsistens populo spectanti singula enarrando, qua comitate proximis comitiis consulatum adeptus est.“; vgl. allgemein HÖLSCHER 1978, 344; 1980, 353. – Das Historiengemälde an der Außenseite der curia Hostilia von M. Valerius Messalla entstammt dem Jahr 263 v. Chr. und wurde auf seine eigene Initiative dort angebracht; vgl. HÖLKESKAMP 1996, 307 mit Anm. 25; HÖLSCHER 1980, 352; ZINSERLING 1959/60, 409f. Nr. 13; WALTER 2004, 150f., gibt eine tabellarische Übersicht über die als dauerhaft sichtbar bezeugten Gemälde, er führt bis zum Jahr 87 v.Chr. 14 Stück an. 13 Plin. nat. 35,13: „post eum [= Appius Claudius cos. 495] M. Aemilius collega in consulatu Quinti Lutatii non in basilica modo Aemilia, verum et domi suae posuit.“ Siehe auch zu weiteren Beispielen HÖLKESKAMP 1996, 305ff. mit den einschlägigen Quellen. 14 Cic. Verr. 2,2,145. 15 DÖBLER 1999, 146; TIMPE 1996, 286.
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bildet wurde.16 Ort und Zeitpunkt der Aufstellung, die ‚Botschaft‘ der Statuengruppe und die aktuelle politische Lage zwischen Senat, Sulla und Marius machten die Errichtung zu einem Politicum, das in einer politischen Klasse, die so großen Wert auf die Ausdrucksseite von Politik legte, besonders sensibel wahrgenommen werden mußte. Münzbilder Die Erinnerung an die erfolgreichsten Mitglieder einer Familie kam aber auch in den Abbildungen zum Ausdruck, die auf die Münzen gestanzt wurden. Sie stellten „mobile öffentliche Bildnisse“ dar.17 Die Abbildung eines von einer Victoria gekrönten, auf dem vierspännigen Triumphwagen fahrenden römischen Imperators war ein häufiges Motiv der Münzen. Die Familien prägten sie, wenn eines ihrer Mitglieder für ein Jahr einer der tresviri monetales war,18 der sich durch den Namensschriftzug dann auch identifizieren ließ. Die Gegenseite der Münze trug als Bild etwa die Weihung eines Tempels, den der Triumphator dediziert hatte. Dabei konnten Motive geradezu den Charakter eines Familienwappens gewinnen, wie die Münzen der Caecilii Metelli mit dem ‚Wappentier‘ Elefant dies dokumentieren.19 Die Münzen konnten auch innerhalb der urbs auf weitere Erinnerungsstücke verweisen. So wurden Reiterstandbilder, columnae rostratae oder Bögen auf Münzen abgebildet, die die cives Romani dann auf dem Forum Romanum oder auf dem Capitol oder an einem anderen Platz sehen konnten. Das Reiterstandbild des Tremulus, das jeder Bürger vom Comitium kannte, ließ sein Nachfahre L. Marcius Philippus 113 oder 112 v. Chr. auf einer Münze prägen.20
16 Hierzu SEHLMEYER 1999, 194ff.; die Münze bei CRAWFORD RRC 426/1 (siehe Abbildung auf der nächsten Seite); ebenfalls bei SEHLMEYER 1999, 194 mit Literatur in den Anm. 85–87. BADIAN, OCD3 400f. s.v. Cornelius Sulla Felix, Lucius, sagt, das Bocchus-Monument sei mit Erlaubnis des Senats von Bocchus aufgestellt worden, um Marius gegenüber Sulla zu bevorzugen – allerdings gibt es dafür keinen Beleg. Zum Bocchus-Monument auch grundlegend HÖLSCHER 1980a, 17ff.; 1980, passim, bes. 357ff.; 368ff. mit der Überlegung, daß die 1937 bei Grabungen um die Kirche S. Omobono südlich des Capitols gefundenen Reliefblöcke zu diesem Monument gehörten und hier „zum ersten Mal in der römischen Kunst ein systematisch durchdachtes politisches Ideengebäude“ (370) in Bildsprache umgesetzt sei. — Die Aufstellung der Statuengruppe erfolgte wohl 91 v. Chr. Die Münze ist eine Prägung von Sullas Sohn Faustus Sulla und stammt aus dem Jahr 56 v.Chr. Siehe auch ibd., 357f.: „Als Ausdruck von scharf konkurrierenden Ambitionen, von Berufung auf Vorgänger oder Polemik gegen politische Gegner sind diese Monumente ein deutliches Symptom für den Zustand der ausgehenden Republik.“ S. jetzt auch KUTTNER 2004, 310. 17 LAHUSEN 1989, 76; DÖBLER 1999, 176f.; WALTER 2003, 262 mit Anm. 38; 2004, 90ff. – Diese Form der Präsentation tritt erst ab der 2. Hälfte des 2. Jahrhunderts v.Chr. in Erscheinung. 18 Vgl. zum Amt des Münzmeisters LAHUSEN 1989, 13ff. 19 RRC 269/1 (S. 292), siehe Abbildung auf der nächsten Seite. 20 Siehe RRC 293/1 revers mit dem Kommentar auf S. 307.
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Münze des Faustus Sulla mit der Darstellung des Bocchusmonuments, 56 v. Chr.
Denar des C. Caecilius Metellus Caprarius mit dem Familienwappen der Metelli, Rom 125 v. Chr.
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Ohne größeren Aufwand waren die Münzen innerhalb kürzerer Zeit in ganz Italien und darüber hinaus verteilt. „Sie breiteten damit überall, wo sie hingetragen wurden, einen Bilderteppich aus, durch den man die Leute auf bedeutsame Ereignisse, Menschen, Geschlechter aufmerksam machen und ihnen den eigenen Namen einprägen konnte.“21 Auf diese Weise konnte mit Hilfe von Münzabbildungen die Bildsprache intensiviert werden, die einzelnen Elemente adliger Selbstdarstellung und Erinnerungskultur wurden so vernetzt.22 Während in der frühen Phase die Bildsprache nur wenige verschiedene Münzdarstellungen umfaßte – sehr häufig findet sich zum Beispiel die Abbildung von rostra, einer Roma, einer Quadriga23–, wurde die Bildsprache in der späten Republik immer differenzierter, individueller und stärker auf einzelne Familien24 und noch später auf einzelne Persönlichkeiten hin bezogen, sogar bis zum Münzporträt durch Sulla, Caesar oder auch Brutus.25 Sie wurde also gerade seit dem ausgehenden zweiten Jahrhundert immer komplizierter, codierter und voraussetzungsvoller, so daß sich die Frage nach den Adressaten stellt. Uralte Familiengeschichten, griechische Mythen, hellenistische Kunstformen, komplizierte Münzlegenden bedeuteten für den (erkennenden und decodierenden) Rezipientenkreis automatisch eine größere Exklusivität. Dies gilt sowohl für die Münzen als auch für die anderen Typen von Staatsdenkmälern. Am Beispiel des sogenannten Censorfrieses führt HÖLSCHER dies vor und bilanziert: „Für das Verständnis dieses Frieses ist zunächst die gebildete Wertschätzung griechischer Themen und Formen allgemeine Voraussetzung.“26
21 DÖBLER 1999, 177. 22 Vgl. auch SEHLMEYER 1999, 179 ff. mit einigen kritischen Vorbehalten („Man sollte sich hüten, allein aus einer Münze einen historischen Sachverhalt zu postulieren …“; S. 179) 23 SEHLMEYER 1999, 181; HÖLSCHER 1980, 358 mit Anm. 58. 24 LAHUSEN 1989, 51f., bilanziert: „Besonders aber in der im Verhältnis zu den Ahnenbildern und zur Bildnisplastik glänzend dokumentierten Münzprägung zeichnen sich die gesellschaftlichen und weltanschaulichen Veränderungen, die mit der Mitte des zweiten Jahrhunderts einsetzen, deutlich ab. … Die die Ahnenverehrung betreffenden Motive sind derart zahlreich, daß man mit H. Zehnacker von einer »iconographie ancestrale« sprechen kann, die nach historischer Typologie aufgelistet werden kann.“ Wichtig ist hier weiterhin auch HÖLSCHER 1980a, 12–16. 25 LAHUSEN 1989, 52: „Bildnisköpfe historischer Persönlichkeiten treten dagegen erst in der Spätzeit der Republik auf, einige Zeit nach der sullanischen Restauration. Eine eindeutig personalisierte Thematik, die sich auf lebende Personen bezieht, tritt, von wenigen Ausnahmen abgesehen, offenbar erst mit Beginn des 1. Jahrhunderts auf mit der Konfrontation der berühmtesten Vertreter der unterschiedlichen politischen Gruppierungen, mit Marius und Sulla.“ Vgl. zur Rivalität, die auf dem Feld der Münzprägung ausgetragen wurde, FLOWER 1996, 83f. 26 HÖLSCHER 1980, 12ff. (Zitate: 17 und 18); s. DERS. 1984, 13: Geschichte erschien auf den Münzen „nicht mehr als gemeinsamer Besitz der Gesamtheit, sondern zersplittert in Geschichten, die sowohl vom Interesse wie von den zugrundeliegenden Spezialkenntnissen her auf einzelne Familien der Nobilität zugeschnitten waren.“; ZANKER 1987, 24; WALTER 2004, 90f. — Diese Beobachtung kann man für die in den Reden Ciceros angeführten exempla nicht machen. Sie bleiben römisch und weisen m.E. keine Tendenz zur Exklusivität auf.
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Diese Art von Denkmälern „bleibt aber im wesentlichen auf die führenden Politiker beschränkt, die damit offenbar vor allem ihre adeligen und gebildeten Standesgenossen ansprechen wollten.“ Eine censorische Aufräumaktion Der Tendenz zu einer gesteigerten Selbstdarstellung auf dem Forum wurde von den Censoren des Jahres 159/58 Einhalt geboten. Plinius berichtet: „L. Piso berichtete, daß unter dem Konsulat des M. Aemilius und des C. Popilius, der dieses Amt zum zweiten Mal bekleidete, die Censoren P. Cornelius Scipio und M. Popilius sämtliche rings um das Forum stehenden Statuen derer, die ein Staatsamt geführt hatten, entfernten, mit Ausnahme derjenigen, die nach einem Beschluß des Volkes oder Senats aufgestellt worden waren; die (Statue) aber, die beim Tempel der Tellus Sp. Cassius sich selbst gesetzt hatte – er hatte die Königsherrschaft angestrebt – wurde von den Censoren sogar eingeschmolzen. Ohne Zweifel suchten auch hierin jene Männer gegen den Ehrgeiz Vorsichtsmaßregeln zu treffen.“27
Statuen gewesener Magistrate, die ohne Volks- oder Senatsbeschluß am Forum aufgestellt worden waren, mußten entfernt werden, was nicht bedeutet, daß sie vernichtet wurden. Ein anderer Aufstellungsplatz genügte wohl. Das Forum sollte als politisches Zentrum nicht für eine unkontrollierte Selbstdarstellung zu Verfügung stehen.28 Den gewesenen Magistraten, deren Standbilder hier moniert wurden, wird in der Schilderung des Plinius „ambitio“ als Motiv angelastet. Diese moralische Tendenz paßt gut in die Geschichtsschreibung von Plinius’ Gewährsmann Lucius Calpurnius Piso. Zeitgenosse der Ereignisse war Cato der Ältere, dessen sprichwörtliche censorische Strenge sich besonders gegen die eitle Selbstüberhebung wandte und die um sich greifende Verdorbenheit geißelte. Aber die Nachricht des Plinius hält ja fest, daß nur die selbstherrlich aufgestellten Statuen weggestellt werden sollten.29 Andere Statuen blieben stehen, und zwar alle, die auf Senats- bzw. Volksbeschluß aufgestellt worden waren. Die Aufstellung einer Ehrenstatue auf dem Forum sollte also auch weiterhin eine besondere Auszeichnung sein, die Hoheit über das Zentrum des Imperium blieb allerdings in der Hand von Volk und vor allem Senat, gegen dessen Rat die Censoren sicherlich nicht gehandelt haben dürften. Daher dürfte es auch kommen, daß das Forum als Erinnerungslandschaft im Zeitraum von 166 bis 82/80 v. Chr. – was offiziell beschlos-
27 Übersetzung KÖNIG zu Plin. nat. 34,30: „L. Piso prodidit M. Aemilio C. Popilio iterum cos. a censoribus P. Cornelio Scipione M. Popilio statuas circa forum eorum, qui magistratum gesserant, sublatas omnes praeter eas, quae populi aut senatus sententia statutae essent, eam vero, quam apud aedem Telluris statuisset sibi Sp. Cassius, qui regnum adfectaverat, etiam conflatam a censoribus. nimirum in ea quoque re ambitionem providebant illi viri.“ Siehe hierzu den Kommentar FRH 7 F 40. 28 Siehe v.a. SEHLMEYER 1999, 152ff. mit weiterer Literatur; MOMMSEN, Staatsrecht I, 448. 29 Tollere nicht als „vernichten“ verstanden, sondern als „wegstellen“ bzw. „beiseite stellen“, im wahrsten Sinne „aus dem Wege räumen“.
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sene Aufstellungen angeht – relativ unverändert blieb und erst mit Sulla Forum und Comitium wieder stärker verändert wurden. Im Zentrum, dem Forum Romanum, gab es jedoch über einen langen Zeitraum den Versuch, einen eher streng eingegrenzten Erinnerungskern der frühen und klassischen Republik zu bewahren und nicht zuzulassen, daß ‚neue Erinnerungen‘ nach Belieben hinzugefügt wurden. Das Ritual, das Helden feiert II: der römische Triumph – die Siegesfeier im Schatten von Erinnerungsmonumenten „Die ganze Stadt Rom, besonders ihre politischen Zentren, Capitol und Forum, [waren] ein riesiges Museum voller Denkmäler, Erinnerungsstätten und Inschriften.“30 Durch dieses Museum verlief die Route des Triumphzugs,31 sie passierte die wesentlichen Erinnerungsorte32 und -gegenstände, die an militärische Ruhmestaten erinnerten. Zunächst überquerte die pompa triumphalis das Forum Boarium, dann durchquerte man den Circus Maximus und unterquerte an der Via Sacra den fornix Fabianus, der die Via Sacra zwischen der regia und dem Haus der Vestalinnen überspannte.33 Dann zog man über das Forum Romanum, bevor man am clivus Capitolinus den fornix Scipionis passierte, der im Jahr 190 v. Chr. errichtet worden war.34 Indem sie die Route des Triumphzugs baulich gestalteten, erinnerten frühere Triumphatoren bei jedem neuen Triumph daran, daß sie selbst mit ihren Familien bereits zu den Triumphatoren gehörten, man verwies sozusagen auf sich selbst und die Kontinuität römischer Erfolgsgeschichte(n). „Die Gemeinschaft der römischen Bürger, siegreiche Krieger und siegesfrohe Zuschauer nahmen die Denkmäler früherer Siege bei der Feier der eigenen Triumphe wahr.“35 Die Ausschmük-
30 TIMPE 1996, 286. 31 Vgl. dazu EHLERS 1939 passim; jetzt ITGENSHORST 2005; weiterhin SUMI 2005, 29ff.; FLOWER 2004, 327; HÖLSCHER 2001, 194ff.; HÖLKESKAMP 2001, 109; 1987, 236ff.; DÖBLER 1999, 95ff.; KOLB 2002, 201f.; FAVRO 1994; KÜNZL 1988. 32 ALEIDA ASSMANN 1996, 16–26 hat den Begriff des Erinnerungsortes – allerdings vor dem Hintergrund der Diskussion über die Erinnerung an den Holocaust – präziser gefaßt. Die Bedeutung eines Erinnerungsortes sei je nach Rezipientenkreis unterschiedlich. Die Ferne der Vergangenheit spiele keine Rolle, da das Gedächtnis den chronologischen Maßstab nicht anlege. Es träfen Gegenwart und Vergangenheit unmittelbar aufeinander, ‚hier‘ und ‚einst‘ stehen mehr nebeneinander als nacheinander. Vgl. HÖLSCHER 1995, 163, s. auch WALTER 2004, 155. Vgl. zum Konzept demnächst die „Einleitung“ von K.-J. HÖLKESKAMP, E. STEINHÖLKESKAMP, in DIES. (Hgg.), Erinnerungsorte der römischen Antike, München 2006. 33 Cic. Planc. 17; Cic. Verr. 1,19; Cic. Vatin. 28; de orat. 2,167; KOLB 2002, 247; RICHARDSON 1992, 154 s.v. Fornix Fabianus. (eines der ersten Triumphmonumente auf dem Forum). 34 S. dazu auch unten S. 263ff. den Abschnitt „Scipio Aemilianus – Ciceros großer Held“. 35 HÖLSCHER 2001, 197.
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kung der urbs mit Erinnerungsstücken bezog sich jedoch nicht alleine auf das politische, sondern ebenfalls auf das religiöse Zentrum Roms. In bewußter Nähe und Mischung zu diesen Symbolen des Erfolgs der res publica und der römischen Größe befanden sich die Tempel der Götter und der deifizierten Wertbegriffe der Römer. Die Gottheiten nahmen teil an der Größe Roms und garantierten den Römern Bestand und Gedeihen, solange die Götter in der richtigen Weise verehrt wurden.36 Dabei wurden gerade die römischen Tugenden der virtus, der fides oder etwa der concordia vergöttlicht und in die Architektur der Stadt hineingebaut.37 Man vergewisserte sich so der permanenten Anwesenheit und des Wohlwollens der Götter. Die Aufstellung der Statuen, die Ausstellung von Pretiosen, die oft als Beute nach Rom gebracht worden waren, auch die Darstellungen von Taten in Form von Historiengemälden erfolgten vielfach anläßlich eines Triumphes. Die großen Gemälde in Pompeius’ oder Caesars Triumphen zeigten den römischen Zuschauern Schlachten oder die eroberten Landschaften; man sah ein Gemälde von Mithridates, wie er floh oder wie er im Kreise seiner Frauen starb, oder man betrachtete den Selbstmord des L. Scipio, des Petreius oder des jüngeren Cato, worauf die Zuschauer reagierten: „Das Volk, obgleich voll Angst, seufzte über die heimischen Unglücksfälle, vor allem als es im Bilde den Oberbefehlshaber Lucius Scipio sah, wie er mit eigener Hand seine Brust durchbohrte und sich ins Meer stürzte, oder Petreius, wie er beim Gastmahl Selbstmord beging, oder Cato, wie er sich gleich einem wilden Tiere zerfleischte. Hingegen freuten sich die Leute über den Tod des Achillas und Potheinos, und über des Pharnakes’ Flucht mußten sie gar lachen.“ Die berühmte Nachricht vom „veni, vidi, vici“, die in dieser Formulierung ebenfalls in Caesars pontischem Triumph auf Plakaten gezeigt wurde, kann im Hinblick auf ihr psychagogisches Moment als Boulevardschlagzeile betrachtet werden.38
36 Daher kann Cicero die Frömmigkeit auch mit einem Rechtsbegriff definieren, wenn er (part. 78) sagt: „In communione autem quae posita pars est, iustitia dicitur, eaque erga deos religio, erga parentes pietas, vulgo autem bonitas, creditis in rebus fides, in moderatione animadvertendi lenitas, amicitia in benevolentia nominatur.“ / „Der Bereich der Tugend, der für das Zusammenleben untereinander nötig ist, wird als Gerechtigkeit bezeichnet, und zwar im einzelnen gegenüber den Göttern als Frömmigkeit, gegenüber den Eltern als Ehrerbietung, bei anvertrauten Dingen als Zuverlässigkeit, bei Mäßigung im Strafen als Milde, bei der wohlwollenden Zuneigung als Freundschaft.“ (Übersetzung BAYER). MEIER 1980a, 44: Römer betrachteten sich als „götterbegnadet“. 37 HÖLSCHER 1978, 349, gibt folgende Daten für die Tempelbauten an: 367: Concordia (umstritten); 304: aedicula Concordia am Comitium ein Bronzeschrein, aufgestellt vom Aedilen Cn. Flavius [Tempelbau dann erst 121 auf Beschluß des Senats; Plin. nat. 33, 19]; 302: Salus; 294: Victoria; um 250: Spes und Fides; um 240: Libertas; 233: Honos; 215: Mens; 212: Virtus (an der porta Capena). Zu den Tempelgründungen auch SEHLMEYER 1999, 138f. 38 Pompeius: App. Mithr. 117; Caesar: App. civ. 2,420 (obige Übersetzung von VEH); vgl. zu den Gemälden ZINSERLING 1959/60, 411f. Nr. 17f.; s. HÖLSCHER 1980, 19.
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Der Tag des Triumphes erhielt also in Form von Stiftungen oder ausgestellten Beutestücken eine Verankerung in der Architektur oder im Schmuck der Stadt.39 „Meist für okkasionelle Zwecke, für den Triumphzug oder einen Wahlkampf, als Zeugnisse eigener Leistung in Auftrag gegeben, wurden solche Werke gewöhnlich in Tempeln oder an einem anderen öffentlichen Platz ausgestellt.“40 Die großen Feldherren wie Marcus Claudius Marcellus oder P. Cornelius Scipio Africanus maior haben ihre großen Siege allen vor Augen geführt.41 Lucius Mummius, der Sieger über und Plünderer von Korinth, stiftete im Jahre 146 v. Chr. einen Tempel für Hercules.42 Der Triumph bestätigte die großen Leistungen des Triumphators für die res publica.43 Das politisch-religiöse Ritual verband die einzelnen Erinnerungsorte, die den Gehalt des Triumphrituals widerspiegelten und verstärkten: Der erfolgreich heimkehrende Feldherr ist ein vir vere Romanus und zugleich die Verkörperung des Tugendkatalogs – ein exemplum virtutis, als das er sich in dieser Erinnerungslandschaft zu verewigen wünscht und das – wie er erwartet – in Reden Erwähnung finden wird. Selbstdarstellung der Nobilität im öffentlichen Raum seit 300 v. Chr. Insgesamt erhält man durch die Auswertung des zusammengestellten Materials eine deutliche Häufung der aufgestellten Erinnerungsgegenstände für die Zeit nach 300 v. Chr. HÖLSCHER sieht damit seine These bestätigt, daß sich die Selbst-
39 Vgl. zur Erinnerung an Triumphe ausführlich SEHLMEYER 1999, 112ff.; 134ff.; grundlegend jetzt ITGENSHORST 2005, 99ff., bes. 105f.; KUTTNER 2004, 301; 305f.; 310. – Hier nur ein Beispiel, das den Zusammenhang von militärischem Sieg und religiösem Kult als Garant für die römische Sieghaftigkeit verdeutlicht: Sp. Carvilius Maximus hatte die Samniten besiegt und aus den erbeuteten Waffen und Rüstungen die Statue herstellen lassen, die so groß war, daß man sie vom Iuppiter Latiaris aus sehen konnte, s. Plin. nat. 34,43: Sie war eine Art ‚Wahrzeichen‘ der Stadt. Vgl. auch E. PAPI, LTUR 4, 1999, 363 s.v. Statua Colossea: Iuppiter (1). 40 HÖLSCHER 1978, 344; siehe auch DENS. 1980, 352f. Im selben Sinne SEHLMEYER 1999, 129: „Die Statuenehrung – sei es als Stifterbildnis, sei es als Ehrenstatue im eigentlichen Sinne – scheint typisch für den Triumph sein, der auf dem Capitol endete.“ 41 HÖLSCHER 1978, 345 mit Verweis auf ZINSERLING 1959/60 405ff. Nr. 6ff.; MOMMSEN, Staatsrecht 1, 448f; HÖLKESKAMP 1996, 305–308. 42 CIL I2 526 = ILLRP2 122: L(ucius) Mummi(us) L(uci) f(ilius) co(n)s(ul). Duct(u), | auspicio imperioque | eius Achaia capt(a). Corinto | deleto Romam redieit |5 triumphans. Ob hasce | res bene gestas, quod | in bello voverat, | hanc aedem et signu(m) | Herculis Victoris |10 Imperator dedicat. – Im selben Jahr weihte Scipio Aemilianus einen Tempel für Hercules Victor. Die Rivalität scheint allgegenwärtig gewesen zu sein. – Vgl. auch den Abschnitt „Siegesdenkmäler werden historisch: Beutestücke und Ehrenstatuen“ in WALTER 2004, 139ff. 43 Polyb. 6,15,8. – Vgl. FLOWER 2004, 327 und ITGENSHORST 2005 passim.
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darstellung einer sich neu konstituierenden politischen meritokratischen Führungsschicht, der Nobilität, auch in der Gestaltung von Plätzen niederschlug.44 Durch die Beute- und Tempelweihungen, Karten der eroberten Gebiete, Schilde mit getriebenen Porträts, Münzbilder und natürlich die öffentlich aufgestellten Standbilder dokumentierten sie ihre res gestae. Diese Gegenstände sind in ihrer Botschaft stereotyp und stellen sozusagen das ‚große Ganze‘ vor Augen, d.h. sie sind Symbole dafür, daß ein Römer römische Tugenden geradezu exemplarisch erfüllt und vorgelebt hat und er von der Gemeinschaft in ihrer Gesamtheit anerkannt und geehrt wird. Man könnte also den im Zusammenhang mit der Leichenfeier bereits eingeführten Begriff der „Normengemeinschaft“45 durchaus auch auf diese Art(en) der Selbstdarstellung anwenden. Die Standbilder (in der Regel wohl ein civis togatus) und Reiterstatuen vermittelten über die Darstellung und den dazugehörigen titulus eher eine Uniformität und Einheitlichkeit, als daß sie individuelle Erfolgsgeschichten erzählen konnten.46 Diese Medien der Selbstdarstellung, die Dokumente des eigenen Erfolgs waren und mit der Zeit automatisch zu Erinnerungsmonumenten wurden, brauchten in der römischen Erinnerungskultur die Integrierung in Rituale und Erwähnung in den Reden, die immer wieder Bezug auf sie nahmen und sie so mit Bedeutung
44 Vgl. im selben Sinne, jedoch unter der Frage von ‚Mündlichkeit und Schriftlichkeit‘ der römischen Geschichtskultur TIMPE 1988, 272: „Das spezifisch römische Bewußtsein von römischer Geschichte, das noch wir nachlesen können, ist von Glück, Erfolg, Kohärenz und Kontinuität der Herrschaftsklasse abhängig; diese Qualitäten haben sich im späten 4. Jh. zusammengefunden und fortan die geistige Form der Republik bestimmt.“ — S. EICH 2000, 354 mit Anm. 17; RÜSEN 2001, 116: „Denkmäler präsentieren einen historischen Zeitzusammenhang, indem sie explizit eine historische Bedeutung für eine andere (spätere) Zeit ausdrücken. Dafür haben sie eine eigene Bildsprache entwickelt. Sie spannen den Bogen von der Vergangenheit zur Gegenwart (und tendenziell in die Zukunft hinein). Sie adressieren eine bestimmte Geschichte an die Gegenwart, allerdings eine ganz bestimmte: nämlich diejenige, die die Urheber des Denkmals über sich selbst oder über ihre Zeit sich bei den Nachgeborenen wünschen. Damit repräsentieren sie aber eben gerade nicht den Sinn- und Bedeutungszusammenhang, in dem wir die Vergangenheit, an die die Denkmäler erinnern, historisch interpretieren. Insofern haben die Denkmäler einen Aufforderungscharakter zur historischen Erinnerung, eine historische Appellrhetorik.“ 45 FLAIG 1995, 126 wendete den Begriff für das Ritual der pompa funebris an, vgl. oben. S. 112f. 46 Cicero legt dem alten Cato (Cat. sen. 21) die Aussage in den Mund, daß er trotz der Redensart, daß, wer Grabinschriften lese, die memoria verliere, seine prosopographischen Kenntnisse gerade aus den sepulchra beziehe und damit einen intensiveren Kontakt zu den cives Romani halten kann. – Diese Aussage Ciceros geht wohl auf die in der platonischen Schule vorherrschende Ablehnung zurück, die Lehre in Schriftform festzuhalten, weil sie dann wesentliches verlöre. Dies paßt gut in den Zusammenhang von Ciceros Dialog „Über das Alter“, in dem er Cato mehrmals betonen läßt, daß er sich im hohen Alter intensiv mit der griechischen Literatur und Wissenschaften befasse.
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aufluden.47 Erst durch die Vernetzung dieser verschiedenen Elemente und Ebenen der römischen Erinnerungskultur konnte die ‚civic identity‘ gestärkt werden. Geschichte(n) im Theater Die regelmäßig wiederkehrenden religiösen Feste, deren Zahl sich im Laufe der Zeit erhöhte, boten Anlässe für zahlreiche Theateraufführungen48 Zu den regulären Spielen muß man zahlreiche außerordentliche ludi hinzuzählen: Leichenspiele, Dedikationsspiele, ludi votivi siegreicher Feldherren.49 Zu den Veranstaltungen wurden eigens Tribünen aufgestellt, die große Zuschauermengen aufnehmen konnten. Das temporäre, äußerst luxuriös gestaltete Theater des damaligen Aedil M. Aemilius Scaurus soll 80 000 Zuschauern Platz geboten haben, berichtet Plinius.50 Das erste steinerne Theater wurde von Pompeius erbaut und 55 v. Chr. mit prächtigen Spielen eingeweiht.51 Gerade drei Jahre später gab es eine neue Sensation. Curio errichtete angeblich ein Theater, dessen beide Hälften gedreht werden konnten.52 Für die Ausstattung und Finanzierung waren Magistrate, in der Regel die Aedile, zuständig. Die Qualität der Spiele und der Aufwand waren im internen Wettkampf eine Empfehlung für die nächsten Ämterstufen.53 Bei diesen Festen
47 Vgl. Polyb. 6,53,1f.; WALTER 2004, 156: „Erinnerungsorte werden durch Kommunikation und Texte mit Sinn gefüllt …“. 48 Vgl. STÄRK in HLL 1 §119: ludi Romani 5.–19. September (seit 214 v. Chr. viertägige ludi scaenici), ludi plebei 4.–17. November (seit 220 v. Chr.); ludi Apollinares 6.–13. Juli (seit 212 v. Chr.), ludi Megalenses 4.–10. April (seit 204 v. Chr.); ludi Cereales 12.–19. April (seit 202 v. Chr.); ludi Florales 28. April – 3. Mai. 49 Nicht immer haben szenische Theateraufführungen dazugehört. Auch Wagenrennen, athletische Wettkämpfe und Gladiaturen standen auf dem Programm. 50 HEIL 2003, 22; 25f. Plinius räsoniert, daß die Aedilität des Scaurus (58 v. Chr.) die mores am heftigsten niedergestreckt habe, schlimmer noch als die Proscriptionen Sullas (Plin. nat. 36,113: „… M. Scauri, cuius nescio an aedilitas maxime prostraverit mores maiusque sit Sullae malum tanta privigni potentia quam proscriptio tot milium.“) 51 Plut. Pomp. 52f.; schöne Schilderung bei GELZER 1959, 160f.; vgl. HEIL 2003, 22ff.; DÖBLER 1999, 68ff. (allgemein zum römischen Theaterraum). 52 So hatte man zwei halbe Theater für die Vormittagsvorstellungen, am Nachmittag wurden die beiden Hälften zu einem großen Halbrund vereinigt. „Einige Zuschauer blieben während dieser Prozedur sitzen und erlebten – die erste Karussellfahrt der Weltgeschichte.“; siehe HEIL 2003, 26; Plin. nat. 36,117–119. – Das Theater stand im Jahre 51 v. Chr. noch. Cicero (fam. 8,2,1) schreibt allerdings nichts von einem besonders staunenswerten Theater, das sich derartig drehen ließ. Überhaupt ist es schon etwas verwunderlich, daß solch ein qaum£sion nur bei Plinius erwähnt wird. Vielleicht lag zwar ein Plan vor, doch die Umsetzung gestaltete sich in Form eines ‚normalen‘ Theaters. 53 Sulla scheiterte in seiner Laufbahn am Überspringen der Aedilität: Plut. Sulla 5. Die Schuld daran schob er laut Plutarch der Masse zu, die unbedingt spektakuläre Spiele des Aedilen Sulla erleben wollte. In seiner 93 v. Chr. dann errungenen Praetur holte er das Versäumte nach: Er ließ sich von Bocchus hundert Löwen schenken und führte sie ohne Ketten, was neu war, im Kampfe gegen Speerwerfer den Römern im Circus vor; Plin. nat. 8,53, Sen. brev.vit. 13. Vgl. die Realien bei FRÖHLICH 1900, 1527.
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wurden unter anderem auch Begebenheiten der römischen Geschichte dargestellt, aber dem römischen Publikum wurden auch griechische Stoffe – tragische wie komische – vorgestellt.54 Geschichten erzählten also – sicherlich abgewandelt und auf den jeweiligen gegenwärtigen Erwartungshorizont abgestimmt – die Theaterstücke, die sich römischer Nationalgeschichte annahmen, die fabulae praetextae.55 Man kann den Stoff noch präziser fassen: Eine fabula praetexta präsentierte einen römischen Aristokraten, der in seinem mit Imperium ausgestatteten Amt Taten zum Ruhme und zur Mehrung der res publica vollführte.56 Die Themen konnten aus der römischen Frühzeit genommen werden, aber auch zeitgenössische Helden kamen auf die Bühne. Naevius hat als erster Stücke in dieser Gattung geschrieben: Zwei seiner praetextae, von denen wenigstens die Titel Romulus und Lupus bekannt sind, bezogen sich auf die Ursprünge Roms. Neben mythologischen Stoffen hat Naevius aber auch die jüngere Vergangenheit bearbeitet: Das Stück Clastidium wies auf den Sieg des Marcellus über den Insubrerkönig Virdumarus (222 v. Chr.) hin, „und es ist nicht unwahrscheinlich, daß das Stück für die Leichenfeier des M. Claudius Marcellus im Jahre 208 gedichtet wurde, um ihn als Sieger zu verherrlichen.“57 Aber die Aufführung könnte auch im Umfeld der Weihung des Tempels für Honos und Virtus durch Marcellus’ Sohn im Jahre 205 stattgefunden haben.58 Ennius schrieb ein Stück mit dem Titel Ambracia, das dem Publikum den Sieg des Fulvius im Jahre 189 vor Augen führte. Ennius hatte seinen Patron Fulvius Nobilior auf dem Feldzug begleitet und schrieb als Augenzeuge der Ereignisse.59 Das Stück wurde wahrscheinlich anläßlich des Triumphes des Fulvius Nobilior aufgeführt (187).60 Der über den ätolischen Bund siegreiche Feldherr hatte den Reichtum der Stadt gemehrt. Er weihte einen Herculestempel, dessen Einwei-
54 Cic. leg. 1,47: Die Bühne (scaena) ist einer von mehreren Lehrern, den jeder kennt und der auch jeden erreicht. Vgl. WISEMAN 1994, 17. Siehe zu den „Schauräumen“, zu denen HEIL die Theater rechnet, jetzt HEIL 2003, 20ff. 55 Zur fabula praetexta HELM 1954; FLOWER 1995; WISEMAN 1998; MANUWALD 2001; WALTER 2004, 75ff.; STÄRK in HLL 1 §§ 118ff.; bes. § 124. 56 FLOWER 1995, 171. 57 HELM 1954, 1570; FLOWER 1995, 183 mit Anm. 89. 58 Für diesen Aufführungstermin plädiert FLOWER 1995, 184. Die Umstände von Marcellus’ Tod, der in einen Hinterhalt Hannibals geraten war, seien eher unpassend (kein „suitable context“) für eine Verherrlichung der Taten des Marcellus gewesen. Die Rehabilitierung im Jahre 205 sei gut denkbar, um, nachdem die Umstände des Todes von Marcellus etwas verblaßt waren, an seine früheren Heldentaten zu erinnern und diese vor allem im kollektiven Gedächtnis festzumachen, zumal der Tempel für Honos und Virtus vor Claustidium und wiederholt vor Syrakus gelobt worden war. (Liv. 27,25,7–9; Plut. Marcellus 28) 59 FLOWER 1995, 184. 60 LEO 1913, 159; HELM 1954, 1571; FLOWER 1995, 184ff.
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hung ebenfalls als mögliches Aufführungsdatum vermutet wird.61 Eine zweite Praetexta mit dem Titel Sabinae beschäftigte sich mit der Gründungszeit Roms. Pacuvius hat in dem Stück Paulus mit L. Aemilius Paullus einen weiteren modernen Helden seiner Zeit gefeiert, der 168 v. Chr. den Makedonenkönig Perseus besiegt hatte. Ein Aufführungstermin könnte sein Triumph in Rom gewesen sein, aber auch die Spiele anläßlich seines Todes von 160 v. Chr. sind nicht auszuschließen.62 Accius thematisierte mit seinem Brutus die sagenhafte Königszeit.63 Ein anderes Stück, in der Überlieferung mit dem Doppeltitel Aeneadae sive Decius erwähnt, beschäftigte sich mit dem Opfertod des Decius in der Schlacht von Sentinum.64 Weitere Titel und Einzelheiten könnten hier angeführt werden,65 wobei aber zuzugeben ist, daß man nicht wirklich viel über diese Sparte römischer Literatur weiß. Es sind nur etwa ein Dutzend Werktitel und lediglich siebzig Verse aus sieben (vielleicht neun) Stücken überliefert. Sichere Aussagen über Handlungsverlauf und Handlungsführung sind dabei nicht zu machen. Notgedrungen arbeitet man schnell mit Spekulationen und Plausibilitätserwägungen. Trotz des spärlichen Quellenbestands kann man eine generelle Praxis der Selbstdarstellung und Selbstvermittlung der Nobilität mit Hilfe von Bühnenstükken nicht ausschließen. Die Vermutung einer szenisch-erzählerischen Brücke zwischen politischer Klasse und dem im Theater versammelten populus hat einiges für sich, weil so Verdienste und Leistungen, die „draußen“ (militiae) geschahen, abgebildet und den Unbeteiligten „zu Hause“ (domi) vor Augen geführt werden konnten. „Denn für ein ja noch fast gänzlich präliterales Publikum, das auch später, im 2. und 1. Jahrhundert, nicht regelmäßig und intensiv mit Literatur in Be-
61 FLOWER 1995, 185f. Fulvius war wegen seines hellenistischen Auftretens ohnehin in die Kritik geraten. Seinen Triumph mußte er sogar vorziehen. Die praetexta könnte also ebenfalls ein treuer Dienst des Ennius für seinen Freund und Patron anläßlich der Tempelweihung gewesen sein. 62 FLOWER 1995, 187. 63 Gerade dieses Stück war in der späten Republik für uns nachvollziehbar gut bekannt; siehe FLOWER 1995, 176. 64 Siehe STÄRK in HLL 1 §122 (S. 162f.) 65 Siehe den Artikel von HELM 1954, passim. Wie weit die Verarbeitung von historisch(aktuellem) Stoff gegangen ist, bleibt wegen der Überlieferung fraglich und auch umstritten. HELM 1954, 1573: „Dann hat kein Geringerer als Th. Mommsen die Schar derer angeführt, die glaubten, aus jeder dramatisch bewegten oder zu dramatischer Gestaltung geeigneten Erzählung der Historiker eine poetische Quelle herausfinden zu können. (…) So nahm man die Geschehnisse in Capua nach der Schlacht bei Cannä…zum Anlaß, um daraus Stoffe von vorausgegangen Praetexten zu gewinnen.“ WISEMAN 1994 vertritt die These, daß es eine enge Beziehung zwischen praetexta und ‚popular drama‘ gegeben habe, mit deren Hilfe sich der populus Romanus ein Bild von sich selbst und eine ‚civic identity‘ aufgebaut habe. Wichtige Stütze in seiner Argumentation bilden die theaterstückartigen Passagen der hellenistischen Historiographie, siehe auch DENS. 1998, 1–16. Siehe zur Forschung auch WALTER 2004, 79 Anm. 164; STÄRK in HLL 1 § 122 Lit.2.; FLOWER 1995, 189 gibt einen tabellarischen Überblick über die fabulae praetextae.
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rührung kam, bedeutete die Inszenierung auf der Bühne Realität.“ Der Führungsanspruch der Elite erhielte so eine weitere Stütze. Ein nicht unbedeutender Aspekt ist die zugleich gegebene Deutungshoheit über das Geschehene, die sich die Handelnden sichern konnten. Man mußte beim Publikum nicht auf konkurrierende Wissensquellen wie etwa Bücher Rücksicht nehmen, sondern konnte Wissen produzieren, „das nicht gegen ein kanonisiertes Buchwissen anzugehen hatte.“66 Über das Medium der praetexta konnte sich die Kenntnis der res gestae verbreiten, die die Nobiles darüber gesichert sehen wollten, und in einen aktuellen Bezugsrahmen hineingeholt werden: den der Leistungen und der Größe des populus Romanus. Darüber hinaus wird dem römischen Drama in der Forschung eine wichtige Funktion für die ‚civic identity‘ beigemessen.67 Ganz allgemein wird man – trotz der dürren Fakten – festhalten können: Im Theater wurden res gestae der Helden erzählt, deren Statuen und Bilder man in der Stadt sehen konnte, deren Ahnenmasken man bei der pompa funebris zusammen mit der Amtstracht der höchsten erreichten Magistratur erblickte, deren Taten noch einmal in der laudatio funebris gepriesen wurden und an die gegebenenfalls auch Münzen68 erinnerten. Die praetexta war Teil eines Systems von vernetzten Verweisen innerhalb der Erinnerungskultur Roms. Das Theater selbst diente nun wieder nicht allein der Unterhaltung, sondern war in ein Ritual – des Triumphes oder der Beerdigung eines verstorbenen nobilis, einer Tempelweihung oder eines offiziellen Festes – eingebunden.69 Die cives Romani waren im Theater symbolisch insgesamt zugegen und nahmen teil, wenn zum Beispiel der Triumphator als Spielegeber seinen Sieg feierte.70 Dabei wurden seit den 190er Jahren v. Chr. die Gruppen der Bürgerschaft durch reservierte Sitzplätze getrennt. Das hatte zur Folge, daß im Theater die Aristokratie als Gruppe der Gruppe des Volkes gegenübertrat.71 Dies hatte zur Folge, daß das Theater wie 66 Beide Zitate WALTER 2004, 75. 67 WISEMAN 1994. Seine These beruht aber auf der a priori-Annahme, daß die Römer eine lebendige Tradition des national-römischen Dramas brauchten. (WISEMAN 1994, 14: „We have no evidence, but on a priori grounds the Roman festivals are the obvious place to imagine the Roman community’s self-image being created.“ 16: „A a priori argument is all we have, and the absence of contemporary sources means that the argument from silence has no value. The traditional assumption has been that Roman drama began with Livius Andronicus in 240 BC, or possibly in 238 in connection with the newly-founded ludi Florales. But what Andronicus brought from Tarentum was literary drama, plays with texts, the formal genres of comedy and tragedy in the Attic manner. His were the earliest texts available to the late-republican antiquarians; but it does not thereby follow that there had never before been plays with Greek mythological and Roman historical content performed in Rome. What I think Andronicus, and then Naevius, did, was to turn into literature what had previously been produced for the people without benefit of text.“). Vgl. zur These WISEMANS besonders FLOWER 1995, 173ff. 68 FLOWER 1995, 190 mit Anm. 128. Dies sei allerdings auf einen relativ exklusiven Kreis derer beschränkt, die die komplizierten Münzen zu deuten wußten. 69 STÄRK in HLL 1 § 119; FLOWER 1995, 183ff.; HEIL 2003. 70 Zuschauen durften auch Frauen und Sklaven. 71 FLAIG 1995b, 103ff., allerdings bezogen auf die Spielekultur insgesamt. In der Volksversammlung trat den Bürgern lediglich der leitende Magistrat gegenüber – evtl. begleitet von
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eine Art Barometer Beliebtheit und Rang einzelner Nobiles bzw. einzelner Familien feststellbar machte72 – und zwar im Beisein der anderen Mitglieder der ‚peer group‘. Umgekehrt hatten die Bürger die Möglichkeit, im Theater Abneigung wie auch Zuneigung kundzutun. Zu diesen Zwecken wurden in der späten Republik sogar organisierte Gruppen von Claqueuren im Theater plaziert.73 Das Theater war auch ein politischer Raum, und die Stücke, selbst wenn sie mythische Inhalte hatten, konnten von den Zuschauern aktualisiert und umgemünzt werden. Accius’ Brutus enthielt einen preisenden Vers auf den König Servius Tullius, der die Freiheit der Bürger fest gegründet habe. Das Publikum im Theater ‚stoppte‘ die Aufführung an dieser Stelle und bestürmte den Schauspieler, diesen Vers mehrfach zu wiederholen. Dies war eine politische Aktion und Demonstration für den aus dem Exil heimgekehrten Marcus Tullius Cicero.74 Die Tatsache der geringen Zahl von bezeugten praetextae auf der einen Seite und ihre in der Forschung vielfach postulierte, aber nicht beweisbare Häufigkeit und Regelmäßigkeit auf der anderen Seite stellen ein Problem dar. HARRIET FLOWER hat die praetextae, von denen man etwas weiß, in ihrem jeweiligen historischen Kontext untersucht. Es stellt sich heraus, daß die praetextae Aristokraten die Möglichkeit boten, öffentlich in Anwesenheit der anderen Standesgenossen größere Zeichen von Zuneigung und Beliebtheit (gratia) zu erhalten, als es üblicherweise etwa durch Clientelen möglich war. Das aber berührte das empfindliche und prekäre Gleichgewicht der Aristokratie, und daher waren derartige Aufführungen innerhalb der politischen Klasse kontrovers. Denn die praetexta bildete im Grunde eine privilegierte Ansprache an den populus Romanus, die daher auch nur selten durchgesetzt werden konnte.75
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eingeladenen Gästen oder Gastrednern. FLAIG sieht eine neue „Kontaktmodalität“: „Die ludischen Rituale kompensierten nicht nur den Verlust an klientärer Kommunikation, sondern sie brachten eine ganz neue Kontaktmodalität mit sich. Die klientäre Kommunikation mit der herrschenden Klasse verlagerte sich und verlor an Intensität und Bedeutung, die politische Kommunikation nahm zu.“ (ibd. 106). FLAIG 1995b, 120; 2003, 238; FLOWER 1995, 188 (Beide mit dem Bild des Barometers). Vgl. FLOWER 1995, 188 mit den Beispielen in den Anmerkungen; siehe auch FLAIG 1995b, 118ff. und HEIL 2003, 32. Ciceros eigene Ausführungen zum Theater in Sest. 115–123; Ein schönes Beispiel schildert Cicero Att. 2,19,3: „populi sensus maxime theatro et spectaculis perspectus est“ im Juli von Caesars erstem Consulatsjahr. Cic. Sest. 123 („Tullius, qui libertatem civibus stabiliverat“); BOLLINGER 1969, 25ff.; FLAIG 1995b, 121–123; 2003, 23f.; FANTHAM 1998, 20; WALTER 2004, 82f. mit Anm. 176; vgl. jetzt auch SUMI 2005, 25ff. FLOWER 1995, 190: „…they were too controversial and gave the patron direct control over audience reactions.“; DIES. 2004, 340 allgemeiner über ‚spectacles‘: „... sense of dialogue between the politicians and the people continued within the sphere of spectacle ...“.
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Geschichte im römischen Epos Einen weiteren wichtigen Aspekt der Erinnerungskultur bildeten die römischen Epen.76 Das „Erlebnis der Ordnung nach bestandenem großen Kampf“77 bildete den jeweiligen Impuls für die großen Epen. Naevius, geboren um etwa 295 v. Chr., verarbeitete den Kampf gegen Karthago, genauer den ersten punischen Krieg, an dem er teilgenommen hatte, in seinem Bellum Poenicum. Er verfestigte die mythische Verankerung des Konflikts, indem er Roms Kampf gegen Karthago mit der Rache der verschmähten Dido verband. Ennius’ Annales entstanden nach dem zweiten punischen Krieg, an dem der Dichter selbst teilgenommen hatte. Sein Thema war die Geschichte des römischen Volkes von den Anfängen bis in die Gegenwart, das er sicher auch deshalb wählte, um als auswärtiger Nicht-Nobilis überhaupt Interesse und Gehör der politischen Klasse für sein literarisches Schaffen finden zu können. Den ersten punischen Krieg hat Ennius in der Nachfolge des Naevius nur kurz abgehandelt.78 „Im Mittelpunkt des Geschehens standen große Einzelne; ihre hervorragende Rolle wurde in der Tradition des Epos auch durch Reden und Aristien unterstrichen. … Neben einigen Königen und Camillus finden sich in den Überresten vor allem Figuren, die seit der endgültigen Konstituierung der Nobilität in den Samnitenkriegen zu prominenten exempla geworden sind; genannt seien hier nur Ap. Claudius Caecus (Consul I 307), M’. Curius Dentatus (Consul I 290), M. Livius Salinator (Consul 219) und natürlich Q. Fabius Maximus ‚Cunctator‘.“79 Ennius bezog die Königszeit mit ein und erzählte die Geschichte Roms ab urbe condita. Sein Epos konnte kanonisierende Wirkung entfalten, weil seine Annalen Schultext wurden.80 „Für das Geschichtsbild und die historische Orientierung der Römer bis
76 Siehe den Überblick von SUERBAUM zum historischen Epos in HLL 1 §§ 138ff.; weiterhin WALTER 2004, 258ff.; DERS. 2003, 259, sieht die allgemeine Bedeutung der Epen als eher gering an: „Um eine fama von Größe und Ruhm im Dienste des Gemeinwesens durch Unvergeßlichkeit im Gedächtnis späterer Generationen auf Dauer zu stellen, konnte die römische Kultur dabei lange Zeit die Dichtung entbehren, und diese spielte auch später – mit der schon erwähnten und eher gesamtstaatlich zu verstehenden markanten Ausnahme von Ennius – eine eher untergeordnete Rolle. Wichtiger waren Gegenstände und Bilder, die in alltägliche wie außeralltägliche soziale Praktiken eingebunden waren.“ Siehe auch GOLDBERG 1995. 77 VON ALBRECHT 1992, 66. 78 GOLDBERG 1995, 11f.: „… and book 7, in deference to Naevius, dealt but briefly with the First Punic War.“ Zum Aufbau der Annales WALTER 2004, 266ff., die Darstellung wurde, je näher sie zu Ennius’ eigener Zeit gelangte, immer breiter und spiegelte „die bekannte Zeitstruktur der mündlichen Überlieferung getreulich wider.“ (268). 79 FRH I, p. 42 (auch das nächste Zitat). Vgl. auch GOLDBERG 1995, 115: „The Annals was by its very nature full of references to distinguished Romans.“ 80 VON ALBRECHT 1992, 117; SCHANZ 1907, 126ff. – Offensichtlich bot zunächst das aristokratische Gastmahl den kommunikativen Anlaß und Ort des historischen Epos, wie RÜPKE 2000, 44ff., darlegt. – Zur kanonisierenden Wirkung WALTER 2004, 267ff. mit Literatur, das folgende Zitat ibd. 277.
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zum Ende der Republik waren die Annales von gar nicht zu überschätzendem Einfluß und gewiß am ehesten so etwas wie ein ‚fundierender Text‘.“ Vergils Aeneis, die Ennius als Schultext ablöste, schloß an diese Traditionslinie an. Sein Werk entstand während und nach den Bürgerkriegen am Ende der Republik. Allerdings spiegelt er die römische Geschichte lediglich in der mythischen Welt der Trojaflüchtlinge und im Kampf um Latium. Die reale Welt der Bürgerkriege der späten Republik scheint nur in den großen Prophezeiungen durch: Anchises zeigt seinem Sohn in der Unterwelt die pompa der Nachfahren (6, 756–892), darunter Pompeius und Caesar; in der Schildbeschreibung wird die Schlacht von Actium dargestellt (8, 625–731). Aber ebenso prophezeit Iuppiter den Römern im ersten Gesang der Aeneis ein „imperium sine fine“ (1, 279). Der Herrschaft Roms setzt der Göttervater kein Ende in Raum noch Zeit, auch nicht in der Generation von Cicero, Caesar und Octavian, der die Frieden verheißende Prophezeiung Iuppiters als Augustus realisierte: „die Pforten des Krieges, die grausigen / werden dicht verschlossen mit Riegeln aus Erz: des ruchlosen Wahnsinns / Dämon, rücklings gefesselt mit hundert ehernen Banden / hockt über grausen Waffen und knirscht mit blutigem Munde.“81
ALLEN GEHÖRT ALLES – MEDIEN EINES ALLGEMEIN GETEILTEN WISSENS UND DIE ‚VERÖFFENTLICHUNG‘ DER FAMILIALEN ERINNERUNG Es sind ambivalente Tendenzen bei der Verarbeitung von Geschichte festzuhalten. Die früheste Geschichte der Gründungsphase und die Anfänge der res publica wurden an und mit Orten erinnert, die für die Allgemeinheit geöffnet und reserviert waren. Die politischen Denkmäler gehörten den großen Einzelnen bzw. ihren Familien und sind etwa ab 300 v. Chr. zu datieren. Die erfolgreichen nobiles präsentierten sich und ihre Taten voller Stolz in den Schaltstellen und Zentren der res publica. Sie wollten keine private Erinnerung, sondern im Gegenteil im Lichte der Öffentlichkeit ihre Erfolge verewigt wissen. Dieser Wunsch war wohl so stark, daß an verschiedenen Stellen, vor allem auf dem Capitol, eine im wörtlichen Sinne dicht gedrängte Erinnerungslandschaft entstand, während gerade das Forum Romanum unter der strengen Aufsicht von Senat und populus Romanus stand und nicht zum beliebig auffüllbaren Erinnerungsort wurde. Adressat dieser Präsentation waren nicht nur die konkurrierenden Rivalen innerhalb der eigenen Klasse, sondern vor allem die cives Romani in ihrer Gesamtheit. Ihre gratia bildete den Maßstab für das eigene Renommee.82 Sie befanden
81 Die Prophezeiung Iuppiters Verg. Aen. 1, 254–296, die in der Übersetzung von GÖTTE zitierten Verse 293–296 lauten: „... dirae ferro et compagibus artis / claudentur Belli portae; Furor impius intus / saeva sedens super arma et centum vinctus aenis / post tergum nodis fremet horridus ore cruento.“ 82 Vgl. mit Bezug auf Wahlkampagnen YAKOBSON 1999, 63f.; 81–84.
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über die Vergabe der Ämter, für die der lateinische Begriff honores die entsprechende Doppelbedeutung signalisiert: Wer Prestige und Ansehen bei den Bürgern erlangte, erreichte auch politische Ämter. Dabei sind die Zirkel, aus denen die Politiker nachwuchsen, im wesentlichen auf eben diese politische Klasse beschränkt gewesen, deren Mitglieder an sich und ihre Familien mit ihren Taten erinnerten. Diese res gestae fanden über die verschiedenen vorgestellten Medien (Rituale wie die pompa funebris und der Triumph, Standbilder, Schauspiele, Münzen, Literatur) Eingang in das allgemeine Bewußtsein und das kollektive Gedächtnis des Gemeinwesens. In diesem gemeinsamen Wissen waren – ebenfalls allgemein geteilte – grundlegende Überzeugungen verwurzelt, die so zugleich bestätigt und verfestigt wurden. Die Aussagen blieben stets dieselben, es gibt kein ‚anders als‘, sondern angesichts der ständigen Erfolge des populus Romanus nur ein ‚Weiter so!‘.83
GESCHICHTSSCHREIBUNG Ein Nachkömmling in diesem Ensemble von historischen Informationsträgern ist die Geschichtsschreibung.84 Angesichts der großen Zahl konkurrierender und ebenfalls Geschichte vermittelnder Medien kann dies nicht sonderlich in Erstaunen versetzen. Geschichte gehörte zur Lebenswelt, zur politischen Kultur Roms, die ganz wesentlich eine funktionierende Erinnerungskultur war. Man lebte mit der lebendigen Geschichte. Wer sie nachlas, machte etwas dieser Kultur Fremdes: Cato würde den Vorwurf erheben, so jemand handele wie ein Grieche. Denn die Geschichtsschreibung kam in erster Linie aus Kontakten mit griechischer Kultur zustande. Zwei Beispiele, die beiden ersten Historiker Roms, Fabius und Cato, sollen kurz vorgestellt werden. Weshalb kam Geschichtsschreibung überhaupt in die römische Gesellschaft? Sie ist – viel stärker als die anderen vorgestellten Medien – auf einen kleinen, elitären Kreis beschränkt. Geschichtsschreibung ist ein Elitenphänomen, und daß die ersten Geschichtsschreiber – allen voran Fabius Pictor – sich in griechischer Spra83 Vgl. TIMPE 1996, 281f. — Daß die Römer nach vielen Schlachten, die oftmals äußerst verlustreich, ja bisweilen katastrophal waren, immer doch noch die letzte Schlacht gewannen und stets als Sieger heimkehrten, unterstreicht einmal mehr die Festigkeit und Verwurzelung der Wertvorstellungen von Unerschrockenheit vor Leid und Tod und der immer wieder einzulösenden Bestätigung des Erfolgs durch den Sieg über andere. Diese Überzeugungen waren eben nicht nur konstitutiv für den Charakter der politischen Klasse, sondern auch für den gesamten populus Romanus. – Zur frühen römischen Geschichtsschreibung s. vor allem die Beiträge von BECK, GOTTER, WALTER, TIMPE in EIGLER u.a. (Hgg.) 2003. Die Fragmente findet man jetzt in FRH I/II, s. dort auch die Einleitungen. S. WALTER 2004, 212ff. und weiterhin TIMPE 1972. 84 TIMPE 1972; 1996, 279 (Geschichtsschreibung sei eine späte und partikuläre Ausformung von Erinnerung.); 287ff.; HÖLSCHER 2001, 188; grundlegend und mit ausführlicher Literatur FRH I (2001) 17–55.
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che artikulierten und damit nach außen wandten, macht offensichtlich, daß die Geschichtsschreibung zunächst das Ziel verfolgte, die Römer bei den Griechen ‚vorzustellen‘ und das außenpolitische Handeln des Senats zu verteidigen.85 Insofern hatte Historiographie apologetischen Charakter und stellte zudem eine Antwort auf karthagofreundliche und zugleich romfeindliche Darstellungen aus griechischer Feder dar. Allerdings bildete bereits die früheste römische Geschichtsschreibung das aristokratische Ethos der Nobilität getreu ab und hatte damit auch eine Wirkung nach innen.86 Römische Geschichtsschreibung war auf diese Weise öffentliche und somit auch innenpolitische Tätigkeit.87 Als Geschichtsmedium vermittelte sie wie die anderen Medien die Werte und Maßstäbe römischen Handelns in exemplarischen Ereignissen und Handlungen, doch richtete sie sich noch einmal verstärkt an die Mitglieder der politischen Klasse. Mit der Verwendung der lateinischen Sprache seit dem älteren Cato war diese Grundtendenz noch verstärkt worden. Cato nahm eine italische Perspektive ein und stellte vor Augen, aus welchen Anfängen die maiores das Imperium geformt hatten. Dieses große Erbe wollte er neben den Einflüssen der griechischen Kultur bewußt machen. Die Themen seines politischen Wirkens hat Cato auch in sein Geschichtswerk Origines einfließen lassen: Die Bundesgenossen waren von den Vorfahren im Laufe der Eroberung Italiens viel besser behandelt worden, als dies zur Zeit Catos geschah; nur mit ihrer klugen und angemessenen Vorgehensweise hatten sie damals das Reich aufbauen und die fides der Unterworfenen gewinnen können. An diesen Erfolgsweg will Cato offensichtlich erinnern. Aber darüber hinaus muß es fraglich bleiben, „in welchem Ausmaß der Censorier auch in den Origines die Veränderungen in der römischen Oberschicht behandelt und als ‚moralisches‘ Problem thematisiert hat.“88 Der Anonymität des berühmten Selbstmordkommandos eines Militärtribuns – der ja am Ende auch noch als einziger überlebt hatte – stehen wohl viele namentliche Erwähnungen erfolgreicher Nobiles aus Catos eigener Zeit gegenüber.89 Cato selbst hat seine eigenen Reden in die Origines eingebaut. In diesen dürfte der strenge Censor dann auch mit starken Worten Mißstände gegeißelt und so auf eine ‚pädagogische‘ Wirkung nach innen gezielt haben: auf die Stützung des mos maiorum und die Aufdeckung der inneren Dekadenz, um dazu aufzurufen, die römischen Tugenden zu bewahren, die er in seinen Origines geschildert hat und mit denen der populus Romanus groß geworden war. Daß Cato Geschichtsschreibung als öffentliche Tätigkeit begriff, kennzeichnet seine eigene Äußerung:
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WALTER 2004, 243. BECK 2003. SCHOLZ 1980, 88. Zu Catos Origines WALTER 2004, 279ff.; Zitat: 241. Die Fragmente Fabius’ und Catos mit Einleitung, Übersetzung und Kommentar in FRH I; zu Cato siehe auch das Porträt von GEHRKE 2000 und weiterhin BLÖSEL 2000, 53–59. 89 FRH 3 F 4,7 mit dem Kommentar. S. zur Kontroverse über die Anonymität WALTER 2004, 290f., Cato dürfe wohl kaum durchgehend auf die Nennung von Namen verzichtet haben.
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MEDIEN DER ERINNERUNG „Auch den folgenden Satz des Marcus Cato, den er zu Beginn seiner Origines formulierte, habe ich stets für großartig und vortrefflich gehalten: ‚daß berühmte und bedeutende Personen für ihr privates Tun nicht weniger als für ihr öffentliches eine gute Bilanz vorweisen können sollten.‘“90
Die Deutungsmuster der römischen Geschichte waren in der Geschichtsschreibung letztlich dieselben wie in den anderen Medien der römischen Erinnerungskultur: Der unwiderstehliche Erfolg der res publica wurde gefeiert.91 Die römischen Tugenden wurden am konkreten Beispiel einzelner Personen, einer Familie (vor allem in der aufkommenden gentilizischen Geschichtsschreibung) oder in teilweise bewußt anonym-gestalteter Darstellung (Cato) vorgeführt. Ein wichtiges Element griechischen Ursprungs kam hinzu: der Dekadenztopos, der allerdings eher entgegengesetzt zu der sonst im öffentlichen Bereich praktizierten Selbstvergewisserung und -bestätigung einer stetigen Erfolgsgeschichte verlief. Feste Wendedaten wurden in der Historiographie ermittelt, an denen jeweils der Verfall der res publica eingesetzt habe.92 Aber eine Breitenwirkung in die anderen Medien geschichtlicher Aufarbeitung läßt sich nicht beobachten. Es hat mehr den Anschein, daß der Topos der Dekadenztheorie über Polybios und Poseidonios, also als typisches Merkmal hellenistischer Geschichtsschreibung, in Rom Eingang gefunden hat, jedoch (zunächst) auf das Gebiet der historiographischen Textgattung beschränkt blieb. Ihre Rezeption war – wie gesagt – auf einen relativ kleinen Kreis beschränkt und stellte den intellektuellen Gegenstand für das otium eines römischen Politikers dar. Ciceros Arbeit als Historiker verdeutlicht gut, wie wenig Bedeutung die Geschichtsschreibung eigentlich für Erinnerung hatte. Zwei Beispiele seien zu diesem Zweck im folgenden Abschnitt angeführt: zunächst ein prosopographisches Problem Ciceros und danach ein Blick auf Ciceros Kenntnisse über die Person Marcus Porcius Cato.
90 FRH 3 F 1,2: „Etenim M. Catonis illud quod in principio scripsit Originum suarum semper magnificum et praeclarum putavi, ‚clarorum hominum atque magnorum non minus otii quam negotii rationem exstare oportere‘.“ 91 TIMPE 1972, 958 (in Bezug auf Fabius): „Tenor, die römische Größe und Sieghaftigkeit zu betonen“. 92 Für Sallust ist die Zerstörung Karthagos Iug. 41 im Anschluß an Poseidonios (vgl. zu letzterem IAN KIDD, OCD3 1231–1233 s.v. Posidonius) der entscheidende Wendepunkt. Polybios (32,11) setzte einen Wendepunkt im Jahr 168 v. Chr. an, dies war auch für Cato ein einschneidendes Datum. Livius sieht in der Hellenisierung die Gefährdung für die römische Moral und nennt feste Daten: erstmals 195 v. Chr. (Liv. 34,4), dann 187 v. Chr. (Liv. 39,6). Differenzierte Untersuchungen bieten BRINGMANN 1977 und LIND 1979, jeweils mit Literatur.
4. CICEROS ARBEIT ALS ‚HISTORIKER‘ Ciceros Quellen Die Arbeiten von SAUER, SCHÜTZ und FLECK weisen für Cicero sowohl einen eindrucksvollen Reichtum von Faktenwissen als auch Vertrautheit mit vielen griechischen und römischen Historikern nach. Cicero selbst betont in seinem späten Werk De oratore häufig die Wichtigkeit historischer Kenntnisse, aus denen der Redner schöpfen kann.1 Um einen Blick auf Ciceros Arbeitsweise als Historiker werfen zu können, muß man ein historisches Problem Ciceros betrachten, das sich ihm im Jahr 45 v. Chr. stellte. Cicero verfolgte die Absicht, einen politikos syllogos in der Art des Dikaiarch zu verfassen und ihn in die Zeit des Lucius Mummius zu setzen, also in die Mitte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. Dabei wollte er den Inhalt dieses Gesprächs um die Mitglieder der damaligen Zehnmännerkommission gruppieren, die die Neuordnung Griechenlands vornehmen sollte. In einem Brief an Atticus vom 28. Februar 45 v. Chr. erwähnte Cicero erstmalig sein Vorhaben.2 Die Briefe der folgenden vierzehn Tage enthalten einige inhaltliche Details, die sich auf Einzelheiten zu den Mitgliedern der Kommission beziehen. Cicero nannte vor allem zwei Hilfsmittel, derer er sich bediente. Es handelte sich dabei um das Werk eines Scribonius Libo (SB 303; 305; 336) und Brutus’ Epitome des Fannius, die ihn allerdings mehr verwirrt, als daß sie ihm nützt (SB 316). Am 9. Juni 45 v. Chr. fragte Cicero nach der Epitome des Brutus aus Coelius Antipater (SB 313). Das Werk des Vennonius – Cicero vermißte es schmerzlich („moleste fero Vennoni historiam me non habere“) – ist mit in diese Reihe aufzunehmen (SB 239). Er nannte diese ‚Quellen‘ neben Polybios, dem er nicht alle nötigen Informationen entnehmen könne (SB 303), und den mündlichen Berichten von Nachkommen dieser Zehnmänner (SB 310). Außerdem gebrauchte er Atticus’ Exposé („elaboratum decem legatorum“), das dieser ihm über die Zehnmänner zustellte (SB
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SAUER 1909/1910, SCHÜTZ 1913; FLECK (1993). Vgl. de orat. 1,18; 159; 165; 201; 256; 2,136; 335; dazu LEEMANN-PINKSTER 1981, 40f.; vgl. orat. 120 und Brut. 161; 322. Vgl. auch FLECK 1993, 15ff.; STINGER 1993, 3ff.; 14f. (Überlegene Kenntnis von Recht und Geschichte markiert die höchste Entwicklungsstufe von Rhetorik.); ELVERS 1993, 22ff.; RECH 1936, 76f. Vgl. im folgenden MÜNZER 1914, 204ff.; ELVERS 1993, 42ff. Die Briefe zitiere ich nach der Ausgabe der Atticus-Briefe von SHACKLETON BAILEY (SB) 1966. Einschlägig sind hier nach seiner Zählung die Nummern 239 (= 12,3); 303 (= 13, 30); 305 (= 13,32); 310 (= 13,6); 311 (= 13,4); 313 (= 13,8); 316 (= 12, 5b); 336 (= 13,44). Siehe auch dort (S. 300f.) die Diskussion zur problematischen Chronologie der Briefe.
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311). Später erwähnte Cicero noch die Werke eines Cotta und eines Casca, die für uns praktisch ganz unbekannt sind (SB 336).3 Die Probleme kreisten zumeist um die genaue Chronologie der Amtsjahre dieser Zehnmänner.4 Es ist nicht nötig, dies hier im einzelnen zu verfolgen. Mit dem Blick auf Ciceros Quellen ist es allerdings überraschend, daß Cicero sich nur auf eine wirkliche Standardquelle zu seinem Thema berief: Polybios. Er begnügte sich ansonsten mit Auszügen aus anderen Historikern. So griff er nicht auf das umfassende Werk des Fannius (cos. 122 v. Chr.) zurück,5 sondern verlangte lediglich nach Brutus’ Auszug aus Fannius. Dasselbe Phänomen kann man für das Werk des Coelius Antipater konstatieren.6 Die übrigen Historiker, die Cicero anführte, sind praktisch unbekannt. Vennonius muß wahrscheinlich in dieselbe Generation wie Fannius gesetzt werden.7 Scribonius Libo, Arunculeius (?) Cotta sowie Servilius (?) Casca können nicht einmal positiv identifiziert werden.8 Daß Cicero nicht nach Fabius Pictor fragte, ist leicht nachvollziehbar, weil Fabius’ Werk die Mitte des 2. Jahrhunderts v. Chr. sicher nicht mehr umfaßte. Aber es standen ebensowenig die bekannten Historiker des zweiten Jahrhunderts v. Chr., Cato oder Calpurnius Piso, auf seinem Wunschzettel, den er an Atticus sandte. Die „Werke der großen Annalistik“9 von Cn. Gellius, Licinius Macer oder Valerius Antias wurden nicht erwähnt.10 Und es muß noch einmal betont werden, daß er lediglich Auszüge des Coelius Antipater bzw. des Fannius erbat. Als Hauptmerkmal der von Cicero benutzten Werke kann man offensichtlich deren gedrängte Kürze und somit praktische Handhabbarkeit hervorheben. Von Atticus’ Liber annalis weiß man recht sicher, daß es sich um eine Art Zeittafel handelte.11 Wenn nun Cicero gerade in Fragen der Amtsjahre des Tuditanus (cos. 129) über Atticus’ Buch hinaus das Werk des Libo heranzog (SB 303; 305), so liegt die Vermutung nahe, daß es sich auch bei Libo eher um ein chronikartiges Datengerüst handelte als um eine wirkliche Darstellung.
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SHACKLETON BAILEY ad loc. (S. 382): „reference here is obcsure“. Vgl. die ausführliche Darstellung bei FLECK 1993, 267ff. Siehe hierzu LEO 1913, 333f.; SCHANZ-HOSIUS 1927, 198f. (erster Punischer Krieg im achten Buch); VON ALBRECHT 1994, 305f. 6 Vgl. LEO 1913, 336ff.; SCHANZ-HOSIUS 1927, 200ff.; VON ALBRECHT 1994, 307f.; vgl. auch SHACKLETON BAILEY im Kommentar zu Nr. 313 (S. 191): Daß Cicero für seinen geplanten Dialog nach Antipater fragt, verwundert, da dieser in seiner Monographie nur den zweiten punischen Krieg behandelt hat. 7 Siehe LEO 1913, 331 („Annalen eines unbekannten Vennonius“); SCHANZ-HOSIUS 1927, 198 („nebelhaft“); FLECK 1993, 144. 8 Siehe den Kommentar von SHACKLETON BAILEY (S. 382) und weiterhin ELVERS 1993, 44f.; FLECK 1993, 276f. (Libo). 9 ELVERS 1993, 45. 10 Vgl. aber ihre Erwähnung in leg. 1,6f., teilweise auch in de. orat. 2,54ff. Siehe weiterhin zu den einzelnen Autoren und der Behauptung, Cicero habe diese kennen müssen, auch FLECK 1993, 91ff.; 97ff. (Pictor); 122ff. (Piso); 144f. (Gellius); 154ff. (Macer); 209ff. (Antias); WISEMAN 1979, 118; RAWSON 1985, 215. 11 ELVERS 1993, 45; SCHANZ-HOSIUS 1927, 329f.
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Auf der Basis der römischen Überlieferung (pontifikale Registratur) und der sozialen Autorität ihrer senatorischen Traditionsträger mußte sich dieses Formalprinzip nebeneinanderstehender Taten als Inhalt der Geschichte durchsetzen.12 Cicero dachte vermutlich in dieser Kategorie. Die Vorwürfe gegen und Ereignisse um Servius Sulpicius Galba Cicero äußerte in einem Brief, daß er unter anderem den genauen Zeitpunkt des Volkstribunats des Libo nicht kenne: „Wie ich sehe, ist Tubulus unter den Konsuln L. Metellus und Q. Maximus Praetor gewesen. Jetzt möchte ich wissen, wann P. Scaevola, der Pontifex Maximus, Volkstribun gewesen ist. Wahrscheinlich unter den nächsten, Caepio und Pompeius, denn Praetor war er unter L. Furius und Sex. Atilius. Gib mir also sein Tribunat und, wenn möglich, welches Verbrechens wegen Tubulus verurteilt worden ist. Und stelle doch bitte fest, ob L. Libo, der, welcher Ser. Galbas Bestrafung beantragte, unter Censorinus und Manilius oder unter T. Quinctius und M’. Acilius Volkstribun gewesen ist. Brutus’ Fanniusepitome macht mich nämlich irre.“13
Zweimal kam Cicero in Reden auf dieses Geschehen zu sprechen. Erstmals spielte er auf die Vorgänge im Jahre 70 v. Chr. in seiner Rede gegen Caecilius an, wobei er keine konkreten Namen nannte, sondern nur von den Feindschaften berichtete, die Cato für seine ehemaligen Provinzialen auf sich genommen habe.14 Aus der Information, Cato sei für die Spanier eingetreten, läßt sich der Hinweis auf Galba ableiten, da dieser während seiner Propraetur erpresserisch mit den Lusitanern umgegangen war.15 Catos konkrete Rolle in diesem Fall wurde von Cicero nicht benannt. Ebenso blieb er auch bei seiner Quelle ganz unbestimmt und sprach, wie es scheint, ‚vom Hörensagen‘ („accepimus“). Sieben Jahre später, im Jahr 63 v. Chr., findet sich wieder eine Anmerkung Ciceros. In seiner Verteidigungsrede für Murena wurde Cicero dieses Mal konkreter: Erstens benannte er Galba als den Beklagten und zweitens stellte er die Sache so dar, als sei Cato selbst der Ankläger gewesen. Auch hier nannte er keine spezifische Quelle („nam traditum est memoriae“).16
12 TIMPE 1988, 284f. 13 SB 316 (= Att. 12, 5b = 12,5,3 = 13,20 KASTEN). „Tubulum praetorem video L. Metello Q. Maximo consulibus. nunc velim P. Scaevola, pontifex maximus, quibus consulibus tribunus pl. equidem puto proximis, Caepione et Pompeio; praetor enim L. Furio Sex. Atilio. dabis igitur tribunatum et, si poteris, Tubulus quo crimine. et vide, quaeso, L. Libo, ille qui de Ser. Galba, Censorinone et Manilio an T. Quintio M'. Acilio consulibus tribunus pl. fuerit. conturbat enim me epitome Bruti Fanniana.“ (Übersetzung KASTEN). 14 Div. in Caec. 66: „M. Catonem illum Sapientem, clarissimum virum et prudentissimum, cum multis gravis inimicitias gessisse accepimus propter Hispanorum, apud quos consul fuerat, iniurias.“ – S. zu Sulpicius Galba und den Ereignissen von 149 v.Chr. MÜNZER 1931, 762f. 15 Zu Galba siehe BRISCOE in OCD 3, S. 1454 s.v. Sulpicius. 16 Mur. 59: „Quid? Ser. Galbam – nam traditum est memoriae – nonne proavo tuo, fortissimo atque florentissimo viro, M. Catoni, incumbenti ad eius perniciem populus Romanus eripuit?
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Zwei weitere Stellen sind anzuführen, die sich mit diesem Verfahren beschäftigen. Sie stammen nicht aus den Reden. Ausführlicher handelte Cicero darüber in seinem Werk De oratore aus dem Jahr 55 v. Chr.: Antonius berichtet hier von der Kritik, die P. Rutilius Rufus an Crassus übte. Dieser Rufus habe auch den Galba, den er noch gekannt habe, scharf kritisiert. Ein Detail des Verfahrens gegen Galba wird im folgenden angeführt: „... er habe bei der Untersuchung, die L. Scribonius gegen ihn anstellte, das Mitgefühl des Volkes erregt, als M. Cato, ein erbitterter und grimmiger Feind Galbas, vor dem römischen Volk eine scharfe, wirkungsvolle Rede gehalten hatte, die er in seiner ‚Urgeschichte‘ selbst veröffentlichte ...“.17
Galba habe sich aus der Affäre retten können, indem er Mitleid heischend seine Kinder vorgeführt habe. Erstmals taucht hier Scribonius als Ankläger auf; Cicero teilt ebenfalls mit, daß Cato eine scharfe Rede gegen Galba gehalten habe, die er aus Catos Werk Origines kenne. Außerdem kannte er die Verteidigungsstrategie Galbas und den Ausgang der Verhandlung. Cicero hatte also sein Wissen über den Galba-Prozeß mit Hilfe von historischer Lektüre – in diesem Falle Catos Origines – erweitert und präzisiert. Die Vermutung liegt nahe, daß Ciceros Cato-Lektüre noch recht frisch war, da er seine Quelle genau nennt.18 Schließlich erwähnte Cicero den Prozeß noch einmal in seinem Werk Brutus (89f.) aus dem Jahr 46 v. Chr.:19 Cicero erzählte hier inhaltlich noch detaillierter als in De oratore. Scribonius’ Untersuchung markierte er jetzt als direkt gegen Galbas Person gerichtete Maßnahme, die er wegen der massenhaften Hinrichtung und Versklavung der Lusitaner verdient habe. Catos Anklagerolle trat zurück, Cicero berichtete von seiner Unterstützung für Scribonius. Deutlicher betonte er nun Catos Alter („summa senectute“). Er konnte den Prozeß jetzt eindeutig an Catos Lebensende datieren.20 Über die Nähe zu Catos Lebensende schweigt Cicero in De oratore. Außerdem charakterisiert er die Redefähigkeit Galbas, dessen Reden ihm schriftlich vorlagen, und attestiert ihm in seinen Reden „vis“.
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Semper in hac civitate nimis magnis accusatorum opibus et populus universus et sapientes ac multum in posterum prospicientes iudices restiterunt.“ – Es handelte sich im Jahre 149 v.Chr. strenggenommen um eine tribunizische Rogation (rogatio Scribonia), einen Gerichtshof einzurichten und ein Verfahren gegen Galba zu eröffnen, s. MÜNZER 1931. Cic. de orat. 1,227f: „idemque Servium Galbam, quem hominem probe commeminisse se aiebat, pergraviter reprehendere solebat, quod is, L. Scribonio quaestionem in eum ferente, populi misericordiam concitasset, cum M. Cato, Galbae gravis atque acer inimicus, aspere apud populum Romanum et vehementer esset locutus, quam orationem in ‚Originibus‘ suis exposuit ...“ (Oben gegebene Übersetzung nach MERKLIN). Vgl. zur Stelle PADBERG 1933, 20f.; ELVERS 1993, 47. PADBERG 1933, 31ff., zeigt überzeugend, daß die Lektüre von Catos Werken wohl erst mit Ciceros Verbannung beginnen kann, da Cicero vorher nie Details über Catos Werk erwähnt. Zur Stelle vgl. PADBERG 1933, 35f.; ELVERS 1993, 47f. Cato schrieb diese Rede und nahm sie in seine Origines auf, „paucis antequam mortuus est diebus an mensibus“ (Brut. 89). Brut. 80 hatte Cicero auf Catos Alter von 85 Jahren verwiesen, indem er noch eine Rede gegen Galba „summa contentione“ gehalten und „sogar schriftlich hinterlassen“ habe („etiam orationem scriptam reliquit“). Zur Stelle PADBERG 1933, 35f.
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Vor dem Hintergrund dieser Entwicklungslinie von Ciceros Kenntnissen über den Versuch, Galba formell anzuklagen, kann man Ciceros Frage im anfangs erwähnten Brief nachvollziehen. Seine Frage über das genaue Amtsjahr des Scribonius Libo (Volkstribun 149 v. Chr.) bezog sich ja auf die zeitlichen Zusammenhänge des Galba-‚Prozesses‘. Denn es tritt das Problem hinzu, daß Galba privatus sein mußte, um angeklagt werden zu können. Die Angaben in Brutus’ Fanniusepitome schienen zwar insofern zu stimmen, daß dort das Tribunat des Scribonius Libo den Konsuln T. Quinctius und M’. Aquilius zugeordnet wird. Sie waren im Jahr 150 v. Chr. Consuln, Galba war 151 v. Chr. Praetor und hätte 150 v. Chr. angeklagt werden können. Aber als drittes Moment kam Catos Teilnahme an dem Prozeß unmittelbar vor seinem Ableben hinzu. Daß dieses Ereignis in das Jahr 149 v. Chr. fiel, wußte Cicero wiederum aus Atticus’ liber annalis.21 Daher möchte Cicero die Frage der Chronologie der Ereignisse – insbesondere das Amtsjahr des Scribonius Libo – noch einmal exakt klären und wandte sich deshalb an Atticus. Schlußfolgerungen: Historikerlektüre für spezielle Probleme und Fragen Wenn Cicero mit historischen Personen oder Ereignissen argumentiert, kann man nicht davon ausgehen, daß er über vertiefte und sichere Kenntnisse verfügt. Dies muß offensichtlich gerade für die Jahre bis 63 v. Chr. beachtet werden. Seine ‚ernsthafte‘ Beschäftigung mit der weiter entfernten Geschichte kann erst mit der Verbannung angesetzt werden. Eine weitere intensive Studienphase liegt in der zweiten Hälfte der fünfziger Jahre und wiederum unter der Diktatur Caesars. Diese Studien vollziehen sich somit auch viel stärker vor dem Hintergrund seiner beginnenden philosophischen und rhetorisch-theoretischen Arbeit, jedoch hat dies nichts mit seinen Tätigkeiten und Fähigkeiten als orator zu tun. Für die Phase der intensiven Rednertätigkeit vor allem als Anwalt kann man diese Studien praktisch ausschließen, da – wie gesagt – differenziertere Kenntnisse erst einsetzen, als Cicero bereits mehr als 20 Jahre lang Redner war, zudem seit 70 v. Chr. der erste Redner Roms. Die Schwierigkeiten Ciceros bei chronologischen Einzelfragen über Amtsjahre etc., die ja auch erst sehr spät (!) einsetzen, bilden mehr ein pedantisches Zahlenproblem als ein historisches Problem im Sinne einer polybianischpragmatischen Geschichtsauffassung. Interessant ist allerdings, daß Cicero trotz der Heranziehung mehrerer Werke nicht ohne weiteres in der Lage war, solche Probleme zu lösen. Aus dem ersten Abschnitt (Zehnergesandtschaft) konnte erkannt werden, daß Cicero sich durchgehend mit knappen, chronikartigen Darstellungen begnügte, die regelmäßig Auszüge aus größeren Werken darstellten.
21 So PADBERG 1933, 35.
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Ciceros Historiker-Lektüre ist also – mindestens in seiner ersten Lebenshälfte – eher als dürftig anzusehen.22 Historiker haben für Cicero weder eine hervorgehobene Autorität noch ein besonderes Sozialprestige. Aus der Geschichte braucht der Redner Cicero pointierte Stichwörter, eine Botschaft, die er an den Mann bringen will, aber keine ausführlichen Darstellungen von Ereignissen.23 Historische Einzelheiten und differenzierte Kenntnisse würden darüber hinaus Ciceros geformtes Geschichtsbild – und ebenfalls das seiner Zeitgenossen – in keiner Weise verändern.24 Der Redner, der die Geschichte heranzöge, um das geradlinige und kanonisierte Bild von den res gestae populi Romani in Richtung einer tatsächlichen Entwicklung abzuändern, widerspräche der Erwartung, die man an den orator heranträgt, und überstiege auch jeden Grad von kritischer Reflexionsmöglichkeit in Bezug auf die eigene Identität. In der Geschichtsschreibung mochte diese Kritik vielleicht möglich sein (Calpurnius Piso, Sallust), aber in der direkten politischen Debatte war sie nicht wirksam. Diese Beobachtung widerspricht natürlich den imposanten Historikerlisten, die Cicero in seinen Werken De oratore (2,51ff.) und De legibus (1,6ff.) bespricht. Cicero nennt in de legibus Fabius Pictor, Cato, Calpurnius Piso, Fannius und Vennonius (alle Genannten seien „kümmerliche („exiles“) Autoren“), Coelius Antipater („vires agrestes ... atque horridas“), Gellius, Clodius und Asellio („potius ad antiquorum languorem et inscitiam“). Nur wenig besser sei Macer; Sisenna sei der relativ beste, jedoch sei seine Geschichtsschreibung einfältig („puerile quiddam“). Besonders in De oratore werden die römischen Autoren den griechischen entgegengesetzt und als minderwertig beurteilt. Cicero beschäftigt sich bei diesen Autoren nicht mit deren historischer Analyse oder Methodik. Ihn interessiert einzig ihre rhetorische Verarbeitung, ihre sprachliche Brillanz, die bei den Römern natürlich nicht in dem Maße vorhanden ist, wie Cicero sie sich wünscht. Cicero äußert zu den einzelnen Autoren in erster Linie Stilkritiken. Da das historische Werk als ganzes nicht im Mittelpunkt steht, ist auch keine gesamte Lektüre notwendig. Einen Eindruck vom Stil eines Autors konnte Cicero auch mit der Lektüre von Passagen der Werke gewinnen. Eine Gesamtkenntnis dieser Werke ist jedenfalls durch die Nennung der Autoren nicht gesichert.25
22 ELVERS 1993, 25; 49ff.; VOGT 1935/1963, 7; 26f.; anders SCHOENBERGER 1910, 10ff.; 49f. (fleißiges Ausbeuten der Geschichtswerke seiner Zeitgenossen); RECH 1936, 40; WISEMAN 1979, 118 (Cicero kannte viele Werke, weil er als Redner große Geschichtskenntnisse benötigte); FLECK 1993, 279 (Ciceros Bemühung nach Einlösung seiner grundsätzlichen Forderung, über genaue Geschichtskenntnisse zu verfügen, führt auch zur Beschäftigung mit abgelegenen Werken.). 23 Vgl. VOGT 1935/1963, 29; HÖLKESKAMP 1996, 312ff. — Dabei sollte die Gegenthese nicht vergessen werden, daß dies für philosophische Schriften durchaus nicht gelten muß. 24 ELVERS 1993, 52; TIMPE 1988, 271, plädiert dafür, „unsere Konzeption von Geschichte und Geschichtsschreibung nicht selbstverständlich als normal anzusehen und daran die römische Entwicklung zu messen.“ 25 ELVERS 1993, 50f.
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Die Forderung nach einem wirklich guten Geschichtswerk könnte Cicero selbst leicht erfüllen, wie er es dem Atticus in den Mund legt.26 Demnach dürfe aber dieses Werk nur die jüngste Vergangenheit beinhalten, an der ihr Verfasser teilgehabt habe, obwohl Quintus die Meinung vertritt, die älteste Zeit müsse unbedingt einbezogen werden. Atticus stimmt Cicero zu mit der Begründung, daß die bedeutendsten Dinge in der eigenen Zeit stattfänden.27 An diese Betrachtungen schließt sich die Frage nach der Funktion des Erinnerten an. Das Panorama der eigenen Geschichte, die man sich anschauen oder anhören konnte, war beeindruckend. Der Tenor des Erfolgs ist unverkennbar. Die Problematisierung der gesellschaftlichen Funktion der Erinnerung sollte daher der weiterführende und entscheidende Wegweiser sein. Kann der Historiker einen Einblick gewinnen, wie eine Gesellschaft mit Hilfe von Erinnerung ein Bild von sich und für sich selbst aufbaut? Dieser Frage würde somit folgende These zugrunde liegen: Eine antike – oder allgemeiner formuliert: eine vormoderne – gesellschaftliche Gegenwart benötigt geradezu die historischen Präzedenzen.28 Damit berührt man aber ein Themen- und Problemfeld, das gerade den kulturwissenschaftlichen Diskurs über Erinnerung, kollektive Identität und Geschichte in letzter Zeit stark geprägt hat.
26 Cic. leg. 1,5. 27 Cic. leg. 1,8: „sunt enim maxumae res in hac memoria atque aetate nostra.“ Siehe VOGT 1935/1963, 27; LEEMANN 1963, 169. 28 Vgl. die grundsätzlichen Überlegungen von MEIER 1982, 246ff. und HÖLKESKAMP 2004, 93ff.
5. ERINNERUNG UND ‚KOLLEKTIVE IDENTITÄT‘ Nach der bisherigen Betrachtung der römischen politischen Kultur als einer mündlich geprägten Stadtstaatskultur einerseits und einer Erinnerungskultur andererseits bleibt die Frage, an welchem Punkt sich diese beiden Stränge verbinden und wie sie im Sinne der kollektiven Identität politisch wirksam werden konnten. Es stellt sich also die Frage nach der Art und Weise, wie in Rom eine „kollektive Identität“ aufgebaut und gepflegt wurde. Die Römer begegneten ihrer Geschichte bzw. ihren Geschichten alltäglich, sie lebten mit der Vergangenheit in ihren Häusern, in ihren Straßen und Plätzen, in ihren Ritualen, in ihrer Kommunikation. Gerade bei der alltäglichen politischen Debatte auf dem Forum Romanum im Zentrum Roms trafen die verschiedenen Elemente, die die Wirkungsmacht der exempla Romana in dieser Erinnerungskultur erst deutlich machen, aufeinander: Auf dem Forum standen nicht einfach steinerne Bildnisse irgendwelcher verstorbener Männer, sondern es waren maiores, Vorfahren, die in allem als Autorität dienten, wie man es von klein auf zuhause gelernt hatte. Die exempla in den Reden waren ebenfalls nicht einfach Namen, die ohne jede weitere Bedeutung erwähnt wurden, sondern es handelte sich gerade um diese Vorfahren. Und ihre Namen fielen nicht aus dem Munde irgendwelcher Phrasendrescher, sondern diese Redner waren wiederum die Erben und Nachkommen der zitierten exempla und zugleich die Mitglieder einer arrivierten, höchst erfolgreichen politischen Klasse. Performanz und Raum verwiesen aufeinander.1 Hier im politischen Zentrum Roms überlagerten sich die einzelnen Bausteine dieser Identität nicht einfach, sondern sie durchdrangen sich gegenseitig und bildeten ein „Netz von einander überlagernden Bedeutungszuschreibungen“:2 eine Kultur und Sozialisation, in der die Taten der Vorfahren vor allem im familiären Rahmen tradiert wurden und geradezu einen moralischen Imperativ bildeten; die urbanistische Strukturierung in speziell für die Gemeinschaft reservierte Plätze und Räume; die öffentliche visuelle Erfahrbarkeit und Präsenz der Ahnen in Form von Monumenten und bei Ritualen wie etwa der pompa funebris3 oder den Theateraufführungen, die die allgemein geteilte Kenntnis von res gestae sicherten. Diese wurden schließlich durch Redner hörbar als exempla angeführt, deren Präsentation in der Rede schon eine Inszenierung von Hierarchie und Autorität ge-
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SCHLÖGL 2004, 50; LANDWEHR 2003, 102; 106 (Reziprozität von Struktur und Handlung). MERGEL 2002, 592. Zur Häufigkeit der pompae funebres hält FLAIG 1995, 127, fest: „Leichenbegängnisse mit Prozession der Ahnenbilder (agmen imaginum) fanden in Rom unablässig statt, weil es in der Gesamtheit der vornehmen Familien im Laufe eines Jahres genügend Todesfälle gab.“
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genüber dem Volk zur Grundlage hatte und zugleich einen Wettkampf um Rang und Prestige innerhalb der politischen Klasse bedeutete.4 Vor diesem Hintergrund konnten die exempla ihre Wirkung entfalten. Sie kommunizierten das Vergangenheitswissen der Gemeinschaft und waren Illustration eines kollektiven Ethos, auf dem die soziale und politische Dominanz der Nobilität ruhte.5 Abstrakter formuliert kann man hier den „kulturhistorischen Blick“ auf Politik richten, unter der man „ein soziales Handeln, als ein Netz von Bedeutungen, Symbolen, Diskursen“ versteht, „in dem – oft widersprüchliche – Realitäten konstruiert werden.“ Die Reden und die Redner fügten sich in dieses Netz genauso ein, wie sie es auch bildeten. Sie waren nicht nur ‚Macher‘, Herren des Verfahrens und Befehlsgeber. Genauso waren sie auf eine wohlwollende Akzeptanz und Resonanz angewiesen. Im kommunikativen Modus des ganzen Gemeinwesens vollzog sich die „Produktion von Sinn und Identität“.6 Unter diesen mentalen Bedingungen nahmen die römischen Redner wie etwa der berühmteste unter ihnen, Marcus Tullius Cicero, vor den Römern Bezug zur römischen Geschichte in Form von exempla. An seinen Reden soll daher im folgenden die Verargumentierung der römischen Geschichte untersucht werden. Mag Cicero auch kein wirkliches politisches Schwergewicht gewesen sein,7 er war als Politiker ‚mittendrin‘. Abgesehen von Tagespolitik, Prozeßtaktik, Rhetorik, Details aus Ciceros Leben und Persönlichkeit etc. kann das Corpus der ciceronischen Reden Einblick gewähren in den strategischen Umgang mit dem geistigen republikanischen Erinnerungshaushalt.
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Vgl. HÖLKESKAMP 1995, 22; 2001, 122–125; GEHRKE 1996, 386 (Rhetorik ist selber ein Medium der Erinnerungspflege gewesen und hat als solches immer mehr dominiert.) – MORSTEIN-MARX 2004, 286: „The contio served better as a communal arena in which the hierarchies both within the political élite and the Commonwealth as a whole could be established, perpetuated, and validated ...“. Vgl. auch MERGEL 2002, 592 (mit Überlegungen zur Situierung einer Bismarck-Rede im politisch-kulturgeschichtlichen Ansatz). Vgl. WALTER 2003, 257. MERGEL 2002, 605; LANDWEHR 2003, 72 mit Anm. 6. Wie bei allen Werturteilen steht man auch hier vor einem Problem: Die Urteile über Cicero im einzelnen aufzuführen, würde den Rahmen sprengen. MEIERs (1968, 111) Diktum, daß Cicero „kraß gesagt ... kein Politiker“ war, ist von HABICHT 1990 eine Gegenposition entgegengesetzt worden. Vgl. HABICHT 1990, 9–17 und passim und die positive Einschätzung hierzu von BRINGMANN (HZ 243, 1992, 155f.).
DRITTER TEIL VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE: DIE EXEMPLA ROMANA IM POLITISCHEN DISKURS
1. EXEMPLA IN THEORIE UND STATISTISCHEN BEFUNDEN Der Titel der Untersuchung legt von vornherein das Hauptaugenmerk auf die „verargumentierte Geschichte“. Damit steht die These im Raum, daß in einer traditionalen Gesellschaft wie der römischen die Geschichte ein verbindendes Element ist, das in vielen Bereichen des gemeinschaftlichen, familiären wie auch individuellen Lebens maßgeblich ist. Für die Untersuchung der öffentlichen politischen Kultur liegt somit ein Schwerpunkt auf den exempla.
EXEMPLA IN DER THEORIE Beispiele gehören zur téchnē rhētorikḗ, und ihre Präsentation wie auch ihre Handhabung wurden ins Lehrprogramm eingebaut.1 Die Verwendung von Vergleichen – seien sie fiktiv oder historisch – war ein typisches Element in Reden. Es handelt sich dabei in der Regel um eine Untergruppe der similitudo bzw. des comparabile, das in der rhetorischen Theorie eine bedeutende Rolle spielte.2 Dem historischen exemplum wurde die größte Beweiskraft zugesprochen, da seine auctoritas als die höchste angesehen wurde. Mit dem Begriff auctoritas weist das römische Ver1
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Zu den ältesten theoretischen Vorschriften gehört die einschlägige Passage in Aristoteles’ Rhetorik: Aristot. Rhet. 1356a 34 – 1356b 11, dazu KLEIN 1996, 61f. Vgl. generell aber auch ALEWELL 1913, 5ff.; KORNHARDT 1936, 62ff.; LITCHFIELD 1914, 8; LEEMANN 1963, 40; DAXELMÜLLER 1984, 627; bes. 633ff.; DAVID 1980, 68ff.; ELVERS 1993, 20ff.; LUMPE 1966, 1229ff., bes. 1235ff. (für Rom); MOOS 1996, IXff., 48ff.; PRICE 1982; RIEGER 1991, 23ff.; SCHOENBERGER 1910, 5ff.; LIND 1979, 11f.; STINGER 1993, 1ff.; HÖLKESKAMP 1987, 208; 1995, 45ff.; 1996, 312ff.; KLEIN 1996, 60ff.; OPPERMANN 2000, 10ff.; WALTER 2004, 51ff. Vgl. oben S. 67ff. Weiterhin MOOS 1996, 50ff.; STINGER 1993, 8f. Die Rhetorik an Herennius definiert 4,62: „exemplum est alicuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio.“ Vgl. auch besonders Ciceros Jugendschrift De inventione 1,49: „Comparabile autem est, quod in rebus diversis similem aliquam rationem continet. eius partes sunt tres: imago, conlatio, exemplum. imago est oratio demonstrans corporum aut naturarum similitudinem. conlatio est oratio rem cum re ex similitudine conferens. exemplum est, quod rem auctoritate aut casu alicuius hominis aut negotii confirmat aut infirmat. horum exempla et descriptiones in praeceptis elocutionis cognoscentur.“ Diese frühe Schrift Ciceros dürfte gerade für den Blick auf Ciceros rhetorische Anfänge aufschlußreicher sein als sein ‚Alterswerk‘ De oratore, in dem er seine ausgereifte Theorie des orator perfectus ausführlich darlegt; vgl. ELVERS 1993, 100. ROBINSON 1987, 6, hebt hervor, daß Cicero durch die Reihenfolge der Worte („hominis aut negotii“) in inv. 1,49 deutlich signalisiert, daß exempla in erster Linie mit Personen verbunden sind und die Erinnerung an Taten dahinter rangiert, ebenso STEMMLER 2000, 152f.; SCHOENBERGER 1910, 8f.; LEEMANN 1963, 40; weitere Zitate zum exemplum bei DAVID 1980, 68ff.
BEGRIFFLICHE EINGRENZUNG • STATISTISCHE BEFUNDE
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ständnis des Beispiels einen deutlichen Unterschied zum griechischen Exemplumbegriff auf. Denn hier wird ein genuin römischer Begriff und mit ihm das römische Spezificum einer stets hierarchischen Kommunikation eingeführt.3 Das exemplum soll die eigene Ansicht stützen und die Meinung der Gegenpartei widerlegen.4 Im römischen Bereich stammen – wie vorgestellt – die frühesten überlieferten Äußerungen aus der Rhetorik an Herennius und aus Ciceros Jugendschrift De inventione. Spätere Äußerungen sind vom älteren Cicero (etwa part. 40) oder natürlich in der Institutio oratoria Quintilians zu finden. Wenn man die wesentlichen Aspekte des exemplum, die die (römischen) Lehrschriften vermitteln, zusammenfaßt, kann man die folgenden Hauptmerkmale festhalten: • Das exemplum ist besonders glaubwürdig und daher besonders beweiskräftig (fidem afferre). Das Beispiel eines Menschen ist dem einer Handlung vorzuziehen, man nennt eher einen Namen, als daß man Handlungen beschreibt. Das exemplum wird also gemäß der Theorie zu den Zeichen (signa) und Beweisen (argumenta) gerechnet und somit als Bestandteil der persuasiven Beweisführung (argumentatio) angesehen.5 • Die alten historischen Beispiele stehen an der Spitze. Ihre historisch für wahr gehaltene Realität (im Gegensatz zum hypothetischen Gedankenspiel) macht ihre Wirkung aus. Die Historizität des tatsächlich Geschehenen (bzw. der Glaube daran) implizieren die Verifizierung und potentielle Wiederholbarkeit, was die besondere Stärke des exemplum ausmacht.6 Es hat die Funktion eines Belegs.7 • Das historische Beispiel verfügt über auctoritas, gleichzeitig bereitet es größte Freude (summa delectatio), es zu hören. Das Ziel seines Einsatzes ist also auf verschiedenen Ebenen ein psychologischer Affekt.8 • Dies setzt voraus, daß den Hörern ein exemplum vertraut und bekannt sein muß. Es muß entweder in einem Analogieverhältnis zum Thema stehen, das der Adressat in seiner Absicht – dieser Absichtscharakter ist dem Benutzer zu unterstellen – „richtig“ verstehen können muß. Dazu ist es ratsam, zeitnahe Exempel zu wählen.9
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STEMMLER 2000, 152f. FUHRMANN 1973, 451. DAXELMÜLLER 1984, 636. Ein Problem kann natürlich die unmittelbare Vergleichbarkeit von historischer Situation und Gegenwartssituation darstellen. Falls die Phänomene nicht vergleichbar sind, müssen – so der ‚Ausweg‘ bei Aristoteles – fiktive Beispiele gebildet werden: Aristot. Rhet. 2,20,7f. (1394a). Siehe STEMMLER 2000, 154 mit Anm. 38. Hierzu Rhet. ad Her. 4,2: Etenim, quod admonuerit et leviter fecerit praeceptio, exemplo sicut testimonio, conprobaretur … ipsa auctoritas antiquorum non cum res probabiliores tum hominum studia ad imitandum alacriora reddit? Cic. de orat. 3,205: maxime movent similitudo et exemplum; KLEIN 1996, 63; STEMMLER 2000, 150ff. OPPERMANN 2000, 14, mit Verweis auf die einschlägigen Passagen Anaximen. Rhet. Alex. 32,3 = Aristot. rhet. ad Alex. 1439a.
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Die exempla sind ein Werkzeug des Redners. Sie werden von ihm vor allem wegen ihres Effekts auf die Zuhörer hin gewählt.10 Aber die Wahl des historischen exemplum muß bestimmte Kategorien erfüllen: Wahrhaftigkeit (zumindest keine offensichtlichen Unwahrheiten) und Unwiderlegbarkeit, Angemessenheit beider Vergleichspunkte und Nachahmungsmöglichkeit, die gegeben sein muß.11 Cicero unterscheidet sich bei seinem Verständnis von exemplum von Aristoteles und Quintilian dahingehend, daß er nur die historischen Beispiele akzeptiert und die selbsterfundenen nicht gelten läßt.12
Was ist aber eigentlich ein exemplum? HILDEGARD KORNHARD hat den Begriff etymologisch erläutert. Das Wort besteht aus der Präposition ex und dem Verbalstamm em- „nehmen“ und dem Suffix lo-, das Mittel oder Werkzeuge bezeichne. „Exemplum ist also eine Sache, deren wesentliche Eigentümlichkeit das ‚Herausgenommenwerden‘ ist.“13 Jemand nimmt etwas aus einer anderen Sache heraus – er trennt es aus seinem ursprünglichen Zusammenhang – und gebraucht es dann in einem anderen Umfeld als ein Instrument zur Überzeugung. Genauere Aussagen sind über die etymologische Herleitung nicht zu treffen. Grund und Zweck des Herausnehmens bleiben offen, ebenso die mentalen Voraussetzungen, die einem exemplum Wirkung und Funktion verleihen. Mit Sicherheit ist auch im Herausragen (eximius), in der qualitativen Besonderheit des Ausgewählten, ein weiterer Hauptaspekt zu sehen, was man über KORNHARDT hinaus auch betonen sollte. Inhaltlich scheint das exemplum keinen festgelegten Kategorien unterworfen zu sein. Wenn man mit KORNHARDT formulieren möchte, so könnte man als exemplum ansehen, was aus der Vergangenheit zum Zwecke gegenwärtiger Überzeugungsarbeit eines Redners herausgenommen wird. Dies könnte einen Namen und somit eine Person, ein historisches Stichwort wie eine Schlacht, einen Sieg oder eine Niederlage beinhalten. Es könnte auch nur ein Ausspruch, ein dictum,14 zitiert und als exemplum hingestellt werden, ebenso eine charakterliche Eigenschaft, die jemandem zugeschrieben wird oder eine Begebenheit aus dem Leben einer 10 STEMMLER 2000, 155 spricht vom „konnotativen Zugewinn“, daß das exemplum eine „nicht rationale Dimension“ habe, die einen „diffusen, affektiven Bedeutungshorizont“ eröffne. 11 Rhet. ad Her. 2,46: „exemplum vitiosum est, si aut falsum est, ut reprehendatur, aut improbum, ut non sit imitandum, aut maius aut minus, quam res postulat.“ Vgl. STEMMLER 2000, 168f. 12 Vgl. Cic. top. 45: „quae commemoratio exemplorum valuit eaque vos in respondendo uti multum soletis. Ficta etiam exempla similitudinis habent vim; sed ea oratoria magis sunt quam vestra; quamquam uti etiam vos soletis …“; vgl. OPPERMANN 2000, 15. 13 KORNHARDT 1936, 1, die im folgenden sprachliche Belege sammelt, die in das Wortfeld von „Probe, Kostprobe, Warenprobe“ und zu dem Zwischenergebnis führen: „Die bei diesen Bedeutungen auftretenden Begleitwörter passen im großen und ganzen zur Etymologie und zur Grundsituation.“ (ebd., 9). 14 Rhet. ad Her. 4,62: „Exemplum est alicuius facti aut dicti praeteriti cum certi auctoris nomine propositio.“ Vgl. de orat. 2, 271.
BEGRIFFLICHE EINGRENZUNG • STATISTISCHE BEFUNDE
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Person der Vergangenheit. Ein Schriftsteller und sein Werk können angeführt werden, mythische Figuren, Fabeln usw. Die exempla sollen im folgenden vor dieser lockeren begrifflichen Eingrenzung her betrachtet werden, allerdings auf römische Beispiele begrenzt sein. Eine solche Eingrenzung des exemplum-Begriffs15 eröffnet die Möglichkeit, Plätze, Texte, Geschichten, Handlungen, Rituale und Reden zu ihrer Verbindung mit exempla und ihrer Bedeutung für exempla zu befragen. Es eröffnen sich sogleich weitere und neue Fragen wie etwa die nach dem Horizont der ‚ausgeweideten‘ Vergangenheit. Die Art der Verarbeitung, die gedankliche Verbindung von Vergangenheit und Gegenwart bleiben zu untersuchen. Der Grund für die Annahme der Autorität sowie für die Frage nach dem großen Vergnügen, das exempla laut der Rhetoriklehre erzeugen, müssen erforscht werden. Weiterhin sind die exempla nicht allein für sich wirksam. Sie brauchen den Hintergrund und das Umfeld einer allgemein geteilten Kenntnis, eines allgemein verbreiteten Verständnisses von Geschichte, das Reaktionen – wie die Theorie zum exemplum sie ja aufzählt – berechenbar macht. Die Bedeutung und Wirkung der exempla liegt nicht allein in ihnen selbst, sondern sie gewinnen in dem Kontext, in den sie hineingesetzt werden, an Bedeutung. Diese Verbindung zwischen den exempla mit ihren Kontexten aufzuhellen, muß Ziel einer Untersuchung von exempla in einer Erinnerungskultur sein. Alte oder neue Beispiele – Was soll man bevorzugen? Ciceros ausführliche Überlegungen zum exemplum begegnen in einer der VerresReden, die nicht vor Gericht gehalten, sondern lediglich in Buchform ediert worden sind. Er spricht die Geschworenen unmittelbar an und reflektiert über den Wert seiner Ausführungen und deren Grundlagen: „Und doch, was sind das für Beispiele vieler? Denn wenn sich bei einer so wichtigen Verhandlung, bei einem schwer belastenden Vorwurf der Verteidiger anschickt zu behaupten, man habe etwas schon immer getan, dann erwarten die Zuhörer Beispiele aus früher Zeit, aus Aufzeichnungen und Schriftstücken von hohem Ansehen und hohem Alter. Denn dergleichen hat im allgemeinen für den Beweis die größte Kraft und für den Zuhörer den meisten Reiz. Willst du mir Leute wie Africanus und Cato und Laelius nennen und behaupten, sie hätten dasselbe getan? Die Sache würde mir zwar nicht gefallen, doch dem Ansehen der Personen könnte ich nichts anhaben. Oder, wenn du diese nicht nennen kannst, wirst du dich auf Leute der jüngeren Zeit berufen, auf Q. Catulus den Vater, C. Marius, Q. Scaevola, M. Scaurus und Q. Metellus? Sie alle haben Provinzen verwaltet und ließen sich Getreide für ihre Vorratskammer liefern. Groß ist 15 Vgl. CHAPLIN 2000, 3: Sie untersucht die exempla bei Livius in ähnlicher Weise: „Once we understand an exemplum as anything from the past that serves as a guide to conduct within the text …“. – Die Konzentration auf römische Beispiele darf nicht den Befund verdecken, daß griechische Beispiele in den Reden praktisch nicht vorkommen.
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE ihr Ansehen, so groß, daß es auch den Verdacht einer Missetat zu ersticken vermag. Du aber findest nicht einmal unter den Leuten der jüngeren Zeit einen Vorgänger für diese Art von Schätzpreis. Wohin verweisest du mich also, oder welche Beispiele hältst du mir vor? Du führst mich fort von Männern, die einst den Staat verwalteten, als die Sitten die besten waren und der gute Ruf für wichtig galt und streng Gericht gehalten wurde, führst mich zur gegenwärtigen Willkür und Zügellosigkeit und suchst bei denen Beispiele für deine Verteidigung, an denen das römische Volk ein abschreckendes Beispiel aufstellen zu müssen glaubt?...Ich will nicht erst umständlich Ausschau halten, nicht draußen auf die Suche gehen. Ich habe mit dir die ersten Männer unserer Bürgerschaft zu Richtern, den P. Servilius und Q. Catulus. Sie genießen ein so hohes Ansehen und haben so bedeutende Taten vollbracht, daß man sie den erlauchten Männern von einst beizählen darf, über die ich soeben sprach.“16
Die wesentlichen Grundzüge von Ciceros Überlegungen lauten: Die Zuhörer erwarten den Beweis mit Hilfe von exempla. Die exempla vetera sind nach diesen Aussagen die bedeutsamsten (plena dignitatis, plena antiquitatis). Sie sind beweiskräftig und bringen dem Hörer Genuß.17 Falls aber alte exempla nicht zur 16 Übersetzung FUHRMANN zu Verr. 2,3,209ff.: „Tametsi quae ista sunt exempla multorum? Nam cum in causa tanta, cum in crimine maximo dici a defensore coeptum est factitatum esse aliquid, exspectant ii qui audiunt exempla ex vetere memoria, ex monumentis ac litteris, plena dignitatis, plena antiquitatis; haec enim plurimum solent et auctoritatis habere ad probandum et iucunditatis ad audiendum. Africanos mihi et Catones et Laelios commemorabis et eos fecisse idem dices? Quamvis res mihi non placeat, tamen contra hominum auctoritatem pugnare non potero. An, cum eos non poteris, proferes hos recentis, Q. Catulum patrem, C. Marium, Q. Scaevolam, M. Scaurum, Q. Metellum? qui omnes provincias habuerunt et frumentum cellae nomine imperaverunt. Magna est hominum auctoritas, et tanta ut etiam delicti suspicionem tegere possit. Non habes ne ex his quidem hominibus qui nuper fuerunt ullum auctorem istius aestimationis. Quo me igitur aut ad quae exempla revocas? Ab illis hominibus, qui tum versati sunt in re publica cum et optimi mores erant et hominum existimatio gravis habebatur et iudicia severa fiebant, ad hanc hominum libidinem ac licentiam me abducis, et, in quos aliquid exempli populus Romanus statui putat oportere, ab iis tu defensionis exempla quaeris?...Non fugio ne hos quidem mores, dum modo ex his ea quae probat populus Romanus exempla, non ea quae condemnat sequamur. Non circumspiciam, non quaeram foris: habeo iudices tecum principes civitatis, P. Servilium et Q. Catulum, qui tanta auctoritate sunt, tantis rebus gestis, ut in illo antiquissimorum clarissimorumque hominum, de quibus antea dixi, numero reponantur.“ 17 Vgl. zum bevorzugten hohen Alter der exempla Cic. inv. 1,49; part. 96; or. 120 (Cicero spricht ebenfalls von der Freude (delectatio) der Zuhörer, wenn der Redner alte exempla anführt / Commemoratio autem antiquitatis exemplorumque prolatio summa cum delectatione et auctoritatem orationi affert et fidem.) weiterhin 169; Caecin. 80: „Cum exemplis uterer multis ex omni memoria antiquitatis a verbo et ab scripto plurimis saepe in rebus ius et aequi bonique rationem esse seiunctam, semperque id valuisse plurimum quod in se auctoritatis habuisset aequitatisque plurimum, consolatus est me et ostendit in hac ipsa causa nihil esse quod laborarem; nam verba ipsa sponsionis facere mecum, si vellem diligenter attendere ...“ / „Ich berief mich auf zahlreiche Beispiele aus jeglicher Überlieferung der Vorzeit: das Recht und die Grundsätze des billigen Anstandes wichen in sehr vielen Angelegenheiten häufig vom Wortlaut und vom geschriebenen Buchstaben ab, und stets habe das am meisten gegolten, auf dessen Seite das meiste Ansehen und ein Höchstmaß an Gerechtigkeit stand. Da beruhigte er mich und legte dar, daß ich gerade in diesem Falle gänzlich unbesorgt sein könne; denn
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Verfügung stehen („cum eos non [proferre] poteris“), kann der Redner jüngere, ‚frische‘ Beispiele („hos recentes“) anführen. Diese rangieren allerdings hinter den alten Beispielen. Die altehrwürdige Vergangenheit wird dadurch um so bedeutsamer und moralisch besser, daß Cicero von den damaligen „besten Zeiten“ der res publica spricht und sie „der gegenwärtigen Willkür und Zügellosigkeit“ entgegenhält, die der Prozeßgegner offensichtlich angeführt hat, um seine eigenen Handlungen nicht als Ausnahmeerscheinung, sondern als Normalfall, als einen unter vielen zu kennzeichnen. Damit bestätigt Cicero aber zugleich die hohe Autorität der alten Beispiele. Im folgenden argumentiert er gegen Verres’ Verhalten allerdings gerade nicht mit alten, ehrwürdigen und beweiskräftigen exempla, die er selbst angemahnt hatte, sondern wählt gegen Verres’ Untaten die recentia exempla Q. Catulus und P. Servilius, natürlich um Verres zu zeigen, daß auch in der Gegenwart gute Vorbilder vorhanden sind. Diese Männer haben Taten vollbracht, die es rechtfertigten, sie als exempla recentia anzuführen bzw. den alten „beizuzählen“.
DER BLICK AUFS GANZE – STATISTISCHE BEFUNDE ZU DEN EXEMPLA ROMANA Zahlen – Daten – Fakten Eine Tabelle (Anhang III), die die exempla in Ciceros Reden zusammenstellt, gibt einen Eindruck von der Fülle historischer Bezüge. Insgesamt wurden für die 64 (darunter auch fragmentarischen) Reden 1431 exempla bzw. historische Bezüge gezählt.18 Diese Tabelle zeigt einen stufenartigen Verlauf, was bedeutet, daß Cicero zum einem einen festen Pool recht weniger exempla von Anfang bis Ende des rednerischen Oeuvres benutzt und zum anderen in seine Reden immer wieder andere und neue Beispiele aufnimmt. wenn ich es genau nehmen wolle, dann stehe gerade der Wortlaut des Prozeß-Vertrages auf meiner Seite ...“ (Übersetzung FUHRMANN). Siehe auch Arch. 14f. (Literatur bewahrte Erinnerung an Taten der Vorzeit.). Vgl. SCHOENBERGER 1910, 31; ROBINSON 1987, 5ff.; VOGT 1935/1963, 10f. („Den ehrwürdigsten Namen aber besitzen die großen Alten, die Muster der Unbestechlichkeit, Mäßigung und Rechtschaffenheit.“); RECH 1936, 14 (Wert der antiquitas). 18 Diese Tabelle kann aus drucktechnischen Gründen nicht in Papierform beigegeben werden. Der Ausdruck mißt in der Länge 1,15 m und in der Breite 0,75 m, wobei die Schriftgröße mit 8 Punkt gerade noch Lesbarkeit zuläßt. Ein Umbruch ins DIN A 4-Format hätte gerade den stufenartigen Verlauf nicht wiedergeben können. Daher wurde beschlossen, die Tabellenanhänge als Dateien auf der beiliegenden CD-ROM zur Verfügung zu stellen, um wenigstens einen Eindruck davon zu vermitteln.
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Was man der gerade zitierten Stelle aus den Verres-Reden ohne weiteres entnehmen kann, ist die sachliche Differenzierung, die Cicero zwischen exempla vetera und exempla recentia vornimmt.19 Cicero unterscheidet zwischen alten und jungen Beispielen und bewertet die alten exempla als würdevoller und gewichtiger. Blickt man auf die Gesamtheit seiner römisch-historischen Bezüge (exempla Romana), kann man in der Praxis einen anderen empirischen Befund festhalten, als es die oben zitierten Aussagen vermuten und erwarten lassen: In der Hauptsache wurden eben nicht die alten, sondern überwiegend die neueren exempla angeführt, die den meisten seiner Zeitgenossen noch in lebendiger Erinnerung gewesen sein dürften. Anhang I ‚Exempla Romana in chronologischer Reihenfolge‘ verdeutlicht dies. Insgesamt sind hier 374 exempla aufgeführt. Wenn man – mit den heute gängigen Epochenjahren als Hilfskonstruktion – einzelne Bereiche abtrennt, kommt man zu folgender Verteilung. Cicero wählt nur wenige Beispiele aus der Anfangsphase der Republik, bis 387 v. Chr. (Galliersturm, Camilli) sind es 31; für die angeblich so wichtigen und gewichtigen alten exempla der Republik (Ende Königszeit bis 264 v. Chr.) insgesamt 46. Bis zum Jahr 133 v. Chr. sind es insgesamt 141. Für die Phase der Königszeit können sieben Beispiele angeführt werden, 88 exempla betreffen die Zeit 264-133 v. Chr. Für die Zeit ab 133 v. Chr. sind 233 Beispiele aufzuführen. Macht man noch einmal einen Schnitt im Jahr 100 v. Chr., so verlagert sich der Schwerpunkt noch einmal etwas auf die eigene Gegenwart hin, da für den Zeitraum ab dem Jahr 100 bis 44 v. Chr. 170 exempla zu zählen sind, was eine eher mäßige Steigerung darstellt. Die exempla stammen zu ca. 60 Prozent aus Ciceros eigener und der vorhergehenden Generation. Der davorliegende, gut viermal so lange Zeitraum20 bis 133 v. Chr. weist also eine viel geringere exempla-Dichte auf.21 Cicero kann also anscheinend vornehmlich jüngere exempla anführen, ohne auf argumentatorischen Nutzen verzichten zu müssen, auch wenn er andererseits in seinen Ausführungen über die exempla die auctoritas der alten Beispiele unterstrichen hat. Ordnet man die exempla nach der Häufigkeit ihrer Nennung (Anhang II) und macht bei zehn Erwähnungen einen Schnitt, so beobachtet man eine ‚Spitzengruppe‘ von 24 exempla, die besonders häufig vorkommen. Auch hier liegt ein Schwerpunkt auf exempla des kommunikativen Gedächtnisses. Diese häufig genannten exempla werden insgesamt 580 mal erwähnt, eine verhältnismäßig kleine Gruppe von Beispielen besetzt somit gut über ein Drittel der Gesamtnennungen (1431, s. Anhang III). Den mittleren Bereich von vier bis neun Nennungen decken 19 Vgl. SCHOENBERGER 1910, 31f.; ROBINSON 1987, 10. 20 Fixpunkt ist dabei etwa die Gründung der Republik, nähme man die Königszeit hinzu, wäre die Differenz noch größer. 21 100 – 44 v. Chr. (also 56 Jahre) mit 170 exempla würden arithmetisch hochgerechnet ca. 255 Beispiele für die Zeit 133–43 v. Chr. entsprechen, da ist die Statistik mit 233 recht nahe dran.
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65 Beispiele mit insgesamt 381 Nennungen ab. Sehr häufig werden Beispiele nur selten, d.h. drei- bis einmal, erwähnt, in diese Gruppe fallen insgesamt 304 Beispiele mit insgesamt 471 Nennungen. Dabei ist typisch, daß Cicero in der Regel nur den Namen einer Person nennt – oft nur das nomen gentile oder das cognomen – und davon ausgeht, daß dieser Namensteil erstens bekannt ist und zweitens eine Wirkung erzeugt. Die Namen stehen meistens für militärische Leistungen oder für eine vorbildliche Amtsführung wie zum Beispiel bei der Verwaltung einer Provinz, oder sie erinnern an eine besondere Qualität wie etwa sapientia, severitas oder modestia. Viel seltener bringt Cicero historische Stichwörter, wenn er etwa vom „Krieg gegen ...“ spricht oder die „Zerstörung einer Stadt …“ nennt und den Namen des jeweiligen Feldherrn wegläßt. Es kann aber auch vorkommen, daß er Namen und Ereignis kombiniert. Cicero nennt oft mehrere Namen – in der Regel drei22 –, die er in einer exempla-Reihe verbindet,23 so daß sie durch ihre Akkumulation wirken sollen. Er strukturiert die namentlich Genannten wie auch die sachlichen Beispiele – mit wenigen Ausnahmen – chronologisch von der entfernteren in die nähere Vergangenheit.24 Mehrfach setzt er einer Dreiergruppe des 2. Jahrhunderts v. Chr. eine Dreiergruppe aus der Übergangszeit vom 2. ins 1. Jahrhundert v. Chr. entgegen und verlängert so die Traditionslinien seiner exempla.25 Es gibt zwei verschiedene Typen dieser listenartigen Aufführung von exempla. Cicero führt erstens bisweilen einfach Pluralnennungen an (wie im oben zitierten Text aus der Verres-Rede), wenn er exempla auflistet.26 Damit typisiert er die exempla erheblich.27 Es ist damit nicht unbedingt eine konkrete Erinnerung an eine Person verbunden. Auch nennt er oft nicht die einende exemplumEigenschaft, die diese Plurale verbindet, sondern bleibt eher allgemein. Dies ist für einige Familien natürlich auch gut nachvollziehbar. Die Scipionen konnten ja in der Tat mehrere exempla in ihrer Familie aufzählen. Wenn der Redner aber zum Beispiel von „Catones“ spricht, geht er von der konkreten historischen Person Catos weg und meint ‚Leute wie Cato‘. Ähnliches gilt für Pluralnennungen
22 Zur Dreizahl SCHOENBERGER 1910, 60ff.; ROBINSON 1987, 19. Beispiele aus den Reden: Verr. 2,3,42; 2,4,133; 2,5,14; div. in Caec. 63; Mur. 36; Sest. 141; Cael. 39f.; Pis. 43f.; Planc. 60; Rab.Post. 23; Phil. 2,15;87. 23 Siehe auch ROBINSON 1987, 17ff. 24 RIEGER 1991, 29; ROBINSON 1987, 17; STINGER 1993, 63. 25 SCHOENBERGER 1910, 17; 26; VOGT 1935, 1963, 8f. Vgl. div. in Caec. 66f.; Verr. 2,1,155f.; 2,2,118; 2,3,209f.; 2,5,180f.; Manil. 32; 60; leg. agr. 2,64; Catil. 1,3. Mur. 17; den drei aus älterer Zeit folgen zwei aus jüngerer Zeit: dom. 86, Phil. 5,48. 26 Vgl. dazu SCHOENBERGER 1910, 15ff.; ROBINSON 1987, 19ff. 27 LIND 1979, 14 nennt den Grundsatz: „to summarize the great man’s character in a great deed and to stamp that deed with one of Rome’s great ideas“. Vgl. allgemein VOGT 1935/1963, 9f.; 29; KORNHARDT 1936, 13ff.; HÖLKESKAMP 1996, 314f., BLEICKEN 1998, 534, spricht für das Augustus-Forum sogar von „langweiligen Tugendbolden“.
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wie „Marii“.28 Gerade bei Marius’ Nennung wird die Distanz zur historischen Person und zu seiner Familie augenfällig, denn für ihn gibt es keine weiteren Familienmitglieder, die einen exempla-Status erreicht hätten. Also können nur ‚Leute vom Typ eines Marius‘ gemeint sein. Innerhalb der listenartigen Aufzählung bietet Cicero keine genauere chronologische Einordnung der Geschehnisse oder weitere Details des Geschehenen.29 In der Regel stehen die Namen aber in einer chronologisch korrekten Reihenfolge. Daher ist es auch des öfteren schwierig bzw. nicht möglich, diese Pluralnennungen zeitlich einzuordnen.30 Cicero geht sehr häufig – wie auch an der zitierten Verres-Stelle – anscheinend mit Selbstverständlichkeit davon aus, daß die jeweiligen Inhalte bekannt sind. Africanus war primär ein Beispiel für militärischen Erfolg, Cato für seine Strenge, der man mit Ehrfurcht begegnete, aber er war natürlich auch ein großer Feldherr. Laelius und wiederum Cato rühmte man wegen ihrer Weisheit.31 In der zweiten Kategorie nennt Cicero sein exemplum im Singular32 und gibt eine kurze, beschreibende, aber auch stark typisierende Charakterisierung der jeweiligen Person.33 Aber auch dies ist gar nicht immer der Fall; häufig begegnet auch eine bloße Namensnennung. Somit bleibt für die oben zitierte Verres-Stelle besonders folgendes festzuhalten: Cicero betont in der Gerichtsverhandlung gegen Verres die Beweiskraft des exemplum vor Gericht. Diesen Aspekt und die Präferenz für das alte exemplum hebt er deutlich hervor.34 Cicero referiert hier im Hinblick auf das bevorzugte Alter von Beispielen offensichtlich Inhalte der Schulrhetorik seit Aristoteles.35 Seine Redepraxis aber
28 Verr. 2,5,14; leg. agr. 2,64; Mur. 17; Balb. 40; Pis. 58; Phil. 5,48. Vgl. auch Sest. 143, Cicero erwähnt hier die Lentuli: unter den Lentuli fand sich eigentlich niemand, der zu einem großen Helden der Republik zu stilisieren war, der mit den übrigen an dieser Stelle genannten auf gleicher Augenhöhe zu nennen wäre; P. Lentulus war Consul 57 v. Ch.: Cicero macht ein Kompliment, vgl. Fuhrmanns Anmerkung zur Stelle in seiner Übersetzung. – Es handelt sich um den Stil des Kurzvergleichs, wenn man jemanden mit einem historischen Namen konkret anspricht und ihn damit mit dem gewählten exemplum identifiziert. Vgl. Rhet. ad Her. 4,68. 29 Vgl. zu dieser Beobachtung bereits VOGT 1935/1963, 10f.; ROBINSON 1987, 17ff. 30 In den Tabellen ist dies dann durch „?“ kenntlich gemacht. 31 Vgl. ROBINSON 1987, 20 mit Belegen in Anm. 9. 32 Dazu ROBINSON 1987, 29ff. 33 Vgl. Verr. 2,5,180; leg. agr. 1,5; Siehe leg. agr. 1,5f. (Publius Servilius: fortissimus vir – T. Flamininus und L. Paullus: virtus – L. Mummius: felicitas – Scipiones: eximia virtus); weiterhin 2,10. Vgl. SCHOENBERGER 1910, 14 mit vielen weiteren Stellen. 34 ELVERS 1993, 21; zur Beweiskraft auch RIEGER 1991, 24. Konsequent plaziert Cicero die meisten seiner exempla in der argumentatio einer Rede, SCHOENBERGER 1910, 55. 35 Vgl. STINGER 1993, 9; 12; CLARKE 1968, 71 mit Verweis auf Cic. fam. 1,9,23, wo Cicero sich als Anhänger der Schule des Aristoteles und Isokrates sieht: „Abhorrent a communibus praeceptis atque omnem antiquorum et Aristoteliam et Isocratiam rationem oratoriam complectuntur.“ Vgl. VOGT 1935/1963, 8.
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zeigt – wie die Statistik belegt – eine andere Gewichtung, der Schwerpunkt liegt auf der jüngeren Vergangenheit. Aber man sollte auch die statistische Methode nur als einen Zugriff (von mehreren möglichen) auffassen und problematisieren: Die Tabellen geben einen Eindruck von der Masse der historischen Bezüge, die der Redner Cicero auf die römische Geschichte nimmt. Die Präsenz dieser historischen Bezüge ist je nachdem unterschiedlich stark und bei der Lektüre mitunter gar nicht leicht zu erfassen. Bisweilen begegnen eindeutige Aufforderungen, die ein Beispiel begleiten. Häufig sind die historischen Verweise aber auch nicht so direkt, eher beiläufig und wenig aufdringlich, sozusagen nur ‚anzitiert‘. In der Memorialkultur Roms trafen sie dabei auf ein mentales Umfeld, das ein Rezipieren und Verstehen – zumindest im römischen Sinne – ermöglichte. Die exempla sind durchgängig in allen Redegenres vorhanden, ob in der Rede vor Senat bzw. Volk von Rom oder vor Gericht. Die Verteilung der exempla auf verschiedene Zeiträume zeigt Strukturen und Schwerpunkte der Erinnerungsräume im kulturellen und kommunikativen Gedächtnis auf. Nicht viel mehr (doch bestimmt auch nicht weniger) sollte Anhang I (Ordnung der exempla in chronologischer Reihenfolge) vor Augen führen. Dabei ist die zeitliche Fixierung auf ein bestimmtes Jahr dem historischen Beispiel ohnehin nicht eigentümlich, bezieht es sich doch oft auch auf ein Lebenswerk, eine bestimmte Einstellung oder Ausstrahlung einer Person etc. Die Pluralnennungen erschweren zudem eine eindeutige Identifikation in vielen Fällen. Insofern sind die herangezogenen Jahresdaten vor allem Hilfskonstruktionen, um mit etwas weiterem Blick auf größere Zeiträume und Generationen zu schauen. Auch auf folgendes sollte hingewiesen werden: Zahlen sagen nur bedingt etwas über die ‚Macht eines Beispiels‘ aus. Ist ein häufig vorgebrachtes Beispiel mehr wert als ein selten gebrauchtes? Zu dieser Einschätzung sollte das Abzählen besser nicht führen. Ebenso muß bereits im voraus gesagt werden, daß ein exemplum nicht stets im selben Sinn verargumentiert wird, sondern im jeweiligen Kontext eine eigene Tendenz oder Nuance aufweisen kann. Wie gesagt – die exempla leben mit und ihren Kontexten. Es ist also über die statistische Betrachtung des Gegenstands hinaus nötig, an den Reden selbst die Verwendung der exempla im Detail zu untersuchen.
2. DIE MAIORES UND IHRE STELLUNG IN DEN REDEN Cicero spricht an der zitierten Stelle (Verr. 2, 3, 209) besonders von der auctoritas, durch die exempla wirken. Dieser Begriff der auctoritas steht im Zentrum, was sprachlich bereits durch seine viermalige Nennung unterstrichen wird. Daß die Vorfahren in der römischen Erinnerungskultur besonders wichtig und bedeutsam waren, wurde im ersten Teil der Studie nachgewiesen. Der Redner muß anscheinend nicht auf den engen Kontext einer bestimmten Tat rekurrieren, auf die sein Redegegenstand zugeschnitten sein sollte. Er bedient sich vielmehr der schon mit dem Namen verbundenen, sozialen Autorität seines exemplum, um seinen Argumenten Stärke und Überzeugungskraft zu verleihen. Er arbeitet vor allem mit Hilfe von Schlagwörtern, mit deren inhaltlichen Konnotationen er bewußt argumentieren und bestimmte Reaktionen herbeiführen kann. Der Begriff maiores dürfte in diesem Falle der wichtigste sein. Ihn gebraucht Cicero am häufigsten, wenn er einen Bezug zur Vergangenheit herstellen will.1 Auffällig ist die Polyfunktionalität des Begriffs. Die maiores sind nicht auf eine bestimmte Eigenschaft festgelegt, sondern decken mehrere Gebiete ab. Cicero hegt großen Respekt vor den maiores und geht selbstverständlich davon aus, daß dies bei seinen Hörern ebenfalls so ist. Die maiores dienen als Maßstab für jede Form von Handeln und als Quelle der Grundsätze, die jede Tätigkeit bestimmen.2 Die Bindung an sie sollte denkbar eng sein.3 Dabei erstreckt sich der Wirkungsbereich der maiores von Detailfragen der Prozeßordnung über Rechtsvorschriften bis zur Entscheidung über aktuelle, allgemeine und politischmilitärische Entscheidungen. Dies führt dann auch dazu, daß Neuerungen als ‚im Sinne der Vorfahren‘ hingestellt werden. Cicero argumentiert zum Beispiel, daß er für die Person des Pompeius gar keine exempla benötige, weil dieser selbst, was seine Qualität und seine Erfolge angehe, wie ein Vorfahr sei.4 Oder er begründet die außergewöhnliche neue Dauer des Dankfestes für Caesars Sieg damit,
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Siehe die Verweise im Anhang III. Zur Bedeutung der maiores vgl. allgemein HÖLKESKAMP 2004, 24ff.; 1996, 316; WALTER 2003, LIND 1979, 50f.; RECH 1936, 12; 23ff. Siehe die ausführliche Darstellung bei ROLOFF 1938, 92ff., der die Bedeutung der maiores in sechs privaten und staatlichen Bereichen untersucht. Vgl. auch VOGT 1935/1963, 8f. Div. in Caec. 45; leg.agr. 2,65; Arch. 14f.; Sest. 81f.; 136f. (Aufruf an die jungen Adligen, den Vorfahren nachzueifern); Balb. 54; Rab. Post. 2; Phil 1,35; 2,118; s. LITCHFIELD 1914, 8f.; VOGT 1935/1963, 12f.;16f.;25; ROLOFF 1938, 30; MEIER 1980/1997, 54f.;63; HÖLKESKAMP 1995, 44; 1996, 320. Phil. 5,6. Manil. 36; 39f.; 44.
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daß „die Sache selbst … den unsterblichen Göttern, dem Brauch unserer Vorfahren und dem Staatswohl zugedacht“ gewesen sei.5 Die maiores als Rechtsschöpfer So kann sich Cicero – wenn auch nicht erfolgreich – mit dem Rückblick auf die maiores darüber beschweren, daß er (in seinem ersten Prozeß) als erster reden muß und seine Verteidigungsrede zu halten hat, ohne die Anschuldigungen des Anklägers vorher gehört zu haben. Bei den Vorfahren sei dies undenkbar gewesen.6 Überhaupt haben die Vorfahren für die Rechtsprechung und Rechtssetzung und natürlich für die Grundordnung der staatlichen Institutionen immense Bedeutung.7 Dies schließt natürlich auch religiöse Einrichtungen mit ein.8 Sie gelten dabei als weise und vorausblickend. Den Besitz des allgemeinen Rechts zu bewahren und zu pflegen, wie man es von den Vorfahren empfangen hat, ist eine vorrangige Aufgabe der Generation Ciceros. Das Recht der maiores ist in Ciceros Argumentation in sich plausibel und verfügt durch sein Herkommen über Autorität. Die maiores sind bei Bestrafungen streng gewesen: Totschlag galt bei ihnen nicht als Grund für ein schonendes Urteil, sondern wurde mit der ganzen Härte des Gesetzes bestraft; Cicero zitiert hier aus den Zwölftafeln. Seine Formulierung läßt ein gewisses Unbehagen an den Grundsätzen der Vorfahren erkennen: Denn eigentlich sei es ein Gesetz der Menschlichkeit, den Totschlag milde zu behandeln. Trotzdem waren die maiores streng.9 Sich bei privaten Aufträgen und Geschäften bereichern zu wollen, galt ihnen als „ärgste Schändlichkeit“ („summum dedecus“); bereits Nachlässigkeiten wurden geahndet.10 5
Cic. prov. 27: „Ergo in illa supplicatione quam ego decrevi, res ipsa tributa est dis immortalibus et maiorum institutis et utilitati rei publicae …“ – Ein anderes Beispiel für die Dehnbarkeit der Vorgaben der Vorfahren bietet Phil. 9,3f.: Die Vorfahren hätten jeden geehrt, der einer Ehrung würdig gewesen sei. Diesen Brauch müsse man beibehalten. Und da müsse man nicht alles ganz buchstabengetreu nehmen: Die Vorfahren wollten für jeden ein Standbild errichtet wissen, dessen Tod unmittelbar im Staatsdienst geschehen sei. Man solle jetzt (Februar 43 v. Chr.) im Falle des Servius Sulpicius Galba nicht nach den konkreten exempla maiorum fragen, sondern die Absichten (consilium) der Vorfahren – aus denen die Musterfälle hervorgegangen sind – darlegen. 6 Quinct. 33. Vgl. weitere Stellen bei RECH 1936, 15; 41ff. 7 Vgl. S. Rosc. 69;111;116, Tull. 44f.; Font. 23–25;31; div. in Caec. 40; 74.; Sull. 49; p. red. in sen. 27 (Primat der comitia centuriata); dom. 47;56;74;77; Sest. 137; Balb. 31; Planc. 8; Mil. 83. Zu S. Rosc. 69 siehe auch STINGER 1993, 29. Vgl. VOGT 1963/1935, 14f. 8 Dies dokumentiert vor allem die Rede, die Cicero über sein Haus an die Pontifices richtete: Cic. dom. 1;33;68;80;109; weiterhin har. resp. 14;18f.;24. 9 Tull. 51; Hauszerstörung als „härteste Strafe“ („maxima poena“) gegen Tyrannisaspiranten: dom. 101. 10 Siehe S. Rosc. 111.
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Die maiores zeichnen sich besonders durch ihre Weisheit und vorausschauende Einsicht aus.11 Diese Eigenschaften machen sie dem weisesten Gesetzgeber Solon weit überlegen. Cicero verdeutlicht dies am Beispiel der harten, abschreckenden Strafe, die die Vorfahren einem Verwandtenmörder auferlegten.12 Die Härte der Vorfahren fälschlich anzuwenden, diskreditiere jeden und mache ihn zum Verbrecher. Cicero gebraucht in seiner Verteidigungsrede für Sextus Roscius ein solches Argument gegen Capito. Dieser habe schon auf jede erdenkliche Art Menschen umgebracht. In deutlicher Steigerung führt Cicero dabei die alte Sitte an, einen 60jährigen von der Brücke in den Tiber zu stürzen. Capito habe dies „contra morem maiorum“ an einem noch nicht sechzig Jahre alten Mann vollzogen. Cicero gebraucht hier ein Element des Strafrechts aus archaischer Zeit. Die Brutalität dieses Verfahrens unterstreicht er durch Wahl des Verbums occidere, das gewöhnlich in einen militärischen Zusammenhang gehört und etwa „niedermetzeln“ bedeutet.13 Den angeblich glaubhaften Zeugen Capito bringt er so in Verbindung mit einer unzivilisierten und rohen Vergangenheit.14 Andererseits gewährten die maiores gerade Schwachen oder Verdächtigten Schutz. Von ihnen stammt der Grundsatz, jeder müsse einen Anwalt als Beistand haben.15 Ebensowenig könne es angehen, daß Gläubiger und Aufkäufer als einzige den Leichenzug eines Schuldners begleiteten, um sich das Erbe des Verstorbenen sofort unter den Nagel zu reißen.16 Kein Sklave dürfe gegen seinen Herrn aussagen.17 Weiterhin leitet Cicero die Prozeßregeln in Fällen von Gewaltanwendung von den maiores her. Die Vollkommenheit der Rechtsschöpfung der maiores anzuzweifeln und Lücken zu vermuten, geißelt Cicero als schändliches Verhalten. Dies würde bedeuten, den weisesten Männern Torheit vorzuwerfen. Aber dieser Vorwurf der Torheit falle umgehend auf den zurück, der ihn erhebe. Er zeige mangelnden Respekt vor den maiores und entlarve sich selbst als Tor.18 Die historische Dimension dieser Rechtsvorschriften, die Cicero von den maiores herleitet, wird nicht deutlich. Er macht keine Angaben über die Länge des Zeitraums zwischen den Vorfahren und seiner Gegenwart. Cicero zitiert zwar aus den Zwölftafeln, aber verbindet dies offensichtlich nicht mit der Vorstellung einer
11 Siehe S. Rosc. 69; Verr. 2,3,13; 2,5,50f.; Font. 23–25; div. in Caec. 74;86;93; leg. agr. 2,73; 2,95 (Tendenz zur religiösen Überhöhung der Vorfahren); ROLOFF 1938, 69 mit den Belegen in Anm. 5; RECH 1936, 9;65; MEIER 1980/1997, 54. 12 Vgl. S. Rosc. 69. Cicero erwähnt in anderem Zusammenhang auch die decimatio, Cluent. 128. 13 So die Erklärung von MENGE in seiner Synonymik. 14 S. Rosc. 100. Vgl. auch RECH 1936, 43f. 15 Mur. 17. 16 Quinct. 50f.; vgl. S. Rosc. 151. 17 Mil. 59; Deiot. 3 18 Div. in Caec. 40.
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konkreten historischen Entfernung. An einigen Stellen benutzt er immerhin das Adjektiv vetus.19 Die kontinuierliche Gültigkeit dieses Rechts steht für ihn im Mittelpunkt. Die Vorschriften gelten nach altem Herkommen und alter Gewohnheit der auch für seine Zeit. Die herausragende Rechtsschöpfung der maiores brauche nur beachtet und erhalten zu werden, damit die Dinge gut laufen. In diesem Fall könnten die Qualitäten (mores) der früheren Generationen beständig in der Gegenwart wirksam sein.20 Vergangenheit und Gegenwart fallen praktisch zusammen, historische Distanz spielt eigentlich keine Rolle, vielmehr soll sie aufgehoben werden.21 Die Vergangenheit verfügt in der Gegenwart über eine lebendige Wirksamkeit. Interessant ist in diesem rechtlichen Kontext Ciceros Befürwortung der lex Manilia für Pompeius im Jahre 66 v. Chr. Cicero entgegnete dem optimatischen Widerstand, daß die Vorfahren „im Frieden ihrer Gewohnheit und im Krieg der Pragmatik“ gefolgt seien.22 Als Beispiele führte er Scipio Aemilianus und Marius an und brachte Pompeius so in ein Umfeld ganz außerordentlicher Menschen, die besonders beim Volk große Wertschätzung genossen. Cicero verabsolutierte gegebene (Sonderfall)beispiele und erklärte die Sondergenehmigungen für Pompeius damit für historisch begründet. Er problematisierte nicht die Konsequenzen für das aktuelle politische Gefüge,23 sondern nahm sie anscheinend billigend in Kauf. Cicero kann den Pragmatismus der Vorfahren deshalb anführen, weil ihre Regeln (mores) nirgends schriftlich fixiert worden sind.24 Die Weichheit und relative Flexibilität dieser Regeln prägen sie in entscheidendem Maße und ermöglichen es Cicero, auf diese Art und Weise Pompeius zu unterstützen. Das Handeln der Vorfahren ist als Präzedenz im konkreten wie auch als Analogon heranzuziehen: Die Vorfahren hätten den Dichter Ennius, einen Fremden aus Rudiae, in die Bürgerschaft aufgenommen. Dasselbe müsse dann doch auch für den Dichter Archias aus Herakleia gelten.25 An einem anderen Punkt der Rechtsgeschichte, den Cicero in seinen Reden erwähnt, kann der Historiker Genaueres über die zeitliche Distanz zu den maiores ermitteln. Im Umfeld des Verres-Prozesses äußert sich Cicero über die von den maiores etablierten Gerichtshöfe wegen Erpressungen in den Provinzen. Cicero klagt über deren Niedergang. Eigentlich seien die Repetundengerichte von den Vorfahren für die Bundesgenossen eingerichtet worden. Aber die Entwicklung sei 19 Div. in Caec. 45; leg. agr. 2,21;89; Mur. 72. Siehe RECH 1936, 16f. 20 Vgl. auch RECH 1936, 12. 21 ELVERS 1993, 91: „In Ciceros Argumentation in den Reden funktioniert nun die Gegenwart gewöhnlich genauso wie die Vergangenheit...“. Siehe MOOS 1996, 77; STINGER 1993, 66. 22 Manil. 60: „... consuetudo in pace et utilitas in bello …“. Q. Catulus’ Gegenargument lautete ibd.: „At enim ne quid novi fiat contra exempla atque instituta maiorum.“ Vgl. auch LIND 1979, 53; HEINZE 1909/1960, 120; RECH 1936, 40. 23 ELVERS 1993, 91f. – Daß man damals Pompeius’ Stellung als problematisch ansah, ergibt sich aus der Tatsache, daß es prominente Opponenten gegen die rogatio Manilia gab. 24 RECH 1936, 12. 25 Arch. 22.
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unglücklich verlaufen. Es gehe nicht um den Schutz der socii, sondern um die Deckung der Taten der Statthalter in den Provinzen. Daher habe es in der Regel nie erfahrene und ernstzunehmende Ankläger gegeben, sondern adulescentuli hätten die Anklagen geführt. Jetzt müsse sich eine neue Politik abzeichnen, wirkliche Ankläger zuzulassen. Einige sähen mit Sorge, daß dies aufkomme oder vielmehr wieder erneuert werde.26 Cicero ist es anscheinend ziemlich klar, daß die Repetundenprozesse bis zu seiner Zeit ohne nennenswerte Folgen gewesen sind. Dies hat er in seiner praktischen Rechtsausbildung als Beobachter bei Prozessen sicherlich erfahren.27 Daher hat Cicero jetzt Probleme mit seiner Argumentation: Er möchte sich selbst gern im mos maiorum verankert sehen,28 weiß aber offensichtlich, daß eine Verurteilung von Verres nicht gerade dem Herkommen entspräche. Mit seinen eigenen Worten betont er ja auch, daß die Anklage des Caecilius gegen Verres nichts ergeben könne, da Caecilius Verres’ Quaestor gewesen sei. Die geradezu familiäre, pietätvolle und nicht zuletzt hierarchische Beziehung des Praetors zu seinem Quaestor lasse eine schwache und stumpfe Anklage erwarten. Cicero wendet sich also gegen die üblichen Spielregeln, um die Anklage vertreten zu dürfen, und er interpretiert auch die consuetudo maiorum in seinem Sinne um. Üblich wäre eine harmlose Anklage des ehemaligen Quaestors Caecilius gegen seinen ehemaligen Praetor Verres. Cicero aber strebt danach, sich für die Sizilier einzusetzen, weil er bei ihnen Quaestor gewesen ist und so den von den Vorfahren gewünschten Schutz der Provinzialen gewährleisten kann.29 Wenn es Cicero paßt, kennt er aber auch die Großzügigkeit der Vorfahren bei Verstößen gegen Provinziale. Sein Plädoyer für Flaccus läuft darauf hinaus: Die maiores hätten rühmenswerte Taten berücksichtigt und seien auch bereit gewesen, Fehler hinzunehmen.30 Cicero wollte und brauchte einen Erfolg der Verres-Anklage, denn eine Verurteilung bedeutete für ihn zugleich das Sprungbrett für seine weitere politische Karriere.31 Im Verlauf der Verhandlung hat er deshalb die Handlungen und die Person des Verres als so einzigartig verkommen, so gegen jedes Erbe der Vorfahren verstoßend und beispiellos schlecht dargestellt, daß eine Verurteilung aufgrund der Fakten gerechtfertigt schien und eine zu große Nähe des Verres zu seinen Standesgenossen ausgeschlossen blieb.32 Er separierte Verres von der Nobili-
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Siehe div. in Caec. 67; vgl. auch Verr. 1,1,42; 2,4,9ff. Vgl. de. orat. 3,74. STINGER 1993, 68, sagt, dies sei Bestandteil von Ciceros „basic rhetorical strategy“. Siehe div. in Caec. 61; 65. Vgl. auch RECH 1936, 39; KROLL 1933, 40. Flacc. XXI (in der Zählung der zweisprachigen Ausgabe FUHRMANNS). STINGER 1993, 39; FUHRMANN 1989/1994, 69; HEINZE 1909/1960, 107ff.; STRASBURGER 1931, 22ff. 32 Vgl. Verr. 2,3,14; vgl. z. B. auch Verr. 1,1,13; 2,1,6 (singularis impudentia); 9; 11 (Denkmalschänder); 36 (Abrechnungsart); 44; 76 (singularem nequitiam); 111 (singularis improbitas); 116; 125; 129 (novum ac singulare latrocinium); 2,2,9 (Merkmalkatalog zu Verres); 18; 82ff. (insignis iniuria); 93; 111; 134; 147 (nova iniuria); 2,3,7f. (singularis inhumanitas) usw. Sie-
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tät und machte eine Identifizierung unmöglich, zugleich ermöglichte er dadurch seine Verurteilung.33 Eine ähnliche Tendenz verfolgte Cicero in der Rede über sein Haus, in der er die Handlungen des Clodius ebenfalls in jedem Detail als gegen das Herkommen und die Wünsche der Vorfahren gerichtet bezeichnete.34 Ebenfalls handelten die beiden Consuln des Jahres 58 v. Chr., Gabinius und Piso, so als „wollten sie alle Rechte und Einrichtungen der Vorfahren auslöschen.“35 Auch zur persönlichen Invektive bemühte der Redner das maiores-Argument: Dem Praetor von 57 v. Chr., Appius Claudius Pulcher, warf Cicero vor, contiones nicht wie seine Vorfahren – er bezieht sich auf Vater, Großvater und Urgroßvater – abgehalten zu haben, sondern wie „Griechlein“.36 Zwei weitere Gesetze der maiores erwähnt Cicero: Die lex Aelia und die lex Fufia seien von den maiores errichtete Bollwerke gegen tribunizisches Wüten.37 Ebenso erwähnt er Gesetze, die „bei unseren Vorfahren“ galten, eine lex Furia (183 v. Chr.), eine lex Voconia (169) und die lex Iulia (90 v. Chr.) zur Einschreibung in die Bürgerlisten.38 Periodisierung: maiores und nostra et patrum memoria Die Repetundengerichtshöfe wurden im Jahre 149 v. Chr. durch ein vom Volkstribun Lucius Calpurnius Piso Frugi durchgebrachtes Gesetz eingerichtet. Der zeitliche Abstand zu Ciceros Verres-Prozeß im Jahre 70 v. Chr. beträgt also 79 Jahre. Cicero gebraucht somit den Begriff maiores bereits für Menschen, die etwa zwei bis drei Generationen vor ihm lebten.39 An einigen Stellen vermischt sich auch die Angabe maiores mit der Zeitbestimmung nostra et patrum memoria,40 so
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he auch STINGER 1993, 49 (Verres verletzte im besonderen Maße die Vorgaben seiner Amtsvorgänger.). Natürlich muß man berücksichtigen, daß Cicero die actio secunda nie vor Gericht vorgetragen hat, da Verres sich bereits nach Massilia ins Exil begeben hatte. Er befürchtete bei der Veröffentlichung der angeblichen zweiten Verhandlung aber offensichtlich keine Probleme wegen seiner Angriffe auf einen ehemaligen Amtsträger. STINGER 1993, 46ff.; 57; MEIER 1980a, 129. Dom. 119. Sest. 17: „... consules, … qui ad … exstinguenda omnia iura atque instituta maiorum se illis fascibus ceterisque insignibus summi honoris atque imperi ornatos esse arbitrabantur?“ Sest. 126. – Planc. 12: Die Wähler würden einen knauserigen Kandidaten an die Mühe der Vorfahren bei der Wahlwerbung hinweisen. P. red. in sen. 11. Balb. 21. Vgl. auch leg. agr. 2,82: „Cum a maioribus P. Lentulus, qui princeps senatus fuit, in ea loca missus esset...“. Cicero bezieht sich auf das Jahr 162 v. Chr.; vgl. weiterhin ibd. 2,87ff.: Cicero referiert hier die Zerstörung von Korinth und Karthago (146 v. Chr.) als einsichtsvolle Taten der Vorfahren. Vgl. Font. 46; Mur. 72; div. in Caec. 69; wichtig auch Sest. 126; Cael. 43.
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daß man hier einen fließenden Übergang zwischen den maiores einerseits und den patres patrum andererseits erkennen kann.41 Ähnlich (allerdings humorvoll) ordnet Cicero die Unsitte des ambitus bei der Bewerbung um ein Amt zeitlich bereits bei den Vorfahren ein. Zunächst sagt er, dieser Brauch habe bereits in der „Zeit unserer Väter und deren Väter“ bestanden. Die Bewertungsskala für dieses Vorgehen schwanke sicherlich zwischen (negativer) ambitio einerseits und (eher positiver) jovialer liberalitas andererseits. In seinen weiteren Ausführungen referiert Cicero die großen Erfolge der Römer gegen Spartaner und Kreter, die sich in ihrer Lebenskultur jeder Üppigkeit enthalten hätten und doch leicht von den Römern besiegt worden seien. Cato minor solle also nicht so pedantisch und streng sein und vor allen Dingen nicht die „Einrichtungen der Vorfahren“ (instituta maiorum wäre gleichbedeutend mit ambitus) tadeln, „...deren Zweckmäßigkeit die Sache selbst und das lange Bestehen unseres Reiches beweisen.“42 Man erkennt an dieser Passage gut den fließenden Übergang von der Großvatergeneration zu den maiores. Cicero schaltet reibungslos zwischen den Begriffen memoria patrum und maiores. Deutlich wird dieser Aspekt der Periodisierung auch aus Ciceros Aussagen im Perduellionsprozeß, der gegen Rabirius angestrengt wurde. Er brandmarkte hier die Prozeßformeln als reines Buchwissen.43 Sie entstammten sogar der Königszeit, die in den „tenebrae vetustatis“ bereits dem Vergessen anheimgefallen sei, nur „ex annalium monumentis atque ex regum commentariis“ könne ein solch archaisches Verfahren zusammengesucht worden sein. Ciceros Strategie lief in diesem Fall darauf hinaus, das gesamte Verfahren so darzustellen, als habe es aufgrund seines hohen Alters für die politische Realität der Gegenwart keine Bedeutung, geschweige denn Rechtfertigung. An derselben Stelle wird deutlich, daß nur die Prozeßform „ex memoria vestra ac patrum vestrorum“ Verbindlichkeit beanspruchen dürfe.44 Folgende These bietet sich vorläufig an: Der geschichtliche Blick Ciceros auf die Republik und ihre überkommene Ordnung (mos maiorum)45 geht schwerpunktmäßig nicht in die weitere Vergangenheit des vierten Jahrhunderts zurück (wie 41 Vgl. ELVERS 1993, 55ff. – Etwa dieselbe zeitliche Einordnung muß man auch für die lex Aelia und lex Fufia ansetzen, die genauen Amtsjahre dieser beiden Gesetzgeber sind nicht bekannt. 42 Siehe Mur. 72; 74: „Qua re noli, Cato, maiorum instituta quae res ipsa, quae diuturnitas imperi comprobat nimium severa oratione reprehendere.“ 43 Dies ist ein auffallender Gegensatz zu den alten Beispielen, am besten aus „Aufzeichnungen und Schriftstücken“, wie er sie Verr. 2,3,209 gelobt hatte, siehe oben S. 155f. 44 Rab. perd. 15: „Hic se popularem dicere audet, me alienum a commodis vestris, cum iste omnis et suppliciorum et verborum acerbitates non ex memoria vestra ac patrum vestrorum sed ex annalium monumentis atque ex regum commentariis conquisierit, ego omnibus meis opibus, omnibus consiliis, omnibus dictis atque factis repugnarim et restiterim crudelitati?“ Vgl. zur Stelle auch ELVERS 1993, 82. 45 Vgl. RECH 1936, 9ff. (Begriff und Wesen des mos maiorum). Vgl. auch u. S. 240ff. die Einordnung des senatus consultum ultimum in den mos maiorum in den Reden gegen Catilina.
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Livius diesen geschichtlichen Zeitraum mustergültig und kanonisch darstellen wird), sondern konzentriert sich auf einen Zeitraum von etwa zwei bis drei Generationen (nostra et patrum memoria) vor Ciceros Lebenszeit.46 Die Handlungen dieser Generationen, die noch von lebenden Personen als Zeitzeugen erinnerbar waren, wurden handlungsleitend und vorbildlich für Ciceros Gegenwart.47 Der Zeitraum der maiores beginnt spätestens mit der Urgroßvatergeneration und erstreckt sich rückwärts bis zur Gründung der Republik;48 das Wort maiores stellt einen relativ diffusen und zeitlich nicht weiter differenzierten Sammelbegriff dar.49 Mustert man unter diesem Aspekt die Einleitungen, die Cicero vielfach zu seinen exempla gibt, erkennt man auch hier die starken Einflüsse des mündlich Tradierten und das auffällige Zurücktreten schriftlicher Überlieferung. Wendungen wie aiunt, dicunt, dicitur, dicuntur, auditum est belegen dies. Auch Formulierungen wie scimus, accepimus, traditur, traditum est oder memoriae proditum est scheinen eher auf eine mündliche Tradition hinzudeuten. Wenn Cicero auf schriftliche Überlieferung zurückgreift, betont er dies und nennt oft auch seine Quelle: annales populi Romani, commentarii, poetae ferunt, noster Ennius appellat.50 Das Imperium der maiores als Erbschaft Diese These unterstützen auch die Belege auf einem anderen Gebiet, für das die maiores besonders angeführt werden. Cicero betont häufig die Beziehung der Römer zu den maiores als ihre Erben.51 Indem er in den Beispielreihen die Abfolge der Generationen beibehält, kann er auf die Weise eine Kette von Erfolgen, die von Generation zu Generation erzielt wurden, ins Gedächtnis rufen. Auch im Hinblick auf die Vorfahren argumentiert der Redner im Sinne eine ‚Staatsräson‘: Die ältere Generation habe der jüngeren alles bereitet und vererbt, so daß sie in die Pflicht genommen sei, das Ererbte zu bewahren. Den Vorfahren seien die jetzt lebenden Römer gerade auch in der Hinsicht verpflichtet, daß jene das Reich er-
46 ROBINSON 1987, 17; vgl. ROLOFF 1938, 128ff. (über den „geschichtlichen Raum der maiores“); TIMPE 1988, 281 (Materialer Kern der literarischen Formung ist mündlich Überliefertes.); 284f. 47 ROLOFF 1938, 128 mit Verweis auf Cic. or. 120 („Man denkt in Menschenaltern“); STINGER 1993, 66: „Precedents are not just convenient arguments from the past ready-made for the orator’s use, but are alive with potential for the future.“; TIMPE 1988, 278f. 48 Vgl. zu Ciceros Periodisierung ELVERS 1993, 55ff. 49 ROLOFF 1938, 130f.; TIMPE 1988, 281 (Fabius Pictor bildet „in Wahrheit das in Schriftlichkeit überführte Endstadium einer mündlichen Tradition“). 50 Siehe hierzu SCHOENBERGER 1910, 57ff. mit den einzelnen Belegen und weiteren Beispielen. Damit präsentiert der Redner zugleich Buchwissen, das er in der Regel im Rhetorikstudium erworben haben dürfte, und ist somit in der Lage, die Wissensdifferenz zwischen ihm als Redner und dem Publikum aufscheinen zu lassen. 51 Dies gilt vor allem für die Reden an das Volk, vgl. vor allem unten S. 232ff.
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schaffen haben, dessen Nutznießer diese jetzt seien.52 Hierbei hätten sich die Vorfahren durch sapientia, virtus und consilium ständig bewährt. So sei die gloria des römischen Volkes im römischen Kriegswesen am bedeutendsten.53 Die maiores hätten die Bundesgenossen klug behandelt und sich bemüht, einstige Unterwerfung so wenig wie möglich sichtbar werden zu lassen.54 Zur Ausplünderung der Provinzialen habe man keinen Anlaß gehabt, weil die maiores in ihrem häuslichen Bereich moderatio hätten walten lassen.55 Die Besiegten hätten ihre Kulte pflegen und ihre von den Vorvätern ererbten Gegenstände behalten dürfen. In Sizilien hätten die maiores den Untertanen keine neuen Steuern auferlegt, sondern das alte Steuerrecht des Hieron belassen (bis Verres eingriff). Die Vorfahren hätten – wie oben angedeutet – gegen Ausschreitungen ihrer eigenen Leute Prozeßverfahren zum Schutze ihrer Untergebenen eingeführt. Für das Heil und Wohlergehen der socii hätten sie viele Kriege auf sich genommen.56 An einigen Stellen wird Cicero konkreter und zählt die großen Kriege der Vorfahren auf: Gegen Antiochos, gegen Philipp und gegen die Karthager hätten sie – natürlich immer für die Bundesgenossen und immer erfolgreich – Krieg geführt.57 Diese Liste umfaßt den geschichtlichen Zeitraum von 192-188 v. Chr. (Antiochos), 200-197 v. Chr. (zweiter makedonischer Krieg gegen Philipp) und 218-201 v. Chr. sowie 149-146 v. Chr. (zweiter und dritter punischer Krieg). Cicero gibt seinen Hörern allerdings nur einige Stichworte, ohne irgendwelche genaueren Angaben anzufügen oder historisch-chronologische Bezüge der Ereignisse untereinander bzw. ihrer Entfernung zur eigenen Gegenwart herzustellen. Der entscheidende Faktor besteht darin, daß sich mit diesen historischen Stichworten die Leistung des populus Romanus beweisen läßt.58 Cicero kontrastiert diese ‚Erfolgsstory‘ der maiores mit der augenblicklichen Schlaffheit und Ohnmacht der Republik, wenn es zum Beispiel darum geht, mit den Piraten bzw. etwas später mit Mithridates fertig zu werden, oder der Kampf gegen Antonius geführt werden muß.59 Auch hier sind die Taten der maiores Vorbild und Maßstab, an denen das eigene Handeln auszurichten und zu messen ist.60
52 Diese Rolle der maiores tritt erstmals in den Verres-Reden in den Vordergrund; vgl. Verr. 2,4,134; 5,50f.; 5,98; 5,149; leg. agr. 1,4; 1,6; 2,9; Phil. 4,14. Siehe auch VOGT 1935/1963, 17; RECH 1936, 49ff. 53 Manil. 6; 11; Mil. 83 (sapientia maiorum); Phil. 4,13f. (fortitudo maiorum); Phil. 8,23 (virtus maiorum). 54 Verr. 2,4,134. 55 Flacc. 28. 56 Verr. 2,5,149; Manil. 11; 14. – Das war auch ein Leitperspektive von Catos Origines, s. Walter 2004, 279ff. 57 Manil. 14; 55; leg. agr. 3,13; Scaur. 45a. 58 Vgl. HÖLKESKAMP 1996, 310. 59 Vgl. die vorwurfsvolle Apostrophe Phil. 8,30: „... darin sahen nicht nur unsere Vorfahren, sondern auch kürzlich noch die ehemaligen Consuln [damit meint Cicero sicher auch sich selbst!, F.B.] ihre größte Ehre: wachsam und mit ganzem Herzen bei der Sache zu sein, stets mit dem Gedanken, Worten oder Taten dem Staate zu dienen.“ / „… eaque erat non modo
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Cicero argumentiert stets im Kontext einer familiären Verpflichtung, er nennt das Erbe „unserer Vorfahren“ und etabliert damit eine imaginäre familiäre Verbundenheit aller cives Romani – dadurch wird eine stärkere persönliche Verpflichtung gegenüber den Errungenschaften der Vorfahren bewirkt und die ‚kollektive Identität‛ gefestigt. Cicero formuliert eine Verpflichtung zur Ernsthaftigkeit im Umgang mit dem Geerbten und zur Dankbarkeit, da die maiores die Zukunft ihrer Nachfahren immer im Blick gehabt hätten. Er führt den Hörern – Volk wie auch Senatoren – vor Augen, daß „unsere“ maiores für „uns“ bzw. „euch“ ein so großes Reich erschaffen haben. Dieses sei „euch“ anvertraut worden; es zu bewahren, zu achten und in ihrem Sinne fortzuführen, gebiete die pietas erga patres. In diesem Punkt zu versagen, bedeute, größte Schande auf sich zu nehmen.61 Ein imperatives Mandat besonderer Art Die maiores sind für die Gegenwart Vorbild für Erfolg, Mut, Weisheit, Weitsicht usw.62 Sie bilden einen Maßstab, an dem man sich orientieren muß, und dienen dem Redner als ein argumentatorisches Passepartout für verschiedene Bereiche der res publica.63 Dieser Anspruch, den ja nicht die maiores für sich erheben, sondern die Gegenwart den maiores zuspricht, beruht auf dem Erfolg ihrer erbrachten Leistungen, der unangefochten im Zentrum steht. Nur sehr wenige kritischere Aspekte lassen sich erkennen. Auch wenn die Vorfahren in Rechtssachen ausgesprochen weise und vorausblickend waren, distanziert sich Cicero in ethischer Hinsicht dennoch von den harten und strengen Strafen (auch bei Totschlag) oder den bis zum Verres-Prozeß nur schlecht geleisteten Schutz der Provinzialen in den Repetundenprozessen.64 Er hält es weiterhin
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apud maiores nostros sed etiam nuper summa laus consularium, vigilare, adesse animo, semper aliquid pro re publica aut cogitare aut facere aut dicere.“ Siehe auch Phil. 10,20. Dahinter steht die Ansicht, daß die exempla, würden diese Personen in Ciceros Zeit leben, genau so handelten, wie Cicero zu handeln drängt, ROBINSON 1987, 34. Vgl. weiterhin Hölkeskamp 1996, 318 (Die Erfolgsgeschichte bewirkt eine beständige Korrelation von überzeitlichen Wertmaßstäben und historischem Handeln.); VOGT 1935/1963, 31. Diese Tendenz zeigt sich zum Beispiel in Verr. 2,5,50f.; Manil. passim; leg. agr. 2,48f.; 2,84; Balb. 39; Die Ermahnung, mannhaft für dieses Erbe zu kämpfen, richtet er auch an die Senatoren: Phil. 3,29 „Wir Senatoren sollten die Entschlossenheit und den Mut unserer Vorfahren zeigen....“; Phil. 8,8; weiterhin Phil. 4,13; 10,20. Vgl. ROLOFF 1938, 72: (Die Aufgabe der Gegenwart ist die eines „Gemäldekonservators“; Bezug zu Cic. rep. 1,2); RECH 1936, 12 (pietätvolle Verehrung). Manil. 55; vgl. ROBINSON 1986, 34; HÖLKESKAMP 1995, 45f.; RECH 1936, 33; ROLOFF 1938, passim; VOGT 1935/1963, 4. Vgl. HÖLKESKAMP 1995, 45. Vgl. div. in Caec. 67; 69 (Prozesse innerhalb der Nobilität); Verr. 1,1,42. Siehe auch MEIER 1980a, 71f.; 305.
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für notwendig, die möglichen Vorwürfe der Grausamkeit der maiores gegenüber Capua aufzunehmen und zu widerlegen.65 Ebenso neigt er nicht dazu, das Leben der maiores als idyllisches Landleben in friedvollen Farben auszumalen. Das Landleben der Vorfahren erwähnt Cicero nur einmal: An dieser Stelle will er seinen Klienten Sextus Roscius in die Tradition der maiores stellen.66 Schon vorher verfolgt er in seinem Plädoyer für Roscius die Strategie, die Lebensweise seines Schützlings mit der der Vorfahren zu identifizieren und so die maiores zum stärksten Patron des Roscius zu machen. Dem stellt Cicero den skrupellosen Chrysogonos entgegen, der sich gerade in religiösen Dingen in eklatanter Weise an den von den Vorfahren überkommenen Bräuchen vergangen habe.67 Ansonsten ist es Cicero auch möglich, die Strenge der Vorfahren etwas herunterzuschrauben und zum Beispiel seinem jungen Klienten Caelius dadurch zu Hilfe kommen, daß auch die Vorfahren sich über den Besuch bei einer Dirne kaum ereifert hätten – im Gegenteil: Ein Verbot wäre „sehr streng“ und widerspräche auch „der Gewohnheit und den Zugeständnissen“, die die Vorfahren der Jugend eingeräumt hätten.68 Man kann Ciceros Erwähnungen der maiores auch in die entgegengesetzte zeitliche Richtung lesen und schlußfolgern: Die maiores regelten mit den Rechtsvorschriften, wie sie Cicero von ihnen herleitet, Delikte, die bei ihnen vorkamen. Es gab anscheinend auch bei den maiores ‚geschäftstüchtige‘ Menschen, die auf krummen Wegen mehr verdienen wollten. Die Strafe, die am Verwandtenmörder vollstreckt werden sollte, nennt Cicero einzigartig (supplicium singulare) und durch ihre Härte abschreckend.69 Die Vorfahren formulierten diese Regel, weil sie einsahen, daß die Natur des Menschen zu jedem Unrecht fähig sei. Diese Perspektive kann man allerdings nur dann einnehmen, wenn man Ciceros Aussagen ‚gegen den Strich‘ liest. Die Vorbehalte sind nur implizit aus seinen Äußerungen zu erschließen. Man kann allerdings festhalten, daß Cicero sich nicht darum bemüht, ein moralisches Idyll zu konstruieren, in dem die Bürger der Frühzeit – wie später bei Sallust – einen edlen Wettkampf um die Tugend betrieben. 65 Vgl. leg. agr. 1,19. – Die Ansicht, die Vorfahren seien in diesem Punkt grausam gewesen, scheint er allerdings nachvollziehen zu können. Diese aufscheinenden Widersprüche könnten mit zwei Gründen erklärt werden: Zum einen muß jeweils der situative rhetorische Zweck einer Aussage – auch zu den maiores – berücksichtigt werden. Zweitens sollte man sich die unterschiedlichen Quellen ethischer Werturteile vor Augen halten, nämlich die vorbildhaften maiores in den Reden einerseits und den viel stärker griechischen Diskurs in den (staats)philosophischen Schriften andererseits, der stark von Zivilisationsmodellen geprägt ist (als Schlagwort könnte man die ‚drakonischen Strafen‘ anführen). 66 S. Rosc. 51. Vgl. aber auch die exempla-Reihe in leg. agr. 2,64: Cicero nennt hier Feldherren des dritten Jhs. v. Chr., die sich durch ihre Bescheidenheit und Zufriedenheit in ihrer Armut auszeichneten. 67 Siehe S. Rosc. 23; 50f. Zu den maiores als Stifter der Religion Verr. 2,4,115; 132. Vgl. STINGER 1993, 32; RECH 1936, 9; 52ff.; KROLL 1933, 41. 68 Cael. 48. 69 Vgl. S. Rosc. 69; vgl. RECH 1936, 13; LEEMANN 1963, 99.
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Cicero konstruiert in seinen Reden weder eine moralisch-politisch völlig intakte Vergangenheit noch (über ein markantes Ereignis, das einen Wendepunkt bedeutet) eine moralisch-politisch gänzlich degenerierte Gegenwart.70 Dies ist aber auch nicht zu erwarten, da die Römer die Wirklichkeit als etwas verstanden, das im Grunde gut war.71 Die maiores stehen für religiöse und rechtliche Autorität und militärischen Erfolg. Viel mehr berichtet Cicero von den maiores nicht. Dies bezieht sich auch auf die inneren Zustände Roms, auf etwaige Konflikte in politischen Fragen oder innerhalb der führenden Schicht im Senat. Über solche Dinge schweigt Cicero. Das Bild der maiores wird von einer großen Homogenität geprägt, die auf den genannten drei Säulen (Religion, Recht und Militär) ruht. Präzisere und differenziertere ‚Innenansichten‘ werden nicht gegeben und anscheinend auch nicht erstrebt.72
70 Sall. Catil. 9: „Boni mores colebantur; concordia maxuma, minuma avaritia erat; ius bonumque apud eos non legibus magis quam natura valebat; ... cives cum civibus de virtute certabant.“ Vgl. in diesem Sinne auch ELVERS 1993, 62. Anders STINGER 1993, 9; siehe auch ROLOFF 1938, 62 (ausgehend von Ciceros de republica). – Phil. 5,47 sagt Cicero, daß die Vorfahren, als sie noch aus altem Schrot und Korn waren, keine Altersbegrenzungen als nötig betrachteten. Diese seien erst viele Jahre später durch den überhandnehmenden Ehrgeiz erforderlich geworden. 71 MEIER 1980a, 58; 167. 72 Vgl. auch HÖLKESKAMP 1995, 45; STINGER 1993, 296.
3. DIE PROBE AUFS EXEMPEL – ALTE BEISPIELE Die Vergangenheit, die mit dem Begriff maiores gemeint ist, kann – wie gesehen – sehr weit reichen. Sie kann aber auch zeitlich näher beispielsweise auf die Großvätergeneration bezogen sein. In den folgenden Abschnitten sollen daher konkrete exempla dieses sehr weiten Zeitraums, den die maiores füllen, und ihre Verargumentierung in Ciceros Reden untersucht werden, zunächst einige exempla vetera. Exempla der Königszeit Romulus, der erste König Roms, wird in den Reden zweimal angeführt. Im Rabirius-Plädoyer verurteilt Cicero das archaische Verfahren, das gegen den greisen Angeklagten angewandt wurde, um den politischen Mord an Saturninus im Zusammenhang der Debatte über das senatus consultum ultimum aufzuarbeiten. Cicero betonte, daß die Ankläger das Verfahren aus alten Annalen der Königszeit ausgegraben hätten.1 In dieser Hinsicht greift Cicero den Ankläger T. Labienus immer wieder an. Wie könne er sich popularis nennen, da er das Leben eines römischen Bürgers beenden wolle? C. Gracchus hätte ein derartiges Vorgehen nie gestattet. Das beabsichtigte Strafmaß widerstreite der Freiheit und Milde (libertas, mansuetudo). Die Strafe sei sogar schlimmer als unter Romulus oder Numa Pompilius. „Tarquinius, der anmaßendste und grausamste König, hat diesen Martergesang erfunden, den du, ein sanfter und volksfreundlicher Mensch, mit größtem Vergnügen im Munde führst …“.2 Im Lichte der republikanischen Freiheit, für die sich einzusetzen er vorgibt, ist Labienus’ Vorgehensweise geradezu pervers, wie es das Königsbeispiel noch unterstreicht. Die zweite Erwähnung nimmt Bezug auf Romulus’ Außenpolitik. In seiner Rede für Balbus formuliert Cicero: Es sei einer der vorzüglichen Grundsätze des römischen Gemeinwesens, daß man Bürger nur eines einzigen Staates sein dürfe. Dies sei seit den Anfängen des Staatswesens so gewesen und durch göttliche Ein1
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Cic. Rab. perd. 15: Ankläger hätten Verfahren und Strafe nicht gemäß ihrer und ihrer Väter Erinnerung beantragt, sondern aus besonderen Quellen den Aufzeichnungen und Geschichtswerken der Königszeit: „…cum iste omnis et suppliciorum et verborum acerbitates non ex memoria vestra ac patrum vestrorum sed ex annalium monumentis atque ex regum commentariis conquisierit …“. Rab.perd. 13: „... sed ne Romuli quidem aut Numae Pompili; Tarquini, superbissimi atque crudelissimi regis, ista sunt cruciatus carmina quae tu, homo lenis ac popularis, libentissime commemoras.“
PROBE AUFS EXEMPEL – ALTE BEISPIELE
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gebung von den Vorfahren stets so gehandhabt worden. Als eine vorbildliche Handlung der Vorfahren führt Cicero den Vertrag des Romulus mit den Sabinern an. Cicero nennt ihn an dieser Stelle nicht rex, sondern betitelt ihn als „princeps ille creator huius urbis“. 3 In dieser Passage ist das Beispiel des Romulus geradezu mos maiorum stiftend und in keiner Weise negativ von republikanischen Traditionen abgesetzt. Ciceros Prahlerei über sich und seine Heldentaten bei der Aufdeckung der catilinarischen Verschwörung führte dazu, daß ihm selbst tyrannische Ambitionen nachgesagt wurden: Daher kommt es, daß ihn Torquatus, der Ankläger von Ciceros Klient Faustus Sulla, in eine Reihe mit ausländischen Tyrannen stellte, darunter eben auch Tarquinius und Numa. Cicero beißt sich aber vor allem an dem Vorwurf, „ausländisch“ zu sein, fest und führt große Gestalten der römischen Geschichte an, die wie er selbst aus einem municipium stammten.4 In der Rede über sein Haus erwähnt Cicero König Numa als Begründer der römischen Religion. Daß eine Weihung ein überaus heiliger Vorgang sei, könnten Worte des Numa sein, und die anwesenden Priester sollten sie sich zu Herzen nehmen.5 Während diese Erwähnung Numas als des Stifters der römischen Religion eher positiv erscheint, formuliert Cicero an anderer Stelle, daß das clodianische Vorgehen nicht einmal mit einem Beispiel aus der Königszeit verglichen werden könne. Im Gegenteil habe es immer ein ordentliches Verfahren in Angelegenheiten gegen einen römischen Bürger geben müssen, und zwar schon in den Zeiten der Königsherrschaft.6 Aber grundsätzlich sei die königliche Herrschaft mit republikanischer libertas nicht vergleichbar. Das Gutachten der Priester über die Handlungen des Clodius konstatierte die Verletzung uralter und geheimer Opferhandlungen. Cicero spricht von uraltem Ritus, den die Römer „als eine mit unserer Stadt gleichaltrige Einrichtung den Königen verdanken“ würden. Aber hier läßt Cicero das Wort „uralt“ fälschlicherweise in die Königszeit weisen, da der Bona-Dea-Kult in Wahrheit Ende des 3. Jhs. aus Tarent eingeführt worden war. Gerade die Religion sollte mit den Ursprüngen der Stadt in Verbindung stehen, um das Verhalten des Clodius um so schändlicher erscheinen zu lassen. Daher verweist auch Cicero noch einmal darauf, daß Lentulus in seiner Anklage gegen Clodius das Begriffspaar „uralt und geheim“ („vetusta occultaque“) besonders häufig verwendet habe.7 Lucius Calpurnius Piso Caesoninus habe ohne die Ratsversammlung regieren wollen, was nicht einmal die Könige in Rom vermocht hätten, wirft Cicero dem Consul von 58 v. Chr. in seiner Invektive vor, um ihn nicht einfach als Verletzer
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Cic. Balb. 31: „cuius [sc. Romuli, F.B.] auctoritate et exemplo…“. Sull. 22f. Dom. 127: „dedicatio magnam…habet religiosam.“ Dom. 33. Har. resp. 37.
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republikanischer Traditionen darzustellen, sondern Piso selbst im Vergleich zur Königsherrschaft in Rom schlecht dastehen zu lassen.8 Der Vergleich der Zustände unter Antonius mit den Zuständen in der Königszeit wird von Cicero herangezogen, um Antonius in denkbar schlechtem Licht erscheinen zu lassen: Die Könige hätten auf Vorzeichen geachtet – Antonius manipuliere die Wahlen durch erfundene Vorzeichen; unter Antonius befänden sich „bewaffnete Barbaren“ im Senat, auch so etwas habe es in der Königszeit nicht gegeben.9 Antonius lasse sich auch erstmals seit Bestehen der Stadt ganz offen von bewaffneten Leuten begleiten; dies hätten „unsere Könige“ nicht getan.10 Besonders im Kampf gegen Antonius häuft Cicero Vergleiche mit der Königszeit. Im Anschluß an die berühmte Schilderung des Lupercalienfestes vom Februar 44 v. Chr. stellt Cicero fest, daß Antonius’ Versuch, einen König zu kreieren, dem Gang der römischen Geschichte zuwiderlaufe. L. Tarquinius sei vertrieben und die Tyrannisaspiranten Sp. Cassius, Sp. Maelius und M. Manlius seien getötet worden. Geschah dies, „damit viele Jahrhunderte später ein M. Antonius in Rom einen König einsetzt?“11 Auf den ausgiebigen Vergleich zwischen Antonius und Tarquinius sei hier nur hingewiesen. Eine ausführlichere Behandlung folgt weiter unten im Abschnitt Reden vor Volk und Senat. 12 Im Ergebnis versucht Cicero, Antonius aus jeglicher republikanischen Tradition auszuschließen und den Kampf gegen ihn für eine mindestens so gerechte Sache zu erklären wie die Vertreibung des Tarquinius Superbus. Mit demselben ‚exempla-Personal‘ zieht Cicero einen Vergleich zu den Caesarmördern. Sie hätten erreicht, was zuvor noch nie dagewesen sei. Brutus habe gegen Tarquinius gekämpft, als es immerhin tatsächlich noch Könige in Rom gab und man noch „König sein durfte“. Spurius, Maelius und Manlius seien getötet worden wegen des bloßen Verdachts des Strebens nach königlicher Herrschaft, aber die jetzigen Caesarmörder hätten nun Caesar getötet, der wirklich eine Königsherrschaft innehatte. Daher rühre auch ihr unglaublicher Ruhm.13 In religiöser Hinsicht bietet die Königszeit ein Fundament auch für die römische Republik. Besonders die Herrschaft des Numa Pompilius wird von Cicero als grundlegend und prägend angeführt. Will er aber im persönlichen wie im politischen Kampf einen Gegner möglichst schlecht dastehen lassen, stellt Cicero ihn vor der Folie der Königsherrschaft als noch schlechter hin, als es in der Königszeit war. Der Begriff der Königszeit bildet den Gegenpol zur republikanischen Freiheit, und wenn ein römischer Bürger der Republik in Ciceros Augen diese Freiheit angreift, dann zieht 8 9 10 11 12 13
Pis. 23. Phil. 3,9. Phil. 5,17. Phil. 2,87: „… ut multis post saeculis a M. Antonio … rex Romae constitueretur?“ Phil. 3,9ff.; vgl. unten S. 251ff. Phil 2,114: „Illi quod nemo fecerat fecerunt. Tarquinium Brutus bello est persecutus, qui tum rex fuit cum esse Romae licebat.“
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Cicero das Königsbeispiel hervor: Es steht für Übermut, Tyrannis, Unfreiheit, unrepublikanischen Herrschaftsdrang. Cicero versucht also, mit Hilfe des Exemplum seinen jeweiligen Gegner aus dem republikanischen Bürgerverband auszugrenzen. Mit den Konnotationen und Assoziationen des ‚königlichen‘ exemplum wird jedes Vorgehen gegen den Gegner legitimiert. Die fragwürdige politische Gesamtsituation eines Bürgerkrieges gegen Antonius übergeht der Redner. Das Gründungsjahr der Republik Die Tradition kennt verschiedene Geschichten und Personen, die im Gründungsjahr der Republik eine wichtige Rolle spielten. Cicero nennt drei Consuln des Jahres 509 v. Chr.: M. Horatius Pulvillus, P. Valerius Poblicola, L. Iunius Brutus. Selbst wenn Horatius Pulvillus die Weihung von Ciceros Grundstück durchgeführt hätte – sie wäre dennoch ungültig gewesen. Cicero erinnert hier an Horatius’ Standhaftigkeit bei der Weihung des kapitolinischen Tempels, obwohl schlechte Vorzeichen vorgetäuscht worden waren.14 Horatius wird von Cicero im Miloprozeß angeführt, um damit ein Beispiel für die straflose Tötung eines Menschen anzuführen. Er hatte nämlich, als noch Könige in Rom herrschten („nondum libera civitas“), seine Schwester getötet, es auch gestanden und war dennoch vom römischen Volk freigesprochen worden.15 Cicero beläßt es dabei, er erzählt die Geschichte nicht, die sich um die legendären Horatii, ihren Kampf gegen die Curatii und den Schwestermord rankt. Aufgrund seiner Verdienste um die Stadt erhielt P. Valerius auf Staatskosten ein Haus auf der Velia. Damit vergleicht Cicero seine eigene einzigartige Stellung, da man ihm auf Staatskosten sein Haus wiedererrichtet, und zwar auf dem Palatin! Außerdem sei er durch weitere Dinge noch höher privilegiert als Valerius: Cicero erhalte schließlich Mauer und Dach – Valerius lediglich den Bauplatz; er, Cicero, brauche sein Haus nicht eigens zu schützen, wie Valerius dies tun mußte, für den Schutz von Ciceros Haus sorgten die Beamten.16 So detailliert dieser Vergleich auch von Cicero ausgeführt wird, so wenig ist gewiß, ob Ciceros Zuhörer einordnen konnten, wovon Cicero sprach. Valerius ist ohne jede Erklärung als exemplum angeführt. Cicero geht es nur um das Haus auf Staatskosten, alles was er sonst von Valerius berichtet, sind seine überaus großen Wohltaten für die res publica („maxima beneficia in rem publicam“), die er aber inhaltlich nicht erläutert. Nun könnte man von dem pontifikalen Auditorium annehmen, daß die Geschichten, die sich um das Haus des Valerius ranken, bekannt 14 Dom. 139. 15 Mil. 7. Gleich danach fügt Cicero die jüngeren Beispiele an, beginnend mit dem Gracchusexemplum bis hinab zur Tötung der Catilinarier, allerdings unterbrochen durch das des Servilius Ahala aus dem 5. Jh. v. Chr. 16 Har. resp. 16.
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sind, aber sicher ist das m.E. nicht. Es ist zudem die einzige konkrete Erwähnung des Poblicola in den erhaltenen Reden. Einen allgemeineren Bezug ohne konkrete Namensnennung findet man in Ciceros Plädoyer für Valerius Flaccus. Ciceros Client hatte ihn maßgeblich bei seinem Vorgehen gegen Catilina unterstützt. Dies bietet Cicero Anlaß, die Geschichte von Valerius und seine eigene Ruhmestat in einer Art Ringkomposition zusammenzuschließen: Er verbindet die Vertreibung Catilinas sowie „die uralte Ruhmestat des valerischen Geschlechts“ und „die Befreiung des Vaterlandes, nach fast fünfhundertjährigem Bestehen unseres Gemeinwesens“ miteinander.17 Cicero betont in seinem Plädoyer für Flaccus dessen vornehme Herkunft aus altadligem Hause.18 Am Schluß der Rede blickt Cicero auf den Sohn des Flaccus: Der Name des Hauses, das für Ruhm und Tapferkeit stehe, würde durch eine Verurteilung zerstört.19 Cicero betont also nur im allgemeinen den Ruhm der Familie, auf den konkreten Namen des Consuls aus dem ersten Republikjahr geht er gar nicht ein. Das exemplum kommt in diesem Plädoyer deshalb vor, weil es ein Familien-exemplum des Beklagten ist. In den anderen Reden wird es nicht angeführt. L. Iunius Brutus wird als derjenige erinnert, der die Bürgerschaft von der Königsherrschaft befreit hat.20 Cicero zitiert dabei die Anklagerede seines Prozeßgegners im ambitus-Verfahren gegen Plancius.21 Brutus habe den Staat von der Königsherrschaft befreit und zu einer ähnlichen Tat eine fast fünfhundertjährige Nachkommenschaft hervorgebracht.22 Cicero betont die Nemesis des Namens „Brutus“, der das Vorgehen gegen Caesars monarchische Herrschaft als Familientradition und -pflicht erscheinen lasse, hätten die Bruti doch täglich die imago ihres großen Vorfahren vor Augen gehabt.23 17 Flacc. 1: „…cum Flaccus veterem Valeriae gentis in liberanda patria laudem prope quingentesimo anno rei publicae rettuliset…“. 18 Flacc. 81. 19 Flacc. 106. 20 Planc. 60, Phil. 3,9;4,7; 5,17. Seine Statue konnte man inmitten der Könige auf dem Capitol sehen; Plut. Brut. 1,1; vgl. SEHLMEYER 1999, 72–74 mit Literatur, WELWEI 2001. 21 Planc. 60. Die Stelle lautet in der Übersetzung FUHRMANNS: „Doch nie hat jemand so argumentiert wie du: „Warum ist der denn Consul geworden? Was hätte er noch werden können, wenn er L. Brutus wäre, der die den Staat von der Zwangsherrschaft der Könige befreit hat?“ / „Sed nemo umquam sic egit ut tu: „cur iste fit consul? Quid potuit amplius, si esset L. Brutus, qui civitatem dominatu regio liberavit.“ 22 Phil. 1,13. Im selben Sinne des Familienvorbilds Phil. 2,26. Hier spricht Cicero von beiden Bruti, die an der Verschwörung beteiligt waren, wobei der eine Brutus ja auch noch das Beispiel des Ahala vor Augen gehabt habe, womit er auf einen legendären Vorfahren von M. Iunius Brutus’ Mutter anspielt. Siehe auch Phil. 4,7: Bruti (Pluralnennung) ein Geschenk der Götter an die Römer, um die „Freiheit des römischen Volkes sei es zu begründen, sei es wiederherzustellen“ („Est enim quasi deorum immortalium beneficio et munere datum rei publicae Brutorum genus et nomen ad libertatem populi Romani vel constituendam vel recipiendam.“); Phil. 10,6–14. 23 Übersetzung FUHRMANN zu Phil. 2,26; 4,7; 5,14 (Brutus, „der durch die Bestimmung von Namen und Geschlecht beider Eltern dazu ausersehen ist, dem Staate zu dienen“ / „cum sua
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Bei der Beratung über die Ehrungen für den getöteten Caesar formuliert Cicero seine ablehnende Haltung gegen göttliche Ehren für den Dictator: Er wäre selbst im Falle des alten Brutus nicht bereit, einen Verstorbenen in die Verehrung der unsterblichen Götter einzubeziehen und ein staatliches Dankfest zu feiern. Cicero betont die Ringkomposition der Geschichte, wenn er festhält, daß Lucius für ein ähnliches Heldentum eine fast fünfhundertjährige Nachkommenschaft hervorgebracht habe.24 Die Tötung Caesars muß nach Cicero vor dem Hintergrund der historischen Präzedenzen eingeordnet und bewertet werden: L. Brutus habe gegen einen König gekämpft, als man in Rom noch König sein durfte,25 darauf werden die exempla Spurius Cassius, Spurius Maelius, M. Manlius von Cicero angeführt: Sie hätten nur im Verdacht gestanden, eine Königsherrschaft anzustreben. Die Verschwörer gegen Caesar – Cicero nennt sie „unsere Befreier“ – haben jemanden aus dem Wege geräumt, der bereits König gewesen sei. Ihre Tat könne gar nicht überschätzt werden. Im Verlauf der Auseinandersetzung mit Antonius verknüpft Cicero das exemplum des Brutus, den populus Romanus von einem Alleinherrscher zu befreien, mit dem Kampf gegen Antonius.26 L. Brutus habe dem populus einen großen Dienst erwiesen. Aber sein Nachkomme D. Brutus müsse Größeres leisten, z. T. sei dieses bereits geschehen (Ermordung Caesars), ein weitere Tat stehe noch aus: die Tötung des Antonius. Cicero zählt die Bruti auch schon vor den Entwicklungen des Jahres 44 v. Chr. als Pluralkollektiv auf. So plaziert er sie an die erste Stelle in einer Aufzählung der großen Römer bzw. römischen Familien, die er im berühmten Optimatenexkurs der Sestiana anbringt. Die in dieser exempla-Kette Genannten hätten den Staat erhalten, und Cicero möchte sie unter die Unsterblichen gerechnet wissen.27 Auf den Consul von 138 v. Chr., D. Iunius Brutus Callaicus, spielt Cicero nur indirekt an, wenn er die Anrufung verstorbener römischer Feldherrn durch die Gesandten von Gades unterstreicht, denen Gaditaner stets Unterstützung und Hilfe gewährt hätten. In der einschlägigen exempla-Reihe stehen dann auch die Bruti.28 Im Kampf gegen Antonius müsse man M. Brutus, der sich seiner Vorfahren würdig erweise, in besonderem Maße unterstützen. Calenus, der die Beendigung von Brutus’ selbstherrlichem Kommando beantragt hatte, solle, so mahnt Cicero
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excellentissima virtute rei publicae natus tum fato quodam paterni maternique generis et nominis.“). Auf Decimus Brutus im selben Sinne gemünzt: Phil. 3,8. – Sull. 88: Die Ahnenmasken sind die „Zier eines Hauses“ („domus ornata“). Phil. 1,13. Phil. 2,114: „Tarquinium Brutus bello est persecutus, qui tum rex fuit cum esse Romae licebat.“ Phil. 3,9–11; vgl. auch 4,7. Sest. 143: „…qui hanc rem publicam stabiliverunt; quos equidem in deorum immortalium coetu ac numero repono.“ Balb. 40.
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ihn, sich besser für die Bruti einsetzen: „Damit würdest Du für das Wohl des Staates sorgen und deinem Sohn nachahmenswerte Beispiele vor Augen führen.“29 Er erinnert ihn daran, daß ein Brutus die Monarchie beendet habe. Er beschreibt die positive Stimmung bei den Spielen anläßlich der ludi Apollinares, die vom abwesenden Brutus gestiftet waren.30 Die alten exempla der Consuln des ersten republikanischen Jahres kommen nur sehr selten vor. Cicero verzichtet sogar auf die Möglichkeiten, dramatische Geschichten erzählen zu können wie etwa den Horatier-Schwur. Valerius Poplicola führt Cicero nur einmal konkret und das in eigener Sache als Beispiel an: in der sehr auf einen Spezialfall gemünzten und daher auch mit spezifischen exempla angereicherten Rede über sein Haus. Im allgemeinen erinnert er an die Valerii in der Gerichtsrede für einen Valerius. Daher scheint es mir auch in diesem Fall eher fragwürdig zu sein, dieses exemplum dem aktiven bzw. aktivierbaren kollektiven Gedächtnis zuzuweisen und seine allgemeine Kenntnis vorauszusetzen. Das Brutus-exemplum erlebt in dem Augenblick eine Aktualisierung und Politisierung, als es gebraucht wird. Cicero führt es gleichermaßen vor Volk und Senat an, es ist allgemein bekannt. Es fällt auf, daß es vor 44 v. Chr. grundsätzlich in allgemeinen Erörterungen und etwa in den stereotypen exempla-Reihen praktisch nicht auftaucht.31 Als dann aber der Kampf um die libertas und die Legitimierung der Tötung des Tyrannen Caesar die politischen Verhältnisse und den politischen Diskurs prägen, ist das Brutus-exemplum mit einem Mal in aller Munde und vor aller Augen. Die Familie kann auf ihre Geschichte verweisen, Cicero sieht durch das Geschehene neue exempla konstituiert, die nachzuahmen sind. Der Kampf unter der Überschrift ‚Für die libertas‘ wurde nicht als Bürgerkrieg gekennzeichnet. Im Gegenteil bemühte sich Cicero gerade darum, die Gegner durch Vergleiche mit der Königszeit ideologisch auszubürgern und so ein bellum iustum im Kampf zu sehen. Marcus Furius Camillus – der Retter des Vaterlandes In einer Rede auf Camillus zu sprechen zu kommen, konnte – zumindest am Comitium – relativ naheliegen, hatte man doch „in rostris“ seine Statue aufgestellt.32 Die erste Erwähnung des Camillus findet sich allerdings erst recht spät in Ciceros 29 Phil. 10,5: „Simul enim et rei publicae consules et propones illi exempla ad imitandum.“ (Übersetzung FUHRMANN). 30 Phil. 10, 5–14. 31 Die Argumentation böte sich ja auch gegen Catilina oder etwa gegen die Machenschaften eines Clodius an. Bei diesen Gegnern aber zieht Cicero lieber Vergleiche zur Sullazeit und ist darum bemüht – etwa im Falle Catilinas – seinen Gegner als sullanisches Geschöpf zu diskreditieren. Diese aktuelle, zeitgenössische Erinnerung war womöglich schlagkräftiger. 32 Plin. 34,23, er war sine tunica abgebildet, wie Plinius betont.
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Rede über sein Haus. Camillus ist eingebettet in eine Gruppe von drei exempla. Cicero gibt einen besonderen Hinweis auf die Quelle seines Wissen: „annales populi Romani et monumenta vetustatis“ seien Grundlage für seine Ausführungen. Sie berichten, daß Kaeso Quinctius und Marcus Furius Camillus sowie C. Servilius Ahala den Haß und Zorn des aufgebrachten Volkes auf sich gezogen hätten, wogegen auch ihre früheren großen Verdienste nichts hätten ausrichten können. Sie seien von den comitia centuriata verurteilt worden, sie seien in die Verbannung geflohen, dann aber, sobald das Volk sich beruhigt hatte, in ihre frühere Rangstellung wiedereingesetzt worden. Wie sie wurde auch Cicero vom Volk zurückgewünscht, was für die Unsterblichkeit des Ruhmes viel einbringe.33 Cicero erwähnt Camillus – jedoch nur implizit als Kollektivplural Camilli - in der großen Beispielreihe von Triumphatoren in seiner Rede gegen Piso, dessen Verzicht auf einen Triumph er als unrömisches Verhalten charakterisieren und diskreditieren will.34 Die Pluralnennung erscheint in einer weiteren exempla-Reihe, in der Cicero militärische Vorbilder auflistet, die in ihrem persönlichen Leben anspruchslos waren.35 Männer mit solchen Tugenden würde man heute gar nicht mehr vorfinden. Diese Tugendvorstellungen entstammten aus einer alten Zeit. Mit den jugendlichen Ausschweifungen seines Clienten Caelius sollte man dennoch nachsichtig sein. Denn sich in der Jugend auszuleben und dann zum Ernst des Lebens zu kommen, sei ganz in Ordnung. So sei es „in unserer Zeit“ wie auch bei „unseren Vätern und Vorvätern gewesen“. Von diesen möchte Cicero keinen mit Namen nennen, aber seine Zuhörer erinnerten sich sicher selbst am besten, wen und was er meine. Also solle man auch dem Caelius alles nachsehen.36 Ebenfalls fallen die Nichtnennungen von Camillus auf: Bei seinen Hinweisen auf die Gallier in Rom bezieht Cicero das Geschehene auf den konkreten Verhandlungsfall, um den es geht – es handelt sich beide Male um Gerichtsverhandlungen. Cicero münzt im ersten Falle das Gallier-exemplum gegen die gallischen Vorwürfe der Provinzausbeutung, die gegen Fonteius erhoben werden: Soll man etwa Galliern Glauben schenken, die einst das Capitol belagert haben? In der Verteidigungsrede für Caecina differenziert Cicero den juristischen Begriff des „Vertreibens“. Camillus kommt in beiden Fällen gar nicht vor.37
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Cic. dom. 86. Pis. 58. Cael. 39. Siehe auch COUDRY 2001, 57, STROH 1975, 266ff.; 288 (zur defensio luxuriae). Cael. 43. Font. 30 und Caecin. 86., vgl. auch STROH 1975, 98. – WALTER 2004, 389, hält bei seinen Untersuchungen zu Camillus schon im Hinblick auf Ennius fest: „Offenbar fand Ennius in der Tradition keinen Hinweis darauf, daß Camillus in der folgenden säkularen Katastrophe des Galliersturms irgendeine maßgebliche Rolle spielte…“. Allerdings berichtete Ennius vom Exil des Camillus, wobei er den zeitgenössischen Fall des Scipio Africanus rückprojiziert habe.
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Am 28.11. 44 v. Chr. lud Antonius zur Senatssitzung. Er erklomm den Weg zum Tempel auf dem Capitol durch den „Galliergang“. Es böte sich geradezu an, das exemplum des Camillus, der den ‚gallischen Feind‘ aus Rom vertrieben hat, einzufügen. Aber davon ist keine Rede. Die Ausbeute ist unerwartet mager. Camillus, der große Held, dessen Reiterstatue sogar im politischen Zentrum Roms stand, kommt als exemplum nur selten vor, und dann noch nicht einmal als großer Held, sondern als Vertriebener, der wie Cicero selbst zurückgerufen wurde. Dieser ‚Karriereknick‘ habe seinem dauerhaften Ruhm jedoch eher genutzt als geschadet. Cicero führt ihn außerdem – im Plural innerhalb von exempla-Ketten – an, wenn er die bescheidene Lebensweise der Alten in Erinnerung ruft. An anderen Stellen, wo es gut möglich wäre, Camillus zu erwähnen, taucht das exemplum nicht auf. Im ganzen ist der Gebrauch sparsam. Von Cicero und dem politischen Diskurs seiner Zeit wird – jedenfalls was die spärlichen Hinweise hergeben – aus Camillus keine große Figur der römischen Geschichte konstruiert. Die Stilisierung des großen Camillus ist vielleicht doch mehr mit der augusteischen Vergangenheitskonstruktion anzusetzen.38 Appius Claudius Caecus – Keiner schimpft so schön wie er Der berühmte Censor von 312 v. Chr. war wahrscheinlich ein immer wieder angeführtes exemplum, als Cicero seit dem Jahr 61 v. Chr. seine erbitterte Auseinandersetzung mit Clodius austrug. Über diese heftige Konfrontation sind nur Nachrichten und Fragmente überliefert, jedoch keine zusammenhängende Rede. Der Streit fand sowohl in der Öffentlichkeit als auch im senatorischen Kreise statt. Cicero berichtet seinem Freund Atticus über seine rhetorischen Heldentaten: „Solange es galt, für den Senatsbeschluß einzutreten, habe ich scharf und stürmisch gefochten, so daß das Volk zusammenströmte und laut seinen Beifall zu meinem rühmlichen Verhalten Ausdruck gab. Wenn ich Dir überhaupt jemals als forscher Politiker erschienen bin, bei dieser Gelegenheit hättest Du mich auf jeden Fall bewundert. Denn als er zu Volksreden seine Zuflucht nahm und dort mit meinem Namen Stimmung zu machen versuchte – großer Gott! was für Schlachten habe ich geschlagen, was für Verwüstungen angerichtet! Wie habe ich mich auf Piso, Curio und die ganze Bande gestürzt! Wie habe ich mich über die Charakterlosigkeit der Alten, über die Haltlosigkeit der Jungen hergemacht. Gar oft habe ich Dich nicht nur als Berater, sondern auch als Augenzeugen dieser Riesenschlachten herbeigewünscht.“39 38 COUDRY 2001; WALTER 2004, 382ff.; FLOWER 2003, BRUUN 2000. 39 Att. 1,16,1 (Übersetzung H. KASTEN): „Ego enim, quam diu senatus auctoritas mihi defendenda fuit, sic acriter et vehementer proeliatus sum ut clamor concursusque maxima cum mea laude fierent. quod si tibi umquam sum visus in re publica fortis, certe me in illa causa admiratus esses. cum enim ille ad contiones confugisset in iisque meo nomine ad invidiam
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Vor dem Senat habe er Clodius durch eine überaus autoritäre Dauerrede niederschmettern können,40 und in der berühmten altercatio zwischen ihm und dem jungen Volkstribun konnte Cicero ebenfalls den Sieg davontragen, wie der Consular seinem Freund Atticus stolz berichtet.41 In dieser Phase der Auseinandersetzung und Polemisierung gegen Clodius hat Cicero in den Redeschlachten wahrscheinlich häufig das Beispiel des Appius Claudius Caecus angebracht, der ja ein Vorfahre des Clodius war. In zwei Fragmenten der Rede in Clodium et in C. Curionem ist es enthalten, einmal nur in einer Anspielung, ein zweites Mal namentlich und in aller Deutlichkeit. Es geht erstens um einen Aufenthalt in Baiae, der Cicero von Clodius vorgeworfen worden war; obendrein schmähte Clodius Ciceros geringzuschätzende Herkunft aus Arpinum: „Was will dieser Mensch aus Arpinum mit einem Ort wie Baiae, so ein Bauerntölpel, wie er ist?“ Dabei charakterisiert Cicero seinen Widersacher mit den Attributen, die er sonst dem Appius Claudius Caecus mit seiner censorischen Strenge zuordnen würde: durus, priscus, severus, austerus, vehemens.42 Durch das Signalwort caecus versucht Cicero, Clodius durch die Erinnerung an seinen integren Vorfahren anzugreifen.43 Natürlich geht es Cicero insgesamt darum, dem scheinbar unbescholtenen Clodius die strenge Maske eines caecus dadurch abzureißen, daß er die Lächerlichkeit des Vergleichs zwischen Clodius und dem alten Caecus herausarbeitet, aber die Fragmente geben nur einen ungefähren Eindruck von dieser Strategie. Zur zweiten Erwähnung: Hier erzählt Cicero von Clodius’ ornatus mulieris, seiner Verkleidung zu einem Mädchen, bevor er die Feierlichkeiten der Bona Dea ‚besuchte‘.44 Cicero schildert, wie Clodius die einzelnen Accessoires anlegt – er verfolgt die Strategie des Lächerlichmachens durch Darstellung eines unmännlichen Verhaltens – und fragt ihn: „Hast Du Dich denn währenddessen in keinem Moment daran erinnert, daß Du ein Nachfahre des Appius Claudius bist?“45 All das, wofür der altehrwürdige Caecus steht, erscheint durch Clodius entehrt. In einer vollständig überlieferten Rede begegnet das Caecus-exemplum erstmals in Ciceros Rede über sein Haus, in der er den engen Familienbezug beibehält. Der Consular formuliert scharfe Attacken gegen seinen Erzfeind Clodius,
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uteretur, di immortales! quas ego pugnas et quantas strages edidi! quos impetus in Pisonem, in Curionem, in totam illam manum feci! quo modo sum insectatus levitatem senum, libidinem iuventutis! saepe, ita me di iuvent, te non solum auctorem consiliorum meorum verum etiam spectatorem pugnarum mirificarum desideravi.“ Att. 1,16,9: „Clodium praesentem fregi in senatu cum oratione perpetua plenissima gravitatis.“ Att. 1,16,10. In P. Clodium et Curionem. Frg. 19CRAWFORD. Cicero läßt Clodius als interlocutor die Frage stellen: „Quid homini Arpinati cum Baiis, agresti ac rustico?“ In P. Clodium et Curionem Frg. 20CRAWFORD mit dem Kommentar. In P. Clodium et C. Curionem Frg. 21CRAWFORD. In P. Clodium et Curionem Frg. 23CRAWFORD: „…numquam te Appi Claudi nepotem esse recordatus es?“ Vgl. Zur humorvollen Darstellung GEFFCKEN 1973, 79f.; CORBEILL 1996, 167ff.
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daß er gegen die Traditionen seiner Familie verstoße und sich als seiner Vorfahren unwürdig erweise. Cicero nennt die Erblindung des alten Censors, er erwähnt die religiöse Scheu und setzt sie damit pointiert von Clodius’ Besudelung des Kultes der Bona Dea ab.46 An anderer Stelle mahnt Cicero Clodius unter Anspielung auf die Inzestgerüchte im Hause der Claudii, die erloschenen Augen „deines Urahns“ hätten ihm erstrebenswerter sein sollen als die glühenden Augen seiner Schwester.47 Im Prozeß gegen Caelius beschwört Cicero im Verlaufe seiner Verteidigungsrede Appius Claudius Caecus aus der Unterwelt herauf, um der Clodia eine geradezu donnernde Standpauke zu halten.48 An dieser theatralischen Stelle zeichnet Cicero das Bild eines Römers von altem Schrot und Korn, etwas unfreundlich und grob, mit klaren moralischen Vorstellungen und sehr autoritärem Auftreten.49 Er stellt ihn sich mit einem gewaltigen Bart vor, wie man sie auf den alten Statuen sehe. Da biete sich der berühmte Blinde fast von selbst an. Da er die verkommene Nachfahrin ja nicht sehen könne, werde er den geringsten Schmerz spüren.50 Also läßt Cicero ihn eine imaginäre Rede halten: Alle Vorfahren ab der Urururgroßvater-Generation seien Consuln gewesen – dessen möge sie sich bewußt sein. Ebenfalls solle sie ihre ausgezeichnete Eheverbindung hochachten, würde er Clodia ins Gewissen reden und ihre Gleichgültigkeit kritisieren. Denn die imagines des Hauses ließen sie ja unberührt! Caecus würde ihr die Familienehre vor Augen führen und von seinen eigenen Leistungen berichten: von seiner Verhinderung des Friedenschlusses mit Pyrrhos, von den Baumaßnahmen zur Verbesserung von Roms Wasserversorgung und vom Bau der Via Appia. Habe er etwa „deswegen eine Straße gebaut, damit du sie in Begleitung fremder Männer befährst?“51 Aber Cicero muß zugeben, daß Caecus mit seiner censorischen, doch zugleich gerechten Strenge Caelius ebenfalls einiges in Stammbuch schreiben könnte. Als Erbauer der Via Appia wird Caecus in der Rede für Milo angeführt, der in einem Gefecht auf der Via Appia mit den Trupps des Clodius gekämpft hatte. Bei diesem Gefecht am 18. Januar 52 v. Chr. war Clodius umgekommen. Die Anklage unterstrich dies und behauptete, daß der Tod des P. Clodius um so schrecklicher sei, da er an einem Ort getötet worden sei, der das Gedächtnis an seine Vorfahren bewahre. „Als hätte der große Appius Caecus die Straße nicht zum Nutzen des Volkes, sondern für straflose Raubzüge seiner Nachkommen gebaut“, weist Cicero das Lamento des Anklägers zurück.52 46 47 48 49 50
Cic. dom. 105. Har. resp. 38. Cael. 33ff. Cael. 36: „durus ac paene agrestis“. Cael. 33: „minimum enim dolorem capiet qui istam non videbit.“ – Vgl. zu den Vorstellungen über das Aussehen der Alten auch Sest. 19; Varr. rust. 2,11,10; VOGT 1935, 11. 51 Cael. 34: „... ideo viam munivi, ut eam tu alienis viris comitata celebrares?“ (Übersetzung FUHRMANN). 52 Mil. 17: „Nisi forte magis erit parricida, si qui consularem patrem quam si qui humilem necarit, aut eo mors atrocior erit P. Clodi quod is in monumentis maiorum suorum sit interfec-
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In den Verhandlungen über einen Frieden mit Pyrrhos hatte der damals hochbetagte und schon lang erblindete Caecus eine Rede im Senat gehalten, für die seine Söhne ihn eigens in das hohe Haus gebacht hatten. Es handelte sich in der damaligen Situation also um eine äußerst wichtige Debatte. Im Vergleich dazu sei die vom Vortag nur als marginal zu bezeichnen, wie Cicero am 2. September 44 v. Chr. sein gestriges Fehlen begründete. Es sei weder über den Frieden mit Pyrrhos verhandelt worden, noch habe etwa „Hannibal ad portas“ gestanden, lautete Ciceros Replik auf Antonius’ Beschwerde über sein Fernbleiben.53 Besonders durch den imaginären Auftritt in der Rede Pro Caelio gewinnt das rauhe, strenge, alte Bild des Caecus an Kontur. Cicero haucht dem exemplum Atem und Lebendigkeit ein. Die ganze Strenge, die der Redner produziert, wird aber bewußt als altertümlich ironisiert und damit der Ehrfurcht vor dem großen Alten doch einige Schlagkraft genommen.54 Cicero ließ womöglich seine schauspielerischen Fähigkeiten bei diesem Auftritt so gut es ging wirken – er dürfte eine gute ‚Show‘ geboten haben. Historische Leistungen des Caecus werden ebenfalls erwähnt: Die Ablehnung eines Friedens mit Pyrrhos sowie der Bau der Via Appia sind konstante Bestandteile dieses exemplum. Seine allgemeine Tragweite ist jedoch schwer abzuschätzen: Cicero erwähnt ihn zum ersten Mal und in der Folge dann stets im festen Bezug auf die familialen Ereignisse im Hause der Claudii, deren große Familientradition durchaus miterinnert wird – man denke nur an die Consulnreihe, die Caecus erwähnt. Aber auch die Via Appia wird als Familienmonument betont. Losgelöst von der Familie ist lediglich die Erwähnung in der ersten Philippica. Familienehre und Familienpflicht – die devotiones der Decii Die berühmten devotiones von Vater (340 v. Chr.) und Sohn (295 v. Chr.) für das Wohl der res publica sind von Livius breit dargestellt worden. Vergil erwähnt sie als Beispiele in seinen Georgica und in der Heldenschau in der Aeneis.55 In der augusteischen Zeit waren die Selbstopferungen der Decii wohlbekannt und literarisch, historiographisch und episch verankert. Der römische Spaziergänger konnte ihre Statuen – vielleicht – auf dem Forum Augusti bewundern.56 Dem gebildeten
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tus – hoc enim ab istis saepe dicitur proinde quasi Appius ille Caecus viam munierit, non qua populus uteretur, sed ubi impune sui posteri latrocinarentur!“ Phil. 1,11. Vgl. zur Sicht auf die ‚Alten‘ allgemein VOGT 1935, 11: „Man hörte zuviel von ihren Tugenden, sah ihr Bild, die bärtigen Köpfe mit dem strengen Blick zu oft um sich, um sie nicht gelegentlich veraltet oder gar belustigend zu finden.“ Liv. 8,9; 10,28; Verg. georg. 2,169; Aen. 6,824. Vgl. dazu ITGENSHORST 2005 Katalogeintrag Nr. 79a (eventueller Triumph des P. Decius Mus, cos. 312, im Jahr des Consulats) Es gab wohl keine Ehrenstatuen/Elogien auf einem der Fora in Rom, zumindest ist dies „nicht bekannt“; vgl. ibd. (Anm. 82): „Möglicherweise wurde
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Republikaner war die decische devotio durch Ennius bekannt. Accius hatte den Stoff in einer fabula praetexta verarbeitet. War dieses alte exemplum somit auch ein fester Bestandteil des republikanischen Diskurses? Tatsächlich findet sich die früheste Erwähnung in Ciceros Reden erst nach der Verbannung. Cicero bezieht das Exempel auf seine eigene Person, in Hinsicht auf sein Schicksal und natürlich auf seine Verdienste um die res publica: Cicero stellt seine Entscheidung, nach der lex Clodia fortzugehen, als einen Rettungsakt für den Staat hin: „… und da sollte ich zögern, mich um der Rettung des ganzen Staates willen zu opfern – zumal ich den Deciern den Vorteil voraushatte, daß sie nicht einmal durch die Kunde von ihrem Ruhme erfuhren, während ich dabei sein konnte, wie man mich auszeichnete.“57 Der Ruhm, den die Decier sich erwarben, ist für Cicero mit seinem vergleichbar, und er habe sogar die Früchte dieses Ruhms genießen können. In einer Beispielreihe von „Rettern des Staates“,58 die ihre Unversehrtheit bzw. sogar ihr Leben einsetzten und an deren Schluß Cicero sich selbst anfügt, erwähnt der Redner alte exempla des vierten und dritten Jahrhunderts: Die beiden Decii werden eingerahmt von C. Mucius, der – übrigens auch aus Arpinum stammend – ein Attentat auf Porsenna unternahm, und Ciceros schlichtem Hinweis auf „innumerabiles alii“, die er dann durch Nennung von Personen aus eigener Erinnerung bis in seine eigene Zeit fortsetzt, indem er den Vater des M. Crassus erwähnt: Ihn habe Cicero noch selbst erlebt.59 Cicero bezieht diese exempla der Todesverachtung auf das Streben nach dignitas und reiht sich selbst in diesen Personenkreis ein. Obwohl es für eine dramatische Schilderung einiges hergeben könnte, erzählt er nicht von der verbrannten rechten Hand des Mucius; allerdings unterstreicht er die Bedeutung der decischen devotiones dahingehend, daß sie „sich und ihr Leben für das Heil und den Sieg des römischen Volkes geopfert“ hätten.60 Er äußert sich auch nicht über die Entfernung dieser exempla zu seiner eigenen Gegenwart.
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Decius, ebenso wie sein gleichnamiger Vater, in Rom auf einem der Fora durch eine Statue geehrt; G. Alföldy und L. Chioffi schließen dies aus der Erwähnung des Feldherrn bei Verg. Aen. 6,824. Die Kriterien für einen solchen Schluß sind allerdings nicht überzeugend dargelegt; vgl. CIL VI,8,3 S. 4839. Einen direkten inschriftlichen oder literarischen Nachweis gibt es für eine solche Ehrung nicht.“ – Bei dem Historiker Rutilius Rufus gibt es einen direkten Hinweis auf Erwähnungen von devotiones, allerdings ohne Nennung konkreter Namen, siehe FRH 13 F 7 mit dem Kommentar. Übersetzung von FUHRMANN zu Cic. dom. 64: „Ego pro salute universae rei publicae dubitarem hoc meliore condicione esse quam Decii, quod illi ne auditores quidem suae gloriae, ego etiam spectator meae laudis esse potuissem?“ Sest. 48f.: „exemplum rei publicae conservandae“. Crassus beging Selbstmord, um Cinna nicht in die Hände zu fallen: „in qua civitate ipse meminissem patrem huius M. Crassi, fortissimum virum, ne videret victorem vivus inimicum, eadem sibi manu vitam exhausisse qua mortem saepe hostibus obtulisset.“ (Cic. Sest. 48) Wo allerdings bei diesem exemplum durch den freiwilligen Tod die salus rei publicae bleibt, erscheint fraglich. Sest. 48: „... vitam suam instructa acie pro salute populi Romani victoriaque devovisset“.
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Die Pluralnennung kommt noch einmal in der großen exempla-Reihe am Ende der Sestiana vor, in der Cicero Vorbilder auflistet, die sich um den Staat verdient gemacht hätten, deren Heldenmut unsterblich sei und die er selbst bereits in den Kreis der unsterblichen Götter setzen wolle.61 Da ja die Fähigkeiten der Vorfahren den jungen Nachkommen einer Familie Vorbild seien, wollten diese ebenfalls Großes leisten. Schließlich würden die Verdienste der Väter in den Erinnerungen der Leute fortleben. Mit diesem typisch römischen Gedanken leitet Cicero seine Verteidigungsrede ein, die er für Rabirius Postumus in einem Repetundenverfahren – genauer gesagt: im sich anschließenden Verfahren zur Bestimmung der litis aestimatio – gehalten hat. Cicero illustriert den Gedanken mit zwei exempla, wobei er sich rückwärts durch die Zeit bewegt. Zunächst erinnert er an vorbildliche militärische Taten des L. Aemilius Paullus, in dessen Nachfolge seine leiblichen Söhne P. Cornelius Scipio und Q. Fabius Maximus getreten seien – Cicero erwähnt nur die Namen „Scipio“ und „Maximus“. Die Adoptionen dieser gebürtigen Aemilii werden nicht erläutert. Als zweites Beispiel folgen dann Vater und Sohn Decius: Beide hätten den Opfertod gewählt und seien auf dieselbe Art gestorben. Daß Cicero hier Beispiele aus näherer und entfernterer Vergangenheit wählt, erwähnt er nicht. Sie stehen gleichberechtigt und anscheinend gleichwertig nebeneinander.62 „Wie im Großen, ihr Richter, so dürfte es sich auch im Kleinen verhalten.“63 Mit dieser Aussage kommt Cicero dann konkret auf die Person des Rabirius zurück, der ja nur den Taten seines Vaters nacheifern wollte, den Cicero aus seiner Jugend als den ersten Mann im Ritterstande kannte. Die finanziell offensichtlich nicht sehr sauberen Machenschaften des Rabirius Postumus versuchte Cicero auch mit historischen Beispielen zu überdecken. So formulierte er gleich zu Beginn seines Plädoyers, daß es stets ein Drang der Jungen sei, die Fähigkeiten der Vorfahren ebenfalls zu erreichen und sich ihrer würdig zu zeigen, „da ja die Verdienste ihrer Väter in den Reden und Erinnerungen der Leute fortleben“.64 In diesem Sinne erwähnt Cicero rückwärts in der Zeit schreitend ein Vater-Söhne-exemplum des zweiten Jahrhunderts vor Christus, anschließend die Decii. Decius’ Sohn folgte dem Vater nicht nur in der Tatsache des Opfertodes, sondern sogar in der Art zu sterben. Weitere ältere exempla erwähnt Cicero nicht. Die Erinnerung an den Vater des Rabirius folgt dann im weiteren Verlauf von Ciceros Rede. In einer weiteren Plural-exempla-Kette erwähnt Cicero den Namen der Decii, als er Römer aufzählt, die in jungen Jahren Consul geworden sind. Cicero führt diese Beispiele an, um die consularische Stellung des jungen Octavian mit dem mos 61 Sest. 143. 62 Rabir. Post. 2: Söhne des L. Aemilius Paullus: L. Cornelius Scipio Aemilianus Africanus minor und Q. Fabius Maximus Aemilianus (cos. 145 v. Chr.). 63 Rabir. Post. 2: „Sint igitur similia, iudices, parva magnis.“ (Übersetzung FUHRMANN). 64 Rabir. Post. 2: „... quod sermone hominum ac memoria patrum virtutes celebrantur“ (Übersetzung FUHRMANN).
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maiorum zu legitimieren. Dabei gliedert Cicero die Beispiele in zwei Zeiträume, wenn er zunächst mit der Angabe „apud antiquos“ solche des vierten Jahrhunderts vorträgt. Die Reihenfolge Rulli, Decii, Corvini ist chronologisch nicht ganz präzise, wenn man sie nach den zuerst bekleideten Consulaten ordnet.65 Cicero beläßt es bei den drei Namen, sagt aber, es habe viele andere („multique alii“) gegeben. In jüngerer Zeit („recentiore memoria“) könne man auch Beispiele für frühzeitige Consulate anführen: Africanus maior sei hier zu nennen, ebenfalls T. Flamininus. Cicero unterläßt den Verweis auf Pompeius, der sich natürlich angeboten hätte, sondern bleibt bei seiner Beispielauswahl in der Vergangenheit jenseits des kommunikativen Gedächtnisses. Ja, er geht sogar einen unüblichen Weg, wenn er an die römischen Beispiele das Beispiel Alexanders anschließt. Alexander sei mit 33 Jahren verstorben, also zehn Jahre zu früh, um das Consulat bekleiden zu können. „Tüchtigkeit wartet nicht den Zeitlauf ab“, spitzt Cicero seine Beispiel- bzw. Beweiskette zu, mit der er Octavian neben die großen römischen Vorfahren stellt.66 Das exemplum Alexanders ist außergewöhnlich und dürfte wegen der Jugend Octavians genannt worden sein. Ein Familienmitglied der Decii steht in der Auseinandersetzung zwischen Senat und Antonius – wie Cicero die Welt in seinen Philippischen Reden gerne sehen möchte und entsprechend darstellt – auf seiten des Antonius. Dieser Decius versucht offensichtlich aus Versteigerungen von konfisziertem Besitz Profit zu schlagen, tut aber so, als verkaufe er sein Eigentum. Cicero verhöhnt ihn geradezu, als hätte sich dieser Mann, dem Beispiel seiner Vorfahren folgend für seine Gläubiger dem Untergang geweiht. Finanzielles Raubrittertum spotte der ehrenvollen Familientradition nur.67 Für Cicero ist dieser Zeitgenosse nur noch eine verächtliche Figur, deren Lächerlichkeit er durch das pathetische exemplum noch zu steigern versucht. Auf diesen P. Decius kommt Cicero noch einmal zu sprechen. Wieder hält er seinem jetzigen schändlichen Verhalten die hehre Vergangenheit der Familie entgegen. Ein Decius befinde sich also im Lager des Antonius: „Die Erinnerung an die Decier ist durch diesen prachtvollen Mann erneuert worden“, ironisiert Cicero in seiner vorletzten Rede.68
65 Q. Fabius Maximus Rullianus cos. I 322; P. Decius Mus cos. I 312; M. Valerius Corvinus cos. I 348, angeblich gelangte Valerius mit 23 Jahren zum Consulat. 66 Cic. Phil. 5,48. Zitat in der oben gegebenen Übersetzung FUHRMANNS: „Ex quo iudicari potest virtutis esse quam aetatis cursum celeriorem.“ 67 Phil. 11,13: „Tanta procuratorum est neglegentia. At hic nuper sororis filio infudit venenum, non dedit. Sed non possunt non prodige vivere qui nostra bona sperant, cum effundant sua. Vidi etiam P. Deci auctionem, clari viri, qui maiorum exempla persequens pro alieno se aere devovit. Emptor tamen in ea auctione inventus est nemo.“ 68 Übersetzung FUHRMANN zu Phil. 13,27: „Est etiam ibi Decius, ab illis, ut opinor, Muribus Deciis … Deciorum quidem multo intervallo per hunc praeclarum virum memoria renovata est.“
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Das exemplum der Decii zeigt ohne Zweifel ein extremes, ‚exotisches‘ Handlungsmuster auf, das in seiner Radikalität der Hingabe für die res publica zwar vorbildlich ist, aber als direktes Vorbild doch einmalig in der römischen Geschichte dasteht. Die immerhin denkbare Parallele zur Cocles-Geschichte wird in den Reden nicht erwähnt. Insgesamt handelt es sich um kein häufig zitiertes exemplum Ciceros. Erst spät – nach der Verbannung – gebraucht der Consular das Beispiel erstmalig, und dann obendrein in einem Selbstbezug. Überhaupt erwähnt er es nur vor senatorischem Publikum (im Senat oder vor Gericht), jedoch nicht vor dem Volk. Der Name der Decii erscheint neben der konkreten Erinnerung an den Opfertod auch als Kollektivplural in exempla-Ketten der großen Römer. Über den jüngeren Decius weiß Cicero, daß er vor dem Mindestalter (das in seiner Zeit gilt) ins Consulat gewählt wurde. Nur in diesem Zusammenhang wird auch auf das Alter des exemplum hingewiesen. Die Möglichkeit, das pathetische Decius-exemplum ironisierend gegen einen Nachfahren anzuwenden, läßt Cicero sich im Kampf gegen einen Gefährten des Antonius nicht entgehen.69 Senatoren kannten natürlich die Geschichte der devotiones Deciorum, die vor allem eine römisch-aristokratische Wertvorstellung der Hingabe an die res publica vermittelt. Allerdings hat dieses Vorbild den bitteren Beigeschmack, den Ruhm der Tat nicht genießen zu können – Cicero sagt dies selbst ja auch ganz deutlich.70 Dies mag – neben dem hohen Alter des exemplum – einen weiteren Grund für das relativ seltene Zitat der Decii darstellen.
69 Zur verschiedenen Ausleg- und Anwendbarkeit der exempla siehe VOGT 1935, 11; WALTER 2004, 35f. 70 Cic. dom. 64.
4. WORTE UND ORTE DER ERINNERUNG Die Dimension des Rederaums Der imaginäre orator, mit dessen Auftritt die Arbeit eröffnet wurde, nutzte auch die Möglichkeiten des geschichtsgesättigten und bedeutungsschwangeren Ortes, als er bei Gelegenheit auf die Statue seines Vorfahren hinwies oder sein Gebet an den Iuppiter Optimus Maximus auf dem Capitol richtete. Solche Elemente lassen sich auch an den Reden Ciceros nachvollziehen. Durch die Wahl des Raums konnte ein Redner sich dessen geschichtliche Bezüge oder religiöse Dimensionen zunutze machen.1 So bot es sich zum Beispiel an, die am Versammlungsort beheimateten Gottheiten einzubeziehen. Cicero versammelte den Senat anläßlich seiner ersten catilinarischen Rede nicht in der curia Hostilia am Comitium, sondern lud in den Tempel des höchsten römischen Gottes Iuppiter Optimus Maximus auf dem Capitol.2 Zweimal sprach Cicero in dieser Rede konkret die Statue des Gottes in Form eines Gebets an.3 So konnte er die Bedeutung des Ortes – er garantierte den Schutz und Bestand der Stadt – und die Anwesenheit der Iuppiter-Statue einbeziehen und die hier gegebenen visuellen Verstärkungsmöglichkeiten in seine Rede einfließen lassen. Die Götter waren für die Römer bei den staatlichen Handlungen präsent.4 Ihre Tempel befanden sich im politischen Zentrum der Stadt am Forum, und natürlich waren ebenfalls die Tempel auf dem Capitol, das sich über dem Forum erhob, ebenfalls in unmittelbarer Blickweite. Diese Tempel und ihre Gottheiten wurden von den Rednern auch im Verlauf ihrer Ansprachen einbezogen. Ciceros erste Contio-Rede für die Kommandovergabe an Pompeius bietet hierfür ein konkretes Beispiel.5 Cicero hielt in seinem Consulat die dritte catilinarische Rede vor dem Volk auf dem Forum und verwies mehrere Male zu einer – auf Weisung der Haruspices – auf dem Capitol errichteten Iuppiter-Statue, jenem „signum, quod videtis,“ wie Cicero seine Zuhörer ansprach und wobei er sicher mit einer entsprechenden Bewegung zum Capitol zeigte.6 1 2 3 4 5 6
Vgl. zur „Funktion“ bzw. auch Funktionalisierung von Bauten T.HÖLSCHER 1995, 217f. ALDRETE 1999, 25. Cic. Catil. 1, 11;33. Auch eine contio wurde mit einem kurzen Gebet eingeleitet. Siehe oben S. 49ff. den Abschnitt „Ciceros Maniliana: Eine gelungene contio-Premiere“. Cic. Catil. 3,19f.; vgl. ALDRETE 1999, 26; FANTHAM 1997, 113 mit Anm. 8.; VASALY 1993, 81ff. Die Einbeziehung von Orten kommt auch in den imaginären Reden vor: Cicero wandte er sich in der Rede Pro Milone, die auf dem Forum gehalten worden wäre, an die Hügel von
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Im Schatten eines pater patriae – Cicero und Camillus Seine dritte catilinarische Rede richtete Cicero am 3. Dezember 63 v. Chr. an die cives Romani. Catilina hatte Rom verlassen, und der Consul war bestrebt, die jüngsten Ereignisse im rechten Licht erscheinen zu lassen. Pathetisch hebt er an: „Ihr seht Quiriten: der Staat und euer aller Leben, euer Hab und Gut, eure Frauen und Kinder sowie dieser Wohnsitz des herrlichsten Reiches, die gesegnetste und schönste Stadt; all dies wurde am heutigen Tage durch die unsterblichen Götter, die euch ihre übergroße Liebe erzeigten, sowie durch meine Mühen, Vorkehrungen und Fährnisse der Flamme und dem Schwert und fast dem Rachen des Schicksals entrissen und euch erhalten und wiedergegeben.“7
Zwei Elemente stehen im Vordergrund von Ciceros Eröffnungssatz: das heldenhafte Handeln des Consuls und die Rettung der Stadt. Cicero stand im Zentrum des Imperiums auf den rostra und sprach zu seinen Hörern über die Gefahr für das Zuhause (domicilium), er betonte den Segen der Götter, den sie der schönsten Stadt gewährten. Die Hörer brauchten sich nur umzuschauen, um die vorherigen Zweifel8 fallenzulassen und sofort emotional ergriffen zu werden: Der Consul hatte also doch recht gehabt! Wir sind in größter Gefahr gewesen. Wäre Cicero nicht zur Stelle gewesen, ‚unser Zuhause‘, die schönste Stadt der Welt, die prächtigen Gebäude, die Statuen unserer Vorfahren, die Tempel – alle diese Dinge wären Flammen und Schwert zum Opfer gefallen! Um Haaresbreite scheinen Stadt und Bürger mit dem Leben davon gekommen zu sein; dem Consul sei Dank! ‚Cicero ist der Retter des Vaterlandes‘, lautete das Leitmotiv dieser contioAnsprache. Gleich zu Beginn spielt der Consul auf Romulus: Man habe aus Dankbarkeit den Gründer dieser Stadt zu den Göttern erhoben.9 Der Tag der Gründung Roms sei ebensosehr in Ehren zu halten wie auch den jetzigen der Rettung der Stadt. Cicero berichtet den Bürgern recht ausführlich von den nächtlichen Ereignissen, die zur Aufdeckung der Verschwörung geführt hätten. Die Verbrecher seien jetzt in Gewahrsam, und somit sei die Stadt aus ihrer bedrängten Lage befreit und gerettet – für diese Rettung sei im Senat sogar ein Dankfest beschlossen worden.10 Die Bedrohung der Stadt sei fatal gewesen, sogar mehrere Vorzeichen hätten auf ein schlimmes Ereignis hingedeutet, Blitze seien eingeschlagen Alba Longa; Cic. Mil. 85; vgl. Quint. inst. 11,3,115. Vgl. auch Ciceros Zeugen für die Tugenden und Taten des Pompeius: Manil. 30: Italia, Sicilia, Africa, Gallia, Hispania. 7 Übersetzung von FUHRMANN zu Cic. Catil. 3,1: „Rem publicam, Quirites, vitamque omnium vestrum, bona, fortunas, coniuges liberosque vestros atque hoc domicilium clarissimi imperi, fortunatissimam pulcherrimamque urbem, hodierno die deorum immortalium summo erga vos amore, laboribus, consiliis, periculis meis e flamma atque ferro ac paene ex faucibus fati ereptam et vobis conservatam ac restitutam videtis.“ 8 Catil. 3,4: „Quoniam auribus vestris propter incredibilem magnitudinem sceleris minorem fidem faceret oratio mea …“ / „Denn da meine Rede euren Ohren wegen der unglaublichen Ausmaße des Verbrechens nicht sonderlich vertrauenswürdig erschien …“ (Übersetzung FUHRMANN). 9 Cic. Catil. 3,2; vgl. ibd. 15; 19. 10 Catil. 3,15f.
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und hätten die Statuen des Romulus und Bildnisse weiterer Männer der Frühzeit getroffen und teilweise umgestürzt.11 Die häufigen Hinweise auf die Rettung der Stadt – ausgerechnet vor einer gallischen Bedrohung –, die einer zweiten Gründung gleichkomme, geschahen im Schatten der Statuen des Camillus. Cicero hat mit seiner Strategie, die Rettung des Vaterlandes so stark hervorzuheben, sicher auch den Abglanz des Camillus, des Vaters des Vaterlandes, für sich zu gewinnen gesucht. Eine direkte Einbeziehung des Bildnisses ist der edierten Rede nicht zu entnehmen. Jedoch wird Ciceros Wunsch, in der Nachfolge eines Romulus und Camillus12 als pater patriae geehrt zu werden, auch so deutlich.13 Die Verbindungen, die aus den impliziten Wünschen und gezielten Anspielungen im Sinne Ciceros zu ziehen waren, mußten sich durch die Macht der Bilder und der ihnen anhaftenden Erinnerungen bei seinen Mitbürgern von selbst einstellen. Konnte Cicero fest darauf bauen? Wie gesehen zitierte er das exemplum selbst erst nach seiner Verbannung. Es bleibt nach wie vor fraglich, wie präsent das exemplum Camillus den römischen Bürgern gewesen ist,14 und da er nur in Andeutungen und nicht konkret auf dieses exemplum hinweist – ansonsten ist er in dieser Rede immer sehr konkret –, waren die Bürger Roms in diesem Sinne womöglich gar nicht sein erster Adressat. Cicero konnte allerdings recht sicher davon ausgehen, daß seine Standesgenossen diese subtilen Verbindungslinien ziehen konnten und dies auch taten: So kam es, daß nicht die Bürger Roms Cicero als den pater patriae skandierten, sondern der ehrwürdige Q. Lutatius Catulus ihn im gut besuchten Senat als „Vater des Vaterlandes“ begrüßte.15 Alte exempla in Wort und Stein Alten Statuen war ihr hohes Alter anzusehen. Dies bezieht sich nicht allein auf das Material, sondern auch auf das Aussehen der Dargestellten: Die alten Haudegen hatten gewaltige Bärte, „wie wir sie bei den alten Statuen sehen“, so Cicero, unmittelbar bevor er den alten Caecus aus der Unterwelt heraufbeschwört und seinen Zuhörern ein entsprechendes Bild zu vergegenwärtigen beabsichtigt.16 11 12 13 14 15 16
Catil. 3,19. Liv. 5,7,49. Siehe VASALY 1993, 75–80. BRUUN 2000, bes. 59ff. über die „Creation of Camillus the hero“. Cic. Pis. 6. Cael. 33: „… aliquis mihi ab inferis excitandus est ex barbatis illis, non hac barbula qua ista delectatur sed illa horrida quam in statuis antiquis atque imaginibus videmus …“ / „irgend jemand muß von mir aus der Unterwelt heraufbeschworen werden, einer von den Bartträgern, nicht mit einem Jüngelchenbart, die die da [gemeint ist Clodia, F.B.] schön findet, sondern mit einem wuchtig-struppigen, wie wir sie an den Statuen und den Masken sehen können.“ Was heißt in diesem Zusammenhang imagines? FUHRMANN übersetzt „Gemälde“. Aber was für Gemälde wären das? HARRIET FLOWER 1999 hat die Stelle leider nicht berücksichtigt. Hatten die alten Wachsmasken den zumindest angedeuteten Bart? Der Kommentar von
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Die Claudii hatten als eines der Monumente, das ihren Namen trug, die Via Appia gebaut. Dieser Ort bewahre das Gedächtnis der Ahnen des dort getöteten Clodius, unterstreicht Cicero in seinem Plädoyer für Milo.17 Allerdings habe Clodius den würdevollen Ort voller Erinnerungen an die noblen Claudii mit seinen Handlungen besudelt. Die Reiterstatue des Q. Marcius Tremulus (cos. 306) befand sich auf dem Forum. Cicero verweist in der sechsten philippischen Rede auf diese Statue („videmus“); neuerdings sei auf dem Forum ein Standbild des L. Antonius zu sehen – dies sei nur eines von mehreren Bildnissen dieses Mannes, die ihm seine Clienten aufgestellt hätten.18 Es befinde ganz in der Nähe der Statue des Tremulus, des „Sieger[s] über die Herniker“. Die Statue des Antonius dort zu plazieren, sei eine Frechheit. Diese Ehrung ist in Ciceros Augen also ein Fall von Unangemessenheit und Unanständigkeit. In seinem Plädoyer für Sestius mahnt Cicero seine Zuhörer und die Richter energisch, im Kampf gegen Clodius den Mut und die Tatkraft der Vorfahren an den Tag zu legen.19 Er sieht in den Taten und Handlungen des Sestius diese alte Tatkraft der Väter- und Großvätergeneration verwirklicht. „Männer, deren Statuen ihr nach ihrem Tod dort auf der Rednerbühne von unseren Vorfahren aufgestellt seht,“ seien dem Sestius durchaus nicht vorzuziehen, keiner übertreffe ihn in der Bitterkeit des Todes (der ja bei Sestius nicht eingetreten war) oder in seiner Liebe zum Staat.20 Cicero ist sich sicher, daß Sestius, hätte er im Kampf gegen Clodius sein Leben verloren, ein Standbild erhalten hätte. Es wurden bei der räumlichen Gestaltung und Ausschmückung des politischen Zentrums auch Veränderungen vorgenommen, auf die Cicero Bezug nahm. So erinnerten die Statuen von vier Gesandten, die im Auftrag der res publica zu Lars Tolumnius nach Veii gegangen waren, daran, daß sie heimtückisch von Tolumnius getötet worden waren. So seien die Vorfahren der Meinung gewesen, man solle für ein kurzes Leben einen langen Nachruhm schenken. Er könne sich noch an ihre Standbilder auf der Rednertribüne erinnern, berichtet Cicero. Er führt diese Erinnerung an – man könnte auch salopp formulieren, daß er sie geradezu
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AUSTIN ad loc. schweigt zu den imagines, gibt aber interessante Hinweise auf die Tradition und Mode der Barttracht. Mil. 17: „… in monumentis maiorum suorum ... interfectis …“; ähnlich Mil. 37: Via Appia als „monumentum sui nominis“. Phil. 6,13. Diese Contio vom 4. Januar 43 v. Chr. fand vor dem Castortempel auf dem Forum statt. Q. Marcius Tremulus siegt in seinem ersten Consulat 306 v. Chr. über die Herniker; s. zu seiner Reiterstatue E. PAPI, LTUR 2, 1995, 229f. s.v. Equus Q. Marci Tremuli. Sest. 81. Sest. 83: „Nec vero illorum quisquam quos a maioribus nostris morte obita positos in illo loco atque in rostris conlocatos videtis esset P. Sestio aut acerbitate mortis aut animo in rem publicam praeponendus.“
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‚hervorkramt‘ –, als es um die Ehrung für den auf der Gesandtschaft zu Antonius eines natürlichen Todes gestorbenen Sulpicius Galba geht. 21 Es folgt ein weiteres ausgefallenes exemplum: Der Consul von 165 v. Chr., der homo novus Cn. Octavius, sei ebenfalls mit einem Standbild auf den rostra geehrt worden. Obwohl seine Gesandtschaft ungefährlich zu sein schien, sei er von einem gewissen Leptines („a quodam Leptine“) ermordet worden.22 Cicero erzählt die Geschichten, die sich um die Standbilder der Gesandten und des Octavius ranken, ausgesprochen ausführlich, was in einer Senatsrede zusätzlich auffällt, da in diesem Gremium die Kenntnis der Geschichte und Geschichten am ehesten vorauszusetzen ist. Besonders im Falle des Cn. Octavius klingen seine Worte wie der Vortrag aus einem Geschichtsbuch, der auch damit endet, daß dieses Standbild die einzige Erinnerung an diese herausragende Familie sei – mit anderen Worten: In der Nachfolge dieses Octavius bis zur Gegenwart Ciceros hatte die Familie keine herausragenden, im Gedächtnis haftenden Erfolge zu verbuchen, sie waren vergessen, bis auf die Statue natürlich, aber diese mußte Cicero den versammelten patres conscripti erläutern.23 Im Falle des Sulpicius plädierte Cicero für ein Standbild auf den rostra,24 und zwar für ein ehernes Standbild, aber nicht für ein goldenes Reiterstandbild, wie Sulla es als erster erhalten habe. Cicero begründet seinen Antrag damit, daß er Sulpicius gut gekannt habe; dieser habe die Bescheidenheit der Vorfahren („maiorum continentia“) ganz außerordentlich geschätzt und die „Verschwendung unseres Jahrhunderts“ („insolentia huius saeculi“) verdammt. Damit rückt Cicero ihn ganz nah an die Vorbildlichkeit der maiores und entfernt ihn zugleich von der Schlechtigkeit der eigenen Generation. Die Ablehnung eines goldenen Reiterstandbildes, wie Sulla es erhalten hatte, unterstreicht dies noch.
21 Phil. 9,4. „Tolumnius, rex Veientium, quattuor legatos populi Romani Fidenis interemit, quorum statuae steterunt usque ad meam memoriam in rostris.“ Vgl. Liv 4,17,1ff.; danach handelte es sich um C. Fulcinius, Cloelius Tullus; Sp. Antius; L. Roscius. 22 Phil. 9,4. 23 Phil. 9, 5: „Reddita est ei tum a maioribus statua pro vita quae multos per annos progeniem eius honestaret, nunc ad tantae familiae memoriam sola restaret.“ / „Unsere Vorfahren setzten ihm damals ein Standbild, das durch viele Jahre seine Nachkommen ehrte und uns jetzt als einzige Erinnerung an eine solche Familie geblieben ist.“ (Übersetzung nach FUHRMANN) – Cicero berichtet in de officiis 1,138 (also zeitnah zu den philippischen Reden) von Cn. Octavius und seinem Hausbau, den der Emporkömmling auf dem Palatin errichtet hatte. Die Quelle seines Wissens gibt er nicht an, aber durch den Hinweis „accepimus“ wird klar, daß es kein allgemeines Grundwissen darstellt. Vermutlich war das Haus des Octavius Thema beim Neubau des Scaurus, der das octavische Haus niederreißen ließ, um sein eigenes größer zu gestalten. Im Jahre 44 v. Chr. war natürlich auch die Person des Octavian Anlaß zur Erinnerung an die Familie, allerdings war der Consul von 165 v. Chr. lediglich der Bruder des Urgroßvaters des Octavian. Cicero zieht auch keinerlei Linie zwischen diesen beiden Octavii. Vgl. Cic. off. 1,138; mit den Kommentaren von HEINE, MÜLLER und DYCK ad loc. Plinius nat. 36,6; 114, beschreibt den Palast des Scaurus. 24 Phil. 9, 10ff., bes.13.
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Eine geradezu exemplarische Harmonie von Ort und Wort Im Repetundenprozeß gegen Marcus Aemilius Scaurus (pr. 56) setzte sich Cicero zugunsten des angeklagten Statthalters von Sizilien und Sardinien der Jahre 55 und 54 v. Chr. ein. Tatsächlich wurde Scaurus freigesprochen, jedoch schon sehr bald wieder angeklagt, dieses Mal de ambitu. Scaurus ging ins Exil. Cicero führt im ersten Prozeß in seinem Plädoyer, das nur zu einem guten Drittel überliefert ist, den Ruf und Ruhm der Familie an. Um dies zu unterstreichen, nimmt er starken Bezug auf die Umgebung, die einen Erinnerungsort an die Familie der Aemilii bilde. Von allen Seiten fließe ihm zu, was er zugunsten des Scaurus sagen könne – wohin auch immer er sich, seine Gedanken und seine Augen wenden mögen. Die Curie sei eine Wirkstätte des Vaters gewesen. Der Tempel (von Castor und Pollux), „der vor euch liegt“, stamme von seinem Großvater L. Metellus.25 Wenn Cicero den Blick hochwende, dann sehe er die Tempeltrias (Iuppiter – Iuno – Minerva). Er denke dann an den mit Spenden von Scaurus’ Vaters verschönerten Eingang zu Iuppiter. Er erinnere sich beim Anblick des Vestatempels an die Rettung des Palladiums durch den pontifex maximus L. Caecilius Metellus.26 ‚Könnte er doch kommen, er würde seinen Nachfahren diesem Gerichtsfeuer entreißen!‘ Und in einer theatralischen Apostrophe sagt Cicero, ihm stehe der Vater des Scaurus, Aemilius Scaurus, der princeps civitatis, vor dem geistigen Auge, der, obwohl er verstorben ist, doch in aller Herzen präsent sei und weiterlebe.27 Cicero ruft mit Hilfe der Orte nicht nur die einzelnen herausragenden Männer dieser Familie in Erinnerung – sowohl für den Zeitraum des kommunikativen wie auch des kulturellen Gedächtnisses –, sondern er kann auf diesem Wege auch das symbolische Kapital der Familie präsent machen und die Position seines Clienten stärken. Der von den herausragenden Individuen und Familien der res publica gestaltete Erinnerungsraum, der von der Rednerbühne aus sichtbar war, ermöglichte die rhetorische Instrumentalisierung und Funktionalisierung der Erinnerung. Vermutlich werden diese Bezüge sehr viel öfter situativ herangezogen worden sein, als es die literarisch niedergelegten Reden aufweisen.28
25 L. Caecilius Metellus Delmaticus (cos. 119 v. Chr.). 26 Er war cos. 251 II 247; Brand des Vestatempels: 241 v. Chr. 27 Scaur. 46–50; bes. 48: „Qui utinam posset parumper exsistere! Eriperet ex hac flamma stirpem profecto suam, qui eripuisset ex illo incendio ...“. Vgl. VASALY 1993, 37f.; 102f. – Der Vater gleichen Namens war Consul 115. 28 Die etwas vorsichtige Formulierung beruht darauf, daß es natürlich schwierig ist, den lebendigen – sehr oft sicher nur en passant geschehenen – Verweis aufgrund der Lektüre eines Redetextes nachzuvollziehen. Die Wirkung des gesprochenen Wortes verstärkt sich natürlich im Moment des Anblicks eines derartigen Erinnerungsorts bzw. -gegenstands.
5. DIE IMPERIALE REPUBLIK – ERINNERUNG AN DIE PUNISCHEN KRIEGE DER ERSTE PUNISCHE KRIEG Der erste punische Krieg bildete die entscheidende Station in Roms imperialer Entwicklung, von der aus die Erringung der Vorherrschaft im gesamten Mittelmeerraum ihren Anfang nahm. THEODOR MOMMSEN formulierte in einer scheinbar quellennahen Sprache: „Aber wichtiger war es, daß man mit dem Überschreiten der See abwich von der bisherigen rein italischen und rein kontinentalen Politik; man gab das System auf, durch welches die Väter Roms Größe gegründet hatten, um ein anderes zu erwählen, dessen Ergebnisse vorherzusagen niemand vermochte.“1 Die „Väter“ hätten mit der Entscheidung, sich in Sizilien für die Mamertiner zu engagieren, die Maximen der bisherigen rein kontinentalen Politik aufgegeben, bewertete THEODOR MOMMSEN die Geschehnisse. ALFRED HEUSS folgte ihm in der Auffassung, daß es sich beim Jahre 264 v. Chr. um einen epochalen Einschnitt in der römischen Geschichte handelt, jedoch betonte er mehr die Staatsräson, die Rom den Waffengang geradezu mit einem Imperativ auferlegte.2 Man könnte also durchaus begründet vermuten, daß auch den Römern selbst dieser entscheidende Schritt erinnerungswürdig und als exemplum der außenpolitischen Handlungsweise der maiores gegenwärtig war. Verschiedene Medien bewahrten und transportierten die Erinnerung an die Zeit der Auseinandersetzung mit Karthago. Eine weiter verbreitete Kenntnis des ersten punischen Krieges konnte das Epos Bellum Punicum des Naevius vermitteln, der als Teilnehmer das Geschehen auf seiten Roms miterlebt und dann episch verarbeitet hatte.3 In seiner Dichtung bildete er wesentliche Bestandteile der römischen Gedankenwelt ab, er unterstrich die Bindung des Einzelnen an die Gruppe, dies geschah auch durch die epische 1 2
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MOMMSEN RG 1,511 [kursive Hervorhebung von F.B.]. Vgl. HEUSS 1971, S. 72: „Nicht nur, daß Rom zum ersten Mal einen schwierigen Waffengang außerhalb des italischen Festlandes siegreich bestand und eine der damaligen Großmächte demütigte; es hatte damit zugleich unter offenen Beweis gestellt, daß es selbst eine Großmacht war und die kurz vorher beendete Unterwerfung Italiens zu diesem Ergebnis geführt hatte. ... Hätte der Krieg mit einem römischen Mißerfolg geendet, so wären peinliche Rückschläge auf die römische Machtstellung in Italien kaum ausgeblieben, und der römische Anspruch auf die italische Hegemonie hätte wesentlich an Überzeugungskraft eingebüßt. Nun aber war den römischen Untertanen in Italien gezeigt, daß Rom nicht nur in der Lage war, Italien zu unterwerfen ...“; siehe zur Debatte den hilfreichen Überblick bei BLEICKEN 1999, 152–155. Vgl. zu Naevius VON ALBRECHT 1992, 98ff.; SUERBAUM in HLL 1, § 116.
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Darstellung von Kulthandlungen der Staatsreligion. Der Mythos diente Naevius als Hintergrund für das römische Sendungsbewußtsein.4 Das Werk des Naevius war von seiner Aussage her also im römischen Sinne bis in Ciceros Zeit nicht unmodern geworden. Aber die Verwendung des Saturniers „... hat sich generell als verhängnisvoll für seine spätere Beurteilung ausgewirkt.“5 Daher konnte sein Epos nicht den kanonischen Wert gewinnen, den das Werk des Ennius erlangte. Seine Annales behandelten „zum ersten Mal in lateinischer Sprache … die ganze römische Geschichte.“6 Ennius hat den Hexameter in Rom eingeführt und wurde mit seinem ‚Nationalepos‘ Schulautor, den man insbesondere beim grammaticus studierte, bis Vergils Aeneis Ennius’ Werk als Schultext ablöste. Die historiographische Überlieferung hat eine Reihe von Informationen und Geschehenszusammenhängen bewahrt, die in dem ersten Konflikt mit Karthago eine prominente Rolle gespielt haben. Polybios’ Bericht im ersten Buch seiner Historien (Kap. 13-64) stellt für den heutigen Historiker die Hauptquelle dar, jedoch gab es natürlich eine breite Darstellung der Ereignisse im Werk des Fabius Pictor, das nur fragmentarisch vorliegt. Fabius’ Werk war eine Art Gegendarstellung zur prokarthagischen Geschichtsschreibung des Philinos von Akragas. Fabius, der erste römische Historiker, schrieb in griechischer Sprache, seine aktive Zeit als Politiker und Militär fällt in die Zeit des Hannibal-Krieges. Seine dreigliedrige Darstellung (breite ktisis – Zwischenzeit – eigene Zeit) wurde nach dem ‚floating gap‘ mit dem Beginn der ersten Auseinandersetzung zwischen Rom und Karthago wieder ausführlich und breit.7 Die Ereignisse seiner eigenen Zeit gehörten in den Bereich des kommunikativen Gedächtnisses, so daß er sich auf mündliche Traditionen und die Berichte von Augenzeugen und Zeitgenossen stützen konnte. Da Polybios im ersten Buch nur eine Einleitung zu seinem eigentlichen Berichtszeitraum ab 220 v. Chr. gegeben hat, war sein Abriß über den ersten punischen Krieg relativ knapp. Cicero kannte das Werk des Polybios,8 das Werk des Fabius existierte in seiner Zeit natürlich ebenfalls noch.9 Wie intensiv Cicero jedoch die frühen römischen Historiker gelesen und als Wissensquelle gebraucht hat, bleibt unklar. Seine Äußerungen zu Fabius zumindest sind stilkritischer Natur 4 5 6 7
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VON ALBRECHT 1992, 103. SUERBAUM HLL 1 §116 D. Rezeption (S. 117). Vgl. auch, wie auch Horaz relativ leichten Herzens von den alten Dichtern wie Ennius Abschied nimmt, Hor. epist. 2,1,53. Werner SUERBAUM HLL 1 §117e Epos. Annales (Zitat S. 134). Vgl. zu einem Auftritt des Hannibal in seinem Werk Cic. Balb. 51. S. den Ennius-Kommentar von SKUTSCH p. 414ff. Zu Fabius s. FRH I, p. 55ff., bes. 61; TIMPE 1972, passim, bes. 932ff.; BLEICKEN 1999, 152f. – Die Struktur der ausführlicheren Darstellung der Gründungszeit und des kommunikativen Gedächtnisses postuliert für Ennius’ Annales ebenfalls Werner SUERBAUM HLL 1 §117e Epos. Annales (S. 135). – Der Titel „Annales“ ist zwar allgemein verbreitet, aber keineswegs gesichert, Rhomaiká ist ebenfalls möglich, ja sogar wahrscheinlicher, wenn man bedenkt, daß Fabius das Werk in griechischer Sprache verfaßte. Vgl. S. 141ff. den Abschnitt „Ciceros Arbeit als Historiker“. Brut. 81, de orat. 2,51;53.
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und raten von der Lektüre eher ab als zu. Es handle sich „ohne irgendeine Ausschmückung“ nur um die „Erinnerung an Daten und Personen, Schauplätze und Begebenheiten“.10 Cicero nahm also eine distanzierte Position zu Fabius ein. Allerdings fällt auf, daß er dem Werk einen solchen Fundgruben-Charakter zugesprochen hat, daß er es eigentlich nützlich und praktisch hätte finden müssen. Statt dessen arbeitete Cicero viel und gerne mit dem chronikartigen Liber annalis des Atticus.11 Er schätzte die praktischen, in Kürze dargebrachten Fakten, die man bequem verwerten konnte. Von daher wäre das Werk des Fabius brauchbar, gerade um exempla aus der Zeit des ersten und zweiten punischen Krieges zu erhalten. Tatsächlich begegnen in Ciceros Reden auch exempla vetera aus der Zeit des ersten punischen Krieges. Es nennt mehrere kommandierende Consuln, erstens drei Atilii: M. Atilius Regulus (cos. 267 v. Chr.), A. Atilius Regulus Calatinus (Consul I 258 v. Chr.), C. Atilius Regulus (cos. 257 v. Chr.). Weiterhin werden der berühmte C. Duilius (cos. 260 v. Chr.) und L. Caecilius Metellus (cos. 251 v. Chr.) erwähnt – beide allerdings nur ein- bzw. zweimal. Der Consul von 249 v. Chr., P. Claudius Pulcher, der durch seinen Frevel an den heiligen Hühnern Berühmtheit erlangte, kommt jedoch ebensowenig vor wie der Sieger bei den Aegatischen Inseln und Friedensunterhändler C. Lutatius Catulus (procos. 241 v. Chr.)! Für einen immerhin 23jährigen Zeitraum, der – nach dem Urteil der modernen Historiographie – eine neue Epoche in der römischen Geschichte einleitete, nahmen die Römer in der öffentlichen Debatte nur wenig Notiz von dieser wichtigen Phase und pflegten auch nur wenig Erinnerung daran. Dabei waren mehrere der genannten Consuln auch in die Erinnerungslandschaft Roms eingebettet. Die berühmte columna rostrata, die Duilius für seinen Seesieg im Jahre 260 v. Chr. erhalten hatte, stand auf dem Forum jedermann vor Augen. „Die berühmte Inschrift, die an der columna rostrata des C. Duilius angebracht war, rief dem Leser die glänzende Bilanz ins Gedächtnis, auf die Duilius am Ende seines Konsulats im Jahre 260 zurückblicken konnte. Zunächst wurden seine militärischen Erfolge aufgezählt (1-12), sodann in buchhalterischer Manier die reiche Kriegsbeute aufgelistet (13-15), am Ende die Großzügigkeit gepriesen, die Duilius gegenüber dem römischen Volk in seinem Triumphzug an den Tag gelegt hatte (16-18). Wie im Elogium vom Augustusforum wurde besonders vermerkt, daß Duilius gleich mehrere Ruhmestaten „als Erster“ („primus“) vollbracht und künftigen Generationen somit neue Leistungsanforderungen ins Stammbuch geschrieben hatte: Er soll nicht nur einfach als Erster eine erfolgreiche Operation zur See kommandiert haben (5-6), sondern auch der Erste überhaupt gewesen sein, der Schiffsmannschaf10 Cic. de orat. 2,53: „Hanc similitudinem scribendi [wie die annales maximi, F.B.] multi secuti sunt, qui sine ullis ornamentis monumenta solum temporum, hominum, locorum gestarumque rerum reliquerunt; itaque qualis apud Graecos Pherecydes, Hellanicus, Acusilas fuit aliique permulti, talis noster Cato et Pictor et Piso, qui neque tenent, quibus rebus ornetur oratio – modo enim huc ista sunt importata – et, dum intellegatur quid dicant, unam dicendi laudem putant esse brevitatem. Paulum se erexit et addidit maiorem historiae.“ – Für eine Stilkritik ist aber nicht unbedingt eine intensive (Gesamt-)Lektüre vorauszusetzen. 11 Vgl. ELVERS 1993, 45; SCHANZ-HOSIUS 1927, 329f. mit Quellenbelegen.
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ten ausrüstete und im Flottenkampf trainierte (6-7). Und schließlich galt Duilius auch als der Erste, der einen triumphus navalis feierte und das Volk mit Beutegütern aus einer Seeschlacht beschenkte (vgl. 16-18).“12 Der Spaziergänger auf dem Capitol betrachtete die Statue des L. Caecilius Metellus, des Siegers über die Karthager mit ihren Elefanten.13 An Lutatius erinnerten Münzen, außerdem weihte er nach seinem Triumph den Iuturna-Trempel.14 Im ganzen begegneten die Ereignisse und Helden des ersten punischen Krieges nur sehr selten als exempla in den Reden. Auf ihre militärischen Erfolge wurde nur nebensächlich angespielt: Cicero führt A. Atilius Regulus und C. Duilius in der Reihe der großen Triumphatoren auf.15 Ihre außenpolitischen res gestae haben sonst keinen prominenten Platz im öffentlichen Gedächtnis. Bekannt ist noch die Rettung des Palladiums durch L. Caecilius Metellus.16 Cicero führt die Heldentat an, um sie auf seinen Clienten M. Aemilius Scaurus anzuwenden: Hätten wir den Metellus nur für einen kurzen Augenblick zurück, er würde seinen Verwandten Scaurus aus den Flammen der verleumderischen ambitus-Anklage retten wie einst das Palladium aus dem brennenden Vesta-Tempel. Berühmt ist weiterhin die (Leidens)Geschichte des M. Atilius Regulus, der freiwillig 256/255 v. Chr. zu den Karthagern zurückkehrte und dort einen grausamen Tod sterben mußte – er hatte den Karthagern zugesagt, im Falle eines Scheiterns seiner Mission zu seinen Peinigern zurückzukehren. Cicero berichtet von den Foltern, die zu Regulus’ Tod führten.17 Im Kontext der Rede geht es um die Frage, was eine Schande darstelle – der Redliche werde durch Verbrechen anderer verletzt, sei aber selbst ohne Schande. Auch an dieser Stelle bezieht Cicero – wie so oft – sein eigenes Schicksal mit ein. Ciceros Äußerungen zufolge hätten Scipio und Gabinius sein Exil als gerechte Strafe bewertet. Davon will sich der heimgekehrte Redner scharf distanzieren. Auf das Thema der Folter kommt Cicero anläßlich der Ermordung des Trebonius durch Dolabella wiederum zu sprechen. Diesmal foltere ein römischer Bürger einen römischen Bürger! Der Frevel sei ungeheuerlich und lasse Dolabella noch schlimmer erscheinen, als es die Punier gewesen seien.18
12 BECK, 2003, 73f.; zur Duilius-Säule auch HÖLKESKAMP 1996, 306; HÖLSCHER 1978, 322f. 13 Das Elogium erwähnt eine Statue auf dem Capitol (Dion. Hal. ant. 2,66,4). 14 Dabei existierten gerade für die res gestae des Lutatius Erinnerungen in verschiedenen Medien: zu Catulus: Seetriumph de Poenis ex Sicilia im Jahre 241 v. Chr. (MRR 1, 219f.); vgl. ITGENSHORST, 2005, Katalogeintrag Nr. 141. Außerdem gab es eine Münzemisson seines Nachfahren Q. Lutatius Cerco: RRC 305. Eine Weihung des Tempels der Iuturna auf dem Marsfeld (Serv. auct. Aeneis 12,139) wird ebenfalls dem Catulus zugeschrieben, dazu KOLB 2002, 180; RICHARDSON 1992, 228 s.v. Iuturna templum; F. COARELLI, LTUR 3, 1996, 162f. s.v. Iuturna, Templum. 15 Planc. 60. 16 Scaur. 48. 17 Pis. 41ff., bes. 43. 18 Phil. 11,9.
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Im anderen Falle hat der gegnerische Anwalt Ciceros Rückkehr aus dem Exil aufs Korn genommen und einen Kontrast zwischen Regulus und Cicero hergestellt:19 Regulus habe das Land verlassen, obwohl alle Römer ihn gebeten hätten zu bleiben. Warum habe Cicero nicht ebenfalls so entsagungsvoll auf die Heimat verzichtet? Diese Invektive bietet Cicero natürlich die Gelegenheit, sich ausführlich über die wunderbare und einzigartige Weise seiner Rückberufung zu äußern. Die Argumentationen mit dem ersten punischen Krieg lassen insgesamt kein historisches Bewußtsein für die Bedeutung dieser Phase der römischen Geschichte erkennen. Das Heldenkabinett der Jahre 264 bis 241 v. Chr. erhält oftmals keine Bedeutung für den populus Romanus, sondern löst sich im situationsgebundenen Klein-Klein von Prozeßrhetorik auf. Die Ausdehnung der römischen Politik über Italien hinaus wird nicht als Entwicklungsschritt in irgendeiner Form bewußt gemacht. Die Aufzählung in Triumphatorenreihen, deren einzelne Bestandteile auch noch im Plural stehen, ebnet mehr ein, als daß sie besonders hervorhöbe. Dies mag zum einen wesentlich damit zusammenhängen, daß sich die Ereignisse in einer weit entfernten Vergangenheit abgespielt haben, deren Kenntnis und Aktualität nicht einmal die bekannten Statuen und Ehrendenkmäler bewahren konnten – wenn der Betrachter denn mit ihnen etwas anzufangen wußte. Jenseits des kommunikativen Gedächtnisses war der einzelne Held selten und unbekannt. Sicher würde Cicero sie alle zu den großartigen maiores rechnen, also in die Gruppe einordnen, die Rom zu dem hatte werden lassen, was es zu Ciceros Zeit war. Aufgrund der Leistungen dieser maiores konnte er – wie im Beispiel der Rede über das Siedlergesetz des Rullus noch zu zeigen sein wird – den populus als dominus omnium gentium ansprechen und zur Wahrung des großen Erbes der Väter ermahnen, womit man an den Duktus der Mommsenschen Formulierung wieder anschließen könnte. Es bleibt aber festzuhalten, daß Cicero das Ausgreifen der Römer über die Grenzen Italiens hinaus nicht stärker thematisierte, als daß einzelne Taten einzelner Consuln zum gelegentlichen Vergleich herangezogen wurden. Ein historisches Bewußtsein für Entwicklungslinien der ‚nationalen‘ Geschichte kommt nicht zum Ausdruck.
DER ZWEITE PUNISCHE KRIEG – HANNIBAL AD PORTAS Der zweite punische Krieg war die schwerste Bewährungsprobe, die Rom zu bestehen hatte. Der Feind war in Italien eingedrungen und bedrohte nicht einfach Rom als Stadt. Hannibals Strategie, die Bundesgenossen von Rom loszulösen, war darauf angelegt, der Stadt sämtliche Grundlagen ihrer Macht zu entreißen. Die Römer mußten während dieses Konflikts enorme Niederlagen hinnehmen (Trasimenischer See, Cannae). Insbesondere war der Blutzoll unter den Mitgliedern der senatorischen Klasse groß, so daß sich aufgrund der gerissenen Lücken auch eine 19 Sest. 72.
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große Anzahl von Karrierechancen eröffnete. Im Grunde konstituierte sich vor allem in der Phase des sich abzeichnenden Sieges über die Karthager die Zusammensetzung der politischen Klasse, die Rom von 201 bis 146 v. Chr. zur Beherrscherin des ‚mare nostrum‘ machen sollte.20 Das Ereignis des zweiten punischen Krieges war also in doppelter Hinsicht einschneidend. Eine intensive kollektive Erinnerung wäre somit geradezu zu erwarten. Bevor Ciceros ‚Verargumentierung‘ dieses Krieges und seiner Ereignisse anhand seiner Reden untersucht wird, soll die Frage gestellt werden, was man bzw. Cicero konkret über diese Epoche wußte oder wissen konnte. Vor dieser Folie kann man den Grad der Selektion in den Reden festzumachen versuchen. Historiographische Quellen Mit Hilfe von Fabius’ Annales, von denen allerdings nicht bekannt ist, wie weit die Darstellung reichte, konnte man Informationen über den zweiten punischen Krieg aus der Hand eines beteiligten Zeitgenossen gewinnen. Das Werk des Polybios war ebenfalls einschlägig. Neben diesen beiden in griechischer Sprache verfaßten Werken hat Coelius Antipater, dessen Familie senatorischen Rang hatte – sein Bruder war der Senator C. Coelius –, im letzten Drittel des zweiten Jahrhunderts vor Christus eine sieben Bücher umfassende Monographie über den zweiten punischen Krieg verfaßt.21 Coelius selbst war außerdem ein anerkannter Rechtskenner, ebenfalls ein begabter Redner22 und einer der Lehrer des Crassus. Cicero nennt sein Werk an einer Stelle „Bellum Punicum“.23 Das Werk war dem Grammatiker L. Aelius Stilo gewidmet. Es zeichnete sich nicht nur durch Materialreichtum und breite Quellenbenutzung aus (neben Fabius Pictor und Cato auch das hannibalfreundliche Werk des Silenos). Die Darstellung soll vor allem lebendig und dramatisch in Anlehnung an hellenistische Historiographie gestaltet gewesen sein. Coelius setzte wörtliche Reden, epische Formelemente und rhetorische Kunstprosa ein.24 Cicero hat Coelius positiv beurteilt und zu den „exornatores“ gerechnet – ein Lob im Vergleich zu seinen Äußerungen über die anderen 20 Vgl. die Beurteilung von HEUSS 1971, 98: „So durften sich die Inhaber der politischen Macht nach dem Kriege in jeder Hinsicht als bestätigt betrachten und sich nun recht fest in den Sattel setzen. Ihr Führungsanspruch war geradezu glänzend durch den Gang der großen Politik bekräftigt. Mit dem Hannibalkrieg erreichte deshalb die Herrschaft der Nobilität ihre für mehr als zwei Generationen unerschütterte Festigkeit.“ Vgl. dazu jetzt mit neuen Ergebnissen BECK 2005. 21 Siehe zu Lucius Coelius Antipater SUERBAUM in HLL 1 §167, VON ALBRECHT 1992, 307f. und jetzt mit Übersetzung und Kommentar FRH 11. 22 Cic. Brut. 102 23 Orat. 230. Allgemein hat sich allerdings der Titel „Historiae“ durchgesetzt, Cicero selbst benutzt ihn de orat. 2,54. Vgl. auch WALTER 2003a, 143 mit Anm. 31. 24 Wilhelm KIERDORF in DNP 3, 1997, 56f. s.v. Coelius [I1] C. Antipater L. Vgl. zur kritischen Methode des Coelius SUERBAUM in HLL 1 § 167 Lit.5.
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römischen Geschichtsschreiber25 Brutus hat eine Epitome des Werkes verfaßt.26 Von Livius wurde Antipater vor allem für die Bücher 21 und 22 herangezogen. Das Werk war also bekannt, sein Autor hatte Kontakt zu hohen politischen Kreisen, er war auch an der Ausbildung sehr prominenter Redner beteiligt, mit anderen Worten: Er selbst als Person wie auch sein Werk konnten Wirkung erzielen.27 Ennius’ Epos muß in diesem Zusammenhang ebenfalls erwähnt werden. In seinen Annales umfaßte die Darstellung des zweiten punischen Krieges die Bücher sieben bis neun.28 Cicero nutzte Ennius’ Werk ebenfalls als Quelle und nannte ihn einen verläßlichen Gewährsmann.29 Catos Origines sind ebenfalls als Informationsquelle heranzuziehen. Im fünften Buch hat Cato laut Nepos den zweiten punischen Krieg geschildert, allerdings in einer Weise, durch die exempla gerade nicht an eine Person gebunden hervorgehoben wurden.30 Öffentliche Erinnerung Auf dem Capitol stand eine Ehrenstatue für Quintus Fabius Maximus Cunctator, die er neben der Herculesstatue hatte errichten lassen, welche er 209 v. Chr. aus Tarent mitgebracht hatte. Ob diese Aufstellung im Rahmen seines Triumphes geschah, ist den Quellen nicht zu entnehmen. Offensichtlich hat er sie selbst bezahlt.31 Die Inschrift, die bei einer solchen Statue zu erwarten ist, ist unbekannt. Im Tempel der Magna Mater befand sich eine Statue der Quinta Claudia, die die Göttin im Jahre 204 in Rom in Empfang genommen hatte.32 Der Tempel dieser Gottheit war von 204 bis 191 v. Chr. auf dem mons Palatinus errichtet worden war. Im Jahre 111 v. Chr. hat das Bauwerk gebrannt, was die Statue der Claudia aber überstanden habe, die Basis mit der Ehreninschrift sei sogar „unversehrt“ („intacta“) gewesen. Die Aufstellungszeit der Statue läßt sich allerdings nicht genauer eingrenzen als zwischen 191 und 111 v. Chr., wodurch sich auch die 25 Cic. de orat. 2,54: „Paulum se erexit et addidit maiorem historiae sonum vocis vir optimus, Crassi familiaris, Antipater; ceteri non exornatores rerum, sed tantum modo narratores fuerunt.“ 26 Cic. Att. 13,8. 27 Zu seiner Bedeutung und Rezeption siehe SUERBAUM HLL 1 § 167 C. 28 VON ALBRECHT 1992, 108 mit Anm. 5. S. zu Ennius und Cato oben 136f. bzw. 139f. 29 Mur. 30: „auctor valde bonus“. 30 Corn. Nep. vit. Cat. 3,2–4. S. (den zum Teil recht eigenwilligen Beitrag von) GOTTER 2003 passim, bes. 118: „Namensnennung bzw. sichere Zuweisung fehlen von der Begründung der Republik (bzw. vom Decemvirat) bis mindestens zum Ende des 2. Punischen Krieges – vor 264, weil Cato darüber gar nicht geschrieben hat und danach, weil er die Nennung der Namen unterdrückte. Somit findet die zentrale vorbildhafte Phase der römischen Republik in den Origines entweder gar nicht oder in völliger Anonymität statt.“ Vgl. o. S. 139ff. 31 Plut. Fabius 22,8; Plin. nat. 34,40; dazu SEHLMEYER 1999, 125ff. mit Literatur; ITGENSHORST 2005, Katalog Nr. 160. 32 Cic. har. resp. 24–27; Val. Max. 1,8,11.
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Funktion der Statue nicht eindeutig festmachen läßt: konkrete Ehrung für die Kultstifterin oder spätere Memorialstatue?33 In Verbindung mit dieser Geschichte stand der im römischen Festkalender regelmäßig wiederkehrende Termin des Festes der Magna Mater. Die ludi Megalenses fanden in der Zeit vom 4. bis 10. April statt,34 – seit dem Jahr 191 v. Chr. wurden diese ludi um szenische Aufführungen ergänzt,35 die aber in der Regel keinen Bezug zur Magna Mater hatten. Die Treppenstufen des Tempels und der freie Platz davor wurden für Aufführungen während der ludi scaenici genutzt.36 Die berühmte Trias der drei Marcelli, die zusammen neun Consulate aufzuweisen hatten, ließ M. Claudius Marcellus zwischen 152 und 148 v. Chr. aufstellen. Die Statuen stellten seinen Großvater, den Eroberer von Syrakus, seinen Vater und ihn selbst dar. Als Aufstellungsort werden die „monumenta avi sui ad Honoris et Virtutis“ genannt.37 Am Tempel von Honos und Virtus, den der Syrakuseroberer erweitert hatte, wie auch andernorts ist die Präsentation von Beutestücken gut belegt.38 Der Standort an der porta Capena wurde darüber hinaus während des Triumphzugs passiert, so daß Gestaltung und Geschichte des Ortes
33 SEHLMEYER 1999, 126ff., zum Tempel der Magna Mater RICHARDSON 1992 s.v. Magna Mater, AEDES. 34 DEGRASSI, InscrIt 13,2 p. 435–438. 35 Liv. 34,54,3; Val. Max. 2,4,3; 191 v. Chr.: Liv. 36,36,4 nach Valerius Antias. 36 Cic. har. resp. 24; Liv. 36,36,4f.; Informationen aus Sarolta A. TAKACS, DNP 7, 1999 s.v. Mater Magna; WISSOWA 1912, 317ff., SCULLARD 1981, 97ff.; bes. 98 zu den ludi scaenici: „But whatever the production, it normally had little connection with Mater Magna, though we get one hint of the possibility of a drama enacting her story: Ovid has a stray remark about Claudia, who with miraculous powers had helped in the final stage of bringing the sacred stone from Ostia to Rome, and he adds‚ the story is a strange one, but is ‘attested by the stage’ (at scaena testificatur, F. 4,326).“ 37 Ascon. Pis. 44p.12CLARK; p.44STANGL: „Idem cum statuas sibi ac patri itemque avo poneret in monumentis avi sui ad Honoris et Virtutis, decore subscripsit:’iii marcelli novies coss.’ fuit enim ipse ter consul, avus quinquies, pater semel; itaque neque mentitus est apud imperitiores patris sui splendorem auxit.“ Asconius’ Text läßt offen, ob die Statuen neu gefertigt wurden oder lediglich durch Hinzustellen von einer oder zwei Statuen zur Trias wurden. Es ist also möglich, daß auch eine Statue des älteren Marcellus bereits vorher zu sehen war – das bleibt aber Spekulation. – Zum Tempel vgl. RICHARDSON 1992, 190. Über die Bedeutung des Ausdrucks „in monumentis avi“ bestehen verschiedene Meinungen, die SEHLMEYER 1999, 164, aufführt: als Grab des alten Marcellus (so etwa FLOWER 1996, 71f.; 300) oder aber als ausgestellte Beutestücke (vgl. SEHLMEYER 1999, 164 mit Anm. 143). – Diese Art der Darstellung „vermehrte den Glanz das Vaters“, wie Asconius sagt, jedoch „nur bei denen, die nicht so genau Bescheid wissen“. Denn der Vater des M. Claudius Marcellus hatte nur ein Consulat (196) bekleidet, während wiederum sein Vater fünfmal (222, 216, 214, 210, 208) und sein Sohn dreimal Consul (166,155,152) wurden. S. auch WALTER 2004, 111. 38 Cic. Verr. 2,4,121: „In hac partitione ornatus non plus victoria Marcelli populo Romano adpetivit quam humanitas Syracusanis reservavit. Romam quae adportata sunt, ad aedem Honoris et Virtutis itemque aliis in locis videmus. Nihil in aedibus, nihil in hortis posuit, nihil in suburbano putavit, si urbis ornamenta domum suam non contulisset, domum suam ornamento urbi futuram“; Livius 26,32,4.
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gut in das Ritual der pompa triumphalis hineinpaßten und einen regelrechten Erinnerungsort konstituierten. Ti. Gracchus (Consul I 215 II 213) stellte seinen Sieg über Benevent auf einem Historiengemälde dar, das er im Tempel der Libertas auf dem Aventin aufhängen ließ, den sein Vater aus Beutegeldern hatte errichten lassen. Das Gemälde stellte keinen Kampf, sondern ein Festessen innerhalb Benevents dar, welches Gracchus die Einwohner von Benevent für seine Soldaten hatte ausrichten lassen.39 Claudius Marcellus wurde nach seiner Eroberung von Syrakus die Triumphfeier verweigert, daher hielt er eine ovatio, in der er den Bürgern Roms auch Darstellungen des eingenommenen Syrakus vorführte.40 Varro erwähnt ein Gemälde, das sich im Aesculaptempel auf der Tiberinsel befand und welches die erfolgreichen Kämpfe des Q. Fulvius Flaccus (cos. III 212) mit den Ferentariern abbildete.41 Die konkrete Erinnerung an (den Sieg über) Hannibal ist im öffentlichen Raum nicht nachzuweisen. Appians Darstellung läßt allenfalls mit einigem Grund vermuten, daß in Scipios prächtigem Triumph in Rom42 ebenfalls Trophäen und Darstellungen von Schlachten mitgeführt und dem populus Romanus gezeigt wurden. Daß diese Gemälde an prominenten Orten zur dauerhaften Dokumentation des endgültigen Erfolgs über Hannibal auf- bzw. ausgestellt wurde, ist ein reiner Analogieschluß, den die Quellen nicht stützen.43 Bestimmte Tage des Kalenders, der in Rom ebenfalls eine Art ‚Erinnerungsort‘ darstellte, wurden für die Erinnerung an verheerende Verluste als „schwarze“ Tage markiert, aber auf Senatsbeschluß in dies religiosi umgewandelt. „Eine ähnliche Verfügung für alle a.d. IV Kalendas, Nonas, Idus liegenden Tage scheint wegen der a.d. IV Non. Sext. erlittenen Niederlage bei Cannae getroffen, aber dann wieder in Vergessenheit geraten zu sein.“44
39 Liv. 24,16,18f.; SEHLMEYER 1999, 132; ZINSERLING 1959/60, 316 (Wahlkampfpropaganda des Gracchus, Rechtfertigung der Sklavenbewaffnung). 40 Siehe ZINSERLING 1959/1960, 405f. mit den Quellenbelegen; ITGENSHORST 2005, 160ff. 41 Varro ling. 7,57; ZINSERLING 1959/1960, 406. 42 App. Karth. 292ff.; Polyb. 16,23; Liv. 30,45,6. 43 ZINSERLING 1959/1960, 406f. Pompeius scheint nach ZINSERLING (431) als erster die Statuen besiegter Feinde im Triumphzug mitgeführt zu haben. Schon Lucullus hatte in seinem Triumphzug eine sechs Fuß hohe goldene Statue des Mithridates mitgeführt, wohl ein Beutestück. Diese Beispiele „... sind jedoch allem Anschein nach Unica; und es hat nicht den Anschein, als ob sich die Verwendung feindlicher Befehlshaber zu einem Brauch entwickelt und als ob dieser Typus wie die anderen zum Inventar der Triumphzüge gehört habe.“ 44 Gell. 5,17,3: „Ante diem quoque quartum Kalendas uel Nonas uel Idus tamquam inominalem diem plerique vitant. Eius observationis an religio ulla sit tradita, quaeri solet. Nihil nos super ea re scriptum invenimus, nisi quod Q. Claudius annalium quinto cladem illam pugnae Cannensis vastissimam factam dicit ante diem quartum Nonas Sextiles.“; siehe WISSOWA 1912, 444.
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Die Nachrichten über die Ehrungen für Hannibals unmittelbaren Bezwinger Scipio Africanus sind schwierig zu deuten und im einzelnen auch umstritten. Man plante, Scipio Africanus maior in besonderem Maße zu ehren. Seine imago sollte im Tempel des Iuppiter Optimus Maximus aufbewahrt und bei jedem Begräbnis eines Scipio im Triumphalornat mitgeführt werden. Allerdings berichtet Livius, daß Scipio diese und andere Ehren abgelehnt habe. Die livianischen Nachrichten wiederum werden intensiv diskutiert, und in der Forschung wird ein – ins erste vorchristliche Jahrhundert datiertes – politisches Pamphlet als Grundlage für Livius angenommen; zur zeitlichen Einordnung dieser Schrift werden verschiedene Vorschläge von sullanischer bis augusteischer Zeit gemacht.45 „Der angebliche Verzicht auf Statuen aller Art gehört zu den Legenden, die Scipio als den tugendhaftesten und lobenswertesten aller Römer stilisiert hatte.“46 Zu erwähnen bleiben natürlich das Familiengrab der Scipionen sowie der Fornix Scipionum am clivus Capitolinus: Auch wenn die genauen Umstände seiner Errichtung und seiner Ausgestaltung unbekannt bzw. umstritten sind,47 bedeutete dieses Bogenmonument in jedem Fall eine Erinnerung an (die) Scipio(nen). Eine im heutigen Ort Bocchignano gefundene Inschrift48 ist wahrscheinlich die Kopie einer stadtrömischen Inschrift. Sie nennt die erworbenen Ehren des Scipio Africanus in derselben Anordnung (COS BIS CENSOR | AEDILIS CURULIS | TRIB MIL), wie sie auf den Scipionengräbern49 aufgeführt sind. Da aber die Scipionengrabanlage an der Via Appia kaum für die Öffentlichkeit zugänglich war, gleichzeitig die Inschriftentexte mit Formulierungen wie etwa „apud vos“50 einen Leser konkret ansprachen, kann man davon ausgehen, daß gleichlautende Inschriften in Rom als tituli von Statuen vorhanden waren.51 Der fornix ist als Träger einer solchen Inschrift gut vorstellbar. Livius äußert sich zu den Nachrichten, die er über die Prozeßjahre und das Todesjahr des älteren Africanus zur Verfügung hat, sehr verunsichert.52 Man kön45 SEHLMEYER 1999, 123. 46 SEHLMEYER 1999, 47, 123 („Anzuzweifeln ist auf jeden Fall die Behauptung, daß er Statuen generell abgelehnt hat.“) mit den Anmerkungen 95–97. Vgl. auch die einschlägige Passage Liv. 38,56,12: „Castigatum enim quondam ab eo populum ait, quod eum perpetuum consulem et dictatorem vellet facere; prohibuisse statuas sibi in comitio, in rostris, in curia, in Capitolio, in cella Iovis poni; prohibuisse, ne decerneretur, ut imago sua triumphali ornatu e templo Iovis optimi maximi exiret.“ 47 SEHLMEYER 1999, 125. Zuversichtlich äußert sich BECK 2005, 367: „Unter den sieben Statuen wird sich sicher auch eine des Africanus befunden haben.“ 48 InscrIt 13,3, Nr.89 = CIL I2p.201 Nr. 37 = IX 4854 und VI,8,3,41022. 49 Siehe ILS 1: Inschrift für Cornelius Scipio Barbatus = CIL I2 6.7 cf. p. 718. 859; ILLRP 309; KRUSCHWITZ 2002, 32ff.; siehe ebenso die Inschrift für den Sohn des Barbatus ILS 3 = CIL I2 8,9 cf. p. 718;831. 859f. ILLRP 310, KRUSCHWITZ 2002, 58ff. 50 CIL I2 6/7 = CIL VI 8,3 1284 = ILLRP2 309. 51 Vgl. BECK 2005, 328ff. 52 Liv. 38,56,1–5: „Multa alia in Scipionis exitu maxime vitae dieque dicta, morte, funere, sepulcro, in diversum trahunt, ut, cui famae, quibus scriptis adsentiar, non habeam. non de accusatore convenit: alii M. Naevium, alii Petillios diem dixisse scribunt, non de tempore, quo
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ne nichts exakt feststellen. Nicht einmal über den Ort seines Grabes herrsche Einigkeit. Livius kennt zwei Versionen: Africanus maior sei in Rom begraben, lautet die eine, die andere besagt, Scipio sei in Liternum gestorben und begraben. Livius selbst sah Statuen, die Scipio darstellen sollten, aber seine Aussage bleibt doch etwas unbestimmt. In Liternum stehe eine verwitterte und sturmgeschädigte angebliche Scipiostatue, im Scipionengrab in Rom, welches sich „extra portam Capenam“ befinde, habe eine Statuentrias Publius und Lucius Scipio und Ennius dargestellt. Zum großen Sieger über Hannibal stand anscheinend keine dichte und einheitliche Überlieferung zur Verfügung. Die Erinnerungsmonumente an den alten Africanus sind wahrscheinlich auch eher spärlich gewesen, wenn man Livius’ Zweifel bezüglich der Überlieferung als ein Indiz hierfür gelten lassen will. Der Geschichtsschreiber der augusteischen Zeit konnte nur schwer an verläßliche Informationen kommen. Woran könnte dies liegen? War Africanus vielleicht zu umstritten; war er dem Senat oder zumindest einem Teil der Senatorenschaft ein Dorn im Auge, weil er im Hinblick auf seine Karriere nicht wie die anderen die Regeln eingehalten hatte, sondern einzigartig war?53 Auf der anderen Seite war das Regelwerk für den cursus honorum noch nicht so fixiert, wie es 180 v. Chr. durch die lex Villia annalis festgeschrieben werden sollte.54 Oder war es gar für einen Scipio mit dem familiären Hintergrund und symbolischen Kapital, das ihm zur Verfügung stand, nicht nötig, größeres Aufheben um seine Person zu machen und sich in besonderem Maße in die Erinnerungslandschaft zu integrieren (geschweige denn sich in dieser zu exponieren)? Die Prominenz war zweifellos gegeben, sein Wirken spürten die cives Romani im wahrsten Sinne am eigenen Körper, weil es ihm gelungen war, sie von Hannibal zu befreien. Dagegen konnten Neider und Rivalen im Senat letztlich nicht viel ausrichten. Gerade die mißlichen Entwicklungen Scipios in seinen letzten Jahre und die Bedrängnis der Scipionenprozesse könnten aufgrund des damaligen Urteils über ihn die etwas farblose Erinnerung bewirkt haben. Vielleicht war der letzte Eindruck von Africanus maior, der sicher nicht der stärkste und beste war, der prädicta dies sit, non de anno, quo mortuus sit, non ubi mortuus aut elatus sit; alii Romae, alii Literni et mortuum et sepultum. utrobique monumenta ostenduntur et statuae; nam et Literni monumentum monumentoque statua superimposita fuit, quam tempestate deiectam nuper vidimus ipsi, et Romae extra portam Capenam in Scipionum monumento tres statuae sunt, quarum duae P. et L. Scipionum dicuntur esse, tertia poetae Q. Ennii. nec inter scriptores rerum discrepat solum, sed orationes quoque …“. Livius konnte zum Beispiel ebenfalls nicht präzise herausbekommen, wie und von wem Scipio den Beinamen „Africanus“ erhalten hatte (Liv. 30,46,6). Vgl. zur Passage ausführlich JAEGER 1997, 164ff. 53 Siehe BROUGHTON MRR II, 555 zur Karriere des Africanus (geb. 236 v. Chr.), die wichtigsten Stationen: tr.mil. 216; aed. cur. 213; procos. Hispania 210–206; cos. 205 (im Alter von 31 Jahren!); procos. Africa 204–201; cens. 199; cos. II 194, Legat unter seinem Bruder im Krieg gegen Antiochos 190. Vgl. vor allem jetzt zur Ausnahme-Karriere des Scipio BECK 2005, 328ff. 54 Es scheint mir jedoch fraglich, ob solche Feinheiten in ciceronischer Zeit, also etwa 120 Jahre später, einen Unterschied ausmachten, dessen man sich bewußt war.
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gende. Es bleibt vor diesem recht offenen Hintergrund zu prüfen, inwieweit Scipio in den Reden Ciceros erinnert und als exemplum angeführt wird. Fazit: ein karges Bild Die Überlieferung zeichnet kein reichhaltiges Bild einer Erinnerungslandschaft an die sehr schweren, aber letztlich erfolgreichen Zeiten des zweiten punischen Krieges, wofür m.E. zwei Begründungen angeführt werden könnten. Zum einen kann es – wie immer – an der schlechten Überlieferungslage liegen. Zum anderen ist aber auch ein insgesamt (noch) etwas zurückhaltenderer Grad an Selbstdarstellung römischer Aristokraten denkbar, als er in der späten Republik gang und gäbe war. Die Ausschmückung des öffentlichen Raums war eine sensible Angelegenheit, und sie konnte – ähnlich wie die Präsentation der eigenen Taten in Form der praetexta – ebenfalls empfindliche Reaktionen der Standesgenossen auslösen.55 Vielleicht gab es also einfach nicht so viele Erinnerungsmonumente, weil die anderen Aristokraten voller Argwohn darauf achteten, daß man sich nicht zu sehr über die eigene ‚peer group‘ stellte. Die kollektive Kontrolle konnte potentielle Ausreißer (noch) bändigen. Ciceros historische Kenntnisse über die Zeit des zweiten punischen Krieges Exempli gratia sollen die historischen Kenntnisse Ciceros über die Zeit des zweiten punischen Krieges bis etwa 190 v. Chr. zusammengestellt werden. Damit ist natürlich ein längerer Zeitraum als der zweite punische Krieg gewählt. Ich habe mich entschieden, Scipios Engagement im Krieg gegen Antiochos als Grenze zu wählen, weil Cicero des öfteren Scipio im Kriege gegen Antiochos erwähnt und Scipio weiter unten noch als exemplum gesondert betrachtet werden wird. Grundlage sind im folgenden die Arbeiten von SCHÜTZ und SAUER, die die historischen Notizen aus Ciceros gesamtem Oeuvre zusammengestellt und so ein beeindrukkendes, dichtes und detailreiches ‚historisches Wissen‘ Ciceros rekonstruiert haben – zumindest dem Scheine nach.56 Hannibal, der Sohn des Hamilcar,57 war ein großer Feldherr,58 aber er war auch grausam59 und verschlagen.60 Mit ihm kämpfte Rom um die Herrschaft.61 Obwohl er durch die römischen Gesandten P. Valerius Flaccus und Q. Baebius Tamphilus aufgefordert worden war, von der Belagerung Sagunts abzulassen, 55 56 57 58 59 60 61
Siehe oben S. 131ff. den Abschnitt „Geschichte(n) im Theater“. Siehe unten S. 215ff.; SCHÜTZ 1913, 75–79, SAUER 1909/10. Cic. off. 3,99. De orat. 1,210. Lael. 28; off. 1,38; vgl. Phil. 5,25; 14,9. Off. 1,108. Off. 1,38 („... de imperio ...“); Sest. 142.
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fügte Hannibal sich nicht. Diese Belagerung bildete den Anlaß für den zweiten punischen Krieg.62 In den Anfang dieser Auseinandersetzung gehörte die gesetzliche Bestimmung, daß die Senatoren vom Seehandel ausgeschlossen wurden.63 In seinem zweiten Consulat kämpfte Flaminius unglücklich am Trasimenischen See und fiel. Er hatte die ungünstigen Auspizien nicht beachtet.64 Ein Jahr später kam der Consul L. (Aemilius) Paullus bei Cannae um. Mit ihm starb auch Geminus.65 Varro, der andere Consul, hatte die Auspizien beachtet, sein Handeln war dennoch unbesonnen.66 Das römische Lager, insgesamt 8000 Gefangene, fiel dem Feind in die Hände. Der Senat entschied gegen den Freikauf der Gefangenen.67 Es wurden zehn der Gefangenen als Unterhändler nach Rom geschickt. Sie hielten ihr den Feinden gegebenes Versprechen zurückzukehren nicht ein. Daher wurden sie von den Censoren streng bestraft.68 Hannibal zog weiter nach Campanien,69 Casilinum ergab sich ihm.70 In Capua lebten der prorömische Decius Magius71 und die beiden Karthagofreunde Taurea Vibellius und (Marius) Blossius.72 Aber es folgten auch ermutigende Erfolge der Römer:73 Der Consul Marcellus leistete Hannibal bei Nola erfolgreichen Widerstand.74 Als Fabius Maximus zum dritten Mal Consul war, rettete er durch sein Zögern den Staat.75 (Lucius Postumius) Albinus fiel bei Litana.76 Philipp von Makedonien trat in den Krieg ein.77 Consuln wurden Fabius Maximus zum vierten78 und Marcus Marcellus zum fünften Male.79 Unter Fabius kämpfte Cato gegen Capua.80 Fabius traf das Unglück, daß sein Sohn, der auch schon consularis war, vor ihm starb.81
62 Phil. 5,27; 6,6; div. 1,49; parad. 3,24. 63 Verr. 2,5,45. 64 Div. 1,77; nat deor. 2,8; S. Rosc. 89; Brut. 57; ac.2 13 (Flaminius’ Tribunat); Mißachtung der Auspizien: div. 2,21; 67. 65 Tusc. 1,89; Cannae: S. Ros. 89; Verr. 2,5,28. 66 Div. 2,73; S. Rosc. 89; sen. 82. 67 Off. 3,114; sen. 75. 68 Off. 3,113/115; 1,40 69 Leg. agr. 1,20; 2,95. 70 Inv. 2,171. 71 Pis. 24; zu Capua z.B. leg. agr. 1,19ff.; 2,87ff. 72 Leg. agr. 2,93; Pis. 24. 73 Sen. 10. 74 Brut. 12. 75 Off. 1,84; rep. 1,1, und zu Maximus z.B. in div. in Caec. 13; Verr. 2,5,25, Arch. 22 u.ö. 76 Tusc. 1,89. 77 Inv. 1,17. 78 Sen. 10. 79 div. 2,77. 80 Sen. 12. 81 Sen. 12.
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Während des Krieges siedelte der Praetor T. Manlius Bürger aus anderen sizilischen Städten nach Agrigent um.82 Africanus gab den Agrigentinern Gesetze über die Erneuerung ihres Senats.83 Marcellus gelang die Einnahme von Syrakus. Archimedes’ Tötung war bereits geschehen, als er nach dem Gelehrten suchen ließ.84 Die Stadt Syrakus verschonte Marcellus vor dem Allerschlimmsten,85 in Rom renovierte er nach der Eroberung von Syrakus zwei Tempel, wie er es gelobt hatte.86 Hannibal gelang die Einnahme Tarents, (M. Livius) Salinator konnte die Burg der Stadt halten.87 Die beiden Heerführer in Spanien, Cn. und P. Scipio, fielen bei dem Vorhaben, das karthagische Heer aufhalten zu wollen.88 Vor allem die Untreue der Spanier verursachte ihre Niederlage.89 Nach ihrem Tod schloß der primi pili centurio namens L. Marcius ein Bündnis mit den Einwohnern von Gades.90 Größte Furcht herrschte in Rom: „Hannibal ad portas!“91 Die Consuln M. Marcellus und M. Valerius Laevinus versuchten vergeblich, dem Volk ein tributum aufzuerlegen. Sie wollten so die Staatskasse füllen.92 Consul Laevinus operierte in Sizilien.93 Im fünften Jahr nach seinem vierten Consulat trat Fabius Maximus sein fünftes Consulat an.94 Sein Kollege war Q. Fulvius.95 Im Heer des Maximus vor Tarent befand sich Cato.96 Die Einnahme des stolzen Capua gelang.97 Der Consul98 Marcellus fiel bei Venusia.99 P. Licinius Varus war Gast beim Bankett des Scipio Africanus und scherzte über einen Kranz, der mehrfach brach, als ihn der Feldherr auf den Kopf setzen wollte.100
82 83 84 85 86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98 99 100
Verr. 2,2,123 Verr. 2,2,123. Fin. 5,50; Verr. 2,4,131; Tusc. 5,64; rep. 1,21. Verr. 2,4,115. Nat. deor. 2,61; Verr. 2,4,123. De orat. 2, 273; sen. 11;93. Parad. 1,12; sen. 75.,61; leg. agr. 1,5; 2,51; Balb. 34;40 Tusc. 1,89; nat. deor. 3,80; Scaur. 45b. Cn. und P. Scipio kommen vor: leg. agr. 1,5; Balb. 34; 40; Pis. 58; Planc. 60; rep. 1,1; sen. 29; 68; off. 1,61; 3,16. Balb. 34; 39. Phil. 1,11; fin. 4,22; Mur. 84. De virt. frg. 12, s. SCHÜTZ 1913, 77 Anm. 97. Verr. 2,3,125. Brut. 72. Leg. agr. 2,90 Sen. 10.; Brut. 72 Leg. agr. 2,90; siehe auch 1,19. Div. 2,77 Tusc. 1,89; nat. deor. 3,80. De orat. 2,250.
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(Livius) Salinator gelobte in der Schlacht bei Sena (Gallica) Spiele für die Iuventas.101 Q. Metellus und L. Veturius Philo waren Consuln.102 Ein anderes Consulcollegium bildeten P. Licinius Crassus und der ältere Scipio Africanus. 103 Scipio sollte auf Antrag des Torquatus durch eine allgemeine Steuer für sein Übersetzen nach Africa unterstützt werden. Deshalb gab es in Rom 24 Tage lang Unruhen.104 Scipio war noch verhältnismäßig jung;105 sein Sohn Publius adoptierte später den jüngeren Scipio, der ein leiblicher Sohn des Aemilius Paullus war.106 160 Jahre vor Ciceros Consulat waren (M. Cornelius) Cethegus und P. (Sempronius) Consuln; Cato war Quaestor, es war das Todesjahr des Naevius.107 Ein Heiligtum der Mater Idaea wurde von Phrygien nach Rom gebracht und von P. Scipio Nasica108 und der Quinta Claudia109 empfangen. M. Cincius brachte eine lex de donis et muneribus ein, die der greise Fabius Cunctator empfohlen hat.110 Hannibal war gezwungen, nach Afrika zurückzukehren.111 Syphax wurde von den Römern besiegt und gefangengenommen.112 Hannibal wurde von Scipio Africanus maior besiegt.113 M. (Aemilius) Lepidus wurde als tutor zu dem jungen König (Ptolemaeous Epiphanes) geschickt.114 Um die pure Existenz mußten die Römer mit den Celtiberern kämpfen.115 T. Pontius war ein wegen seiner Körperkräfte berühmter Centurio.116 Das Consulat des jungen Titus Quinctius Flamininus117; Kampf gegen Phil118 ipp. Ennius wurde vierzig, als C. Cornelius (Cethegus) und Q. Minucius (Rufus) Consuln waren.119 Flamininus besiegte Philipp120 und erhielt einen Triumph zuer-
101 102 103 104 105 106 107 108 109 110 111 112 113 114 115 116 117 118 119 120
Brut. 73. Brut. 57. Brut. 77. De virt. frg. 12. Brut. 77 Phil. 5,48; Brut. 77; off. 1,121; sen. 35. Brut. 60. De orat. 3,134; 2,276; fin. 5,64. Har. resp. 27; Cael. 34. Sen. 10; de orat. 2,286. Catil. 4,21; fin. 2,56; Mur. 32; rep. 1,1. Inv. 2,105. Fin. 5,70. Fin. 5,64, allerdings ohne Namensnennung: „nos tutores misimus regibus“. Off. 1,38. Fin. 1,9; sen. 33. Seine Zeit ist nicht näher zu bestimmen. Phil. 5,48. Manil. 14; leg. agr. II 50, 90; Mur. 31. Brut. 73. Verr. 2,1,55; leg. agr. 1,5.
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kannt.121 Flamininus stellte auf dem Capitol eine Statue des Zeus auf, die er aus Makedonien mitgebracht hatte.122 Hannibal verließ Karthago und begab sich zu Antiochos.123 Neun Jahre nach dem Consulat des Cethegus bekleidete Marcus Porcius Cato das Amt des Consuls. Er war ein homo novus aus Tusculum,124 er war im hohen Maße rechtskundig,125 beredt,126 Cato schrieb Geschichte,127 noch im hohen Alter lernte Cato griechisch.128 Cato erhielt Spanien als Provinz.129 Scipio Africanus wurde für das nächste Jahr zum Consul gewählt.130 In seinem zweiten Consulat hatte Scipio den Ti. (Sempronius) Gracchus Longus zum Collegen.131 Die Senatoren erhielten bei den Megalesien besondere Plätze.132 Sieben Jahre vor Catos Censur war L. (Quinctius) Flamininus Consul, er war der Bruder des fortissimus vir Titus Flamininus, Cato hat jenen aus dem Senat geworfen, weil er in seiner Provinz Gallien brutal und willkürlich vorgegangen war.133 Vier Jahre nach Catos Consulat war M’. Acilius Glabrio Consul, unter ihm kämpfte als tribunus militaris Cato an den Thermopylen.134 Im Consulat des L. (Cornelius) Scipio Asiaticus und C. Laelius begleitete Scipio Africanus seinen Bruder Lucius auf dem Kriegszug gegen Antiochos den Großen, um zu verhüten, daß man aufgrund der Bedenken über die Zuverlässigkeit seines Bruders nach längerer Verhandlung im Senat die Führung des Krieges dem älteren Laelius, dem Vater des Sapiens, übertrug.135 Der Consul M. Fulvius Nobilior besiegte die Ätoler,136 Ennius begleitete ihn auf diesem Feldzug.137 Titus Flamininus war Censor.138 Antiochos wurde besiegt, sein Reich wurde ihm bis zum Taurus genommen und Attalos gegeben.139 Hannibal hielt sich bei Prusias von Bythinien auf.140 121 122 123 124 125 126 127 128 129 130 131 132 133 134 135 136 137 138 139 140
Mur. 31; Pis. 61. Verr. 2,4,129. Sest. 142; de orat. 2,75. Planc. 20; leg. 2,5; Verr. 2,5,180; Sull. 23; Mur. 17; rep. 1,1. De orat. 1,171. Siehe nur de orat. 1,215; Brut. 65. Cato als Redner noch oft erwähnt. De orat. 2,51; leg. 1,6; sen. 38. Die Origines werden auch sonst noch erwähnt. Sen. 26; acad. 2,5. Brut. 60f.; sen. 32; div. in Caec. 66; Sen. 10; 19; 32; 38; Sen. 19. Sen. 19. Corn. I frg. 27CRAWFORD; har. resp. 24 Sen. 42. Sen. 32. Phil. 11,17; Mur. 31; Verr. 2,1,55. Mur. 31 Arch. 27; Tusc. 1,3; Brut. 79. Sen. 42. Sest. 58; Deiot. 6; Verr. 2,4,67. Div. 2,52.
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Zunächst soll danach gefragt werden, ob man nachvollziehen kann, wann bei Cicero welches Wissen nachzuweisen ist und ob sich dabei ein bestimmter Schwerpunkt ermitteln läßt. Als Hilfe dient dabei M. VON ALBRECHTs Einteilung von Ciceros Werk in drei Schaffensperioden. Er orientiert sich vor allem an den Rhetorica und setzt einen markanten Einschnitt mit De oratore an, also mit dem Jahr 55 v. Chr. Die dritte Periode beginnt nach ihm mit dem Jahr 46 v. Chr.141 Wie immer haben solche Periodisierungen, die man stets problematisieren kann, vor allem den Zweck einer Hilfskonstruktion, um Entwicklungen zwischen diesen Phasen kenntlich machen zu können. Untersucht man, welcher Phase die Belege zuzuordnen sind, die gerade für Ciceros historische Kenntnisse über die Zeit des zweiten punischen Krieges zusammengestellt wurden, fällt das eindeutige Schwergewicht142 auf die beiden späten Schaffensperioden, die meisten Belege entstammen der letzten Phase ab 46 v. Chr. Unter Caesars Dictatur wandte Cicero sich wieder „seinen alten Freunden, den Büchern,“143 zu und versuchte sich über die politisch tristen Zeiten durch Studien zu trösten. Varro, Atticus und Brutus bestärkten ihn darin.144 Cicero hatte in dieser Zeit seine produktivste literarische Schaffensphase. In dieser Zeit dürfte er sich ebenfalls einen großen Teil seiner historischen Kenntnisse neu erarbeitet oder vertieft haben. Die Quellenverteilung legt diesen Eindruck zwingend nahe. Cicero kannte viele Einzelheiten bzw. er konnte sie in Erfahrung bringen: Vor allem die zahlreichen prosopographischen Details, die sich auf eponyme Consuln beziehen, deren wichtige Erfolge Cicero nennt, fallen ins Auge. Spezielleres Wissen hatte Cicero über die Zustände in Sizilien, was damit zu begründen ist, daß er dort Quaestor gewesen war und außerdem für seine Anklage gegen Verres viel Material zusammengestellt hatte. Einzelheiten wußte er ebenfalls über die militärischen Einsätze des Cato maior, der ihm ja nicht nur Vorbild war, sondern über den er auch intensiv geforscht und geschrieben hatte. Daher konnte Cicero Details wie Catos Teilnahme an den Kämpfen unter dem Kommando des Fabius Maximus bei dessen Vorgehen gegen Capua und an der Einnahme Tarents erwähnen. Die Vielzahl von Einzelheiten besagt jedoch nichts über den abrufbaren Wissensbestand Ciceros – geschweige denn der größeren Gruppe seiner Zuhörer. Es ist auch nicht mit Sicherheit erkennbar, in welcher Zeit sich Cicero das Wissen angeeignet hat. Viele der insbesondere von SCHÜTZ145 zusammengestellten historischen Zeugnisse stammen – wie gesehen – aus der späteren Schaffensperiode Ciceros, in der der Consular sich von den öffentlichen Tätigkeiten zurückgezogen hatte und literarisch sehr produktiv war. Hat er für die in späteren Jahren geschriebenen Philosophica und die Rhetorikgeschichte, die er im Brutus darstellt, 141 VON ALBRECHT 1992, 416f. 142 Im Verhältnis von 1:2 zwischen „früher Schaffensperiode“ und „mittlerer/später Periode“. 143 Cic. fam. 9,1,2: „Scito enim me, postea quam in urbem venerim, redisse cum veteribus amicis, id est cum libris nostris, in gratiam.“ Vgl. auch den resignierten Ton in ad Q. fr. 3,5,4. 144 Vgl. hierzu GELZERs 1969, 264ff., Kapitel „Unter Caesars Dictatur“ mit den entsprechenden Belegen in den Fußnoten. 145 SCHÜTZ 1913.
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die historischen Details im einzelnen und erstmalig herausgesucht, etwa mit Atticus’ Liber annalis, dessen Benutzung durch den Briefwechsel nachweisbar ist?146 Die von SCHÜTZ chronologisch geordneten eponymen Consuln etwa suggerieren, daß Cicero eine detaillierte Abfolge der Ereignisse kannte. Aber auch dies sollte man wahrscheinlich eher in Zweifel ziehen.147 Die präsentierte historische Reihenfolge von Ciceros Wissen projiziert indes den Wissensmodus des modernen Autoren SCHÜTZ – im Grunde den des PLOETZ – auf den antiken Autor, dessen Wissen jedoch ganz anders geartet und organisiert war. Begründet wäre die Erwartung, die Abfolge einiger prominenter Vertreter der eigenen und der Vätergeneration zu kennen, und nur in diesem Punkt sollte man ein Wissen um chronologische Abfolgen vermuten. Aber ansonsten sind eher minimalistische Maßstäbe an das präsente historische Wissen anzulegen. Immerhin war historisches Wissen durch antiquarische Forschungen einiger ‚Altertumswissenschaftler‘ (Congus, Varro, Atticus) bekannt und ‚verfügbar‘. Eine weitere Quelle für die Kenntnis derartiger Details war die Pflege der familiären Erinnerung (Familienarchive). Aus dem Befund ergibt sich, daß Ciceros Wissen großenteils in späterer Zeit angelesen war. Für die Sozialisation eines Mitglieds der Elite war eine literarisch orientierte und fundierte historische Bildung notwendig, besonders für seine Rolle als Redner. Viele der gesammelten „Kenntnisse“ Ciceros stammen jedoch aus seinem Spätwerk. Dies ist – wenn auch nicht zwingend – ein Hinweis darauf, daß Cicero mehr Kenntnisse hatte, als man sie sich üblicherweise aneignete. Die hier zusammengestellten Informationen aus Ciceros Oeuvre sollten daher nicht automatisch als Bestandteil des verargumentierten kulturellen Gedächtnisses gelten. Vor diesem Hintergrund und auf dieser Basis sollen die in den Reden vorkommenden exempla der Zeit des zweiten punischen Krieges betrachtet werden.
DIE ZEIT DES ZWEITEN PUNISCHEN KRIEGES UND SEINE VERARGUMENTIERUNG IN DEN REDEN Drei Beispiele aus der Rednerschule Bei Redeübungen wurden historische Entscheidungssituationen durchgespielt, dabei kamen auch Beispiele zum zweiten punischen Krieg vor. Cicero erwähnte sie selbst in seiner Jugendschrift De inventione:148 „Ist es nötig, daß sich die Einwohner von Casilinum Hannibal ergeben?“ Das exemplum wird in der Schrift inhaltlich nicht ausgeführt, sondern durch eine etwas andere Fragestellung in Nu146 Vgl. S. 141ff. den Abschnitt „Ciceros Arbeit als Historiker“. 147 Zum Beispiel datiert er im Brutus das Consulat Q. Metellus und L. Veturius Philo recht allgemein: „Q. Metellus, is qui bello Punico secundo cum L. Veturio Philone consul fuit.“ 148 Cic. inv. 2,171: „necesse est Casilinenses se dedere Hannibal?“; „necesse est Casilinum venire in Hannibalis potestatem?“
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ancen verändert, wenn der Redeschüler etwa zu folgender Formulierung extemporieren sollte: „Kommen die Einwohner von Casilinum notwendigerweise in die Gewalt Hannibals?“ Es geht bei dieser Frage um die voreilige Kapitulation Casilinums (216 v. Chr.) vor Hannibal, womit diese Gemeinde ihre Treue zu Rom brach. Nach der Rückeroberung durch die Römer wurde Casilinum zur praefectura und verlor rasch seine Bedeutung. Bruch der fides und harte Strafe durch die Römer sind die Inhalte, die mit dem exemplum Casilinum verbunden sind. Diese Untreue geschah in einer Roms Existenz bedrohenden Phase der Auseinandersetzung, als Hannibal den Krieg nach Italien verlagert hatte. Alle diese Konnotationen sind bei der Bedeutung des Beispiels mitzubedenken, sie werden jedoch nicht expressis verbis thematisiert, sondern sie ‚schwingen mit‘ und geben dem Stichwort ‚Casilinum‘ plastische Bedeutung. Eine andere Fragestellung, die in der Rhetorikausbildung vorkam, befaßte sich ebenfalls mit einer Notlage der Römer: „Soll das Heer nach Makedonien gegen Philipp geschickt werden, um den Bundesgenossen zu helfen, oder soll man es in Italien behalten, damit die Truppen gegen Hannibal möglichst stark sind?“ Es ging also um eine Zweifrontenbedrohung Roms und die fälligen strategischen Entscheidungen, die die Situation des Jahres 215 v. Chr. prägten. Weiterhin war die Gefangennahme des Syphax bei der Formulierung von Antragsreden ein vorgegebenes Thema. Cicero wußte, daß damals sowohl im Senat als auch im consilium – wohl des Feldherrn – ausführlich beraten worden war.149 Wie schlugen sich nun diese Übungsfälle in den Reden nieder? Welche Aussagen läßt das ciceronische Oeuvre hier zu? (1) Casilinum kommt als Beispiel in den erhaltenen Reden Ciceros nicht vor. (2) Der Krieg gegen Philipp V. wird erwähnt, aber nur als Bestandteil einer Aufzählung: Manil. 14: Vorfahren führten Krieg u.a. gegen Philipp (exemplum-Reihe) um der Bundesgenossen willen. Leg. agr. 2,90: Vorfahren bestraften Capua hart, das sich in allen folgenden Kriegen als verläßlich erwiesen hat, u.a. auch im Krieg gegen Philipp (exemplum-Reihe). – Diese Erwähnung bezieht sich also mehr auf das zurechtgestutzte Capua. Phil. 11,17: Es gab kein Sonderkommando u.a. gegen Philipp (exemplum-Reihe).
So wie Cicero das exemplum vom Krieg gegen Philipp in seiner Redelehre vorgestellt hat, kommt es in den vorliegenden Reden gar nicht vor. Die Erwähnungen eines Krieges gegen Philipp beziehen sich darüber hinaus recht eindeutig auf den zweiten makedonischen Krieg. Dadurch daß die Auseinandersetzung gegen Philipp stets in einer Reihe verschiedener militärischer Konflikte genannt wird, ist die präzise historische Einordnung, auf welchen Krieg sich der Redner genau bezieht – wenn er es denn selbst wußte –, für den Hörer nur sehr schwer möglich. Aber
149 Cic. inv. 1,17: „Utrum exercitus in Macedoniam contra Philippum mittatur qui sociis sit auxilio, an teneatur in Italia ut quam maxime contra Hannibalem copiae sint.“ Zu Syphax siehe Cic. inv. 2,105.
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für das situative Verständnis der exempla-Reihe ist dies andererseits auch gar nicht nötig. (3) Syphax kommt ebenfalls nicht in den vorliegenden Reden vor. Die Ausbeute unter der Fragestellung ‚Rhetorik in Theorie und praktischer Umsetzung‘ ist leider ziemlich mager. Das Philipp-Beispiel ist – im wahrsten Sinne – kein prominentes exemplum, sondern steht in exempla-Reihen und wird inhaltlich auf den Zeitpunkt und die Situation seiner Präsentation hin akzentuiert und verargumentiert. Einblick in Ciceros rhetorische Praxis – das exemplum Publius Cornelius Scipio Africanus maior in den Reden Im folgenden werden die Erwähnungen des Africanus maior in Ciceros Reden stichwortartig zusammengestellt, um anschließend den Gehalt und die Verwendung dieses Beispiels zu untersuchen: Verr. 2,2,123: Ein Gesetz Scipios über den Rat der Agrigentiner bestimmte, daß die Zahl der Neusiedler im Rate nicht größer sein dürfe als die der Altbürger. Verr. 2,3,209: Cicero zählt Beispiele auf „… aus früher Zeit, aus Aufzeichnungen und Schriftstücken von hohem Ansehen und hohem Alter. Denn dergleichen hat im allgemeinen für den Beweis die größte Kraft … Willst du mir Leute wie Africanus und Cato und Laelius nennen …?“ (Pluralnennung) Verr. 2,5,14: Den Feldherrn Verres muß man nicht etwa mit M’. Aquilius vergleichen. Nein! Er gehört in die Kategorie von Männern wie Paullus, Scipio und Marius. („O praeclarum imperatorem nec iam cum M'. Aquilio, fortissimo viro, sed vero cum Paulis, Scipionibus, Mariis conferendum!“) Verr. 2,5,25: Wie soll man Verres einschätzen? In einer exempla-Reihe erwähnt Cicero auch den älteren Scipio: „... illius Africani superioris in re gerunda celeritatem ...“. Manil. 47: Einmal mehr liest man eine allgemeine Pluralnennung in einer exempla-Reihe: Tüchtigkeit und Glück führten dazu, daß den großen Feldherren Roms ein ums andere Mal ein großes Kommando anvertraut wurde. („Ego enim sic existimo, Maximo, Marcello, Scipioni, Mario ceterisque magnis imperatoribus non solum propter virtutem sed etiam propter fortunam saepius imperia mandata atque exercitus esse commissos.“) [Leg. agr. 1,5: Auf der Liste der Ländereien, die Rullus verkaufen möchte, steht ebenfalls das Gebiet von Neukarthago, das durch die hervorragende Tüchtigkeit der beiden Scipionen in den Besitz Roms gekommen ist [die beiden Scipionen starben 211 v. Chr., Scipio Africanus konnte die Eroberung 208 v. Chr. erfolgreich durchführen]; weiterhin Altkarthago: die Stadt wurde von P. Africanus geschleift und den Göttern geweiht. Der Erfolg des älteren Africanus ist Voraussetzung für das Handeln des jüngeren, wird aber nicht konkret genannt, sondern ‚schwingt‘ allenfalls mit]. [Leg. agr. 2,51: Heiligkeit des von Scipio minor geweihten Bodens von Altkarthago. Africanus war sicher nicht so umsichtig wie Rullus. Der ältere Africanus ist Voraussetzung für das Handeln des jüngeren, wird aber nicht konkret genannt, sondern ‚schwingt‘ allenfalls mit.] Catil. 4,21: „Jener Scipio, dessen Plan und Tatkraft Hannibal zwang, nach Afrika zurückzukehren und Italien zu verlassen.“ Weitere Helden folgen, an das Ende dieser exempla-Reihe fügt sich Cicero selbst an: „… der Lobpreis dieser Männer wird auch für unseren Ruhm etwas Raum übrig lassen.“
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE Mur. 31: Der größte jemals geführte Krieg sei der gegen Antiochos gewesen. Sieger war damals L. Scipio, „der seinen Ruhm mit seinem Bruder teilte.“ Er erwarb sich als Auszeichnung einen Namen, wie jener sich durch die Niederwerfung Afrikas den Beinamen ‚Africanus‘ erworben hat. Africanus hatte mit dem Senat verhandelt, daß er als Legat mit seinem Bruder in den Krieg ziehen würde. Daß der Senat dies zuließ, ist Beweis für die Schwere des Krieges. „Africanus selbst hatte ja kurz zuvor Hannibal aus Italien vertrieben und aus Afrika verjagt, Karthago niedergeworfen und so den Staat aus höchster Not befreit.“ Arch. 22: Africanus verehrte Ennius, dessen Bildnis auf dem Grab der Scipionen stand. Sest. 143: „Wir wollen großen Männern nacheifern“. Es folgt eine exempla-Reihe, in der die Pluralnennung Scipiones vorkommt. Har. Resp. 24: Anläßlich der Spiele für die Große Mutter hat Scipio Africanus in seinem zweiten Consulat den Senatoren erstmals besondere Plätze zugewiesen. Die zu Ehren der Magna Mater gefeierten Spiele wurden dadurch besudelt, daß Clodius Sklaven als Zuschauer hinführte. Prov. 18: Tiberius Sempronius Gracchus war ein erbitterter Gegner von P. und auch L. Cornelius Scipio. Als L. Scipio aber ins Gefängnis abgeführt werden sollte, interzedierte Sempronius: Es sei unerträglich, den Scipio dorthin zu bringen, wohin man die Feinde des römischen Volkes eingesperrt hatte, die Scipio im Triumph nach Rom gebracht hatte. Balb. 40: Die Erwähnung ist indirekt, da es sich um eine Pluralnennung in einer exemplaReihe handelt. Cicero stellt es so dar, daß die Abgeordneten aus Gades dieselben exempla benutzten. „Testantur et mortuos nostros imperatores, quorum vivit immortalis memoria et gloria, Scipiones, Brutos, Horatios, Cassios, Metellos, et hunc praesentem Cn. Pompeium ...“. Pis. 14: Clodius wird ironisch als maßgebliche Persönlichkeit („gravis auctor“) bezeichnet und u.a. als „einer wie ein Scipio“ (Pluralnennung) bezeichnet. Pis. 58: Cicero stellt ironisierend den Wunsch, einen Triumph feiern zu wollen, in Frage. Alle Triumphatoren, Pluralnennung u.a. Scipiones, waren dann wohl nicht recht bei Trost!? Ironische Absetzung zu Piso, der ja tatsächlich keinen Triumphwunsch geäußert hat. Planc. 60: Cicero fragt, mit wem man sich vergleichen könne; er nennt in einer exemplaReihe u.a. Scipio Africanus. „Und doch haben wir genau dieselben Ämterstufen erreicht wie sie.“ Aber der Vergleich mit der Ämterstufe ist höchstens zweit-, eher drittrangig. Phil. 5,48: Wer brachte es jung ins Consulat? In älterer Zeit Rullus, Decius. Corvinus; in jüngerer Zeit Africanus der Ältere und Titus Flamininus. Ihre Leistungen waren so bedeutend, daß sie das Reich des römischen Volkes vergrößert und sein Ansehen gesteigert haben. Es geht im Vergleich um die Sonderrechte für Octavian. Phil. 6,10: über den Bruder des Antonius: Denn dieser ist bei ihnen (sc. den Soldaten des Antonius) der ,Africanus‘. Cicero denkt wohl an den älteren Africanus, der im Kriege gegen Antiochus seinem Bruder L. Scipio als Legat zur Seite stand. Phil. 11,17: Wer soll mit einem Sonderkommando ausgestattet werden und Krieg gegen Dolabella führen? Cicero argumentiert gegen ein imperium extraordinarium und führt als erstes Beispiel den Krieg gegen Antiochos an: L. Scipio hatte die Provinz Asia erhalten, man sprach ihm jedoch animus und robur ab und wollte C. Laelius, dem Vater des bekannten Sapiens, die Aufgabe übertragen. P. Africanus, der Bruder, will die Schande von der Familie abwenden und setzt sich für Lucius ein und will sein Legat sein, trotz seines Alters und seiner Verdienste. Phil. 13,9: Die Taten des M. Lepidus sind aller Ehrungen würdig. Wegen seiner Kriegstaten durfte man ihm nicht zuerkennen, „was weder L. Aemilius noch der ältere Africanus noch Marius noch Pompeius (die allesamt größere Kriege führen mußten) erhalten hatten. Doch weil er in der Stille einen Bürgerkrieg beendete, deshalb habt ihr ihn, sobald es möglich war, mit den größten Ehren überhäuft. Lepidus wurde mit einer goldenen Statue geehrt.“
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Scipios große Tat, Hannibal besiegt und Rom vom stärksten und gefährlichsten Feind befreit zu haben, tritt als exemplum nicht in den Vordergrund, gerade zweimal wird es konkret erwähnt.150 Ansonsten berichtet Cicero manches Detail, was dann aber auch nur jeweils einmal vorkommt: Scipios Gesetze in Sizilien, seine Maßnahme im zweiten Consulat, den Senatoren Sitzplätze im Theater zu reservieren. Die Kommandovergabe an den jungen Scipio, für den die üblichen Regeln suspendiert wurden, kommt im Vergleich zu Pompeius151 wie auch später mit Blick auf die Ehrungen für Octavian vor.152 Daß Scipio sich selbst als Legat seines Bruders zur Verfügung stellte, damit dieser das Kommando gegen Antiochos nicht verlor, wurde von Cicero sogar noch öfters herangezogen. Es ging jeweils um verschiedene Vergleichspunkte: die Größe der Kriege im Osten,153 den Vergleich des Antoniusbrüderpaares mit dem Scipionenbrüderpaar,154 schließlich die Frage eines mit einem imperium extraordinarium betrauten Feldherrn gegen Dolabella. Das exemplum Scipio Africanus maior umfaßt also mehrere Aspekte. Daß diese jeweils nur vereinzelt auftreten, bedeutet aber nicht, daß selten Erwähntes Spezialwissen war. Die gerade vorgestellten Kenntnisse über Scipio hafteten an der Person, besser gesagt: am Namen. Es genügte wohl, durch die Nennung des Namens im kulturellen Gedächtnis eingelagerte Konnotationen hervorzurufen. Dabei dürfte der Schwerpunkt in Scipios allgemeiner Bedeutung liegen: Er verkörperte römische Tüchtigkeit, und durch ihn wurden Ruhm und Größe des Reiches gemehrt. Von diesem Grundverständnis des exemplum ausgehend konnte Cicero mal dieses oder jenes als inhaltlichen Schwerpunkt für seine Argumentationsstrategie anführen, den er dann aber wenn auch kurz, so doch konkret benennt. In den meisten Fällen genügte die einfache Nennung des Namens. Denn am häufigsten erscheint Scipio als exemplum virtutis in exempla-Reihen mit ihren typischen kollektiven Pluralnennungen.155 Diese exempla-Reihen erhalten durch ihre und in ihrer Verargumentierung im einzelnen eine jeweilige Tendenz und Funktion: Um Pisos Ablehnung eines Triumphs anzugreifen, führt Cicero die großen Triumphatoren der Republik an, unter ihnen auch die „Scipiones“. Sie alle seien wohl als töricht anzusehen, einen Triumph in Rom gefeiert zu haben! Pisos Verhalten soll als unrömisch dargestellt werden. Er verstößt gegen das aristokratische Ethos und brüskiert mit seiner Haltung die römischen Vorbilder. An anderer Stelle verortet sich Cicero mit Hilfe solcher exempla-Reihen selbst in der römischen Geschichte. Die chronologische Abfolge weiter entfernter exempla über jüngere bis hin zu exempla seiner eigenen Lebenszeit ermöglicht es 150 151 152 153 154 155
Catil. 4,21; Mur. 31. Manil. 47. Phil. 5,48. Mur. 31. Phil. 6,10. Verr. 2,5,25; Manil. 47; Pis. 14; 58; Balb. 40; Planc. 60.
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ihm, seine Verdienste als Schlußglied dieser ‚Ruhmespompa‘ anzuhängen156 – ganz ähnlich reiht sich der jüngst Verstorbene in der pompa funebris der Ahnenreihe seiner Familie an. Denn die nobilitäre Leichenprozession „... hob das Exemplarische hervor, bettete es aber zugleich in das Bild einer langen und als ununterbrochen vorgestellten Kontinuität präsenter vergangener Erfolge ein, die dem künftigen Handeln der aktuellen Akteure erst die in sich ruhende Sicherheit zu verleihen mochten.“157 Diese Einbettung geschah szenisch durch den Zug, an dessen Ende sich das jüngste exemplum anschloß. Diese rhetorische Strategie Ciceros kann man gut mit den Beobachtungen vergleichen, die zur Rhetorik ad Herennium gemacht werden konnten.158 Der Auctor hatte seinem Schüler empfohlen, eigene exempla den „fremden“ (aliena) vorzuziehen. Am Beispiel der exempla-Reihe von Volkstribunen konnte man die Bildung neuer exempla beobachten. Cicero präsentiert sich hier in ganz ähnlicher Weise als exemplum recens, indem er die Kette vorbildlicher Helden um seine eigene Person erweitert. Hannibal Haben die Römer den Sieg über den gefährlichsten Feind, der vor ihren Toren stand, in besonderer Weise als exemplum erinnert? Wie wurde ein fremdes, das heißt nicht römisches, exemplum in den politischen Diskurs eingebaut? Zunächst folgt eine Übersicht über die Belege: Verr. 2,5,31: Verres wird mit Hannibal verglichen: „Unser Hannibal aber glaubte …“. Leg. agr. 1,20: Darlegung, was man bei der Einrichtung einer Kolonie beachten muß – die Vergnügungssucht (luxuries)? Capua hat selbst einen Hannibal verdorben. [Anspielung auf das Winterquartier 216/215 v. Chr.] Leg. agr. 2,95: Hannibal vor Capua: Capua ist ein Ort der Verweichlichung und der Grund für die Niederlage des Karthagers: „… sodann die Vergnügungssucht, die mit ihren Lockungen selbst einen Hannibal, den im Felde doch stets Unbezwingbaren, bezwungen hat.“ Mur. 31: „Africanus selbst hatte ja kurz zuvor Hannibal aus Italien vertrieben und aus Afrika verjagt, Karthago niedergeworfen und so den Staat aus höchster Not befreit.“ Sest. 142: Hannibal war umsichtig, tapfer und klug. Er hat viele Jahre lang mit römischen Feldherren um die Vorherrschaft und um Ruhm gekämpft. Har. resp. 27: In Rom wurden neue Kulte eingeführt, als „Italien vom punischen Kriege erschöpft und von Hannibal verwüstet war“.
156 Catil. 4,21: „Erit profecto inter horum laudes aliquid loci nostrae gloriae, nisi forte maius est patefacere nobis provincias quo exire possimus quam curare ut etiam illi qui absunt habeant quo victores revertantur.“ Siehe auch Rab. perd. 29f.: „Non est ita, Quirites; neque quisquam nostrum in rei publicae periculis cum laude ac virtute versatur quin spe posteritatis fructuque ducatur.“ Vgl. auch STINGER 1993, 299; zur cupiditas gloriae RECH 1936, 32; KROLL 1933, 45f.; HARRIS 1979/1991, 9ff.; DAHLHEIM 1995, 362 („Im Zentrum des Denkens der römischen Aristokratie steht das unaufhörliche Bemühen um Ruhm und Ehre.“). 157 WALTER 2003, 265. 158 Vgl. oben S. 51ff.
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Prov. 4: Gabinius und Piso hätten der Stadt Unglück gebracht: „Es war derart, daß nicht einmal Hannibal unserer Stadt je so viel Unglück gewünscht hat, wie sie ihr bereitet haben.“ Phil. 1,11: Cicero war am gestrigen Tag dem Senat ferngeblieben, was ihm heftige Vorwürfe von Antonius eingebracht hatte. Cicero relativiert den gestrigen Tagesordnungspunkt: Stand etwa Hannibal vor den Toren? / Ging es um den Frieden mit Pyrrhos? Phil. 5,25,27: (25) Antonius verhält sich schlimmer und schändlicher als Hannibal. / (27) Man muß sich den Unterschied klar machen: Jetzt geht es um die Gesandtschaft zu einem Mitbürger, damals schickte der Senat die Unterhändler P. Valerius Flaccus und Q. Baebius Tamphilus zu Hannibal nach Sagunt mit dem Auftrag, gegebenenfalls nach Karthago zu gehen, sollte Hannibal sich nicht fügen. Cicero fragt selbst: „Was ist da vergleichbar?“ Calenus hatte dieses exemplum vermutlich angeführt. Phil. 6, 4,6: (4) Die Unterhändler würden zu Antonius gesandt, als gingen sie zu Hannibal. / (6) Antonius hat es dazu kommen lassen, daß er einen Befehl erhalte wie einst Hannibal zu Beginn des zweiten punischen Krieges, er solle die Belagerung Sagunts aufgeben. Phil. 13,25: Antonius ist ein „novus Hannibal “. Phil. 14,9: „In welcher eroberten Stadt hat Hannibal sich so aufgeführt wie Antonius im heimlich besetzten Parma?“
Die Befreiung aus höchster, ja existentieller Not spielt in der Verwendung des exemplum Hannibal keine vordringliche Bedeutung.159 Um allerdings die Gegner einer aktuellen innenpolitischen Situation angreifen zu können, wird das exemplum Hannibal öfters angewandt: entweder in der direkten Benennung des Antonius als „novus Hannibal“160 oder – im selben historischen Umfeld – bei der Bewertung der Gesandtschaft zu Antonius, deren Parallele, die Gesandtschaft zu Hannibal nach Sagunt, Cicero gar nicht gelten lassen möchte, da man sich hier letzten Endes mit einem Mitbürger auseinandersetze. Antonius in Parma sei sogar schlimmer, als Hannibal jemals an einem Ort war. Bei der Invektive gegen persönliche Feinde Ciceros, konkret die beiden Consuln des Jahres 58 v. Chr. Gabinius und Piso, bedient sich Cicero ebenfalls des Vergleichs mit Hannibal, der der Stadt nicht einmal so viel Unglück gewünscht habe, wie die beiden Consuln es ihr gebracht hätten.161 Capua spielte während des zweiten punischen Krieges wegen seiner Untreue eine große Rolle. Im Zusammenhang mit Hannibal betont Cicero den schlechten Einfluß, den Capua auf jeden ausüben könne: Sogar Hannibal sei dort verdorben worden.162 Im Umkehrschluß wird damit seine grundsätzliche Stärke vorausgesetzt, mit der er über Rom hätte siegen können, wenn nicht Capua gewesen wäre. Um so mehr müsse man bei den Maßnahmen des rullischen Ackergesetzes auf die Punkte achten, die Capua beträfen, und diese komplett ablehnen. Das Hannibal-exemplum wird von Cicero politisch instrumentalisiert und zur persönlichen Invektive benutzt. Historische Kontexte werden praktisch nicht geboten, der Name ‚Hannibal‘ sagt genug aus: Er beinhaltet höchste Gefährdung und größtes militärisches Potential. Daß die Römer ihn schließlich besiegen und sich ihres 159 160 161 162
Nur Mur. 31, mit distanzierter Ironie Phil. 1,1. Phil. 13,25, weiterhin 14,9. Prov. 4. Leg agr. 1,20; 2,95.
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schwersten Feindes entledigen konnten, gehört wohl zum konnotativen Bestand des exemplum und braucht daher auch gar nicht erwähnt zu werden. Cicero möchte, wenn er dieses exemplum anbringt, seine Feinde charakterisieren und seinen Zuhörern eine Gefährdung vor Augen führen. Auf diesem Ausschnitt des exemplum beruht vor allem seine Verwendung. Fabius Maximus – „unus homo nobis cunctando restituit rem“ Ennius’ berühmter Vers163 war mit Sicherheit allgemein bekannt, waren doch seine Annales vor Vergils Aeneis Hauptlektüre beim grammaticus. Der Cunctator, der Rom nach den verheerenden Niederlagen Zeit zum Durchatmen und zur Erholung erwirken konnte, hatte in jedem Fall erinnerungswürdige Verdienste um seine Stadt vorzuweisen. Gleichwohl war er dezidiert kein ‚Mann der Tat‘, was ihm von seinen Zeitgenossen heftig vorgehalten wurde, wie die Schilderung des Livius (Buch 22) verdeutlicht. Zunächst folgt wieder eine Übersicht über die Belege: Verr. 2,5,25: Cicero erwähnt die sapientia des Maximus. Er ist Teil einer exempla-Reihe, in der den einzelnen Feldherrnhelden Roms jeweils eine der Kardinaltugenden zugeordnet wird, um danach Verres’ Charakter als Feldherr dagegen negativ abzusetzen. So ist Scipio Africanus für seine zupackende schnelle Kriegsführung („in re gerunda celeritas“) lobenswert, Aemilius Paullus für seine Strategie und Disziplin („ratio et disciplina“), Marius steht für Kraft und Tüchtigkeit (vis, virtus). Manil. 47: Fabius und andere große Feldherren der Republik (exempla-Reihe) wurden nicht nur wegen ihrer virtus, sondern auch wegen ihrer fortuna immer wieder mit Imperien betraut. Arch. 22: Cicero spricht über Ennius, der den Urgroßvater des anwesenden Cato in den Himmel gehoben habe. „Wenn Ennius außerdem Männer wie Maximus, Marcellus und Fulvius verherrlicht, dann wird dadurch uns allen gemeinsam beträchtliches Lob zuteil.“ Es liegt eine exempla-Reihe mit Pluralnennungen vor. Vatin. 28: Cicero lobt Q. Maximus, den Ankläger des Antonius (cos. 63): „Er tat nichts, was seiner eigenen Rechtlichkeit oder dem glanzvollen Namen seiner Vorfahren, eines Paullus, Maximus und Africanus, unwürdig gewesen wäre – seine Tüchtigkeit hat ja den Ruhm dieser Männer, wie wir nicht nur hoffen, sondern schon deutlich wahrnehmen, erneuert.“ Es liegt eine exempla-Reihe mit Pluralnennungen vor. Pis. 14/58: (14) Clodius hatte Piso vor eine contio geladen und ihn gefragt, was er von Ciceros Consulat halte. Seine Antwort lautete, Grausamkeit mißfalle ihm. Cicero bezweifelt, daß Piso ein „gravis auctor “ sei; ein Calatinus oder Africanus oder Maximus sei ein gewichtiger Zeuge, nicht aber ein Caesoninus Calventius, der Halbplacentier („Semiplancetinus“). Die Cognomina dieser dreigliederigen exemplum-Reihe sind im Singular aufgeführt. / (58) Piso hält es nach Cicero für einen törichten Wunsch, einen Triumph feiern zu wollen. Cicero führt Pluralnennungen an, u.a. Maximi, sie alle seien in Pisos Augen wohl nicht ganz bei Trost gewesen, Triumphe gefeiert zu haben – ironische Absetzung zu Piso, der ja tatsächlich den Triumphwunsch nicht geäußert hat. („O stultos Camillos, Curios, Fabricios, Calatinos, Scipiones, Marcellos, Maximos!“) Planc. 60: Man erreicht zwar dieselben Ämter, aber deswegen sei man nicht automatisch mit den Großen der römischen Geschichte, u.a. Fabius Maximus, auf Augenhöhe. [exemplumReihe, Cicero nennt nur das Cognomen, dieses Mal im Singular]. 163 Ennius ann. frg. 12,363 SKUTSCH.
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Interessanterweise findet der berühmte Ennius-Vers in der konkreten Verwendung des Fabius Maximus als exemplum keinen Widerhall. Fabius ist einfach einer der großen Feldherren Roms, der in der Regel in eine exempla-Reihe eingebaut wird, deren einzelne Glieder für militärischen Ruhm, römische Tüchtigkeit und somit höchste auctoritas stehen. Aber weder wird die konkrete Strategie des ‚Zauderns‘ erwähnt, noch gibt es den konkreten Hinweis auf den Feind Hannibal. Dies ist um so bemerkenswerter, da ja die Heldengalerie des Augustusforums die Ennius-,Schlagzeile‘ genau aufgreift und das Elogium an erster Stelle das Amt der Dictatur nennt, während derer Fabius die Ermattungsstrategie verfolgt hatte.164 Untersucht man im Hinblick darauf die Rezeptionsgeschichte des berühmten, ja geradezu exemplum-Charakter tragenden Cognomens „Cunctator“, stellt man fest, daß es erst in augusteischer Zeit entstand.165 Dennoch bleibt die relative Unbekanntheit des bei Ennius so gerühmten Cunctators einerseits verwunderlich, andererseits scheint sie aber auch nachvollziehbar, wenn man die öffentliche Erinnerungspflege der Fabii Maximi selbst in den Blick nimmt. Die Fabii Maximi errichteten nämlich am Forum Romanum neben der regia einen fornix. Dessen Ausgestaltung ist nicht genau bekannt, es ist aber wohl davon auszugehen, daß an den Cunctator nicht erinnert wurde. Der fornix Fabianus entstand in der Folge des Triumphes von Q. Fabius Maximus im Jahre 120 v. Chr. Er hatte die Allobroger besiegt und einen Triumph de Allobrogibus et rege Arvernorum Betuito gefeiert. Das Monument wurde mit der Statue des Triumphators geschmückt.166 Wann der Bau errichtet wurde und wann er mit welchem Schmuck gestaltet wurde, ist unbekannt. Aufgrund eines Neubaus durch einen Nachfahren im Jahr 45 v. Chr. und davon erhaltener Inschriften läßt sich eine ungefähre Rekonstruktion vermuten: Der Bogen war vermutlich mit drei Statuen geschmückt, deren tituli an die Verdienste der Dargestellten erinnerten. Erhalten sind die Inschriften für L. Aemilius Paullus, P. Cornelius Scipio Africanus minor und Q. Fabius Maximus, den Stifter selbst. Daß auch der Großvater des Neustifters, der Sieger über die Allobroger, geehrt und wurde, scheint wahrscheinlich zu sein. Eine weitere Inschrift weist auf den Aedil des Jahres 57 v. Chr. hin, der den Bogen ebenfalls erneuert hatte.
164 Fragment vom Forum Augusti InscrIt 13,3, Nr.14; siehe CIL I2 p. 193 Nr. 12; VI,8,3, Nr. 40953. Abschrift aus Arretium InscrIt 13,3, Nr.80; vgl. CIL I2 p. 193 Nr.13; ILS 56. 165 BECK 2005, 270: „Erst aus dieser Zeit stammt das Cognomen ‚Cunctator‘, durch das nicht nur Fabius’ cunctatio zur Namenschiffre für Prinzipientreue avancierte, sondern auch sein eigentliches ‚Verrocos(s)us‘ weitgehend aus der Überlieferung verdrängt wurde.“ 166 Pseud.Asc. in Cic. Verr. 1,19 (= STANGL S.211): „Fornix Fabianus est arcus iuxta regiam in sacra via a Fabio censore constructus, qui devictis Allobrogibus [Allobrogicus] nominatus est, ibique statua eius posita propterea est.“ Vgl. ITGENSHORST 2005, 130ff.; L. CHIOFFI, LTUR 2, 1995, 264–266 s.v. Fornix Fabianus. Die tituli InscrIt 13,3, Nr. 71 = CIL I2, p. 198 = CIL IV 8,3,1304, ILLRP 392a–c.; Rekonstruktion des Bogens bei KÜNZL 1988, 49 Abb. 24; s. WALTER 2004, 118.
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Die öffentlich erinnerten Helden der Fabii gehen also bis zum Jahr 168 v. Chr. zurück, wenn der Sieg über Perseus und der Triumph des Paullus im Jahre 167 v. Chr. als zeitliche Grenze angenommen wird. Die Erinnerung der Familie bleibt – was ihre öffentliche Präsentation angeht – nahe an der eigenen Zeit; vor die Augen des populus Romanus stellten die Fabier Männer, an die sich ihre Zeitgenossen noch erinnern konnten. Daß die Familie eine viel ältere, vom ‚Triumphrang‘ her ebenbürtige Tradition aufzuweisen hatte, ist bei diesem Fornix offensichtlich ausgeblendet worden. Somit würde auch unter diesem Punkt die Eminenz und Prominenz der eigenen, konkret erfahrenen Vergangenheit den Primat vor einer auch noch so hehren Vergangenheit einnehmen, die erst im kulturellen Gedächtnis der (nach)augusteischen Zeit kanonische und steinerne Form angenommen hat. Aber diese kanonische Form ist – zumindest in der öffentlichen Präsentation der Erinnerung an den Cunctator – eine spätere und gestiftete Prominenz.
EXKURS UND ABGRENZUNG: CICEROS SCHRIFT CATO MAIOR DE SENECTUTE – DIE EXEMPLA-GENERATIONEN CATOS Die im Frühjahr 44 v. Chr. vollendete Schrift Cato maior de senectute hatte Cicero seinem besten Freund Titus Pomponius Atticus gewidmet. Cato gibt in ihr am Ende seines langen Lebens seinen jungen Zuhörern Zeugnis über die Vorteile des Alters und entkräftet vier Hauptvorwürfe, die man gegen das Alter normalerweise erhebe: (1) die Schwächung der Tatkraft und der geistigen Leistungsfähigkeit, (2) die Entkräftung des Leibes, (3) den Verlust der voluptates, (4) die Nähe des Todes.167 Cato wird als sehr belesen, griechisch gelehrt und literarisch tätig dargestellt. Trotz zahlreicher Zitate aus Platon und Xenophon, und obwohl Cato auch viel griechisches Gedankengut in den Mund gelegt wird, ist die Schrift „durch und durch römisch“.168 Die Betonung des Vorrechts des Alters verleiht ihr im besonderen Maße diesen Charakter. Es ist die Aufgabe und die Pflicht des Alters, die Jugend zu lehren. Der Preis der auctoritas gipfelt in der Aussage, sie sei die „Krone“ des Alters.169 Als Beispiele fügt Cato direkt L. Caecilius Metellus und A. Atilius Calatinus an, beide exempla seines kommunikativen Gedächtnisses.170 Diese größten Vorzüge des Alters veranlaßten Cicero zur Abfassung der Schrift, mit der er sich in der politischen wie persönlichen Krise – seine Tochter Tullia war verstorben – trösten wollte: Seine politische Kaltstellung bedeutete in den Augen des Consulars zudem eine Mißachtung seiner auctoritas.
167 168 169 170
Vgl. SÜSS, 1965, 136. SÜSS 1965, 137. Cic. sen. 60: „Apex est autem senectutis auctoritas.“ Hauptdaten: Lucius Caecilius Metellus cos. I 251; mag. eq. 249; cos II 247, dict. 224; Aulus Atilius Calatinus cos. I 258 II 254; dict. 249, cens. 247.
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ERSTER UND ZWEITER PUNISCHER KRIEG
Die Schrift ist reich an historischen Beispielen.171 Da der alte Cato hier das Wort führt, der aus Ciceros Perspektive am Beginn des Zeitraums seines kommunikativen Gedächtnisses steht, soll im folgenden betrachtet werden, auf welchen Zeitraum sich die Beispiele in dieser Schrift verteilen und ob die Trennung von kommunikativem und kulturellem Gedächtnis von Cicero berücksichtigt bzw. nachkonstruiert wird. Die Person Catos, dessen Leben sich über eine so lange Phase der römischen Geschichte erstreckte, bietet damit zugleich einen Blick auf die (in der Kapitelüberschrift gestellte) Frage nach der Erinnerung an den zweiten punischen Krieg. Tabellarische Übersicht über die Verweise Zeitl. Einordnung
§
Nennung / Erwähnung
cos. 219
7
C. Salinator
cos. 186
7
Spurius Albinus
233–214, cos. IV 214, cos. V 209
10 – 13
Maximus
dict. 217
15
Q. Maximus
cos. 168
15
L. Aemilius
cos. I 282 cos. II 278 cos. 275 cos 280
15
Fabricii
15 15
Curii Coruncanii
cens. 312
16
Appius Claudius
203
19
„avus Scipionis“
Gegenstand / Inhalt des Beispiels / Datierung Klage über das Alter und darüber , daß ihn keiner mehr achte (eigene Erinnerung Catos an den Consular Salinator). Klage über das Alter und darüber , daß ihn keiner mehr achte (eigene Erinnerung Catos an den Consular Postumius). Maximus habe Tarent zurückerobert. Hier fällt die Datierung auf: Es sei in Catos Jugend geschehen, Fabius war ein Jahr nach meiner [= Catos] Geburt erstmalig Consul, Fabius war zum vierten Mal Consul, als ich (sc. Cato) junger Soldat war, d.h. Cato berichtet als Augenzeuge, diente unter Fabius, zog mit ihm nach Capua, fünf Jahre später dann gegen Tarent. Maximus sprach als hochbetagter Mann für das cincische Gesetz, Cato war damals Quaestor unter den Consuln Tuditanus und Cethegus. „Hannibalem iuveniliter exsultantem patientia molliebat“: Maximus war in den Kriegen trotz seines hohen Alters tüchtig. exemplum eines alten Mannes, der mit der Kraft des Geistes tätig ist; starb hochbetagt [203] „ceteri senes“ jeweils exemplum eines alten Mannes, der mit der Kraft des Geistes tätig ist
Keine Andeutung über Alter der exempla
im hohen Alter erblindet, gegen Frieden mit Pyrrhos, sprach noch hochbetagt, Rede erhalten, „ihr kennt ja die Ennius-Verse“, Quelle: Erzählungen der Väter Zama-Sieger ist seit 33 Jahren tot; möge sein Enkel (Gesprächsteilnehmer) der Vollender werden (gemeint ist die Zerstörung Karthagos)
171 SÜSS 1965, 137: „... an die hier freilich besonders zahlreichen Beispiele aus der römischen Geschichte ...“.
224
VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Zeitl. Einordnung
cos. 198
§
Nennung / Erwähnung
19
maiores
27
Sextus Aelius
Gegenstand / Inhalt des Beispiels / Datierung Senat als Rat der „Alten“ von den maiores benannt. Weisheit und Einsicht der Vorfahren bis zum letzten Atemzug tätiger Rechtsgelehrter
bis zum letzten Atemzug tätiger Rechtsgelehrter, lebte Ti. Coruncianus viele Jahr vor Aelius anders als Molon tätiger Rechtsgelehrter bis zum letzP. Crassus ten Atemzug, er lebte noch vor kurzem
cos. 280
27
cos. 205
27
cos 251 II 247, seit 243 pont max., starb 221
30
L. Metellus
Cato selbst habe Erinnerungen an ihn, Metellus war sehr rüstig, sehnte sich nach Jugend zurück. Cato erinnert sich aus seiner Kinderzeit an ihn.
190
35
„P. Africanis filius“
Was wäre aus dem kränklichen vom maior-Sohn Adoptierten geworden, wenn er normale Kräfte besessen hätte? (nur ein ‚potentielles‘ exemplum)
cens. 312
37
Appius
349
41
cens. 184
42
3. Jh.
43
cos. 260
44
quaest. 204
45
cos. 166 um 200 um 230
49 50 50
um 240
50
cos. 205
50
Er hielt seinen Geist stets angespannt.
Als er in Tarent war, sprach zu ihm Archytas. Pontius war ein Samnite und der Vater des Siegers über die Consuln Spurius Postumius und Titus Veturius bei C. Pontius Caudium, Platon soll auch dabei gewesen, nach meinen [Catos] Berechnungen war Platon dort im Consulatsjahr des Lucius Camillus und des Appius Claudius. Cato warf als Censor den Lucius Flamininus aus dem Cato als Senat, sieben Jahre nach dem Consulat des Lucius; Censor Flaccus war der College des Cato. Fabricius befand sich als Gesandter bei Pyrrhos. Er hörte das ‚Lustlehrereferat‘ des Thessaliers Cineas; davon wiederum erzählte Fabricius; Manius Curius und C. Fabricius, Coruncanius sagten hierzu: „Diese Lustlehren sollte M’. Curius, man besser dem Pyrrhos beibringen, dann ist er leichter Ti. Coruncanius zu besiegen.“ / Manius Curius lebte zur Zeit des PubliP. Decius us Decius. Vor dem Consulat des Manius hatte sich Decius (cos. IV) für sein Vaterland geopfert. Ihn hätten Fabricius und Coruncanius noch gekannt. Cato schildert seine Kindheitserinnerung an ihn: Er war Sohn des Marcus. Gaius habe als erster die Karthager C. Duilius in einer Seeschlacht besiegt. Ihm zur Ehre wurde er auf dem Heimweg von einem Flötenspieler und Fackelträger begleitet. Opferschmausbruderschaften geschaffen, Magna Mater Quaestur Catos kam nach Rom. C. Galus exemplarischer Arbeitseifer Naevius exemplarischer Arbeitseifer Plautus exemplarischer Arbeitseifer, Stück: „Grobian“ Freude am Arbeiten, hatte „sechs Jahre vor meiner Geburt, unter den Consuln Cento und Tuditanus, ein Livius Drama ausgeführt“, „kannte ich [Cato] noch, lebte bis in meine Jugendzeit“. P. Licinius exemplarischer Arbeitseifer, Fachgebiet: priesterliches Crassus und bürgerliches Recht
ERSTER UND ZWEITER PUNISCHER KRIEG Zeitl. Einordnung
§
204
50
Nennung / Erwähnung Marcus Cethegus
cos. 275
55
M’. Curius
dict. 458
56
L. Quinctius Cincinnatus
450
57
damalige Alte
cos. I 348 VI 299
60
M. Valerius Corvinus
61 cos. 258
61
cos. 205 cos. II 175 cos. II 168
61 61 61
procos. 203
61
cos. 216
61 63
cos. 509
75
cos. 340/295
75
cos. II 256
75
procos. 206
75
cos. 216
75
L. Caecilius Metellus A. Atilius Calatinus P. Crassus M. Lepidus Paullus
225
Gegenstand / Inhalt des Beispiels / Datierung exemplarischer Arbeitseifer, „studium in dicendo“ Cato erinnert an den frugalen Lebensabend des dreifachen Triumphators (über die Samniten, Sabiner, Pyrrhos). Cato würdigt „continentia ipsius, temporum disciplina“. Die Samniten hätten ihm Gold gebracht, als er gerade am Herd saß, doch Curius war nicht käuflich: „Ich herrsche lieber über die, die Gold haben, als es selbst zu besitzen.“ „tum“ – „früher“ [unbestimmte Ferne der Vergangenheit] wurde er vom Pflug weg zum dictator bestimmt; „cuius dictatoris iussu“ überrumpelte Gaius Servilius Ahala den Tyrannis-Aspiranten Spurius Maelius Sie verbrachten ihre Zeit beim Landbau mit seinen schönen und reizvollen Seiten. Er frönte seiner Landbauleidenschaft bis zum hundertsten Lebensjahr, er war sechsmal Consul, der Zeitraum zwischen erstem und sechstem Consulat betrug 46 Jahre. Cato spricht etwas reserviert von „accepimus“. Seine Karriere dauerte so lange, wie bei unseren Vorfahren ein ganzes Leben bis zum Beginn des Greisenalters dauerte. Beispiel für auctoritas Beispiel für auctoritas
Beispiel für auctoritas, nuper Beispiel für auctoritas, nuper Beispiel für auctoritas, nuper Beispiel für auctoritas, nuper. Meint er den Jüngeren [so versteht es die Tusc.-Ausgabe]? Dieser hatte aber Africanus im Jahre 150 v. Chr. noch nichts Herausragendes vollbracht, es könnten aber aus der Sicht Ciceros auch beide gemeint sein. Maximus Beispiel für auctoritas Lakedaimonier Ehrfurcht vor dem Alter Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod: Er L. Brutus starb im Kampf um die Freiheit des Vaterlandes. Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod: „duo Decii“ Selbstopferung für die res publica, „gab die Sporen in den Tod“. Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod: Er M. Atilius reiste zur Hinrichtung ab, weil er bei den Karthagern im Wort stand. Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod: Sie „duo Scipiones“ versperrten den Puniern mit ihren Leibern den Weg. Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod:„Dein Großvater, der die blinde Verwegenheit seines AmtsL. Paullus genossen bei der Schmach von Cannae mit seinem Leben büßte“
226
VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Zeitl. Einordnung
§
Nennung / Erwähnung Marcus Marcellus
cos. V 208
75
cos. II 168
82
Paullus
cos. 216/203
82
Paullus und Africanus
Gegenstand / Inhalt des Beispiels / Datierung Exemplum für Unerschrockenheit vor dem Tod: „Der roheste Feind versagte ihm nicht die Bestattung“. Großes exemplum der Vatergeneration (von Catos Dialogpartnern): Sie gingen im Leben große Risiken ein und nahmen Mühen auf sich, weil es in ihren Augen eine Verbindung zur Nachwelt gibt, die sich an die großen Taten erinnern wird. Exempla der Großvatergeneration (von Catos Dialogpartnern): Sie gingen im Leben große Risiken ein und nahmen Mühen auf sich, weil es in ihren Augen eine Verbindung zur Nachwelt gibt, die sich an die großen Taten erinnern wird.
Nicht ganz so stringent, wie es in den Reden Ciceros nachvollziehbar ist, aber dennoch durchaus in dieselbe Richtung gehend differenziert Cicero aus der Perspektive Catos und seiner Gesprächspartner nahe und ferne Vergangenheit. Zahlenmäßig sind die beiden Bereiche relativ ausgeglichen. Einige wenige alte Beispiele der römischen Frühgeschichte des fünften und vierten Jahrhunderts kommen auch vor: L. Brutus, Lucius Quinctius Cincinnatus, Marcus Valerius Corvinus, die Decii sowie Appius Claudius Caecus. Die Charakteristika ‚frugalitas‘ und ‚parsimonia‘ der älteren Beispiele – nicht immer sagt Cato expressis verbis, daß es sich um alte Beispiele handelt – lassen diese ältere Vergangenheit als integer und maßvoll erscheinen, was eindeutig positiv besetzt ist. Cato erwähnt weiterhin mehrfach einige ‚Helden‘ aus der ersten Hälfte des dritten Jahrhunderts v. Chr.: Gaius Fabricius, Manius Curius, Tiberius Coruncanius. Nur einmal kommt Gaius Duilius, öfter hingegen L. Caecilius Metellus vor, aber mit seiner Person erreicht man schon persönliche Erinnerungen Catos, der dann von Kindheitserinnerungen und eigener Erfahrung sprechen kann. Sein langer Lebenszeitraum deckt im Jahre 150 v. Chr. ziemlich präzise den drei Generationen umfassenden Erinnerungsraum des kommunikativen Gedächtnisses ab. Wenn er von neueren Beispielen spricht, legt Cicero Cato die Vokabel „nuper“ in den Mund, wie er es selbst ebenfalls in seinen Reden gebraucht, um die Zeitlinien bei exempla-Ketten zu markieren. Mit dem Hinweis „nuper“ führt Cato Beispiele der letzten zwanzig Jahre an, die dann auch mehrfach Erwähnung zu finden sind: Aemilius Lepidus, Aemilius Paullus, Cato selbst und natürlich den zum Zeitpunkt des Gesprächs glänzenden jüngeren Scipio. Die Kürze der Bezeichnungen, oft nur ein nomen gentile bzw. das Cognomen, erschwert die Identifikation. Auch den Zama-Sieger erwähnt Cato, obgleich er ihn ja im innenpolitischen Kampf – wie viele andere – verfolgt hatte. Cato nennt vor allem solche exempla, die in verwandtschaftlicher Verbindung zu seinen jungen Gesprächsteilnehmern stehen, die aber auch objektiv betrachtet die großen Taten seiner Generation vollbracht haben.
ERSTER UND ZWEITER PUNISCHER KRIEG
227
Manche exempla sind eher ungewöhnlich. Cicero legt Cato mehrere griechische Beispiele in den Mund, wie beispielsweise Solon, Peisistratos, Archytas, Pythagoras, Sokrates; weiterhin kommt der persische Kyros vor.172 Damit möchte er wohl den Bildungsfortschritt Catos unterstreichen. So doziert der Censorius ein wenig über die Unsterblichkeit der Seele und die im Phaidon beschriebenen Todesstunden des Sokrates. Als ein exemplum für sapientia erwähnt Cicero den Cato des öfteren in seinen eigenen Reden. Diese sapientia kann man natürlich auf den griechisch gelehrten alten Cato wie auch auf den vir bonus beziehen, der ein Buch über Landwirtschaft geschrieben hatte, damit eine römische Villa größtmöglichen Ertrag erbringe. Die exempla Graeca werden in dem Dialog De senectute vor allem auch für das vorliegende Thema des Alters und den philosophischen Umgang mit den Phänomenen ‚Alter‘ und ‚Tod‘ angeführt. Wirklich auffällig sind nun die aufwendigen genauen Datierungen, die vielfach geboten werden. Cato präsentiert Synchronismen und relative Datierungen, die in den Reden Ciceros praktisch nie vorkommen. Dabei unterläuft ihm nur eine größere Ungenauigkeit, wenn er die Cincinnatus- und die Maelius-Geschichte vermengt. Die beiden Ereignisse gehören nicht zusammen; wie der Autor sie aber darstellt, scheinen sie im gleichen Jahr geschehen zu sein.173 Für die Genauigkeit der Datierungen können zwei Gründe vorgebracht werden. Erstens bewegen sich Cicero selbst und sein zeitgenössischer Leser auf historisch eher unbekanntem Terrain, so daß das Bedürfnis entsteht, die historischen Beispiele präzise anzugeben, damit der Dialog einen in jeder Hinsicht korrekten Rahmen erhält. Und zum zweiten ist die Schrift mit Titus Pomponius Atticus jemandem gewidmet, der selbst ein Erforscher der Vergangenheit war und dem Cicero auf diese Weise eine Referenz erweisen konnte: Atticus’ Liber annalis könnte gut das chronologische Datengerüst gewesen sein, auf dessen Grundlage Cicero Catos Erinnerungen, sein kommunikatives und kulturelles Gedächtnis rekonstruierte.
172 Solon 50, 72; Kyros 30; Peisistratos 72; Archytas 39f.; Sophokles 22; Pythagoras 78; Sokrates: 26,59,78. 173 Cic. sen. 56.
6. REDEN VOR VOLK UND SENAT Ciceros Theorie Über den konzeptuellen Unterschied zwischen Volks- und Senatsreden war sich Cicero völlig im klaren.1 Die Volksrede ziele auf die „motus populi“, während man vor dem Senat auf dessen „gravitas“ Rücksicht nehmen müsse.2 Im Senat dürfe der Redner nicht sein ganzes Können zeigen, er brauche es auch gar nicht, da die Sache vor einer verständigen Versammlung verhandelt werde.3 Aber in der contio könne der Redner seiner Kunst freien Lauf lassen,4 die Volksrede rangiere vor der Senatsrede. Gerade in der Volksrede könne und müsse man das Vorbild der Vorfahren anbringen, „wenn man auf moralisches Verhalten dränge“.5 „Den größten Teil der Rede muß man ja darauf verwenden, die Herzen mitunter durch Ermahnung oder durch Erinnerung in Hoffnung oder Furcht, Verlangen oder Ehrgeiz zu versetzen, oft auch von Unbesonnenheit, Zorn, Hoffnung, Ungerechtigkeit, Gehässigkeit und Grausamkeit abzubringen.“6 Die Volksversammlung bilde „für den Redner die größte Bühne“.7 Ciceros Theorie ist also in der Hauptsache die Theorie der Volksrede.8 Im Vordergrund steht für ihn das Erregen psychologischer Affekte, um sein Redeziel durchzusetzen. Während seines Consulats hat sich Cicero zweimal zu einem Thema vor Senat und Volk von Rom geäußert, und zwar bei der Verhandlung des Ackergesetzes des Rullus9 gleich zu Beginn seines Amtsjahres und bei der Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung (Ende 63 v. Chr.). Im folgenden soll untersucht werden, ob sich Cicero bei seiner Argumentation mit Vergangenheitsbezügen und
1 2 3 4 5 6
7 8 9
Theoretische Grundlagen hierzu teilen die rhetorischen Schriften mit, vgl. de orat. 1,221; 2,333ff.; 3,211. Vgl. allgemein MACK 1937, 12ff.; HÖLKESKAMP 1995, 25ff. Cic. de orat. 2,337. Cic. de orat. 2, 333: „Atque haec in senatu minore apparatu agenda sunt; sapiens enim est consilium multisque aliis dicendi relinquendus locus, vitanda etiam ingeni ostentationis suspicio: contio capit omnem vim orationis et gravitatem varietatemque desiderat.“ Cic. de orat. 2, 334f. Cic. de orat. 2,335: „… qui ad dignitatem impellit, maiorum exempla, quae erant vel cum periculo gloriosa, conliget …“ (Übersetzung MERKLIN). Cic. de orat. 2,338: „Maximaque pars orationis admovenda est ad animorum motus non numquam aut cohortatione aut commemoratione aliqua aut in spem aut in metum aut ad cupiditatem aut ad gloriam concitandos, saepe etiam a temeritate, iracundia, spe, iniuria, invidia, crudelitate revocandos.“ (Oben gegebene Übersetzung nach MERKLIN) Cic. de orat. 2,338: „… maxima … oratoris scaena …“. MACK 1937, 16. Vgl. KENNEDY 1972, 173ff.
REDEN VOR VOLK UND SENAT
229
beim Gebrauch von exempla vor unterschiedlichem Publikum verschiedener Strategien bediente.10
CICERO GEGEN RULLUS Vor dem Senat Beide Reden gegen den Volkstribunen Rullus gruppieren die einzelnen Hauptthemen in ähnlicher Weise. Jedoch ist die zweite, vor dem Volk gehaltene Rede wesentlich ausführlicher.11 Auch wenn die erste Rede im Senat nicht vollständig überliefert ist, lassen die Proportionen des Erhaltenen diesen Schluß ohne weiteres zu. Parallel stehen sich vier Hauptgruppen gegenüber: 1. Zusammensetzung und Befugnis der Zehnmännerkommission (in der ersten Rede verloren, 2,16-35); 2. die Art der Geldbeschaffung (1,14f.; 2,35-62); 3. der geplante Ankauf von Grundstücken (1,16-22; 2,62-72) und 4. die Grundsätze bei der Einrichtung der Colonien (1,16-22; 2,73-97).12 Cicero hat als Consul am 1.1. 63 v. Chr. erstmalig den Senat einberufen und gibt einen Ausblick, wie er gegen die rogatio des Volkstribunen Rullus vorzugehen gedenke.13 Gleich zu Beginn seiner Ausführungen versucht Cicero, die Zuhörer mit einer exempla-Reihe gegen Rullus’ Pläne auf seine Seite zu bringen.14 Er spricht über das durch die Leistungen der Vorfahren in erfolgreichen Kämpfen aufgebaute Reich und zählt aus diesem Grunde folgende Namen auf: zuerst einen Verwandten des Rullus, P. Servilius Vatia (cos. 79), der im Senat anwesend gewesen sein dürfte. Cicero charakterisiert ihn als fortissimus vir, dessen Eroberungen für das römische Reich, Attaleia und Olympos, nach den Vorstellungen des Rullus verkauft werden sollen. Seine Nennung steht insofern an prominenter Stelle, als Cicero ihn zunächst als einzigen Zeitgenossen anführt und anschließend nur exempla aus der ersten Hälfte des zweiten Jahrhunderts v. Chr. vorträgt. Ohne die Verwandtschaft des Rullus’ mit P. Servilius Vatia explizit zu betonen, ist der Vorwurf der Illoyalität der eigenen Familie gegenüber sofort erkennbar. Im folgenden führt Cicero T. Flamininus, L. Paullus, L. Mummius und die beiden Scipionen an. Er gibt weitere Stichworte zu den einzelnen Namen, mit denen er sie kurz charakterisiert und ihre Errungenschaften aufzählt – vor allem territoriale Gewinne werden hier angesprochen. Es seien die Früchte ihrer „eximia 10 Vgl. allgemein VON ALBRECHT 1992, 428; 433f. 11 Vgl. auch MACK 1937, 22. 12 Siehe im folgenden FUHRMANN in seiner Einleitung zur Übersetzung der Rede. Vgl. generell auch STINGER 1993, 96ff.;156f. 13 Zum Inhalt der rogatio Servilia vgl. GELZER 1969, 71ff. 14 Cic. leg. agr. 1,5; aus dieser Passage auch die Zitate des folgenden Absatzes.
230
VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
virtus“, ihres „imperium“ und ihrer „felicitas“. Die Gebiete, die sie erobert haben, werden von Cicero ebenfalls durch Beschreibungen hervorgehoben: Es handle sich um „Schmuckstücke und Wahrzeichen des Reiches“: In Makedonien seien es die „ehemaligen Krongüter“, in Korinth habe man einen „ausgezeichneten und sehr fruchtbaren Landbesitz“, und das Gebiet Karthagos sei von P. Scipio den Göttern geweiht worden. Cicero argumentiert somit an dieser Stelle zugleich mit einem religiösen Verstoß des Rullus gegen Scipios Weihung. Der Consul nennt diese Namen im Zusammenhang einer ausführlichen Darlegung der Maßnahmen, die nach Rullus’ Antrag getroffen werden müßten. Der historische Hintergrund macht hier einiges deutlich: Die Senatssitzung fand an Ciceros erstem Amtstag, den Kalenden des Ianuar 63 v. Chr. statt. Da der Amtsantritt der Volkstribunen aber schon am 10. Dezember erfolgt war, hatte Rullus für seine rogatio bereits drei Wochen lang werben können, ohne daß Cicero in der Lage war, amtliche Gegenmaßnahmen ergreifen zu können. Er konnte sich lediglich Kopien des spät veröffentlichten Antrags herstellen lassen.15 Seine erste Aufgabe im Amt bestand nun darin, den übrigen Senatoren den Inhalt der über 40 Paragraphen umfassenden rogatio vorzustellen. Im Rahmen dieser Darlegungen führt Cicero die erwähnte exempla-Reihe an. Inhaltlich stellt sie eigentlich eine Digression dar. Cicero denkt sich in die Absichten der tüchtigen Männer hinein, die vor gut hundert Jahren ihre Erfolge feierten, und behauptet, daß sie die eroberten Länder schon selbst verkauft hätten, wenn sie dies hätten tun wollen. Das historische Argument hat mit der Sachfrage an sich nichts zu tun. Ciceros refutatio trifft nicht den sachlichen Kern, sondern beruft sich auf die Autorität der Vorfahren, deren militärische Erfolge durch keine Maßnahme geschmälert werden dürften. Die Nennung der Namen von großen Feldherren zielt auf die pietas erga maiores.16 Diese Reihe ehrwürdiger Feldherren beginnt mit P. Servilius Isauricus, also der Berufung auf ein junges Beispiel. Am Schluß führt Cicero wieder ein Beispiel der Gegenwart an, wenn er an die Erfolge der Vorfahren den aktuellen Siegeszug des Cn. Pompeius anschließt. Auch dessen Errungenschaften stünden auf der Verkaufsliste des Rullus.17 Damit hat Cicero wieder den Bogen zur politischen Gegenwart geschlagen. Er nimmt den Inhalt des Rullus-Antrags als Leitlinie seiner weiteren Ausführungen. Ciceros Strategie besteht vor allem darin, die Konsequenzen herauszuarbeiten, die
15 Cicero beklagt sich in seiner Rede vor dem Volk, daß Rullus die Veröffentlichung der rogatio absichtsvoll verzögert habe; leg. agr. 2,13f. 16 Vgl. KROLL 1933, 34. 17 Das Ackergesetz des Rullus war das erste seit dem Tribunat des M. Livius Drusus. Rullus wollte die noch verfügbaren Domänen in Italien für Ackerverteilungen nutzen. Die nötige Finanzierung sollte durch Verkauf von Staatsländereien in den Provinzen gesichert werden. Für diese Verkaufsaktionen sollte eine Zehnmännerkommission zuständig sein. Vgl. STEIN 1913, 1808.
REDEN VOR VOLK UND SENAT
231
dem Senat durch das Gesetz drohten.18 Dabei argumentiert er besonders gegen die Zehnmännerkommission, die aufgrund ihrer weitreichenden Befugnisse den Senat in seiner Domäne der Außenpolitik einflußlos machen würde. Dies ist der Angelpunkt der Argumentation Ciceros, auf den er in verschiedenen Facetten immer wieder anspielt. Besonders klar wird dies bei der im Gesetz vorgesehenen Coloniegründung in Capua. Man könnte sich hier den Ausführungen des Consuls unter der Überschrift ‚Capua als politisches Symbol‘ nähern. An diesem Punkt glaubt Cicero, den Senat auf seine Seite bringen zu können. Er referiert, daß die maiores Capua wegen seiner Untreue im zweiten punischen Krieg bewußt und einsichtsvoll jede Form von Staatlichkeit genommen hätten.19 In Capua seien luxuries, superbia und fastidium beheimatet. Von Capua gehe potentiell eine Gefahr für Rom aus.20 Deshalb suggeriert Cicero, in jedem Fall dem Beispiel der Vorfahren folgen und den Plan des Rullus vereiteln zu müssen. Dieser Weisheit der Vorfahren hätten sich sogar die Gracchen trotz ihres Hanges zur largitio wie auch Sulla während seiner dominatio angeschlossen und Capua so belassen, wie die Vorfahren es geregelt hatten.21 Cicero argumentiert mit diesen historischen Stichwörtern in einer Negativklimax, an deren Ende Rullus noch schlimmer dasteht als Sulla mit seiner dominatio.22 Mit dem Begriff Capua steht der große Erfolg der maiores über Hannibal in Verbindung. Wenn Cicero also besonders mit Capua argumentiert, muß man vor allem diesen historischen Hintergrund berücksichtigen, damit das Argument auch seine Schlagkraft entwickeln kann. Denn eine wirkliche Gefahr konnte von Rullus’ Plänen mit Capua natürlich nicht ausgehen. Cicero aber steigert anhand dieses Symbols die zu verhandelnde Sache ins Grundsätzliche und sieht eine Gefahr für salus ac libertas rei publicae.23 Mit Hilfe zentraler Schlagwörter bringt er den Senatoren noch einmal eindringlich zu Gehör, daß sie sich in ihren angestammten politischen Entscheidungsfeldern nicht entmündigen lassen dürften. Cicero verfolgt diese Strategie auch im weiteren Verlauf seiner Ausführungen und schließt mit der festen Zusage und Absicht, seine Macht als Consul auf den Feind, der sich im Inneren aufhalte, zu konzentrieren und die auctoritas des Se-
18 Vgl. allgemein MEIER 1969, 562: „Nur einer war immer geschädigt oder glaubte es zu sein: der Senat.“ 19 Cic. leg. agr. 1,19f. 20 Cicero beschreibt die Konsequenz ganz konkret leg. agr. 2,89 und nennt eine eventuelle Colonie „... molem contra veterem rem publicam ...“. 21 Siehe leg. agr. 1,21: „... queror ... eum denique nos agrum P. Rullo concessisse, qui ager ipse per sese et Sullanae dominationi et Gracchorum largitioni restitisset ...“. Vgl. ähnlich leg. agr. 2,81; siehe auch ROBINSON 1987, 51. 22 ELVERS 1993, 12 mit Anm. 7; CLASSEN 1985, 359. 23 Cic. leg. agr. 1,22: „de periculo salutis ac libertatis loquor“.
232
VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
nats wieder erstarken zu lassen. Wenn dies gelinge, sei die Republik unter Ciceros Consulat zurückgewonnen.24 Vor dem Volk Die thematischen Kongruenzen zwischen Senatsrede und Volksrede wurden oben schon erläutert. Inhaltlich hält sich Cicero an die vorgesehenen Maßnahmen der rogatio und entwickelt an ihnen seine Argumente. Cicero paßt sich dabei aber politisch-taktisch der Zusammensetzung seiner Zuhörerschaft an und erläutert, wie sie durch das Gesetz betroffen wäre. Wenn Cicero zum versammelten Volk spricht, tritt er ihm so gegenüber, daß er sich zunächst selbst als wahrhaft popularen Consul charakterisiert. Denn die Pläne des Rullus gefährdeten in Wahrheit die Wohlfahrt („salus“) des Volkes. Tatsächlich bedeute die Etablierung einer Zehnmännerkommission nichts anderes als eine – mehr oder weniger verkappte – Königsherrschaft („reges in civitate“), die den Frieden, die Freiheit (libertas) und die Ruhe (otium) auflöse, die von den Vorfahren geschenkt worden seien und die es entsprechend zu schützen gelte.25 Mit wenigen Kernbegriffen skizziert Cicero auch vor dem Volk die anstehende Frage so, als wäre die überkommene Ordnung grundsätzlich gefährdet. In dieser Situation sei die Sicherheit des Staates dem neuen Consul mit Recht anvertraut und in gute Hände gelegt. Cicero bekennt, daß er gegen ein Ackergesetz im Prinzip nichts einzuwenden habe. Nur sollten die popularen Absichten dann auch ernst genommen und tatsächlich verfolgt werden. Bei Tiberius und Gaius Gracchus sei dies der Fall gewesen. Cicero will seiner Zuhörerschaft an dieser Stelle klare Signale geben. Er wisse, daß viele glaubten, man dürfe diese Namen nicht ungestraft aussprechen, aber selbst wenn manche dieser Meinung seien, halte er es keineswegs für schlecht, solche „hochberühmten und überaus begabten, die Plebs aus tiefstem Herzen liebenden“ Männer zu loben. Durch die lobende Nennung der ‚popularen Protagonisten‘ der römischen Geschichte versucht Cicero offensichtlich, die Zuhörer auf seine Seite zu bringen. Er gibt vor, sich tatsächlich für die Belange des Volkes einsetzen und dafür auch im Hinblick auf die Gracchen gegen die (senatorische) ‚political correctness‘ verstoßen zu wollen – denn er, der Consul, gehöre nicht zu denjenigen, die es für verwerflich hielten, die Gracchen zu preisen.26 24 Cic. leg. agr. 1,27: „Id quod maxime res publica desiderat, ut huius ordinis auctoritas, quae apud maiores nostros fuit, eadem nunc longo intervallo rei publicae restituta esse videatur.“ 25 Cic. leg. agr. 2,8f.; 15f.: Zehnmänner als reges, ganz ähnliche Tendenz Rab. perd. 10; Catil. 2,27. 26 Leg. agr. 2,10: „Venit enim mihi in mentem duos clarissimos, ingeniosissimos, amantissimos plebei Romanae viros, Ti. et C. Gracchos, plebem in agris publicis constituisse, qui agri a privatis antea possidebantur.“ Insgesamt kommt Cicero in der zweiten Rede dreimal (10, 31, 81) auf die Gracchen zu sprechen. Alle Erwähnungen sind positiv; vgl. SCHOENBERGER 1910, 19.
REDEN VOR VOLK UND SENAT
233
Cicero verweilt bei seinen Ausführungen über die wirkliche Volksnähe von Politikern und erwähnt dafür das Beispiel des Cn. Domitius Ahenobarbus, eines „homo nobilissimus“, der als Volkstribun im Jahre 104 v. Chr. die Volkswahl der Priester eingeführt hatte.27 Daß Rullus die Rechte des Volkes hingegen deutlich schmälern will, erläutert Cicero bei seinen Ausführungen über die Bestellung der Zehnmännerkommission durch die Bestimmungen einer lex curiata, deren Verfahren „inauditum et plane novum“ sei.28 Diese beabsichtigte Entmündigung des Volkes widerspreche den Wünschen der Vorfahren in eklatanter Weise. Die Ausrichtung der Handlungen in der Gegenwart an den Wünschen und Absichten der Vorfahren gilt als obligatorische Maßgabe für das politische Handeln (vgl. oben S. 169ff.). Ciceros Ziel besteht darin, Rullus’ Vorhaben so darzustellen, als sei es mit der Vergangenheit in keiner Weise konform und schon daher abzulehnen. Besonders deutlich hebt Cicero auch die nahezu königliche Stellung der Zehnmänner hervor, die letztlich eine Clique von Rullus selbst und seinen Sympathisanten darstelle.29 In diesem Punkt könne sich Rullus keinesfalls auf Tiberius Gracchus berufen, dessen Dreimännerkommission von allen Tribus gewählt werden sollte und auch wurde, während Rullus’ rogatio nur 17 Tribus als Wahlkörperschaften vorsehe. Cicero wählt hier den konkreten Vergleich zwischen Tiberius Gracchus und Rullus: Nicht nur sein Gesetz ist dem des Tiberius ganz unähnlich, Rullus kann und darf auch nicht mit der Person des Tiberius verglichen werden.30 Cicero läßt in diesen Passagen eine recht präzise Kenntnis der gracchischen Kommissionspläne erkennen. Es kommt hinzu, daß die Zehnmänner „nostras res proprias“ und „vestra vectigalia“ nicht im Zentrum der Öffentlichkeit, auf dem Forum, verkauften, sondern in irgendwelchen Schlupfwinkeln. Selbst Sulla habe seine Beuteversteigerungen öffentlich auf dem Forum getätigt. Mit dem exemplum Sullas, der mit seiner dominatio – wie weiter unten S. 271ff. vorgestellt wird – als Tyrann aufgefaßt wird, wünscht der Redner den Widerstand gegen die Zehnmännerkommission zu steigern, indem er die Erinnerung an die grausamen Konfiskationen Sullas heraufbeschwört.31
27 28 29 30
Vgl. Cic. leg. agr. 2,18; siehe auch MEIER 1969, 603. Cic. leg. agr. 2,26. Leg. agr. 2,21. Cicero charakterisiert Tiberius hier mit Begriffen wie aequitas und pudor, wovon Rullus’ Charakter meilenweit entfernt sei, leg. agr. 2,31: „Et cum tu a Ti. Gracchi aequitate ac pudore longissime remotus sis …“. Vgl. ROBINSON 1987, 45. 31 Leg. agr. 2,56: „Venire nostras res proprias et in perpetuum a nobis abalienari in Paphlagoniae tenebris atque in Cappadociae solitudine licebit? L. Sulla cum bona indemnatorum civium funesta illa auctione sua venderet et se praedam suam diceret vendere, tamen ex hoc loco vendidit nec, quorum oculos offendebat, eorum ipsorum conspectum fugere ausus est; xviri vestra vectigalia non modo non vobis, Quirites, arbitris sed ne praecone quidem publico teste vendent?“
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Neben das verfassungsrechtliche Argument der Wahl, die nach Cicero den Wünschen der Vorfahren widerspreche,32 tritt die Mahnung, die aktuellen Errungenschaften eines Servilius Isauricus oder Pompeius und die früheren Verdienste der Vorfahren nicht leichtsinnig aufzugeben. Der populus Romanus müsse sich seiner Position als dominus omnium gentium33 bewußt sein und dies mit seinen Entscheidungen und Handlungen bestätigen. Der Consul appelliert hier an die Verpflichtung, das Erbe der Vorfahren für die nächsten Generationen bewahren zu müssen. Cicero illustriert diesen Punkt mit einer Beispielreihe, die weiter in die Vergangenheit zurückgreift als diejenige, mit der er seine Ausführungen im Senat verdeutlicht. Er beruft sich auf einen Feldherrn des Kriegs gegen Pyrrhos, Fabricius Luscinus, Consul in den Jahren 282 und 278, und auf einen Oberkommandierenden aus der Zeit des ersten punischen Krieges, A. Atilius Calatinus, den Consul der Jahre 258 und 254, Diktator des Jahres 249. Er setzt die Reihe fort mit L. Manlius Acidinus, der im Jahre 179 v. Chr. Consul war. Cicero verortet diese Männer nicht in ihren konkreten militärhistorischen Kontexten, sondern stellt sie vielmehr in einem ethischen Sinne als Vorbilder dar. Sie seien nämlich bescheiden gewesen und hätten durch die „Zufriedenheit mit ihrer Armut“ („patientia paupertatis“) hohes Ansehen genossen.34 Cicero fügt – wiederum in Form von Pluralnennungen – jüngere Beispiele aus dem 2. Jh. v. Chr. an (sagt aber nicht, daß sie näher an der Gegenwart liegen) und nennt M. Porcius Cato, L. Furius Philus und C. Laelius als Beispiele für temperantia und sapientia. Obwohl diese Männer über solche Eigenschaften verfügt hätten, habe niemand sie je mit solchen Vollmachten ausgestattet, wie Rullus dies jetzt für seine dubiosen Zehnmänner anstrebe. Auch in diesem Punkt zitiert Cicero die Vorfahren, um aufzuzeigen, daß die Gegenwart sich gegen sie wendet. Das vermutlich schlagkräftigste und ‚populistischste‘ Argument setzt Cicero aber an das Ende seiner langen und detaillierten Ausführungen. Cicero spricht wie im Senat über die Bedeutung der verschiedenen besiegten Städte Karthago, Korinth und Capua. Allerdings spricht er vor dem populus nur generell von den maiores, die diese Siege für das römische Volk errungen hätten. Vor dem Senat ordnet er jedem Sieg noch den entsprechenden Feldherrn zu, woraus sich eine stärkere personale Bindung und eine bessere Kenntnis der Personen und ihrer Taten erkennen lassen. Denn gerade im Senat befanden sich die Angehörigen der berühmten Familien – der Aemilii, Caecilii Metelli, Cornelii etc. –, die die Taten ihrer großen Familienvorfahren kannten und in lebendiger Erinnerung hielten.35 Besonderes Gewicht legt Cicero (wie auch vor dem Senat) auf die Ereignisse und Maßnahmen, die Capua betreffen. Er rühmt die Weisheit der Vorfahren, die 32 Vgl. auch leg. agr. 2,18 (Priesterwahlen durch das Volk; maiores waren somit auch populares); weiterhin 2,26 (zweifaches Wahlrecht des Volkes). 33 Cic. leg. agr. 2,22. 34 Leg. agr. 2,64. Die Namen sind einmal mehr lediglich Pluralnennungen: „Luscinos, Calatinos, Acidinos“. 35 RECH 1936, 25f.; 36 (Hausarchive); siehe oben S. 110ff. über die familiäre Erinnerung.
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sich an der Behandlung Capuas gezeigt habe. Wenn Rullus nun eine Colonie in Capua zu gründen beabsichtige, bedeute dies eine ernste Gefahr für Rom.36 Cicero denkt dabei nicht nur an eine militärische Bedrohung, da gerade Capua als Ort der luxuries waghalsige Abenteurer und Verbrecher anziehe und schon für wirkliche Krieger wie Hannibal zum Verhängnis geworden sei. Vielmehr spricht er statt von der etwas diffusen Bedrohung durch luxuries über die konkreten Schwierigkeiten mit der Getreideversorgung, die sich in einer etwaigen Krisensituation rasch ergeben könnten. Er fragt seine Zuhörer ganz konkret, ob sie den Nutzen Capuas während des Bundesgenossenkrieges schon vergessen hätten.37 Cicero gibt weitere Beispiele für solche Krisensituationen und nennt den Sklavenaufstand der Jahre 101 – 98 v. Chr. auf Sizilien und die Probleme, die sich durch den ersten mithridatischen Krieg ergeben hätten. Ebenso erwähnt er die Steuerausfälle, die in Spanien in den Jahren des Sertorius (80 – 72 v. Chr.) eingetreten seien und Folgen für die Versorgung in Rom gehabt hätten.38 Alle diese Beispiele fallen noch in die von sehr vielen seiner Hörer selbst erlebte Zeit. Seine ausführlichen Erörterungen über die seit langem bewährte Partnerschaft mit dem gezielt geschwächten Capua läßt Cicero in das neuere exemplum des Brutus einmünden, mit dem er sich warnend an Rullus wendet. Auch hier argumentiert er zunächst mit den Beispielen der Gracchen und Sullas, die sich von Capua ferngehalten hätten. Dabei habe Sullas Herrschaft eine dominatio dargestellt. Die Gracchen bewertet Cicero vor dem Volk positiv, weil sie sich für die Vorteile der Plebs eingesetzt hätten.39 Cicero spielt also mit den unterschiedlichen Affekten, die allein schon durch die Nennung dieser beiden Namen bei seiner Zuhörerschaft (Senat bzw. Volk) jeweils hervorgerufen wurden. Er vermischt die Invektiven gegen Rullus mit dem gleichzeitigen Lob seiner politisch, intellektuell und vom Talent her überlegenen Vorgänger Ti. und C. Gracchus, mit dem der amtierende Consul Cicero als wahrer popularis mehr gemein zu haben vorgibt als der aktuelle Volkstribun Rullus. Die Sympathieadresse an die Gracchen soll sich in Zustimmung zu seiner eigenen Person und Position niederschlagen.40 Gerade das Schicksal des Brutus müsse Rullus doch zu denken geben: Brutus, der im Jahre 83 v. Chr. Volkstribun war, habe eine Colonie in Capua gründen wollen und deshalb „acerbissimas poenas“ erlitten.41 Cicero nähert seine exempla gegen Rullus immer weiter der Gegenwart (Gracchus – Brutus – Sulla) an, um mit ihnen die Haltlosigkeit von Rullus’ Plan einer Coloniegründung in Capua zu begründen.
36 Cic. leg. agr. 2,73. 37 Leg. agr. 2,80: „An obliti estis Italico bello amissis ceteris vectigalibus quantos agri Campani fructibus exercitus alueritis?“ 38 Cic. leg. agr. 2,83. 39 Leg. agr. 2,81: „... duo Gracchi, qui de plebis Romanae commodis plurimum cogitaverunt …“. 40 Hierzu auch ROBINSON 1987, 45; FUHRMANN 1973, 541. 41 Cic. leg. agr. 2,89ff. Als Marianer wurde Brutus 78 auf Veranlassung des Pompeius getötet. Als Strafe für die versuchte Coloniegründung kann dies nur schwerlich aufgefaßt werden.
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Nochmals betont Cicero die Weisheit der Vorfahren, die voller Einsicht Capuas Staatlichkeit gänzlich ausgelöscht hätten – dasselbe gelte für die ehemaligen Metropolen Karthago und Korinth.42 Rullus begehe einen Verrat an dieser Weisheit. Ja, es sei sogar eine Art Frevel, weil Cicero die Meinung vertritt, man müsse die Vorfahren eigentlich wie Götter und ‚Heilige‘ verehren.43 Fazit: Anpassung an den Hörerkreis und Retter in willkommener Gefahr Cicero behandelt in beiden Reden dasselbe Thema – den Inhalt der rogatio. Aber er differenziert seine Strategie nach den jeweiligen Konsequenzen des Gesetzes für den Hörerkreis. Vor dem Volk verzichtet Cicero auf Abstraktion und bemüht sich um möglichst konkrete und anschauliche Darstellung.44 Er wählt in den beiden Reden teilweise unterschiedliche exempla, bisweilen variiert er aber auch nur gewisse Nuancen. So nennt er im Senat mehr Namen großer Feldherrn, während er vor dem Volk die Kriege als Stichworte gibt, die von den maiores erfolgreich unternommen worden seien; die Namen selbst tun anscheinend nichts zur Sache. Gerade mit den erfolgreichen Kriegen der Vorfahren sind die materiellen Vorteile fürs Volk implizit angesprochen. Vor dem Volk argumentiert Cicero bedeutend häufiger mit den maiores.45 Der Bezug zu ihnen ist dabei nicht eigentlich historisch, sondern mehr psychologisch bzw. pädagogisch. Man hat den Eindruck, die maiores fungieren als imaginäre ‚Mahner‘, jedenfalls funktionalisiert der Redner sie in diesem Sinne. Die Vergangenheit gibt dem Consul Argumente an die Hand, die er in erster Linie nicht als historische Tatsachen anführt, sondern zur Entscheidungsführung in einem erzieherischen Sinne einsetzt. Er suggeriert, daß die Bürger sich an den ‚Vätern der res publica‘ vergingen, wenn sie den Gesetzesvorschlag des Rullus annähmen. In der Sache hat Cicero dabei gar nichts gegen ein Ackergesetz einzuwenden, wie er zu Beginn seiner Rede vor dem Volk bekennt. Das Thema war seit langem auf der Tagesordnung und mußte gerade mit dem Problem der Versorgung von Pompeius’ Veteranen auch virulent bleiben. Cäsar wird erst vier Jahre später in seinem Consulat eine lex Iulia agraria durchsetzen können; aber dafür muß er sich mit dem Senat überwerfen, das kollegiale Veto des Bibulus ignorieren und als Consul mit der Volksversammlung die Gesetze durchsetzen. Der optimatische Widerstand gegen ein Ackergesetz war weiterhin enorm. Im Lichte dieser Gesamtlage muß auch die Position des amtierenden Consuls Cicero beurteilt werden. Der Senat lehnte in diesen Jahren – genauso wie zwei Generationen zuvor und womöglich auch nur aus einem Reflex heraus – eine lex 42 Leg. agr. 2,87. 43 Leg. agr. 2,95: „... maiores nostros dico, Quirites, non eos in deorum immortalium numero venerandos a nobis et colendos putatis?“; vgl. Planc. 29. 44 MACK 1937, 40 mit Anm. 87. 45 ROBINSON 1987, 24: Betonung des mos maiorum in leg. agr. 2.
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agraria ab. Der Consul und homo novus Cicero nahm sich diese Politik des Senats zum Maßstab und handelte entsprechend. Er erfüllte die Erwartungen voll und ganz, die die senatorische Spitze an ihn, den homo novus, richtete. Die Außenseiterposition des homo novus ließ Consul wahrscheinlich im besonderen Maße Rücksicht auf traditionelle Positionen der senatorischen Mehrheit nehmen. Dies alles kann zudem Ciceros übergeordnetem Ziel zugerechnet werden, das in den Reden deutlich erkennbar ist. Cicero umrahmt beide Reden mit Reflexionen über sich selbst und seine Position im Staat. Er ‚konstruiert‘ Rullus als den Feind im Innern, der vom amtierenden Consul aufgehalten werden müsse. Schon aus dieser Perspektive Ciceros wird seine verzerrte Einstellung zum sachlichen Kern der Debatte nachvollziehbar. Nimmt man seine Neigung hinzu, die zu verhandelnden Fälle ins Grundsätzliche zu steigern, erhält man folgendes Bild: Cicero ‚braucht‘ in seinem Amtsjahr eine Herausforderung, er benötigt einen Gegner, gegen den er sich durchsetzen und denkwürdige Taten vollführen muß. So gesehen kann ihm gleich am ersten Tag seines Amtsjahres nichts Besseres geschehen, als daß er sofort in seiner ersten Auseinandersetzung für die libertas von Senat und Volk kämpft und die weithin erschütterten Fundamente der Republik stabilisiert. Diese (konstruierte) Bedrohung ist Cicero geradezu willkommen. In seiner dritten Rede zum Ackergesetz des Rullus, die eigentlich nur noch ein kurzes Statement darstellt, erinnert Cicero besonders an die sullanischen Zeiten und bringt die Maßnahmen des Dictators in Verbindung mit dem Vorhaben des Rullus.46 Er bezieht sich hierbei auf den Rechtsstatus der sullanischen Grundstükke, denen Rullus ein besseres Recht einräume als den von den Vätern ererbten Grundstücken. Cicero verschärft seine Äußerungen und geht so weit, Rullus einen „repentinus Sulla“ zu nennen.47 Die Herrschaftsform der Zehnmänner betitelt er mit demselben Begriff, den er auch für Sullas Herrschaft verwendet: Es handle sich um eine „dominatio paucorum“.48 Cicero fragt die versammelten Bürger, weshalb sie alle Erfolge der maiores in Italien, Sizilien, Afrika, den beiden Spanien, Makedonien und Asien preisgeben wollten. Die Vorfahren hätten sie doch „für euch“ zurückgelassen.49 Er suggeriert dem Volk einmal mehr, es gebe seinen Besitz aus der Hand und verletze im selben Moment die pietas erga maiores.
46 47 48 49
Vor dem Senat nennt Cicero Sullas Namen gar nicht! Siehe CLASSEN 1985, 313f. Cic. leg. agr. 3,10. Ibd; zum Vergleich Zehnmänner – Sulla siehe auch CLASSEN 1985, 313f. Cic. leg. agr. 3,12.
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CICERO GEGEN CATILINA Vor dem Volk Die vier Reden gegen Catilina teilen sich in zwei Reden vor dem Senat (I und IV) und zwei Reden vor dem Volk (II und III) auf.50 Im Vergleich zu den Reden gegen das rullische Agrargesetz, die er vor dem Volk hielt, gebraucht Cicero in den Reden gegen Catilina deutlich weniger Bezüge zur Vergangenheit. Er beschäftigt sich dagegen sehr ausführlich mit der Person Catilinas und seinen Anhängern, die er nach Gruppen klassifiziert und jeweils charakterisiert (zweite Rede). Somit stellt er einerseits die Gefahr und das Ausmaß der Verschwörung ins Zentrum, andererseits stilisiert er sich als ein um so verdienstvollerer Retter des Vaterlandes, der todesmutig diese Herausforderung annehmen will. Auf den Nutzen, den Cicero für seine eigene Person aus den Ereignissen ziehen will, sollte besonderes Augenmerk gerichtet werden. Cicero unterläßt es vor dem Volk, auf die Tötung der Gracchen und die Problematik des senatus consultum ultimum einzugehen. Gerade der konsequente Verzicht auf ‚populare‘ Beispiele (wie z. B. Saturninus) zeigt an, daß er keinesfalls Erinnerungen wecken möchte, die seinen Plänen im Wege stehen könnten.51 Cicero reiht seine Auseinandersetzung mit Catilina in die Abfolge der schlimmen Bürgerkriege ein, an die das Volk noch aus persönlicher Erinnerung zurückdenken solle. Er rühmt sich selbst, die Bürgerschaft ohne Blutvergießen „ex crudelissimo ac miserrimo interitu“ gerettet zu haben. Er zieht zum Vergleich Sullas Kampf gegen Sulpicius heran. Jener habe Marius, den „Wächter dieser Stadt“, vertrieben. Cn. Octavius habe seinen Kollegen Cinna, der nicht namentlich genannt wird, aus Rom gejagt. Cinna habe schließlich gemeinsam mit Marius gesiegt. Die „Ermordung der angesehensten Bürger“ habe sich angeschlossen, darauf folgte wieder die crudelitas Sullas. Gerade in diesem Punkt setzt Cicero auf die eigene Erinnerung der Zuhörer: Er fordert die Volksversammlung auf, sich an die Leichenberge auf dem Forum zu erinnern, die in diesen Zeiten einen schauderhaften Anblick geboten hätten. „Ich brauche nicht zu erwähnen, mit welchem Verlust an Bürgern und zu welchem Verderben für den Staat.“52 Schließlich fügt Cicero noch die Auseinandersetzung zwischen Q. Catulus und Aemilius Lepidus (coss. 78) an. Während die von ihm bisher aufgezählten Kämpfe lediglich eine Veränderung des Staates beabsichtigt hätten, verfolge Catilinas Aufstand nun das Ziel, den Staat zu zerstören. Cicero stuft seinen Konflikt mit Catilina höher ein als diese 50 Vgl. generell STINGER 1993, 119ff.; 157f.; MEIER 1980, 143ff.; GELZER 1969, 87ff. 51 RIEGER 1991, 127. 52 Cic. Catil. 3,23;24: „custodem huius urbis“ / „clarissimis viris interfectis“ / „ne dici quidem opus est quanta deminutione civium et quanta calamitate rei publicae“ (Übersetzung FUHRMANN).
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früheren Auseinandersetzungen. Es handle sich um den größten und grausamsten Krieg seit Menschengedenken. Durch seine Aufforderung, die persönliche Erinnerung zu bemühen, bietet er dem Publikum die Möglichkeit, sein Verdienst entsprechend einzuordnen. Cicero entwickelt eine Traditionslinie von schrecklichen Konflikten bis in sein Consulat, ohne daß in seinem Consulat überhaupt wirklich vergleichbare Zustände geherrscht hätten. Der Vergleich hinkt, da es zu militärischen Auseinandersetzungen zwischen Cicero und Catilina gar nicht gekommen ist. Catilina fiel im Kampf gegen Antonius und Petreius Anfang 62 v. Chr. bei Pistoria. Trotzdem feiert der Consul sich vor diesem Hintergrund der früheren Kämpfe als Retter des Vaterlandes.53 Cicero faßt diese Auseinandersetzungen wie Duelle auf, die sich zwischen zwei Adligen ereigneten. Statt eine historische Analyse der tieferen Ursachen und Zusammenhänge solcher inneraristokratischen Konflikte zu versuchen, personalisiert er diese Vorkommnisse und benutzt sie als Folie für seine eigene Situation.54 Vor allem die Nennung relativ zeitnaher Personen mit den entsprechenden Konnotationen soll diese Wirkung erreichen. Vor dem Senat Vor dem Senat kommt Cicero zunächst auf die Tötung des Tiberius Gracchus zu sprechen. Ihn beschreibt er als Menschen, der nur „mit Maßen“ („mediocriter“) an der Ordnung der res publica gerüttelt habe. Publius Scipio Nasica, ein vir amplissimus, habe ihn dennoch getötet, obwohl er damals privatus war.55 In zweifacher Weise setzt Cicero die Situation, die 70 Jahre zurückliegt, der aktuellen Lage entgegen. Das Wort ‚mediocriter‘ sagt implizit aus, daß Catilina heftiger und böswilliger gegen den Staat vorzugehen gedenke, als dies bei Tiberius Gracchus der Fall gewesen sei. Zweitens sieht Cicero den rechtlich bedeutsamen Unterschied, daß er als amtierender Consul für das Wohlergehen der res publica eintritt. Er ist im Gegensatz zu Nasica kein privatus und kann – so soll suggeriert werden – ohne rechtliche Beanstandung Catilina aus dem Wege räumen. Cicero schließt ein exemplum an, das er selbst als „nimis antiquum“ bezeichnet und eigentlich auslassen möchte, es dann aber doch anführt: C. Servilius Ahala tötete nach der Tradition im Jahr 440 v. Chr. Spurius Maelius, der einen Umsturz anzetteln wollte. Der Zeitraum der relevanten nahen Vergangenheit, wie er 53 Cic. Catil. 3,25. STINGER 1993, 68, sieht es als strategischen Grundzug von Ciceros Rhetorik an „to stand in the manner of the grand old man in the past“. 54 Vgl. auch KROLL 1933, 68 mit dem allgemeineren Blick auf die Geschichtsschreibung: „Es ist nicht uninteressant zu sehen, wie die Geschichtsschreibung diese persönlich orientierte Politik in ältere Zeiten hineinträgt, in denen davon nicht die Rede sein konnte.“ – Durch dieses traditionale Denken und Verstehen historischer Ereignisse ist eine andere Form der politischen Analyse praktisch nicht denkbar, weil sie theoretische Voraussetzungen fordert, die in Roms politischer Kultur nicht gegeben waren. 55 Cic. Catil. 1,3ff.; ROBINSON 1987, 53f.; RIEGER 1991, 124f.
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bisher festzustellen war, wird durch dieses Beispiel klar überschritten. Eigentlich habe es keinen politischen Wert, weil es „zu alt“ sei. Cicero nennt es daher auch nur als einziges, obwohl er sagt, er könne mehrere davon anführen.56 Nun wendet sich der Consul wieder jüngeren Beispielen zu. Er nennt die letzten senatus consulta ultima, die durchgesetzt wurden: L. Opimius habe den äußersten Senatsbeschluß gegen C. Gracchus ausgeführt (121 v. Chr.), wobei Gracchus’ Freund M. Fulvius Flaccus umgekommen sei. Die Consuln C. Marius und L. Valerius Flaccus habe der Senat gegen L. Appuleius Saturninus und den Praetor C. Servilius Glaucia mit einem senatus consultum ultimum betraut (100 v. Chr.). Cicero betont in diesen Fällen die Entschlußkraft des Senats, gegen diese Leute schnell vorzugehen. Sie alle seien nicht so schlimm und gefährlich gewesen wie Catilina. Auffälligerweise verzichtet er auf eine Charakterisierung des Appuleius, bei C. Gracchus hingegen betont er dessen vornehme Abkunft und spricht lediglich von „einigem Verdacht“, der Gracchus belastet habe.57 Catilina aber hätte in Ciceros Augen längst tot sein müssen. Der Consul befürchtet für seine eigene Person den Vorwurf der Fahrlässigkeit und Untätigkeit.58 Der Kern der historischen Vorbilder besteht für Cicero in der Schnelligkeit, mit der früher das senatus consultum ultimum vollstreckt wurde, das am 21.10. 63 v. Chr. gegen Catilina und seine Anhänger beschlossen worden war. Dabei wird das senatus consultum ultimum in keiner Weise als ein relativ neues Mittel der Senatspolitik, das tatsächlich erst seit dem Vorgehen gegen C. Gracchus angewandt wird, erläutert und problematisiert. Im Gegenteil! Cicero ordnet es bereits dem mos maiorum zu.59 Er möchte das Todesurteil gegen Catilina vollstrecken,60 weil dieser ein Umstürzler sei wie Spurius, Tiberius, Gaius, Saturninus und die anderen. Cicero konstruiert durch die Dichte seiner Beispiele in ständigem Wechsel mit Anmerkungen zu Catilina eine Traditionskette aus weiter Vergangenheit bis in die Zeit seiner Generation, die das senatus consultum ultimum als lange bewährtes und ohne weiteres anzuwendendes Mittel der Politik darstellt.61 56 Cic. Catil. 1,3: „Nam illa nimis antiqua praetereo, quod C. Servilius Ahala Sp. Maelium novis rebus studentem manu sua occidit.“ Vgl. STINGER 1993, 120; PANITSCHEK 1989, 238f. 57 Cic. Catil. 1,4: „Interfectus est propter quasdam seditionum suspiciones C. Gracchus, clarissimo patre, avo, maioribus ...“. 58 Catil. 1,4. Vgl. auch ROBINSON 1987, 54. 59 Cic. Catil. 1,2: „... id a me mos maiorum ... postulabat“; vgl. auch RECH 1936, 47. – So argumentiert Cicero auch in Pro Milone, wenn er feststellt, Pompeius hätte Milo doch aufgrund des erlassenen scu „more maiorum et suo iure“ aus dem Wege räumen können, Mil. 71; genauso gegen Antonius Phil. 2,51, wenn er das scu gegen Antonius im Jahre 49 anführt, „was nach dem Brauch der Vorfahren gegen den Feind im Innern verhängt zu werden pflegt.“ / „In te, M. Antoni, id decrevit senatus et quidem incolumis, nondum tot luminibus exstinctis quod in hostem togatum decerni est solitum more maiorum.“ 60 Catil. 2,3. 61 Cicero gebraucht die Präzedenzfälle nicht nur in einer rhetorischen Funktion, sondern erwähnt sie, um die Zulässigkeit seiner eigenen Handlungsweise zu begründen; siehe HÖLKESKAMP 1996, 317.
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Auf drei Namen kommt Cicero noch einmal gegen Ende seiner Invektiven gegen Catilina zurück. Der Tod des Saturninus, der beiden Gracchi und des Flaccus habe bedeutenden Männern, die nicht namentlich genannt werden, Ehre verschafft.62 Daraus leitet Cicero seinen eigenen Anspruch auf Ehre ab. Die Zahl derer, die ihn deshalb anfeinden würden, sei geringer als die seiner Bewunderer. Außerdem mache er sich aus Verächtern seiner Leistungen nichts, womit er auf die Sympathisanten der getöteten ‚Popularen‘ anspielt und seine Zustimmung zur Haltung des Senats manifestiert: „... so war es doch stets meine Einstellung, Haß, den mir meine Tatkraft zuzog, für Ruhm, nicht für Haß zu halten.“63 In seiner zweiten Rede vor dem Senat gebraucht Cicero dieselben Beispiele.64 Erneut rekurriert er auf Ti. und C. Gracchus sowie Saturninus. Darüber hinaus konzentrieren sich Ciceros Ausführungen besonders auf die Worte Caesars, der sich gegen die Todesstrafe ausgesprochen hatte.65 Cicero stellt ihm zwei Beispiele von severitas aus Caesars eigener Familie entgegen. Als L. Caesar (cos. 64 v. Chr.) über seinen Schwager Lentulus in dessen Anwesenheit urteilte, dieser habe das Recht auf Leben verwirkt, rechtfertigte er dies (nach Cicero) mit dem Argument, auch sein Großvater sei bereits auf Befehl eines Consuls umgekommen. Cicero beläßt es bei diesen Informationen, weil er wohl davon ausgehen kann, daß jeder im Senat wußte, worum es ging. Auch dieses Beispiel gruppiert sich um die Ereignisse des senatus consultum ultimum gegen C. Gracchus. L. Caesars Großvater war M. Fulvius Flaccus (cos. 125), der Gaius unterstützt hatte und damals ebenfalls umkam. Dabei charakterisiert Cicero Gracchus’ und Fulvius’ Vergehen wiederum als nicht allzu schlimm, um Catilina negativ gegen sie absetzen zu können. Ihr „Hang zur Freigebigkeit“ erscheine doch wohl als harmlos gegenüber Catilinas „Plan, den Staat zu zerstören“.66 Eine solche Gewichtung innerhalb des historischen Vergleichs ist bereits in der ersten Catilinaria anzutreffen67 und stellt nur insofern etwas Neues dar, als sich Cicero hier gezielt gegen Caesars allzu große Milde wendet. Dieser hatte während der Debatte über das Strafmaß gegen die Catilinarier als designierter 62 Cic. Catil. 1,29. 63 Übersetzung FUHRMANN, ibd: „... tamen hoc animo fui semper, ut invidiam virtute partam gloriam, non invidiam putarem“. Vgl. zur Stelle auch SCHOENBERGER 1910, 18f. 64 Cic. Catil. 1,4. 65 Beispiel und Gegenbeispiel dürften sich in diesem Fall gegenüberstehen: Caesar argumentierte natürlich mit der clementia maiorum. — Allgemein wird betont, daß Cicero gerade die Reden gegen Catilina stark umgearbeitet hat. Als er im Jahre 60 v.Chr. die Reden herausgegeben hat, war Caesar eine noch prominentere Person geworden und (wahrscheinlich) bereits zum Consul für das kommende Jahr gewählt. Es ist also gut möglich, daß Cicero seine Äußerungen mit Bedacht auf Caesar ausgerichtet hat und so der Charakter der vierten Rede gegen Catilina etwas verändert worden ist; vgl. FUHRMANN in seiner „Einführung“ zur Übersetzung; SCHOENBERGER 1910, 46. 66 Catil. 4,13: „Quorum quod simile factum, quod initum delendae rei publicae consilium? Largitionis voluntas tum in re publica versata est et partium quaedam contentio.“ 67 Es konnte ebenfalls in der Rede gegen Rullus (s. S. 235) festgestellt werden, daß Cicero mit einer Negativklimax arbeitet.
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Praetor gesprochen und für eine lebenslange Inhaftierung der überführten Verschwörer plädiert. Cicero – auf ein Todesurteil zielend – will Caesars Ausführungen mit dem Argument entkräften, daß eine derartige Milde nicht im Sinne der (in diesem Falle verwandtschaftlich recht weit entfernten) Familie liege, die in den beiden letzten Generationen gerade im Zusammenhang mit dem senatus consultum ultimum durch severitas hervorgetreten sei. Dabei stellt L. Caesar den Tod des Großvaters und die Strafe gegen Lentulus im Sinne einer (senatorischen) Staatsräson als gerecht dar. Cicero argumentiert mit der Geschichte, um vordergründig dem Vorwurf der nequitia zu entgehen, aber seine tiefere Motivation besteht schließlich darin, laus und gloria zu erwerben. Er ordnet sich und seine Leistung am Ende der vierten Rede selbst in die Reihe der großen Vorfahren ein. An dieser Stelle geht er bis zum zweiten punischen Krieg zurück, da er mit Scipio Africanus maior beginnt, dann Africanus minor, Aemilius Paullus, C. Marius und Pompeius anschließt. Die Verbindung all dieser Männer besteht in ihren militärischen Erfolgen, durch die sie das Reich geschaffen haben, wie es zu Ciceros Zeit besteht. Cicero weiß, daß er auf dem Gebiet der außenpolitischen Erfolge nichts vorzuweisen hat, fragt aber, ob es nun wichtiger sei, Provinzen zu erobern oder für die zurückkehrenden Sieger eine Heimat zu bewahren. Da er für sich das letztere Verdienst in Anspruch nimmt und seine Taten während des Consulats entsprechend gewürdigt wissen will, beansprucht er für sich einen Platz in der memoria der Nachwelt mit dem ihm gebührenden Anteil an laus und gloria.68 Nur merkt man seinen Argumenten an, daß sein Weg nicht die typische Art und Weise darstellt, sie zu gewinnen. Primär werden virtus und fortitudo auf außenpolitischem Gebiet bewiesen und daraus laus und gloria erworben. Cicero akzeptiert diese Normen, da er in seinen Reden permanent mit ihnen argumentiert. Für seine eigene Person sieht er aber noch die gerade angedeutete ‚neue‘ Möglichkeit, diese Ruhmestitel durch die Leistung innerhalb der res publica für sich selbst zu erlangen, wenn er für die großen Helden die Heimat bewahrt, damit sie überhaupt heimkehren können.
NACH DER RÜCKKEHR AUS DEM EXIL – CICEROS DANKADRESSEN AN VOLK UND SENAT In einer Art von zivilem Triumph – so sah er es jedenfalls – war Cicero Anfang September 57 v. Chr. aus der Verbannung zurückgekehrt. Er hatte bei seiner An-
68 Catil. 4,21: „Erit profecto inter horum laudes aliquid loci nostrae gloriae, nisi forte maius est patefacere nobis provincias quo exire possimus quam curare ut etiam illi qui absunt habeant quo victores revertantur.“ Siehe auch Rab. perd. 29f.: „Non est ita, Quirites; neque quisquam nostrum in rei publicae periculis cum laude ac virtute versatur quin spe posteritatis fructuque ducatur.“ Vgl. auch STINGER 1993, 299; zur cupiditas gloriae RECH 1936, 32; KROLL 1933, 45f.; HARRIS 1979/1991, 9ff.; DAHLHEIM 1995, 362; HÖLKESKAMP 2004, 91.
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kunft in Rom das Capitol erstiegen und dort den Göttern gedankt.69 Am 5. September hielt Cicero seine Dankesrede an den Senat, sehr bald darauf die an das Volk. Wegen der Größe des Gegenstandes habe er – wie öfters, aber m.E. fälschlich behauptet wird – die Senatsrede schriftlich ausgearbeitet und vorgelesen!70 Cicero griff in diesen Reden die Consuln des Jahres 58 v. Chr., Gabinius und Piso, scharf an. Außerdem erläuterte er die Gründe, die ihn veranlaßt hätten, das Feld 69 GELZER 1969, 149f. mit den Belegen. 70 Daß Cicero die Rede vorgelesen hat, entnimmt GELZER, 1969, 150, der Stelle Cic. Planc. 74: „... oratio quae est a me prima habita in senatu? In qua cum perpaucis nominatim egissem gratias, quod omnes enumerari nullo modo possent, scelus autem esset quemquam praeteriri, statuissemque eos solum nominare qui causae nostrae duces et quasi signiferi fuissent, in his Plancio gratias egi. Recitetur oratio, quae propter rei magnitudinem dicta de scripto est; in qua ego homo astutus ei me dedebam cui nihil magno opere deberem, et huius offici tanti servitutem astringebam testimonio sempiterno.“ Siehe auch SCHANZ-HOSIUS 1927, 428: „Die Rede wurde also gelesen.“ – Es geht um die Worte „oratio quae propter rei magnitudinem dicta de scripto est.“ Watts übersetzt in der Loeb-Ausgabe: „this speech …, for, in view of the importance of the occasion, it was delivered from manuscript.“ Die Übersetzung Fuhrmanns zu der zitierten Passage lautet: „… geht das nicht auch aus der Rede hervor, die ich sogleich nach meiner Rückkehr im Senat gehalten habe? Ich habe dort den wenigsten mit Nennung des Namens gedankt (es war ja unmöglich, alle aufzuzählen, und wäre schändlich gewesen, jemanden zu übergehen) und mich dafür entschieden, nur die zu nennen, die sich meiner Sache als Anführer und gewissermaßen als Bannerträger angenommen hatten: unter ihnen habe ich auch dem Plancius gedankt. Man lese die Rede vor; ich hatte sie wegen der Bedeutsamkeit der Sache, ehe ich sie vortrug, schriftlich abgefaßt – ich Schlaukopf habe mich dort an jemanden gebunden, dem ich nicht sonderlich verpflichtet war, und die Knechtschaft dieser großen Dankesschuld durch ein unvergängliches Zeugnis bekräftigt.“ – Ich halte das Verständnis GELZERs für unhaltbar, es wirft zu viele Fragen auf. Cicero hatte in jedem Fall, so übersetzt auch Fuhrmann, die Rede schriftlich ausgearbeitet. Daß zumindest ausformulierte Anträge im Senat vorgelesen wurden, belegen Sest. 129; Phil. 1,3; siehe auch Phil. 10,5. Wieso sollte Cicero das freie Wort im Senat scheuen? Die Rede vor dem Volk hat er am Tag darauf frei gehalten. Auf die Nennung einer großen Zahl von Männern, denen er zu Dank verpflichtet sei, hatte er ja absichtlich verzichtet, explizit noch einmal von ihm selbst gesagt in p. red. in sen. 30f. Angst, jemanden bei seinen Dankadressen auslassen zu können, kann eigentlich nicht im Spiel gewesen sein. – Ein Blick in den textkritischen Apparat der Standardausgaben OCT und BT ermöglicht eine plausible Lösung: „De scripto“ (auch Fuhrmann gibt den Text in der zweisprachigen Tusculum-Ausgabe in diesem Wortlaut heraus) haben nur drei Handschriften (die von den Editoren auch noch als deteriores bewertet werden), die übrigen überliefern descripta, ein Verschreiber von descripta zu de scripto ist gut nachvollziehbar, weil er schnell geschehen kann und zweitens ja auch noch einen bestimmten Sinn produziert. Läßt man das mehrheitlich überlieferte descripta stehen, ergibt sich folgendes Verständnis: Ciceros im Senat gehaltene Rede war wegen „der Größe der Angelegenheit“, seiner triumphalen Rückkehr nämlich, schriftlich „zu Papier gebracht“ (desripta), und zwar beim Vortrag (dicta) gleich protokolliert worden. Aus diesem Protokoll möge man nun vorlesen (recitetur), um damit offiziell unterstreichen zu können, daß der heimgekehrte Consular bereits damals im Senat den Plancius namentlich genannt hatte, weil dieser sich um ihn so verdient gemacht hatte. Die Rede selbst hat Cicero wie immer frei vor dem hohen Haus gehalten, er ist nicht mit dem Manuskript in die curia gegangen. – Siehe demnächst ausführlich und differenzierter FRANK BÜCHER, UWE WALTER, Mit Manuskript in den Senat? Zu Cic. Planc. 74 (im Druck für RhM).
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vor Clodius zu räumen. Dieser Mischung aus Selbstverherrlichungen, Schmähungen und überladen-manieristischem Ausdruck stellte die Literaturgeschichte kein positives Zeugnis aus.71 MACK hat die beiden Reden verglichen und deutliche Unterschiede zwischen Volks- und Senatsrede herausgearbeitet. Die Lebendigkeit und Intensität der Schilderung seien in der Rede, die Cicero an das Volk gerichtet hat, wesentlich größer als in der Senatsrede.72 Diese Beobachtung konnte auch für die bisher betrachteten Redenpaare vor Volk und Senat festgehalten werden. Eine tabellarische Übersicht weist für die beiden Reden folgende historische Verweise und exempla aus: Beispiel (zeitliche Einordnung) „maiores“ M. Antonius (cos. 99) „proscriptiones“/ leges Corneliae / Sullazeit Cn. Pompeius (cos. I 70) C. Sempronius Gracchus (tr. I 123 II 122) L. Appuleius Saturninus (tr. I 103 II 100 III 99) C. Marius (cos. I 107 II 104 II 103 IV 102 V 101 V 100 VII 86) Q. Caecilius Metellus Numidicus (cos. 109 cens. 102) Pluralnennung „Scipiones“ / „Africani“ Lucius Cornelius Cinna (cos. I 87 II 85 III 84) Publius Popilius Laenas (cos. 132) L. Caecilius Metellus Diadematus (cos. 117 cens. 115) Capua (wurde 216 abtrünnig und 211 ager publicus) Lucius Opimius (cos. 121) L. Catilina (63) C. Cornelius Cethegus Lex Aelia et Fufia (158 v. Chr.) Wortlaut des Senatsbeschlusses zur Rückholung Ciceros Q. Caecilius Metellus Celer (pr. 63, cos. 60, gest. 59) Metelli, praestantissimi cives Q. Caecilius Metellus (cos. 80) (Sohn von des Numidicus, hier auch nur als „Sohn“ apostrophiert) C. Caecilius Metellus Caprarius (cos. 113 cens. 102) Q. Caecilius Metellus Nepos (cos. 98) Pluralnennung „Luculli“ Pluralnennung „Servilii“ A. Postumius Albinus (cos. 99) INSGESAMT
p. red. in sen. 11,27
p. red. ad Quir. 11
8,33
38 25, 37ff. 37 9 37ff. 37 17
11 10 10 6, 9f., 19f. 6, 9f., 11 6 6, 9f. 6 11
10 10 11 24 25 25 37
6
37 37 37 37
6 6 6 6 11 21
23
71 SCHANZ-HOSIUS 1927, 427: „Die Rede ist weder in Komposition noch in Gedanken ein erfreuliches Produkt; die Selbstverherrlichungen und die Schmähungen gegen die Gegner stoßen mit ihrem überladenen Ausdruck in gleicher Weise. Aehnlich an Inhalt und Wortschwall ist die Rede oratio, cum populo gratias agit.“ 72 Das entspricht genau der in de orat. 2,338 formulierten Erwartung, daß man im Senat eher gemäßigt als einer von mehreren spreche, während die contio die größte Bühne sei; s. o. S.228.
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Vor dem Senat Die Senatsrede weist deutlich mehr prosopographische Details auf, weil Cicero sich auf ein größeres und detaillierteres Hintergrundwissen der Adressaten verlassen kann. Er nennt mehr einzelne Figuren aus der Vergangenheit, die teils sehr prominent, teils aber auch weniger bekannt waren. Mehrere Beispiele bringt er in beiden Reden, aber es gibt auch einen auffälligen Unterschied: Die Nennung der Gracchen erfolgt nur vor dem Volk. Ciceros Auswahl bleibt auf die Zeit des kommunikativen Gedächtnisses begrenzt, das älteste exemplum ist das des Tiberius Gracchus. Cicero dankt den Senatoren für ihr übereinstimmendes beispielloses Bemühen um seine Person. Manches Hindernis habe es aus dem Weg zu räumen gegolten, aber die hervorragende Haltung des Consuls P. Lentulus Spinther habe ihn letztlich doch gerettet. Cicero schildert die vorangegangenen chaotischen Zustände unter Clodius und den Consuln Gabinius und Piso. Dabei macht er dunkle Andeutungen über Proskriptionsängste.73 Zwei schlechte Consuln in einem Amtsjahr habe es sonst nur unter Cinna gegeben, zitiert Cicero ein Dictum des 61/60 verstorbenen Q. Lutatius Catulus, eines der wenigen übriggebliebenen ‚Alten‘ der Sulla-Generation. Cicero beschwört also mit zwei Stichworten (Cinna, proscriptio) die verheerenden Erinnerungen an das tempus Sullanum et Cinnanum herauf und setzt diese parallel zu den Ereignissen und Zuständen des Jahres 58 v. Chr. Die Invektive gegen die Consuln von 58 v. Chr. wird breiter ausgearbeitet. Gabinius habe sich schlimmer als ein Tyrann aufgeführt – damit greift Cicero das öffentliche Auftreten des Consuls an. Ähnliches gelte für die öffentlichen Auftritte Pisos, vor allem in Capua, „dem einstigen Sitz des Hochmuts“, und im Circus Flaminius, wo er offensichtlich seine Barmherzigkeit der Härte Ciceros, die er gegen die Catilinarier angewandt hatte, gegenübergestellt habe.74 Längere Ausführungen widmet Cicero dem Zustandekommen des Rückholbeschlusses. Der Consul habe dabei Worte gesprochen, die erst dreimal seit Gründung der Stadt formuliert worden seien.75 Weitere Erläuterungen hierzu unterläßt Cicero allerdings. Er referiert außerdem exempla, die von Lentulus bei seinen Reden Pro Tullio Cicerone angeführt worden waren. Lentulus habe die Metelli vom Acheron heraufbeschworen und in die Beratung einbezogen. Vor allem Metellus Numidicus sei erwähnt worden. Mit diesen kurzen Erinnerungen an Lentulus’ Rede läßt Cicero das Metellus-exemplum einstweilen auf sich beruhen.76
73 P. red. in sen. 12; vgl. 33. 74 Siehe p. red. in sen. 10–18, bes. 17: „Capua …, in qua urbe domicilium quondam superbiae fuit …“. Zur Invektive siehe auch MACK 1937, 32. 75 P. red. in sen. 24 mit Anm. 24 in FUHRMANNs Übersetzung. Die drei Rückberufungen könnten sich beziehen auf: Publicola (460 v.Chr.): Liv. 3,17 / Marius, Valerius (100 v.Chr.): Cic. Rab. perd. 20; Calpurnius Piso (67 v.Chr.): Cornel. Frg. 45 CRAWFORD. 76 P. red. in sen. 25.
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Er erwähnt dann zum Schluß seiner Rede eine ganze Reihe prominenter Rückholbeschlüsse mit einigen Details.77 P. Popilius und Q. Metellus seien aufgrund von tribunizischen Anträgen zurückgerufen worden, für sie sei kein Antrag im Senat gestellt worden. Für Cicero hätten sich dabei keine hochangesehenen consularischen Familienmitglieder einsetzen können, wie dies in Metellus’ Fall geschehen sei. Cicero erwähnt namentlich die Vettern des Numidicus, L. Metellus (cos. 117 v. Chr.) und C. Metellus (cos. 113 v. Chr.), sowie einen weiteren Vetter des Consuls von 117 v. Chr., Q. Metellus Nepos (cos. 98 v. Chr.), und natürlich den Sohn des Numidicus, der für seinen Einsatz den Beinamen Pius erhielt. Weitere wichtige und prominente Unterstützer früherer Verbannter nennt Cicero in Pluralnennungen, wenn er von den Luculli, Servilii und den Scipiones spricht. Auf derartige Familienbande und Helfer habe Cicero sich nicht stützen können. Seine größte Hilfe sei sein Bruder Quintus gewesen. Einen „dritten ehemaligen Consul in unserer Zeit“, der das Schicksal der Verbannung erlitten hatte, setzt Cicero an den Schluß: Marius, der „von den Stürmen der Politik“ vertrieben worden sei.78 Er wurde vom Senat in seinen vorherigen Stand wiedereingesetzt. Cicero unterläßt es aber, daran zu erinnern, daß dieser Rückholbeschluß unter Cinna zustande kam. Marius’ Heimkehr sei gewaltsam verlaufen, schließlich habe Marius den Senat beinahe komplett vernichtet. Auch an dieser Stelle erinnert Cicero an die brutalen Zeiten der 80er Jahren, die besonders für die Senatorenschaft traumatische Erinnerungen beinhalteten. Wie einzigartig, glanzvoll und friedfertig stehe all dem Ciceros Rückkehr gegenüber! Vor dem Volk Vor dem Volk erwähnt Cicero ebenfalls die drei berühmten Beispiele (Popilius, Numidicus, Marius).79 Er vergleicht dabei die Fürbitter für die jeweilige Rückkehr. Popilius habe Söhne im Jugendalter besessen, viele andere Verschwägerte und Verwandte hätten sich für ihn eingesetzt. Auch die Bittsteller im Fall des Metellus Numidicus erwähnt Cicero mit beinahe derselben Ausführlichkeit wie im Senat, allerdings fügt er bei den Namen Amtsbezeichnungen bei: L. Diadematus sei ein ehemaliger Consul und C. Metellus ein ehemaliger Censor gewesen, belehrt Cicero den populus. Die allgemeinen Pluralnennungen der unterstützenden Luculli, Servilii und den Scipiones kommen auch in der Rede vor dem Volk vor. Daß beide Rückberufungen durch Tribune bewirkt wurden, erwähnt Cicero ebenfalls. Schließlich erwähnt er Marius, den „dritten ehemaligen Consul in eurer und eurer Väter Zeit“, der die Heimat verlassen mußte. Cicero differenziert die Art 77 P. red. in sen. 37. 78 Cic. p. red. in sen. 38: „Nam C. quidem Marius, qui hac hominum memoria tertius ante me consularis tempestate civili expulsus est, non modo a senatu non est restitutus, sed reditu suo senatum cunctum paene delevit.“ 79 P. red. ad Quir. 6ff.
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von Marius’ Heimkehr: Marius sei nicht aufgrund einer Begnadigung gekommen, sondern habe sich selbst herbeigerufen und sei mitten im Verlaufe eines Konflikts mit Hilfe eigener Truppen zurückgekehrt.80 Was den Rang angeht, kann Cicero seine Fürbitter nicht auf dieselbe Stufe stellen, wie es bei den exempla der Fall war. Doch „... gebot ich immerhin – was ich mir durch meine Leistungen verschaffen mußte – über so viele Helfer, die meine Rückberufung betrieben und forderten, daß ich durch deren Rang und Zahl alle meine Vorgänger weit überragte.“81 Für keinen der angeführten Rückkehrer habe es je einen Senatsbeschluß gegeben, während Italien selbst Cicero dreimal durch seine Beschlüsse heimgerufen habe.82 Den vorherigen Rückkehrern seien stets ein gewaltsames Ende ihrer Feinde und ein Blutbad in der Stadt vorangegangen, während Cicero selbst von den Consuln, die jetzt ihre Provinzen verwalteten, vertrieben worden sei.83 Im Gegenzug seien – was bei den weiter zurückliegenden Beispielen nie der Fall gewesen sei – die Consuln im Falle Ciceros aufgefordert worden, über seine Rückberufung zu referieren und für sie zu arbeiten. Immerhin hätte im Falle des Metellus Numidicus Marcus Antonius, ein „homo eloquentissimus“, der Consul des Jahres 99 v. Chr. und Kollege des A. Postumius Albinus, sprechen können, aber nichts sei geschehen. Vor diesem Hintergrund ist die Tatkraft des Senats und allen voran des Consuls P. Lentulus Spinther Anlaß für deren höchstes Lob aus Ciceros Mund. Neben Spinther widmet sich Cicero vor dem Volk aber vor allem einem Mann, den er in besonderer Weise hervorhebt, weil dessen Unterstützung seinem eigenen Ansehen beim Volk besonderen Glanz verlieh: Pompeius ist der „zeitlose, alles Gewesene und noch Kommende überstrahlende Mann“.84 80 P. red. ad Quir. 7: „Nam C. Mari, qui post illos veteres clarissimos consularis, hac vestra patrumque memoria, tertius ante me consularis subiit indignissimam fortunam praestantissima sua gloria, dissimilis fuit ratio; non enim ille deprecatione rediit, sed in discessu civium exercitu se armisque revocavit.“ (Paraphrase nach FUHRMANN). 81 Übersetzung FUHRMANN von p. red ad Quir. 9: „... sic – illud quod mea virtus praestare debuit – adiutores auctores hortatoresque ad me restituendum ita multi fuerunt ut longe superiores omnis hac dignitate copiaque superarem.“ 82 So sagt er es vor dem Volke, aber damit bauscht Cicero die Vorgängerbeschlüsse, also vor dem Rückberufungsbeschluß durch die comitia centuriata, unverhältnismäßig auf. Pompeius hatte einen Beschluß der Colonie Capua bewirkt (siehe p. red. in sen. 29). Es gab ebenso eine Sympathiebekundung der Schreiber und weiterer Körperschaften in Italien (dom. 74f.); siehe die Anmerkung 43 zu FUHRMANNs Übersetzung der Rede. 83 Cicero spielt also auf den Tod des Tiberius Gracchus und den des Saturninus an. Damit zitiert er populare exempla. Es wären für ihn ganz andere Umstände gewesen, er sei ein von den Consuln Vertriebener. Die Argumentation Ciceros ist nicht ungefährlich. Die Consuln hatten ja vor allem Clodius gewähren lassen. Und Clodius hatte das Ende der Catilinarier, was Cicero hier ganz unter den Tisch fallen läßt, zu einem popularen Thema gemacht. Ciceros Fortgang war in der exempla-Kette Opimius – Numidicus folgerichtig. Ciceros ‚Absetzungsversuch‘ ist an dieser Stelle argumentativ schwach. 84 P. red. ad Quir. 16: „Cn. Pompeius, vir omnium qui sunt, fuerunt, erunt, virtute sapientia gloria princeps: qui mihi unus uni privato amico eadem omnia dedit quae universae rei publicae, salutem, otium, dignitatem.“
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Auch im Senat betont Cicero zum Abschluß das abschreckende exemplum des Marius, wobei er vor dem Volk darüber hinaus eine dramatische Geschichte von der Flucht seines Landsmanns aus Arpinum berichtet.85 Er habe ihn, als er sehr alt war, noch persönlich erlebt. Daß Cicero sich den Weg eben nicht eigenmächtig durch das Schwert zurückgebahnt habe, betont der Consular: „Ich aber werde mir meinen Feinden gegenüber nicht mehr herausnehmen, als mir das Wohl des Staates erlaubt.“86 Gemeinsamkeiten und Unterschiede Die inhaltlichen Parallelen und Gemeinsamkeiten dürften durch die summarische Beschreibung beider Reden deutlich geworden sein. Cicero setzt – bei unterschiedlicher Ausführlichkeit im einzelnen – ähnliche Schwerpunkte, er verwendet dieselben historischen Präzedenzfälle. Dies gilt vor allem für seine Äußerungen zur Einmaligkeit der Umstände seiner Rückkehr, also insbesondere für den Rückberufungsbeschluß.87 Aber es lassen sich bei der allgemeinen Anordnung der Argumente und ihrer inhaltlichen Ausdeutung doch verschiedene Tendenzen aufzeigen. Ciceros ‚Held‘ Lentulus erhält in der Senatsrede ein viel ausführlicheres Lob für seinen Einsatz, als es in der Rede vor dem Volk geschieht.88 In der Volksrede tritt Lentulus hinter die strahlende Persönlichkeit des überaus beliebten Pompeius zurück, den er als einzigartigen, alles Gewesene übertreffenden Menschen darstellt, was er im Senat vor den Standesgenossen natürlich so nicht formuliert. Cicero ruft den cives Romani Pompeius’ Rede ins Gedächtnis. Er referiert den Aufbau von dessen Ansprache und erinnert an die dramatischen Bitten, mit denen Pompeius den populus Romanus bestürmt habe.89 Einer seiner weiteren Helfer, sein Schwiegersohn C. Calpurnius Piso Frugi (Quaestor 58 v. Chr.), wird in der Rede vor dem Volk eher wenig erwähnt.90 Cicero wollte vor den Bürgern – abgesehen von der Person des Pompeius – vor allem die allgemeine Sehnsucht nach ihm selbst, die den populus, ja ganz Italien erfaßt habe, und damit die Besonderheit seiner Rückkehr unterstreichen. Im Senat schildert er die Bemühungen seiner Verwandten ausführlicher und bedankt sich mit namentlicher Nennung bei den federführenden Magistraten.91
85 P. red. ad Quir. 20. 86 Übersetzung FUHRMANN zu p. red. ad Quir. 21: „... ego de ipsis inimicis tantum quantum mihi res publica permittit cogitabo.“ 87 MACK 1937, 23f. 88 Cic. p. red. in sen. 8ff.; 24ff. 89 P. red ad Quir. 17, siehe auch MACK 1937, 28f. 90 Vgl. MACK 1937, 24f. 91 Cic. p. red. in sen. 19ff.
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Ein sprachlich auffälliger Unterschied kommt bei den konkreten historischen exempla zum Tragen. Cicero fügt den Verbannten nur in der Volksrede die rühmenden Epitheta bei, im Senat aber verzichtet er darauf.92 Wie stand es um die Kenntnis der Zusammenhänge, in welche die exempla einzubetten sind? Cicero spricht vor dem Volk über Marius wie über einen ‚Volkshelden‘. Marius’ gewaltsame Rückkehr ist bekannt; Cicero spricht auch konkret davon: Sie habe sich vor allem gegen die Senatoren gerichtet: „opresso senatu est restitutus“.93 Daß Marius aber auch antipopulare Politik betrieben und im Zuge des senatus consultum ultimum im Jahre 100 v. Chr. Saturninus und Glaucia bekämpft hat, scheint für das Zitat des Marius-exemplum in der Volksrede kein Problem dargestellt zu haben, vielleicht weil man an den antipopularen Marius nicht erinnerte.94 Dieselbe Frage stellt sich für Popilius. Er war einer der führenden Gegner des Tiberius Gracchus und seiner Anhänger, die er als Consul von 132 v. Chr. hart bestrafte. 123 v. Chr. wurde er von Gaius Gracchus ins Exil gezwungen. Cicero erwähnt die Geschichte seiner Rückkehr vor dem Volk ohne Rücksicht auf die Botschaft des exemplum, so daß man davon ausgehen muß, daß auch bei diesem Beispiel keine allgemeine Kenntnis der historischen Vorgänge vorauszusetzen ist. Cicero erwähnt sogar, daß Popilius aufgrund einer tribunizischen Initiative zurückgeholt wurde.95 Im Senat stellt der Consular die exempla Popilius, Numidicus und Marius eher gegeneinander als in einer ungebrochenen Kette hintereinander. Marius’ Rückberufung sei nicht in Ordnung gewesen, die der beiden ersten dagegen schon. Im Senat dient das Beispiel des Marius Cicero insbesondere dafür, sich von Marius abzusetzen. Jeder wußte im Senat, daß Marius bei seiner Rückkehr ein schlimmes Blutbad unter den Senatoren angerichtet hatte.96 „Damit spricht er Marius die eigentliche politische Haltung ab, die bestimmt ist durch die Rücksichtnahme auf die politischen Notwendigkeiten und die Existenz und das Leben römischer Bürger.“97 Die Rückkehrerbeispiele haben je nach Zuhörerkreis verschiedene Bedeutung. Im Senat kann man wohl mit der konkreten Kenntnis der historischen Zusammenhänge viel eher rechnen, als dies in der Volksrede der Fall gewesen sein dürfte. Außer dem prominenten Namen scheint hier keine weitere politische Botschaft am exemplum zu haften, sonst könnte Cicero sie in diesem Zusammenhang kaum so verwenden, wie er es hier tut. 92 P. red. ad Quir. 6: Popilius: clarissimus ac fortissimus vir; Q. Metellus: nobilissimus et constantissimus civis; C. Marius: custos civitatis atque imperi vestri. MACK 1937, 31, vermutet, von Popilius und Numidicus mit solchen Epitheta zu sprechen, bedeutet im selben Atemzug einen Vorwurf an den Senat, die Verbannung solcher Männer überhaupt zugelassen zu haben. Daß man im Senat von Marius so nicht sprechen konnte, versteht sich von selbst. 93 Cic. p. red. ad Quir. 10. 94 MACK 1937, 31 mit Anm. 74. 95 Cic. p. red. ad Quir. 9. 96 P. red. in sen. 38: „... sed reditu suo senatum cunctum paene delevit ...“. 97 MACK 1937, 31.
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Aber Cicero will ja mit diesen Reden keine Abstimmungen in seinem Sinne beeinflussen. Einmal mehr verargumentiert er Geschichte für seine eigene Person, für seine Position als Handelnder in der politischen Klasse: Das, was ihm widerfahren sei, hätten bereits andere vor ihm erlitten. Dies sei gar nicht so lange her, ‚unsere und unserer Väter Erinnerung‘ kennten diese Fälle. Doch von diesen Heimkehrer-exempla setze sich Cicero gleich mehrfach ruhmreich ab.98
VOR SENAT UND VOLK FÜR SENAT UND VOLK – CICEROS DRITTE UND VIERTE PHILIPPICA Im Dezember des Jahres 44 v. Chr. stand Cicero wieder und zum letzten Mal in seinem politischen Leben im Zentrum des Geschehens. Nach der Ermordung Caesars schien es ihm möglich, die res publica wieder zum Leben erwecken zu können – waren doch die Verschwörer an den Iden des März mit dem Ruf von Ciceros Namen aus der Curia herausgetreten und wollten damit programmatisch eine der führenden republikanischen Persönlichkeiten ins Zentrum rücken. Cicero nahm diesen Kampf für und um die res publica an. Es gab einen neuen Hauptfeind, Antonius, und einen neuen Freund, Caesar Octavian. Der Consular legte sich auf den Caesarerben fest. Den Jüngling glaubte Cicero mit leichter Hand lenken zu können.99 Der Kampf ging gegen Antonius, wovon die philippischen Reden Zeugnis ablegen. Noch im Oktober war Antonius in Rom gewesen, hatte sich dann aber, nachdem er die Stadt verlassen hatte, nach Norden begeben und belagerte D. Brutus in Mutina. Octavian hatte mittlerweile selbstherrlich ein Heer aufgestellt, obwohl er dazu in keiner Weise berechtigt war. Cicero weiß um diese Schwierigkeit und versucht in der dritten Philippica, im nachhinein Octavians Handeln zu legitimieren. Unmittelbar nach der Senatssitzung vom 20. Dezember 44 v. Chr. schließt sich das Referat Ciceros über die Senatsverhandlungen an die äußerst zahlreich – diesen Eindruck jedenfalls erweckt der Redetext der vierten Philippica – versammelten Bürger Roms an. Cicero spricht als privatus zu den Bürgern; die contio hatte der frisch im Amt befindliche Volkstribun Servilius einberufen. Eine tabellarische Übersicht über die angeführten exempla sieht wie folgt aus:
98 Vgl. zu Ciceros Selbststilisierung p. red. in sen. 34 und p. red. ad Quir. 1; weiterhin MACK 1937, 21. 99 Cicero und die Iden des März: GELZER 1969, 325 mit Belegen – Die Autorschaft einer allerdings erst später gefallenen Aussage, die Octavian sehr erbost haben soll, bestritt der Consular. Angeblich meinte Cicero über Octavian: „... laudandum adulescentem, ornandum, tollendum ...“, Cic. fam. 11,20,1; vgl. FUHRMANN 1992, 297.
REDEN VOR VOLK UND SENAT
Beispiel (zeitliche Einordnung) „maiores“ Gallier (387 ) Zerstörung Karthagos (146) Krieg gegen Numantia (143–133) Tarquinius Superbus (bis 510) L. Catilina (63) Königszeit Bruti Spartacus (73–71) C. Iulius Caesar L. Iunius Brutus (cos. 509) M. Iunius Brutus (pr. 44) Marcus Antonius (cos. 44) C. Iulius Caesar Octavianus Aricia (Geburtsort von Octavians Mutter) Eroberung ganz Italiens INSGESAMT
Phil. III (Senat) 8,16,29 20
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Phil. IV (Volk) 13f. 13 13
9ff. 18 9 21 [11] 17 9,11 8 9ff.,34 15 15f. 16
15 7 15
3 13 8
Vor dem Senat Octavian ist der Retter! Das müssen sich die Senatoren vor Augen halten, wenn sie heute tagen. Der zornige Antonius hätte sich keine Art von Greueln entgehen lassen, wäre er nach seiner Landung in Brundisium „grausam und unheilvoll“ wieder zurückgekehrt.100 Hierin ist sicherlich eine Anspielung auf mögliche Proskriptionen zu sehen, denn Antonius wäre ja mit einem Heer gekommen. Jetzt, da Octavian handle – und dieses Handeln sollte man belobigen und für Rechtens erklären –, sei es endlich wieder erlaubt, über den Staat zu sprechen. Einen anderen Verteidiger des Vaterlandes gelte es ebenfalls zu würdigen: D. Brutus will Oberitalien „für Volk und Senat von Rom zur Verfügung halten“.101 Er sei eben ein Brutus, „eingedenk seines Namens und treu dem Beispiel der Vorfahren“.102 Die Königsvertreibung führt Cicero etwas näher aus, weil er im folgenden den Vergleich zwischen Antonius und Tarquinius Superbus zieht, der (natürlich) zuungunsten des Antonius ausfällt. Es handelt sich um eine der wenigen Stellen, an denen Cicero einen Vergleich zur Königszeit zieht. Damit möchte er wohl die exzeptionelle Situation markieren und Antonius als den römischen Antirepublikaner par excellence hinstellen. Offenbar konnte Cicero auch dann auf 100 Cic. Phil. 3,3: „... cum maxime furor arderet Antoni cumque eius a Brundisio crudelis et pestifer reditus timeretur …“. Cicero berichtet im folgenden von Mordbefehlen des Antonius, die er an römischen Bürgern hätte durchführen lassen. 101 Phil. 3,8: „Pollicetur enim se provinciam Galliam retenturum in senatus et populi Romani potestate.“ 102 Ibd.: „O civem natum rei publicae, memorem sui nominis imitatoremque maiorum!“
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VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE
Verständnis, gar auf Akzeptanz hoffen, wenn exempla dieser Epoche ansonsten selten aufgerufen wurden. Die Vorfahren hätten den Stolz des Tarquinius nicht ertragen können – immerhin habe er nicht den Beinamen „der Grausame“ oder „der Frevler“ erhalten –, L. Iunius Brutus sei seinerzeit gegen „den Stolzen“ vorgegangen. Kann man Antonius mit Tarquinius Superbus vergleichen? Wenn man es tut und vor allem die jeweilige Behandlung des Senats betrachtet, dann schneidet Antonius in Ciceros Beurteilung denkbar schlecht ab. Unter dem Consul Antonius befänden sich „bewaffnete Barbaren“ im Senat.103 Dagegen hätten die Könige den Senat geachtet. Sie hätten auch die Vorzeichen beachtet, Antonius treibe dagegen Schindluder mit dem Willen der Götter, wenn er einem Kollegen durch erfundene Vorzeichen zu einer fehlerhaften Wahl verhelfe. „Nichts Niedriges, nichts Schmutziges ist uns von Tarquinius überliefert.“104 Dieser Aussage stellt Cicero die Schilderungen von den Zuständen in Antonius’ Lager entgegen. Im Gegensatz zu Antonius habe Tarquinius keine Todesstrafen verhängt. Die Klimax des Vergleichs mündet in der Feststellung: Tarquinius sei für das römische Volk ausgezogen, Antonius führe Krieg gegen die Republik. Antonius habe schon einmal die Absicht verfolgt, Königsmacher sein, als er im Amt des Consuls die res publica in eine Monarchie habe umwandeln wollen.105 Damit spielt Cicero auf das Lupercalienfest am 15. Februar 44 v. Chr. an, als Antonius Caesar das Königsdiadem antrug. Wenn man nun Ciceros vergleichende Skizze als Maßstab für die Taten des Decimus Brutus anlegt, dann wird die Vorbildlichkeit seines Handelns deutlich. Von D. Brutus habe das römische Volk einen größeren Dienst teils bereits empfangen – eine Anspielung auf die Ermordung Caesars, an der Decimus beteiligt war –, teils noch zu erwarten, nämlich die Tötung des Antonius, eines Feindes, der schlimmer sei als Tarquinius und dessen Vernichtung ein größeres Verdienst als das des L. Brutus bedeute. Längere Passagen widmet Cicero dem Lob Octavians, den Antonius in Verlautbarungen angegriffen habe, u.a. wegen seiner Herkunft. Der Consular stellt sich mit breiter Brust vor den jungen Mann: „Haben wir unter unserer Jugend ein glänzenderes Beispiel für die alte Sittenstrenge?“106 An seiner Herkunft könne es ernsthaft nichts zu deuteln geben. Er stamme aus Aricia wie die Antragsteller wichtiger Gesetze: Cicero nennt die Voconischen und die Atinischen Gesetze.107 103 104 105 106
Phil. 3,9: „... barbari armati …“. Phil. 3,10: „Nihil humile de Tarquinio, nihil sordidum accepimus.“ Phil. 3,11f. Übersetzung FUHRMANN zu Phil. 3,15: „Quod in iuventute habemus illustrius exemplum veteris sanctitatis?“ – Die Vokabel sanctitas ist schwer zu übersetzen, der GEORGES bietet s.v. sanctitas u.a. folgende Bedeutungen: die Heiligkeit, die Frömmigkeit, Tugend, die Ehrlichkeit, die Züchtigkeit. FUHRMANN entscheidet sich für die „Sittenstrenge“. Octavian könnte auch als Beispiel der Frömmigkeit eines Sohnes gegenüber seinem Vater aufgefaßt werden. 107 Quintus Voconius Saxa (tr. pl. 169 v.Chr.) rogierte ein berühmtes, u.a. von Cato empfohlenes Plebiszit de mulierum hereditatibus. Die Anspielung auf C. Atinius Labeos’ lex Atinia ist dunkel, siehe ADOLF BERGER RE 12,2, 1925, 2331–2335 s.v. Lex Atinia de rebus subreptis,
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Insgesamt stammten von hier zahlreiche curulische Amtsträger „zu unserer Väter Zeit wie auch zu unseren Zeiten“. In seinen Verlautbarungen schimpfte Antonius den Caesarerben auch als „Spartacus“, diesen Vorwurf traue er sich vor dem Senat jedoch nicht zu wiederholen.108 Einer der beiden Kontrahenten sei ein Staatsfeind,109 und für Cicero ist aufgrund der Handlungen und der dahinter aufscheinenden Absichten eines klar: Octavian ist der Retter, Antonius der Zerstörer des Vaterlandes. In absichtsvoller Eindeutigkeit trennt Cicero den Caesarerben vom tyrannischen Adoptivvater, um an seiner Integrität keine Zweifel aufkommen zu lassen.110 Über die Familie des Antonius zieht Cicero dagegen boshaft her. Angriff scheint für ihn die beste Verteidigung zu sein, und daher erwähnt er besonders die Familie von Antonius und zählt mehrere ihrer – nach seiner Darstellung – schwachsinnigen Mitglieder aus der letzten Generation auf.111 In seinen politischen Pamphleten agitierte Antonius gegen Cicero mit der Tötung der Catilinarier. Cicero selbst sah zwei mögliche Lesarten und unterstellte damit Antonius, er wisse gar nicht, was er sagen wolle. Die Erinnerung an Catilina könne zum einen Lob für Cicero aus Antonius’ Munde bedeuten, wenn dieser den Mitbürgern dieselbe Strafe androhe, „die ich über die gefährlichsten Verbrecher verhängt habe.“ Denn damit nehme er sich ja Cicero zum Vorbild. Die zweite Lesart gehe in die entgegengesetzte Richtung: „Wenn er hingegen die Erinnerung an diese herrliche Tat auffrischt, dann hofft er wohl, damit bei Seinesgleichen einigen Haß gegen mich aufzurühren.“112 Cicero erinnerte an die Senatssitzung vom 28. November, zu der Antonius geladen hatte. Antonius habe den Weg zum Tempel auf dem Capitol durch den „Galliergang“ erklommen. Dieses Stichwort, das Cicero gar nicht weiter erläutert, bezieht sich auf das Jahr 387 v. Chr., als die Gallier Rom einnahmen und nachts versucht haben sollen, durch einen Seitenaufgang auch das Capitol einzunehmen, was aber verhindert wurde, weil die Wachtposten durch das Schnattern der Gänse aufmerksam gemacht wurden.113 Antonius wird hier mit einem ausländischen Staatsfeind gleichgesetzt, der verstohlen und listig ins Herz des römischen Reiches eindringt. Damit grenzt Cicero ihn ein weiteres Mal aus dem Bürgerverband aus.
108 109 110 111 112
113
dort 2331: „Der Zusammenhang der L.A. mit Aricia, den Cic. Phil. 3,6,16 anzudeuten scheint, ist nicht bekannt.“ Phil. 3,23. Phil. 3,21: „Necesse erat enim alterutrum esse hostem.“ Phil 3,27: „O C. Caesar – adulescentem appello – quam tu salutem re publicae attulisti.“ Phil 3,16. Cic. Phil. 3,18: „Cum idem supplicium minatur optimis civibus quod ego de sceleratissimis ac pessimis sumpserim, laudare videtur, quasi imitari velit.“ / „Cum autem illam pulcherrimi facti memoriam refricat, tum a sui similibus invidiam aliquam in me commoveri putat.“ (Übersetzung FUHRMANN). Phil. 3,20; vgl. Caecin. 88.
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Der Feind heißt eindeutig Antonius, ihn gelte es zu bekämpfen. So wie er das hohe Haus behandelt habe, sei er unerträglich, schlimmer als der letzte König. Die Geschichte scheine in einer Art Ringkomposition ihre Bestätigung zu finden, wenn es nun wieder ein Brutus sei, der einmal mehr um die Freiheit gegen die dominatio des Antonius kämpfe.114 In diesem Kampf gehe es also um die Rückgewinnung der Freiheit (libertas), „das Kennzeichen des römischen Wesens und Namens“. Für dieses Ziel „wollen wir [Senatoren] die Entschlossenheit und den Mut unserer Vorfahren zeigen.“ Freiheit oder Tod, alles andere bedeute dominatio und servitus – einen Kompromiß kann es mit Antonius nicht geben.115 Vor dem Volk Die contio, die sich an die Senatssitzung unmittelbar angeschlossen hatte, war sehr gut besucht.116 Die Stimmung scheint recht aufgewühlt gewesen zu sein, Cicero reagierte wiederholt auf die Rufe, den Applaus und die empörten Reaktionen der Zuhörer.117 Mit seinen Äußerungen schürte der Redner die gegenwärtige Stimmungslage mehr, als daß er sie beruhigte – was durchaus in seinem Sinne war.118 Die Senatoren und das römische Volk könnten am Ende des heutigen Tages wieder zuversichtlich in die Zukunft schauen, alle sind „nach langer Zeit in Hoffnung auf Freiheit entbrannt“, lauten die feurigen Schlußworte Ciceros.119 Die libertas steht am Ende seiner Ausführungen, sie muß verteidigt werden. Es geht also einmal mehr um Grundsätzliches. In seiner Rede entwirft Cicero die Kampflinien: Antonius sei der Feind; der Verteidiger der libertas sei dagegen der Jüngling Octavian, der sich anschicke, den Staat zu retten. „Quiriten, nichts Derartiges habe ich der Überlieferung aller Jahrhunderte entnehmen können.“120 Ein weiterer Gegner des Antonius müsse gerade am heutigen Tag, an dem sein Brief im Senat angekommen sei, genannt und gelobt werden. D. Brutus habe dem Senat mitgeteilt, daß er seine Provinz gegen die widerrechtliche Anordnung des Antonius für das römische Volk verteidigen und sie ihm bereithalten werde. In diesem Fall kann Cicero sehr gut auf die ‚Nemesis des Namens‘ und die familiale Tradition des Decimus Brutus zurückgreifen. Das Geschlecht der Bruti sei für die Römer ein Geschenk der Götter, um „die Freiheit des römischen Volkes
114 Phil. 3,34: „... libertas propria Romani et generis et nominis ...“ / „... patres conscripti, patrium animum virtutemque capiamus …“. 115 Phil. 3,29. 116 Phil. 4,1: „... frequentia incedibilis, tanta contio ...“. 117 Zum Beispiel Phil. 4,3; 5; 7; 8. 118 MACK 1937, 50: „Vom ersten Moment an besteht zwischen Cicero und seinen Zuhörern der engste Konnex.“ 119 Cic. Phil. 4,16: „… longo intervallo … ad spem libertatis exarsimus.“ 120 Phil. 4,3: „... Quirites, nihil ex omnium saeculorum memoria tale cognovi.“
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sei es zu begründen, sei es wiederherzustellen.“121 Die zustimmenden, „einmütigen“ und „zweifelsfreien“ Reaktionen der Quiriten auf den Bescheid des Brutus erklärt Cicero damit, daß es eben die Aufgabe eines Brutus war und ist, für die libertas einzutreten. Er führt also indirekt das exemplum der Königsvertreibung an, das die Familie der Iunii Bruti auszeichnete. Nichtsdestoweniger weiß Cicero, daß es im Kern um eine Spaltung innerhalb der res publica, um einen Bürgerkrieg geht. Also bemüht er sich, Antonius als einen Mann hinzustellen, der aufgrund seiner Handlungen seinen Bürgerstatus regelrecht aufgekündigt und verloren habe. Noch nie sei der „consensus“ zwischen Volk und Senat so groß gewesen wie gerade heute.122 Cicero macht seinen Zuhörern klar: Es gehe in dieser Auseinandersetzung um die libertas und damit um das Ganze, was „eure“ maiores „euch“ hinterlassen hätten. Die Vorfahren hätten zuerst ganz Italien besiegt, dann Karthago zerstört, Numantia vernichtet. Sie hätten die mächtigsten Könige und die kriegerischsten Völker botmäßig gemacht. Und Grundlage für alle diese Erfolge sei im besonderen Maße die „Tapferkeit“ gewesen, die man auch jetzt wieder zeigen müsse. Die Rahmenbedingungen ließen den bevorstehenden Kampf als machbar erscheinen. Denn die Vorfahren kämpften immer gegen einen Feind, hinter dem ein Staatswesen stand. Jedoch ohne irgendeinen Rückhalt greife nun Antonius die res publica an.123 Antonius, dieser „Spartacus“, rühme sich selbst gerne, Catilina zu ähneln. Für einen erfolgreichen Kampf gegen einen Catilina könne es aber keinen besseren Garanten geben als den Consular, der gerade zu den cives Romani spreche. Mit Cicero an führender Stelle sei es den Quiriten gelungen, Catilina auszutilgen – das Beispiel der Durchsetzungsfähigkeit und Bewährung sei gegeben, weil damals alle zusammengehalten hätten: Mit den Worten „mea diligentia“, „auctoritate senatus“, „vestro studio et virtute“ harmonisiert Cicero die Erledigung der damaligen Catilina-Krise.124 Verschiedene Wege führen zum selben Ziel – Cicero will den Kampf gegen Antonius Die ideologische Grundaussage, es gehe im Kampf gegen Antonius um dominatio versus Bewahrung der libertas, ist in beiden Reden enthalten. Im Senat schildert Cicero eher die schäbige und feindselige Behandlung des hohen Hauses durch Antonius,125 während er vor dem Volk stärker die Verpflichtung gegenüber den 121 Phil. 4,7: „Est enim quasi deorum immortalium beneficio et munere datum rei publicae Brutorum genus et nomen ad libertatem populi Romani vel constituendam vel recipiendam.“ 122 Phil. 4,12. 123 Ibd. 14. 124 Ibd. 15. Mit diesen Worten macht Cicero sich selbst zum exemplum. 125 Phil. 3, 15–27. Die Senatoren waren Cicero gegenüber kritisch und distanziert eingestellt. Er hatte hier längst nicht so leichtes Spiel wie vor dem Volk, siehe MACK 1937, 51ff.
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Vorfahren unterstreicht. Die Herkunft des Antonius zu diskreditieren, unternimmt Cicero nur im Senat. Unter den Standesgenossen ist das Argument der Familie, ihrer Tradition, ihres Ranges unmittelbar wirksam, denn darin vergleicht man sich im ordo senatorius ja ganz wesentlich. Vor dem Volk unterläßt Cicero diesen Angriff, weil es für diese Zuhörerschaft nicht so sehr von Belang war.126 Den Senatoren deutet er brutalsten Mord und Totschlag an, wäre Antonius nach Rom gekommen – der Begriff der proscriptio fällt allerdings nicht. Solch düstere Drohungen läßt er vor dem Volk weg. Allerdings hämmert er den Bürgern die erfolgreiche Abwehr der Gefahr durch Octavians Rettungstat ein.127 Beide Male kommt das Brutus-exemplum vor, im Senat präziser und mit den Namen einzelner Figuren, vor dem Volk eher durch allgemeine Andeutungen. Nur im Senat deutet er auf die Tötung Caesars, vor dem Volk läßt er die Person Iulius Caesar ganz aus dem Spiel. Zu den Bürgern spricht Cicero von der überwältigenden Übereinstimmung von Volk und Senat, die göttliche Unterstützung zeige sich durch prodigia und portenta, die Cicero erwähnt.128 Dieses Konsensargument und die religiösen Vorzeichen unterdrückt er vor den Standesgenossen, vielleicht weil der Glaube an solche Zeichen sich in diesen Kreisen in recht engen Grenzen hielt, wie es das berühmte Schlagwort des Augurenlächelns erkennen läßt. Zur Legitimierung der Handlungen Octavians macht er im Senat längere Ausführungen als vor dem Volk. Beide Male hebt er den Jüngling geradezu in den Himmel; er umgeht es vollständig, die problematischen Seiten dieses Handelns wenigstens anzureißen, was aber im Umfeld der Debatte im Senat sicher der Fall gewesen ist. Andere Streitpunkte waren natürlich das selbstherrliche Vorgehen des Decimus Brutus und der Abfall der Mars-Legion sowie der legio quarta.129 In beiden Reden will Cicero Antonius aus dem Bürgerverband ausgrenzen und so einen gerechten Krieg, ein bellum iustum, gegen einen im Prinzip barbarischen Feind führen. Seine Argumente stützt er, indem er den Senatoren eine Kette erst kurz zurückliegender rechtlicher Verfehlungen des Antonius ins Gedächtnis ruft.130 Weiterhin zieht er einen von der Sache und Länge her untypischen Vergleich mit dem König Tarquinius Superbus. Der Vergleichspunkt ist klar: Durch die Vertreibung der Könige konnte der Senat werden, was er ist. Antonius, der Antirepublikaner, gefährdet den Senat in seiner Funktion, seiner Existenz und seiner Bedeutung. Antonius muß bekämpft werden. 126 MACK 1937, 67: „Sie [die Diskussion über Antonius’ familiärer Abkunft, F.B.] konnte nur wirken, wo der Redner intime persönliche Kenntnis der betreffenden Familien voraussetzen durfte und wo sich mit jedem Namen, den er nannte, auch sofort bestimmte und klare Vorstellungen verbanden.“ 127 MACK 1937, 58f. 128 Phil. 4,10; MACK 1937, 57. 129 Siehe auch MACK 1937, 50,54f. Während Cicero vor dem Volk eine falsche Darstellung der Tatsachen auch im Hinblick auf die militärische Situation abgibt, skizziert er im Senat die strategischen Optionen korrekt; vgl. ibd. 70f. 130 MACK 1937, 65; 68.
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Dem Volk flößt Cicero einerseits Angst ein: Antonius, „dieses verbrecherische und frevelhafte Scheusal“ wolle cruor, caedes, trucidatio.131 Aber andererseits macht er die cives nicht zu verängstigten Hilfesuchenden, sondern läßt sie die Entscheidungen in einem Stakkato von Frage und Antwort geradezu selbst fällen:132 Gegen Antonius muß die res publica sich zur Wehr setzen und kämpfen. Den Vergleich mit einem König läßt Cicero vor dem Volk ganz weg, des öfteren erklärt er Antonius zum hostis, wofür er Beifallstürme erntet.133 Aber dies ist letztlich nur ein rhetorischer Trick, den Begriff des formellen Verfahrens der hostis-Erklärung anzubringen und damit etwas zu suggerieren, was in Wirklichkeit gar nicht stattgefunden hat. Cicero erinnert in der Volksrede an das relativ zeitnahe ‚Ungeheuer‘ Catilina und kann vor dem Hintergrund dieser Reminiszenz seiner Zuversicht im Kampf gegen Antonius Grund und Boden geben. Antonius ist kein Consul, er ist kein Römer mehr, er ist, wie er ja selbst gerne sage, ein Catilina. Und Leute wie Catilina müssen bekämpft werden. Führer in diesem Kampf ist der bewährte CatilinaBezwinger Marcus Tullius Cicero. Insgesamt lenkt Cicero mit scheinbarer Leichtigkeit und raffinierter Psychologie seine jeweilige Zuhörerschaft in seinem Sinne. Er möchte ein Mandat zum Kampf gegen den Consul des Jahres 44 v. Chr.
131 Cic. Phil. 4,12: „Nullus ei ludus videtur esse iucundior quam cruor, quam caedes, quam ante oculos trucidatio civium. Non est vobis res, Quirites, cum scelerato homine ac nefario, sed cum immani taetraque belua quae, quoniam in foveam incidit, obruatur.“ Siehe auch MACK 1937, 70. 132 Vgl. besonders Phil. 4, 5–10. 133 Phil. 4,1–9.
7. PROMINENTE FIGUREN DES KOMMUNIKATIVEN GEDÄCHTNISSES Marcus Porcius Cato – ein Bild von einem Römer Catos Lebenszeit ragt – von Cicero aus gesehen – nur gerade zum Ende (gest. 149 v. Chr.) in den Bereich des kommunikativen Gedächtnisses hinein, seine res gestae, die ihn zum exemplum machen, sind eigentlich älter. Da er aber noch im höchsten Alter öffentlich wirksam war und dies auch erinnert wurde, kann man ihn auch den jüngeren exempla beizählen. Dennoch nimmt er als verbindendes Glied zwischen kulturellem und kommunikativem Gedächtnis eine besondere Position ein. Zunächst folgt ein stichwortartiger Überblick über die Verweise: Div. in Caec. 66: Da Spanien in seinem Consulat sein Einsatzbereich war, stellte Cato sich schützend vor ‚seine‘ Spanier. Dazu trug er Streitigkeiten mit Standesgenossen aus, ein „clarissimus vir “. Verr. 2,2,5: M. Porcius Cato Sapiens, nannte Sizilien „Vorratskammer des Staates und Ernährerin des römischen Volkes, auch in schwierigen Zeiten“. Verr. 2,3,160;209: (160) Verres hatte seinen Sohn mitgenommen, wie sollte er da nicht selbst auf Abwege geraten? Selbst ein Cato hätte so einem schlechten Einfluß nicht standhalten können. (209) Catones als Beispiel in einer Beispielreihe für auctoritas und weitere Kardinaltugenden. Verr. 2,4,22: M. Porcius Cato nur als Verwandter des C. Cato, Consul von 114 v. Chr. genannt; dieser C. Cato war verurteilt worden, weil er Messana schlecht behandelt hatte. Verr. 2,5,180: Cicero beschreibt seine Lage in der Adelsgesellschaft: Cato u.a. als homo novus genannt, „sapientissimus et vigilantissimus“, „cum virtute“, „usque ad summam senectutem summa cum gloria vixit“. Leg. agr. 2,64: Cato in einer exempla-Reihe für Klugheit und Mäßigung im öffentlichen wie im privaten Leben. Rab. perd. 13: Cicero nennt die lex Porcia: Schutz für römische Bürger vor Prügelstrafe. Mur. 17,32,59,66: (17) exempla-Reihe von homines novi; (32) Krieg gegen Antiochos geführt von Cato und Scipio Asiaticus und Africanus minor; aus „monumentis veterum rerum“ erkenne man, daß dies der größte Krieg gewesen sei; (59) M. Porcius Sapiens führte Klage gegen Servius Sulpicius Galba („in posterium prospiciens“); (66) Cato gehörte zu einem Kreis gebildeter und charakterfester Römer (Scipio minor, C. Laelius, L. Philus, C. Gallus), daher sei er ein „ad imitandum propositum exemplar“. Sull. 23: Cato kam – wie Cicero – als homo novus auch aus einem municipium. Arch. 15,22: (15) Lob der Alten, darunter war Cato der gebildetste Mann („illis temporibus doctissimus“) neben Scipio minor, C. Laelius, L. Furius. (22) Ennius hob Cato in den Himmel. Catos Urenkel sei heute bei Gericht anwesend. Planc. 20,66: (20) Cato war ein berühmter Vorfahre aus dem Ort Tusculum (exempla-Reihe); (66) Maxime des Cato: Große Männer mußten auch über ihr otium Rechenschaft ablegen, das habe Cicero in Catos Origines gelesen und sich selbst darauf verpflichtet.
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Mit dem älteren Cato verbindet Cicero ein wesentliches Element seiner politischen Karriere: Beide waren homines novi. Entsprechend führt er ihn mehrfach in einer Reihe von homines novi an, an deren Ende Cicero seinen eigenen Namen setzt.1 Erstmalig führt Cicero Cato im Verres-Verfahren an. In den folgenden Jahren nennt er ihn nicht als exemplum. Mit dem Jahr 63 v. Chr. ändert sich dies. In dieser Zeit drängte immer mehr der Urenkel des Cato maior, der jüngere Cato, in das Licht der Öffentlichkeit, der sich seinen Urgroßvater sehr stark zum Vorbild nahm. Damit gewann die Figur Catos offensichtlich wieder an Präsenz.2 Cato erscheint in verschiedenen Rollen als exemplum: In der Regel betont Cicero seine sapientia und nennt ihn immer wieder einen „sapiens“. Er rückt ihn in die geistige Nähe des Scipio Aemilianus und dessen philosophisch interessierten Scipionenkreises und bezeichnet Cato auch als Lehrer Scipios. Öfter wird Cato im selben Sinne in exempla-Reihen zusammen mit ebenfalls als weise anerkannten Männern wie Scipio minor und Laelius genannt.3 Cicero weiß von Cato, daß er unerschrocken viele Feindschaften von Adligen auf sich genommen hat. In diesem Kontext charakterisiert er Cato als fortissimus.4 In der Vorverhandlung des Verres-Prozesses gegen Caecilius führt Cicero Cato als Vorbild für seine eigene Person an. Cicero weiß, daß Cato ebenfalls für seine Provinzialen eingetreten ist und die Bemühungen, einen ehemaligen Provinzstatthalter anzuklagen, unterstützt hat. Cicero faßt Cato daher als Vertreter einer Zeit auf, in der die Gerechtigkeit noch Geltung hatte, und daran möchte sich Cicero orientieren. Er argumentiert also in zwei Richtungen: Einerseits möchte er ebenfalls eine Zeit der Gerechtigkeit in seiner Gegenwart verwirklichen, womit auch eine Zeitkritik anklingt. Andererseits hebt Cicero seine eigene Person in die Nähe Catos, der sich mit ethischer Vorbildlichkeit sehr wachsam („vigilantissimus“) für die Belange von Schutzbefohlenen eingesetzt habe.5 Die Rechte der cives Romani habe Cato mit der lex Porcia geschützt, die die römischen Bürger vor der Prügelstrafe schützte. Cato wird namentlich nicht genannt, nur die nach dem Gentilnomen benannte lex erwähnt. Der Verweis auf Cato ist indirekt und sicher nur rechtskundigen Zuhörern vertraut.6 An anderer Stelle rekurriert Cicero – wie im Verres-Verfahren – erneut auf die Ereignisse von 149 v. Chr., als der von Cicero hier nicht erwähnte Volkstribun C. Scribonius Libo gegen Servius Sulpicius Galba für die Lusitaner Klage erheben wollte.7 Cato habe Libo vehement unterstützt und seine damals gehaltene Rede 1 2 3 4 5 6 7
Cic. Verr. 2,5,180; zur Stelle auch STINGER 1993, 73; Mur. 17; Sull. 23; vgl. auch den Abschnitt „homines novi“ bei SCHOENBERGER 1910, 27ff. PADBERG 1933, 14. Cic. Verr. 2,3,160; 209; leg. agr. 2,64; Mur. 66. Mur. 17. Div. in Caec. 66; Verr. 2,5,180. Rab. perd. 13. Er brachte eine Rogation vor das Volk, einen Gerichtshof einzurichten, in welchem die Klage gegen Galba formell verhandelt werden sollte. In den um diese Rogation herum geschehenen
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auch in die Origines aufgenommen. Allerdings habe sich Cato in diesem Falle nicht durchsetzen können, da ihm das Volk „den Galba entriß“.8 Dieser habe sich retten können, indem er unter Tränen dem mitleidigen Volk die eigenen Kinder und den Sohn eines Verwandten vorgeführt habe. Der sonst so mächtige Redner habe sich hier der übergeordneten Macht des populus Romanus beugen müssen. Ein zu mächtiger, mit zu viel Prestige ausgestatteter Ankläger dürfe, so die Meinung der Vorfahren, den Beklagten nicht direkt chancenlos aussehen lassen, da ein solcher Ankläger zugleich mit der Anklage einen Schuldspruch formuliere.9 Cicero möchte durch die Schilderung des ‚auf Normalmaß zurechtgestutzten‘ Cato maior der Anklage des Cato minor im Murena-Prozeß den Wind aus den Segeln nehmen. Dazu wählt er dasselbe exemplum, auf das sein Prozeßgegner Cato minor wahrscheinlich stark Bezug genommen haben wird: Cato sah in seinem Urgroßvater den erfolgreichen Ankläger, als den er ihn angeführt haben dürfte.10 Cicero möchte ein anderes Bild zeichnen. Ganz ähnlich stellt er dem jüngeren Cato den Älteren gegenüber, wenn er von dessen „freundlicher, umgänglicher und schonender“11 Art spricht, mit der er jedem Menschen gegenübergetreten sei. Cicero instrumentalisiert Cato maior gegen den jüngeren Cato und stellt ihn in idealisierender Weise dar, die nicht nur der historischen Tradition, sondern auch dem bisherigen exemplum-Bild Catos als dem eines scharfen und unnachgiebigen Anklägers widerspricht. Wenn Cicero Cato als exemplum anführt, stehen seine militärischen Leistungen nicht im Mittelpunkt. Nur einmal spricht Cicero in einem militärischen Kontext von Catos „egregia virtus“.12 Diese habe Cato im Krieg gegen Antiochos bewiesen. Cicero hebt seine Leistung noch durch die Bewertung hervor, daß dieser Krieg der größte Krieg des populus Romanus gewesen sei, was er „ex monumentis veterum rerum“ entnommen habe. Cato erscheint hier aber nicht als einzelnes exemplum, sondern steht ebenfalls in einer Reihe von Feldherren-exempla, allerdings werden dieses Mal die Individuen namentlich erwähnt und stehen nicht in einer Pluralkette. Redeschlachten trat eben auch der 85jährige Cato auf. Vgl. MÜNZER 1931, 762 mit den Belegen. 8 Mur. 59: „Ser. Galbam – nam traditum memoriae est – nonne proavo tuo, fortissimo atque florentissimo viro, M. Catoni, incumbenti ad eius perniciem populus Romanus eripuit?“. Siehe ADAMIETZ 1989, 202. – Sulpicius hatte seine beiden Reden gegen Libo (und eine dritte gegen Cethegus) ebenfalls herausgegeben, Liv. per. 49; MÜNZER 1931, 763. 9 Vgl. auch Cic. Font. 23–25. 10 Diese Vermutungen ergeben sich aus Ciceros Plädoyer. Leider gilt hier – wie für alle anderen Fälle – die Feststellung, daß nie die Gegenreden der anderen Seite bekannt sind, die natürlich viele Aufschlüsse geben könnten. 11 Mur. 66: „Quemquamne existimas Catone, proavo tuo, commodiorem, communiorem, moderatiorem fuisse ad omnem rationem humanitatis?... Sed si illius comitatem et facilitatem tuae gravitati severitatique asperseris, non ista quidem erunt meliora, quae nunc sunt optima, sed certe condita iucundius.“ 12 Mur. 32.
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Cicero entwirft in den Reden bis zu seinem Consulatsjahr nicht das kantige Profil eines Cato, der die altrömischen Werte wie kein zweiter verkörperte. Die altrömischen Tugenden der parsimonia und der frugalitas, die er in der Rosciana und der Quinctiana anführt und die als ‚catonische‘ Eigenschaften erwartet werden können, bringt Cicero nicht mit Catos Namen in Verbindung.13 Obwohl Cicero ausgiebig mit Geschichte(n) argumentiert, finden sich in seinen Reden keine Zitate aus Historikern, die auf eine detaillierte Kenntnis von Geschichtswerken schließen lassen. Das hat auch Konsequenzen für das Bild, das von Cato maior entworfen wird. Es gewinnt nur wenig an Kontur und wirkt eher typisierend: ehrgeizig, weise, ein homo novus. Dies sind Catos feste Attribute. Den militärisch erfolgreichen Cato kannte Cicero aus Ennius’ Annalen, in denen der Dichter die spanischen Errungenschaften Catos „in den Himmel hob“.14 Eine intensive Ennius-Lektüre und die Kenntnis der darin genannten historischen Personen und Ereignisse waren ein fester Bestandteil der Ausbildung beim grammaticus.15 Jedoch berichtet Cicero bis zu seinem Consulat nie vom Redner und Schriftsteller Cato,16 während er an die großen und bekannten Reden anderer durchaus erinnert.17 Da in den Rhetorenschulen das griechische Stilideal gelehrt wurde,18 fiel die eher rauhe Sprache Catos aus dem Schulkanon heraus. So kannte Cicero bis zu seinem Consulat im Jahre 63 v. Chr. weder Catos Reden noch sein historisches Werk Origines, woraus Ciceros „unhistorische Vorstellung“ von Cato resultiert.19 Anhand von Ciceros Aussagen zu Sulpicius Galba war aber recht gut nachzuvollziehen, daß Ciceros Cato-Kenntnisse vor allem in der Zeit nach der Verbannung gewachsen sind. Wirkt sich dies nun auf das exemplum Catos in der Folge13 Vgl. RECH 1936, 88: Er bezeichnet ratio antiqui officii, rusticana parsimonia, observantia, fides, sanctimonia und die Vorliebe für Ackerbau als altrömische Werte. 14 Vgl. Cic. Arch. 22: „Carus fuit Africano superiori noster Ennius, itaque iam in sepulcro Scipionum putatur is esse constitutus ex marmore. At eis laudibus certe non solum ipse qui laudatur sed etiam populi Romani nomen ornatur. In caelum huius proavus Cato tollitur; magnus honos populi Romani rebus adiungitur.“ Vgl. auch PADBERG 1933, 17. 15 Zu Ciceros Ennius-Kenntnis vgl. ZILLINGER 1911, 26ff.; zur Schulausbildung: RIEGER 1990, 10f.; und oben S. 52ff. den Abschnitt „Oratio a pueris“; s. weiterhin Cic. Brut. 57. Vgl. allgemein LITCHFIELD 1914, 64f. 16 Siehe hierzu LEO 1913, 265ff.; SCHANZ-HOSIUS 1927, 178ff.; VON ALBRECHT 1994, 314ff. 17 PADBERG 1933, 15 mit Belegen. 18 Siehe PADBERG 1933, 16. 19 PADBERG 1933, 17. Später verfügte Cicero sehr wohl über genauere Kenntnisse von Cato: vgl. Cic. de orat. 1,171; 3,135 und vor allem Brutus 63ff. Vgl. zu Ciceros späterer OriginesKenntnis die Ausführungen zum Galba-‚Prozeß‘ oben 143ff.; siehe wiederum PADBERG, 1933, 59–62: „Die Erweiterung von Ciceros Wissen über Cato umfaßte also ganz besonders die Kenntnis von seinem äußeren Lebensgange und eine vertiefte Kenntnis seiner schriftstellerischen Bedeutung und Eigenart: sie erklärte sich durch Ciceros Beschäftigung in dieser Zeit, seine sozusagen wissenschaftliche Tätigkeit, die neben der schriftstellerischen seine jetzige Muße ausfüllte; sie richtete sich besonders auf das Studium der „glücklichen“ Vergangenheit, deren Glanzzeit die Zeit des Scipio minor war, mit dem Cato nach Ciceros Vorstellung vielfache Fäden verknüpften.“
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zeit aus? Cicero setzt sich in seinem Plädoyer für Sulla mit Angriffen gegen seine Person auseinander, die sein Prozeßgegner L. Aurelius Cotta erhoben hat. Dabei zieht Cicero mehrere Vergleiche, wobei er unter anderem Cato nennt. Cotta hatte Ciceros königliches Gehabe angegriffen und gesagt, er sei nun schon der dritte Ausländer, der in Rom eine königliche Stellung einnehmen wolle. Cicero geht vor allem auf den Angriff ‚Du bist ein Auswärtiger!‘ ein und nennt mehrere große Männer, die auch aus municipia kamen, darunter eben M. Porcius Cato. Gerade dieser hätte ja nun wirklich viele Gegner gehabt, aber niemand habe es ihm je zum Vorwurf gemacht, aus einem municipium zu stammen. In der Rede für Archias bezeichnet Cicero den alten Cato als einen für die Verhältnisse seiner Zeit ausgesprochen gebildeten Mann. Cato wird an dieser Stelle nicht allein erwähnt, Cicero nennt ebenfalls C. Laelius, L. Furius und den jüngeren Africanus (alle in der Generation, die unsere Väter noch erlebt hätten.) Diese großen Männer hätten der Beschäftigung mit Literatur hohen Nutzen, nämlich „Aufschluß und Belehrung über sittliche Grundsätze“, zugemessen, womit ein Literat wie Archias grundsätzlich im Dienste der römischen Sache stehe.20 Die Vorfahren hätten Ennius aus Rudiae in ihre Bürgerschaft aufgenommen, der Cato, den Urgroßvater des anwesenden jüngeren Cato, in seinem Werk in den Himmel gehoben, aber auch die anderen Großen verherrlicht habe. Ein Abglanz dieses Ruhmes strahle auch auf die heutigen Römer. So hätten die Vorfahren klugerweise einen Dichter in die Bürgerschaft aufgenommen. Die Aufnahme des Poeten Archias pflege in diesem Sinne eine gute Tradition und lasse die Anklage geradezu zwangsläufig als lächerlich erscheinen.21 Die mit Cato gemeinsame Herkunft aus Tusculum werde von denjenigen, die im politischen Wettbewerb stünden und öffentlich tätig seien, nicht eigens betont, wie Cicero in seiner Rede für Plancius ausführt. Denn es sei nichts Besonderes und Einzigartiges, wenn jemand aus Tusculum Karriere mache. Man erwähne gar nicht, daß man aus demselben Municipium wie Cato und Ti. Coruncanius oder die Fulvii stamme. Dagegen sagten die Arpinaten voller Stolz, daß sie aus der Stadt des Marius und Ciceros kämen.22 In der Planciana erwähnt Cicero Cato als sein persönliches Vorbild. Er zitiert aus dem Anfang der Origines und folgt Catos Dictum, daß die großen und bedeutenden Männer genauso über ihr otium wie über ihre großen Taten Rechenschaft ablegen müßten. Damit begründet Cicero seine Arbeit an der Veröffentlichung von Reden während der Ferien.23 Das exemplum bedeutet ein konkretes und direktes Vorbild für Ciceros Leben. Er rechtfertigt die ‚Öffentlichkeitsarbeit‘, die er mit der Herausgabe seiner Reden verfolgt, und beruft sich dabei auf das Beispiel
20 Cic. Arch. 16: Beschäftigung mit Literatur „... ad percipiendam colendamque virtutem ...“. 21 Arch. 22. 22 Planc. 20. – Vgl. zur Planciana insgesamt unten S. 298ff. den Abschnitt „Von namenlosen Gewinnern und namhaften Verlierern“. 23 Planc. 66.
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Catos. Von einer konkreten Bedeutung für den Prozeßgegenstand kann eigentlich keine Rede sein. Die Nennungen Catos sind auch in der nachconsularischen Phase – trotz der Präsenz und Rastlosigkeit des Cato minor – nicht dicht und häufig. Der Verweis auf seine Herkunft aus Tusculum, seinen literarischen Ruhm bei Ennius und seine literarischen Bemühungen sind eher Nebenbedeutungen des exemplum. Bei der einschlägigen exempla-Kette steht Cato neben sehr prominenten, militärisch erfolgreichen Figuren der Zeit um 150 v. Chr. Seine Strenge und seine altrömische Bescheidenheit spielen bei der Verwendung des exemplum – zumindest vorderhand – keine Rolle. Die dichten Zitate in der Murena-Rede sind damit zu begründen, daß die gegnerische Anklage von Cato minor geführt wurde. Die Figur Catos ist in den Reden viel weniger prominent als in Ciceros philosophischen Arbeiten.24 Seine exemplum-Wirkung in der politischen Diskussion bleibt aber eher gering. Es scheint, als sei es ein ciceronisches Privatvergnügen späterer Jahre gewesen, sich dem vordergründig rauhen Alten (wie er sich ja auch selbst stilisierte) zu widmen, der jedoch bei genauerem Blick, und wenn man sich mit ihm eingehender beschäftigte, ein hellenisierter gebildeter Mann war. Scipio Aemilianus – Ciceros großer Held Cicero führt Scipio Aemilianus in den Reden 35mal als Vorbild an. Er rühmt seine Weisheit, seine maßvolle Amtsführung und natürlich vor allem seine Leistungen auf militärischem Gebiet,25 da er die Stadt Rom von ihren beiden Todfeinden, Karthago und Numantia, befreit hat. Die Zerstörung dieser beiden Städte ist Scipios konstantestes Attribut.26 Zugleich ist er Symbol für eine gute Zeit, in der man der auctoritas und maiestas des Reiches zu Recht mit Achtung begegnete.27 Die rühmenden Epitheta gehören zum Kernbestand des römischen Adelsethos, wie sie insgesamt für jeden politisch tätigen Römer erstrebenswert waren: fama, gloria, virtus, fortitudo, humanitas, aequitas, fides, integritas, auctoritas und sapientia. Sie verleihen dem exemplum Scipio Aemilianus Gültigkeit und Wirkung. Regelmäßig gebraucht Cicero zur Charakterisierung seiner Scipio-exempla Superlative.28 Sprachlich hat die oft anzutreffende Bezeichnung ‚Africanus‘ zur Folge, daß
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Siehe dazu die Arbeit von PADBERG 1933. Vgl. ROBINSON 1986, 20. Cic. Verr. 2,2,3; 2,2,86; 2,4,84; 2,5,25; Manil. 47; 60; leg. agr. 1,5; 2,51; Mur. 58; Catil. 4,21. Div. in Caec. 69. Z. B. div. in Caec. 70: P. Africanus, homo virtute, fortuna gloria, rebus gestis amplissimus; Verr. 2,2,86: humanitatem et aequitatem Africani; 2,4,73: videte hominis virtutem et diligentiam; 2,4,78: P. Africani, viri fortissimi, rerum gestarum gloriam, memoriam virtutis; 2,5,25: huius [Africani] ... singulare consilium; leg. agr.1,5: duorum Scipionum eximia virtute; Catil. 4,21: Ornetur alter eximia laude Africanus; Mur 58: erat in eo [Africano] summa eloquentia, summa fides, summa integritas, auctoritas tanta quanta in imperio populi Romani, quod illius
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die Verdienste des älteren wie des jüngeren Scipio geradezu ineinanderzufließen scheinen und schwer zu unterscheiden sind – was natürlich auch Zweck und Absicht ist. Hohen exemplum-Wert besitzt Scipio für Cicero während des VerresProzesses.29 Cicero lobt Scipios Gewissenhaftigkeit und nennt sie ein „exemplum clarissimae virtutis“.30 Mehrmals sagt Cicero, daß Scipio die Bewohner nach der Einnahme von Städten geschont und nicht auspreßt habe. Vielmehr habe er ihnen oft ihre Kunstwerke belassen31 oder dafür gesorgt, daß die Gemeinden, die von Karthago beraubt worden waren, ihren ehemaligen Besitz zurückerhalten hätten.32 Für diese Großzügigkeit hätten ihn die Sizilier mit Ehrenstatuen geehrt. Scipios Bildung und seine feine, kultivierte Lebensart finden ebenfalls Erwähnung.33 In seinem Plädoyer für den Dichter Archias wird der „göttliche Africanus“ von Cicero geradezu in eine andere Sphäre erhoben. Sein und seiner Freunde (C. Laelius, L. Furius, M. Cato) Interesse an Bildung habe doch dem Zweck gedient, „Aufschluß und Belehrung über sittliche Grundsätze“ zu erhalten.34 Scipio habe den Wert der Kunstgegenstände auf Sizilien wahrscheinlich genau zu schätzen gewußt, vermutlich besser als Verres. Aber in seinen Augen hätte das römische Volk sich selbst entwürdigt, wenn man diese Gegenstände nicht an ihrem Platz und bei ihren Besitzern belassen hätte. Wenn Cicero Scipio als exemplum anführt, setzt er dabei auf eine psychologische Wirkung bei seinen Hörern.35 Dazu schematisiert Cicero bei der Formulierung seiner Anklage gegen Verres: Scipio ist der gute, weise, gerechte und beispielhaft tugendhafte Vorfahr, dessen gesamte Errungenschaften und Verdienste von Verres, der das genaue Gegenteil darstellt, zunichte gemacht werden. Aber es geht dabei nicht nur um die Person Scipios. Cicero betont, daß es natürlich auch um das Ansehen und die Ehre des römischen Volkes gehe.36 Daher müsse Verres Einhalt geboten und Strafe auferlegt werden. Das exemplum virtutis Scipios, das den Hörer mit Freude erfülle, bewirke, daß jeder die Schandtaten des Verres noch intensiver verabscheue.37 Wie schon bei den Betrachtungen zu den maiores zu beobachten war, so argumentiert Cicero auch bei Einzelpersonen vor dem Hinter-
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opera tenebatur. Vgl. RIEGER 1991, 30; zum Adelsethos HARRIS 1979/1991, 9–41; HÖLKESKAMP 2004; zum Scipio-Bild DERS. 1996, 315f. mit Anm. 54 (weitere Literatur). Scipio war Patron der Sizilier, vgl. GELZER 1912/1983, 71. Verr. 2,4,73. Siehe div. in Caec. 69; Verr. 2,1,11; 2,2,3; 2,5,124f.; 2,5,186. Cicero schildert dies z.B. für die Stadt Himera, vgl. Verr. 2,2,86; 2,4,73–84. Verr. 2,4,98; Mur. 66. Vgl. auch SCHANZ-HOSIUS 1927, 213ff. Arch. 15 (Übersetzung FUHRMANN). DAXELMÜLLER 1984, 635. Scipio handelte, wie er es des römischen Volkes für würdig hielt; Verr. 2,2,86: „Etenim ut simul Africani quoque humanitatem et aequitatem cognoscatis, oppidum Himeram Carthaginienses quondam ceperant, quod fuerat in primis Siciliae clarum et ornatum. Scipio, qui hoc dignum populo Romano arbitraretur, bello confecto socios sua per nostram victoriam recuperare …“. Verr. 2,4,73: „Videte hominis virtutem et diligentiam, ut et domesticis praeclarissimae virtutis exemplis gaudeatis et eo maiore odio dignam istius incredibilem audaciam iudicetis.“
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grund der Verpflichtung der Gegenwart gegenüber den militärisch-politischen Verdiensten der Vergangenheit: Verres habe sich praktisch ein Unrecht an Scipio zuschulden kommen lassen, indem er dessen Verdienste zunichte gemacht und somit zugleich die maiestas des populus Romanus verletzt habe. Ganz ähnliche Argumentationsstrukturen begegnen in Ciceros erster Rede gegen das Ackergesetz des Rullus. Er wirft Rullus vor, die Errungenschaften Scipios feilbieten zu wollen und das Reich in seiner Integrität zu verletzen. Scipio wird hierbei von Cicero nicht allein angeführt, sondern in einer exempla-Reihe als einer von mehreren großen Feldherrn genannt.38 Dabei steht er sozusagen ‚unter Gleichen‘ und wird nicht durch Superlative von den anderen abgesetzt – es handelt sich schließlich um eine Senatsrede. Allerdings wird jedem Genannten ein eigenes Attribut zugewiesen.39 Cicero beachtet in diesen Reihen die chronologische Linie, die auf seine Gegenwart zuläuft.40 Der Kern der Argumente beruht aber auch hier darauf, nicht das preiszugeben, was die früheren großen Feldherren für den populus Romanus geleistet haben. Rullus wende sich aber nicht nur gegen eine ganze Reihe erfolgreicher Vorfahren und deren Verdienste für die res publica, sondern vergehe sich gerade bei der Behandlung von Alt-Karthago in religiöser Hinsicht. Cicero beschreibt deutlich die religiöse Motivation Scipios, dieses Gebiet zum Zeugnis des römischen Sieges zu weihen.41 Insofern begehe Rullus auch einen religiösen Frevel, wenn er in seinem Gesetz sogar den Verkauf des Gebietes von Alt-Karthago vorsehe. Mit Ironie konterkariert Cicero Rullus’ Vorhaben, wenn er behauptet, Scipio sei wohl nicht umsichtig und sorgfältig genug gewesen, dieses Gebiet zu verkaufen.42 Hier steht die Ernsthaftigkeit des großen Feldherrn, der seine Handlungen von religiösen und römisch-historischen Kategorien (Karthago als Trophäe ‚unseres Sieges‘) bestimmen läßt, dem Tribun gegenüber, der, nur dem Moment verhaftet, an die Durchsetzung seiner Politik denkt und dabei auch ein religiöses Vergehen in Kauf nimmt, wie es Cicero mit dem Beispiel Scipios suggeriert. 38 Vgl. ROBINSON 1986, 17ff.; zu den Feldherrenlisten SCHOENBERGER 1910, 15ff. 39 Siehe Cic. leg. agr. 1,5f. Publius Servilius: fortissimus vir – T. Flamininus et L. Paullus: virtus – L. Mummius: felicitas – Scipiones: eximia virtus. Diese hätten mit ihren Eroberungen die res publica geschmückt, die sie ihnen (Ciceros Hörern) hinterlassen hätten. (Ibd.: „His insignibus atque infulis imperi venditis, quibus ornatam nobis maiores nostri rem publicam tradiderunt ...“). Vgl. ROBINSON 1986, 31. 40 Vgl. ROBINSON 1986, 17. 41 Cic. leg. agr. 1,6: „... ipsam vetere Carthaginem ..., quam P. Africanus nudatam tectis ac moenibus sive ad notandam Carthageniensium calamitatem, sive ad testificandam nostram victoriam, sive oblata aliqua religione ad aeternam hominum memoriam consecravit.“ 42 Vgl. leg. agr. 2,51: „Sed non fuit [Africanus] tam diligens quam est Rullus, aut fortasse emptorem ei loco reperire non potuit.“ Siehe auch ROBINSON 1986, 30f.; vgl. auch Cic. Verr. 2,5,14 (wo Cicero ähnlich ironisch argumentiert, wenn er Verres’ consilium und ratio lobt, nachdem er gerade einige ‚wirkliche‘ Beispiele dafür erwähnt hat.); weiterhin ibd. 51 (Cicero setzt hier Verres’ Feldherrnleistung mit Ironie den Erfolgen eines Paullus, Scipio und Marius gleich.).
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Aus Scipios Amtsführung als Censor (142 v. Chr.) erzählt Cicero in seiner Verteidigungsrede für Cluentius Habitus eine Anekdote. Bei der Ritterschätzung habe Scipio dem C. Licinius Sacerdos vorgeworfen, einen Meineid geschworen zu haben, und er, Scipio, habe mit seinem testimonium eine Klage sofort unterstützen wollen. Als niemand zur Klageerhebung vorgetreten sei, habe Scipio den Licinius passieren lassen. Nur aufgrund seines eigenen Urteils habe Scipio niemandem Schaden zufügen wollen. Die Geschichte illustriert Ciceros Ausführungen über die Censur, deren Macht die Vorfahren mit Absicht geschmälert hätten.43 Seinen Clienten Habitus hätten die Censoren ebenfalls getadelt, obwohl sie keinen Zweifel an seinem Ehrgefühl, seiner Lauterkeit und Rechtschaffenheit geäußert hätten.44 Um diese censorische Verwarnung zu entwerten oder zumindest zu relativieren, führt Cicero das Beispiel Scipios an. Dies hält er in jedem Fall für schlagkräftig und ausreichend. Es genüge, ihn als einziges Beispiel anzuführen: „Ich will daher nur ein Ereignis aus der gesamten Vorzeit nennen; dann brauche ich über die ganze Sache nicht weiter zu reden. Denn das Beispiel des großen und erlauchten P. Africanus darf ich, scheint mir, nicht übergehen“.45 Auch hier begegnet wieder die emphatische Beschreibung Scipios mit Superlativen. Die Gültigkeit seiner Aussage – Skepsis an der censorischen Verwarnung für Habitus – hält Cicero für bewiesen. Cicero vergleicht in seiner Verteidigungsrede für Murena den jüngeren Cato mit Scipio. Scipio habe sich wie Cato mit gebildeten Leuten, vornehmlich griechischen Philosophen, umgeben und seine Bildung erweitert. Scipios Grundsätze seien dieselben wie diejenigen Catos gewesen, der sich danach richten solle, wenn er ein Urteil über Murena erwirken wolle. Scipio sei äußerst milde gewesen, wie Cicero es von alten Männern erfahren habe.46 Cicero gibt als Quelle für sein Beispiel die Aussage alter Männer an, die Scipio noch gekannt hätten.47 Die lebendige Erinnerung bezeugt Scipios beispielhafte Haltung und gibt ihm gewissermaßen eine Präsenz, die auf Cato wirken und ihm klarmachen soll, daß sein Rigorismus nur falsch sein könne. Schließlich sei es ja Scipio Aemilianus gewesen, der die gleichen Interessen wie Cato gepflegt habe und nicht grundsätzlich streng, sondern milde gewesen sei. 43 Cluent. 123; vgl. auch HEINZE 1909/1960, 117. 44 Cluent. 133: „Neque ipsi secus existimant quam nos existimari volumus de huius pudore, integritate, virtute.“ Cicero kritisierte schon vorher die Censoren durch den Vergleich des censorischen Tadels mit der harten militärischen decimatio, siehe Cluent. 128. 45 Übersetzung FUHRMANN zu Cluent. 134: „Qua de re tota si unum factum ex omni antiquitate protulero, plura non dicam. Non enim mihi exemplum summi et clarissimi viri, P. Africani, praetereundum videtur.“ 46 Mur. 66. Zum Kreise des Scipio habe auch der Urgroßvater des Cato minor gehört, wie Cicero betont, und auch der ältere Cato sei weitaus weniger streng gewesen als sein Nachfahre. 47 Zur „lebendigen“ Wirkungsmacht der exempla siehe HÖLKESKAMP 1996; WALTER 2003; STINGER 1993, 66; MOOS 1996, 72; 79. ELVERS 1993, 76: „Es scheint, daß derartige Angaben in einer durch persönliche Kommunikation geprägten Gesellschaft immer einen besonderen Grad von Glaubwürdigkeit und Verbindlichkeit besitzen ...“.
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Interessanterweise führt Cicero Scipio nicht bei jeder sich bietenden Möglichkeit an, wenn er z. B. die Ausnahmeregelungen im Falle des Pompeius unterstützen will. Cicero nennt Scipio hier, weil man ihm als einzelnem den Staat völlig anvertraut habe, wie es für Pompeius nötig sei. Es wäre leicht gewesen, Scipio auch dafür anzuführen, daß jemand vor dem eigentlichen Mindestalter ein Amt hatte antreten dürfen. Denn Scipio war zu seiner Zeit ebenfalls eine Ausnahme von den üblichen Regeln gewährt worden, als er 147 v. Chr. zum Consul für 146 v. Chr. gewählt wurde, ohne vorher Aedilität und Praetur bekleidet zu haben.48 Daß Cicero dieses Detail aus dem cursus des Scipio Aemilianus kannte, ergibt sich bereits aus der Rhetorik an Herennius, in der die entsprechende Übungsfrage gestellt wurde: „Soll Scipio von der gesetzlichen Bindung befreit werden, damit er vor der gesetzlich festgelegten Zeit Consul werden kann?“49 Es scheint, daß Cicero sein ‚Paradebeispiel‘ von virtus, consilium, diligentia und auctoritas nicht als jemanden zeigen wollte, der das Herkommen und die Regeln für seine eigene Person nicht hat einhalten wollen. Denn was hätte dies anderes bedeutet, als daß die Regeln der maiores schon bei ihnen selbst nicht mit aller Strenge gegolten hätten? Scipio hätte als exemplum durch diesen Regelbruch an Ansehen eingebüßt.50 Cicero führte vor Gericht die verwandtschaftlichen Verbindungen zwischen Q. Maximus, dem Ankläger von Ciceros Consulatskollegen Antonius, und seinen großen Vorfahren Paullus, Maximus und Africanus an.51 Die Angelegenheit hat mit der konkreten „Befragung des Zeugen Vatinius“ nichts zu tun. Cicero will die Hinterlist und Niederträchtigkeit des Volkstribunen Vatinius darstellen, der ein Gesetz so lange zurückgehalten habe, bis der Angeklagte C. Antonius Hybrida keinen Nutzen aus der neuen Bestimmung mehr ziehen konnte. Der Vorwurf sei damit dem Vatinius und nicht dem Ankläger des Hybrida, Q. Maximus, zu machen. Maximus habe seiner Herkunft und seinen Vorfahren, darunter eben Scipio Aemilianus, keinen Schaden zugefügt. Die Zerstörung Karthagos durch P. Scipio parallelisiert Cicero mit dem Kampf des Titus Annius Milo gegen Clodius – sprachlich durch ut – sic zum Ausdruck gebracht. Der Vergleich geht weit: Cicero sagt, P. Scipio sei für diese Tat „geboren“ worden.52 Cicero verweist darauf, daß Scipio als einziger von vielen Feldherren in der Lage gewesen sei, der Stadt den Garaus zu machen. Kartha48 Cass. Dio 21, frg. 29. 49 Übersetzung zu Rhet. ad Her. 3,2: „... solvatne legibus Scipionem, ut eum liceat ante tempus consulem fieri …“. 50 Cicero weicht – zumindest was die außerordentliche Kommandogewalt angeht – auf den Pragmatismus (utilitas) der Vorfahren aus; s. oben S. 49ff. die Ausführungen zur Maniliana. 51 Vatin. 28 – Cicero mußte wohl keine Spezialliteratur zu Rate ziehen, denn als curulischer Aedil 57 v.Chr. erneuerte Maximus, stolz auf seine familiäre Zugehörigkeit zu den Aemilii, Cornelii und Fabii, den Triumphbogen seines Großvaters Fabius Maximus Allobrogicus, den Fornix Fabianus. Außerdem veranlaßte er Ciceros besten Freund Titus Pomponius Atticus, eine Familiengeschichte der Aemilii, Cornelii und Fabii Maximi zu schreiben, Nep. Att. 18,4; Cic. Vatin. 28; ILLRP 392a–c; siehe auch oben S. 127f.; 221f. 52 Cic. har. resp. 6 (Scipio: „natus ad interitum exitiumque Carthaginis“).
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go habe für Rom und seine Bürger eine ganz ähnliche Bedrohung dargestellt wie Clodius, der hier namentlich gar nicht konkret genannt wird. Diese Bedrohung sei durch die Taten des Annius Milo ausgeräumt worden, der gleichsam ein „Geschenk der Götter“ sei. Cicero schildert, was Milos Gegner innerhalb der res publica an und mit ihren zentralen Plätzen getan hätten. Bei Clodius habe es sich um jemanden gehandelt, „der mit Steinen und Messern die einen verjagte, die anderen in ihr Haus bannte, der die ganze Stadt, die Curie, das Forum und alle Tempel durch Mord und Brand in Schrecken versetzte ...“.53 Der Vergleich ist konkret, was die beiden Personen angeht, in der Sache kann Cicero nur auf die Wirkung des Namens Karthago setzen, denn es gibt sonst keine offensichtliche Gefährdungsparallele. Cicero ruft seinen Hörern die frischen Eindrücke von den Handlungen des Clodius, die die republikanischen Zentren lahmgelegt hatten, in Erinnerung. Die Rettung aus dieser Krise vergleicht Cicero also mit der Befreiung vom Angstgegner Karthago, und beides sei durch dafür auserkorene Menschen geschehen. Obwohl Scipio minor eines von Ciceros prominentesten Beispielen ist, nennt er ihn nicht immer als einzelnes exemplum, sondern reiht ihn wie auch viele andere in exempla-Reihen ein, z. B. in die Aufzählung von Triumphatoren. Bei diesen Reihen, die oft nicht Individuen aufzählen, sondern durch die Pluralnennung sämtliche exempla einer Familia andeuten, ist also eine eindeutige Identifikation nicht möglich, aber auch gar nicht beabsichtigt. Die Triumphatorenliste, die Cicero In Pisonem anführt, soll Pisos Ablehnung eines Triumphes verhöhnen, indem der Redner ihm die Heldengalerie der römischen Triumphatoren entgegenhält und Piso fragt, ob sie dann alle verrückt gewesen seien, den Triumph zu wünschen und zu feiern. Ein Name dieser Triumphatorenreihe lautet einfach „Scipiones“, und da sind natürlich alle scipionischen Triumphatoren inbegriffen. Die Chronologie innerhalb dieser exempla-Kette ordnet die Scipiones an der Spitze der Triumphatoren des zweiten punischen Krieges ein. Der davor erwähnte Calatinus, gemeint ist A. Atilius Regulus Calatinus (Consul I 258 II 254, Dictator 249/8 v. Chr.), gehört eindeutig in die Zeit des ersten punischen Krieges.54 In der Prozeßrede für Scaurus erinnert Cicero daran, daß der Großvater seines Clienten mit Scipio verfeindet war, so wie jetzt eine inimicitia zwischen Scaurus und dem Consul Appius Claudius bestehe.55 Den konkreten Anlaß für die Feindschaft der Großväter verschweigt Cicero, vielleicht ging er von der Kenntnis dieses Details der Familiengeschichte aus – aber das ist nicht zwingend. In der Großvatergeneration war Appius Claudius (Consul 143 v. Chr.) bei der Bewerbung um 53 Übersetzung von FUHRMANN zu Cic. har. resp. 6: „... divino munere ...“ / „Solus ille cognovit quem ad modum armatum civem, qui lapidibus, qui ferro alios fugaret, alios domi contineret, qui urbem totam, qui curiam, qui forum, qui templa omnia caede incendiisque terreret, non modo vinci verum etiam vinciri oporteret.“ 54 Pis. 58: „O stultos Camillos, Curios, Fabricios, Calatinos, Scipiones, Marcellos, Maximos! o amentem Paulum, rusticum Marium, nullius consili patres horum amborum consulum, qui triumpharint!“ 55 Scaur. 32f.
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die Censur Scipio unterlegen.56 Derartige Feindschaften seien Ursache für dolor, jedoch nicht für dedecus. Im Repetundenprozeß, der gegen Scaurus angezettelt wurde, gehe es nur vordergründig um das Vergehen, das in der Provinz geschehen sein soll, tatsächlich jedoch um die Kandidatur zum Consulat. Das historische Beispiel aus der Großvatergeneration paßt somit wenigstens teilweise, weil es Konkurrenz und inimicitia zum Inhalt hat. Sonst aber ist es weniger treffend. Wie es sich im großen verhalte, so verhalte es sich sicher auch im kleinen. Mit diesem scheinbar lapidaren Analogieschluß versucht Cicero gleich zu Beginn, den Tatendrang seines Clienten Rabirius Postumus ins rechte Licht zu setzen. Er bezieht sich dabei auf Kernvorstellungen der römischen Aristokratie: „Man muß hierbei auch die geradezu im Wesen des Menschengeschlechts begründete Neigung berücksichtigen, ihr Richter, daß die Angehörigen einer Familie, die sich durch irgendeine besondere Fähigkeit hervorgetan hat, im allgemeinen mit größtem Eifer bestrebt sind – da ja die Verdienste ihrer Väter in den Reden und Erinnerungen der Leute fortleben –, ebenfalls diese Fähigkeit zu erwerben. So fand nicht nur die ruhmreiche Kriegskunst des Paullus in den Söhnen Scipio und Maximus, sondern auch der Opfertod des P. Decius und sogar die Art seines Sterbens Nachfolge im eigenen Sohne.“57 Der Hinweis auf Scipio bezieht sich ganz offensichtlich auf die militärischen Verdienste, aber sie werden hier nicht spezifiziert. Als Kronzeugen für die gerechtfertigte Tötung des Tiberius Gracchus zitiert Cicero im Prozeß gegen Milo Scipio mit seiner Aussage, Ti. Gracchus sei zu Recht getötet worden, ohne dessen Begründung dafür zu erwähnen. In einer exempla-Reihe nennt er weitere Präzedenzen für die in seinen Augen gerechtfertigte Tötung eines römischen Bürgers. Ciceros erstes Beispiel, Ahala, reicht weit in die Vergangenheit zurück; es folgen P. Nasica, L. Opimius und C. Marius. Cicero schließt die Ereignisse „während meines Consulats“ an. Er verzichtet jedoch darauf, sich selbst namentlich als exemplum zu nennen, sondern erwähnt den Senat, der das senatus consultum ultimum beschlossen hatte.58 Alle diese Beispielgeber müßten als Frevler angesehen werden, „wenn die Tötung von Hochverrätern ein Frevel wäre“. 56 Siehe hierzu mit Belegen MÜNZER 1899, 2848. 57 Übersetzung FUHRMANN zu Cic. Rab. Post. 2: „Praesertim, iudices, cum sit hoc generi hominum prope natura datum ut, si qua in familia laus aliqua forte floruerit, hanc fere qui sint eius stirpis, quod sermone hominum ac memoria patrum virtutes celebrantur, cupidissime persequantur, si quidem non modo in gloria rei militaris Paulum Scipio ac Maximus filii, sed etiam in devotione vitae et in ipso genere mortis imitatus est P. Decium filius. Sint igitur similia, iudices, parva magnis.“ Vgl. auch Sall. Iug. 4,5 über den brennenden Ehrgeiz des Quintus Maximus und des P. Scipio, wenn sie die Bildnisse ihrer Ahnen ansahen. 58 Scipios differenziertere Aussage Vell. 2,4,4: „Hic, eum interrogante tribuno Carbone quid de Ti. Gracchi caede sentiret, respondit, si is occupandae rei publicae animum habuisset, iure caesum.“; Beispielreihe: Cic. Mil. 8: „Neque enim posset aut Ahala ille Servilius aut P. Nasica aut L. Opimius aut C. Marius aut me consule senatus non nefarius haberi, si sceleratos civis interfici nefas esset.“ Vgl. über den Redner Scipio: Lael. 96; Val. Max. 6,2,3.
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Über den Tod Scipios herrschten Trauer und Bestürzung, weil er unerwartet kam. Cicero stellt ihn im Milo-Prozeß eindeutig als Mord hin, obwohl dies Spekulation ist. Er beruft sich auf den Bericht der Väter.59 In diesem Fall – wie übrigens auch in dem anderen Falle des Drusus, den Cicero nennt60 – sei kein eigener Gerichtshof eingerichtet worden. Mit einem gewissen Gleichmut habe man diese Ereignisse hingenommen, nur im Falle des Clodius sei dies nicht möglich. Pompeius hatte diesen Gerichtshof eingesetzt, dessen Motive, dies zu tun, Cicero recht umständlich darlegt.61 In seiner elften Philippica spricht sich Cicero gegen die Vergabe eines imperium extraordinarium im Kampf gegen Dolabella aus und begründet dies mit einer Reihe von exempla, an deren Ende er auf das Kommando des P. Scipio im dritten punischen Krieg hinweist. Dabei erinnert Cicero an das Zustandekommen dieses Kommandos. Das römische Volk habe sich seinerzeit selbst einen geeigneten Feldherrn gewählt. Damit spielt Cicero auf die Wahl des Scipio minor zum Consul an, die die Besonderheiten aufwies, daß Scipio für das Amt zu jung war und auch die vorherigen Ämter nicht bekleidet hatte. Diese Details läßt Cicero aber weg, weil sie für seine Meinungsäußerung nicht wichtig sind, evtl. sogar kontraproduktiv wären, vor allem weil Scipio damit eine Ausnahme darstellte. Doch eine Ausnahme möchte Cicero für die aktuelle Lage gerade nicht zulassen. Im Krieg gegen Aristonikos habe das Volk ebenfalls nicht zugelassen, daß ein privatus zum Oberkommandierenden bestimmt wurde. Es habe damals zwischen den Consuln P. Licinius Crassus und L. Valerius Flaccus (Consuln des Jahres 131 v. Chr.) eine Auseinandersetzung wegen dieses Kommandos gegeben. Aber auch damals habe sich das Volk nicht an Scipio minor gewandt, obwohl er im Jahr zuvor über Numantia triumphiert hatte und jeden an Kriegsruhm und Tüchtigkeit übertroffen habe. Bei der Abstimmung über den Oberbefehl hätten nur zwei Tribus für ihn gestimmt.62 Scipio minor begegnet ein letztes Mal als exemplum in einer Beispielkette, die Cicero anbrachte, als es um die Ehren für Lepidus anläßlich seines Friedensschlusses mit Sextus Pompeius ging. Alle als Beispiele angeführten Feldherren63 hätten größere Kriege geführt als Lepidus, doch Lepidus allein habe eine vergoldete Statue erhalten, die auf der Rednerbühne stand. Den Triumphbeschluß für Lepidus sieht Cicero dabei sehr kritisch.64
59 Cic. Mil. 16: „... cum P. Africano domi suae quiescenti illa nocturna vis esset inlata ...“ / „... a nostris patribus accepimus ...“ 60 Mil. 16: „... avunculus huius iudicis nostri fortissimi viri, tribunus plebis M. Drusus ...“ / „Marcus Drusus, der Onkel eines der hier anwesenden Richter, des tatkräftigen M. Cato ...“. 61 Cic. Mil. 20f. 62 Phil. 11,18. 63 Phil. 13,9: L. Aemilius Paullus, Scipio Aemilianus, der ältere Africanus, Marius und Pompeius. 64 Vgl. ITGENSHORST 2005, Katalog Nr. 271.
EXEMPLA DES KOMMUNIKATIVEN GEDÄCHTNISSES
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Lucius Cornelius Sulla und seine Zeit – die Hölle auf Erden Gerade für die Zeit Sullas ist die Erinnerungsarbeit im politischen Diskurs von großem Interesse. Mit den Jahren von Marius, Sulla und Cinna fanden Gewalt und Bürgerkrieg in bisher ungekanntem Ausmaß Einzug in die Stadt Rom mit weitreichenden Konsequenzen für die Zusammensetzung der politischen Klasse im Senat, der durch die homines Sullani auf 600 Mitglieder aufgestockt wurde; die Senatorenschaft wurde verdoppelt (vgl. oben S. 97ff.). Für Ciceros Generation war diese Zeit der Tabubrüche eigene Erinnerung, viele Familien wurden etwa durch die Proskriptionen enteignet und (nahezu) ausgerottet. Insofern mag der christlich anachronistische Untertitel dieses Abschnitts seine Berechtigung haben. Ciceros Bild von Sulla ist dementsprechend überwiegend negativ. Nur an wenigen Stellen erhält Sulla positivere Attribute. Es handelt sich dabei um die üblichen Superlative wie clarissimus, nobilissimus, fortissimus, summus vir und pugnax et acer et non rudis imperator.65 Cicero führt Sulla bisweilen an, um damit seinen jeweiligen (Prozeß)gegner als noch schlechter hinzustellen, als es Sulla war. Dies wird in der Formulierung so zum Ausdruck gebracht, daß nicht einmal Sulla selbst etwas Bestimmtes getan habe.66 An anderen Stellen möchte Cicero die Erinnerung an die Sullazeit bewußt übergehen und gibt nur ganz kurze Stichwörter, die eine solche Erinnerung immer als denkbar negativ erscheinen lassen.67 Der Begriff „Sullanus“ wird stets mit negativen, sogar schrecklichen Ereignissen konnotiert.68 Cicero beschreibt Sullas Herrschaft als eine Tyrannis oder eine dominatio, was anklingen läßt, daß die römischen Bürger wie noch nie zuvor als Sklaven behandelt worden seien.69 Die Ritter habe er gehaßt.70 Sulla sei ein Mensch „sine ulla religione“ gewesen.71 Vor Gericht berichtet Cicero, wie Sulla als römischer Imperator in Neapel „chlamydatus“ aufgetreten ist. Junge Römer wie auch gestandene Senatoren hätten aus Spaß, oder weil es gerade Mode gewesen sei, auffällige Kleidung und fremde Tracht angelegt.72 Er erinnert an die Zeit Sullas als „tenebrae“ bzw. „calamitas rei publicae“.73 Er fordert die Volksversammlung auf, sich an die Leichenberge auf dem Forum zu erinnern, die eine Folge der „acerbissima proscriptio“ gewesen seien.74 Cicero ruft die unheilvollen 65 66 67 68 69 70 71 72 73 74
Cic. S. Rosc. 6; Font. 43; Manil. 8; Mur. 32; har. resp. 54. Verr. 2,1,38; leg. agr. 1,21; 2,81. Verr. 2,1,43; leg. agr. 3,10 (Rullus als neuer Sulla). Leg. agr. 2,69f.; 98; 3,7; 13; Catil. 3,24 (Sullas Bürgerkrieg, dessen Opfer u.a. Marius, „der Schützer dieser Stadt“, und viele tüchtige Männer gewesen seien). Cluent. 151; Verr. 2,3,81. Cluent. 151. Leg. agr. 2,81. Rab. Post. 27. Cicero verzichtet hier auf eine besondere Bewertung, was nicht heißt, daß allein durch die Nennung Sullas implizit immer bereits eine Wertung enthalten ist. Caec. 95; vgl. Cluent. 94; 151; leg. agr. 2,69; Mur. 49. Cluent. 123; 151; Catil. 3,24.
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Versteigerungen des Besitzes von Proskribierten ins Gedächtnis, die Sulla zum Teil persönlich durchgeführt habe. Mehrmals kommt er auf sie zu sprechen.75 Das goldene Reiterstandbild, das Sulla als erster erhalten hatte, ist erstaunlicherweise nur ein Ausdruck der geradezu verdammenswerten Verschwendung dieser Zeit, jedoch kein Menetekel des Bürgerkrieges.76 Ciceros politische Anfänge fallen in die auslaufende Herrschaftszeit Sullas. Die Rede Pro Sexto Roscio, die in diese Zeit gehört, ist dabei noch nicht so distanziert wie Ciceros spätere Äußerungen. Aber der damals 26jährige Cicero zeigt auch hier bereits seine kritische Haltung gegenüber Sulla.77 Er benutzt historische Metaphern, um sich den Geschehnissen anzunähern, und spricht zunächst von der „pugna Cannensis“, aus der gerade sein Prozeßgegner Erucius großen Nutzen gezogen habe. Cicero erwähnt dann die vielen Toten, die man nicht am Trasimenischen, sondern am Servilischen See sehen mußte, wo Sulla die Köpfe der Proskriptionsopfer aufstellen ließ.78 Er vergleicht diese Ereignisse mit den beiden Niederlagen der Römer, die in der Tradition als die verheerendsten angesehen wurden, und unterstreicht damit die Ansicht, daß die res publica sich in einer schweren Krise befinde. Mit zunehmender Distanz zur Sullazeit wird Cicero jedoch in seinen Äußerungen immer eindeutiger, direkter und negativer.79 Dies gilt in verstärktem Maße für Reden vor dem Volk; aber auch vor senatorischem Publikum (Prozeßreden) bekennt sich Cicero zu seiner kritischen Haltung. In der nur fragmentarisch erhaltenen Bewerbungsrede im Senat In toga candida schildert Cicero ganz plastisch, daß sein Gegner Catilina ein Scherge Sullas gewesen sei und brutale Mordtaten begangen habe. Man habe ihn während der sullanischen Proskriptionen mit den Köpfen Enthaupteter, die noch zu leben schienen, durch die Stadt rennen sehen können: „Dieses Haupt – es schien noch zu atmen – hat er damals vom Ianiculum zum Apollontempel mit eigenen Händen zu Sulla gebracht.“80 Die uralte religiöse Kultstätte des Ianus und der Tempel Apolls als Ausgangs- und Endpunkt von Catilinas frevelhaftem Lauf durch die Stadt setzen Handlung und Topographie in einen effektvollen Gegensatz. Catilinas Ziel ist Sulla, der hier in Verbindung mit Catilinas Schandtaten wiederum in äußerst negativem Licht erscheint. 75 S. Rosc. 89f.; Verr. 2,3,81; leg. agr. 2,56; Sull. 72. 76 So würde jedenfalls Ser. Sulpicius urteilen, glaubt Cicero, und sich deswegen für eine bescheidenere Variante einer Ehrung entscheiden, Phil. 8,13. 77 MEIER 1980, 126: Cicero bewegte sich „leicht oppositionell“ gegen den engeren Kreis der Sieger, was ihm breite Aufmerksamkeit und Zustimmung bereitet habe. Vgl. auch MEIER 1980a, 249f. 78 S. Rosc. 89f.; vgl. auch STINGER 1993, 36. 79 Deutlich wird dies mit dem Verres-Prozeß, vgl. Cic. Verr. 2,1,43; 2,3,81. Siehe auch STINGER 1993, 60. 80 Tog. cand. frg. 15CRAWFORD: „Quod caput etiam tum plenum animae et spiritus ad Sullam usque ab Ianiculo ad aedem Apollinis manibus ipse suis detulit.“
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Sehr konkret mußte sich Cicero zur Zeit Sullas äußern, als er im Jahre 62 v. Chr. – zusammen mit Hortensius – die Verteidigung von Sullas Verwandtem Publius Sulla übernahm, wohl weil er bei Sulla hoch verschuldet war.81 Cicero nutzt die schreckliche Zeit des Dictators als Folie, um seinen Clienten von ihr positiv abzuheben: Man möge sich daran erinnern, wie viel Unglück und Gewalt Publius Sulla damals verhindern konnte, weil er das geneigte Ohr des Dictators hatte. Milde und Barmherzigkeit sind Ciceros Attribute für Publius’ Handlungen.82 Als Kronzeugen könne er viele Ritter nennen, die hier bereitwillig für Publius Sulla einstehen würden. Cicero konnte keine besseren Zeugen und Fürsprecher für Faustus Sulla anführen als Ritter, waren sie doch die Gruppe, gegen die Sulla am schlimmsten gewütet hatte. Sie äußern sich in diesem Prozeß positiv über Ciceros Klienten. An der Brutalität und Rücksichtslosigkeit des Dictators Sulla läßt Cicero keinen Zweifel. Vor diesem Publikumskreis wird auch Marius, den Cicero vor dem Volk gerne als Held und in mancher Hinsicht als sein Vorbild feiert, reservierter erwähnt. Es geht um die Herkunft aus einem municipium, die man selbst Marius, der doch bei vielen verhaßt gewesen sei, niemals vorgeworfen habe.83 In seiner Verteidigungsrede für Plancius hingegen brüstet sich Cicero stolz mit der Tatsache, wie Marius ein Arpinate zu sein. Wer einen Arpinaten treffe, höre bestimmt etwas über Gaius Marius.84 Eine selbsterlebte Anekdote über Sulla und die Dichtkunst schildert Cicero in seinem Plädoyer für den Dichter Archias.85 Sulla habe einen Dichter, der ihm während der vom Dictator selbst geleiteten Versteigerungen recht schlechte Verse überreicht habe, mit Gegenständen, die eigentlich zur Versteigerung vorgesehen waren, belohnt, allerdings unter der Bedingung, daß er in Zukunft nichts mehr schreibe. Cicero schildert die Episode bei einer Aufzählung von Feldherren und ihrer Beziehung zur Dichtung.86 Ciceros Argument läuft darauf hinaus, daß Archias selbst unter Sulla sofort das Bürgerrecht erhalten hätte. Die Tatsache der Versteigerungen und der vorangegangenen Konfiszierungen wird nur erwähnt, jedoch nicht gewertet, ja in gewisser Weise mit dieser komischen Anekdote banalisiert. Die Zustände unter Clodius und insbesondere das Ächtungsgesetz gegen den Consular bringt der heimgekehrte Cicero in Verbindung mit der Sullazeit, indem 81 Gell. 12,12,2f. 82 Cic. Sull. 72: „At vero in illa gravi L. Sullae turbulentaque victoria quis P. Sulla mitior, quis misericordior inventus est.“ 83 Sull. 23. Cicero nutzt die Gelegenheit, vor seinen Standesgenossen einmal mehr seine Verdienste für Volk und Vaterland zu preisen: „... inquit ‚te esse ex municipio.‘ Fateor et addo etiam: ex eo municipio unde iterum iam salus huic urbi imperioque missa est.“/ „Ich füge noch hinzu: aus der Stadt [sc. Arpinum], die Rom und dem Reiche schon zum zweiten Male Rettung gebracht hat.“ 84 Planc. 20. 85 Arch. 25. 86 Auch Marius wird dabei (Arch. 20) erwähnt. Dieser habe das Talent des L. Plotius nämlich hochgeschätzt und sich von ihm ein Preislied auf seine Taten versprochen.
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er es – übrigens nur vor den Senatoren – eine „proscriptio“ nennt und damit durch die Vokabel auf die grausamen Verfolgungen unter Sulla verweist.87 An anderer Stelle beschreibt Cicero ausführlicher die Zustände vor seinem Weggang aus Rom und erwähnt insbesondere die Angst der Ritter vor „proscriptiones“.88 Die namentliche Ächtung, die Cicero durch Clodius erleiden mußte, wecke die Erinnerungen an die Schrecken der sullanischen Zeit.89 Vor dem Volk vergleicht Cicero seine Heimkehr mit der des Marius und unterläßt – in dieser kurzen Ansprache – eine Parallele zu Sulla. Obwohl Marius sonst eher als ‚Volksheld‘ dargestellt wird, ruft Cicero die Gewalt und Brutalität von Marius’ Heimkehr ins Gedächtnis.90 Anstatt eine Rückberufung durch den Senat zu erhalten, sei er durch Unterdrückung des Senats zurückgekommen. Im Zusammenhang mit den Agitationen und Gewaltdemonstrationen gegen Ciceros Rückkehr erinnert der heimgekehrte Consular seine Mitbürger an die Leichenberge auf dem Forum, hinter denen sich sein Bruder Quintus habe verstecken müssen, um mit heiler Haut davonzukommen: „... doch ein solches Blutbad und so hoch aufgetürmte Leichenhaufen: Wer hat so etwas – außer etwa an dem Tage des Kampfes zwischen Cinna und Octavius – auf dem Forum erblickt?“91 Das Morden Cinnas und der sullanische Bürgerkrieg werden in exempla-Reihen eingegliedert. Cicero nennt die „Unerschrockenheit der Gracchen“ („ferocitas Gracchorum“), fügt dann „die Kühnheit“ („audacia“) des Saturninus und „die Wirren“ („conluvio“) des Drusus an und schließt als Höhepunkt das „cinnanische Blutbad“ („cruor Cinnanus“), ja selbst den „sullanischen Bürgerkrieg“ („arma Sullana“) an.92
87 Cic. p. red. in sen. 8. 88 Ibd. 33. 89 Dom. 43: „Nemo umquam tulit; nihil est crudelius, nihil perniciosius, nihil quod minus haec civitas ferre possit. Proscriptionis miserrimum nomen illud et omnis acerbitas Sullani temporis quid habet quod maxime sit insigne ad memoriam crudelitatis? opinor, poenam in civis Romanos nominatim sine iudicio constitutam.“ / „Nie hat jemand so etwas einzubringen versucht; nichts ist grausamer, nichts unerträglicher für diesen Staat. Der fürchterliche Begriff Ächtung und überhaupt die Schrecken der sullanischen Zeit: was ist es, was hierbei zuallererst den Gedanken an Grausamkeit wachruft? Ich denke: daß man mit Nennung des Namens und ohne ein Verfahren Strafen über römische Bürger verhängt hat.“ (Übersetzung FUHRMANN). 90 Cic. p. red. ad Quir. 9f.; 20. – Positive Erinnerungen an Marius als großen Militär: Sest. 37f.; prov. 32 (jedoch im Vergleich zu Caesar eine Stufe geringer); Balb. 49; Pis. 58 (Marius als Triumphator in einer exempla-Reihe); Planc. 61 (seine militärischen Erfolge, die die Karriere des homo novus legitimierten). Phil. 13,1 (Marius habe große Kriege geführt und kein goldenes Reiterstandbild erhalten, Teil einer exempla-Reihe). 91 Sest. 77: „Caedem vero tantam, tantos acervos corporum exstructos, nisi forte illo Cinnano atque Octaviano die, quis umquam in foro vidit?“ (Übersetzung FUHRMANN). 92 Vatin. 23: „… in Gracchorum ferocitate et in audacia Saturnini et in conluvione Drusi et in contentione Sulpici et in cruore Cinnano, etiam inter Sullana arma vixerunt ...“. Trotz dieser negativen Ereignisse habe die lex Fufia immer Bestand gehabt, nur den Vatinius habe diese lex nicht überlebt.
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Eine andere Reihe stellt einen engeren zeitlichen Zusammenhang her, der noch weiter in die Zeit Ciceros hineinragt: Die Vorfahren hätten zuverlässige Zeichen besessen „für den furchtbaren Anfang des italischen Krieges“, „die verhängnisvollen Wirren der Zeit Sullas und Cinnas“ und ebenfalls für die Verschwörung, die durch Cicero aufgedeckt und ausgemerzt werden konnte.93 Der Entzug des Bürgerrechts ist eine Untat, die zwar unter Sulla auch geschehen sei – Sulla hatte durch Beschluß der Zenturiatcomitien einigen municipia das Bürgerrecht entziehen lassen –, jedoch keinen längeren Bestand gehabt habe als die Dauer seiner Herrschaft. Den Volateranern das Bürgerrecht zu nehmen, sei Sulla nicht gelungen, aber dem Clodius sei es möglich gewesen, einem Consular das Bürgerrecht wegzunehmen.94 Auch Clodius’ Vater mußte aus der Heimat fliehen, wie Cicero anläßlich des Verfahrens um sein Haus vor den Priestern erinnerte. Cinna habe ein Verfahren gegen Appius Claudius Pulcher eingeleitet – es ging um abgefallene bzw. übergelaufene Truppenteile –, welchem sich Claudius durch Flucht entzogen habe. Cicero charakterisiert die Zeit Cinnas mit dem Stichwort der „Ungerechtigkeit, die in jener Zeit, im tempus Cinnanum, herrschte“.95 Im Falle des Numidicus erwähnt Cicero Marius und Saturninus jeweils in sehr positivem Sinne, in diesem Zusammenhang konnte man Marius noch als „Bewahrer des Vaterlandes“ bezeichnen,96 dem die großen Taten unsterblichen Ruhm verliehen.97 Die Flucht des Marius, „jenes göttlichen Mannes“, vor den sullanischen Verfolgern parallelisiert Cicero gerne mit seinem eigenen Schicksal, schon deshalb weil beide Männer aus Arpinum stammten. Marius’ Flucht vor einer in Ciceros Augen interessanterweise als gerecht bezeichneten Sache („iusta arma“) rettete ihm das Leben, so daß er sich später bei seiner Heimkehr habe rächen können, „zum Verderben des Staates“, wie Cicero urteilt.98 Von Marius’ brutaler Rückkehr setzt Cicero die friedvolle Art seiner Ankunft nach dem Exil stark ab. Ciceros Erwähnung von Sestius’ Schwiegervater Lucius Scipio, der von den „Sturmfluten der Politik“ vertrieben worden sei, nimmt – wenn auch etwas verne93 Har. resp. 18: „... quae quidem tanta est ut nostra memoria primum Italici belli funesta illa principia, post Sullani Cinnanique temporis extremum paene discrimen, tum hanc recentem urbis inflammandae delendique imperi coniurationem non obscure nobis paulo ante praedixerint.“ 94 Dom. 79f. 95 Dom. 83: „... iniquitas illius Cinanni temporis ...“. 96 Sest. 37f.: „... conservatorem rei publicae ...“; vgl. auch 116: Cicero nimmt darauf Bezug, daß Marius den Tempel von Honos und Virtus aus der cimbrischen Beute (was er hier nicht anführt) errichtet hatte und daß dort eben auch Verhandlungen für Ciceros Rückberufung stattgefunden hätten. Auch seine Feinde, deren er zahlreiche hatte, hätten ihn nie von dem Gallienkommando abberufen wollen (Cic. prov. 19). 97 Balb. 46ff., bes. 49. 98 Sest. 50: „... ad interitum rei publicae ...“; zur Flucht und der Frage ihrer Schändlichkeit s. Pis. 43f.: Cicero sieht die Flucht als Schicksalsschlag an, Marius gelangte als Flüchtling in das von ihm besiegte Afrika.
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belt – ebenfalls Bezug auf die Sullazeit.99 Er gibt keine weiteren Details, weder über die Umstände noch über den genaueren Zeitpunkt, so daß man wissen muß, daß Scipio als Marianer von Sulla und seinen Gefolgsleuten vertrieben wurde. Eine grundsätzliche Betrachtung bringt Cicero zu dem Urteil, daß zwischen Marius und Sulla, Cinna und Octavius Kämpfe ausbrachen, die jeweils in der königlichen Stellung des Siegers gipfelten. „Zerwürfnisse unter angesehenen und mächtigen Männern pflegen nicht anders zu enden als mit einem allgemeinen Untergang oder der uneingeschränkten Herrschaft des Siegers.“100 „Königliche Herrschaft“ habe also die Generation Ciceros in ihrer Jugend erlebt, obwohl Sulla – wie Cicero selbst sagt – die Verfassung wiederhergestellt habe. Bemerkenswert ist an dieser Stelle Ciceros Erläuterung, derartige Entwicklungen im Zustand der politischen Klasse begründet zu sehen: die maßgeblichen Männer seien sich nicht einig, jeder – auch der Schwächere – lauere nur auf die Möglichkeit, selbst größtmöglichen Nutzen zu ziehen.101 Erbitterte Gegner, ja sogar Täter und Opfer in eine exempla-Reihe nebeneinander zu stellen, ist je nach Vergleichspunkt allem Anschein nach auch kein Problem. Cicero zählte im Balbus-Prozeß, in dem es um die Bürgerrechtsverleihung an Balbus durch Pompeius ging, verschiedene Feldherren auf, die ebenfalls das Bürgerrecht verliehen hatten. Neben Marius stellt er dabei u.a. P. Licinius Crassus (cos. 97 v. Chr.). Daß Crassus bei der Rückkehr des Marius eines seiner prominentesten Opfer war, wird von Cicero nicht erwähnt. Er fügt dann Sulla an und knüpft die Kette seiner exempla bis zu Pompeius weiter.102 Cicero benötigt lediglich Präzedenzen für die Bürgerrechtsverleihungen durch Feldherren. Ob und – wenn ja – wie seine exempla miteinander in Beziehung standen, spielt hier keine Rolle. Zum Schluß seiner Ausführungen nimmt Cicero dieselben exempla wieder auf, vermittelt durch ihre Nebeneinanderstellung den Eindruck von Harmonie und Kontinuität und hält seinem Gegenüber vor: Lieber „gemeinsam mit solchen Vorbildern irren als von diesem schulmeisterlichen Ankläger eines Besseren belehrt zu werden.“103 Anscheinend etwas ausführlicher äußerte sich Cicero über P. Crassus in nur fragmentarisch erhaltenen Passagen seines Plädoyers für Scaurus. Cicero erwähnt, daß dieses Ereignis praktisch noch zum eigenen Erinnerungsraum gehörte: Crassus habe Selbstmord verübt, um ja nicht seinen Feinden – Cicero spricht lediglich von inimici, die Namen Marius und Cinna fallen nicht – in die Hände zu fallen.104 99 Cic. Sest. 7: „... fluctibus rei publicae ...“. 100 Übersetzung FUHRMANN zu Cic. har. resp. 54: „Neque enim ullus alius discordiarum solet esse exitus inter claros et potentis viros nisi aut universus iteritus aut victoris dominatus ac regum.“ 101 Ibd. 55: „Sulla … tum sine dubio habuit regalem potestatem, quamquam rem publicam reciperarat“ / „... dissident principes ...“. 102 Balb. 50f. 103 Übersetzung FUHRMANN zu Balb. 64: „Videte ne utilius vobis et honestius sit illis ducibus errare quam hoc magistro erudiri.“ 104 Scaur. Frg. 17 (in der Zählung von FUHRMANN).
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Ohne inhaltliche Wertung referiert Cicero Marius’ Karriere, um dem Ankläger des Plancius, Laterensis, Mut zu machen: Marius sei zweimal bei den Aedilenwahlen gescheitert und später siebenmal Consul geworden, beruhigt er den Laterensis.105 Positiv bewertet Cicero in derselben Rede Marius’ tatkräftiges Vorgehen gegen Saturninus. Der Zusammenhang des exemplum läuft darauf hinaus, daß, selbst wenn Cicero gegen Clodius zu den Waffen hätte greifen wollen, er keine tatkräftige Unterstützung durch die Consuln des Jahres 58 hätte erfahren können.106 Marius wird an dieser Stelle nicht allein von Cicero angeführt, sondern ist in eine exempla-Reihe mit L. Opimius und seinem Consulatskollegen von 100 v. Chr., L. Valerius Flaccus, eingebunden. Die Tötung des Saturninus infolge des von Marius exekutierten senatus consultum ultimum des Jahres 100 v. Chr. wird von Cicero gutgeheißen.107 Gerechtfertigte Tötungen sind möglich, ist der Tenor seiner Argumentation im Plädoyer Pro Milone; dazu zählt Cicero in einer exempla-Reihe verschiedene Vorkommnisse auf und hält fest, daß die jeweiligen ‚Vollstrecker‘ für wahnsinnig gehalten werden müßten, könnten sie ihre Handlungen nicht rechtmäßig begründen.108 Es sei keine Frage: Milo handelte gegen Clodius, obwohl für ihn Schwierigkeiten zu erwarten gewesen seien. Aber er befinde sich sozusagen in guter Gesellschaft, darunter der des Marius, wie Cicero erklärt:109 Marius selbst habe nämlich den Totschlag an einem seiner Verwandten, der sich einem Soldaten unsittlich genähert hätte, nicht bestraft, womit Cicero im Milo-Prozeß ein weiteres Beispiel für strafloses Töten anführen konnte.110 Die Rückkehr Caesars und die Erwartungen, die sie hervorrief, werden von Cicero zwar nicht deutlich artikuliert, jedoch ist die furchtsame Erinnerung an die Rückkehr Sullas sehr aktuell gewesen, wie es die Rede Pro Marcello klar erkennen läßt. Viele Senatoren hätten bei Caesars Rückkehr nach Rom „aus falscher und nichtiger Furcht“ das Schwert ergriffen.111 Doch Caesars Verhalten nach dem Sieg sei über jeden Zweifel erhaben gewesen: „Ein blankes Schwert haben wir nicht in der Stadt gesehen.“112 In Anspielung auf die außerordentliche Stellung Sullas empfiehlt Cicero dem Dictator, er müsse noch eine Sache erledigen, bevor 105 Planc. 51. Das Beispiel des Marius ist in eine exempla-Reihe eingebettet mit weiteren Amtsträgern aus der sullanisch-cinnanischen Zeit, aber ohne irgendeine Andeutung auf die Wirren und gewaltsamen Vorgänge dieser Jahre. 106 Cic. Planc. 88. 107 In diesem Zusammenhang rekurriert Cicero auf Marius, Cinna und Sulla aber läßt er stets aus. Und auch Marius wird nur als handelnder Consul des Jahres 100 v.Chr. und Vollstrecker des Senatswillens erinnert. Seine späteren ‚Taten‘ werden komplett ausgeblendet. 108 Mil. 8 – Die besonderen tumultuarischen Umstände des Milo-Prozesses lassen es natürlich nicht zu, die vorliegende Rede als Dokument des Prozesses anzusehen. Aber man kann wohl davon ausgehen, daß Cicero das jeweilige Argument hätte anbringen wollen. 109 Mil. 83. 110 Mil. 9. 111 Marc. 13: „... falso atque inani metu ...“. 112 Marc. 17: „Gladium vagina vacuum in urbe non vidimus“.
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er sich ins Privatleben zurückziehen dürfe: „Du mußt dich noch der mühevollen Arbeit unterziehen, den Staat zu ordnen.“113 Damit spielt Cicero auf die Verfassungsordnung Sullas und auf den Rückzug ins Private mit Niederlegung der Dictatur an. Cicero erklärt sich also anscheinend bereit, Caesars außergewöhnliche Stellung zu akzeptieren, wenn sie vorübergehend ist und der Dictator des Jahres 46 v. Chr. so handelt wie der Dictator der Jahre 82–80/79 v. Chr.: Die Ordnung des Staatswesens und der anschließende Rückzug ins Private solle Caesar dem exemplum Sullas nachahmen. In der Anklage auf Leben und Tod gegen Ligarius hatte der Ankläger Q. Aelius Tubero für die Höchststrafe plädiert. Cicero verteidigte Ligarius und hielt Tubero in dem Prozeß, der auf dem Forum stattfand, entgegen: Einen Verbannten zum Tode zu verurteilen habe noch nicht einmal „... der Dictator gewagt! Dieser ließ alle, die er haßte, töten ..., auch wenn es keiner verlangte, durch Belohnungen lud er dazu ein.“114 Die Formulierung spielt natürlich auf die Proskriptionen unter Sulla an, sein Name fällt nicht, aber sein Regime wird klar charakterisiert: Es beruhte auf Haß, auf Verfolgung, Denunziantentum und Todesstrafe. Sollte unter dem Dictator Caesar etwa noch schlimmeres geschehen? Nur implizit verweist Cicero in seinem Plädoyer für den König Deiotaros – der Prozeß fand in Caesars Haus statt – darauf, daß der König stets ein loyaler und mit Brief und Siegel anerkannter Unterstützer der römischen Feldherren gewesen sei, zu denen dann auch Sulla gerechnet werden müßte. Aber dieser Verweis ist neutral, an der Stelle nennt Cicero keinen der Feldherren namentlich, sondern nur ihre ‚Einsatzorte‘.115 Konkrete Namen, die im Zusammenhang mit rühmenden Äußerungen über Deiotaros erwähnt werden, führt Cicero im Senat an. Sulla, Murena, Servilius, Lucullus und Cn. Pompeius stehen in dieser exempla-Reihe geradezu ‚einträchtig‘ nebeneinander und legen ein zeitnahes und somit gewichtiges Zeugnis im Sinne Ciceros ab.116 Wie soll man es nach Caesars Ermordung mit seinen Gesetzen, genauer mit seinen Amtshandlungen und Verordnungen, den acta, halten? Cicero nennt C. Gracchus, Sulla, schließlich Caesar und hält fest: Wenn die Anordnungen der Erstgenannten zweifelsfrei Gesetze sind, dann gelte dies sicherlich auch für Caesars acta.117 Die Ankunft des Antonius in Rom, zwischen dem 18. und 21. März 44 v. Chr., habe die ganze Stadt in Bestürzung versetzt. „Wir dachten an L. Cinna, den
113 Marc. 27: „... elaborandum est, ut rem publicam restitutas ...“. 114 Lig. 12: „At istud ne apud eum quidem dictatorem qui omnis quos oderat morte multabat .... Ipse iubebat occidi nullo postulante, praemiis invitabat …“. 115 Deiot. 37. 116 Phil. 11,33: „Quae de illo viro Sulla, quae Murena, quae Servilius, quae Lucullus, quam ornate, quam honorifice, quam graviter saepe in senatu praedicaverunt? Quid de Cn. Pompeio loquar?“ 117 Phil. 1,18.
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allzu Gewaltigen, an Sulla, den mächtigen Herrscher.“118 So schrieb es Cicero in seiner nur publizierten, jedoch nicht im Senat gehaltenen zweiten philippischen Rede nieder, die also im doppelten Sinne eine ‚ungehaltene‘ Rede war, bedenkt man Ciceros scharfe und abfällige Ausführungen über Antonius. Die Tatsache, daß sich Antonius ganz offen innerhalb der Stadt von Bewaffneten begleiten lasse, stelle ein historisches Novum dar: Das hätten die Könige nicht getan, ebensowenig solche, die eine königliche Stellung angestrebt hätten. Cicero erwähnt dafür Leute, die er selbst erlebt hatte: Cinna, Sulla und Caesar. Keiner sei wie Antonius, die neue Qualität bestehe darin, daß die Waffen vor aller Augen getragen würden.119 Cicero vergleicht den Kampf gegen Antonius noch im Hinblick auf eine weitere Person mit der sullanischen Zeit. Der junge Octavian tritt dabei in den Mittelpunkt: Sein gegen Antonius privat ausgehobenes Heer vergleicht Cicero mit der Privatinitiative des Pompeius im Kriege Sullas gegen die Marianer.120 Pompeius sei dabei schon etwas älter gewesen als Octavian. Zwar hätten damals nicht alle die Sache Sullas unterstützt, keiner aber stehe jetzt auf seiten des Antonius, und deshalb solle man voll und ganz auf den Caesarerben setzen, der ja zudem viel schwierigere Ausgangsbedingungen habe als Pompeius und Sulla.121 Die inneren Auseinandersetzungen der sullanischen Zeit hätten jeweils einen politischen Anlaß gehabt: Sulla habe gegen Sulpicius und gegen die Gültigkeit von Gesetzen, die er als gewaltsam eingebracht bewertete, gekämpft; Cinna habe gegen Octavius um das Stimmrecht der Neubürger gestritten; Sulla habe Marius und Carbo (coss. 82 v. Chr.) bekriegt, um „die Tyrannei Unwürdiger zu beseitigen und den grausamen Mord an den angesehensten Männern zu bestrafen.“122 Über den vierten Bürgerkrieg (Caesar gegen Pompeius) will Cicero sich nicht äußern. Der fünfte, der sich gerade jetzt abspiele, sei anders geartet, denn „in größter Einigkeit und beispielloser Übereinstimmung“ kämpfe man gegen Antonius.123 Und die Tradition der Vorfahren verlange geradezu diesen militärischen Konflikt; für das Staatswohl müsse man eintreten. Mit Hilfe einer langen exempla-Reihe versucht Cicero, seinen Gegenredner Calenus und dessen Kompromißbereitschaft niederzureden. In dieser exempla-Reihe begegnet dann auch u.a. Marius’ Vorgehen als Consul gegen Saturninus, obwohl Cicero erst kurz zuvor den erschütternden Bürgerkrieg, an dem auch Marius beteiligt war, angeführt hatte.124
118 Übersetzung FUHRMANN zu Phil. 2,108: „Memineramus Cinnam nimis potentem, Sullam postea dominantem ....“. 119 Phil. 5,17. 120 Dabei habe es sich aber um einen „anderen Typus von Krieg“ („aliud genus belli“) gehandelt, Phil. 5,43. 121 Phil. 5,43f. 122 Phil. 8,7: „Rursus cum Mario et Carbone Sulla ne dominarentur indigni et ut clarissimorum hominum crudelissimam puniretur necem.“ (Übersetzung FUHRMANN). 123 Phil. 8,8: „... in maxima consensione incredibilique concordia ...“. 124 Phil. 8,15.
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Um Trebonius’ Ermordung durch Dolabella einzuordnen, zieht Cicero nur Vergleiche aus der Sullazeit heran. Im ganzen sei es keine Frage, daß Dolabella und Antonius seit Menschengedenken den Gipfel des Abscheulichen darstellten.125 L. Cinna sei grausam gewesen, C. Marius nachtragend in seinem Zorn, L. Sulla gewalttätig. Aber das Paar Dolabella / Antonius sei „an Bosheit einander nicht nachstehend, beispiellos, unerhört, schrecklich barbarisch.“126 Gerade mit der letzten schmähenden Vokabel beabsichtigt Cicero, Dolabella und Antonius als nicht zu den Römern gehörig auszugrenzen, um den Kampf gegen sie mit allen Mitteln nochmals zu legitimieren. Auch bei der weiteren Entwicklung der Auseinandersetzung mit Antonius zieht Cicero Parallelen zur Sullazeit, diesmal konkret zum Bundesgenossenkrieg, wenn es um ein Treffen mit dem Erzgegner geht. Er erinnert an die Zusammenkunft zwischen dem Consul Cn. Pompeius Strabo und P. Vettius Scato, dem Anführer der Aufständischen. Er erwähnt ferner die Verhandlungen (bezogen auf das Jahr 83 v. Chr.) zwischen Sulla und L. Scipio, bei denen man sich stets von Gewalt ferngehalten, ja sogar Verständnisbereitschaft gezeigt habe, was bei Verhandlungen mit Antonius natürlich nicht zu erwarten sei.127 Ganz eindeutig äußert sich Cicero wiederum am 20. März 43 v. Chr., als er Sulla, Marius, Octavius und Cinna sowie Carbo als Menschen hinstellt, die sämtlich einen Bürgerkrieg gewollt hätten. Wenn sich die Parteien bei diesen Auseinandersetzungen auf einen Frieden geeinigt hätten, so wäre das Leben doch noch erträglich gewesen.128 Jetzt aber, nachdem gerade briefliche Friedensempfehlungen von Lepidus und Plancius im Senat verlesen worden seien, könne angesichts der beteiligten Personen von einer Einigung nicht ernsthaft die Rede sein. Nach dem Sieg des Pansa und Hirtius (14.4.43 v. Chr.) spricht sich Cicero gegen ein Dankfest aus, das die Feldherren beantragt hatten, weil es so etwas in einem Bürgerkrieg nie gegeben habe. Er dokumentiert dies mit den Siegen Sullas und Cinnas bzw. des Octavius. Bei der Verwendung des Sulla-exemplum muß eine starke Typisierung festgehalten werden: Cicero entwirft in der Hauptsache das Bild eines Tyrannen als exemplum malum, das er schwerpunktmäßig in Volksreden benutzt.129 Im Senat deutet Cicero wiederholt in dunklen Anspielungen auf mögliche Proscriptionen, um entsprechende Ängste zu schüren. Das Bild Sullas wird von den Proscriptionen her aufgebaut und läßt bedeutsame Züge Sullas weg:130 Der Politiker und Reformer Sulla wird eigentlich gar nicht angeführt – Cicero weist gelegentlich auf die Ge-
125 Phil. 11,1: „... duo haec capita sunt post homines natos taeterrima et spurcissima ...“. 126 Phil. 11,2.: „... in scelere par, invisitatum, inauditum, ferum, barbarum ...“ (Übersetzung FUHRMANN). 127 Phil 12,27. 128 Phil. 13,1ff. 129 CLASSEN 1985, 359. 130 DIEHL 1988, 121; vgl. auch LITCHFIELD 1914, 50ff.
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richtsreformen hin131 –, auch charakterisiert ihn Cicero nicht als fähigen Diplomaten und Militär132 oder rekurriert auf Sullas persönliche Züge wie etwa seine Gabe, Menschen leicht für sich einzunehmen. Bei den exempla-Reihen großer Feldherren überspringt er Sulla zwischen Marius und Pompeius, nur bei der Reihe der Feldherren, die im Osten Kommanden innehatten, bezieht er auch das KilikienKommando Sullas mit ein. Aber das Sulla-exemplum ist trotz der historisch negativen Besetzung in verschiedenen Varianten und Nuancen zu benutzen. Nicht immer ist Sulla der homo crudelis. So führt Cicero ihn dem Dictator Caesar in besonderer Hinsicht als Vorbild an. Ebenso kann man die exempla ‚Sulla und seine Zeit‘ bei Invektiven anwenden, um beispielsweise gegen Catilina, Clodius oder Antonius scharfe Angriffe zu formulieren. Cicero kann also auch dieses exemplum durchaus zum persönlichen politischen Kampf, ja sogar zu eigenwillig-komischen Anekdoten heranziehen. Die Sulla-Zeit steht nicht als exorbitantes Menetekel der Gewalt außerhalb des politischen Diskurses, sondern wird auf dessen verschiedenen Ebenen mit den verschiedenen Absichten instrumentalisiert und verargumentiert wie jedes andere Beispiel auch. Das historische Umfeld, insbesondere die Figur des Gaius Marius, wird verschieden erinnert. Ein einheitliches Gesamtkonzept der Erinnerung an Marius scheint es nicht gegeben zu haben. Vielmehr ist die Erinnerung an ihn je nach Zusammenhang und Publikum elastisch und formbar, also teils popular wie auch teils optimatisch besetzt. Für Cinna gilt dies nicht: Die Erinnerung an ihn ist stets negativ. Von Krisenherden und Krisenmanagern – aufrührerische Volkstribune und ihre optimatischen Bezwinger Die Formbarkeit eines Beispiels läßt sich vielleicht an keinem anderen exemplumGegenstand besser untersuchen als gerade an der Gruppe der popularen Politiker. Mit dem Volkstribunat des Tiberius Gracchus verbindet E. BADIAN „the beginning of the Roman Revolution“.133 Ohne Zweifel ist Tiberius Gracchus als handelnde Person wichtig für konkrete Konflikte und Konfrontationen des Jahres 133 v. Chr., die eine Krise der Strukturen vor Augen führen. Aber dieses Jahr muß vor einem komplexen Zusammenhang verschiedener Krisenfaktoren historisch untersucht werden. Die moderne Geschichtsforschung erörtert die Krise der res publica in einer weitgespannten Debatte unter Berücksichtigung verschiedener Krisenfak131 Zum Beispiel Cic. Caecin. 95; Cluent. 151; Ver. 2,2,77, wo er sarkastisch von den „praeclarae leges Corneliae“ spricht. Siehe weiterhin Verr. 2,3,81. Daß Sullas Regelungen sämtlich gültig sein sollten, setzte der Interrex L. Flaccus in einem Gesetz durch, das Cicero „iniquissima et dissimillimaque legis“ nennt (leg. agr. 3,5). 132 Manil. 8 (Sulla triumphierte); Mur. 32. 133 BADIAN 1972.
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toren und -ebenen: Im Vordergrund stehen das Agrarproblem und die Not der italischen Bevölkerungsschichten; darüber hinaus verweist man auf die allgemeine Erschöpfung infolge der Jahrzehnte andauernden Kämpfe im Osten, vor allem aber auf die zermürbende Kriegssituation in Spanien; beide Faktoren zusammen führen zu einer Krise des Militärwesens, insbesondere einer Rekrutierungskrise. Die politische Krise wird besonders unter der Überschrift der immer virulenter werdenden Desintegration der politischen Klasse erörtert.134 Die Debatte soll hier nur mit diesen wenigen ‚Schlagworten‘ skizziert werden. Die Protagonisten im Amt des Volkstribuns sind vor diesem Hintergrund interessant für die Frage, wie die Römer mit diesen personifizierten Problemfällen im nachhinein umgegangen sind. Wie sprach man über die Gracchen, Saturninus, Drusus und ihre Widersacher? Wie erinnerte man an die Männer, die alle ihr Amt dazu nutzen wollten, Probleme zu lösen und Not zu lindern, um so die res publica insgesamt zu stabilisieren?135 Trotz solcher Ziele haben sie den erbitterten und gewalttätigen Widerstand ihrer politischen Standesgenossen hervorgerufen, obwohl diese zum Teil ihre Ziehväter und Verwandten gewesen waren. Wie ging also auf der einen Seite die politische Klasse unter sich mit ihren Abtrünnigen bzw. Abweichlern um und wie bewertete man später die Gegenreaktionen und Abwehrmaßnahmen? Wie erinnerten auf der anderen Seite dieselben Leute in der Ansprache an den populus Romanus an diese Volkstribune? Immerhin hatten sie sich gerade für das Wohl des Volkes eingesetzt, und zwar vor allem für die unteren Schichten der Gesellschaft. Zerfällt und spaltet sich die Erinnerung, wenn man die popularen Tribunen ins Gedächtnis ruft? Spiegelt sich in dieser Erinnerung ebenfalls die Krise oder werden die Beilegung bzw. Überwindung dieser Konflikte sogar als stabilisierend empfunden? An erster Stelle bieten sich für diese Fragestellung(en) die Erwähnungen der Gracchen an. Cicero konnte mit Sicherheit davon ausgehen, daß die Nennung der Gracchen je nach Publikum verschiedene Reaktionen auslösen würde. Während diese im concilium plebis bzw. in den comitia oder in einer contio vom Volk als dessen Märtyrer angesehen wurden, erblickte der Senat in den Handlungen der Gracchen einen revolutionären Anschlag auf seine angestammten Rechte und Machtbereiche.136 Ihre mehrmals betonte, sehr vornehme Herkunft läßt es aber offenbar nicht zu, daß sie im ganzen negativ dargestellt werden.137
134 Einen bequemen Zugang zu den verschiedenen Positionen, die in der Literatur diskutiert werden, ermöglicht BLEICKEN 1999, 189ff., bes. 196ff.; s. auch HÖLKESKAMP 2004. 135 Ebenso kann man das Verhältnis zwischen formalisierter regulärer Macht in den Institutionen und der Macht der Rede in und über die Institutionen als Fragenkomplex abgrenzen. Darauf wird zurückzukommen sein. 136 Grundlegend im folgenden ROBINSON 1986, 41ff.; 49; 61 (zurückhaltende Kritik im Senat); siehe auch SCHOENBERGER 1910, 19ff.; vgl. Cic. Catil. 1,3. 137 Kinder des zweifachen Consuls Ti. Sempronius Gracchus und der Cornelia, der Tochter des Scipio Africanus maior und Nichte des Pydna-Siegers L. Aemilius Paullus; außerdem waren sie Mitglieder des sog. Scipionenkreises (wenn es den denn gab).
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Vor senatorischer Kulisse, im Verres-Prozeß und in den Reden gegen Catilina, die Cicero im Senat hielt, führt er die Gracchen in Verbindung mit Saturninus an. Er betont damit den revolutionären Aspekt und erzeugt im Publikum eine feindliche Haltung.138 So führt er im Verres-Prozeß den Sohn des Iunius vor, auf dessen Erbschaft es Verres mit schmutzigen Tricks abgesehen hatte. Deshalb wirft Hortensius Cicero vor, Emotionen schüren zu wollen. Cicero kontert, Emotionen hätte er geschürt, wenn er den Sohn eines Gracchus oder eines Saturninus hierher gestellt hätte. In einem solchen Fall hätten allein „der Name und die Erinnerung an den Vater“ für Entsetzen gesorgt.139 Man erkennt hieraus, wie bewußt ein Redner Beispiele für bestimmte Affekte einsetzen konnte und wie wirkungsmächtig einzelne exempla je nach Publikum waren. Entsprechend variiert Cicero seine Äußerungen über die Gracchen. Zweimal argumentiert er vor dem Volk gegen Tribunen und muß seine Zuhörer überzeugen, daß die Absichten ihrer Tribunen gegen die Interessen des Volkes gerichtet sind. In diesem Kontext ist Cicero darum bemüht, diese Tribunen, Rullus und T. Labienus, als machtbesessene, auf ihren persönlichen Vorteil bedachte Politiker hinzustellen. Im Gegensatz zu diesen hätten die Gracchen ihre Verantwortung für das Volk ernst genommen.140 Ciceros Argumentation gegen Rullus wurde im Abschnitt „Reden vor Senat und Volk“ bereits ausführlich behandelt (s.o. 229ff.), daher sollen hier nur die Hauptpunkte noch einmal in Kürze angeführt werde. • Populare Absichten sollten in seinen Augen ernsthaft umgesetzt werden. Bei Tiberius und Gaius Gracchus sei dies der Fall gewesen. Cicero wisse, daß viele glaubten, man dürfe diese Namen nicht ungestraft aussprechen, aber selbst wenn manche dieser Meinung seien, halte er es keineswegs für schlecht, solche „hochberühmten und überaus begabten“ Männer zu loben.141 Der sich rhetorisch popular gebende Consul Cicero gibt vor, sich für die Belange des Volkes einsetzen zu wollen. • Er hebt die praktisch königliche Stellung der Zehnmänner hervor, die letztlich eine Clique von Rullus selbst und seinen Sympathisanten bildeten.142 In diesem Punkt könne sich Rullus keinesfalls auf Tiberius Gracchus berufen, des138 Cic. Verr. 2,1,151; Catil. 1,4; 29; 4,4. Siehe ROBINSON 1986, 49f.; SCHOENBERGER 1910, 19. Vor Gericht spricht Cicero natürlich großenteils zu senatorischen Richtern. Jedoch ist ebenfalls ein großes Publikum zugegen. Cicero spricht selbst von der Bewährungsprobe, die der aufsehenerregende Prozeß für ihn bedeutet: div. in Caecil. 41f. 139 Cic. Verr. 2,1,151: „Gracchi, credo, aut Saturnini aut alicuius hominis eius modi produxeram filium, ut nomine ipso et memoria patris animos imperitae multitudinis commoverem.“ 140 Mit diesen Invektiven möchte Cicero den popularen Tribunen ihr stets im Munde geführtes Hauptvorbild der Gracchen entwerten. Rabirius habe gar eine Lust am Verhängen von Strafen wie ein Tarquinius Superbus (Rab. perd. 13). 141 Cic. leg. agr. 2,10: „... clarissimi et ingeniosissimi ...“. Insgesamt kommt Cicero in der zweiten Rede dreimal (10,31,81) auf die Gracchen zu sprechen. Alle Erwähnungen sind positiv; vgl. SCHOENBERGER 1910, 19. 142 Cic. leg. agr. 2,21.
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sen Dreimännerkommission von allen Tribus gewählt wurde, während Rullus’ rogatio nur 17 Tribus als Wahlkörperschaften vorsehe. Cicero wählt den Vergleich zwischen Tiberius Gracchus (pudor, aequitas) und Rullus: Nicht nur sein Gesetz ist dem des Tiberius ganz unähnlich, Rullus kann und darf auch nicht mit der Person des Tiberius verglichen werden.143 Zur beabsichtigten Koloniegründung in Capua: Auch hier argumentiert er zunächst mit den Beispielen der Gracchen und Sullas, die die Finger von Capua gelassen hätten. Dabei habe Sullas Herrschaft eine dominatio dargestellt. Die Gracchen bewertet Cicero vor dem Volk positiv, weil sie sich für die Vorteile der Plebs eingesetzt hätten.144 Cicero vermischt die Invektiven gegen Rullus mit dem gleichzeitigen Lob seines politisch, intellektuell und vom Talent her überlegenen Vorgängers C. Gracchus, mit dem der amtierende Consul Cicero als wahrer popularis mehr gemein zu haben vorgibt als der aktuelle Volkstribun Rullus.145
Cicero verzichtet bei seinen Reden gegen die Catilinarier vor dem Volk darauf, auf die Tötung der Gracchen und die Problematik des senatus consultum ultimum einzugehen. Gerade der Verzicht auf populare Beispiele (wie z. B. Saturninus) zeigt an, daß Cicero keinesfalls Erinnerungen wecken möchte, die seinen Plänen, gegen römische Bürger gewaltsam vorzugehen, im Wege stehen könnten.146 Vor dem Senat kommt Cicero zunächst auf die Tötung des Ti. Gracchus zu sprechen. Ihn beschreibt er als Menschen, der „nur mit Maßen“ an der Staatsverfassung gerüttelt habe. P. Scipio Nasica, „ein höchst bedeutsamer Mann“, habe ihn dennoch getötet, obwohl er damals kein Amt bekleidete und privatus war.147 Das Geschehen liegt zum Zeitpunkt von Ciceros Rede 70 Jahre zurück. In zweifacher Weise setzt der Consul diese Erinnerungen der aktuellen Lage von 63 v. Chr. entgegen. Die Charakterisierung der gracchischen Vorhaben als „mediocriter“ besagt, daß Catilina weitaus zerstörerischer gegen die Republik vorgehen wolle, als dies bei Tiberius Gracchus der Fall gewesen sei. Im konkreten Vergleich zu Nasica gibt es den rechtlich bedeutsamen Unterschied, daß Cicero als amtierender Consul für das Wohlergehen der res publica eintritt. Bei C. Gracchus betont der Consul im Senat dessen vornehme Herkunft über mehrere Generationen und spricht von „einigem Verdacht aufrührerischer Umtriebe“, der Gracchus belastet habe.148 Dennoch steht fest: Der Tod des Saturni143 Cicero charakterisiert ihn hier mit den Begriffen „aequitas“ und „pudor “ (leg. agr. 2,31). Vgl. ROBINSON 1986, 45. 144 Leg. agr. 2,81: „... duo Gracchi, qui de plebis Romanae commodis plurimum cogitaverunt ...“. 145 Hierzu auch ROBINSON 1986, 45; FUHRMANN 1973, 541. 146 RIEGER 1991, 127. 147 Cic. Catil. 1,3: „An vero vir amplissimus, P. Scipio, pontifex maximus, Ti. Gracchum mediocriter labefactantem statum rei publicae privatus interfecit.“ ROBINSON 1986, 53f.; RIEGER 1991, 124f. 148 Cic. Catil. 1,4: „... interfectus est propter quasdam seditionum suspiciones C. Gracchus, clarissimo patre, avo, maioribus ...“. (Übersetzung FUHRMANN)
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nus, der beiden Gracchi und des Flaccus habe bedeutenden Männern, die nicht namentlich genannt werden, Ehre verschafft.149 Dabei charakterisiert Cicero Gracchus’ und Fulvius’ Vergehen wiederum als nicht allzu schlimm, um Catilina negativ gegen sie absetzen zu können.150 Ihr „Hang zur Freigebigkeit“ erscheine doch wohl als harmlos gegenüber Catilinas „Plan, den Staat zu zerstören“. Nur einmal erwähnt Cicero die Gracchen im Prozeß gegen Rabirius. Interessanterweise trennt er gerade an dieser Stelle Saturninus von ihnen. Im Mittelpunkt steht C. Gracchus.151 Cicero charakterisiert Saturninus als einen Feind des römischen Volkes.152 Seine Argumente gegen T. Labienus ähneln stark denjenigen, die Cicero gegen Rullus einbringt. Cicero stellt Labienus’ Anspruch, popularis zu sein, in Abrede. Als Beweis dient ihm die zu verhandelnde Sache selbst: Labienus wolle Rabirius, der einen Feind des römischen Volkes getötet habe, in einem Perduellionsprozeß von einer eigens etablierten Zweimännerkommission zum Tode verurteilen lassen. Dies stehe im Gegensatz zur lex Sempronia des Gracchus, die keine Hinrichtung eines römischen Bürgers zulasse, wenn das Volk nicht zugestimmt habe.153 Cicero stellt Labienus’ Anklage auf eine Stufe mit der Grausamkeit des Tarquinius Superbus. Cicero vergleicht Labienus und C. Gracchus noch auf einer weiteren Ebene. Labienus gab vor, Rache für seinen getöteten Onkel nehmen zu wollen, der bei der Vollstreckung des senatus consultum ultimum gegen Saturninus umgekommen war. Cicero unterstreicht mit einiger Ironie, daß Labienus sicher mit gleichem Schmerz den Tod des (nie gesehenen) Onkels betrauere, mit dem auch C. Gracchus um seinen getöteten Bruder Tiberius getrauert und der ihn zu seinen weiteren Handlungen veranlaßt habe.154 Durch den Vergleich von Labienus und C. Gracchus läßt Cicero diesen als ein exemplum pietatis erscheinen, während Labienus’ Beweggründe zunehmend unglaubwürdig werden. Von diesem Punkt aus steigert Cicero noch einmal den Vergleich zwischen Labienus und Gracchus, und beschreibt diesen als einen Mann, der Labienus in jeder Hinsicht überlegen ist: „Ist deine Anhänglichkeit größer als die des C. Gracchus, oder dein Mut oder deine Klugheit oder dein Einfluß oder dein Ansehen 149 Catil. 1,29. 150 Catil. 4,13: „Quorum quod simile factum, quod initum delendae rei publicae consilium? Largitionis voluntas tum in re publica versata est et partium quaedam contentio.“ 151 Rab. perd. 12–15. 152 Rab. perd. 18f.: Die Tötung des Saturninus sei eine „herrliche Tat“ („facinus pulcherrimum“) gewesen. Cicero nimmt in die Schriftfassung seiner Rede allerdings die von einer kleinen Gruppe geäußerten Mißfallensbekundungen auf, um sich dann mit der Pose des Consuls, der schon weiß, was für die Republik richtig sei, darüber hinwegzusetzen. 153 Als Cicero die Rede vor dem Volk hält, ist die Klage der perduellio vor den duumviri schon vom Tisch, und der Fall wird vor dem Volk verhandelt. Ciceros Argument ist also mittlerweile hypothetisch. 154 Rab. perd. 14.
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oder deine Beredsamkeit?“155 Ciceros Strategie ist hier dieselbe wie diejenige gegen Rullus: Er lobt den beim Volk beliebten und verehrten C. Gracchus und diskreditiert damit gleichzeitig Labienus. Im Gegensatz zu diesem stellt er sich als wahren Popularen dar und will so die Unterstützung der Zuhörer gewinnen. Cicero verfolgt die Frage, wie sich C. Gracchus zur Hinrichtung eines römischen Bürgers ohne Befragung des Volkes stellen würde – genau dies strebt ja Labienus jetzt an. Ciceros hypothetische Argumentation läuft (natürlich) darauf hinaus, daß C. Gracchus sich Labienus widersetzt hätte: Gaius wäre lieber gestorben, als einen Henker in einer von ihm selbst geleiteten Volksversammlung Fuß fassen zu lassen.156 Cicero kennt C. Gracchus als einen großen Redner und wichtigen Ankläger.157 Während seiner Verteidigung des M. Fonteius berichtet er davon, wie C. Gracchus den Lucius Calpurnius Piso angeklagt habe. Als man Gracchus gefragt habe, welchen Piso er anklagen wolle, habe Gaius zugeben müssen: „Du zwingst mich, sagte er, meinen Feind ‚den Braven‘ zu nennen.“158 Cicero leitet aus dieser haltlosen Anklage des Gracchus, die er in bezug auf die Personen und ihre Attribute auf hoher Ebene ansiedelt, analog die völlig haltlose Anklage gegen Fonteius ab. So wenig wie Gracchus dem Piso Frugi anhängen konnte, so wenig können auch die übelwollenden Ankläger dem Fonteius anhaben. Cicero empfiehlt den Richtern seinen Clienten, indem er ihn mit Piso identifiziert. Dabei macht er sich das Wortspiel ‚Frugi‘ als Beiname und ‚frugi‘ in der Bedeutung ,der Brave‘ zunutze: „Ihr seht hier also einen braven Mann, ihr Richter, einen braven, sage ich, der sich in allen Bereichen des Lebens Zurückhaltung und Mäßigung auferlegte, durchdrungen von Pflichtbewußtsein, durchdrungen von Gewissenhaftigkeit; er hängt ab von eurer Gewissenhaftigkeit, er hängt ab von eurem Beistand und eurer Macht, und zwar in der Weise, daß er eurem Beistand anvertraut, eurer Macht überantwortet ist.“159 Cicero bedient sich also eines psychologischen Tricks: Es steht scheinbar nicht mehr Fonteius, dessen Name hier gar nicht mehr auftaucht, vor Gericht; die Richter urteilen mehr oder weniger über eine Person, die über die ethischen Qualitäten des Piso Frugi verfügt.160
155 Übersetzung FUHRMANN zu Rab. perd. 14: „An pietas tua maior quam Gracchi an animus an consilium an opes an auctoritas an eloquentia?“ Vgl. auch ROBINSON 1986, 47f. 156 Cic. Rab. perd. 15. – Die Verhandlung fand natürlich vor dem 5. Dezember 63 v.Chr. statt. 157 Brut. 125f. 158 Übersetzung FUHRMANN zu Font. 38: „‚Cogis me,‘ inquit, ‚dicere inimicum meum Frugi.‘“; ibd. 39: Epitheta zu C. Gracchus: „ingeniosissimus atque eloquentissimus“, zu Lucius Calpurnius Piso: „tanta virtute atque integritate“. 159 Übersetzung von FUHRMANN zu Font. 40: „Frugi igitur hominem, iudices, frugi, inquam, et in omnibus vitae partibus moderatum ac temperantem, plenum pudoris, plenum offici, plenum religionis videtis positum in vestra fide, permissus potestati.“ 160 Recht ähnlich ist Ciceros Strategie in seinem Plädoyer für Sextus Roscius: Hier identifiziert er die Lebensweise seines Clienten mit derjenigen der maiores, womit er vom eigentlichen Gegenstand ablenkt und auf Sympathiefang für Roscius geht; vgl. auch STINGER 1933, 94; 296.
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In der nur fragmentarisch erhaltenen Rede Pro Cornelio II liegt der einzige Fall vor, in dem Cicero seinen Clienten direkt mit den Gracchen vergleicht.161 „Wenn ich aber nun im Vertrauen den Q. Catulus, den weisesten und menschenfreundlichsten Mann, fragen möchte: Welches Tribunat kann von dir weniger gutgeheißen werden, das des C. Cornelius oder (ich möchte es eigentlich gar nicht sagen: das des Publius Sulpicius, des Lucius Saturninus, des C. Gracchus, des Tiberius Gracchus; niemanden, den ich nenne, halten diese da [gemeint sind Zeugen gegen Cornelius] für einen Aufrührer , sondern) das deines Oheims, Q. Catulus, eines hochberühmten und das Vaterland innig liebenden Mannes? Was, glaubt ihr, wird er mir antworten?“162
Bei dem berühmten Onkel des Catulus handelt es sich um Cn. Domitius Ahenobarbus, der im Jahr 104 v. Chr. Volkstribun war. Cicero charakterisiert ihn äußerst positiv („clarissimus“, „amantissimus patriae“). Er hält ihn dem Catulus vor Augen und bestätigt, daß man auf einen solchen Ahnen mit Recht stolz sein dürfe. Die Qualität des Ahenobarbus wird durch die Kette schlechter exempla („seditiosi“) verstärkt. Sprachlich baut Cicero eine erhebliche Spannung auf, indem er die mala exempla nennt, bevor er zum eigentlichen Punkt kommt. Auffallend an der Reihe ist die umgekehrte Chronologie: Die exempla, die Cicero hier nennt, werden immer älter, so daß das Tribunat des Tiberius Gracchus im Sinne einer Steigerung das schlechteste zu sein scheint.163 Cicero will darauf hinaus, daß der Volkstribun Cornelius nicht mit diesen seditiosi verglichen werden dürfe, sondern seine Amtsführung vielmehr wie die des Cn. Domitius Ahenobarbus betrachtet werden müsse. Er möchte so in die Reihe der Zeugen gegen Cornelius eine Bresche schlagen: Catulus, der 65 v. Chr. die Censur bekleidet hatte, war einer von ihnen. Indem Cicero seinen Onkel vor dem geistigen Auge erscheinen läßt,164 möchte er zugunsten seines Klienten einen gegnerischen Zeugen umstimmen. Die Verweise auf die Gracchen in den Reden Pro Caecina und Pro Cluentio Habito sind nicht allzu aufschlußreich. In der ersten Rede erklärt Cicero den Inhalt eines Gesetzes und speziell die Bedeutung des Wortes „unde“. C. Gracchus 161 Vgl. zu den Umständen des Falles die Ausführungen von CRAWFORD 1994, 65ff. in ihrer Ausgabe der Fragmente. Siehe auch FUHRMANN 1989/1994, 85; ROBINSON 1986, 65; MEIER 1980, 133f.; GELZER 1969, 72ff.; STRASBURGER 1931, 32f. 162 Frg. 5 CRAWFORD: „Sed si familiariter ex Q. Catulo sapientissimo viro atque humanissimo velim quaerere: utrius tandem tibi tribunatus minus probari potest, C. Corneli, an – non dicam P. Sulpici, non L. Saturnini, non Gai Gracchi, non Tiberi, neminem quem isti seditiosum existimant nominabo, sed avunculi tui, Q. Catule, clarissimi patriaeque amantissimi viri? quid mihi tandem responsurum putatis?“ 163 Die Gracchen mit ihrem „festen Platz“ in der Reihe aufständischer Tribunen untersucht RIEGER 1991, 204ff. Umgekehrte Chronologie auch in der Liste der Wahlverlierer Mur. 36, vgl. SCHOENBERGER 1910, 32. 164 Cicero wendet öfters diese Form der prosopopoeia an: vgl. Catil. 3,10 (Siegelbild des P. Cornelius Lentulus (cos. suff. 162) hätte Lentulus von der Unterstützung Catilinas abschrecken müssen); Mur. 66f. (Cato Censorius gegenüber Cato minor in Erinnerung gerufen); Verr. 1,1,52ff. (M’. Acilius Glabrio und Q. Mucius Scaevola als Vater und Großvater des M’. Glabrio vor Augen gerufen); zu dieser Stelle auch STINGER 1993, 41; Cael. 31ff. (Caecus hält Clodia eine Standpauke).
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wird neben Cinna und Telesinus genannt, was eine negative Bewertung darstellt, aber von Cicero nicht ausgebaut wird.165 In der Rede für Cluentius bewertet Cicero C. Gracchus positiv als einen Gesetzgeber, der zum Wohle des Volkes handeln wollte. Ihm wird negativ Sulla gegenübergestellt, der weit davon entfernt gewesen sei, dem Volke zu dienen.166 In der Rede über das Gutachten der Opferschauer – gehalten vor dem Senat – erhalten Tiberius und Gaius aus dem Munde Ciceros praktisch sämtliche bedeutsamen Attribute des vir bonus: ingenium, eloquentia, vis et gravitas dicendi, fortes et clari viri, pietas, magnitudo animi.167 Leider hätten sie ihre Vorzüge für die falsche Sache, ja nicht einmal das, sondern für die falsche Methode eingesetzt. Aber auch hierfür gibt Cicero den Grund einer jugendlichen intemperantia an, für die er offensichtlich Verständnis aufzubringen bereit ist. Im ganzen geht es mittlerweile um die Auseinandersetzung mit seinem Erzfeind Clodius, der zum Maßstab alles Schlimmen geworden ist und für den die früheren Volkstribune Ti. und C. Gracchus, Saturninus und Livius Drusus immer wieder als Folie angeführt werden. In seiner Rede über die consularischen Provinzen, ebenfalls an die Senatoren gerichtet, erläutert Cicero in einer Parenthese ausdrücklich, daß er, als er den Namen „Gracchus“ nennt, den Vater (cos. 177 v. Chr.) meint und nicht dessen Söhne. Damit signalisiert er deutlich, an was und wen jemand beim Stichwort „Gracchus“ zuerst denkt.168 Die erste Konnotation gilt immer den Volkstribunen von 133 und 123/2 v. Chr. Die Qualität der Erinnerung wird dabei auch charakterisiert, sie ist offensichtlich unangenehm und negativ. Der Vater erhält das Attribut der „gravitas“, von der die Söhne jedoch leider völlig abgekommen seien, und genieße allgemeine Anerkennung. An der betreffenden Stelle will Cicero eine Parallele zwischen sich und Ti. Gracchus pater aufzeigen. Tiberius habe seinerzeit seinem Gegner Lucius Scipio trotz aller Differenzen geholfen, wie Cicero jetzt für Caesar eintrete, der ja nicht gerade ein Gegner des Clodius und somit der Verbannung Ciceros gewesen sei. Cicero legt vor senatorischem Publikum Wert darauf, sich von den Gracchen abzuheben und auch nicht den Eindruck einer Parallele zwischen sich und den Volkstribunen entstehen zu lassen. Er tut dies offensichtlich in Folge der Bedeutung des Gracchenexemplums im Senat. Jedes Mißverständnis könnte ihn Zustimmung kosten. Im sogenannten Nobilitätsexkurs der Sestiana169 diagnostiziert Cicero die politische Situation seiner Zeit vor der Folie der Vergangenheit. Dabei greift er jedoch nicht weiter zurück als bis zum Tribunat des C. Gracchus, der ein „seditiosus“ gewesen sei. Standhafte Senatoren wie M. Aemilius Scaurus hätten ihm zu Recht Widerstand geleistet. C. Gracchus gehört dabei zu den „vetera exempla“. 165 166 167 168 169
Cic. Caecin. 87; hierzu STINGER 1993, 85f. Cic. Cluent. 151; vgl. ROBINSON 1986, 64. Cic. har.resp. 41–43. Prov. 18f.; über die Söhne ibd.: „... utinam filii ne degenerassent a patria gravitate ...“. Cic. Sest. 101ff. Der Sestius-Prozeß fand im Jahre 56 v.Chr. statt. – S. zu Ciceros Nobilitätsexkurs FUHRMANN 1960, 493f.
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Cicero bewertet die politischen Situationen der Vergangenheit und seiner Gegenwart als wesentlich unterschiedlich. Gracchus und seine Nachfolger – Saturninus wird noch namentlich erwähnt – hätten die „discordia“ zwischen den ‚Guten‘ und allen anderen offen zu Tage treten lassen. Sie hätten einen tatsächlich vorhandenen Spalt zwischen den gesellschaftlichen Gruppen vorgefunden und natürlich auch in einer Art und Weise benutzt, der man von optimatischer Seite zu Recht habe entgegentreten müssen. Doch ihre Unterstützung für populare Anliegen sei echt gewesen.170 Die Behauptung, jemand wie Gracchus habe gekaufte Leute in seinen Volksversammlungen gehabt, sei völlig unglaubwürdig. Darin liege der Unterschied zu den Erscheinungen der 50er Jahre, denen sich Cicero ausgesetzt sieht. Clodius kaufe seine Leute und gebrauche massive Gewalt, weil er anders keine Unterstützung fände. Denn eigentlich sei die „discordia“ beigelegt, und alle seien der Meinung, die „concordia ordinum“ sei verwirklicht: „Es gibt schon jetzt eigentlich nichts, in dem das Volk in seiner Meinung von den Magistraten und den Principes abweicht.“171 Doch werde diese Eintracht von Subjekten wie Clodius bekämpft. Auf die vornehme Herkunft der Gracchen nimmt Cicero hier keinen Bezug. Sie werden als „aufrührerisch“ bezeichnet.172 Cicero bedauert nicht, daß sie trotz ihrer eigentlich hervorragenden Qualitäten vom geraden Weg abgekommen seien. Er gibt lediglich zu, daß sie offen daliegende Probleme aufgegriffen hätten, die politische Methode wird jedoch nicht gutgeheißen. Immerhin gesteht Cicero zu, daß die mit den Gracchen verbundenen Ereignisse ein notwendiges Wegstück für das Erreichen der concordia ordinum gewesen seien. Vor dieser historischen Folie würden die ganze Schlechtigkeit und der pure Opportunismus eines Geschöpfes wie Clodius augenfällig. Der Consular beschäftigt sich vornehmlich mit sich und den Konflikten (Clodius), die er selbst austragen muß.173 Cicero läßt dabei in der Sestiana die Auseinandersetzung innerhalb der politischen Klasse und die Anwendung von Gewalt untereinander aus dem Blickfeld geraten. Über die Initiative Nasicas äußert er sich an anderen Stellen in einem stets positiven Sinne. Der Tatendrang und der Einsatz für die richtige Sache stehen im Vordergrund. Nasica habe in allererster Linie verteidigt, die sich daran knüpfenden Probleme werden durch Aussagen von zeitgenössischen Kronzeugen und zugleich Autoritäten beiseite geschoben.174
170 Cicero erwähnt einzelne gesetzliche Errungenschaften, die die Popularen durchgesetzt haben: Wahlgesetz des L. Cassius von 137 v.Chr., Bodengesetz und Getreidegesetz der Gracchen. Sest. 102: „Tabellaria lex ab L. Cassio ferebatur: populus libertatem agi putabat suam; dissentiebant principes et in salute optimatium temeritatem multitudinis et tabellae licentiam pertimescebant. Agrariam Ti. Gracchus legem ferebat: grata erat populo.“ 171 Sest. 104: „Nunc iam nihil est, quod populus a dilectis princibusque dissentiat.“ 172 Sest. 104: „... homines seditiosi ac turbulenti…“.Vgl. SCHRECKENBERG 1950, 193f. 173 Cicero erwähnt die Gracchen nach seiner Rückkehr nach Rom allein siebenmal gegen Clodius: dom. 24; 82; Sest. 37; 124; har. resp. 40f.; 43; Mil. 72. 174 Zum Beispiel Calenus’ Vater: Cic. Phil. 8, 13; P. Africanus minor: Mil. 8.
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Ciceros eigenes Vorgehen gegen Catilina wird immer wieder mit der Gracchenkrise verglichen. Cicero betont seine Unterstützung im Senat, der ja das senatus consultum ultimum beschlossen habe.175 Daß er auf diesen Rückhalt so viel Wert lege, solle jedoch nicht implizieren, er verwerfe die Initiative Nasicas gegen Tiberius Gracchus. Denn seine Aktion sei ja vor allem darin begründet gewesen, daß der damalige Consul P. Mucius Scaevola „allzu schlapp“ war, als es zu handeln gegolten hätte, dann aber im nachhinein die Tat des Nasica mit mehreren Senatsbeschlüssen gutgeheißen habe. Jedoch scheint allein die Möglichkeit eines Verdachts, er habe Probleme mit dem eigenmächtigen Vorgehen des Nasica, Cicero Unbehagen zu bereiten; daher erklärt er eindeutig: „... nicht als ob mir mißfiele, daß der tapfere P. Scipio, ohne ein Amt innezuhaben, gewaltsam gegen den Volkstribunen Ti. Gracchus vorgegangen ist!“176 Cicero ergänzt in der Planciana das Detail aus Nasicas Karriere, daß dieser bei den Wahlen zur Aedilität durchgefallen war. Ein weiteres Mal kommt er in dieser Rede auf die Ereignisse von 133 vor Chr. und Nasicas Kampf gegen „üble Mitbürger“ zu sprechen.177 Das Beispiel der Gracchen steht an dieser Stelle nicht allein: Marius und Flaccus hatten über Saturninus gesiegt. Im Falle des Nasica betont Cicero einmal mehr die Eigenmächtigkeit, die der rechtdenkende Consul Mucius im nachhinein für richtig erklärt habe. Auch das Vorgehen gegen C. Gracchus und seine Anhänger findet Ciceros Zustimmung, wenn er vom Consul des Jahres 121 v. Chr., Opimius, als „Retter des Vaterlandes“ spricht.178 Die konkrete Vergleichsebene ist jetzt nicht mehr Ciceros Vorgehen gegen Catilina. Vielmehr möchte Cicero die Schwäche seiner Position und damit der res publica unter den üblen Consuln Gabinius und Piso des Jahres 58 v. Chr. verdeutlichen. Selbst wenn der Consular Cicero als privatus gegen Clodius hätte vorgehen wollen, hätte ihn diese Staatspitze nicht unterstützt, ja vielmehr Clodius verteidigt. Unter diesen Umständen sei sein freiwilliges Exil ein Dienst an der res publica gewesen. Das Problem der Tötung eines Bürgers stellt sich natürlich besonders in der Verhandlung gegen Milo. Cicero spricht in diesem Zusammenhang zweimal von den Gracchen und der Tat Nasicas:179 Es habe sich um ein gerechtfertigtes Vorgehen gehandelt.180 Tapfere Männer handelten so, wie er es im Schlußabschnitt der 175 Dom. 91, Epitheton zu Mucius: „segnior“. 176 Übersetzung FUHRMANN zu dom. 91: „... non quo mihi P. Scipionis, fortissimi viri, vis in Ti. Gracchum, tribunum plebis, privati hominis, displiceret.“. Die Entschlossenheit zur Tat als privatus hebt Cicero auch in der Rede an die Senatoren über das Gutachten der Opferschauer (har. resp. 22) hervor; ganz ähnlich Planc. 51, in der Cicero seine Überzeugung zum Ausdruck bringt, es habe keinen tapfereren Mann in diesem Staat gegeben als Nasica: „[Nasica], quo cive neminem statuo in hac re publica fortiorem“. 177 Cic. Planc. 88 („... improbos cives ...), im selben zustimmenden Sinne Mil. 8. 178 Planc. 69. 179 Mil. 8, 83f. 180 Auch an dieser Stelle argumentiert Cicero mit einer Beispielreihe, in der er die federführenden Männer nennt, die sich gegen die Friedensstörer zur Wehr setzten: Servilius Ahala – Pu-
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Rede nochmals unterstreicht.181 Sie würden zuallererst an die res publica denken und Überlegungen um das eigene Wohlergehen hintanstellen. Damit möchte er seinen Clienten Annius Milo positiv charakterisieren und ihn den bereits genannten Herren zurechnen, indem er erneut diese exempla-Reihe anbringt. In der Auseinandersetzung mit Antonius bemüht sich Cicero von Beginn an darum, die Senatoren gegen den späteren Triumvirn in Stellung zu bringen. Er erinnert daher an den Angriff der Gracchen auf die Würde und das Ansehen des Senats. Antonius’ Machtposition sei nicht hinnehmbar, und Cicero fragt seine Standesgenossen: „Glaubt ihr, die Gracchen hätten mehr Macht gehabt, als dieser Schwertkämpfer bald haben wird?“182 Die Vokabel für „Macht“ lautet „potentia“ im Gegensatz zur regulären potestas. Die Gracchen erhalten somit den Charakter der Chaosstifter, Aufrührer und Widersacher des Einflusses des Senats.183 Antonius wird in Ciceros Augen als Einzelperson bereits so schlimm wie die beiden Gracchen zusammen! Aber – und die Parallele bleibt an dieser Stelle unausgesprochen – der Senat konnte der Gracchen Herr werden. Die Väter müssen nur an das Beispiel der eigenen Institution denken bzw. von Cicero daran erinnert werden, dann wissen sie, wie zu handeln ist. Ein weiteres und – soweit die Reden überliefert sind – ein letztes Mal argumentiert Cicero mit dem Gracchenexemplum in der achten philippischen Rede vom 3. Februar 43 v. Chr. In der Frage, wie man sich gegenüber Antonius’ Verhandlungsvorschlägen verhalten solle, wollte Calenus Antonius entgegenkommen, was Ciceros Widerstand hervorrief. Die ‚historische‘ Argumentation Ciceros nimmt konkreten Bezug auf die Gracchen. Dabei führt der Consular auch das exemplum von Calenus’ Vater vor Augen. Dieser sei nämlich für Cicero selbst immer ein Vorbild gewesen, nicht zuletzt wegen seiner Haltung zu den Gracchen. Denn der Vater des Calenus habe im hohen Alter Nasica stets gelobt, sein Handeln gegen Tiberius verteidigt und als rechtens bewertet. Nasicas virtus, consilium, magnitudo animi hätten den Staat gerettet. „Haben wir“, so fragt Cicero die Senatoren, „von unseren Vätern etwas anderes übernommen?“184
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blius Nasica – Lucius Opimius – Gaius Marius – Cicero selbst (er spricht vom „Senat unter meinem Consulat“); Mil. 8: „Neque enim posset aut Ahala ille Servilius aut P. Nasica aut L. Opimius aut C. Marius aut me consule senatus non nefarius haberi, si sceleratos civis interfici nefas esset.“ / „Denn auch der berühmte Servilius Ahala oder P. Nasica oder L. Opimius oder C. Marius oder – während meines Consulats – der Senat müßten ja unbedingt für Frevler gelten, wenn die Tötung von Hochverrätern ein Frevel wäre.“ (Übersetzung FUHRMANN). Mit Nasica und Opimius verband ihn das Schicksal, die Heimat verlassen zu müssen; vgl. SCHRECKENBERG 1950, 195. Cic. Mil. 83. Phil. 7,17: „Gracchorum potentiam maiorem fuisse arbitramini quam huius gladiatoris futura sit?“ Vgl. ROBINSON 1986, 60. Cic. Phil. 8,13: „Pater tuus quidem, quo utebar sene auctore adulescens, homo severus et prudens, primas omnium civium P. Nasicae qui Ti. Gracchum interfecit dare solebat: eius virtute, consilio, magnitudine animi liberatam rem publicam arbitrabatur. Quid? nos a patribus num aliter accepimus?“ Vgl. STINGER 1993, 269.
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Cicero verargumentiert an dieser Stelle noch weitere, historische Ereignisse, so daß er die Traditionslinie bis Catilina verlängern kann. Auf mehreren Ebenen benutzt er hier also das historische exemplum, um die Debatte in seinem Sinne zu lenken. Die eine Ebene ist die der Staatsräson, für die zu sorgen in seinen Augen insbesondere eine senatorische Aufgabe ist: Die Situation, vor der man sich jetzt befinde, sei keine erstmalige oder einmalige Bedrohung. Die einschlägigen historischen Erfahrungen zeigten die Handlungsweise gebieterisch auf: Antonius müsse bekämpft werden, wie die Gracchen, Saturninus und Catilina hätten bekämpft werden müssen. Die Generation der Väter wie die eigene Generation konnten und können die res publica retten, versichert der Consular. Die zweite Ebene betrifft Cicero persönlich und legitimiert seine Handlung als leitender Magistrat der res publica in seinem Consulatsjahr. Er sieht sich selbst durch sein Vorgehen gegen Catilina das Paradebeispiel für die – im wahrsten Sinne – notwendigen Maßnahmen gegen Antonius. Insofern stimmten die Fähigkeiten der früheren wie der jetzigen Generation überein. ‚Wir sind so gut und zu demselben fähig wie die Väter‘, lautet die Botschaft, ‚denn sie konnten mit den Gracchen fertig werden, und wir haben unter meiner Führung Catilina beseitigt.‘ Calenus sei mit seiner – geradezu abenteuerlichen – Verhandlungsbereitschaft die unrühmliche Ausnahme von der Regel.185 Dies wird nun besonders durch die zweite persönliche Ebene der Argumentation in den Mittelpunkt gerückt. Cicero beschäftigt sich detailliert mit der Haltung von Calenus’ Vater, weil er in diesem Punkt seinen Widerredner im Senat gut angreifen kann: Denn Calenus kann man vorwerfen, vom väterlichen Pfad abzuweichen. Er habe das väterliche Vorbild verloren und lasse es an der notwendigen Pflichtschuldigkeit fehlen, die das spezifisch römische Konzept der auctoritas und der pietas erga patres einfordert. Cicero steigert diese Tendenz noch, indem er betont, daß Calenus’ Vater standhaft seine Meinung beibehalten habe. Sogar „im Alter“ (eine nochmalige Steigerung der väterlichen Autorität) habe dieser Nasica noch ausdrücklich gelobt. Die Methode und das Ziel der Argumentation sind schon einmal in Ciceros Reden gegen Catilina begegnet. Die Diagnose der politischen Situation ist identisch: Damals (63 v. Chr.) wie jetzt (43 v. Chr.) sei es um die Rettung der res publica gegangen, für die ein senatus consultum ultimum beschlossen werden müsse. Und wenn man dies nun tue, handle man genau richtig, eben genau so wie die Väter. Lohn aller Anstrengungen sei die Anerkennung der Eigenschaften und Vorzüge, die Cicero Calenus’ Vater zuschreibt: virtus, consilium (und der damit verbundenen) sapientia, magnitudo animi.186
185 Verhandlungsbereitschaft mit Antonius ist für Cicero überhaupt unverständlich, Phil. 5,25: „Wer eine Gesandtschaft zu Antonius schicken will, was weiß der ... vom Beispiel ... unserer Vorfahren?“ / „Legatos mitti placet? Norunt isti homines … exempla maiorum …“. Ähnliche Tendenz Phil. 8,8. 186 Vgl. allgemein ROBINSON 1986, 61.
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Cicero geht mit den Gracchen innerhalb seiner Argumentation differenzierter vor, als er dies zum Beispiel mit den ‚Listen großer alter Männer‘ tut. Er variiert sowohl die Bewertung vor jeweiligem Publikum als auch den Kontext, in dem er die Gracchen zitiert. Das Schwergewicht liegt dabei auf C. Gracchus, der als Persönlichkeit viel greifbarer ist als Tiberius. Cicero stellt öfter den Vergleich mit anderen Tribunen her mit dem Ziel, gegenwärtige Tribune zu attackieren. Nur im Falle des Cornelius setzt Cicero die Gracchen in negativem Sinne von seinem Schützling ab. Cicero ist sich bewußt, wie stark die Wirkung des Namens „Gracchi“ ist, und weiß sie offensichtlich auch psychologisch genau anzuwenden, um seine Argumente zu stärken. Erst in den catilinarischen Reden geht Cicero so weit, vor einem senatorischen Publikum die Tötung der Gracchen als gerechtfertigt hinzustellen. Von diesem Zeitpunkt an dienen ihm die Gracchen in diesem Sinne als exemplum, weil er das Todesurteil für Catilina erwirken möchte. Cicero betont jedoch auch vor dem Senat die vornehme Abkunft der Gracchen-Brüder; „nur ein relativ geringer Verdacht“ hafte an ihnen. Die gegen sie ergriffenen Maßnahmen hätten Ehre gebracht; aber noch im Jahre 63 v. Chr. lautet das im Senat gesprochene Urteil über die Gracchen, daß sie „nur in Maßen“ an der Staatsverfassung gerüttelt hätten. Cicero verzichtet in den vor dem Volk gegen Catilina gehaltenen Reden darauf, auf die Tötung der Gracchen und die Problematik des senatus consultum ultimum einzugehen. Aber auch der Verzicht auf gerade ‚populare‘ Beispiele (wie z. B. Saturninus) zeigt an, daß Cicero keinesfalls Erinnerungen wecken möchte, die seinen Plänen im Wege stehen könnten.187 Vor der Folie von Ciceros aktuellem Gegner erweisen sich die Gracchen vor dem Senat als durchaus aufrechte Kämpfer für ihre Überzeugungen und für die Sache des Volkes. Sie bewiesen immerhin noch Achtung vor den Maßnahmen und Regelungen ihrer Vorfahren wie zum Beispiel im Falle Capuas. Ciceros Argumentation mit dem Gracchenexemplum in späteren Jahren bildet einen deutlich optimatischen Diskurs ab. Die Gracchen sind überwiegend ein exemplum malum. Ihre Tötung war nicht nur gerechtfertigt, sondern erhebt den Initiator Nasica in den Status eines exemplum bonum. Die politische Klasse kennzeichnet die Gracchen zunehmend weniger als Abweichler aus den eigenen Reihen. Die Erwähnungen der vornehmen Abkunft der Gracchen, das Wehklagen über den falschen Weg, den die jungen Herren eingeschlagen hätten, verstummen. Die Erinnerung formt sich immer mehr zu einem unverbundenen Gegenüber von zwei Rivalen, die einander so ausschließen, daß nur einer überleben durfte. Dies geschah vor dem zeitgenössischen Hintergrund, daß Ciceros Auseinandersetzungen mit seinen inimici Gabinius und Piso sowie natürlich Clodius an Heftigkeit zunahmen. Dadurch sind die persönlichen Vergleiche offensichtlich motiviert, die Cicero regelmäßig zieht und in denen er die Tötung eines römischen Bürgers hinzunehmen bereit war.
187 RIEGER 1991, 127.
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Insgesamt aber spitzte sich die politische Lage in Rom zu, und die politische Klasse zerfiel in immer schärfer auseinandertretende und unversöhnlich sich gegenüberstehende Gruppierungen. Die Bedeutung und Beurteilung der historischen Geschehnisse, die in der politischen Debatte verargumentiert wurden, unterlagen immer und – wie es scheint – zuallererst der Relation zur Gegenwart. Der Wert und die Qualität eines exemplum waren nicht losgelöst und für sich (fest)stehend, sondern stets gegenwartsbezogen.188 Für die ebenfalls zunehmend härtere Auseinandersetzung im Innern brauchte man auch schärfere ideologische und rhetorische Waffen. Das Gracchenexemplum bot die Möglichkeit, zum äußersten zu gehen, nämlich die Tötung eines Bürgers als rechtlich und moralisch beispielhaft zu bewerten. Dabei würde man sich auch zugleich immer noch im Komment mit den Vätern bewegen und keine exempla nova statuieren. Schließlich konnte Cicero die Zustimmung der Väter zu den Geschehnissen ins Gedächtnis rufen: Damals habe man gewußt, was richtig und was falsch gewesen sei. Der Kampf auf Leben und Tod war richtig, wenn er sich auf das Wohl der res publica bezog, für das jede Partei nach bestem Wissen und Gewissen einzutreten behauptete. Der Gegner mußte dann konsequenterweise vernichtet werden. In diesem Sinne wird auch verständlich, daß Cicero in der späten Phase vor dem Volk die Gracchen nur sehr wenig anführt. Die Rivalität besteht vor allem innerhalb der politischen Klasse, von der auch weiterhin erwartet wird, daß sie die res publica leite und die anstehenden Probleme lösen werde. In einer oratio ad populum auf die Tötung der popularen Helden zu rekurrieren und dies auch für gegenwärtige populare, von einer großen Anhängerschaft verehrte Politiker wie etwa Clodius gutzuheißen, wäre selbstverständlich kontraproduktiv. Sich auf der anderen Seite günstig über die Gracchen-Brüder zu äußern, konnte ebenfalls als riskant erscheinen. Also läßt Cicero Anspielungen auf die ‚gerechte‘ Tötung der Gracchen vor dem Volk aus dem Spiel.189 Die exempla der Gracchen und des Saturninus boten in der politischen Debatte kaum einen Anstoß, über das Phänomen der Gewalt im Innern und ihre zersetzende Wirkung zu reflektieren.190 Daß Nasicas Handeln problematisch war, wußte man. Cicero betont oft genug die sofortige nachträgliche Belobigung Nasicas durch den Consul Mucius.191 Das Problem lag jedoch wohl in der Form, daß ein privatus machte, wozu – wenn überhaupt – nur ein offizieller Magistrat befähigt war.192 Das Krisenphänomen der Gewalt in den eigenen Reihen und auf den Straßen Roms wurde nicht wirklich betrachtet und analysiert. 188 Für das Gracchenexemplum zeichnet dies SCHRECKENBERG 1950, 187ff., bes. 192 nach. Vgl. weiterhin ELVERS 1993, 12 Anm.28 („weitgehend von Ciceros eigener politischer Taktik bestimmte Wertungen über die Gracchen“). 189 Vgl. ROBINSON 1986, 76. 190 Etwas umständlich, aber doch nachdenklich sind Ciceros Äußerungen, Mil. 14. 191 Cic. dom. 91f.; Planc. 88. Zum scu vgl. auch UNGERN-STERNBERG 1997, 88ff. 192 Und auch dies müßte man staatsrechtlich natürlich diskutieren. Aber Cicero und seine Zeitgenossen – zumindest diejenigen, die diese Einschätzung teilten – halten dies offensichtlich nicht für nötig.
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Im Gegenteil schaffte bzw. konstruierte man sich das Bewußtsein, wie die Väter zu handeln. Ihre Ansichten und Meinungen wurden zitiert. Dies genügte als Rechtfertigung – gar nicht einmal so sehr vor anderen, sondern in erster Linie vor sich selbst. Die anderen zu überzeugen, das exemplum als angemessenes Argument in der Sache einzusetzen – diese Ziele traten in die zweite Reihe zurück (wenn sie denn je an erster Stelle standen). Leitende Absicht war die individuelle Übereinstimmung mit den Botschaften der exempla, mit deren Hilfe sich der einzelne durchsetzen wollte oder – in den eigenen Augen – mußte.193 Der allgemeine Bezug auf das große Ganze, die Übereinstimmung der res publica von ‚heute‘ mit der von einst, war geschwächt. Die exempla standen in der Debatte mehr einander gegenüber, sie waren mehr Waffe und Lizenz zur Gewalt, als daß sie einen übergeordneten Wertekosmos abbildeten, an dem sich die Gesamtheit orientierte.194 Ciceros wachsende historische Kenntnis konnte anhand des Beispiels Catos des Älteren nachgezeichnet werden. Mit seinen philosophischen Studien nach der Rückkehr aus dem Exil und der ‚Wiederbelebung‘ des alten Cato durch den jüngeren rückte Cato Censorius wieder mehr ins Bewußtsein Ciceros wie auch der Allgemeinheit. Die wachsenden Kenntnisse zur Person änderten jedoch nicht die Aussagekraft des exemplum Cato: Er bestand weiterhin als Beispiel altrömischer Strenge und Verfechter des wahrhaft römischen mos maiorum. Das Beispiel Catos ist etwa eine Generation älter als das der Gracchen. Zwischen diesen beiden verläuft die Schnittstelle von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis. Beim Gracchenexemplum verlagert sich der Schwerpunkt von den Unruhestiftern aus noblem Hause zu gerechterweise getöteten Aufrührern. Dabei haben sich weder die Erzählungen noch Ciceros Kenntnisse von den Tribunaten der Gracchen wesentlich vermehrt oder intensiviert. In der politischen Atmosphäre der 50er und 40er Jahre des ersten Jahrhunderts v. Chr. erhält das exemplum der Gracchen eine neue Tendenz, die sich aus den Erfahrungen der zeitgenössischen inneren Auseinandersetzungen ergeben hat. Es läßt sich hier also die Beobachtung machen, daß sich solche neuen Tendenzen bei exempla aus der jüngeren Vergangenheit ergeben können. Die geronnene und erhärtete Erinnerung des kulturellen Gedächtnisses scheint hingegen keine neue Perspektive auf ein exemplum zu gewinnen.195 Formen die exempla mit der – ihnen immer unterstellten – gebieterischen Vorbildlichkeit die Gegenwart, oder macht sich nicht vielmehr die Gegenwart ihre exempla so, wie sie sie braucht? Die Formulierung läuft auf ein Entweder – Oder, eine Ausschließlichkeit hinaus und erscheint daher etwas unglücklich. Daß das eine jeweils ohne das andere gar nicht sein kann, ist eine im Prinzip banale Fest193 Vgl. Ciceros Eingeständnis (Mil. 14), daß Gewalt bisweilen verhindert werden kann. 194 Die einzige Stelle, die in diese Richtung geht, liegt im sog. ,Nobilitätsexkurs‘ der Sestiana vor, der aber mit großer Sicherheit ein in die schriftliche Fassung eingearbeiteter Exkurs ist und wahrscheinlich nicht in die vorgetragene Fassung gehört. 195 Diese Beobachtung müßte natürlich noch einmal auf breiterer Basis bestätigt werden. Sie sei für den Moment jedoch einmal notiert und als These in den Raum gestellt.
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stellung. Wichtig ist jedoch m.E. die anhand der Gracchen feststellbare Entwicklungsmöglichkeit eines exemplum, ohne daß durch die Nutzer der exempla über diesen Prozeß reflektiert wird. Das Bewußtsein, daß es immer schon so war, ist derart selbstverständlich und subjektiv erwiesen, daß Veränderungen gar nicht mehr bewußt wahrgenommen werden (können). Zum Vergleich: eine populare Rede bei Sallust Am Beginn, aber auch im ganzen der Rede über das Ackergesetz des Rullus bekräftigt Cicero vor seinen Zuhörern, daß er wirklich und wahrhaftig und nicht nur dem Worte nach popularis sei. Cicero versucht durch seine populare Strategie Zustimmung für seine ablehnende Haltung gegenüber der Rogatio zu erhalten, was ihm schließlich auch gelungen ist. Die aus Sallusts Historien überlieferte Rede des Licinius Macer kann als Beispiel für die Rede eines römischen Volkstribuns angeführt und untersucht werden. Über die Echtheit bzw. Authentizität der Rede trifft man in der Literatur sehr unterschiedliche Meinungen an: von der Einschätzung einer relativ nah am Original stehenden Rede bis zur reinen Fiktion des Historikers.196 Da Macer ein Zeitgenosse Sallusts war und dieser ihn somit selbst erlebt und gehört hat, ist die Authentizität der von Sallust in sein Werk aufgenommenen Rede immerhin möglich. Diese Wahrscheinlichkeit würde ich dann gerade auf das beziehen, was man von einem Tribun in einer Rede vor dem Volk an fundamentaler Argumentation erwarten durfte. Denn als „aemulus Thucydidis“ haben die Reden für Sallust eine zentrale Bedeutung.197 Mag er sich dem Methodenkapitel des Thukydides auch nicht expressis verbis anschließen, so ist für eine Einschätzung der Sallust-Rede sinnvollerweise auf Thukydides’ Methode zu verweisen: So hätte Macer in möglichst engem Anschluß an den Gesamtsinn der politischen Situation sprechen müssen, um in seiner Lage etwa am besten dazustehen.198 Licinius Macer war kein unbedeutendes Mitglied der politischen Klasse. Er war 73 v. Chr. Volkstribun und erlangte im Jahre 68 v. Chr. sogar die Praetur. Dann allerdings endete seine Karriere, als er im Jahre 66 v. Chr. in einem Repetundenprozeß unter Ciceros Vorsitz verurteilt wurde. Kurz danach verstarb er.199 196 Vgl. WALT 1997, 11ff.; W. KIERDORF bewertet in seinem Artikel DNP 7, 1999, 168f. s.v. Licinius I 30: „Als Volkstribun tat er sich 73 mit popularen Reden hervor (z.B. gegen C. Rabirius); Sallust (hist. 3,48 M.) gibt einen exemplarischen Eindruck.“; MORSTEIN-MARX 2004, 17 (Sallust „should be considered a good source for the nature of contional rhetoric“); 76f.; 218; 264ff. 197 Vell. 2,36. Vgl. VON ALBRECHT 1992, 351: „Durch seine Gestaltungsweise erhebt Sallust den Anspruch, der römische Thukydides zu sein.“ 198 Vgl. Thuk. 1,21. 199 Vgl. zu Macer WALT 1997; SCHANZ I l, 109–11; ROSENBERG 1921, 136–37; MÜNZER, RE 13,1, 1926, 419–28 s.v. Licinius (112) Macer; siehe die Ausgabe der Fragmente in FRH 17; WALTER 2004, 349ff. mit weiterer Literatur in den Anmerkungen.
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Macer war auch historiographisch tätig, im Gegensatz zu anderen Historikern hat er sein Werk nicht im otium des Alters, sondern schon während seiner politischen Karriere begonnen. „Macers Gesamtgeschichte blieb wahrscheinlich durch den frühen Tod des Autors unvollendet; die Fragmente reichen nur bis ins frühe 3. Jahrhundert, und Livius erwähnt Macer in der dritten Dekade nicht mehr als Gewährsmann.“ Er hatte sich mit der Frühzeit der Republik beschäftigt und seine populare Sicht auf die Frühzeit Roms entwickelt, die seinen politischen Ansichten zur Gegenwart wohl nahekam. „Macer verfaßte sein Werk ... parallel zu seiner politischen Karriere, und es wäre mehr als seltsam, wenn er sein literarisches Selbst gänzlich vom politischen abgetrennt hätte.“200 Die Rede Macers, der im Jahre 73 v. Chr. Volkstribun war, weist historische Beispiele der jüngsten Vergangenheit auf wie auch historisch weit entfernte plebeische Kerntraditionen. Mit Erinnerungen an die weit entfernte Vergangenheit ermahnt Macer seine Zuhörer, die grundlegenden Einstellungen, sozusagen das plebeische Ethos, zu wahren. Dazu verweist er mehrmals auf die von den Vorfahren überkommenen Errungenschaften (1) des Volkstribunats, (2) des Zugangs zur Magistratur und (3) des von Patriziern unabhängigen Stimmrechts, das die Plebs sich erworben habe.201 Der Hinweis auf die Vorfahren ist dann aber auch der einzige Anhaltspunkt dafür, daß es eine entfernte Vergangenheit ist, auf die Macer sich beruft. Er spricht nicht davon, daß es besonders alte Errungenschaften seien, die es zu bewahren gelte. Macers Ziel besteht darin, den Plebeiern bewußt zu machen, in welcher krisenhaften Situation sie leben. Denn seiner Meinung nach kämpfe er – übrigens als einziger des Tribunencollegiums – für die Freiheit seiner Mitbürger, die diese allzu bereitwillig aufgäben. Diesen Verlust der Freiheit könne man nicht einfach mit dem Namen Sullas identifizieren. Nein, man müsse sich ja nur das Vorgehen der Nobilität in den letzten Jahren gegen einzelne, für die libertas kämpfende Volkstribune ins Gedächtnis rufen.202 Dazu gebraucht er namentlich exempla der letzten Jahre, die seinen Zuhörern auch sogleich vor Augen gestanden haben dürften. Nach Sullas Tod habe man den „viel grausameren“ Catulus erlebt. Kriegsunruhen unter den Consuln Brutus und Mamercus seien dazwischengekommen; dann habe sich C. Curio „wie ein Herr“ bis zum Untergang eines unschuldigen Tribuns „aufgeführt“. Und schließlich sei an das letzte Jahr zu erinnern, in dem Lucullus „mit Hochmut“ gegen den L. Quinctius vorgegangen sei. Und nicht anders ergehe es Macer selbst, der sich jetzt den Agitationen der Gegenseite ausgesetzt sehe. Vor dem Hinter200 WALTER 2004, 349. 201 Sall. hist. 3,48,15 MAURENBRECHER. 202 Ibd. 9ff.: „Sulla mortuo, qui scelestum inposuerat servitium, finem mali credebatis: ortus est longe saevior Catulus. tumultus intercessit Bruto et Mamerco consulibus. dein C. Curio ad exitium usque insontis tribuni dominatus est. Lucullus superiore anno quantis animis ierit in L. Quintium, vidistis. quantae denique nunc mihi turbae concitantur!“ – Die klassischen popularen Beispiele fehlen in dieser Rede ganz: Die beiden Gracchen, Saturninus, Sulpicius Rufus und Livius Drusus kommen nicht einmal in Anspielungen vor.
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grund dieser kräftigen und frischen Eindrücke ergebe sich die bipolare Situation doch ganz klar: Die Nobilität habe dem Volk Rechte und Macht entrissen, die ihnen von den Vorfahren übergeben worden seien. Und dies habe auch Konsequenzen, denn die Lasten und die Vorteile seien nicht gleich verteilt. Daher fordert Macer seine Zuhörer auf: „Fern seien Gefahr und Anstrengung denen, für die es keine Teilhabe an den Früchten des Erfolgs gibt!“203 Die Schuld an diesem Zustand trügen die erlahmten – ja mit fünf Scheffel Getreide geradezu billig eingekauften – Plebeier genauso wie die raffgierigen Nobiles. Die römische Plebs habe sich von ihren historischen Wurzeln entfernt. Daher ruft Macer in Erinnerung, was die Vorfahren für die Plebs erreicht hätten: Sie hätten sich durch secessiones gegen Ungerechtigkeiten zur Wehr gesetzt. Sie hätten das Amt des Volkstribuns geschaffen. Sie hätten von den Patriziern den Zugang zur Magistratur ertrotzt. Und sie hätten ein von den Patriziern unabhängiges Stimmrecht erlangt.204 Macer erwartet nun nicht ein Handeln, das derartig tiefgreifende Erfolge wiederholen soll, aber er will seine Zuhörer mit diesen historischen Errungenschaften daran erinnern, was es immer wieder in Anspruch zu nehmen und demzufolge auch ernsthaft zu verteidigen gelte, und dies mache mit einem Worte die libertas jedes römischen Bürgers aus. Als Maßnahme schlägt er daher einerseits vor, den Kriegsdienst zu verweigern: Sollen sie doch Krieg führen, „nur von ihren Ahnenmasken begleitet!“205 Auf der anderen Seite mögen sich die römischen Bürger nicht weiterhin der augenblicklichen Tatenlosigkeit hingeben, sondern um die libertas kämpfen.206 In dieser Rede kommen die üblichen Themen popularer Agitation vor: Die plebeischen Gründungsmythen, die von den Vorfahren gewonnene und überlieferte, jetzt jedoch bedrohte libertas, der Hochmut des Adels, der auf Kosten der Bevölkerung immer reicher werde. Zur Dokumentation werden die Jetztzustände in grellen Farben gemalt und namentlich an die Verfolgung und Mißhandlungen von Volkstribunen der letzten Jahre durch hochmütige Nobiles erinnert. Macer verfolgt die Absicht, Emotionen, Empörung und Zorn, zu schüren, die den Willen der Bevölkerung stärken sollen, sich zur Wehr zu setzen. Bei diesen ‚frischen Beispielen‘ stehen persönliche Erinnerungen und persönliche Beziehungen der Hörer zu ihren Volkstribunen im Mittelpunkt. Das plebeische Ethos dient der Legitimation eines Handelns seitens der Plebs. Macer beschwört dies neben den jüngsten Erlebnissen mit gemeinschaftsstiftenden Erinnerungen an die Errungenschaften der plebeischen Vorfahren.
203 Ibd. 18 (Übersetzung nach LEGGEWIE): „Absit periculum et labos, quibus nullus pars fructus est.“ 204 Ibd. 1;15ff. 205 Ibd. 18. 206 Ibd. 26–28.
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An Ciceros Argumentation erinnert die Tendenz, die Leistungen und Verdienste der Vorfahren als ein zu bewahrendes Erbe aufzufassen und sich dieser kollektiven Verantwortung bewußt zu sein. Ebenfalls kann man bei Cicero die Tendenz feststellen, die zu verhandelnde Sache ins Grundsätzliche zu steigern. Dagegen ist die starke Polarisierung in zwei gegeneinander kämpfende gesellschaftliche Gruppen hervorzuheben, Nobilität versus Plebs, wie Macer die Konstellation darstellt. Während in Ciceros Reden das Ideal der concordia ordinum bestimmend ist und er fragt, was denn volksfreundlicher sein könnte als Frieden,207 formuliert die tribunizische Agitation des Macer das Gegeneinander zweier Gruppen, die in einer insgesamt stets krisen- und konfliktanfälligen Gesamtsituation eine Balance finden müssen.208 Gerade darum müsse gekämpft werden. Daß die Stimmung bei tribunizischen Veranstaltungen aufheizbar war und von Tribunen auch aufgeheizt wurde, berichtet Cicero ja selbst.209 Mit den tribunizischen exempla konnte und sollte also Stimmung gemacht werden, indem man an das Ertrotzte und Erreichte erinnerte. Die Rede Macers nimmt für die libertas, wie er sie begreift und mit exempla illustriert, sogar die Paralyse des staatlichen Handelns in Kauf, wenn er auf Kriegsdienstverweigerung drängt. Ganz anders verfährt Cicero: An den Stellen, wo er einen Konflikt sieht bzw. haben will, greift er rhetorisch in der Regel einen einzelnen Mann an, sei es Catilina oder Clodius, sei es Antonius; er versucht jeweils seinen inimicus mit Hilfe von exempla zu diskreditieren. Aus Ciceros rhetorischem Oeuvre gewinnt man insgesamt eher den Eindruck von adeligen Duellen zweier Männer als von aufeinander prallenden Teilen der Bürgerschaft. Ob man allein aufgrund dieser Eindrücke aus dem historiographischen Werk Sallusts auf ein eigenständiges populares Geschichtsbild schließen kann, mag fraglich erscheinen. Macer war ja nicht einfach Politiker und Redner, sondern zeitgleich Historiker. Nimmt man aber die unterschiedlichen Strategien Ciceros vor Volk und Senat im ganzen und seine Äußerungen je nach Publikum zu popularen Individuen im besonderen hinzu, kann man wohl doch von unterschiedlichen Tonarten und Registern in der Komposition der exempla sprechen, mit anderen Worten von einem popularen und von einem optimatischen Diskurs. Dies könnte nun für eine erhöhte Konfliktträchtigkeit stehen, weil damit das Trennende, das, worüber man uneins ist, in den Vordergrund zu treten scheint – darauf wird zurückzukommen sein.210
207 Grundlegend zu Ciceros Leitvorstellung der concordia ordinum STRASBURGER 1931. Geradezu exemplarisch von Cicero selbst zum Ausdruck gebracht leg. agr. 2,9: „... in hoc magistratu me popularem consulem futurum. Quid enim est tam populare quam pax?“ 208 Auf die Betonung der Zweipoligkeit der römischen Gesellschaft weisen auch die anderen Reden im Werk des Sallust hin, aber auch die bei Plutarch überlieferten Worte des Tiberius Gracchus und die Reden in Livius’ Werk, vgl. oben S. 46f. zur Agitation des Baebius. 209 Cic. Mur. 24. 210 Vgl. unten S. 323ff.
8. VON NAMENLOSEN GEWINNERN UND NAMHAFTEN VERLIERERN – CICEROS REDE FÜR PLANCIUS M. Iuventius Laterensis war Plancius bei der Wahl zum Aedilen für das Jahr 53 unterlegen. Er klagte ihn nun de ambitu an, Cicero verteidigte Plancius. Der Consular wird diese Verteidigung gern übernommen haben. Denn als er sich im Exil befand, war Plancius Quaestor in der Provinz Macedonia und hatte ihn in Thessalonike gastlich aufgenommen.1 Cicero hatte sich schon zuvor für die Wahl des Plancius massiv eingesetzt und für ihn geworben. „Ich habe mich bezirksweise an die Wählerschaft gewandt, mich verbeugt und inständig um Beistand ersucht; auch Leute, beim Herkules, die mir von sich aus erbötig waren, von sich aus Zusicherungen machten, habe ich gebeten. Den Ausschlag gab der Grund meines Bittens, nicht mein Ansehen.“2 Laterensis’ Anwalt Cassius führte in seinem Plädoyer wiederholt den Anspruch seines Mandaten auf das Amt an, weil der Glanz seiner Familie und die commendatio maiorum, die damit verbunden sei, seinem Clienten das Amt eigentlich geradezu von selbst antragen müßten. Nach der – in Wahrheit wohl erfundenen – Angabe des Cassius war nämlich ein Iuventius Laterensis „als erster Plebeier curulischer Aedil“. Dieser Erwartung läßt die Frage aufkommen: Könnte ein solches Detail des Jahres 306 v. Chr. tatsächlich dafür sorgen, daß über 250 Jahre später ein Nachkomme des Iuventius Laterensis wie selbstverständlich zum Aedil gewählt wird, ja gewählt werden muß?3 Man könnte zunächst sagen: Genau so verhält es sich! Die Mitglieder der politischen Klasse, die ihre Familiengeschichte bis in die Anfänge der Nobilität zurückführten, hatten den tatsächlichen Anspruch, den cursus honorum in privilegierter Position zu durchlaufen, also ohne irgendwelche ‚Wahlunfälle‘ hinnehmen 1 2 3
Cic. p. red. in sen. 35. Übersetzung FUHRMANN zu Cic. Planc. 24: „Appellavi populum tributim, submisi me et supplicavi; ultro me hercule se mihi etiam offerentis, ultro pollicentis rogavi. Valuit causa rogandi, non gratia.“ Planc. 58: „Sed venio iam ad L. Cassium, familiarem meum, cuius ex oratione ne illum quidem Iuventium tecum expostulavi, quem ille omni et humanitate et virtute ornatus adulescens primum de plebe aedilem curulem factum esse dixit.“ Die Geschichte ist falsch (um nicht zu sagen: erlogen), vgl. MRR 1, 166; FRIEDRICH MÜNZER RE 10,2, 1919, 1362, s.v. Iuventius Nr.1. Am Ende beruhigt Cicero den Laterensis, denn die commendatio maiorum werde seine Karriere letztlich befördern (Planc. 67).– In seiner scharfen Invektive gegen Piso sagt Cicero gleich zu Beginn, Piso habe seine Ämter nicht erhalten, sondern in Wirklichkeit habe man seinen Vorfahren, genauer: „aufgrund der Empfehlung der rauchgeschwärzten Ahnenmasken“, das jeweilige Amt übergeben; siehe Pis. 1: „Obrepsisti ad honores errore hominum, commendatione fumosarum imaginum, quarum simile habes nihil praeter colorem.“
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zu müssen. Der populus Romanus war sich darin einig, daß die Mitglieder solcher Familien in der Tat bevorzugt werden müßten, die Verehrung der politischen Klasse stand außer Frage, und die politische Hegemonie der Nobilität war tief eingerastet. Ein Kandidat mit solchen Vorfahren, die immer noch überall von jedem verehrt wurden, war zu wählen. Aber der Prozeßanlaß selbst – die verlorene Wahl – läßt dies ja gerade als ungewiß erscheinen und gibt einen Hinweis darauf, daß Anspruch bzw. Selbstbild der Angehörigen der politischen Klasse weit überspannt waren und daß ehrgeizige Neulinge derartige Adelsburgen in der politischen Realität ungeniert und mit der nötigen Respektlosigkeit erstürmen konnten. Der zum Gehorsam vermeintlich verpflichtete populus Romanus zeigte mit seiner Wahl des Plancius, daß das ,symbolische Kapital‘ eines Laterensis nicht so gewichtig war, wie er es selbst dachte und daraus seine Ansprüche herleitete. Wenn sich jemand um die Wählerschaft in angemessener Weise bemühte, dann war auch die Wahl eines Neulings möglich. Cicero wirft Iuventius Laterensis deshalb vor, die maiores seiner Familie machten mit ihrer Hinterlassenschaft deutlich mehr Eindruck als Laterensis mit dem, was er selbst vorzuweisen habe.4 Wie sah es nun konkret mit dem ,symbolischen Kapital‘ des Laterensis aus – soweit man es nachvollziehen kann? Er entstammte mütterlicherseits und väterlicherseits Familien consularischen Ranges.5 Höhepunkt der Familiengeschichte war das Consulat des M. Iuventius Thalna im Jahre 163 v. Chr. In der Generation zuvor war T. Iuventius Thalna im Jahre 194 v. Chr. praetor peregrinus gewesen. P. Iuventius Thalna war Praetor 149 v. Chr., Propraetor 148 v. Chr. in Griechenland, wo er in Thessalien eine schwere Niederlage erlitten hatte. Diese drei Herren hätten vom erreichten Amt her einen erinnerungswürdigen Rang. In der Generation des Planciusanklägers selbst war der familiäre Erfolg beim weitem nicht mehr gegeben. Nur vereinzelte Nachrichten sind für das erste Jahrhundert überliefert, so zum Beispiel über einen M. Iuventius Pedo, der Senator und Richter im Prozeß des Statius Albius Oppianicus war. Der von Catull besungene schöne Knabe Iuventius Thalna war wohl ebenfalls ein Mitglied der Familie.6 Iuventius’ Vater 4 5
6
Planc. 23. Cic. Planc. 18: „Sed tamen haec tibi est prima cum Plancio generis vestri familiaeque contentio, qua abs te vincitur; cur enim non confitear quod necesse est? … Est tuum nomen utraque familia consulare.“ / „Wie dem auch sei: der erste Vergleichspunkt zwischen dir und Plancius betrifft eure Herkunft und Familie, und hierin ist er dir unterlegen – warum soll ich nicht zugeben, was offensichtlich ist? … Du hast von väterlicher und mütterlicher Seite einen consularischen Namen.“ (Übersetzung FUHRMANN). Pedo: RE 10,2, 1919 s.v. Iuventius Nr. 18; Thalna: RE 10,2, 1919 s.v. Iuventius Nr. 27. Siehe Catull carm. 24,1. Die Iuventii Laterenses waren wohl sehr reich und konnten durch Baumaßnahmen in den Munizipien für sich werben (Inschrift auf Ziegelstein: CIL XIV 4091, 12) und auch sonst Geldgeschenke machen (Cic. Planc. 55). Aber die nobilitas, auf die man Anspruch erhob, entstammte einer schon recht weit entfernten Vergangenheit. – Vgl. Ciceros berühmtes Dictum zur nobilitas des Sulpicius, die ja vielleicht glänzend, doch nur Schriftgelehrten bekannt sei, Mur. 16: „Tua vero nobilitas, Ser. Sulpici, tametsi summa est, tamen hominibus litteratis et historicis est notior, populo vero et suffragatoribus obscurior.“
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stand dem Consul L. Volcatius Tullus nahe.7 Für das Prozeßjahr (54 v. Chr.) kann man festhalten: Die Mitglieder der Iuventii, die zu den ersten Reihen der Nobilität gehörten, lebten vor (mehr als) drei Generationen. Die letzte pompa funebris, in der die Familie sowohl den ersten plebeischen curulischen Aedil als auch die imago-würdigen Vorfahren des zweiten Jahrhunderts v. Chr. auftreten lassen konnte, dürfte lange her-, zumindest den Römern Mitte der fünfziger Jahre nicht mehr präsent gewesen sein. Somit war der familiale Vorsprung, den der Nobilis M. Iuventius Laterensis gegenüber Plancius von ritterlicher Herkunft innezuhaben geglaubt hatte, so sehr abgeschmolzen, daß er durch eine entsprechend erfolgreiche Kandidatur des Plancius ausgeglichen werden konnte. Ciceros Antwort auf Cassius’ Hinweis, die Familie habe den ersten plebeischen curulischen Aedil gestellt, lautete, daß dieses Detail der laterensischen Familiengeschichte weder ihm selbst bekannt sei noch „habe das römische Volk davon gewußt“.8 Bedeutet dies nun im Umkehrschluß, Laterensis wäre gewählt worden, hätte der populus Romanus diese Information seiner Familiengeschichte gekannt? Immerhin sei diese Information ja nicht einmal Cicero selbst bekannt gewesen, und er selbst gebe zu, sich nicht ungern mit der alten Zeit zu beschäftigen. Ja, nicht einmal der Altertumsforscher Congus habe dies gewußt.9 Iuventius scheint sich aber grundsätzlich etwas davon versprochen zu haben. Eine der Hauptsorgen des Laterensis bestand darin, wie es um ihn und seine eigene Erinnerungswürdigkeit bestellt sein werde. Er bzw. sein Anwalt wird wohl (wiederholt) von der Größe und dem Glanz der Familie des Laterensis gesprochen haben. Er dürfte an die imagines in seinem Hause erinnert und sein eigenes Los beklagt haben, im Vergleich zu seinen Vorfahren immer noch nicht bildniswürdig zu sein, nur weil sein Prozeßgegner das Amt per ambitum errungen habe. „Du fragst außerdem, Laterensis, wie Du jetzt vor den Bildern deiner Ahnen, wie vor deinem verstorbenen Vater, einem ausgezeichneten und ganz vortrefflichen Manne, dastehst. Mach dir darüber keine Gedanken und suche lieber zu vermeiden, 7 8 9
Er war Consul des Jahres 66 v. Chr.; siehe Cic. Planc. 51. Iuventius’ Vater war im Jahre 54 v. Chr. bereits verstorben. „Er scheint Senator, vielleicht auch Aedil gewesen zu sein.“ Friedrich MÜNZER, RE 10,2, 1919, 1365–67 s.v. Iuventius Nr.16, hier 1366. Planc. 58: „... ita tibi respondeam, nescisse id populum Romanum.“ Über diesen Congus äußert sich M. Antonius in de orat. 1,256 durchaus lobend: „Reliqua vero etiam si adiuvant, historiam dico et prudentiam iuris publici et antiquitatis memoriam et exemplorum copiam, si quando opus erit, a viro optimo et istis rebus instructissimo, familiari meo Congo mutuabor...“ / „Das übrige jedoch, ich meine die Geschichte, die Beherrschung des öffentlichen Rechts, die Kunde von der alten Zeit und das Material der Präzedenzfälle, mag zwar von Nutzen sein, doch werde ich es mir, wenn ich es einmal brauche, von meinem Freunde Congus borgen, einem tüchtigen Mann, der in diesen Dingen sehr bewandert ist.“ (Übersetzung MERKLIN). Der Scholiast (Schol. Bob. 264) schreibt aber ad locum der Planciana, daß er ein mittelmäßiger Forscher gewesen sei und von Cicero wahrscheinlich erwähnt wurde, weil Congus gerade erst verstorben sei. Vgl. auch KÖPKE 1856, 72 ad. loc.; GEORG WISSOWA, RE 10,1, 1918, 1031–33, s.v. Iunius Nr. 68. – Im übrigen ist es verwunderlich, daß Iuventius sich seinen Wählern nicht mit dieser commendatio maiorum empfohlen haben sollte.
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daß sich diese hochweisen Männer über deine Klagen und deinen allzu heftigen Schmerz beschweren.“10 Cicero läßt in einer Prosopopoeia Laterensis’ Vater Trost und Hoffnung zugleich aussprechen. Er würde ihn, so Cicero, an Berühmtheiten seiner Zeit erinnern, die bei den Wahlen ebenfalls einmal durchgefallen wären, deren Karriere aber damit nicht beendet gewesen sei.11 Dann geht er noch eine Generation weiter zurück und schildert, welche Beispiele gescheiteter Kandidaten Laterensis’ Großvater nennen würde.12 Insgesamt zeigt Cicero ein beachtliches Detailwissen über einzelne Karriereverläufe, das alles andere als alltägliches Exemplummaterial darstellt. Er hat sich also für diesen Fall sehr intensiv vorbereitet und entsprechende Informationsquellen studiert. „Fere octingenti consules“ Cicero bekennt sich dazu, Freude an der Erforschung des Altertums zu haben. Seine Angaben zur Gesamtzahl der Consuln geben Aufschluß über die Reichweite des Erinnerungsraumes. „Denn für Verdienste stehen viele Möglichkeiten offen, so daß der den größten Ruhm genießt, der das meiste leistet; doch das Ziel der Ämter, die das Volk verleiht, ist das Consulat – und dieses Amt haben schon etwa 800 Männer bekleidet. Von denen hat, wie du feststellen kannst, wenn du genau hinsiehst, kaum der zehnte Teil Ruhm erlangt.“13
Die Präzision der ciceronischen Angabe sollte man noch einmal betonen: Vom Jahre der Republik 509 v. Chr. bis zu dem der Rede Pro Plancio 54 v. Chr. zählt 10 Übersetzung FUHRMANN zu Planc. 51: „Quaeris etiam, Laterensis, quid imaginibus tuis, quid ornatissimo atque optimo viro, patri tuo, respondeas mortuo. Noli ista meditari atque illud cave potius ne tua ista querela dolorque nimius ab illis sapientissimis viris reprendatur.“ 11 Planc. 51. Beispiel Appius Claudius Pulcher (praet. 89, cos. 79); L. Volcatius Tullus (cos. 66), M. Pupius Piso (cos. 61). Diese drei Beispiele umreißen den Erinnerungszeitraum, aus dem Laterensis’ Vater berichten würde. 12 Planc. 52: Gescheiterte Aedilenkandidaten in der Generation des Großvaters: P. Cornelius Scipio Nasica (cos. 138) („... quo cive neminem statuo in hac re publica fortiorem ...“, ein Lob für den Anführer der Tiberius Gracchus-Gegner); C. Marius, der zweimal bei den Wahlen zum Aedil scheiterte und dann siebenmal Consul wurde. Weitere Beispiele: L. Iulius Caesar Strabo (cos. 90), Cn. Octavius (cos. 87), M. Tullius Decula (cos. 81); bei diesen drei Beispielen unterläßt es Cicero interessanterweise gänzlich, eine Andeutung auf die Zustände dieser Jahre, also das tempus Sullanum et Cinnanum, zu machen. Es werden weitere Beispiele der frühen Niederlage und des späteren Erfolgs aufgezählt: L. Marcius Philippus (cos. 91), C. Caelius Caldus (cos. 94), P. Rutilius Rufus (cos. 105), C. Fimbria Maximus (cos.104), C. Cassius Longinus (cos. 96) und Cn. Aufidius Orestes (cos. 71). Das letzte Beispiel paßt chronologisch nicht in die Großvaterzeit. S. ELVERS 1993, 174ff. 13 Übersetzung FUHRMANN zu Planc. 60: „Etenim in virtute multi sunt adscensus, ut is maxime gloria excellat qui virtute plurimum praestet; honorum populi finis est consulatus; quem magistratum iam octingenti fere consecuti sunt. Horum, si diligenter quaeres, vix decimam partem reperies gloria dignam.“
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man 455 Jahre. Wären immer Consuln im Amt gewesen, so käme man – unter Weglassung von Suffectconsuln – auf 910. Die Zahl mindert sich (1) durch ein Jahr, in welchem die decemviri die Wahl von Consuln verhinderten, (2) durch ca. 50 Jahre, in denen die tribuni militum consulari potestate den Staat führten, (3) durch fünf Jahre, in welchen solitudines magistratuum waren, und (4) durch drei Jahre, in denen dictator und magister equitum sine consulibus an der Spitze des Staates standen (324, 309, 211 v. Chr.). Danach sind 59 Jahre mit mindestens 118 Consuln abzuziehen; es bleiben 792 („octingenti fere“), unter denen natürlich mehrere das Consulat iterierten bzw. einige auch durch suffecti ersetzt wurden.14 Die Genauigkeit von Ciceros Angabe ist um so bemerkenswerter, da die Überlieferung ja nach seinem eigenen Zeugnis durch „plures consulatus et falsi triumphi“ kontaminiert gewesen sei.15 Aus dieser Großzahl der Consularen ragten allerdings „nicht einmal zehn Prozent“ heraus. Der Gleichrangigkeit im Ehrenamt entspreche nicht ein gleicher Ruhm.16 Die Verteilung dieser ‚Ruhmesgipfel‘ ist nun nicht gleichmäßig über den Zeitraum der ca. 800 Consuln angelegt. Vielmehr erhält man bei der Gesamtlektüre der Reden Zeitphasen besonders vieler exempla maioris gloriae und sehr ausgedünnte Bereiche der Vergangenheit, die kaum exempla bereitzuhalten scheinen.17 Cicero illustriert seine Äußerungen in der Planciana mit einer langen exempla-Reihe ausgewählter Triumphatoren, vornehmlich aus dem dritten Jahrhundert: „Denn die Stufen der Ämter sind für die Größten und die geringsten gleich, die des Ruhmes hingegen sind ungleich. Wer von uns wollte behaupten, er könne es mit M’. Curius, mit C. Fabricius, mit C. Duilius aufnehmen, mit A. Atilius Calatinus, mit Cn. und P. Scipio, mit Scipio Africanus, Marcellus, Fabius Maximus?“18
Im folgenden soll nicht die gesamte Karriere der Genannten, sondern sollen nur der bzw. die jeweilige(n) Triumph(e) ins Auge gefaßt werden: M’. Curius Dentatus war im Jahre 290 v. Chr. Consul zusammen mit P. Cornelius Rufinus und triumphierte über die Sabiner und zweifach über die Samniten, das zweite Consulat (mit L. Cornelius Lentulus) im Jahre 275 brachte Triumphe über die Samniten und den König Pyrrhos. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 101) C. Fabricius Luscinus war im Jahre 282 v. Chr. zusammen mit Q. Aemilius Papus Consul und triumphierte über Samniten, Lucaner, Bruttier. Mit demselben Consulkollegen triumphierte er im Jahre 278 v. Chr. über die Lucanier, Bruttier, Tarentiner und Samniten. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 105; 109) C. Duilius hatte in seinem Consulat 260 v. Chr. den Cn. Cornelius Scipio Asina zum Kollegen, er triumphierte über die Siculer und die punische Flotte. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 128)
14 KÖPKE 1856 ad loc., S. 76. 15 Brut. 62. S. WALTER 2004, 105ff.. Vgl. BLÖSEL 2003, 65ff.; TIMPE 2003, 295 und bereits KROLL 1933, 34. 16 Cic. Planc. 60 (Text Anm. 18) 17 Vgl. die Anhänge und oben S. 157ff. den Abschnitt „Zahlen – Daten – Fakten“. 18 Planc. 60: „Etenim honorum gradus summis hominibus et infimis sunt pares, gloriae dispares. Quis nostrum se dicit M’. Curio, quis C. Fabricio, quis C. Duilio parem, quis A. Atilio Calatino, quis Cn. et P. Scipionibus, quis Africano, Marcello, Maximo?“
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A. Atilius Calatinus war 258 v. Chr. Consul und triumphierte 257 v. Chr. als Proconsul ex Sicilia de Poenis. Anschließend nennt Cicero das berühmte Scipionenbrüderpaar des zweiten punischen Kriegs, Cn. und P. Cornelius Scipio, die beide 212 v. Chr. getötet wurden, ohne triumphiert zu haben. (s. ITGENSHORST 2005 Nr.132) P. Cornelius Scipio Africanus triumphierte 201 v. Chr. als Proconsul über Hannibal. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 163) M. Claudius Marcellus war neben Cn. Cornelius Scipio Calvus 222 v. Chr. Consul und triumphierte über die insubrischen Gallier und die Germanen. Er konnte die bei Clastidium errungene spolia opima nach Rom heimführen. 211 v. Chr. triumphierte er über das im Vorjahr eroberte Syrakus in monte Albano. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 155; 158) Q. Fabius Maximus Verrucosus war 233 v. Chr. zusammen mit M’. Pomponius Matho Consul und triumphierte über die Ligurer. In seinem fünften Consulat (209) zusammen mit Q. Fulvius Flaccus triumphierte er über die Tarentiner. (s. ITGENSHORST 2005 Nr. 148; 160)
Alle diese ‚Helden‘ der res publica hätten einst genauso die Ämterlaufbahn erklommen und auch die Aedilität übernommen. Und in diesem Stadium ihrer Karriere konnte damals niemand wissen, was noch aus ihnen würde. Angesichts solcher militärischen Karrieren dürfe sich ein junger Römer jedoch nicht davon abhalten lassen, ebenfalls eine Karriere innerhalb der res publica anzustreben – wie der Redner selbst sie vorweisen kann. Am Ende zählt nur die Leistung, wie Ciceros Credo lautet. Nicht die familiäre Abstammung, das symbolische Kapital, sondern die eigene persönliche virtus muß ausschlaggebend sein. Damit versuchte Cicero Cassius’ Argument des symbolischen Kapitals auszuhebeln. Der Leser der Cicero-Rede gewinnt hier einmal einen kurzen Blick auf die (von Cicero referierte) Gegenargumentation des gegnerischen Anwalts: „Was, der ist ein Consul geworden? Was mehr könnte er sein, wäre er ein Abkömmling des L. Brutus, der die Bürgerschaft von der Königsherrschaft befreite?“19 Die Richtung seiner Argumentation dürfte klar sein: Er griff Plancius an, weil dieser nicht einer Familie angehörte, die auf eine politische Tradition verweisen konnte. Auf der anderen Seite zeigt das Zitat, wie wichtig es war, in Rom einen Namen zu haben und sich seines Namens auch würdig zu erweisen.20 Die Eignung und Fähigkeiten seines Clienten Iuventius könnten nicht ernsthaft in Frage gestellt werden und seien ihm geradezu charismatisch in die Familienwiege gelegt. Von daher verfügt also, wer eine commendatio maiorum vorweisen kann, über einen offensichtlichen Vorsprung vor jedem homo novus – Cicero selbst beklagt sich häufig darüber, weil ihm dies seinen eigenen Aufstieg so erschwert habe.21
19 Übersetzung von FUHRMANN zu Planc. 60: „cur iste fit consul? quid potuit amplius, si L. Brutus esset, qui civitatem dominatu regio liberavit?“ 20 Cic. Sest. 21; BETHE 1935, 42. 21 Vgl. Verr. 2,5,181; leg. agr. 2,3; 100; vgl. LIND 1979, 44f.; ROLOFF 1938, 15; 20f.; HEINZE 1909/1960, 138; LIEBERS 1942, 29ff.; bes. 33f.; SCHOENBERGER 1910, 28; KROLL 1933, 47; RECH 1936, 26.
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Die Auswahl von exempla in dieser Triumphatorenliste stellt eher eine Ausnahme als die Regel dar. Denn normalerweise greift Cicero nicht so weit in die Vergangenheit zurück. Vielfach entscheidet er sich für Beispiele aus dem Zeitraum von 200 – 146 v. Chr. oder, was im ganzen noch häufiger anzutreffen ist, für Beispiele ab ca. 100 v. Chr. – dies entspricht ziemlich genau der Erinnerungsgrenze seiner eigenen Generation. Seine Anmerkung über die Relativität und ungleiche Verteilung von Ruhm ist für den politischen Diskurs eher unüblich. Aber die Fremdheit und Entlegenheit, ja auch Bemühtheit von Ciceros Argumentation zeigen auf, worum es in Rom doch eigentlich ging. Das symbolische Kapital war bedeutend; die makellose Karriere war unverzichtbar, beim Kampf um die honores hat es natürlich üblicherweise eine bessere Startposition verschafft. Nur hatte das symbolische Kapital des Laterensis einen schwerwiegenden Nachteil: Es fehlte ihm die Aktualität. Und dieser Mangel eröffnete Plancius eine Chance, die er mit den Mitteln, die ihm zur Verfügung standen, offensichtlich erfolgreich genutzt hatte.
9. REDEN UNTER VERÄNDERTEN BEDINGUNGEN – CICERO VOR CAESAR Die sogenannten ‚drei Reden vor Caesar‘ aus den Jahren 46 (Herbst) und 45 v. Chr. fallen dadurch auf, daß Cicero in ihnen kaum exempla anführt. Für den unmittelbar zu verhandelnden Sachverhalt zieht Cicero wenige Vergleiche aus der Vergangenheit heran. Den Dictator Caesar rückt er nicht direkt in das Umfeld berühmter Exempel, worin m.E. ebenfalls eine Form von Politik zu erkennen ist, die mit Hilfe der exempla gemacht wird. Das Verhältnis von Deiotaros und Caesar vergleicht Cicero mit demjenigen zwischen Attalos von Pergamon und dem jüngeren Africanus. Ansonsten gruppiert Cicero seine Ausführungen insbesondere um den clementia-Begriff. Ein historischer Vergleich steckt implizit in allen drei Reden. Auch wenn Cicero den Namen Sullas nicht in den Mund nimmt, macht er dennoch eindeutige Hinweise darauf, wie man damals in Rom auf Caesar blickte und was man von ihm befürchtete. Cicero spricht im nachhinein zwar von falscher und leerer Furcht.1 Als Caesar aber nach Rom kam, erwartete man, sullanische Zustände würden sich wiederholen.2 Ciceros ‚versteckte Botschaft‘ evoziert die Erinnerung an Proskriptionen, Verfolgung, Ermordung, Enteignung, öffentliche Versteigerungen: So stellte sich bisher in der Hauptsache die Erinnerung an Sulla dar. Jetzt mahnt Cicero Caesar, die Ordnung des Staatswesens voranzutreiben und sich erst danach otium und tranquillitas hinzugeben: „Dies eine bleibt dir also noch übrig: hier ist noch eine Aufgabe, dies muß noch getan werden: daß du den Staat neu ordnest und du erst dann als einer der ersten größte Ruhe und Muße genießt.“3
Cicero geht also auf eine andere Seite Sullas ein. Er erinnert an die Neuordnung des Staatswesens und – nach deren Durchführung – an Sullas Rückzug ins Privatleben. Ohne es eigens formulieren zu müssen, bietet die staatsrechtliche Verankerung Caesars dieser Zeit tatsächlich eine passende Parallele: Beide Machthaber stützen sich auf eine faktische Alleinherrschaft in Form einer Diktatur. Cicero spricht diese Worte im Senat. Die Aufforderung an den unrepublikanischen Alleinherrscher, sich zurückzuziehen und den Senat wieder das politische
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Cic. Marc. 13: „... falsus et inanis metus ...“. Ganz ähnlich ja auch anläßlich Pompeius’ Rückkehr im Jahre 62 v.Chr. nach seinen erfolgreichen Ostfeldzügen, vgl. IHNE 1886, 290f.: Die Sulla-Erfahrung hatte sich tief eingebrannt. Marc. 27: „Haec igitur tibi reliqua pars est; hic restat actus, in hoc elaborandum est ut rem publicam constituas, eaque tu in primis summa tranquillitate et otio perfruare.“
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Zentrum der res publica werden zu lassen, liegt auf der Hand.4 Daß der gesamte Senat erst kurz vorher vor Caesar einen Kniefall gemacht hatte,5 um die Begnadigung des Marcellus zu erreichen, steht in einem bemerkenswerten Kontrast zu dem freiheitlichen Geist, der durch Cicero zum Ausdruck kommt. Aber es sei noch einmal betont: Sullas Vorbild steht unausgesprochen im Raum, sein Name fällt an keiner Stelle. Cicero nutzt die Möglichkeit, mit Erinnerungen und ihren Konnotationen zu spielen. Der Redner konnte Akzente setzen, einem exemplum eine bestimmte Farbe geben und seine Aussagen doppelbödig, aber durchaus nicht weniger verständlich machen. Die Person Caesars in die Reihe der großen Römer zu stellen und seiner Position damit eine auf der Tradition beruhende Legitimität zu verleihen scheint dezidiert nicht Ciceros Anliegen zu sein. Den Gnadenakt für Marcellus preist Cicero nicht, indem er Caesar und dem Senat andere ‚Gnadenakte‘, etwa Rückberufungen aus Verbannungen oder Erlasse von Urteilen in Erinnerung ruft, wie er es in anderen Zusammenhängen tut – und gerade gerne mit dem unvergleichlichen Rückruf seiner eigenen Person unterstreicht.6 Nein, Cicero weicht vom üblichen Weg ab und hebt Caesar in einer religiösen Panegyrik in den Himmel: „Die eigentliche Absicht zu besiegen, den Zorn zu zügeln, dem Besiegten Schonung zu gewähren, den Gegner, der durch Adel, Begabung und Tüchtigkeit hervorragt, nicht nur vom Boden aufzuheben, wenn er darniederliegt, sondern auch noch dessen frühere Würde zu erweitern – wer dies macht, den vergleiche ich nicht mehr mit den größten Männern, sondern der ist nach meinem Urteil das Ebenbild eines Gottes.“7
Nicht gerade freundlich skizziert Cicero Caesar als im Grunde jähzornigen und rachsüchtigen Menschen, der seine wahren Gefühle hinter der Maske der Selbstverleugnung verbirgt. Allerdings hindert dies den Redner nicht, Caesar mit einem Gott – beinahe – gleichzusetzen. Der entscheidende Punkt ist jedoch die Verweigerung, Caesar als exemplum in den republikanischen Erinnerungsraum hineinzulassen. Auch im weiteren bemüht sich Cicero darum, die neue Qualität der Erinnerung an Caesar zu betonen. Für sie gälten nämlich die militärischen Verdienste des Dictators weniger als die Gnade gegenüber Marcellus: 4 5 6
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Caesars Urteil über Sulla ist durch das bei Sueton (Iul. 77) überlieferte Dictum eindeutig, und wenn nicht wahr, so gut erfunden: „Sullam nescisse litteras, qui dictaturam deposuerit.“ / „Sulla habe das ABC der Politik nicht verstanden, da er die Dictatur niedergelegt habe.“ Schön erzählt bei GELZER 1969, 278ff. P. red in sen. 24; p. red. ad Quir. 10; dom. 86; Sest. 72ff.; Planc. 90. Andere Personen, die verurteilt und zurückberufen wurden, nennt Cicero dom. 86: Kaeso Quinctius (461 v.Chr.), M. Furius Camillus (391 v.Chr.) und C. Servilius Ahala (435 v.Chr.), – interessanterweise aus der ganz alten Geschichte Roms und laut Cicero (dom. 86) nur aus den „annales populi Romani et monumenta vetustatis“ bekannt; ELVERS 1993, 121f. mit Verweis auf dom. 86. Marc. 8: „Animum vincere, iracundiam cohibere, victo temperare, adversarium nobilitate, ingenio, virtute praestantem non modo extollere iacentem sed etiam amplificare eius pristinam dignitatem, haec qui faciat, non ego eum cum summis viris comparo, sed simillimum deo iudico.“
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„Diesen heutigen Tag wirst du mit Recht all den übergroßen und unzähligen Glückwunschadressen an deine Person vorziehen. Dies ist nämlich wirklich nur deine Sache, ein Eigentum des Gaius Iulius Caesar; gewiß, es gibt jene übrigen großen Taten unter deiner Führung, aber dennoch mit zahlreicher und kräftiger Unterstützung durch andere. Doch bei dieser Tat bist du Führer und Gefolgschaft in einer Person; denn diese Tat [die Begnadigung des Marcellus, F.B.] ist so groß, daß die Zeit zwar deinen Trophäen und Denkmälern einst ein Ende bringen wird – nichts, was durch der Hände Arbeit hergestellt worden ist, verbraucht und verzehrt das Alter nicht – aber diese deine Gerechtigkeit und Milde wird von Tag zu Tag mehr blühen.“8
Cicero scheint in dieser Passage auf einem schmalen Grat zu gehen. Caesars „übrige große Taten“ durch den Umstand kleinzureden, daß er zahlreiche Helfer gehabt habe, ist nicht besonders respektvoll. Andererseits betont Cicero, daß er eine neue Qualität der Erinnerung im Hinblick auf Caesars heutige Tat sieht. Die Zeit könne dem Ruhm der Begnadigung nichts anhaben. Die Monumente und andere Erinnerungsgegenstände würden von der Zeit angenagt und aufgezehrt – sie seien vergänglich. Typisch römisch ist Ciceros Argumentation natürlich keinesfalls. Die Darstellung ruhmreicher Taten und ihre ‚Verewigung‘ in Monumenten im Zentrum der res publica bildeten wie gesehen eine feste Konstante der aristokratischen Selbstdarstellung. Ciceros Aussagen unterscheiden sich wesentlich vom üblichen Duktus. Caesar hat ohne Zweifel große Leistungen vollbracht: Seine erfolgreiche Statthalterschaft in Spanien, der Sieg über Gallien, die enorme Vergrößerung des imperium Romanum, auch die Siege im fernen Osten während des Bürgerkriegs (z. B. bei Zela gegen Pharnakes) – alles dies ist die in erfolgreiche Taten umgesetzte virtus und fortitudo eines vir vere Romanus. Caesar gehört demnach unbedingt in die Reihe der Cornelii Scipiones, Aemilii Paulli, Caecilii Metelli, Marii, Luculli etc., also in die Listen großer Römer, wie sie so oft begegnen. Doch gerade diesen Vergleich und die Angliederung an die erwähnten summi viri lehnt Cicero für Caesar explizit ab. Caesar paßt nicht in die republikanische memoria. Andererseits macht er ihn auch nicht zum exemplum malum, obwohl man die Doppelbödigkeit des impliziten Sulla-Vergleichs durchaus in diese Richtung lesen könnte. Cicero wählt einen bequemen ‚dritten Weg‘: Er erhebt Caesar gleich zu einem Gott, was den Anspruch auf einen republikanischen Vergleich obsolet macht. Daß dies in Caesars Sinne gewesen ist, scheint unwahrscheinlich. Lieber wollte er wohl der republikanische Superaristokrat sein, der die exempla-Reihen zu Recht abschließt. Cicero gesteht ihm dies nicht zu. Die religiöse Panegyrik bedeutet nicht nur Überhöhung, sondern auch Ausschluß aus der republikanischen Tradition. 8
Marc. 11f.: „Hunc tu diem tuis maximis et innumerabilibus gratulationibus iure anteponis. Haec enim res unius est propria C. Caesaris; ceterae duce te gestae magnae illae quidem, sed tamen multo magnoque comitatu. Huius autem rei tu idem dux es et comes: quae quidem tanta est ut tropaeis et monumentis tuis adlatura finem sit aetas – nihil est enim opere et manu factum quod non conficiat et consumat vetustas – at haec tua iustitia et lenitas florescet cotidie magis.“
10. ANSPRUCH AUF DEUTUNGSHOHEIT – DIE ‚KREATION‘ NEUER EXEMPLA Catilina – ein neues exemplum malum im politischen Diskurs Mit den Ereignissen am Ende seines Consulatsjahres etablierte Cicero sowohl sich selbst als Retter des Vaterlandes als auch seinen Gegner Catilina jeweils als exemplum. Im folgenden soll untersucht werden, inwiefern Cicero das exemplum Catilina in seinen Reden verwendet. Insgesamt neunmal zitiert Cicero das Beispiel Catilina.1 Die zeitliche Verteilung zeigt ein Schwergewicht in der Zeit der Auseinandersetzung mit Clodius in der ersten Hälfte der fünfziger Jahre. Eine zweite dichtere Anwendung des exemplum ist für die Zeit der philippischen Reden festzuhalten, als Cicero – ein zweites und dieses Mal tatsächlich – für das Überleben der Republik kämpfte. L. Valerius Flaccus war im Jahr der catilinarischen Verschwörung Praetor. Cicero erinnert in seinem Plädoyer für den de repetundis angeklagten Praetorier daran, daß die Stadt diesem Mann ihre Rettung ganz wesentlich zu verdanken habe: Er habe nämlich die Briefe, die die Verschwörer überführt hätten, dem Consul ausgehändigt. Dieser habe dann entsprechende Maßnahmen ergreifen können. Cicero widmet vor allem der Nacht der Entscheidung längere darstellende Passagen und ruft sie in einer für den modernen Leser geradezu grotesk anmutenden Gebetsrhetorik in Erinnerung: „O Nacht, die du diese Stadt beinahe in ewige Finsternis gehüllt hättest, da die Gallier zum Krieg, Catilina zur Stadt, die Verschwörer zu Waffengewalt und Feuersbrunst herbeigerufen wurden, da ich dich, Flaccus, den Himmel und die Nacht anrufend, in Tränen wie du, um Hilfe bat, da ich deiner unwandelbaren und immer wieder erprobten Treue das Heil der Stadt und der Bürger anvertraute! Du hast damals als Prätor die Boten des allgemeinen Untergang festgenommen, Flaccus, du hast das in ein paar Briefe eingeschlossene Verderben des Staates aufgefangen, du hast die Beweise der Gefahr, die Mittel der Rettung an mich und den Senat überbracht.“2
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Flac.102 (59 v.Chr.) / har. resp.18 (56 v.Chr.) / Pis. 95 (55 v.Chr.) / Phil. 2,1 (19. 9. 44 v.Chr. / Senat) / Phil. 3,18 ( 20.12.44 v.Chr. / Senat) / Phil. 4,15 (20.12.44 v.Chr. / Volk) / Phil. 8,15 (3.2.43 v.Chr. / Senat) / Phil. 13,22 (20.3.43 v.Chr. / Senat) / Phil. 14, 14 (21.4. 43 v.Chr. /Senat). Übersetzung FUHRMANN zu Cic. Flacc. 102: „O nox illa quae paene aeternas huic urbi tenebras attulisti, cum Galli ad bellum, Catilina ad urbem, coniurati ad ferrum et flammam vocabantur, cum ego te, Flacce, caelum noctemque contestans flens flentem obtestabar, cum tuae
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Die Szenerie ist ins Dunkel der Nacht getaucht. Die Gallier stehen kriegsbereit vor der Stadt; auch diese drei Worte „Gallier zum Krieg“ zitieren nicht nur die Nacht vom zweiten auf den dritten Dezember 63 v. Chr., sondern rufen das römische Trauma des Galliersturms von 387 v. Chr. ins Gedächtnis. Catilina komplettiert die Bedrohungssituation, da er zusammen mit den Galliern „zur Stadt“ gerufen wird. Flaccus erscheint vor diesem dämonischen Hintergrund als ein exemplum von fides optima. Dieses Verdienst des Flaccus sei, so klagt Cicero, schon wieder in Vergessenheit geraten. Ein Retter der res publica drohe von der Geretteten selbst zu Boden geworfen zu werden. Aber Cicero faßt die Situation noch schärfer und persönlicher. Er spricht die Richter direkt an und erinnert sie, daß sie die Geretteten von 63 v. Chr. sind: „L. Flaccus wird, auch wenn ihn schweres Unrecht zu Boden werfen sollte (was die Götter verhüten mögen!), gleichwohl nie bereuen, ihr Richter, daß er für euer Heil eingetreten ist, daß er für euch, eure Frauen und Kinder, euer Hab und Gut gesorgt hat; er wird stets meinen, daß er diese Haltung dem Ruhm seines Hauses, seinem Pflichtgefühl und dem Vaterland schuldig gewesen sei – ihr aber, bei den unsterblichen Göttern, gebt acht, ihr Richter, daß ihr nicht bereuen müßt, einen solchen Bürger nicht geschont zu haben.“3
Nach den römischen sozialen Regeln wäre eine Verurteilung im Lichte von Flaccus’ früheren Taten eine Handlung, die fides, gratia und auch officium gegenüber dem erwiesenen beneficium verletzen würde.4 Was bedeutet aber Ciceros Klage, „daß das Gedächtnis der Übelwollenden viel schärfer ist als der Guten“?5 Die Diskussion um die eventuell falsche Vorgehensweise gegen die Catilinarier war im vollen Gange, die Vollstreckung eines Todesurteil gegen römische Bürger aufgrund eines Senatsbeschlusses und ohne den Anruf einer Appellationsinstanz höchst umstritten. Vor diesem Hintergrund kann das exemplum Catilina nur wenig Strahlkraft gehabt haben.6 Die Bedeutung
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fidei optimae et spectatissimae salutem urbis et civium commendabam! Tu tum, Flacce, praetor communis exiti nuntios cepisti, tu inclusam in litteris rei publicae pestem deprehendisti, tu periculorum indicia, tu salutis auxilia ad me et ad senatum attulisti.“ Übersetzung FUHRMANN zu Flacc. 104: „Ac L. Flaccum quidem, iudices, si, quod di immortales omen avertant, gravis iniuria adflixerit, numquam tamen prospexisse vestrae saluti, consuluisse vobis, liberis, coniugibus, fortunis vestris paenitebit; semper ita sentiet, talem se animum et generis dignitati et pietati suae et patriae debuisse; vos ne paeniteat tali civi non pepercisse, per deos immortalis, iudices, providete.“ Über Flaccus’ Praetur hatte schon Ciceros Mitverteidiger Hortensius gesprochen (Cic. Flacc. 41;54), sie sogar „bis zu den Sternen“ gerühmt: „at … Hortalus … in astra sustulit, cum de Flacci praetura et de illo tempore Allobrogum diceret!“ (Att. 2,25,1). Flacc. 103: „Sed quid ea commemoro quae tum cum agebantur uno consensu omnium, una voce populi Romani, uno orbis terrae testimonio in caelum laudibus efferebantur, nunc vereor ne non modo non prosint verum etiam aliquid obsint? Etenim multo acriorem improborum interdum memoriam esse sentio quam bonorum.“ Cicero hielt diese Rede im Jahr 59 v. Chr. Caesar, der für die Catilinarier die milde Strafe eines lebenslänglichen Hausarrests im Exil vorgeschlagen hatte, war Consul dieses Jahres.
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der catilinarischen Verschwörung war nicht so groß und schwerwiegend, wie Cicero sie gerne im allgemeinen Gedächtnis verankert gesehen hätte. Was Flaccus damals getan hat, brachte ihm vier Jahre später jedenfalls nicht wie von selbst einen Freispruch ein, der aber schließlich dennoch erging.7 Cicero ordnet die catilinarische Verschwörung in eine Ereigniskette mit den großen Umwälzungen seiner Generation ein. Vor den Priestern spricht er über die Kunst der Vorausschau und den Inhalt der Weissagungen. Um sich von ihrer Zuverlässigkeit überzeugen zu können, brauche man nur die Weissagungen für die Zeit „nostra memoria“ zu betrachten: Er spricht von den „furchtbaren Anfängen“ des italischen Krieges, dann erwähnt er die „extreme Krisis“ („extremum discrimen“) der Zeit Sullas und Cinnas und schließlich „diese neuliche Verschwörung zum Abfackeln der Stadt und zur Zerstörung des Reiches“.8 Cicero urteilt also, daß die Geschehnisse während seines Consulats auf einer Linie mit den bedeutsamen Konflikten der letzten dreißig Jahren stünden. Eine nähere vergleichende Analyse erübrigt sich, da die Ereignisse durch einen göttlichen Weltenplan initiiert gewesen seien. Die Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung gehört hierzu. Wieder einmal bemüht sich Cicero um die Sicherstellung seiner Position in der memoria. Das Vorgehen gegen die Catilinarier gerät in dieser Argumentation zudem in Kontakt mit einem religiösen Bereich, wodurch die Kritik am ‚Retter des Vaterlandes‘ abgewehrt werden soll. Ein Hinweis auf Catilina in der Rede In Pisonem (95) beschäftigt sich damit, daß er zweimal zu Unrecht freigesprochen worden sei. Dies stehe im krassen Gegensatz zu anderen, ungerechten Verurteilungen. Auf das schließliche Todesurteil gegen Catilina geht Cicero nicht ein. In seinem letzten Kampf für die Republik gegen Antonius bedient sich Cicero mehrmals des exemplum Catilina. Nachdem bisher festzustellen war, daß Cicero offensichtlich nur unter Schwierigkeiten das Catilina-exemplum anwenden konnte und bei seiner Deutung der Ereignisse mehr der Wunsch der Vater des Gedanken war, steht ihm jetzt gut 15 Jahre später mit Antonius wieder ein Gegner gegenüber, für den Catilina in der Argumentation eine Folie bilden kann. Die kämpferisch anhebende zweite – nie gehaltene, sondern nur als Pamphlet herausgegebene – Rede gegen Antonius beginnt mit der Feststellung, Antonius sei
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Die Stimmung gegen Cicero nahm stetig zu. Clodius’ transitio ad plebem wurde durch Caesar ermöglicht. Der kommende Volkstribun versprach, gegen Cicero ein entsprechendes Gesetz vorzulegen. „Eine lex de capite civis Romani (Strafandrohung der relegatio im Falle der Tötung eines römischen Bürgers ohne rechtmäßiges Urteil) erneuerte nicht allein ein altes Freiheitsrecht (provocatio), sondern richtete sich insbesondere gegen Cicero, der in seinem Consulat (63) die Catilinarier indemnati hatte hinrichten lassen.“ WOLFGANG WILL, DNP 3, 1998, 37–39, s.v. Clodius [I.4], hier 38. Vgl. zu dem Verfahren insgesamt MÜNZER 1955, 34–36. Cic. har. resp. 18: „Quae [die Weissagungsbücher, F.B.] quidem tanta est ut nostra memoria primum Italici belli funesta illa principia, post Sullani Cinnanique temporis extremum paene discrimen, tum hanc recentem urbis inflammandae delendique imperi coniurationem non obscure nobis paulo ante praedixerint.“
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noch skrupelloser als Catilina. Wie Cicero mit diesem und anderen Gegnern in den letzten zwei Jahrzehnten zurechtgekommen sei, wisse ja jeder. Allein die Nennung des Namens ohne weitere inhaltliche Erläuterung soll an dieser Stelle Ciceros Stärke markieren und Antonius als Verräter und Landesfeind hinstellen. Antonius wehrt sich in dem Schlagabtausch und agitiert wiederum gegen Cicero und die von ihm zu verantwortende Tötung römischer Bürger. Cicero behauptet im Gegenzug, Antonius wisse nicht, ob er ihn loben oder tadeln solle. Er habe damals die „größten Verbrecher“ zur Strecke gebracht. Antonius drohe jetzt den besten Bürgern mit demselben Schicksal.9 Cicero betont, daß man die Erinnerung an diese „herrliche Tat“ seines Consulatsjahres auffrischen müsse. Antonius’ Agitation hält er für ambivalent: Entweder wolle Antonius alte Ressentiments gegen Cicero wieder aufleben lassen, oder er habe sich am Ende Cicero sogar zum Vorbild genommen, da er selbst den Feinden des Staates mit dem Tod drohe. Cicero fühlt sich Antonius gewachsen und ermutigt seine Mitkämpfer, in Erinnerung an den Sieg gegen Catilina auch an den Sieg gegen Antonius zu glauben. Er sieht praktisch eine Art Neuauflage der Geschehnisse von vor 20 Jahren, rühme sich Antonius doch gerne damit, Catilina zu ähneln, wie Cicero darlegt.10 In den Augen des Consulars treffen dieselben Gegner aufeinander, habe sich dieselbe bedrohliche Situation eingestellt, befinde er selbst sich wieder in derselben Verantwortung, das Vaterland verteidigen und retten zu müssen – das historische Exemplum, dessen Wiederholbarkeit ja ein grundlegendes Merkmal war, hilft Cicero, die Deutungshoheit über die eigene Gegenwart zu beanspruchen. Auf weitere Vergleiche verzichtet Cicero an dieser Stelle. Vorher sprach er über die ungeheure Tapferkeit, die die Vorfahren den Römern vererbt hätten: Frühere Feinde seien mächtiger und bedrohlicher gewesen, weil sie im Gegensatz zu Antonius einen Staat im Rücken gehabt hätten; der Kampf gegen Antonius könne nur gewonnen werden. Er sei der Gruppe der percussores und latrones zuzurechnen. Zu solchen Menschen gehöre auch Spartacus. Im späteren Verlauf nennt Cicero Antonius „Spartacus“ und setzt dies in Beziehung zu Catilina: „O du Spartacus! Wie sollte ich dich sonst noch besser nennen? Aufgrund deiner frevelhaften Verbrechen scheint Catilina ein erträglicher Name zu sein.“11
Catilina sei weniger frevelhaft gewesen als Antonius, der sich über den Tod des Caesarmörders Trebonius erfreut zeige. Diese Mal dient die Erwähnung Catilinas weniger als exemplum für die Bedrohung des Gemeinwesens, sondern mehr, um die charakterlichen Züge der Durchtriebenheit und Rücksichtslosigkeit eines Antonius hervorzuheben. Cicero plädiert im weiteren Verlauf der Verhandlungen für eine scharfe Gangart gegen Antonius. Dem Calenus, der eher auf Verhandlung und Diplomatie 9
Phil. 3,18: „... supplicium de sceleratissimis ac pessimis sumpserim ...“ / „... illam plucherrimi facti memoriam ...“. 10 Phil. 4,15. 11 Phil. 13,22: „O Spartace! quem enim te potius appellem, cuius propter nefanda scelera tolerabilis videtur fuisse Catilina?“
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setzen möchte, unterstellt Cicero, er hätte sogar Catilina geschont.12 Die Nennung Catilinas zielt in zwei Richtungen: Zum einen will Cicero Antonius’ Gefährlichkeit betonen, zum anderen will er deutlich machen, wie sehr die Situation nach konsequentem Handeln verlangt. Wäre Calenus an Ciceros Stelle Consul des Jahres 63 v. Chr. gewesen, gäbe es kein Vaterland mehr. Im April des Jahres 43 v. Chr. verdichten sich die Gerüchte, Cicero plane, sich zum Dictator aufzuschwingen. Er weist dies natürlich weit von sich, indem er eine solche Tat seinem historischen Widerpart Catilina unterstellt. Vieles mag vielleicht geschehen können, aber daß Cicero ein Catilina, daß aus diesen zwei entgegensetzten Polen eine identische Handlungsweise werden könne, sei unmöglich: „Soll etwa ich, der ich Catilina aus dem Wege geräumt habe, plötzlich ein zweiter Catilina werden?“13 Immerhin läßt die Zurückweisung vermuten, daß sein eigenes exemplum, das er sich selbst hatte auf den Leib schneidern wollen, in diesen Tagen als Spitze genau gegen ihn gekehrt wurde. Catilina ist und bleibt für Cicero die Identifikationsfigur e negativo. Er definiert sich und seine Stellung im Staat wesentlich über die Ereignisse, die sich um die Auseinandersetzung mit Catilina gruppieren. Sein Gegner ist jeweils so schlimm wie oder noch schlimmer als Catilina, dessen Überwindung ein bleibendes Verdienst ist. Dies bezieht er sowohl auf die Bedrohungen der res publica als auch auf charakterliche Eigenschaften seiner Gegner. Die Erinnerung an den Konflikt aufrechtzuerhalten und ihr einen würdigen Platz in der Memoria der Römer zu verleihen, scheint Ciceros Hauptanliegen gewesen zu sein. In der Rede für Flaccus klagt er über das mißgünstige Gedächtnis. Vor dem Volk spricht Cicero über Catilina in der ,historischen Gesellschaft‘ von Spartacus. Andere Empörer und Putschisten, die er noch während der Reden gegen Catilina zitiert (vgl. oben. S. 238ff.), fallen nunmehr weg. Wenigstens scheint ihm Antonius den Gefallen getan zu haben, sich damit zu rühmen, Catilina zu ähneln.14 Ob er das tat, um Cicero genau damit zu beschäftigen, worauf er nur gewartet haben dürfte, mag dahingestellt bleiben. Sollte es aber so sein, dann muß man wohl festhalten, daß Ciceros Catilina-exemplum vor allem sein Exempel gewesen ist und sich im politischen Diskurs nicht sehr stark hat durchsetzen können.15 12 Phil. 8,15. 13 Phil. 14,14: „An vero ego qui Catilinam haec molientem sustulerim, everterim, adflixerim, ipse exstiterim repente Catilina?“ 14 Phil. 4,15: „Nam quod se similem esse Catilinae gloriari solet, scelere par est illi, industria inferior.“ – Vielleicht handelt es sich auch um pure Polemik Ciceros, ohne daß eine tatsächliche Aussage des Antonius dahintersteckt. 15 Sall. Cat. 4,4: „... nam id facinus in primis ego memorabile existumo sceleris atque periculi novitate.“ / „... denn dies Unternehmen ist meiner Ansicht nach besonders denkwürdig wegen seiner unerhörten Bosheit und Gefahr.“ (Übersetzung von SCHÖNE): So lautet die Begründung Sallusts für das Thema seiner Monographie. Nicht die Heldenhaftigkeit eines römischen Consuls, sondern die Art des Frevels ist interessant. Es ist das Ergebnis eines subjektiven
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Die starke Überlieferungssituation, Ciceros vier Reden In Catilinam und Sallusts historische Monographie, könnten einen anderen Befund erwarten lassen. Die Überlieferung und das kulturelle Gedächtnis der Moderne machen aus Catilina etwas anderes, als er es im Rom zur Zeit Ciceros gewesen sein dürfte.16 Die Caesarmörder – Befreier des Vaterlandes Die Ermordung Caesars wurde als Tyrannenmord legitimiert. Die Verschwörer hatten sich mit Marcus Iunius Brutus einen Anführer gewählt, der schon durch seine Familiengeschichte dazu ausersehen schien, für die Befreiung des Vaterlandes einzustehen. Wie hätte es anders sein können, „wo die beiden Bruti doch Tag für Tag das Bild des L. Brutus vor Augen hatten, der eine auch das Bild des Ahala?“17 Gerade an der Person des Marcus Iunius Brutus läßt sich ganz direkt die Macht des exemplum nachvollziehen, zu gegebener Zeit zu einem die Persönlichkeit konstituierenden Faktor zu werden. Brutus’ Tat hatte familiäre Vorbilder und war zudem mit einem so konkreten Geschichtsbewußtsein verknüpft, daß sie zum Vorbild werden konnte, weil sie in die exempla-Reihen früherer Tyrannenvertreibungen einzureihen war. Cicero spricht im selben Sinne auch über andere Caesarmörder. C. Cassius zum Beispiel entstamme einer Familie, die nicht nur Tyrannei, sondern bereits jede überlegene Stellung eines einzelnen abgelehnt habe.18 Hier spielt er auf eine uralte Familiengeschichte an: Spurius Cassius Vecellinus (cos. III 486) hatte angeblich den Plan, sich zum Alleinherrscher aufzuschwingen. Er wurde auf Betreiben seines Vaters verurteilt und hingerichtet. Cicero nennt weitere Caesarmörder wie Cn. Domitius, C. Trebonius, L. Tillius Cimber, die beiden Servilii und bilanziert: „... herrlich für unseren Staat, daß es so viele waren und für sie selbst eine Ruhmestat.“19 Es handelt sich also um ganz frische exempla – sozusagen die neuesten aus Roms exemplum-Fabrik. Ciceros Schilderung und Behandlung dieser Personen läßt es zu, sie in die Reihen der Beispiele aufzunehmen. Der Redner nennt ihr Verhalten vorbildlich. Ihre Motive seien die Rücksicht auf das Vaterland und die
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Meinungsbildungsprozesses („id facinus in primis ego memorabile existumo“). Sallust hält es für nötig, sein Thema zu rechtfertigen, es scheint so, als wäre Catilina nicht jedem auf Anhieb in den Sinn gekommen, wenn man sich vornimmt, eine historische Monographie über die späte römische Republik zu verfassen. Gibt es doch zweifellos größere Schurken und verheerendere Gewalttäter: Marius, Cinna oder Sulla. Ihre Handlungen waren für die res publica aus der Sicht des heutigen Historikers mit Sicherheit prägender. Vgl. zur Stelle Cat. 4,4 den Kommentar von VRETSKA 1976, 118f. Vgl. HEIDER 2000. Cic. Phil. 2, 26: „... Brutos ego impellerem, quorum uterque L. Bruti imaginem cotidie videret, alter etiam Ahalae?“ Ibd. Phil. 2,27: „Longum est persequi ceteros, idque rei publicae praeclarum fuisse tam multos, ipsis gloriosum.“
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Wiedergewinnung der libertas. Ihr Handeln ist in Ciceros Augen denkwürdig: „Gibt es eine Tat“, fragt er den Antonius, „die ruhmvoller und des ewigen Angedenkens der Menschheit würdiger wäre?“20 Sie haben ein Beispiel gesetzt! Leider seien die Caesarmörder nunmehr fort. Aber sie hätten das exemplum ihrer Tat zurückgelassen.21 Nur bedingt könne dieses neue Beispiel mit den früheren exempla verglichen werden, da die Attentäter bzw. Befreier noch Größeres vollbracht hätten. Denn L. Brutus sei gegen Tarquinius vorgegangen, als es in Rom noch erlaubt gewesen sei, als König zu herrschen. Sp. Cassius, Sp. Maelius, M. Manlius seien getötet worden, weil sie die Königsherrschaft erstrebt hätten. Aber die Caesarmörder hätten jemanden beseitigt, der die Königsherrschaft tatsächlich innegehabt habe. Daher sei ihre Tat an sich hochberühmt und geradezu göttlich. Sie stehe als Vorbild vor Augen, weil die Handelnden ein rühmliches Ziel verfolgt hätten und dafür auch zu Recht Ruhm ernten sollten.22 Die ‚Tat‘ (res gestae) ist da, sie erhält durch den Redner die passenden Attribute, sie wird für vorbildlich erklärt und so in den politischen Diskurs eingebracht. Jetzt muß sich erweisen, ob diese Deutung, die Cicero ihr hier zuschreibt, in den kommenden Debatten Bestand haben wird oder nicht. Daß Antonius und seine Mitstreiter die Vorgänge ganz anders bewerten werden, liegt auf der Hand. Das exemplum hängt somit nicht zuletzt von den weiteren Entwicklungen und den sich ergebenden ‚Kompetenzen‘ in der Deutungshoheit der Ereignisse ab. Die Macht der Geschichte hat auch wesentlich damit zu tun, wer die Macht über die Geschichte in den Händen hält. Der Consular Cicero will ein exemplum, wie er es sehen möchte, verankern, und dazu dient ihm die Macht seiner Rede, mit deren Hilfe er das jüngste Geschehen in der Politik Roms verargumentiert.
20 Phil. 2,32: „Quae enim res umquam, pro sancte Iuppiter! non modo in hac urbe sed in omnibus terris est gesta maior; quae gloriosior, quae commendatior hominum memoriae sempiternae?“ 21 Phil. 2,114: „... exemplum facti reliquerunt“. 22 Phil. 2,114: „Quod cum ipsum factum per se praeclarum est atque divinum, tum expositum ad imitandum est, praesertim cum illi eam gloriam consecuti sint quae vix caelo capi posse.“
SCHLUSS
„JA, ERINNERUNG IST VIEL, IST ALLES.“ * DIE RÖMER UND IHRE EXEMPLA
*Theodor Fontane, Irrungen Wirrungen, Kap. 15.
VERARGUMENTIERTE GESCHICHTE – DIE RÖMER UND IHRE EXEMPLA Memoria und ‚kollektive Identität‘ „Kollektive Identität manifestiert sich durch Erinnerung oder überhaupt nicht.“1 Was die Menschen einer Gruppe verbinde, sei die Erinnerung, so JOHANNES FRIED. Sie bilde das Fundament für einen wesentlichen Teil der Kultur einer vormodernen Gesellschaft. In einem solchen gemeinsamen Erinnerungsraum begegne man sich und könne diese kollektive Identität verwirklichen. Neben das gemeinsam Erinnerte trete dabei zugleich das gemeinsam Vergessene. Eine Gruppe selektiere in die eine wie in die andere Richtung: Erinnerung und Vergessen formten das Gedächtnis der jeweiligen Gegenwart.2 Die Wissenschaft von der memoria untersucht ihren Gegenstand auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Medien, in denen sich Erinnerung niederschlägt. Die Memoriaforschung integriert mehrere Stränge, um sich den abstrakten Begriffen wie etwa der zitierten „kollektiven Identität“ annähern zu können. Dieser Begriff beruht letztlich auf einer Kombination und Relation einzelner Bausteine, wie sie im Laufe der Studie am Beispiel Roms betrachtet worden sind: stereotype Erinnerungsfiguren, besonders gestaltete Erinnerungsorte, kulturelle Praktiken, mündliche Strukturen mit einer bestimmten Lagerung der Rede- und Erzählkompetenz sowie die bewußte oder unbewußte Selektion der Vergangenheit durch Erinnern und Vergessen im Lichte spezifischer Kategorien. Visuelle Gegenstände wie Standbilder, Inschriften, Gebäude und Münzen konnten mit Erinnerungen gefüllt sein und diese transportieren. Im öffentlichen Zentrum waren Plätze für gemeinschaftliches Handeln, für bürgerstaatliche Praktiken und Rituale – hierzu sollte man auch das Theater zählen – architektonisch markiert und reserviert. Dies alles bezog sich auf die kollektive Identität, stabilisierte sie und hatte für die Pflege des Erinnerungshaushalts eine wichtige Bedeutung.3 Allerdings benötigte diese Vielzahl von Geschichtsmedien die Einbettung in die Interaktion von Subjekten, eine Vergesellschaftung durch Kommunikation unter Anwesenden, damit ihre Bedeutung auch aktualisiert werden konnte. Dies versuchte die Arbeit am Beispiel der römischen Republik aufzuzeigen. Die Erinnerung und ihre Verargumentierung lagerten sich in den verschiedenen Teilbereichen der politischen Kultur Roms ab und waren sozusagen zum abgesunkenen Kulturgut geworden. Sie bildeten eine „legitime Definition von Wirklichkeit“.4 1 2 3 4
FRIED 2001, 588; vgl. DENS. 2004, 85f. FRIED 2001, 563. Vgl. BURKE 1991, 292f. LANDWEHR 2003, 108f.
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Die Selbstverständlichkeit der Wege, auf denen dieses Kulturgut von Generation zu Generation weitergegeben wurde, hatte zugleich eine enorm stabilisierende und perpetuierende Wirkung für die „Lagerung der Macht“ im populus Romanus.5 Rede als Medium der Erinnerungspflege war nicht nur wegen der Alltäglichkeit und der Unmittelbarkeit der Interaktion ein äußerst wichtiger Faktor, sondern auch gerade weil sich in der öffentlichen Kommunikation die verschiedenen Ebenen der Erinnerungskultur Roms trafen und durchdrangen: Die Redner waren die Mitglieder einer etablierten und arrivierten politischen Klasse, die in einer hierarchisierten Grundstruktur an Orten, die reich an Erinnerungen waren, das Wort an die Bürger richteten und sich auf diese Weise ihre hervorgehobene Stellung verschafften und bestätigten.6 Die cives Romani hatten die Funktion sowohl des staunenden und gehorsamen Zuhörers als auch die des Schiedsrichters über die Redner, indem sie die honores durch Wahlen verteilten. Die Macht der und über die Erinnerung und die Macht der Rede – wiederum aber auch die Macht über die Rede – gingen so Hand in Hand. Die Erinnerungen Roms – historia magistra vitae ‚Erinnerung schafft kollektive Identität‘, lautet die These. Der empirische Befund bestätigt, daß Gruppen bzw. Gesellschaften ihre Geschichte(n) brauchten und gebrauchten. Doch sollte man noch einmal schärfer weiterfragen: Wer pflegte die Erinnerung wie und für wen – oder besser: vor wem und zu welchem Zweck?7 Kollektive Identität in der politischen Kultur Roms bedeutet nicht, daß alle gleich sind, sondern daß die Mitglieder der Gemeinschaft eine feste, geordnete Vorstellung von Rollen und Positionen, von Individuen und Gruppen in einem als solchem auch wahrgenommenen ‚großen Ganzen‘ haben. Manchen wird dabei Führungsverantwortung übertragen, anderen Gehorsam aufgegeben, und in dieser Grundkonstellation und auf der Basis geteilter Grundüberzeugungen werden insgesamt Entscheidungen herbeigeführt. In Hinsicht auf die Rollenverteilung von allen Zustimmung zu erhalten, also in einer Gemeinschaftsordnung zu leben, zu der alle ‚Ja!‘ sagen, bedeutet, in einer Konsensgesellschaft zu leben. Damit stellt sich aber die Frage, wie diese Art von Konsens immer wieder hergestellt und die gegenwärtige Ordnung legitimiert werden konnte. Für Rom wird man als einen wichtigen Punkt vortragen, daß die Römer diesen Konsens durch die Macht des kollektiven Gedächtnisses herstellen konnten, welches sich vor dem Hintergrund einer permanenten erfolgreichen Expansion bildete und dessen Inhalte durch diese andauernden militärischen Anstrengungen geprägt waren, wodurch es aber zugleich auch Kohäsion gewann. 5 6 7
MEIER 1980a, XXXIVff. Vgl. oben 148f. und zum Zusammenhang von Rede, Macht und Politik MERGEL 2002, 593. FRIED 2001, 573ff.; vgl. NIETHAMMER 1995, 42; BURKE 1993, 298. Vgl. auch HEUSS 1959, 22: „Der Mensch bedarf nicht der Vergangenheit, sondern er hat sie, oder besser noch: die Vergangenheit hat ihn.“
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Damit nähert man sich einer Antwort auf die Frage, was es bedeutet, davon zu sprechen, daß die Römer in einer Erinnerungskultur lebten. Die Erinnerungsbezüge, die in Ciceros Reden festzustellen sind, fallen zunächst einmal durch die schiere Vielzahl auf. Die Römer lebten tatsächlich mit und in ihrer Geschichte. Sie pflegten Erinnerungen an den gesamten Zeitraum ihrer Geschichte als eine Art „Rezeptwissen“.8 Tatsächlich ist historia – hier auf eine besondere, eigentümliche Weise – eine magistra vitae. Zu betonen bleibt, daß die Römer sich praktisch ausschließlich mit ihrer eigenen Geschichte beschäftigten. Die Konzentration auf exempla Romana bedeutet nicht eine willkürliche Auswahl, sondern das griechische Beispiel spielt im öffentlichen politischen Diskurs keine Rolle und gehört ins Bildungsgut der intellektuellen Diskurse der Briefe und Philosophica Ciceros.9 Die Verteilung der exempla Romana ist wiederum rein quantitativ zu differenzieren, und das führt zu einer Beobachtung, die den gängigen Lehren vom Primat des alten Beispiels widerspricht. Die Scheidung von kulturellem und kommunikativem Gedächtnis hat sich hier als tragfähiges Raster erwiesen. Cicero stellt alte Beispiele – gerne in einer Dreizahl – nebeneinander, um sie dann mit Beispielen jüngeren Datums fortzuführen. Manchmal betont er die zeitliche Entfernung, sehr oft gibt er aber gar keine Hinweise auf die Entfernung seiner gewählten Beispiele. Allzu alte Beispiele werden mit einem Hinweis wie etwa „illa nimis antiqua“ gerügt und entwertet. Häufig wird aber über die zeitliche Distanz zur Gegenwart keine Aussage getroffen. Das müßte zur Folge haben, daß die exempla gleichwertig sind, so daß das besonders Alte genauso gut angeführt werden könnte wie jüngere Beispiele. Quantitativ wird diese Vermutung aber nicht bestätigt, der empirische Befund läßt ein eindeutiges Schwergewicht auf dem Erinnerungszeitraum des kommunikativen Gedächtnisses erkennen. Das bedeutet in der Konsequenz: Das kommunikative Gedächtnis wandert mit jeder Generation. Der Erinnerte wird vom namentlich genannten Vater bzw. Großvater im Laufe der Zeit in die Masse der maiores übergehen. Dies muß mit den Bedingungen und Voraussetzungen der Erinnerungswürdigkeit und der Verargumentation von Erinnerung erläutert werden. Das ganz Alte hat einen geringeren Wert für die Erinnerungsgemeinschaft Rom, als man es auf Anhieb vielleicht annehmen möchte. Eine Erinnerungsgemeinschaft schätzt das besonders Alte nicht zwangsläufig besonders hoch. Es wird im Falle Roms zwar auch zitiert, aber doch in erster Linie, um daran anzuschließen, um Traditionsstränge bis in die Gegenwart fortzusetzen. Die Erinnerung hat die Aufgabe, die Gegenwart vor allem zu bestätigen.Entsprechend lassen sich auch keine markanten Epocheneinschnitte feststellen, die ein historisches Bewußtsein für Prozesse und längerfristige Grundentwicklungen anzeigen. Größe-
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HÖLKESKAMP 2004, 57; 1996. In diesem Zusammenhang sind auch FRIEDs 2004, 135ff., Ausführungen „Gedächtnis als konstruktiver Prozeß“ weiterführend. Siehe die Studie von OPPERMANN 2000. – Natürlich gab es in den Reden zitierte Beispiele etwa des Sieges über Griechen, z. B. Philipp V., Antiochos III. etc. Aber diese Siege waren ebenfalls Spiegel der römischen Größe.
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re Zeiträume werden im kulturellen Gedächtnis nicht als Epochen abgegrenzt, weil eine Erinnerungsgemeinschaft wie Rom dies nicht braucht. Die Macht der Erinnerung und das Selbstbild des Nobilis Gerade die etablierten ahnenreichen Familien vererbten ihren jungen Kindergenerationen nicht nur den Glanz der exempla, sondern sie richteten damit zugleich Erwartungen an sie und legten ihnen Verpflichtungen auf, die wie ein Alp auf ihnen lasten konnten. Diesen Erwartungen als junger Aristokrat nicht zu genügen, war für die Betroffenen eine tiefe Kränkung. Der junge Scipio Aemilianus mußte sich anhören – und er hatte damit schwer zu kämpfen –, daß man von ihm allgemein nicht viel halte und die Leute sagten, das Haus verlange ein Haupt von anderer Art.10 Drastisch und tragisch ist das ‚Hausexemplum‘ der Manlii Torquati: Die Geschichte des strengen Vaters Titus Manlius Torquatus (Consul 165 v. Chr.), der hohes Ansehen genoß, erzählt von einem Römer im Bann der Verpflichtung gegenüber den Vorfahren: Provinziale hatten Korruptionsvorwürfe gegen seinen Sohn D. Iunius Silanus Manlianus erhoben. Titus hatte vom Senat die Erlaubnis erhalten, die Sache persönlich überprüfen zu dürfen, und war zu folgendem Urteil gelangt: „Da mir erwiesen scheint, daß mein Sohn Silanus von den Bundesgenossen Geld angenommen hat, erachte ich ihn sowohl des Staates als auch meines Hauses für unwürdig und befehle ihm, unverzüglich aus meinem Gesichtskreis zu verschwinden.“ Decimus konnte die Schmach nicht ertragen und nahm sich das Leben. Als er beerdigt wurde, gab sein Vater unter der imago jenes alten Torquatus, der seinen Sohn wegen militärischen Ungehorsams hatte hinrichten lassen, Klienten Rechtsauskünfte.11 Die Familienbande mit der Vergangenheit und die damit verbundene Selbststilisierung des Manlius Torquatus pater als Verkörperung von severitas waren stärker als die Bindung an den lebenden Sohn. Gemäß der Tradition der Familie konnte sich ein Römer im Sinne eines Wiedergängertums selbst stilisieren. Marcus Iunius Brutus stellt ein weiteres schlagendes Beispiel dar, wie ein Römer im Bann seines Namens stehen kann. An ihm wird die Macht der Geschichte für das Individuum lebendig. Dies alles gipfelte in seiner Handlung des ‚Königsmords‘ an Caesar, deren symbolische Führerfigur Brutus war. Zuvor hatte er selbst aber auch einiges dafür getan: Er verwies gerne auf seine Herkunft, die seine Familie väterlicherseits (Vertreibung des Tarquinius) und mütterlicherseits (Ahala, der Maelius vertrieb) als durch und durch republikanisch kennzeichne. 54 v. Chr. hatte er auf Münzen die beiden Freiheitshelden der res publica abbilden lassen. Ein großes Familienstemma, das diese Herkunft do10 Polyb. 32,9. 11 Val. Max. 5,8,3. Richterspruch: „cum Silanum filium meum pecunias a sociis accepisse probatum mihi sit, et re publica eum et domo mea indignum iudico protinusque e conspectu meo abire iubeo.“ – 200 Jahre zuvor hatte der alte Manlius Torquatus (cos. 347 II 344 III 340) seinen Sohn hinrichten lassen, weil dieser gegen den Befehl des Vaters, der damals zugleich sein Feldherr war, den Feinden einen Kampf geliefert hatte.
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kumentierte, hat eine Wand seines Hauses geziert. In einer Verteidigungsschrift für Milo hatte er die Tötung des Clodius gerechtfertigt.12 Cicero konnte auf diese Selbststilisierung des Brutus im Lichte seiner Ahnengalerie hinweisen, ihn zur Tat gegen Caesar aufrufen und die vollbrachte Tat als Erweiterung und Vergrößerung seiner Nobilitas bewerten.13 Die Römer standen, wenn sie solche exempla unter ihren Ahnen hatten, in deren langem Schatten, aus welchem man nicht ohne weiteres heraustreten konnte. Das Lebenswerk des großen Vorfahren war verpflichtend, und man konnte sich den gebieterischen Vorbildern nicht einfach entziehen, wie es vielleicht heute rhetorisch schnell und einfach geschieht, wenn man darauf verweist, daß man neue Wege suchen und gehen müsse und die Vorgängergenerationen in anderen Zeiten lebten, andere Rahmenbedingungen hatten etc. Das würde ein Römer nicht sagen: Die Zeiten waren gerade nicht anders, und deswegen waren die exempla so verbindlich und konnten auch reproduziert werden.14 Kein exemplum ist tabu Nicht nur bei Stellungnahmen zur allgemeinen Situation des Staates, etwa wenn ein Redner de re publica sprach, wurde mit exempla gearbeitet. Beispiele wurden bei jeder sich bietenden Gelegenheit angeführt. Vor Gericht konnte das exemplum natürlich als Präjudiz eingebracht werden. Aber oft sollten exempla gerade nicht dazu verhelfen, durch historische Präzedenzen zu einem sichereren Urteil zu gelangen, sondern statt dessen von einer zu verhandelnden Sache geradezu ablenken: Man versuchte mit früheren verdienstvollen Beispielen des Beklagten bzw. seiner Familie eine Verurteilung wegen eines – eigentlich nicht zu bestreitenden – Delikts zu verhindern. Auch zur (uns eitel vorkommenden) Selbstdarstellung des Emporkömmlings Cicero werden die exempla herangezogen. Dies kann man gut bei seiner Selbstdarstellung in der Zeit nach der Verbannung sehen. Immer wieder vergleicht er sein persönliches Schicksal mit den Beispielen der Vergangenheit – darunter auch alten Beispielen wie Camillus; sogar die Decii zieht er heran, aber er nennt auch jüngere Beispiele wie den besonders naheliegenden, da (scheinbar) parallelen Fall des Metellus Numidicus. Ebenso vergleicht er seine große Bewährungsprobe bei der Niederschlagung der catilinarischen Verschwörung mit einschlägigen exempla der Rettung des Vaterlandes und fügt sich selbst als Beispiel an entsprechende exempla-Reihen von Höchstleistungen für die res publica an. Das Selbstbild des homo novus als Nobilis wird durch die passende Auswahl aus den Erinnerungen Roms konstruiert. Das Gedächtnis der politischen Klasse zwingt ihre einzelnen Mitglieder zu einer Anpassung des individuellen Selbstbildes durch die Anwen12 Vgl. ausführlich WALTER 2002, 85f. mit Belegen und Literatur; DERS. 2002a, 334–39. 13 Brut. 331; Tusc. 4,2; Phil. 1,13; 4,7; 10,14. Vgl. zu Brutus die Ausführungen oben S. 315ff. im Abschnitt „Die Caesarmörder – Befreier des Vaterlandes“. 14 Vgl. MEIER 1980a, 33; 54; 203.
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dung historischer Vergleiche und Beispiele auf die eigene Person. Cicero tut dies, wie es ihm gerade zu passen scheint. Ob er mit dieser Methode repräsentativ ist, kann nicht endgültig entschieden werden. Bei einem homo novus wie Cicero ist der Anpassungsdruck so hoch und der Wille, ‚dem senatorischen Club anzugehören‘,15 so ausgeprägt, daß er seine Defizite geradezu überkompensieren will und die Dimension seiner historischen Bezüge vielleicht das normale Maß sprengt. Die exempla wurden natürlich zur Deutung und Einschätzung der politischen Situation herangezogen. Man bezichtigte den Gegner, ein Gracchus, ein Hannibal, ein Catilina zu sein, die libertas populi Romani durch reges in civitate austilgen zu wollen usw. Die exempla wurden angeführt, auch wenn die Situation diese Vergleiche eigentlich nicht zuließ. Sie machten Stimmung, sollten Angst schüren, evtl. ausgrenzen. Die Methode des Verargumentierens von Geschichte ermöglichte es sogar, für die Tötung von Mitbürgern oder einen Bürgerkrieg zu plädieren, ohne dies direkt beim Namen zu nennen, indem man die gegnerische Seite etwa durch den Vergleich mit den Königen aus dem römisch-republikanischen Bürgerverband ideologisch ausgliederte und so ein bellum iustum konstruierte.16 Ferner existierten schreckliche Erinnerungen an die sullanische Zeit, die gerade die Generation Ciceros geprägt hatten. Auch diese brutalen Exzesse konnten mit den in Rom typischen Erinnerungsmodi ‚verarbeitet‘ werden. Sie bildeten exempla nova, schlechte grauenhafte Anti-Vorbilder, die wider den mos waren.17 Aber auf diese Weise konnte man zugleich mit ihnen umgehen, sie sogar verargumentieren, indem man einem Gegner sullanische Absichten unterstellte oder das Schreckgespenst der proscriptiones durch seine Rede geistern ließ. Die in den politischen Diskurs eingebrachte Erinnerung in Form von exempla war eine Untergruppe der „Waffe Wort“.18 Mit Hilfe der exempla pochten Redner auf die Deutungshoheit über die Themen, die sie vortrugen, sie wollten sich im internen, durchaus heftigen Wettbewerb durchsetzen. Die exempla stellten ein kulturelles Gemeingut dar – nur auf dieser Grundlage konnte man exempla aufrufen und mit ihnen argumentieren. Sie konnten aber in der agonalen Situation einen neuen Charakter gewinnen. Dasselbe exemplum wurde von der einen Seite so gelesen und von der anderen Seite anders oder als nicht einschlägig aufgefaßt. So verwendet spalteten die exempla, sie waren Waffen und verwiesen insofern nicht in erster Linie auf die einende Erinnerung des kulturellen und kommunikativen Gedächtnisses. Die exempla standen nicht auf einem Sockel und wurden durchaus nicht mit Vorsicht und Ehrfurcht in den politischen Diskurs eingebracht, im Gegenteil: Sie wurden herangezogen und benutzt, je nachdem unter Betonung einer bestimmten Bedeutungsnuance, die dem exemplum vielleicht nicht einmal an erster Stelle zu eigen war, nur um dem Redner bei seiner Selbstdarstellung zu die15 YAKOBSON 1999, 198–201, bes. 200 (Zitat). – Mit Marius gab es auch einen ganz anderen Typ von homo novus, der ein vir militaris war und sich dem politischen Betrieb in Rom eher ferngehalten haben soll. 16 Siehe oben S. 176ff. u 251ff. Ciceros Vergleiche zwischen Antonius und Königen Roms. 17 WALTER 2004, 51ff. 18 Cic. de orat. 1,32: „Quid autem tam necessarium, quam tenere semper arma, quibus vel tectus ipse esse possis vel provocare integer vel te ulcisci lacessitus?“
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nen oder zur Durchsetzung seiner Ziele vor Gericht oder in der Politik zu verhelfen. Aber wie auch immer sie verwendet wurden, eines ist unbestritten: Sie wurden stets von allen angeführt. Ihre Verwendung war so selbstverständlich, daß sie als Mittel der Argumentation und Bestätigung nicht wegzudenken waren. Diese Rivalität und Konkurrenz im Alltagsgeschäft mußte nicht zwangsläufig auf eine Inflation und Entwertung der exempla an inhaltlicher Bedeutung zulaufen. Denn die exempla boten nicht nur ein Raster des Erkennens und Einordnens der Gegenwart und lieferten „Rezeptwissen“, sondern sie einte am Ende der übergeordnete Wertekosmos, auf den die Redner, die sie im Wettstreit zitierten, sich in ihrer Gesamtheit stets bezogen und den ihre Hörer teilten.19 Dann konnte es sogar geschehen, daß Gegner der Vergangenheit in trauter Gemeinsamkeit in exemplaReihen nebeneinander standen: Scipio Africanus und Cato maior waren große Feldherren, die die res publica vergrößert und reicher gemacht hatten, ebenso Marius und Sulla: Die Tugenden der virtus und fortitudo einten sie, mögen sie sonst auch noch so verfeindet gewesen sein. Wofür die exempla standen, war nicht strittig – meistens zumindest: Bei exempla recentia konnte es durchaus den Versuch geben, einem Geschehen einen bestimmten Stempel aufzudrücken, was bisweilen auf Widerstand stieß. In diesen Fällen galt es abzuwarten, welche Version sich am Ende durchsetzen würde. Dies gilt vor allem für die exempla des kommunikativen Gedächtnisses, wie man es am Beispiel der Gracchen gut sehen kann. Dieses exemplum erfuhr eine Veränderung seines Charakters, weil die Gegenwart, die es zitierte, sich änderte und für ihren politischen Diskurs eine – in diesem Falle – schärfere Waffe gebrauchte. Die exempla änderten sich aber auch je nach Publikum: Eine Rede vor dem Senat war etwas anderes als eine Rede vor dem Volk. Die inhaltlichen Schwerpunkte waren verschieden, die Gültigkeit der Argumentation mit exempla aber wurde nicht in Frage gestellt. Die Macht der Vergangenheit, die Vorbildlichkeit des Erinnerten sind Konstanten, die für alle politischen Teilgruppen des populus Romanus galten. Nimmt man die unterschiedlichen Strategien Ciceros vor Volk und Senat im ganzen und seine Äußerungen je nach Publikum zu popularen Individuen im besonderen in den Blick, kann man wohl doch von unterschiedlichen Tonarten und Registern in der Komposition der exempla sprechen, mit anderen Worten von einem popularen und von einem optimatischen Diskurs. Andererseits war aber niemand auf einen einzigen Diskurs festgelegt. Ein Volkstribun wie Macer hätte vor den Senatoren sicher anders gesprochen, als Sallust ihm die Rede vor dem Volk in den Mund legt, wie ja auch Cicero sein Publikum je nach Zusammensetzung verschieden ansprach. Um sich in der politischen Debatte in Rom durchzusetzen, konnte man bei der einen Gelegenheit diese, bei der nächsten Gelegenheit andere exempla anbringen. Oder man benutzte großenteils die gleichen Beispiele und setzte sie etwas anders in Relation zueinander:20 Die unterschiedlichen Tendenzen und dehnbaren Bewertungen von exempla 19 Vgl. HÖLKESKAMP 2004, 57ff. 20 Zur Vieldeutigkeit von exempla siehe WALTER 2004, 66ff.; zum „contional discourse“ MORSTEIN-MARX 2004, 204ff.
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machten verschiedene Diskurse möglich und entschärften so vielleicht auch Konflikte. Eine politische Gemeinschaft, die ihre Führungsgruppe stets den Besten suchen läßt, muß Konkurrenzen und Auseinandersetzungen dulden. Schließlich gab es auch ein Gegengewicht:21 Sämtliche exempla nahmen immer auf die res publica Bezug, waren immer Bestandteil einer größeren Einheit, die in sich durchaus unter Spannung stehen und zerstritten sein konnte, doch in dieser Gesamtheit der Beispiele wirkte letztlich ein integrativer Faktor, in Ciceros Begriffen die concordia ordinum. Es war mehr einende als trennende Erinnerung. Der mit exempla mal popular, mal optimatisch geführte politische Diskurs stabilisierte womöglich auch vieles, weil aufs ganze gesehen die politische Klasse Herrin dieses Diskurses war. Die so geführte politische Debatte zivilisierte, weil sie in den Diskurs, in das gesprochene Wort, hineinholte, was sonst vielleicht noch eher, noch stärker und noch unversöhnlicher gewaltsam ausgetragen worden wäre – doch ist und bleibt dieser Gedanke recht spekulativ. Zu viel Macht der Erinnerung – „Quantus est honos virtutis!“ Valerius Maximus schildert in einem Abschnitt des Kapitels, das mit „libere dicta aut facta“ überschrieben ist, einen Konflikt zwischen der Macht des Wortes eines Nobilis und der Freiheit des Volkes.22 Den von Numantia ruhmreich zurückkehrenden Scipio minor lud Cn. Carbo, der Volkstribun des Jahres 130 v. Chr., gleich bei Ankunft in der Stadt auf die rostra, um ihn um eine Stellungnahme zum Tod des Tiberius Gracchus zu bitten. Carbo verfolgte seine eigenen Ziele, soll er doch einer der aufrührerischsten Rächer des getöteten Gracchus und ernsthafter Anhänger von Tiberius’ Anliegen gewesen sein. Daher hoffte Carbo, daß Scipio – wegen seiner nahen Verwandtschaft zum getöteten Volkstribun von 133 v. Chr. – etwas „für die Erinnerung über das beklagenswerte Ende“ seines Verwandten sagen werde. Aber diesen Gefallen tat Scipio Carbo nicht, sondern äußerte die Ansicht, Tiberius sei zu Recht getötet worden. Seine Aussage rief scharfen Protest hervor, dem Scipio wiederum mit voller Autorität begegnete: „Sie, für die Italia nur eine 21 Vgl. SIMMEL 1992, 330f. 22 Val. Max. 6,2,3: „Cn. Carbo tribunus plebis, nuper sepultae Gracchanae seditionis turbulentissimus vindex idemque orientium civilium malorum fax ardentissima, P. Africanum a Numantiae ruinis summo cum gloriae fulgore venientem ab ipsa paene porta in rostra perductum quid de Ti. Gracchi morte, cuius sororem in matrimonio habebat, sentiret interrogavit, ut auctoritate clarissimi viri inchoato iam incendio multum incrementi adiceret, quia non dubitabat quin propter tam artam adfinitatem aliquid pro memoria interfecti necessarii miserabiliter esset locuturus. at is iure eum caesum videri respondit. cui dicto cum contio tribunicio furore instincta violenter succlamasset, ‚taceant‘ inquit ‚quibus Italia noverca est.‘ orto deinde murmure ‚non efficietis‘ ait ‚ut solutos verear quos alligatos adduxi.‘ universus populus ab uno iterum contumeliose correptus erat – quantus est honos virtutis! – et tacuit. recens ipsius victoria Numantina et patris Macedonica devictaeque Carthaginis avita spolia ac duorum regum Syphacis et Persei ante triumphales currus catenatae cervices totius tunc fori ora clauserunt. nec timori datum est silentium, sed quia beneficio Aemiliae Corneliaeque gentis multi metus urbis atque Italiae finiti erant, plebs Romana libertati Scipionis libera non fuit.“
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Stiefmutter ist, sollen gefälligst den Mund halten!“ Als sich daraufhin Murren erhob, schalt Scipio die Murrer mit dem Hinweis auf seine Verdienste: „Ihr werdet es nicht schaffen, daß ich euch fürchte – ihr, die ihr jetzt befreit seid, nachdem ich euch als Gefesselte nach Hause gebracht habe.“ Jetzt schwieg das so „schmählich abgekanzelte“ Volk: „Wie groß ist doch die Ehrerbietung für virtus!“ – „Quantus est honos virtutis!“ Im folgenden erläutert Valerius Maximus, daß die Römer verstummten, weil sie Ehrfurcht vor dem ‚symbolischen Kapital‘ hatten, das mit der Person des Aemilianus vor ihnen stand. Maximus zählt auf, was im kollektiven Gedächtnis diesen honos Scipionis begründete: sein eigener frischer Triumph in Numantia, die Erfolge seines leiblichen Vaters in Makedonien und schließlich die Leistungen des Großvaters: die Beute aus dem vernichteten Karthago und die im Triumph gefesselt nach Rom gebrachten Könige Perseus und Syphax.23 Die Erinnerung an diese Taten „verschlossen“ dem Protest „den Mund“. Der populus schwieg nicht aus Furcht vor dem autoritären Scipio, sondern weil man von diesen gentes, den Aemilii und den Cornelii, über die letzten Generationen so große beneficia erhalten hatte: das Ende von vielfacher Furcht für die Stadt und für Italien. Damit gehorchte der populus den Regeln der politischen Kommunikation geradezu vorbildlich. Das Schweigen war vor der gravitas und maiestas des Redners24 eine gratia und systemimmanent plausibel.25 Aber Valerius Maximus bewertet auf der zweiten Ebene die politischen Konsequenzen des Ereignisses. Es war in seinen Augen auch ein Dammbruch. Mit diesen großen republikanischen Familien Aemilii und Cornelii Scipiones fand nicht nur eine lange Furcht für die Stadt und Italien ein Ende. Ein Angehöriger dieser Familie hatte dem Volk untersagt, seine Meinung äußern zu dürfen. In der festen Überzeugung, jederzeit für alle nur das Beste getan zu haben, verabsolutierte Scipio seinen Anspruch auf die Deutungshoheit über politische Ereignisse. Seine Rede, gepaart mit der Macht seines ‚symbolischen Kapitals‘ und dem daraus resultierenden Selbstverständnis, verletzte die libertas populi Romani, die ein Kernelement der res publica war. Bei diesem Ereignis gerieten zwei Prinzipien der Republik in Konflikt, die nur bis zu einem bestimmten Punkt nebeneinander existieren konnten, bei denen sich hier aber eines dem anderen unterordnen mußte: der Ruhm, die Würde und vor allem die Autorität der Nobiles auf der einen Seite und die Freiheit und Hoheit der cives Romani auf der anderen Seite – mit der römischen Begrifflichkeit formuliert, die nicht ohne weiteres in eine deutsche Vokabel übersetzt werden kann, weil ganze Konzepte mit diesen Begriffen verbunden sind: Die gloria und dignitas eines Nobilis kollidierten mit der maiestas und libertas populi Romani. Valerius formuliert es folgendermaßen: „Die römische Plebs war für die Freiheit des Scipio nicht frei.“ – „Plebs Romana libertati Scipionis libera non fuit.“ 23 Dies ist obendrein historisch unpräzise, weil der leibliche Vater des Scipio minor, L. Aemilius Paullus, Perseus besiegte und im Triumph nach Rom brachte, der Adoptivgroßvater Scipio maior hatte Syphax besiegt. 24 Cic. Lael. 96 über Scipio minor als Redner. 25 Vgl. FLAIG 2003, 181ff.
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Drei Generationen Die Erfolge von drei Generationen bildeten das ‚symbolische Kapital‘, an das die Römer sich erinnerten und das sie verstummen ließ. Damit hat man einmal mehr einen Hinweis auf den Zeitraum des kommunikativen Gedächtnisses. Dieser Zeitraum war offensichtlich der entscheidende – eine Vermutung, die die statistische Auswertung der exempla in Ciceros Reden ebenfalls nahelegt. Was man selbst, der Vater und der Großvater aufzählen und wozu je nach Alter jeder Bürger mit seinem Kopf nicken konnte, weil er es selbst erlebt hatte, war die commendatio maiorum, auf die es ankam – nicht weit entfernte Vorfahren aus ältesten Zeiten, die nur noch den Antiquaren und Buchgelehrten bekannt waren. Nein, das römische Volk mußte das symbolische Kapital kennen, um es wirklich anerkennen zu können!26 Dies war aber nur zu bewerkstelligen, wenn man in dichter Folge mit dem populus Romanus interagieren, also zu ihm sprechen konnte, und dazu mußten die einzelnen immer wieder in die Spitzenpositionen gelangen und die Erinnerung an die eigenen Taten und die der nahen Vorfahren frisch halten. Die Ansprüche in der Gegenwart wurden zu einem beträchtlichen Teil auf der Basis der Verdienste der unmittelbaren Vorfahren eingefordert. Das sollte Konsequenzen auch auf andere Medien der Erinnerungspraxis haben, so zum Beispiel auch Fragen an das Ritual der pompa funebris stellen. Daß die Züge besonders aufwendig und lang waren, ist für die Zeit der Republik nicht gesichert.27 Die Länge einer pompa könnte ein Indiz für die historische Tiefenwirkung sein, die eine Familie in der res publica vorweisen konnte. Aber das muß nicht unbedingt gelten. Daß die Vorfahren, die vorneweg gingen, alt waren, ist nicht zwangsläufig. Es mußte schon in der laudatio funebris eigens erläutert werden, deren zweiter Teil, wie Polybios berichtet, mit dem Lob des ältesten anwesenden Ahnen begann.28 Eine Familie wie die Caecilii Metelli hätte eine lange pompa funebris bil26 Cic. Catil. 3,26: „Memoria vestra, Quirites, nostrae res alentur, sermonibus crescent, litterarum monumentis inveterascent et conroborabuntur, sermonibus crescent …“; Mur. 16; Planc. 58. S. HALBWACHS 1966, 308; WALTER 2004, 100f. 27 Soweit ich sehe, ist für die Republik nicht davon die Rede, daß eine pompa besonders lang war, Staatsbegräbnisse wie dasjenige Sullas muß man hier ausnehmen. Natürlich war es immer gut, wenn man viele Ahnen aufweisen konnte, und auch die Vermutung, daß es ein „Streben nach einem möglichst langen und eindrucksvollen Zug“ gab (WALTER 2004, 92), ist naheliegend und nachvollziehbar. Aber brachte der längste Zug jemandem in der späten Republik etwas, wenn in der laudatio funebris nur von Ahnen aus einer Zeit jenseits des kommunikativen Gedächtnisses berichtet werden konnte? Prestige bestimmt, aber nicht so viel, wie wenn man von Ahnen der letzen zwei, drei Generationen berichten konnte, man denke an Plancius. Und daher war dieses alte symbolische Kapital angreifbar. Homines novi (wie Marius) verweisen auf ihre eigenen, aktuellen Erfolge und mindern die Bedeutung der imagines der anderen ab. Siehe FLOWER 1996, 155f. 28 Polyb. 6,54,1; dazu KIERDORF 1980, 65 mit Anm. 57. Die (kaiserzeitlichen) Beispiele von KIERDORF (und der von ihm zitierten Literatur) widersprechen dieser These nicht. – In Rom war es bei großen Familien eine relativ gängige Vorstellung, sich auf einen – mythischen – Ahnherrn zurückzuführen, Varr. ling. 8, 64. S. HÖLKESKAMP 1999, passim, 19f. (Beispiel Caesar); WALTER 2004, 89ff.
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den können, ohne weit entfernte Ahnen heranziehen zu müssen, weil sie im zweiten und ersten Jahrhundert v. Chr. so unerhört erfolgreich war, als sie in der Zeit von 143 v. Chr. bis 109 v. Chr. zehn Consuln stellte. Ein weiteres Problem ergibt sich durch die Mitnahme von imagines bei Heiratsverbindungen und bei Adoptionen.29 Sie hätten eigentlich bei den Vernetzungen, die die großen Familien untereinander aufwiesen, dazu führen müssen, daß sich die pompae sehr stark ähnelten. Dann hätten aber viele dasselbe symbolische Kapital aufgewiesen, was den internen, aristokratischen Wettbewerb doch in gewisser Weise ins Leere hätte laufen lassen. Die persönlichen Bezüge zur Gegenwart müssen stärker hervorgetreten sein. Der Redner hatte im besonderen Maße etwas davon, wenn er von sich,30 seinem Vater und seinem Großvater berichten konnte. Er hatte den Erfolg praktisch noch im Blut, dessen positive Auswirkungen die vor ihm stehenden Zuhörer am eigenen Leib hatten erfahren können.31 Vielleicht konnte man noch an einen gefeierten Triumph erinnern? Die Aktualität des symbolischen Kapitals war in einem solchen Fall so bekannt und präsent, daß die Erinnerung in der Tat in der Gegenwart mächtig war. Vor diesem Erfahrungshintergrund können die spezifischen römischen Konzepte von komplementären Beziehungen greifen: Aufgrund von fides und gratia, die der populus dieser Familie und ihren jetzigen Mitgliedern ‚schuldete‘, konnte eine derartige commendatio maiorum eine politische Karriere mit Recht erwarten lassen. Zwei Beobachtungen stützen diese Vermutungen zur Eminenz der Gegenwart und nahen Vergangenheit: Erstens ist auf die in der Historiographie angetroffene Struktur zu verweisen, daß die Darstellung nach dem ‚floating gap‘ mit dem Eintritt in den Bereich des kommunikativen Gedächtnisses wieder ausführlicher wird. Die Überlegungen werden zweitens gestützt durch die Angaben in zahlreichen Inschriften, in denen maximal Vater und Großvater angegeben werden. Weiter zurückliegende Generationen sind kein üblicher Bestandteil inschriftlicher Angaben, selbst wenn es sich um Berühmtheiten handelte. Eine Durchsicht der Grabinschriften der Scipionengräber weist darauf hin. Die ‚exempla-Fabrik‘ Rom Sallust staunte über die Situation Roms, die er bei seiner historischen Analyse feststellte: Die Republik sei nach außen extrem erfolgreich und so mächtig wie nie zuvor. Im Innern sei sie aber verdorben und werde von einer politischen Klasse geleitet, die vom guten alten Weg völlig abgekommen sei. Diese Krise seinen Zeitgenossen vor Augen zu führen, ist Ziel seines historischen Werkes. Daher wählt er auch Krisenphänomene als Themen. Welche Bedingungen müssen gegeben sein, um eine Existenz wie Catilina zu ermöglichen? 29 Hierzu Plin. nat. 35,8. S. FLOWER 1996, 103; WALTER 2004, 104 mit Anm. 82. 30 Vgl. Cic. Mur. 38. 31 Er konnte sozusagen Kontinuitätsvermutung für sich erhoffen, vgl. WALTER 2004, 101f.
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Über die Dekadenz und die Krise der späten Republik gab es natürlich bereits vor Sallust Reflexionen und Äußerungen, wie es in einigen Fällen aus der Geschichtsschreibung bekannt ist.32 In Ciceros Reden ist allerdings keine epochale Gliederung der Geschichte mit scharfen Wendepunkten zu erkennen.33 Zwar liest man bisweilen den Klageruf „o tempora, o mores“, womit er die schlimmen Zustände seiner Zeit anklagt.34 Er seufzt auch, man sei vom geraden Weg der Vorfahren abgekommen, die mores maiorum seien irgendwie den Händen entglitten u.ä. Aber die üblen Zustände und Störfälle des republikanischen Betriebs werden als Jahresunfälle begriffen. Zwei Elemente der politischen Kultur Roms treffen hier aufeinander: die personale Auffassung von Geschichte (bei Abwesenheit einer Sicht auf strukturelle und prozessuale Veränderungen bzw. Entwicklungen) und das Annuitätsprinzip. Alles was passiert, geschieht innerhalb eines Amtsjahres. So schlimm es auch sein mag, mit Ablauf des Amtsjahres ist der akute menschliche Krisenfaktor von der Bühne verschwunden. Die nächsten Hauptakteure haben wieder die Möglichkeit, sich more maiorum zu bewähren.35 Denn darum geht es ja: In dem relativ kurzen Zeitraum eines Jahres muß der (höhere) Magistrat Dinge leisten, die erinnerungswürdig sind und seinem Namen anhaften. Von ihm sollen sein Sohn und sein Enkel erzählen, was er geleistet hat, – so wie er es über seinen Vater und Großvater bereits berichten konnte. Seine Statue soll an einem prominenten Ort stehen, sein Name auf einer Gebäudeinschrift zu lesen sein, seine Person im Theater dargestellt werden. Seine Enkel sollen im Atrium vor seiner Ahnenmaske stehen und von Ehrgeiz entflammt werden.36 Die spezifischen Bedingungen, unter denen Erinnerungswürdigkeit in einer sich verschärfenden Konkurrenzsituation erreicht werden kann,37 betreffen ausschließlich die Mitglieder der politischen Klasse. Das Grundmuster und die Grundvoraussetzungen, laus, gloria und dignitas zu erwerben, sind in der politischen Klasse alternativenlos. „Immer der erste zu sein und die anderen zu überragen“, konnte in Roms Aristokratie nur verwirklicht werden, wenn man die Herrschaft und den Reichtum der res publica durch militärischen Erfolg gemehrt hat. Der beste Schriftsteller oder Künstler zu sein, der hervorragendste Arzt oder Gelehrte, hat ‚in politicis‘ keine Relevanz und ist daher in Rom nicht konstitutiv für 32 Vgl. zur römischen Geschichtsschreibung WALTER 2004, 212ff.; weiterhin ausführlich LIND 1979, 7ff.; 48ff. Dies ist auch insofern bedeutsam, da die ersten Geschichtsschreiber aus der senatorischen Schicht stammten. Der historiographische Blick auf die Vergangenheit der eigenen Schicht ist anders als der rhetorische; vgl. auch STINGER 1993, 12; 43; 48. — Cicero kannte natürlich solche Ansätze, und vor allem in seiner späten philosophischen Schrift de re publica ist eine Verfallslinie nachweisbar (ROLOFF 1938, 62; 76). 33 ELVERS 1993, 62 (Es sind „keine einschneidenden Zäsuren innerhalb der Gliederung römischer Geschichte“ feststellbar.); vgl. ibd. 127. 34 Verr. 2,4,56; Catil. 1,2; dom. 137; Deiot. 31. 35 WALTER 2003a, 143ff.; MEIER 1980a, 203. 36 Vgl. Rab. Post. 2; Sall. Iug. 4,5; Polyb. 6,55,4 (Übersetzung DREXLER): „Ein solcher Wetteifer, große Taten zu vollbringen, wird, wie man sieht, in der Jugend, durch die in Rom herrschende Sitte und Erziehung geweckt.“ 37 HÖLKESKAMP 2004, 103–5.
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hohen Rang und Prominenz. Darum ist die römische Aristokratie dazu genötigt, politische – und das heißt vor allem: militärische – Erfolge und die mit ihnen verbundene(n) Geschichte(n) geradezu in Serie zu produzieren. Die letzte Generation der römischen Republik war darin so tüchtig wie keine zuvor – die Dimension von Pompeius’ und Caesars Eroberungszügen war einzigartig. Die Träger dieses Erfolgs sind als exempla zu bewerten. Sie erfüllen genau die Kriterien, die ihren exempla-Status rechtfertigen. Redner wie Cicero sprechen ihnen, etwa dem Pompeius, diese exemplarische Vorbildlichkeit vor der Folie der maiores zu. Dies ist nicht einmal etwas Besonderes, geschweige denn Alarmierendes. Denn die Vorfahren zum Vorbild zu nehmen, ist der römische kategorische Imperativ, ihr Erbe gilt es zu bewahren und fortzuführen. Wer darin Erfolg hat, ist selbst ein Vorbild. Darauf beruhen das Selbstverständnis und der Führungsanspruch der politischen Klasse: Sie muß erfolgreiche Nobiles haben, Generation für Generation neue Erfolgsträger hervorbringen und sich im politischen Diskurs darüber verständigen, daß man exempla recentia vorweisen könne. Innerhalb der politischen Klasse muß der einzelne sich im internen Wettstreit um honores durch res gestae auszeichnen und sich und seiner Familie damit jenes symbolische Kapital verschaffen, das man in Rom so dringend benötigte. Bei einem insgesamt so bestätigenden und stets positiven Blick auf die eigene Geschichte und die eigenen Taten und bei dem Wunsch und der Notwendigkeit, sich in das Erinnerungswürdige einzugliedern und die eigenen Taten ‚daranzuhängen‘, kann sich ein breiteres Krisenbewußtsein kaum entwickeln. ‚Wir Römer sind mindestens so gut wie die Vorfahren, und oftmals haben wir größere Leistungen als die Alten vollbracht!‘ lautet die Selbsteinschätzung der ciceronischen Generation,38 wie man sie aus den Reden lesen kann. ‚Wir brauchen uns nur einfach umzusehen und sehen gleich mehrere Leute, die wir den Helden von einst beizählen dürfen.‘39 Auftretende Krisenphänomene sind Jahresphänomene. Wie steht es aber bei den ‚neuen Dingen‘, die so ohne weiteres nicht mit den maiores zu vereinbaren waren? Die Sonderkommanden des Pompeius waren umstritten, waren doch die Kompetenzen, die er erhielt, noch nie dagewesen. Aber der Praetor Cicero argumentierte, daß es im Sinne der Vorfahren sei, der Pragmatik zu folgen und Pompeius zu geben, was er brauche. Cicero unterstrich das Bündnis mit den Vorfahren und erklärte: Die maiores hätten auch so gehandelt. Ähnliches gilt für den jungen Octavian und seine Sonderstellung. Dem senatus consultum ultimum gab der Redner Cicero ebenfalls den Schein des Althergebrachten und ordnete es dem mos
38 HÖLKESKAMP 1996, 312 (Standardsituation des exemplum bedingt epochen- und entwicklungsloses Raster); 320; STINGER 1993, 301f.; dahinführend auch ROLOFF 1938, 29; RECH 1936, 33; VOGT 1935/1963, 33 („Ahnen … dem eigenen Sein völlig angenähert“). Vgl. jetzt auch MORSTEIN-MARX 2004, 286f. 39 Cic. Verr. 2,3,209. S. MEIER 1980a, 292 zum Senat: „Sein Regime wurde, so sehr es versagte, von allen Seiten bestätigt …“.
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maiorum zu, ohne auf das relativ junge Alter dieses politischen Kampfinstruments und die eigentlich nicht zu vergleichenden Bedingungen einzugehen.40 Die Dehnbarkeit und die Integrationskraft sind die größten Stärken, aber auch die verletzbaren Schwachpunkte des Konzepts von mos maiorum. Die Erinnerung wurde von der Gegenwart geformt und – falls nötig – auch (leicht) verformt, um ein mächtiges Argument im politischen Diskurs in der Hand zu haben.41 Was vordergründig dann im Komment mit der erinnerten Vergangenheit die Gegenwart so schön zu bestätigen vorgab, zerrieb tatsächlich die Grundlagen des politischen Diskurses und des politischen Systems, sei es die Anwendung des senatus consultum ultimum oder die Aufhebung der üblichen Regeln für Pompeius42 oder für Octavian, oder man rechtfertigte sogar einen Bürgerkrieg mit historischen Argumenten, die in der jeweiligen Situation eigentlich nicht der Sache, wohl aber den politischen Absichten des Redners angemessen waren. Für den aktuellen Erfolg in der Auseinandersetzung wandte ein römischer Redner wie Cicero die Beispiele an, die ihm für diesen Erfolg zweckdienlich zu sein schienen. Um diese abstrakteren Krisenphänome erfassen zu können, hätten die Römer alternative Kategorien und Faktoren dafür entwickeln müssen, wie die res publica stabilisiert und gefördert werden kann. Aber die im politischen Diskurs beinahe tagtäglich gepflegte Dokumentation des Dauererfolgs in Form von exempla ließ das Verlangen nach der Alternative trotz Krise gar nicht aufkommen. Zudem fügte der suggestive Diskurs des ‚Es war schon immer so‘ Änderungen und Neuerungen in der Art und Weise ein, daß die Dinge scheinbar nicht wirklich neu waren, zunächst großen Erfolg brachten und erst später Auswirkungen zeitigten, die das republikanische System nicht verkraften konnte. Aber bis es so weit war, konnte die Republik auf eine lange, stabile und äußerst erfolgreiche Geschichte des populus Romanus und insbesondere der ihn führenden ‚vorbildlichen‘ politischen Klasse erinnernd zurückschauen. Die ‚exempla-Fabrik‘ der res publica hatte lange funktioniert, bevor sie mit dem Untergang der Republik die Produktion einstellte.
40 Vgl. MEIER 1980a, 55. Neuerungen waren möglich, weil es sich „bei der Vorbildwirkung der Vergangenheit nicht eigentlich um Traditionalismus handelte, sondern darum, daß die Vergangenheit von der Welt der jeweils Lebenden nicht getrennt war.“; 302 (Reichweite von Entscheidungen vom Gros nicht erkannt.). – Vgl. oben S. 49ff. den Abschnitt „Ciceros Maniliana – eine gelungene contio-Premiere“. 41 Vgl. FRIED 2004, 146. 42 Natürlich kann man hier nicht über die tatsächlich vorhandenen Sachzwänge (Seeräuberkrise) hinwegsehen. Aber dieses Kommando des Pompeius hat ja die Vorgeschichte einer ganzen Reihe von Regelsuspendierungen, durch die die für eine Aristokratie so wichtige Chancengleichheit empfindlich gestört wurde. Das machte Pompeius zugleich zum exemplum, wie man noch erfolgreicher werden könne. S. MEIER 1980a, 169 (die Ausnahme wird zur Regel).
LITERATURVERZEICHNIS Die gebräuchlichen Ausgaben antiker Autoren – Bibliotheca Teubneriana, Collection Budé, Oxford Classical Texts, Loeb Classical Library, Sammlung Tusculum – sowie die allgemein üblichen Abkürzungen der Standardwerke sind soweit nicht aufgeführt. Die wörtlich zitierten Übersetzungen und Kommentare werden im folgenden genannt.
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