Umweltschutz als Rechtsprivileg [1 ed.] 9783428542420, 9783428142422

Wenn etwas besonders schützenswert ist, stellt sich aus rechtspolitischer und juristischer Sicht die Frage danach, wie d

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Umweltschutz als Rechtsprivileg [1 ed.]
 9783428542420, 9783428142422

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Schriften zum Umweltrecht Band 180

Umweltschutz als Rechtsprivileg Herausgegeben von

Michael Kloepfer

Duncker & Humblot · Berlin

MICHAEL KLOEPFER (Hrsg.)

Umweltschutz als Rechtsprivileg

Schriften zum Umweltrecht Herausgegeben von Prof. Dr. Michael Kloepfer, Berlin

Band 180

Umweltschutz als Rechtsprivileg

Herausgegeben von

Michael Kloepfer

Duncker & Humblot · Berlin

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

Alle Rechte, auch die des auszugsweisen Nachdrucks, der fotomechanischen Wiedergabe und der Übersetzung, für sämtliche Beiträge vorbehalten © 2014 Duncker & Humblot GmbH, Berlin Fremddatenübernahme: Konrad Triltsch GmbH, Ochsenfurt Druck: Berliner Buchdruckerei Union GmbH, Berlin Printed in Germany ISSN 0935-4247 ISBN 978-3-428-14242-2 (Print) ISBN 978-3-428-54242-0 (E-Book) ISBN 978-3-428-84242-1 (Print & E-Book) Gedruckt auf alterungsbeständigem (säurefreiem) Papier entsprechend ISO 9706

Internet: http://www.duncker-humblot.de

Vorwort Am 19.4. 2013 veranstaltete das gemeinnützige Forschungszentrum Umweltrecht e.V. (FZU) an der Humboldt-Universität zu Berlin eine Tagung mit dem Titel Umweltschutz als Rechtsprivileg.1 Es ging dabei im Kern um den Anreiz zu vermehrtem Umweltschutz durch Befreiung von allgemeinen Beschränkungen oder Belastungen. Das veranstaltende FZU gehört neben dem Forschungszentrum Technikrecht (FZT) und Katastrophenrecht (FZK) sowie dem Institut für Gesetzgebung und Verfassung (IGV) zur Forschungsplattform Recht (FPR), die eng mit der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin zusammenarbeitet. Der vorliegende Band enthält im Wesentlichen die gehaltenen Referate der Tagung. Den engagierten Referenten und Diskussionsteilnehmern der Tagung gebührt mein herzlicher Dank. Die Referenten haben die unterschiedlichen Herausforderungen der Tagungsthemen angenommen, sodass ein Programm zusammengestellt werden konnte, das so noch von keiner anderen Tagung zusammenfassend aufgegriffen worden ist. Meinem Mitarbeiter Henrik Gartz danke ich für die wertvolle Unterstützung bei der Organisation und Durchführung der Tagung sowie der Vorbereitung für diesen Tagungsband. Anregungen und Kritik zum vorliegenden Band richten Sie bitte an mich per E-Mail unter [email protected]. Berlin, im April 2013

Michael Kloepfer

1 Berichte zur Tagung Gartz, UPR 2013, 265 f.; Santek, NuR 2013, 480 f.; Neugärtner, ZUR 2013, 443 ff.

Inhaltsverzeichnis Michael Kloepfer Einführung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Michael Rodi Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz? . . . . . . . . . . . . . . . .

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Erik Gawel Umweltschutz als Abgabenprivileg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Martin Eifert Umweltschutz durch Benutzungsvorteile . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

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Claudio Franzius Preisprivilegien und Umweltsiegel im Dienste des Umweltschutzes . . . . . . . . . .

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Felix Ekardt Agrarprivileg im Umweltrecht – noch zeitgemäß? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 111 Reinhard Ellger (K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 127 Eckard Rehbinder Verkehrssicherungspflichten – Haftungsprivilegien in Naturschutzgebieten . . . . 181 Autorenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203

Einführung Von Michael Kloepfer

I. Privilegien im Umweltschutz Wenn etwas besonders schützenswert ist, stellt sich aus juristischer Sicht die Frage, wie der berechtigte Schutz herausgehoben und die damit bezweckte Vorzugsstellung in rechtliche Formen gegossen werden kann. In jedem Fall bedeutet dies dann eine entweder mehr oder weniger besondere und hervorzuhebende rechtliche Behandlung. In diesem Sinne soll der zugespitzte Titel der Tagung verstanden werden. Der besondere Schutz wichtiger Gemeinschaftsgüter wie die ökologischen Ressourcen unserer Umwelt müssen sich in ebenso besonderer, hervorgehobener rechtlicher Behandlung niederschlagen. Die eigentlich entscheidende Frage ist die nach dem rechten Maß des Schutzes. Das gilt gerade auch für das rechte Maß einer Vorzugsbehandlung für z. B. umweltschützendes bzw. umweltschonendes Verhalten, wie sich dies derzeit vor allem bei der Förderung erneuerbarer Energien zeigt. Soll der Schutz der Umwelt qualitativ höher sein als er bei anderen kollektiven Rechtsgütern ist, kann dies über eine rechtliche Privilegierung umweltschützender Aktivitäten gelingen. Privilegien können bspw. als Befreiungen von allgemeinen Verboten wirken: Das Grimm’sche Wörterbuch beschreibt Privilegien als befreiend, Freiheit gebend. Das alles können wir nur als Ansatzpunkte für unser Thema verwenden, aber doch in seinem Kern: Befreiung von allgemeinen Regeln. Privileg – das aus dem Lateinischen stammende Wort setzt sich aus den Bestandteilen „Ausnahme“ (privus) und „Gesetz“ (lex) zusammen. Das Stichwort Ausnahmegesetz konfligiert somit sogleich grundsätzlich mit dem zentralen Gleichheitspostulat moderner Rechtsordnungen. Historische Assoziationen der Verwendung des Wortes Privileg bestehen zu (glücklicherweise) längst abgeschafften Vorrechten. Darum geht es bei der Frage ,Umweltschutz als Rechtsprivileg‘ gewiss nicht. Es geht vielmehr um eine Verstärkung für den Umweltschutz durch Vorteilsgewährung. Dieser Vorteil besteht vor allem in teilweiser oder völliger Befreiung von allgemeinen Lasten oder Begrenzungen. Privilegien können durchaus legitim und u. U. auch geboten sein: So stellt sich bspw. aus gutem Grund das auf die Behinderten zugeschnittene grundrechtliche Gleichheitspostulat in Art. 3 Abs. 3 S. 2 GG ausdrücklich nicht gegen Bevorzugungen. Aber auch die Grundrechte selbst können in einem weiteren Sinne als Privile-

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Michael Kloepfer

gien begriffen werden. Der Journalist z. B. kann sich eben auf die Pressefreiheit berufen und so etwa beim presserechtlichen Auskunftsanspruch mehr Rechte geltend machen als andere. Art. 20a GG macht nur Sinn, wenn er einen besonderen Schutz der Umwelt generiert. Richtig konzipierte Privilegien sind Ausdruck einer konkreten Wertschätzung der Rechtsordnung und auch einer Wertvorstellung der Verfassung. Als Arbeitsbegriff für das hier verwendete Wort des Privilegs mag die Formulierung des Sondervorteils durch Verschonung von allgemeinen Beschränkungen gelten. Die unterschiedlichen Formen der möglichen Privilegierungen bilden einen kleinen und bisher weitgehend unbearbeiteten Teil des Instrumentariums der umweltbezogenen Rechtspolitik. Immerhin findet der Umweltschutz als Rechtsprivileg (etwa bezüglich der Benutzungsvorteile) regelmäßig auch Eingang in die allgemeinen Kapitel der Umweltrechtslehrbücher. Dabei gehen die Themen der heutigen Tagung über das Umweltrecht hinaus. Typischerweise werden Umweltschutzprivilegien nicht allein durch das klassische Umweltrecht als solches begründet als vielmehr häufig durch Befreiung von nicht umweltschutzspezifischen Vorschriften (z. B. Kartellrecht, Haftungsrecht, Landwirtschaftsrecht etc.). Insoweit ist das Tagungsthema auch intradisziplinär. Schnittpunkte sind auch unverkennbar etwa im Abgabenrecht gegeben.

II. Förderung durch die DBU Die Tagung wird durch die Deutsche Bundesstiftung Umwelt (DBU) finanziell unterstützt. Die DBU fördert als eine der europaweit größten Stiftungen nicht nur wissenschaftliche Projekte und neue Umweltthemen, sondern auch gezielt den wissenschaftlichen Nachwuchs. Dazu unterhält sie Stipendienprogramme, mit denen jährlich 60 Promotionsvorhaben im Bereich des Umweltschutzes gefördert werden. Gegründet wurde die Stiftung als eine solche bürgerlichen Rechts im Jahr 1990 aus den finanziellen Mitteln des Bundes nach dem Verkauf der zuvor bundeseigenen Salzgitter AG im Jahr 1989. Seitdem hat sie über 8.500 Projekte mit einem Fördervolumen von etwa 1,5 Mrd. Euro unterstützt. Die Aktivität der Stiftung auf dem Gebiet des Naturschutzes beschränkt sich neuerdings aber nicht nur auf die Förderung. Die Stiftung hat durch ihre Tochter, die DBU Naturerbe GmbH, mit der Übernahme und Sicherung von rund 46.000 ha großen, weitgehend unzerschnittenen Lebensräumen, vor allem – nach dem Ende des kalten Krieges – von nicht mehr genutzten militärischen Übungsplätzen und Sperrgebieten, auch erstmals selbst eine aktive Rolle im Umweltschutz übernommen. Doch mit dieser Übernahme der ökologisch wertvollen großen Grundflächen sieht sich die DBU mit der Frage konfrontiert, ob sie mit der Verwaltung dieser Wiedervereinigungs„dividende“ etwaigen Haftungsansprüchen ausgesetzt ist. Zu den zentralen Förderbereichen der Stiftung gehören Projekte auf den Gebieten der Umwelttechnik, der Umweltforschung, des Naturschutzes und der Umweltkom-

Einführung

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munikation. Jährlich vergibt die DBU zudem den Deutschen Umweltpreis, der zuletzt 2012 für wegweisende Entwicklungen auf dem Gebiet der Photovoltaik vergeben wurde. Neben ökologisch innovativen unternehmerischen Tätigkeiten werden aber auch herausragende im Umweltschutz tätige Persönlichkeiten für ihr Engagement geehrt. So gehören zu den Preisträgern beispielsweise auch Michail Gorbatschow für seine Verdienste um die Schaffung des „Grünen Bandes“ – dem beinahe 1.400 km langen Geländestreifen entlang der ehemaligen innerdeutschen Grenze, zugleich der größte zusammenhängende Biotopverbund Deutschlands. Hinzu kommen Förderungen des Internationalen Grünen Kreuzes sowie der Gorbatschow-Stiftung, die vielfältige Nachhaltigkeitsprojekte unterstützt. Das Forschungszentrum Umweltrecht (FZU) arbeitet seit langem mit der DBU zusammen. Neben einem aktuell laufenden durch die DBU geförderten Projekt zur Gestaltung einer großen Umweltschutzpublikation hat das die DBU schon in der Vergangenheit andere Projekte des FZU gefördert. In der Zusammenarbeit der DBU mit der Humboldt-Universität ist der Bereich des Umweltrechts aber natürlich nur ein Baustein von vielen. Die Förderung in naturwissenschaftlicher und technischer Forschung und Entwicklung der DBU umfasst auch Projekte mit der landwirtschaftlich-gärtnerischen und auch der medizinischen Fakultät der Humboldt-Universität.

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz? Von Michael Rodi Der vorliegende Band thematisiert den Umweltschutz aus der Perspektive des Rechtsprivilegs. In den einzelnen Beiträgen wird dazu Abgabenprivilegien, Benutzervorteilen, Preisprivilegien, Umweltsiegeln, Agrarprivilegien, Kartellprivilegien und Haftungsprivilegien in Naturschutzgebieten nachgegangen. Weiter könnte man – mit Bezug auf den Umweltschutz – noch das Eigenstromerzeugerprivileg und das Grünstromprivileg im Recht der Erneuerbaren Energien, die Privilegierung EMAS-auditierter Unternehmen oder Privilegien bei der Vergabe öffentlicher Aufträge nennen. Da gerade das Umweltrecht von einer zunehmend ausdifferenzierten Instrumentenvielfalt geprägt ist, liegt die Frage nahe, ob und inwieweit das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz Anwendung findet. Mit dem Rechtsprivileg wird auf eine zentrale dogmatische Figur rekurriert, die für Jahrtausende rechtswissenschaftliches Denken geprägt hat, man denke etwa an Gerichtsprivilegien, Handelsprivilegien, gewerbliche Privilegien in Form von Konzessionen oder Monopolen, Stadt- und Marktrechte. Die Parallele zum heutigen Umweltrecht ist spannend, wurde doch das Rechtsprivileg immer auch als hoheitliches Steuerungsinstrument verstanden. Gegen eine erste Vermutung ist auch heute noch quer durch die gesamte Rechtsordnung von Privilegien die Rede, etwa vom Parteienprivileg, den Abgeordnetenprivilegien, den Diplomatenprivilegien, dem richterlichen Haftungsprivileg, den Privilegierungen der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft, steuerlichen Privilegien wie etwa dem Schachtelprivileg, dem Hochschullehrerprivileg, den Einheimischenprivilegien im Kommunalrecht oder den Marktprivilegien im Gewerberecht. Allerdings ist der Rückgriff auf einen so traditionsbeladenen (oder -belasteten) Rechtsbegriff nicht unproblematisch, führt man dadurch doch alte Bedeutungsgehalte und Auseinandersetzungen in den gegenwärtigen rechtswissenschaftlichen Diskurs ein. Dieser Beitrag dient der Selbstvergewisserung darüber, inwieweit dies zielführend und bereichernd oder missverständlich und belastend sein könnte. Dazu scheint ein Überblick über die Geschichte des Rechtsprivilegs als dogmatische Figur (I.) angezeigt. Zudem ist – auch über das Umweltrecht hinaus – zu ermitteln, wie der Begriff in der heutigen Rechtswissenschaft verwendet wird und bestimmt werden kann (II.). Schließlich ist – in Überleitung zu den folgenden Beiträgen – zu fragen, welche Funktion dem Begriff des Rechtsprivilegs im aktuellen umweltpolitischen und umweltrechtlichen Diskurs zukommen könnte (III.).

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Michael Rodi

I. Die bewegte Geschichte des Rechtsprivilegs als dogmatische Figur 1. Römisches Recht Das Privileg oder „privilegium“ ist zunächst einmal eine der bedeutendsten zu den Quellen des Römischen Rechts zurückreichenden Rechtsfiguren. Schon damals konnte man mit „Vorrecht“ und „Ausnahmegesetz“ zwei Bedeutungsstränge unterscheiden. Der begriffliche Ursprung wird in einer Ableitung in „privus“ und „lex“ gesehen; die Bedeutung von „privus“ wird mit „singulis“ oder „privatus“ umschrieben, gemeint ist damit etwas auf eine einzelne Person Bezogenes.1 Hier steht der Geltungsbereich bzw. die Entstehungsart im Vordergrund – Privileg ist die nicht allgemein geltende lex, aber auch die lex, die etwas (noch) nicht im allgemeinen Recht Vorhandenes bestimmt.2 In einer weiteren Ableitung wird auf die Begriffe „lex“ und „privare“ („berauben“ oder auch „befreien“) verwiesen. Diese hat die Wirkung der Privilegien im Blick, die Entbindung vom allgemeinen Recht bzw. von dessen allgemein verpflichtender Wirkung.3 Die geschaffene Sonderstellung des Privilegierten kann für diesen günstig sein („privilegia favorabilia“), kann aber auch ungünstig sein („privilegia odiosa“). Mit „privilegia singularia“ oder „iura singularia“ werden spezifisch besondere Rechtspositionen ganzer Personengruppen bezeichnet. Bereits im Römischen Recht kam eine kritische Tendenz zum Ausdruck. So hieß es im Zwölf-Tafel-Gesetz, einer Gesetzessammlung um 450 v. Chr., in Tafel XI („Verfassungsgrundsätze“): „Privilegia non irroganto“ – Privilegien als leges für Einzelpersonen soll es nicht geben.4 2. Mittelalter Insbesondere im Mittelalter waren Rechtsprivilegien ein normaler Bestandteil der weltlichen (und kirchlichen) Rechtsordnungen.5 Bezeichnend ist die Forderung des Kanonisten Ulrich Stutz im Jahre 1918 einmal zu untersuchen, wie in der „mittelalterlichen und nachmittelalterlichen Entwicklung das Ausnahmerecht das Regelrecht völlig überwucherte und in den Hintergrund drängte, so dass schließlich der ganze Rechtshimmel voller Privilegien hing, fast alles Recht in das Gewand von Privilegien 1 Lieb, Privileg und Verwaltungsakt. Handlungsformen der öffentlichen Gewalt im 18. und 19. Jahrhundert, 2004, S. 29. 2 Potz, Zur kanonistischen Privilegientheorie, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, 1997, S. 47 m. Nachw. 3 Ebd. 4 Nachweise zur Überlieferung dieses Satzes finden sich bei Potz (Fn. 2), S. 16, Fn. 22. 5 Die Geschichte des Privilegienrechts weist im kanonischen sowie im weltlichen Recht erstaunliche Parallelen auf. Auch im Kirchenrecht waren Privilegien zunächst der Regelfall der Gesetzgebung, da auch hier ein ausgebildetes allgemeines Recht zunächst fehlte (Potz (Fn. 2), S. 21 ff.). Später stellten Privilegien Entscheidungen aus päpstlicher Allmacht gegen das allgemeine Gesetz dar (Potz (Fn. 2), S. 35 ff.).

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz?

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sich kleidete, bis die Französische Revolution … dem Ausnahmerecht ein Ende machte und das Regelrecht zum Siege führte …“.6 Die Vergabe von Privilegien erstreckte sich über alle Lebensbereiche. Privilegien wurden erteilt für das Herstellen von Arzneimitteln, die Prägung von Münzen oder die Erhebung von Zöllen; durch Privilegien wurden gewerbliche Monopole verliehen, etwa für Apotheken, Schornsteinfeger, Brauereien oder Abbaumonopole im Bergbau. Weiter gab es Handelsprivilegien, Stadt-, Schloss- und Marktrechte.7 Noch das Allgemeine Landrecht für die Preußischen Staaten von 1794 enthielt zahlreiche Vorschriften über Privilegien, und zwar allgemeiner Natur8 wie auch in Bezug auf bestimmte Privilegien9.10 Hervorzuheben ist, dass Privilegienerteilungen nicht unbedingt begünstigend sein mussten, sie konnten auch verpflichtenden Charakter annehmen („privilegia odiosa“). Zudem waren sie häufig mit der Zahlung eines Entgelts, der sog. Privilegientaxe, verbunden.11 Privilegien waren, worauf später insbesondere Carl Friedrich von Gerber hingewiesen hatte, ein selbstverständlicher Bestandteil der Rechtsordnung – es gab ja noch kein allgemeines Recht, von dem abgewichen werden konnte; vielmehr entfaltete sich die Rechtsordnung durch ein zunehmend dichteres Netz von Einzelberechtigungen. Die Erteilung von Privilegien war Sache des Landesherren (Staatsoberhauptes). Interessant ist in diesem Zusammenhang die Unterscheidung zwischen höheren und niederen Regalien; Letztere konnte man auch etwa ersitzen, Erstere konnten allein durch den Souverän übertragen werden.12

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Zitiert nach Dölemeyer/Mohnhaupt, Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, 1997, V. 7 Lieb (Fn. 1), S. 42 ff., 105 ff. m. Nachw.; Johann Ludwig Klüber (zitiert nach Klippel, Das Privileg in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: Dölemeyer (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, 1999, S. 301) nannte als Privilegien das Stadt-, Schloß- und Marktrecht, Handelsprivilegien, Bücherprivilegien, Titel-, Adels- und Wappenerteilung, die Volljährigkeitserklärung, die Legitimation unehelicher Kinder, die ganze Palette von Bannrechten und Zwangsgerechtigkeiten und die nicht minder zahlreichen Monopole und sogenannten „Industriekoncessionen“, d. h. Konzessionen für Gesellschaften und bestimmte Gewerbe, angefangen bei Lotterien und Bierbrauereien über Kaminkehrer bis hin zu Apotheken, Klüber, Öffentliches Recht des Teutschen Bundes und der Bundesstaaten, 4. Aufl., 1840, S. 690 ff. und 712. 8 Im Zusammenhang mit der Auslegung und Aufhebung von Gesetzen sowie der Ausübung der Privilegienhoheit. 9 Unter anderem: Vorrechte des Adels („erster Stand“), handwerkliche Privilegien, Konkursprivilegien, Konzessionen zur Errichtung von Fabriken und Apothekenkonzessionen sowie eine Reihe von steuerlichen Privilegien. 10 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 66 (und ff.). 11 Lieb (Fn. 1), S. 43 ff. 12 Dazu Wolf, Grundstrukturen des Marktrechts, 1988, S. 52 ff.

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3. Entwicklung von Privilegienrecht und -praxis in Zeiten des Konstitutionalismus a) Aufklärung und der Kampf gegen Privilegien im engeren Sinne Für die Französische Revolution stellte das Privileg dagegen das Feindbild schlechthin dar, der Kampf gegen das Privileg wurde zum ideologischen Auftrag. Emmanuel Sieyès etwa brandmarkte Privilegien in seinem „Essai sur les Privilèges“ 1788 als „erbärmliche Erfindung“: „convenez que c‘est une pauvre invention que celle des privilèges …“.13 „Alle Privilegien … haben … den Zweck, entweder vom Gesetz zu befreien, oder Jemanden ein ausschließliches Recht auf etwas zu geben, das nicht durch das Gesetz verboten ist. Das Wesentliche des Privilegiums besteht darin, dass man außer dem gemeinen Recht ist … [daher sind] alle Privilegien durch die Natur der Dinge ungerecht, verhaßt, und dem höchsten Zweck aller bürgerlichen Gesellschaft entgegen“.14 Dies gipfelte in der Bemerkung von Johann Gottfried Seume: „Privilegien aller Art sind das Grab der Freiheit und Gerechtigkeit“.15 Vor diesem Hintergrund erfolgte die vollständige Beseitigung der Privilegienordnung zunächst in Frankreich mit der Erklärung der Menschenrechte vom 4. August 178916 und der französischen Verfassung vom 3. September 1791.17 Im Prolog dieser Verfassung heißt es: „Il n’y a plus, pour aucune partie de la Nation, ni pour aucun individu, aucun privilège, ni exception au droit commun de touts des Français“. Auch weitere Bestimmungen in der Verfassung und in der Erklärung der Menschenund Bürgerrechte sprechen die Abschaffung von Vorrechten und Privilegien an.18 Vor diesem Hintergrund hat sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine „privilegienfeindliche Rechtsanschauung“ durchgesetzt.19 Seitdem besteht Einigkeit, dass es keine persönlichen Privilegien aufgrund von Stand und Herkunft mehr geben darf. Etwas mühsam hat sich dieser Gedanke auch im deutschen Konstitutionalismus des 19. Jahrhunderts durchgesetzt.20 Exemplarisch kann hier – quasi als Endpunkt der Entwicklung – auf Art. 109 Abs. 2 S. 1 der Weimarer Reichsverfassung (WRV) verwiesen werden: „Öffentlich-rechtliche Vorrechte oder Nachteile der Geburt oder des Standes sind aufzuheben“ (hier ist in gewisser Weise ein Pleonasmus enthalten). Damit wurden die letzten ständischen 13

Sieyès, Essai sur les Privilèges (Ausgabe Paris 1822, hrsg. von Morellet), S. 3. Vgl. zu weiteren Quellen dieses bekannten Zitats Lieb (Fn. 1), S. 58, Fn. 187 sowie Klippel (Fn. 7), S. 285, Fn. 2. 15 Seume, Prosaschriften, 1962, S. 556 - 577. 16 Vgl. dazu etwa Jellinek, Die Erklärung der Bürger- und Menschenrechte, 1895; die Erklärung ist nach der Präambel der Verfassung der V. Französischen Republik heute noch geltendes Verfassungsrecht. 17 Für Textquellen vgl. etwa Lieb (Fn. 1), Fn. 189 oder Klippel (Fn. 7), S. 285. 18 Für Nachweise vgl. Klippel (Fn. 7), Fn. 4. 19 Wolf (Fn. 12), S. 53, mit Verweis auf Badura, Das Verwaltungsmonopol, 1963, S. 69. 20 Vgl. etwa die Nachweise der Verfassungsbestimmungen bei Lieb (Fn. 1), S. 138, Fn. 14. 14

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz?

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Privilegien, insbesondere die mit steuer- und erbrechtlichen Vorteilen verknüpften Familienfideikommisse, aufgehoben (vgl. Art. 155 Abs. 2 WRV: „Die Fideikommisse sind aufzuheben“).21 b) Privilegien im „Privatrecht“ Ein weiterer Strang des Privilegienrechts erübrigte sich in dieser Zeit von selbst: Für gewerbliche Schutzrechte und Urheberrechte wurde eine neue Kategorie subjektiver Privatrechte geschaffen – die Immaterialgüterrechte.22 Meilensteine sind hier die Maßnahmen zur Vereinheitlichung gewerblicher Schutzrechte durch den Deutschen Bund. Vorangegangen waren etliche Streitigkeiten um entsprechende Privilegien bzw. deren Verlängerung, so etwa auch ein Gesuch Goethes um ein Nachdruckprivileg des Deutschen Bundes.23 Durch Beschluss vom 6. November 1856 wurden gleichförmige Grundsätze zum Schutz des schriftstellerischen und künstlerischen Eigentums aufgestellt, die dann durch Landesrecht umzusetzen waren.24 Nach Gründung des Norddeutschen Bundes erfolgte auf dessen Territorium eine Vereinheitlichung der Urheberrechte.25 Durch Gesetz vom 11. Juni 1870 wurden sämtliche Privilegien auf diesem Gebiet beseitigt.26 Zuvor schon gab es vereinzelt Landesgesetze und bilaterale Verträge zwischen den deutschen Staaten. Die Wende zum modernen Urheberrecht wurde insbesondere mit dem preußischen Gesetz vom 11. Juni 1837 sichtbar;27 durch dieses Gesetz erhielten Autoren eine dem Eigentumsrecht ähnliche Position. Etwas verspätet geschah Ähnliches in Bayern mit dem Gesetz zum Schutz des Eigentums an Druck- und Kunsterzeugnissen vom 27. April 1840.28 Spätestens seit dem letzten Drittel des 19. Jahrhunderts wurde damit der Privilegienbegriff für gewerbliche Schutzrechte entbehrlich und obsolet.29 Das Schicksal anderer Privilegien mit privatrechtlichem Charakter war ähnlich. Wurde etwa noch im 19. Jahrhundert die Erteilung des Rechts zur Ausgabe von Inhaberpapieren als Privileg angesehen, so erübrigte sich diese Praxis mit Einführung des BGB am 1. Januar 1900 und dessen § 795.30

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Lieb (Fn. 1), S. 199. Klippel (Fn. 7), S. 307; zur Entwicklungsgeschichte vgl. Gieseke, Vom Privileg zum Urheberrecht: die Entwicklung des Urheberrechts in Deutschland bis 1845, 1995. 23 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 124 ff. 24 Lieb (Fn. 1), S. 153, m. Nachw. der Umsetzungspraxis in Fn. 89. 25 Ebd. 26 Nachweis Lieb (Fn. 1), S. 153, Fn. 90. 27 Lieb (Fn. 1), S. 126 m. Nachw. in Fn. 165. 28 Lieb (Fn. 1), S. 133 ff., m. Nachw. in Fn. 190. 29 Klippel (Fn. 7), S. 302, m. Nachw. und m. Quellennachw. 30 Lieb (Fn. 1), S. 173. 22

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c) Privilegienkompetenz der Exekutive? Nach dem Ende von Privilegien aufgrund von Stand und Geburt („Privilegien im engeren Sinne“)31 richtete sich das Interesse von Rechtswissenschaft und Rechtspraxis im 19. Jahrhundert auf die dritte rechtshistorische Wurzel des Rechtsprivilegs: Privilegien als verwaltungsrechtliches Instrument32 bzw. als „gesellschaftlich-politisches Steuerungsmittel“33. Es geht hier um die Jahrhunderte alte Tradition von Privilegien wirtschaftliche Betätigung im Einzelfall zu erlauben, etwa im Wege von Konzessionen oder Monopolen.34 Markantes Beispiel dafür waren zuletzt noch die Konzessionen zum Betreiben von Eisenbahnen.35 Es wurde schnell klar, dass es diese Art von „Privilegien“ auch in der konstitutionellen Monarchie weiter geben musste. Allerdings stellte sich nunmehr eine völlig neue Frage: Ist zu ihrer Erteilung die Exekutive (der Monarch und die Verwaltung) oder die Legislative (das Parlament bzw. die Ständevertretung) zuständig? Im „Ancien Régime“ wurde unproblematisch davon ausgegangen, dass die Erteilung von Privilegien Sache des Landesherren (bzw. „Staats“-Oberhauptes) war. So wurde einerseits vertreten, dass dies weiterhin zu gelten habe; Karl Anton von Martini etwa formulierte deutlich: „das Recht Befreyungen zu ertheilen, ist ein Majestätsrecht, welches dem Regenten allein zukömmt“.36 Andererseits wurde betont, dass die Privilegienhoheit schon immer als Ausfluss der „potestas legislatoria“, der gesetzgebenden Gewalt, gesehen wurde.37 Der Hintergrund dieser interessanten Auseinandersetzung liegt natürlich darin, dass diese Abgrenzungsfragen vernachlässigt werden konnten, solange sich alle Hoheitsrechte in der Hand des souveränen Fürsten bündelten. Sobald aber den Ständen oder dem Parlament in der konstitutionellen Monarchie eigene verfassungsmäßige Rechte zugesprochen wurden, wurde die genaue Abgrenzung der Kompetenzen bedeutsam.38 Aus der Sicht des Naturrechts konnte kein Zweifel bestehen, dass im Rahmen der Gesetzgebung unter Beteiligung der Stände bzw. des Parlaments Ausnahmen vom allgemeinen Gesetz gemacht werden konnten.39 Überwiegend wurde daneben eine Privilegienhoheit der Exekutive anerkannt, 31

Lieb (Fn. 1), S. 199 und bereits oben unter I.3.a). Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 106 f. 33 Klippel (Fn. 7), S. 291. 34 Schlayer, Darstellung der Lehre von den Privilegien nach den Quellen des gemeinen Rechts, Zeitschrift für Civilrecht und Prozeß 12 (1855), S. 60 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 143 – dort auch weitere Nachweise in Fn. 39): „Eine besondere Art der affirmativen Privilegien sind die bereits erwähnten Concessionen. Mit diesem Wort könnte man alle Privilegien bezeichnen; allein der neuere Sprachgebrauch hat sich dahin entschieden, darunter solche Privilegien zu verstehen, welche sich auf den fortdauernden Betrieb eines Erwerbsgeschäfts beziehen (so Gewerbe-, Fabrikconcessionen)“. 35 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 120 ff. 36 Lieb (Fn. 1), S. 34, m. Nachw. 37 Lieb (Fn. 1), S. 18, 34 und 60 sowie Klippel (Fn. 7), S. 290 m. Nachw. 38 Klippel (Fn. 7), S. 299. 39 Lieb (Fn. 1), S. 111 f. 32

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz?

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zumindest was das Recht anbelangt, Dispensationen im Einzelfall zu erteilen.40 Dies lag daran, dass die Stände- und Parlamentsrechte regelmäßig nur als Beschränkung der Macht des Souveräns galten.41 Bei aller Unterschiedlichkeit der Verfassungen im Einzelnen und der Positionen in der Rechtswissenschaft lässt sich dabei eine Tendenz zugunsten der zur Preußischen Verfassung vertretenen Meinung erkennen; eine selbständige Privilegienhoheit von Monarch und Verwaltung wurde zumindest dann verneint, wenn Privilegien zu Eingriffen in Freiheit und Eigentum führten.42 Den entscheidenden „Todesstoß“ erhielt das Rechtsprivileg in der verwaltungsrechtlichen Unterform der Konzession im Laufe des 19. Jahrhunderts durch die Einführung der Gewerbefreiheit.43 Etwas gewagt ist allerdings die Vermutung, dass die Reformen der Wirtschaftsordnung mit Einführung der Gewerbefreiheit auch durch den Versuch motiviert waren, die Privilegienordnung zu beseitigen bzw. einzuschränken.44 Mit der Einführung der Gewerbefreiheit ging einher, dass die Voraussetzungen für Gewerbegenehmigungen („Konzessionen“) gesetzlich bestimmt wurden (wir sprechen heute vom präventiven Verbot mit Erlaubnisvorbehalt). So führte Carl Friedrich von Gerber (1870) aus, als er einen kurzen Katalog noch bestehender Privilegien zusammenstellte: „Selbst die noch ausnahmsweise etwa erforderlichen obrigkeitlichen Genehmigungen oder Concessionen sind nicht Privilegien, sondern nur Akte der Ausübung eines gesetzlich angeordneten Prüfungsrechts“.45 Geltende Privilegien bestanden allerdings teilweise noch fort, die letzten wurden erst in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts aufgehoben.46 Es konnten aber keine neuen mehr erteilt werden.47 In der Rechtspraxis und auch in Gesetzen (etwa dem bayerischen Gewerbegesetz) war aber weiterhin von Gewerbs-Privilegien die Rede.48 Teilweise wurde der Begriff 40

Klippel (Fn. 7), S. 299, 300. Vgl. dazu instruktiv Klippel (Fn. 7), S. 303, sowie Lieb (Fn. 1), S. 95 f. und S. 117 f. 42 Lieb (Fn. 1), S. 139 f., m. Nachw. So meinte Zöpfl in seinen „Grundsätzen des gemeinen deutschen Staatsrechts“, 5. Aufl., 2. Teil, 1863: „Die Privilegienhoheit wird entweder in Form der eigentlichen Gesetzgebung oder der Verwaltung (durch Reskripte) ausgeübt“ (S. 671). Damit bewegte sich die Erteilung von Privilegien in einem Spannungsfeld zwischen gesetzgebender und ausführender Gewalt. Der entscheidende Unterschied bestand darin, dass im Falle der Privilegienerteilung durch eine Verordnung keine Mitwirkung der Stände stattfand. In diesem Fall sollte der Souverän aber nach Zöpfl von seiner Privilegienhoheit nur insoweit Gebrauch gemacht werden dürfen, als er ausschließlich günstige Privilegien geben konnte, die keine wohlerworbenen Rechte Dritter verletzten (S. 672). Er unterstellte damit die Beschränkung von Eigentumspositionen einem Akt der Gesetzgebung. 43 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 120 ff. 44 So Lieb (Fn. 1), S. 120. 45 Gerber, Ueber Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate, 1872, S. 479 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 162). 46 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 199 f. 47 Lieb (Fn. 1), S. 122. 48 Lieb (Fn. 1), S. 132; vgl. etwa § 48 des Bayerischen Gewerbegesetzes: „Jeder, welcher eine neue Entdeckung oder Verbesserung im Gebiete der Gewerbe selbst gemacht hat, und 41

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Privileg auf Konzessionen bezogen, auf die kein Anspruch bestand, so etwa die Konzession zur Ausübung des Bergbaurechts in Preußen.49 Das hat seine Wurzeln im traditionellen Unterfall der Privilegienlehre in Bezug auf „Dispensationen“50 ; allerdings war auch dies damals schon umstritten.51 In diesem Sinne wurde in der von Diethelm Klippel betreuten Dissertation von Thorsten Lieb „Privileg und Verwaltungsakt. Handlungsformen der öffentlichen Gewalt im 18. und 19. Jahrhundert“ herausgearbeitet, dass das historische Rechtsprivileg als Vorläufer des heutigen Verwaltungsaktes anzusehen ist. Zwar fand der Begriff in der insbesondere von Otto Mayer wirkkräftig systematisierten Lehre vom Verwaltungsakt keine Verwendung mehr.52 Unter diesem Begriff führte er insbesondere auch die Erscheinungen „Konzessionen“ und „Dispensationen“ zusammen.53 Allerdings ist evident, dass sich die Details der Lehre etwa zu Nebenbestimmungen, zum Erlöschen und zur Aufhebung von Verwaltungsakten stark an der traditionellen Privilegienlehre orientierten. Sie nahm, um mit Lieb zu formulieren, „die Erbmasse der Privilegienlehre auf“.54 Sporadisch wurden Privilegien noch als Unterfall des Verwaltungsaktes angesehen.55 4. Privilegien im modernen Verfassungsstaat Damit ist die Schwelle zum modernen Verfassungsstaat erreicht, die in Deutschland ja leider erst 1919 beginnt. Hier sind in Bezug auf Privilegien drei Diskussionsstränge von Bedeutung, die natürlich in ihrer theoretischen Entwicklung weit in die Zeit des Konstitutionalismus zurückreichen: [a)] die Durchsetzung einer umfassenden Bindung der Verwaltung an das Gesetz, [b)] die Entwicklung vom formalen zum materiellen Gesetzesbegriff und schließlich [c)] die Entwicklung vom formalen zum materiellen Gleichheitsverständnis. Damit ist spätestens das Ende der Erscheinung von Rechtsprivilegien im klassischen Sinne eingeläutet. Heute taucht etwa das StichJeder, welcher einen im Auslande bekannten, aber im Königreiche noch nicht in Ausübung gebrachten Fabrikationszweig oder ein verbessertes industrielles Verfahren zuerst einführt, erhält, wenn er den nachgesetzten Erfordernissen Genüge leistet, ein Gewerbs-Privilegium“. 49 Lieb (Fn. 1), S. 154 f. 50 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 148 f. 51 Pözl, Art. Privilegium, in: Bluntschli/Brater (Hrsg.), Deutsches Staats-Wörterbuch, 1864, S. 373: „Die … Dispensationen werden unseres Erachtens ebenfalls mit Unrecht zu den Privilegien gerechnet … Endlich ist es eine Verkennung des Wesens des Privilegiums, wenn man auch die staatlichen Koncessionen … als Privilegien qualificirt hat. Denn wenn sie auch nur einer bestimmten Person ertheilt werden, so handelt es sich doch bei ihnen nicht um die Statuirung einer Ausnahme, sondern um die Anwendung des gemeingültigen Rechtes auf die einzelnen Fälle des Lebens.“ 52 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 185 ff. 53 Lieb (Fn. 1), S. 150 f. 54 Lieb (Fn. 1), S. 180. 55 Vgl. Lieb (Fn. 1), S. 183 f., m. Nachw.

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wort „Privileg“ selbst in den ersten zwei Bänden des Handbuchs des Staatsrechts („Historische Grundlagen“ und „Verfassungsstaat“) nicht mehr auf. a) Die Durchsetzung einer umfassenden Bindung der Verwaltung an das Gesetz Zunächst ist für das Schicksal von Rechtsprivilegien die Durchsetzung des Grundsatzes einer vollständigen Bindung der Verwaltung an das Gesetz als verfassungsrechtliches Prinzip von Bedeutung. Der Grundsatz des Vorrangs des Gesetzes ist dabei deutlich älter. So setzte sich zunehmend die Meinung durch, dass es eine Privilegienhoheit der Verwaltung gegen das Gesetz nicht geben darf. Diese Tendenz endete in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in der Kontroverse über das Dispensrecht der Verwaltung.56 Spätestens seit Mitte des 19. Jahrhunderts bildeten sich Vorläufer des heutigen Grundsatzes des Vorbehalts des Gesetzes heraus. So formulierte Bernhard Windscheid in seinem Lehrbuch des Pandektenrechts 1856: „Die Entstehung des Privilegiums setzt einen Rechtssatz voraus. Die rechtmäßige Quelle desselben ist Gesetz“;57 Windscheid ging also noch von der Befugnis zur Erteilung von Privilegien aus, die von der gesetzgebenden Gewalt auf die Verwaltung übertragen werden kann.58 Besonders klar formulierte Carl Friedrich von Gerber in seiner Programmschrift „Ueber Privilegienhoheit und Dispensationsgewalt im modernen Staate“ von 1872: „Je mehr sich der Staat zum wirklichen Rechtsstaate ausbildet, umso mehr werden an die Stelle uncontrolirter Privilegienwillkür gesetzliche Ordnungen der Erwerbsverhältnisse treten. Das Privilegium wird sonach allmählich auf einen immer kleineren Raum zurückgedrängt werden und schliesslich nur noch da seine Stelle behaupten, wo es das allgemeine Gesetz selbst als Hülfsinstitut begehrt, … Von diesem Standpunkt aus erscheint dann die Privilegienhoheit nicht mehr als ausserhalb des Gesetzes, sondern als unter demselben stehend, und bildet nur ein bisweilen sogar selbst wieder gesetzlich geregeltes Mittel seines Vollzugs“.59 Ab etwa den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts hatte sich die Auffassung endgültig durchgesetzt, dass die Erteilung von Privilegien und Dispensationen an die gesetzlichen Vorgaben gebunden und grundsätzlich nicht mehr der gesetzgebenden Gewalt zuzuordnen waren.60 Exemplarisch sei dazu auf Ausführungen von Georg Meyer (1878)61, Ludwig Gaupp (1884)62, Hugo Gott56

Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 160 ff. Windscheid, Lehrbuch des Pandektenrechts, Bd. 1, 1862, S. 341. 58 Dazu Lieb (Fn. 1), S. 146 mit Zitat. 59 von Gerber (Fn. 45), S. 483; Hervorhebungen im Originaltext. 60 Lieb (Fn. 1), S. 169. 61 Meyer, Staatswissenschaftliche Literatur, 1878, S. 12: „Die Thätigkeit des Staats äussert sich theils in der Anordnung von allgemeinen Normen (Rechtssätzen) theils in der Regelung concreter Angelegenheiten. Die erstere Tätigkeit heißt Gesetzgebung, die letztere Verwaltung im weiteren Sinne“; Lieb (Fn. 1), S. 166 weist darauf hin, dass sich Meyer dem Verhältnis von Verwaltung und Gesetzgebung zuwandte. Dabei werde deutlich, dass Meyer die Erteilung von 57

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fried Opitz (1884)63 oder Rudolf Stammler (1903)64 verwiesen. In Abkehr vom früheren Verständnis wurden nunmehr auch Gewerbekonzessionen und Monopole nicht mehr als Privilegien verstanden.65 b) Die Entwicklung vom formalen zum materiellen Gesetzesbegriff Unabhängig davon bleibt die zweite schon länger diskutierte Frage, ob und inwieweit der Gesetzgeber selbst Privilegien einräumen darf. Im Naturrecht des beginnenden 19. Jahrhunderts wurde zunächst ganz überwiegend davon ausgegangen, dass der Gesetzgeber Privilegien und Dispensationen erteilen darf.66 Parallel wurde aber seit der Aufklärung auch durchgehend eine strikte Auffassung von der Allgemeinheit des Gesetzes vertreten, wie sich das anschaulich auch schon bei Rousseau nachlesen lässt.67 Wirkkräftig wurde diese Forderung in Bezug auf PriPrivilegien zu den Aufgaben der Verwaltung zählte. Für die Erteilung von Privilegien habe Meyer eine rechtsstaatliche Bindung, also eine gesetzliche Grundlage, damit für zwingend erforderlich gehalten. 62 Gaupp, Das Staatsrecht des Königreichs Württemberg, 1884, S. 167 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 169): „Denn im Verfassungsstaate ist die Staatsgewalt selbst an die Verfassung und an die Gesetze gebunden … Ausnahmen von den Gesetzen im einzelnen Fall kann nur die Gesetzgebung machen. Dem König steht hiernach ein Recht, Privilegien und Dispensationen zu ertheilen, nur zu a) in denjenigen Fällen, in welchen das Gesetz selbst Abweichungen von seinen Vorschriften zuläßt und das Staatsoberhaupt oder die Organe der Verwaltung zur Ertheilung von Dispensationen ermächtigt …“. 63 Opitz, Das Staatsrecht des Königreichs Sachsen, Bd. 1, 1884, S. 170 f. (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 169 f.): „Ferner aber folgt aus diesem Grundsatze, dass selbst diejenige Gewalt des Königs, nach der es ihm freisteht, in einzelnen Zweigen der Staatsverwaltung von der gesetzlichen Ordnung abzuweichen, die so genannte Privilegiengewalt, selbst wieder in Gesetz und Recht begründet sein muß und nur, insoweit dies der Fall, zulässig ist“. 64 „Und es ist hiernach das Privilegium: eine rechtliche Willenserklärung, die nach einem dazu ermächtigenden Gesetze auf Begründung eines Vorrechtes gerichtet ist“, Stammler, Privilegien und Vorrechte, 1903, S. 19. Lieb (Fn. 1), S. 175 f., weist darauf hin, dass Stammler die Gesetzesbindung übereinstimmend mit den Protagonisten der Rechtsstaatslehre damit begründete, dass ansonsten die Gesetzgebung vollkommen beliebig von Rechtsnormen befreien würde und somit die Gefahr des Rechtsbruches bestehe. Daraus folgerte er für die Zulässigkeit von Privilegien: „Da nämlich Begriff und Einrichtung der Privilegien nur Sinn haben, wenn sie als Ausführung eines ermächtigenden Gesetzes genommen werden, eine solche gestattende Rechtsnorm als durchgreifende Regel bei uns aber nicht besteht, so ist die Frage nach der Zulässigkeit von Privilegien im heutigen Rechte nur mit einer Reihe einzelner und vereinzelter Rechtssätze zu beantworten“ (Stammler, Privilegien und Vorrechte, S. 23 f.). Das Privileg bedurfte auch als Begriff des Verwaltungsrechts einer Einzelermächtigung und war damit kein ungebundenes Handlungsinstrument der Verwaltung mehr, so Lieb (Fn. 1), S. 176. 65 Grdl. Arend, Monopole und Privilegien im heutigen Verwaltungsrecht, 1931; dazu Lieb (Fn. 1), S. 197 ff. 66 Lieb (Fn. 1), S. 111, m. Nachw. 67 Nach Ansicht Rousseaus ist das Gesetz eine Verfügung des allgemeinen Willens, der nach der Ansehung seines Gegenstandes allgemein ist, Rousseau, Du contrat social, L. II

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vilegien durch Carl von Rotteck formuliert (1840), der daneben natürlich auch den Sonderfall der Verordnung kannte: „Gesetz, im weitesten Sinn, ist jede nach Begriffen, d. h. in abstracto, geschehende Verfügung … der Staatsgewalt. Administrationsakt ist jeder für einen konkreten Fall, also für bestimmte Personen, Sachen oder Geschäfte, gefasste Beschluß“.68 Nach dieser Auffassung kann der Gesetzgeber keine Privilegien erteilen – das ist Sache der Administration (auf gesetzlicher Grundlage).69 Mit Nachdruck vertrat dies auch Carl Friedrich von Gerber seit seinem Erstlingswerk „Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts“ von 1865; es heißt dort lapidar: „Der Gesetzgeber offenbart seinen Willen in der Form abstrakter Normen“.70 „Auch die Ertheilung von Privilegien gehört zu den Verwaltungshandlungen“.71 In der dazugehörigen Fußnote ergänzt er: „Privilegien in dem Sinne der unmittelbaren Begründung subjektiver Rechte für individuelle Personen durch Specialverfügung der Staatsgewalt sind nicht Gesetze, d. h. staatlich aufgestellte Rechtsnormen“.72 Diese Auffassung bedeutete den vollständigen Bruch mit der überkommenen Privilegienlehre, in der allgemeine Gesetzgebung und Erteilung von Privilegien im Prinzip gleichwertig waren.73 Das war aber, wie gesagt, damals eine (revolutionäre) Mindermeinung, die letztlich die Ausdifferenzierung von Staats- und Verwaltungsrecht in die Wege leitete.74 Die etwa von Georg Jellinek vertretene Gegenauffassung konnte sich nicht durchsetzen.75 Dieser hielt etwa noch eine wirksame Dispensationserteilung durch Gesetzgebungsakt für möglich. Interessant ist in diesem Zusammenhang die Position des berühmten Staatsrechtlers Paul Laband, da er von einem abweichenden Gesetzesbegriff ausging: Ein Gesetz enthalte danach immer einen Rechtssatz, nicht aber notwendig eine allgemeine Regel.76 Von da aus kam er zu dem Schluss, dass Privilegien auch durch einen Akt der chap. VI.: „Alors la matière sur laquelle on statue est générale comme la volonté qui statue“; für weitere Nachw. vgl. Lieb (Fn. 1), S. 114. 68 von Rotteck, Lehrbuch des Vernunftsrechts und der Staatswissenschaften, Bd. 2, Lehrbuch der allgemeinen Staatslehre, 1840, Neudruck der 2. Aufl., 1964, S. 327 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 117 f.). 69 Lieb (Fn. 1), S. 118. 70 von Gerber, Grundzüge eines Systems des Deutschen Staatsrechts, 1865, S. 137. 71 von Gerber (Fn. 70), S. 164. 72 von Gerber (Fn. 70), S. 164, Fn. 5; in diesem Sinne auch Schulze-Gaevernitz, Das preussische Staatsrecht auf der Grundlage des deutschen Staatsrechts dargestellt, Bd. 1, 1872, S. 206: „Ein Befehl, eine thatsächliche Handlungsweise, eine Anordnung der Regierung für den einzelnen Fall ist niemals ein Gesetz, weil sie ihre Kraft mit dem einzelnen Fall erschöpft, weil sie nicht auf andere, wenn auch noch so gleichartige Vorkommnisse erstreckt werden kann. Zum Begriffe des Gesetzes gehört die Allgemeinheit der Regel, welche in allen logisch darunter fallenden Fällen befolgt werden soll“. 73 Lieb (Fn. 1), S. 151 f. 74 Lieb (Fn. 1), S. 152. 75 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 170. 76 Laband, Das Staatsrecht des Deutschen Reiches, Bd. 2, 1878, S. 1.

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Gesetzgebung begründet werden können.77 Zutreffend legt jedoch Lieb dar, dass er sich damit nicht auf den engeren Privilegienbegriff (Begründung von individuellen Sonderrechten im Einzelfall), sondern auf gattungs- und gruppenmäßige Sonderrechte im Sinne von „iura singularia“ bezog.78 Dies stellte Georg Meyer in einer Rezension zum Staatsrecht Labands klar: „Die Grenze zwischen Gesetz und Verfügung verwischt sich vollständig, wenn wir nicht als Charakteristikum des ersteren die allgemeine Norm, als das der letzteren die Regelung konkreter Tatbestände ansehen. Deshalb sind auch, wie ich glaube, neuere staatsrechtliche Arbeiten vollkommen im Recht, wenn sie die Ertheilung von Privilegien als eine Verwaltungshandlung bezeichnen. Ich brauche das Wort Privileg allerdings im engeren Sinne, d. h. ich verstehe darunter nur solche Akte, durch welche Berechtigungen individuell bestimmter Personen begründet werden. Dass das Wort Privileg auch noch in einer anderen Bedeutung, zur Bezeichnung von Vorrechten ganzer Klassen und Stände, vorkommt, hebt der Verfasser mit Recht hervor. Privilegien dieser Art können selbstverständlich nur durch Gesetze, nicht durch Verwaltungsakt begründet werden“.79 Im Grunde bestand damit ein weit tragender Konsens in der Sache.80 Der Konflikt um die Reichweite des Grundsatzes der Allgemeinheit des Gesetzes schwelt aber bis heute weiter. So wird das Verbot des Art. 19 Abs. 1 S. 1 GG, dass Gesetze allgemein und nicht nur für den Einzelfall zu gelten haben, bekanntlich sehr restriktiv ausgelegt. Allenfalls kann man mit Paul Kirchhof von einem „Verallgemeinerungsauftrag an den Gesetzgeber“ sprechen.81 c) Vom formalen zum materiellen Verständnis des Gleichheitssatzes Der endgültige Grabstein der traditionellen Privilegienlehre ist jedoch in der Entwicklung vom formalen zum materiellen Verständnis des Gleichheitssatzes zu sehen. Die gleichheitsrechtliche Zulässigkeit von Privilegien im 19. Jahrhundert ist vor dem Hintergrund eines formalen Verständnisses des Gleichheitssatzes zu sehen – „Gleichheit vor dem Gesetz“ wurde damals also eng ausgelegt. Aber auch hier lief von Anfang an – als Mindermeinung – ein materielles Gleichheitsverständnis parallel. Auf dieser Grundlage kamen etwa Vertreter des Naturrechts schon frühzei77

Laband (Fn. 76), S. 3. Lieb (Fn. 1), S. 164 ff. 79 Meyer (Fn. 61); Laband (Fn. 76), S. 369 f. 80 Lieb (Fn. 1), S. 167, m. Nachw.; er weist darauf hin (S. 170), dass im Zusammenhang mit der Diskussion um den materiellen Gesetzesbegriff Seligmann, vor allem vor dem Hintergrund der Unterscheidung zwischen Gesetzgebung und Verwaltung im materiellen Sinn, dafür plädiert, dass man „die Behandlung eines Einzelfalls aus der ersteren [der Gesetzgebung] eliminirt und in der letzteren [der Verwaltung] unterbringt. Alsdann ist die materielle Verwaltung zu beschreiben: als Regelung individueller und concreter Thatbestände, sowie die hierarchische Leistung dieser Thätigkeit …“, Seligmann, Der Begriff des Gesetzes im materiellen und formellen Sinne, 1886, S. 68. 81 Kirchhof, HbdStR VIII, 3. Aufl., 2010, § 181, Rn. 168. 78

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tig zur Folgerung einer Gleichheitswidrigkeit von Privilegien.82 Sie bezogen das aber auf Privilegien im engeren Sinne.83 Die sog. „Iura singularia“, also die besonderen Rechtspositionen ganzer Personengruppen, wurden aus dem Privilegienbegriff ausgegliedert.84 Sie waren fortan keinem besonderen Rechtfertigungsdruck mehr ausgesetzt.85 Diese differenzierende Betrachtung schließt ein, dass zumindest bestimmte Privilegien erforderlich und gerechtfertigt sein können. So forderte Christoph Meiners bereits 1792: „Alle Vorrechte … müssen von Rechts wegen Belohnungen von vorzüglichen Verdiensten seyn, und können also nur den einzelnen Personen zukommen, die sich derselben würdig gemacht“.86 Akzeptiert wurden Vorzugsrechte dann, wenn man einen sachlichen Grund für ihre Erteilung sah; dies galt insbesondere für eine Reihe von „iura singularia“.87 Bei Theodor von Schmalz (1831) heißt es: „Ob das Privilegium gerechter oder ungerechter Weise vom Souverän gegeben werde, entscheidet sich sicher dadurch, dass man in allen ähnlichen Fällen die Ausnahme vom Gesetze selbst als Regel rechtlich billigen kann“.88 So wurden die Vorzugsrechte der Beamten weiterhin anerkannt, da diese mit dem Amt verbunden seien und mit dem Verlust des Amtes wieder verschwänden.89 Die Auffassung von der 82 Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 61 f.; Sedlmayer, Bemerkungen über den Staatsverein, 1809, S. 134 f.: „Diese Freyheiten, oder Begünstigungen scheinen sich zwar mit den reinen Begriffen des Staatsrechts nicht wohl zu vertragen, weil Niemand vom Gesetze ausgenommen werden soll, weil jede Ausnahme vom Gesetze eine Verletzung desselben ist, … um so viel strenger soll die Rechtsgesetzgebung sich an das Gleichheits-Princip halten, weil die Ansprüche aller Einzelnen im Staate an die Korporation des Staates gleich sind“. 83 Zachariä, Vierzig Bücher vom Staate, Bd. 3, Regierungslehre, 1826, S. 16 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 113): „Nur Privilegien in diesem Sinne sind mit dem Grundsatze der rechtlichen Gleichheit unvereinbar“. 84 „Mit Privilegien sind nicht zu verwechseln die besonderen Rechte (jura singularia) für eine ganze Gattung von Personen oder Fällen, obgleich jener Ausdruck in einem uneigentlichen Sinne auch hierauf angewendet zu werden pflegt. Solche besonderen Rechte machen eine Theil der allgemeinen Gesetzgebung selbst aus“, von Gros, Lehrbuch der philosophischen Rechtswissenschaft oder des Naturrechts, 4. Aufl., 1822, S. 223 f. 85 Lieb (Fn. 1), S. 113, mit Zitaten aus naturrechtlichen Schriften. 86 Meiners, Geschichte der Ungleichheit der Stände unter den vornehmsten Europäischen Völkern, Bd. 2, 1792, S. 579. 87 Lieb (Fn. 1), S. 63. 88 von Schmalz, Die Wissenschaft des natürlichen Rechts, 1831, S. 150; für den Übergang zum materiellen Gleichheitsverständnis im Naturrecht vgl. Zachariä, Anfangsgründe des philosophischen Privatrechtes, 1804, S. 68: „Von dieser Regel, dass alle Privilegien widerrechtlich sind, machen jedoch diejenigen Vorrechte eine Ausnahme, die einer Gattung von Personen zu dem Ende ertheilt werden, um die rechtliche Gleichheit, in wie fern diese durch die physische Ungleichheit der Menschen gefährdet oder aufgehoben wird, zu sichern oder wiederherzustellen“. 89 Lieb (Fn. 1), S. 63, m. Nachw.; vgl. etwa Gönner, Teutsches Staatsrecht, 1804: „Die rechtliche Gleichheit der Staatsbürger wird nur durch jene Privilegien nicht gestöhrt, welcher ein jeder in Voraussetzung gewisser gemeinnütziger Bedingungen erlangen kann, worunter die Privilegien der Staatsdiener und nützliche Erfindungen … gehören“.

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Rechtfertigungsfähigkeit von Privilegien, insbesondere den iura singularia, setzte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch; die Privilegien im engeren Sinne waren davon nicht betroffen – sie wurden als gleichheitswidrig abgelehnt.90 Der Streit um die gleichheitsrechtliche Betrachtung von Privilegien flammte ein letztes Mal mit der Kontroverse über die Interpretation des Gleichheitssatzes in Art. 109 WRV wieder auf.91 Umstritten war zunächst, ob der Gesetzgeber an den Gleichheitssatz gebunden war. Dies wurde überwiegend abgelehnt; so lesen wir in der Kommentierung von Anschütz: Art. 109 Abs. 1 WRV „befiehlt Gleichheit vor dem Gesetz, nicht Gleichheit des Gesetzes“.92 Zudem konnte sich auch die etwa von Carl Schmitt vertretene Auffassung nicht durchsetzen, dass es auf der Grundlage des Art. 109 WRV ausgeschlossen sei, Individualrechtssätze zu erlassen. Nach Auffassung von Schmitt ist Gesetz nur das, was in sich selbst der Möglichkeit nach eine Gleichheit enthält, also eine generelle Norm. „Gleichheit vor dem Gesetz bedeutet nicht nur gleichmäßige Anwendung eines einmal erlassenen Gesetzes, sondern Schutz gegen Durchbrechungen, Dispensationen und Privilegierungen, gleichgültig, in welcher Form sie ergehen“.93 Götz von Brünneck und andere Autoren (wie etwa Gerhard Anschütz) hielten das dagegen für möglich.94 Damit blieben Privilegien in einem weiteren Sinne sowohl als „iura singularia“ als auch als Individualrechtssätze durch oder aufgrund von Gesetz möglich. Götz von Brünneck (1933) verstand unter einem Privileg im subjektiven Sinne ein „einer Person verliehenes besonderes subjektives Recht“.95 Die Betonung lag dabei auf dem Begriff „besonderes Recht“, da es um einen Rechtszustand ging, der von der allgemeinen Rechtsordnung abweicht.96 Ein „privilegium im objektiven Sinne ist also der ein von der allgemeinen Rechtsordnung abweichendes subjektives (öffentliches oder privates) Recht begründende Akt der Staatsgewalt, der sich seinem Inhalt nach sowohl als Individualrechtssatz wie als rechtsbegründende Individualverfügung darstellen kann, letzteres jedenfalls dann, wenn das Privilegium durch eine Verwal-

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Lieb (Fn. 1), S. 142. Vgl. dazu Lieb (Fn. 1), S. 195 ff. 92 Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reichs vom 11. August 1919, 4. Aufl., 1933, Anm. 1 zu Art. 109 WRV, Hervorhebungen im Original. 93 Schmitt, Verfassungslehre, 1928, § 13 IV. 4. (S. 154 f.). 94 von Brünneck, Privilegium, Individualrechtssatz und Verfügung, 1933, S. 40, 43; nach Auffassung von Anschütz sagt Art. 109 WRV nichts über den Inhalt eines Gesetzes aus; „Er verbietet also auch nicht grundsätzlich den Erlaß von ,Ausnahmegesetzen‘, die Einführung oder Aufrechterhaltung von Sonderrechten und Privilegien“; die Verfassungswidrigkeit solcher Gesetze müsse deshalb anders begründet werden, vgl. Anschütz, Die Verfassung des Deutschen Reiches vom 11. August 1919. Ein Kommentar für Wissenschaft und Praxis, 14. Aufl. 1933, Anm. 1 zu Art. 109 WRV. Die Kontroverse wurde insbesondere in Band 3 der Veröffentlichungen der Vereinigung der deutschen Staatsrechtslehrer ausgetragen. 95 von Brünneck (Fn. 94), S. 15. 96 Lieb (Fn. 1), S. 194. 91

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tungsbehörde erteilt wird“.97 Dies spiegelte den Stand der Diskussion unter der Weimarer Reichsverfassung wider. Im Ergebnis wurde damit der Begriff des Privilegs überflüssig. Seine Bedeutungsgehalte jenseits des klassischen Begriffskerns (Bevorrechtigung von Ständen) gingen über in die Begriffe der Verwaltungsverfügung bzw. des Verwaltungsaktes einerseits sowie in die der (rechtfertigungsbedürftigen) gesetzlichen Ausnahmebestimmungen andererseits. Seitdem waren Privilegien kein staatsrechtlicher Begriff mehr.98 Sie fanden in der staatsrechtlichen Literatur keine Erwähnung mehr. d) Privilegien unter dem Grundgesetz Im Grundsatz knüpfte die Rechtswissenschaft unter dem Grundgesetz an die Rechtslehre der Weimarer Reichsverfassung an. Das Bundesverfassungsgericht stellte fest: „Das Grundgesetz ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie“.99 Krüger sah in seiner Staatslehre das Privileg gar als staatsfeindlich an; der Staat könne sich von seinem Standpunkt aus nicht auf Privilegien einlassen. „Die Eigenschaft der Staatsgewalt als General- und Blankovollmacht wäre nämlich in Frage gestellt, wenn ein Untertan ihr ein Vorrecht des Inhalts entgegenhalten könnte, er brauchte bestimmte Befehle nicht zu befolgen und gewisse Forderungen nicht zu erfüllen. Das Privileg ist daher ebenso demokratie- wie staatsfeindlich, und die Geschichte zeigt in Einklang mit dieser Überlegung, dass Staat und Demokratie gemeinsam gegen die Privilegien gekämpft haben“.100 Dies bezog sich aber – wie in der Weimarer Staatsrechtslehre – auf Privilegien im engeren Sinne. In Bezug auf den Gleichheitssatz setzte sich nunmehr, anknüpfend an Leibholz, unter dem Grundgesetz ein materielles Verständnis durch. Ausnahmen vom allgemeinen Gesetz wurden rechtfertigungsbedürftig. Damit blieben Ausnahmen vom Gesetz als „iura singularia“ möglich, sie waren lediglich rechtfertigungsbedürftig. Die Liste der Rechtsnormen, die als Privileg bezeichnet wurden und dann vom Bundesverfassungsgericht für verfassungswidrig erklärt wurden, ist lang.101 Exemplarisch sei hier das vom Gericht selbst auch so bezeichnete Privileg der Sparkassen bei der Grundbucheinsicht genannt.102

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von Brünneck (Fn. 94), S. 45. Lieb (Fn. 1), S. 174. 99 BVerfGE 40, 317. 100 Krüger, Allgemeine Staatslehre, 1966, S. 942. 101 Vgl. den Überblick bei Mohnhaupt, Die Unendlichkeit des Privilegienbegriffs, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, 1997, S. 2 f. 102 BVerfGE 64, 229 ff. 98

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II. Der Begriff des Privilegs in der Rechtswissenschaft Im Folgenden sollen Konturen des Privilegienbegriffs in der gegenwärtigen Rechtswissenschaft herausgearbeitet werden. Dabei ist zunächst festzustellen, dass es sich nicht um einen normativ festgelegten Rechtsbegriff handelt. Er wird jedoch in einer bunten Vielfalt von Fällen deskriptiv eingesetzt. Erstaunlich ist, dass sich dabei weder die Gerichte noch die Rechtswissenschaft die Mühe machen zu erklären, warum bestimmte Phänomene als „Privileg“ bezeichnet werden. Vor diesem Hintergrund erscheint es angezeigt, gleichsam typologisch der Praxis der Begriffsverwendung nachzugehen. 1. Einzelbetrachtung Die wohl bekannteste Verwendung des Privilegienbegriffs bezieht sich auf Parteien. Die durch Art. 21 GG vorgegebene Sonderstellung von politischen Parteien im Verfassungsleben (gegenüber sonstigen Vereinigungen) mit erhöhter Schutz- und Bestandsgarantie wird häufig als „Parteienprivileg“ bezeichnet.103 Aber bereits an diesem Beispiel zeigt sich die Problematik der Begriffswahl sehr deutlich, stellt doch Art. 21 GG nach allgemeiner Meinung lex specialis gegenüber Art. 9 Abs. 2 GG dar.104 In der Praxis besonders relevant sind die „Privilegien“, die durch Völkerrecht, Verfassungsrecht oder einfaches Recht bestimmten Berufsgruppen gewährt werden. Zu nennen sind hier etwa ¢ die Abgeordnetenprivilegien, seien sie wie Indemnität, Immunität bereits in der Verfassung verankert105 oder die Steuerprivilegien, die gegenwärtig im Mittelpunkt einer streitigen Debatte stehen;106 ¢ die Diplomatenprivilegien (alle Vorrechte und Befreiungen, die vom Gastland nach dem Wiener Übereinkommen über konsularische Beziehungen von 103

Vgl. etwa Schmidt, Das Parteienprivileg zwischen Legalität und Opportunität, DÖV 1978, S. 468 ff. 104 Zu den ganz wenigen Ausführungen zu dem Begriff in diesem Zusammenhang vgl. Klein, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Komm., 67. Erg.lfg. 2013, Art. 21, Rn. 541, der die Begriffswahl mit guten Gründen für verfehlt hält. 105 Dazu kritisch Beyer, Immunität als Privileg, 1966 oder Maunz, in: Maunz/Dürig (Hrsg.), Grundgesetz, Komm., Art. 46, Rn. 33 ff.; überwiegend werden diese Privilegien aber akzeptiert, vgl. etwa Stern, Das Staatsrecht der Bundesrepublik Deutschland, Bd. 1, 2. Aufl. 1984, § 24 II 2 m. Nachw. 106 Im Mittelpunkt steht die steuerfreie Kostenpauschale i. H. v. 4123 Euro gemäß §§ 11, 12 Abs. 2 AbgG, § 3 Nr. 12 EStG, um etwa Bürokosten, Wahlkreisbetreuung abzudecken (diese Kosten werden unabhängig von deren tatsächlichen Anfallen ausgezahlt); vgl. dazu Engisch, Steuerprivileg für Bundestagsabgeordnete, NJW 2009, S. 894 ff. Drysch, Die steuerfreie Kostenpauschale für Bundestagsabgeordnete – ein verfassungswidriges Privileg!, DStR 2008, S. 1217 ff. sieht in der steuerfreien Kostenpauschale einen nicht zu rechtfertigenden Verstoß gegen Art. 3 GG.

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1963), wie etwa Immunität, Befreiung von der Gerichtsbarkeit, Steuerbefreiungen; ¢ das richterliche Haftungsprivileg oder Spruchrichterprivileg (Art. 34 GG, § 839 Abs. II BGB);107 ¢ das Anwaltsprivileg (§§ 142 Abs. 2, 383 Abs. 1 Nr. 6 ZPO, § 203 StGB);108 ¢ das Hochschullehrerprivileg (§ 42 ArbnErfG); ¢ die Privilegierung der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft (§ 14 Abs. 2, 3 BNatSchG, § 14 Abs. 2 NatSchGBrl).109 In diesen Fällen zielt die Vergünstigung typischer Weise nicht auf den Einzelnen als solchen, sondern als Repräsentant der dahinter stehenden Institution. So wird etwa in Bezug auf die Abgeordnetenprivilegien hervorgehoben, dass es sich um eine im Grunde selbstverständliche Ausnahmestellung handele, es seien nämlich „Vorrechte des Parlaments selber“.110 Entsprechend wird mit dem Richterprivileg die Rechtskraft richterlicher Urteile geschützt, so dass nicht ein rechtskräftiges Urteil mit der Behauptung der Amtspflichtverletzung überprüft werden kann. Im Übrigen werden mit unterschiedlicher Zielsetzung bestimmte Bevölkerungsgruppen (z. B. Einheimischenprivilegien111), insbesondere aber bestimmte Vorgänge oder Handlungen begünstigt, so etwa in folgenden Fällen: ¢ privilegierte Bauvorhaben im Außenbereich (§ 35 Abs. 1 BauGB),112 ¢ Privilegierung von Sportlärm (18. BImSchV – Sportanlagenlärmschutzverordnung),113 ¢ Marktprivilegien,114 107 Ein Richter, der bei einem Urteil in einer Rechtssache seine Amtspflicht verletzt, ist für den daraus entstandenen Schaden nur verantwortlich, wenn die Pflichtverletzung in einer Straftat besteht (z. B. Rechtsbeugung, Richterbestechung). 108 Vgl. dazu Magnus, Das Anwaltsprivileg und sein zivilprozessualer Schutz, 2010. 109 Freistellungsklausel bzgl. der Annahme eines Eingriffs: Die Bodennutzung dieser Wirtschaftszweige wird unter weiteren Voraussetzungen (Berücksichtigung der Ziele des Naturschutzes und der Landschaftspflege) nicht als naturschutzrechtlicher Eingriff angesehen, vgl. dazu im Einzelnen Ekardt, in diesem Band. 110 Tatarin-Tarnheyden, HdbStR I, 3. Aufl., 2003, S. 437. 111 Vgl. etwa Burgi, Die Legitimität von Einheimischenprivilegierungen im globalen Dorf, JZ 1999, S. 873. 112 Kommentare sprechen davon, dass bestimmte Bauvorhaben im Außenbereich bevorzugt werden oder bevorrechtigt sind und damit privilegiert werden. Für die privilegierten Vorhaben hat der Gesetzgeber sozusagen generell mit positivem Ergebnis geplant (BVerwGE 28, 148, 150). 113 Privilegierung von Sportlärm gegenüber anderen Regelwerken (TA Lärm, FreizeitlärmVO). 114 Marktverkehr ist ein Aliud zu Reisegewerbe oder stehendem Gewerbe – von daher liegt gar keine Privilegierung vor (allenfalls Ausnahme vom Gaststättenrecht), vgl. Wolf (Fn. 12),

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¢ „Privatkopienprivileg“ (§ 53 I UrhG);115 ¢ steuerliche Privilegien, etwa das Schachtelprivileg.116 In diesen Fällen liegt schlichtweg eine Vergünstigung vor, die zu einer rechtfertigungsbedürftigen Ungleichbehandlung führt. Dies gilt auch für die „Privilegien“ mit Umweltbezug: ¢ „Eigenstromerzeugerprivileg“ (§ 37 III EEG 2012);117 ¢ „Grünstromprivileg“ (§ 39 Abs. 1 EEG 2012);118 ¢ Privilegierung EMAS-auditierter Unternehmen (vgl. EU-EMAS-VO – 9. Erwägungsgrund, §§ 11 I, II, 10 II, sowie die Ermächtigungsnormen in § 58e BImSchG, § 54a KrW-AbfG, § 21h WHG);119 ¢ Privilegierung von Unternehmen bei der Vergabe öffentlicher Aufträge aus Umweltschutzgesichtspunkten;120 ¢ Privilegierung von Unternehmen im Rahmen von Selbstverpflichtungsabkommen.121 Im Grunde ist der Begriff des Rechtsprivilegs heute verzichtbar. Interessant ist, dass der Entwurf eines Bürgerlichen Gesetzbuchs für Preußen noch eine eigenständige Regelung des Privilegienrechts enthielt, das BGB für das Deutsche Reich aber schon in seinen Vorentwürfen keine einzige Bestimmung zum Privilegienrecht mehr vorsah.122 In den Motiven heißt es: „In dem Begriffe von Recht und Gesetz liegt kein Moment, welches dazu nöthigte, die privilegierenden Rechtssätze aus der Klasse der Rechtsnormen auszuscheiden und besonderen Grundsätzen zu unterstellen“.123

S. 82, 148, 173 f.; im Übrigen hält Wolf die günstige Behandlung des Marktverkehrs für verfassungswidrig – Wolf (Fn. 12), S. 132. 115 Einzelne Vervielfältigungen eines Werkes durch eine natürliche Person zum privaten Gebrauch. 116 Dazu Birk, Verfassungsfragen im Steuerrecht – Eine Zwischenbilanz nach den jüngsten Entscheidungen des BFH und BVerfG, DStR 2009, S. 877 ff., 2.2. 117 Keine Pflicht zur Zahlung der EEG-Umlage an Übertragungsnetzbetreiber durch Eigenstromerzeuger. 118 Keine Pflicht zur Zahlung der EEG-Umlage durch Energieversorgungsunternehmen in bestimmten Fällen. 119 Adam, Die Privilegierung des EMAS-auditierten Unternehmens, 2010, S. 62. 120 Heyne, Die Verfolgung von Umweltschutzzielen im öffentlichen Beschaffungswesen, ZUR 2011, S. 578 ff. 121 Schendel, Selbstverpflichtungen der Industrie als Steuerungsinstrument im Umweltschutz, NVwZ 2001, S. 494 ff.; Hucklenbruch, Umweltrelevante Selbstverpflichtungen – ein Instrument des progressiven Umweltschutzes?, Berlin 2000. 122 Lieb (Fn. 1), S. 191. 123 Motive zum Bürgerlichen Gesetzbuch, Bd. 1, Berlin 1896, S. 18; vgl. hierzu in Bezug auf Privilegien Lieb (Fn. 1), S. 191 f.

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz?

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2. Übergreifende Betrachtung In übergreifender Betrachtung stellen sich die Fragen, (a) ob die Verwendung des Begriffs Privilegien auf einen fest umrissenen Typus von Privilegien bezogen ist, und (b) warum die Bezeichnung verwendet wird (die vom Gesetzgeber nicht vorgegeben ist). a) Gegenwärtige Begriffsverwendung Die heute als „Privilegien“ bezeichneten Rechtsnormen sind keine Privilegien im klassischen dogmatischen Sinne mehr. Zudem fällt auf, dass der Privilegienbegriff im Recht entsprechend dem allgemeinen Sprachgebrauch nur noch für begünstigende Vorrechte verwendet wird, die als „Individualrechte“ gewährt werden.124 Sucht man nach einer gemeinsamen Begriffsbestimmung für die Anwendungsfälle, so kann man diese in einer staatlichen Vergünstigung Einzelner („Individualprivileg“) sehen, wobei diese Sonderstellung auch Personenmehrheiten („Gruppenprivileg“) oder Sachen und damit deren Besitzern („Sachprivileg“) zustehen kann125 : Eine bestimmte Gruppe von Menschen wird gezielt gegenüber der Allgemeinheit durch Einräumung eines subjektiven öffentlichen Rechts besser gestellt, es wird ihnen damit in bewusst diskriminierender Weise ein rechtlicher Vorteil gewährt.126 Diese Begriffsverwendung fällt letztlich mit einer rechtfertigungsbedürftigen Begünstigung von Individuen, Gruppen oder Sachen (und damit deren Besitzern) zusammen. Ihr einziger Zweck bestünde dann darin, für diese Sachverhalte als kurzes Schlagwort zu dienen. Eine darüber hinausgehende Bedeutung des Begriffs ginge verloren. Diese könnte zurückgewonnen werden, wenn man als Rechtsprivilegien nur Sonderrechte bezeichnen würde, die mit einem Amt oder einer gemeinwohlorientierten Funktion des Privilegierten oder der Privilegierten verbunden sind. Das würde etwa auf „Abgeordnetenprivilegien“, „Diplomatenprivilegien“, das „Hochschullehrerprivileg“ oder das „Spruchrichterprivileg“ zutreffen. b) Gründe für die weitere Verwendung des Begriffs „Privileg“ in der Rechtswissenschaft Teilt man die Auffassung, dass die Verwendung des Privilegienbegriffs in der heutigen Rechtswissenschaft entweder nicht korrekt ist (z. B. Parteienprivileg, Marktprivilegien), da lex specialis betroffen ist oder relativ aussagelos ist, da damit nur eine 124 Vgl. noch Wollhaupter, Stichwort „Privileg“, in: Hermann (Hrsg.), Staatslexikon, Bd. IV, 4. Aufl., 1931, S. 418 f., Anm. 1. 125 Diese Unterscheidung orientiert sich an der Definition von Meyers Online Lexikon (http://www.lexikon.meyers.de): „Privileg ist die Bezeichnung für die einem Einzelnen (Individualprivileg), einer Personenmehrheit (Generalprivileg), einer Sache und damit deren Besitzern gewährte Sonderstellung“ (zuletzt aufgerufen am 15.7. 2013). 126 Dieses Element betont auch Adam (Fn. 118), S. 20: „gewollte Besserstellung des Privilegierten gegenüber dem Nichtprivilegierten“.

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rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlung bezeichnet wird, stellt sich die Frage, warum sich der Begriff nach wie vor so großer Popularität erfreut. Häufig dürfte die Begriffsverwendung schlichtweg unbedarft sein, wenn etwa von einem „Zwingerprivileg“ im Rahmen der Hundesteuer gesprochen wird.127 Ein Motiv mag darin liegen, dass man so einen komplexen Zusammenhang schlagwortartig bezeichnen kann. Häufig dürfte die Begriffsverwendung bewusst oder unbewusst ein Unwerturteil transportieren (wollen). Hier lebt die alte Tradition des Privilegienbegriffs als „politischer Kampfbegriff“ fort, dient doch die Bezeichnung „Privileg“ dazu „vermeintliche oder tatsächliche bevorrechtigte politische, gesellschaftliche und natürlich auch rechtliche Positionen zu bekämpfen … Das Privileg spielt somit nur noch eine Rolle als – sachlich unrichtiger – Ausdruck für politisch nicht gewollte, insbesondere rechtliche, Positionen“.128 In diesem Sinne hat Joseph Pözl bereits im Jahre 1852 treffend formuliert: „Das Wort ,Privilegium‘ gehört zu denjenigen, welche man in unseren Tagen fast unbedingt perhorrescirt, weil man die Sache, welche man damit bezeichnet, nicht mehr für zeitgemäß hält“.129 In diesem Sinne äußerte sich auch Otto Mayer 1924 zu der fortdauernden Verwendung des Begriffs „Privileg“, den er ja grundsätzlich ablehnte: „Wo die der Justiz entlehnten Ausdrücke nicht recht stimmen wollen, greift man daneben auch zu den schon im Polizeistaat gern mißbrauchten Bezeichnungen ,lex specialis‘ und ,privilegium‘. Die amtlichen Urkunden reden noch in vielerlei Zungen“.130 Klippel hält den Begriff des Privilegs im Recht insgesamt und gerade auch im Öffentlichen Recht für verzichtbar. Er sei bis heute nicht mehr als ein „negativ besetzter politischer Kampfbegriff“ geblieben.131

III. Mögliche Funktionen des Privilegienbegriffs im aktuellen umweltpolitischen und umweltrechtlichen Diskurs Als Ergebnis lässt sich feststellen, dass der Privilegienbegriff heute für die Rechtsdogmatik weitgehend funktionslos geworden ist. Regelmäßig handelt es sich schlicht um rechtfertigungsbedürftige Ungleichbehandlungen. Wird hier von einem Rechtsprivileg gesprochen, so wird damit bewusst oder unbewusst ein Unwerturteil transportiert, insbesondere also nahegelegt, dass eine Rechtfertigung nicht möglich ist und also die Sonderstellung verfassungswidrig ist. Sehr deutlich wird dies aktuell 127

So das Sächs. OVG vom 12.6. 2012 – 4 A 520/10 (juris). Dazu Lieb (Fn. 1), S. 201 ff. 129 Pözl (Fn. 51), S. 372. 130 Mayer, Deutsches Verwaltungsrecht, Bd. 1, 3. Aufl., 1924, S. 61 (zitiert nach Lieb (Fn. 1), S. 197). 131 Klippel (Fn. 7), S. 308. 128

Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz?

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bei der Frage einer „Privilegierung stromintensiver Unternehmen im EEG“.132 Entsprechendes gilt für die Privilegierung der Landwirtschaft im Naturschutzrecht.133 In diesen Zusammenhängen wirft die Begriffsverwendung jedoch mehr Fragen auf als sie beantwortet und sollte vermieden werden. Der Begriff des Rechtsprivilegs hat allenfalls dort eine gewisse Berechtigung, wo er impliziert, dass die Sonderstellung auf einer spezifischen gemeinwohlorientierten Funktion und Aufgabenstellung beruht und durch diese gerechtfertigt ist. Pate stehen hier – außerhalb des Umweltrechts – etwa das Abgeordnetenprivileg, das Diplomatenprivileg, das richterliche Haftungsprivileg oder das Hochschullehrerprivileg. Es fällt jedoch schwer, hierfür passende Anwendungsfälle im Umweltrecht zu finden. Man könnte etwa beim Klagerecht von Umweltverbänden an eine „Privilegierung“ denken; zu Recht stellt jedoch Franzius fest, dass es hier lediglich um den Versuch einer Schließung von Rechtsschutzlücken in einem zu sehr auf subjektive Rechtspositionen beschränkten Klagesystem geht.134 Es geht also nicht in erster Linie darum, Umweltverbänden aufgrund ihrer Gemeinwohlfunktion und Aufgabenstellung eine Sonderstellung einzuräumen. Zumindest für das Umweltrecht kann so sehr allgemein die Forderung aufgestellt werden, dass der Begriff des Rechtsprivilegs im aktuellen rechtspolitischen und rechtsdogmatischen Diskurs vermieden werden sollte.

132 So der Beitrag von Schlacke/Kröger, Die Privilegierung stromintensiver Unternehmen im EEG, NVwZ 2013, 313 ff.; in diesem Sinne auch Franzius, in diesem Band, unter II.2. 133 Dazu Ekardt, in diesem Band. 134 Franzius, in diesem Band, unter II.1.

Umweltschutz als Abgabenprivileg Von Erik Gawel

I. Indirekte Verhaltenssteuerung – Umweltschutz als Abgabenprivileg und als Abgabengrund Indirekte Verhaltenssteuerung im Dienste des Umweltschutzes1 kann grundsätzlich – soweit man hier Abgaben als konkretes Instrument heranzieht – sowohl durch Belastung („Umweltschutz als Abgabengrund“) als auch durch Verschonung („Umweltschutz als Abgabenprivileg“) ins Werk gesetzt werden. Neben der direkten Transferzahlung ist die Abgabenvergünstigung eine wichtige Modalform der Verhaltenssteuerung durch Zuwendung von Vorteilen (Subventionen2). Umweltbelange können dabei wiederum einerseits Gestaltungsmerkmale von allgemeinen Subventionierungen sein,3 aber andererseits auch unmittelbarer Subventionsgrund. Gegenüber einer „Steuerung durch Belastung“ kann die „Steuerung durch Verschonung“ idealiter ähnliche Umweltschutzanstrengungen hervorrufen: Ebenso wie gezielte Belastungen führen Vergünstigungen zu einer Korrektur relativer Preise, die ökonomisch rationale Wirtschaftssubjekte zu einer Verhaltenskorrektur anhalten. Unter sonst gleichen Bedingungen führen beide Maßnahmen theoretisch zunächst zu 1

Siehe dazu grundlegend Klopefer, Umweltrecht, 3. Aufl., 2004, S. 279 ff.; Bender/Sparwasser/Engel, Umweltrecht, 4. Aufl., S. 41 ff.; speziell mit Blick auf Abgaben auch Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986; P. Kirchhof, Umweltschutz im Abgabenund Steuerrecht, 1993; Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000; Hendler, Ökonomische Instrumente des Umweltrechts unter besonderer Berücksichtigung der Umweltabgaben, in: Umweltrecht im Wandel, 2001, S. 285 ff.; F. Kirchhof, DVBl 2000, 1166; Selmer/Brodersen, DVBl 2000, 1153. Aus dem wirtschaftswissenschaftlichen Schrifttum allgemein zu ökonomischen Instrumenten des Umweltschutzes Endres, Umweltökonomie, 4. Aufl., 2013; Michaelis, Ökonomische Instrumente in der Umweltpolitik: eine anwendungsorientierte Einführung, 1996; Kemper, Das Umweltproblem in der Marktwirtschaft, 2. Aufl., 1993; speziell zu Umweltabgaben: Ewringmann/Schafhausen, Abgaben als ökonomischer Hebel der Umweltpolitik, 1985. 2 Zur grundlegenden finanzwissenschaftlichen Analyse der Wirkungsweise von Subventionen siehe Andel, Subventionen als Instrument des finanzwirtschaftlichen Interventionismus, 1970; ders., Subventionen, in: Handwörterbuch der Wirtschaftswissenschaft, Bd. 7, 1977, S. 491 – 510; Ewringmann/Hansmeyer, Zur Beurteilung von Subventionen, 1975. Eine grundlegende Analyse von Subventionen als umweltpolitischer Hebel bietet Kötzle, Die Eignung von Subventionen für die Umweltpolitik, 1980. 3 Dazu etwa Sprenger/Rave, Berücksichtigung von Umweltgesichtspunkten bei Subventionen: Bestandsaufnahme und Reformansätze, 2003.

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Erik Gawel

gleichartigen Verhaltensergebnissen; in der Wirtschaftstheorie ist hierbei von sog. „Substitutionseffekten“ die Rede, also Verhaltensänderungen als Folge veränderter Preisrelationen von Handlungsalternativen. Für einen (rationalen) Umweltnutzer ist es zunächst einerlei, ob die Umweltnutzung mit einem bestimmten Geldbetrag belegt oder aber der Verzicht hierauf mit demselben Geldbetrag honoriert wird – in beiden Fällen unterscheiden sich die relevanten Handlungsalternativen (Umwelt nutzen/Umwelt nicht nutzen) um denselben Kostenbetrag: Die Umweltinanspruchnahme ist jeweils um den betreffenden Betrag im Ergebnis „teurer“. Im einen Fall handelt es sich dabei um die zu tätigenden Ausgaben, wenn die Umweltnutzung erfolgt, im anderen Fall um den ökonomisch gleichwertigen Verzicht auf die ansonsten mögliche Honorierung bei Nichtnutzung (sog. Opportunitäts- oder Alternativkosten). Abgabenbelastung und Subventionierung können insoweit zu durchaus gleichartigen Verhaltensänderungen anreizen.4 Allerdings gibt es einen offensichtlichen und zugleich wichtigen Unterschied: Während eine Abgabe dem Akteur Kaufkraft entzieht, führt eine Subvention diesem Kaufkraft zu – Verschonungen lassen daher Umweltnutzer nicht „ärmer“ zurück wie eine Abgabe, sondern „reicher“. Dieser wichtige Unterschied, der in der Wirtschaftstheorie „Einkommenseffekt“ heißt, hat ganz erhebliche Auswirkungen. Nicht nur sind dadurch öffentliche Haushalte in entgegengesetzter Weise betroffen (Ausgaben versus Einnahmen) und wird die Lastausteilung abweichend organisiert (Verursacherversus Gemeinlastprinzip), auch die resultierenden Verhaltensreaktionen selbst fallen insgesamt und langfristig anders aus: Nur im Belastungsmodus erfolgt eine vollständige Preiskorrektur des ansonsten entgeltfreien Faktors Umwelt mit ebenso umfassenden strukturellen Anpassungen aller davon berührten Produktions- und Konsumprozesse. Dies bedeutet insbesondere eine volkwirtschaftlich richtige Rentabilitätsbelastung des in einer umweltintensiven Produktion eingesetzten Kapitals, möglicherweise auch – je nach Überwälzungsgrad – erhöhte Produktpreise. Ob dies sodann auf der Konsumentenseite zu Mindernachfragen oder auf der Angebotsseite zu Produktionseinschränkungen, Produktionsumstellungen, Produkt- oder Verfahrensinnovationen oder zum Abzug des Kapitals in volkswirtschaftlich ergiebigere Verwendungen mit höherer Renditechance führt, bleibt gerade den marktlichen und betrieblichen Entscheidern überlassen. Diese Markt- und Preiseffekte auf vorgelagerten Faktormärkten (z. B. Kapitalmarkt) und nachgelagerten Absatzmärkten tragen langfristig tendenziell zu einem Strukturwandel bei, der ebenfalls von Mindernutzungen der Umwelt begleitet ist und essentieller Bestandteil ökonomisch effizienter Verhaltenslenkung darstellt. Der Umweltzustand wird also langfristig ein anderer sein, ob Verhaltensanreize über Belastungen oder Verschonungen – bei gleicher unmittelbarer Anreizwirkung auf den Adressaten – ins Werk gesetzt werden. Der wichtigste Unterscheid liegt mithin in der Belastungswirkung: Die fehlende Beschwer der Umweltnutzer kann verteilungspolitisch günstig und daher gerade er4 Siehe dazu näher Gawel, Umweltpolitik durch gemischten Instrumenteneinsatz, 1995, S. 46 ff.

Umweltschutz als Abgabenprivileg

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wünscht sein, verfehlt aber wichtige ökonomische Effizienzleistungen der indirekten Verhaltenssteuerung (fehlende Einkommenseffekte): Die Umweltschutzanstrengungen sind bei Verschonungen strikt auf das staatlich Förderfähige begrenzt und lösen weder effizientes Such- noch Innovationsverhalten aus, noch beenden sie Wettbewerbsverzerrungen bei der unentgeltlichen Naturindienstnahme und verfehlen die ökonomisch angezeigte umfassende Preiskorrektur auf allen Wertschöpfungs- und Nutzungsstufen. Zudem sind Verschonungen regelmäßig von unerwünschten Neben-Effekten begleitet: Dazu zählen etwa sog. „strategisches“ Verhalten, das nur unter dem Eindruck der Verschonungsanreize zuvor eingenommen wird, um die Vorteilsmehrung zu maximieren,5 aber auch Mitnahmeeffekte, bei denen gar keine genuine Verhaltensänderung bewirkt werden kann, da die honorierungswürdige Verhaltensweise schon aus anderen Gründen erfolgt wäre, der Vorteil mangels Unterscheidbarkeit aber gleichwohl ausgekehrt werden muss. Dadurch werden Verschonungsregelungen in ihrer Wirkungsweise zusätzlich beeinträchtigt und mit Blick auf ihre gesellschaftlichen Kosten überdies unnötig teuer. Staatlich überbrachte Belastungen oder Verschonungen im Interesse des Umweltschutzes sind daher ökonomisch gerade nicht funktional äquivalent. Gleichwohl sind Verschonungen zur Verhaltenssteuerung aus Gründen der Wahrung der politischen Zustimmung – trotz der Belastung öffentlicher Haushalte – bei politischen Entscheidungsträgern überaus populär. So wird etwa derjenige Teil der Energiewende, der auf die Substitution fossil-nuklearer durch erneuerbare Stromerzeugungstechnologien abzielt, nicht etwa allein durch Belastungsinstrumente (z. B. den Emissionshandel) gestützt, sondern vielmehr in erheblichem Umfange über Garantiezahlungen nach Maßgabe des Erneuerbare-Energien-Gesetzes (EEG) organisiert. Dieser zum Teil von Ökonomen heftig kritisierte Eingriff in den Technologiewettbewerb6 hat nicht zuletzt seine Gründe in einem Zustimmung heischenden „Belastungs-Management“ des Gesetzgebers hinsichtlich der Verteilung der Kosten der Energiewende.7 Vor diesem Problemhintergrund werden nachfolgend ökologisch motivierte Verschonungsregelungen im Bereich der Abgabenerhebung sowie wirkähnliche Preisregelungen (EEG-Umlage) betrachtet. Das „Abgabenprivileg“ besteht in diesem Zu5 So können beispielsweise zeitliche oder volumenmäßige Gestaltungen von Bemessungsgrundlagen vorgenommen werden, um in den Genuss von Vorteilszuwendungen zu gelangen oder diese gezielt zu vergrößern, ohne dass diese Anpassungen im Übrigen ökonomisch angezeigt wären. Bei belastenden Eingriffen stellt sich dieses Problem nicht, da es nie vorteilhaft sein kann, die Bemessungsgrundlage im Zusammenhang etwa mit einer Abgabenerhebung zu manipulieren; hier schadete sich der Akteur nur selbst. 6 Dazu etwa Weimann, Die Klimapolitik-Katastrophe, 2008; Haucap u. a., Wirtschaftsdienst 2009, 751; Frondel u. a., et 2010, Heft 12, 36. Dagegen Gawel/Korte/Lehmann/Strunz, Gaia 2012, 278; dies., et 2011, Heft 9, 39, jew. m. w. Nachw. 7 Siehe dazu Gawel/Strunz/Lehmann, Polit-ökonomische Grenzen des Emissionshandels und ihre Implikationen für die klima- und energiepolitische Instrumentenwahl, UFZ Discussion Paper 02/2013, 2013.

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sammenhang darin, dass eine bestimmte Form der Zahllast unter Gesichtspunkten einer ökologisch motivierten Verhaltenssteuerung nach unten korrigiert wird. Damit geht es im Kern hier um Zahllast-Verschonungen aus umweltpolitischen Gründen. Diese können im Gefäß höchst unterschiedlicher staatlicher Abschöpfungsformen (Steuern, Lenkungsabgaben, Preisregelungen) überbracht werden (Abschnitt II.1.). Zudem fragt sich, anhand welcher Beurteilungskriterien die dort jeweils hinterlegten Verschonungsregelungen einzuschätzen sind (II.2.). Im Anschluss daran werden entsprechende ökologisch motivierte Zahllast-Verschonungen im Bereich der Steuern (III.), der Lenkungsabgaben (IV.), der Gebühren (V.) und der EEGUmlage als Preisregelung (VI.) näher untersucht. Ein Fazit beschließt diesen Beitrag (VII.).

II. Ökologisch privilegierte Abschöpfungen – Überblick und anzulegende Kriterien 1. Abschöpfungsformen und ihre dogmatische Eignung für Umweltprivilegien a) Überblick Die spezifische Eignung einer Verschonungsregelung wird maßgeblich vom Abschöpfungs-Gefäß bestimmt, in welches sie eingebettet wird. Bei den hierzu in Frage kommenden staatlichen Abschöpfungsformen, die mit „ökologischen Privilegierungen“ ausgestattet werden können, sind zunächst Steuern (als Fiskalzwecknorm oder als Lenkungszwecknorm) von lenkenden Abgaben (als Lenkungssonderabgabe oder als Gegenleistungsabgabe) zu unterscheiden. Ferner kommen auch Entgeltabgaben, insbesondere Gebühren in Betracht. Verwandt, aber außerhalb der Abgabensystematik stehen Abschöpfungen im Zusammenhang mit staatlichen Preiseregelungen wie die sog. EEG-Umlage. Bereits auf dieser Ebene begegnen wir kritischen Grundsatzfragen zur Eignung der jeweiligen Abschöpfungsgefäße für ökologisch motivierte Verschonungen, mithin also für lenkende Elemente als Teil einer abgabenspezifischen Regelung. Während lenkende Zwecke auf verfassungsrechtlicher Ebene sowohl bei Steuern8 als auch bei Gebühren9 grundsätzlich anerkannt sind und auch Lenkungsabgaben so-

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Siehe nur P. Kirchhof, Die Steuern, HdbStR V, § 118, 959, m. w. Nachw. So im Übrigen auch der einfachgesetzliche Steuerbegriff in § 3 Abs. 1 AO. 9 Grundlegend Kloepfer, AöR 1972, 232; Wendt, Die Gebühr als Lenkungsmittel, 1975; Meyer, Gebühren für die Nutzung von Umweltressourcen, 1995; BVerfG, B. v. 6. 2. 1979 – 2 BvL 5/76, BVerfGE 217, 226. Aus dem finanzwissenschaftlichen Schrifttum Hansmeyer/ Fürst, Die Gebühren, 1968; Bohley, Gebühren und Beiträge, 1977; ders., Die Öffentliche Finanzierung: Steuern, Gebühren und öffentliche Kreditaufnahme, 2003; Gawel, Die kommunalen Gebühren, 1995; Färber, Theorie und Praxis kommunaler Gebührenkalkulation, in: Andel, Probleme der Kommunalfinanzen, 2001, S. 57 ff.

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wohl in Form lenkender Sonderabgaben10 als auch als vorteilsabschöpfende Gegenleistungsabgabe11 als grundgesetzkonform gelten dürfen, bleiben doch mit Blick auf Zahllastverschonungen diverse dogmatische Reibungspunkte. b) Steuern So wird für die Steuer, jedenfalls für den Fall sog. Fiskalzwecknormen auf der Basis des Leistungsfähigkeitsgedankens, eine Durchsetzung mit Lenkungszwecken mit grundsätzlicher Kritik bedacht: Im finanzrechtlichen Schrifttum verbreitete Bestrebungen der dogmatischen Konstruktion eines möglichst „reinen“ Fiskalzwecknormsystems zur leistungsfähigkeitsbestimmten Lastausteilung mit allenfalls wohldefinierten und gesondert zu legitimierenden Durchbrechungen12 begegnen dem legislativen Erfindungsreichtum zur Anreicherung von Steuern mit Lenkungszwecken ablehnend. Tipke/Lang sprechen in diesem Zusammenhang von der Notwendigkeit einer „rechtliche[n] Dogmatisierung des Leistungsfähigkeitsprinzips“ mit dem Ziel eines „von Sozialzwecknormen möglichst entlasteten Steuersystems“.13 Und Paul Kirchhof entfaltet auf der Grundlage der herrschenden Steuerstaatsdogmatik14 gar die Vision des im „Garten der Freiheit“15 lustwandelnden Steuerbürgers, der, von lenkenden Bevormundungen freigestellt, sich ganz auf die bloße Zurverfügungstellung 10 Statt vieler Selmer, Sonderabfallabgaben und Verfassungsrecht. Ein Beitrag zum Umweltschutz durch Sonderabgaben und Steuern, 1996; Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 2000; Staudacher, Verfassungsrechtliche Zulässigkeit von Sonderabgaben, 2004. Aus finanzwissenschaftlicher Sicht Hansjürgens, Umweltabgaben im Steuersystem, 1992; Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999. 11 BVerfG 93, 319 – Wasserpfennig. Bestätigend Murswiek, NVwZ 1996, 417 ff.; Sanden, UPR 1996, 181 ff.; Heimlich, DÖV 1997, 996 ff.; Raber, NVwZ 1997, 219 ff.; Hendler, NuR 2000, 661, 665 f. 12 So insbesondere bei Tipke, Die Steuerrechtsordnung, Bd. I,1993; Birk, Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983; P. Kirchhof, Staatliche Einnahmen, HdbStR IV, 1990, S. 87 – 233. 13 Tipke/Lang, Steuerrecht, 16. Aufl., 1996, § 4, Rn. 84. Mit der Anerkennung der Zweckoffenheit der Steuer in der neuen Legaldefinitionsformel des § 3 I AO, der Einsicht in die grundsätzliche und unauflösliche Zweckverschränkung von Steuernormen sowie der steuerrechtlichen Rezeption der (dualen) Steuerwirkungslehre durch Birk, Das Leistungsfähigkeitsprinzip als Maßstab der Steuernormen, 1983, bleibt für ein solches Projekt ohnehin im Grunde auch juristisch wohl gar kein Raum mehr. Dagegen grundsätzlich auch das BVerfG, das dem Leistungsfähigkeitsprinzip grundsätzlich keinen Vorrang gegenüber finanzpolitischen, volkswirtschaftlichen, sozialpolitischen oder steuertechnischen Aspekten einräumen mag – z. B. BVerfGE 27, 58 (Kilometerpauschale). 14 Dazu Isensee, Steuerstaat als Staatsform, in: FS Hans Peter Ipsen, 1977, S. 409, 420 ff., sowie im Überblick Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HdbStR I, 1987, S. 1151; kritisch u. a. Gawel, Der Staat 2000, 209; Heun, Die Entwicklung des Steuerstaatskonzepts in theoretischer und tatsächlicher Hinsicht, in: Sacksofsky/Wieland, Vom Steuerstaat zum Gebührenstaat?, 2000, S. 10 ff., m. jew. weiteren Nachw. 15 P. Kirchhof, Der sanfte Verlust der Freiheit. Für ein neues Steuerrecht: klar, verständlich, gerecht, 2004.

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von Kaufkraft nach Maßgabe seiner Leistungsfähigkeit an den an seinem wirtschaftlichen Erfolg lediglich „parasitierenden Staat“16 beschränken darf. Die dabei verwendete Dissoziation der Steuerzwecke „Finanzierung“ und „Lenkung“ ist nicht nur dogmatisch fragwürdig,17 die darauf gegründete Forderung nach Freistellung wesentlicher Teile des Steuersystems von lenkenden Motiven nähme dem Gesetzgeber zudem einen wirkmächtigen Hebel zur indirekten Verhaltenssteuerung und wird daher von der Finanzwissenschaft auch nicht geteilt. Dort werden für das Steuersystem entweder gezielte Preiskorrekturen zur Behebung von Marktversagen, etwa im Umweltbereich, oder aber im Übrigen möglichst verzerrungsfreie („allokationsneutrale“) Kaufkraftabschöpfungen zur Finanzierung öffentlicher Bedarfe propagiert.18 Die finanzwissenschaftliche Einsicht, dass in der Praxis lenkende Auswirkungen unabwendbare Folge jedweder Besteuerungsform ist, auch wenn sie nur zur Kaufkraftabschöpfung konzipiert wurde, führt offensichtlich zu anderen steuersystematischen Petita als eine Sichtweise, die Lenkung grundsätzlich abzuschichten können glaubt. Daneben werden gegen Lenkungsnormen im Steuerrecht eine Fülle weiterer Bedenken und Risiken vorgetragen.19 Die finanzrechtlich insbesondere aus der herrschenden Steuerstaatsdogmatik abgeleitete Kritik an Lenkungszwecken im Steuergewand betrifft naturgemäß auch ökologische motivierte Verschonungen bei Steuern, die vorrangig als Fiskalzwecknorm gesehen werden (Einkommensteuer, Umsatzsteuer – dazu unten III.1.). Dabei verschärfen sich die Bedenken speziell im Falle progressiver Leistungsfähigkeitsbesteuerung, wie sie für die Einkommensteuer prägend ist. In diesem Falle bedeuten Verschonungsregelungen aus Umweltschutzgründen, die über eine Korrektur der Bemessungsgrundlage organisiert werden (z. B. Abzugsfähigkeit bestimmter Ausgaben), dass der steuerlich zugewendete Vorteil in seiner Höhe bei im Übrigen gleichen Voraussetzungen, insbesondere gleichen Umweltschutz-Anstrengungen, bei den Steuerpflichtigen von ihrem individuellen marginalen Steuersatz und damit von ihrer individuellen Leistungsfähigkeit abhängt: Je höher die im zu versteuernden Einkommen zum Ausdruck kommende Leistungsfähigkeit ist, desto größer ist auch der erzielbare Vorteil bei im Übrigen identischen Umweltschutz-Maßnahmen. Die Rechtfertigung dieser Ungleichbehandlung erscheint fraglich und wurde vielfach bereits verfassungsrechtlich mit Blick auf

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Zu dieser Denkfigur u. a. Vogel, Der Finanz- und Steuerstaat, HdbStR I, 1987, Rn. 71. Dazu eingehend Gawel, Umweltabgaben zwischen Steuer- und Gebührenlösung, 1999, S. 27 ff.; ders., StuW 2001, 26. 18 Dazu Gawel, StuW 2001, 26, m. w. Nachw. Siehe im Überblick auch Richter/Wiegard, Zwanzig Jahre „Neue Finanzwissenschaft“. Teil II: Steuern und Staatsverschuldung, Zeitschrift für Wirtschafts- und Sozialwissenschaften 1993, 337. 19 Siehe den instruktiven Überblick zur Kritik an Belastungsausnahmen im Steuerrecht Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 122 ff. 17

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Art. 3 Abs. 1 GG in Zweifel gezogen.20 Bisweilen werden aber auch steuerpsychologische Gründe für eine Rechtfertigung vorgebracht.21 In anderen Fällen einer sachlich unterschiedslosen Korrektur der Bemessungsgrundlage (Kinderfreibeträge, Ehegatten-Splitting) werden hingegen die daraus resultierenden Abweichungen im Steuervorteil als zwingende Folge der genuinen Leistungsfähigkeitskorrektur der Bemessungsgrundlage selbst gerechtfertigt.22 Auf diese Leistungsfähigkeitskorrektur sollen sich aber Umweltschutz-Ausgaben nicht berufen können.23 Der Einbau von Steuervergünstigungen in die Normen über die Ermittlung der Bemessungsgrundlage progressiver Steuern soll zudem auch wirtschaftspolitisch kontraproduktiv sein: Bei positiver wirtschaftlicher Entwicklung steige mit den Einkommen und Gewinnen auch das Fördervolumen, obwohl der Bedarf bei den Empfängern zurückgehe; in der Rezession (bei sinkenden Gewinnen) schrumpfe hingegen der Förderbetrag.24 Die Kritik geht folglich dahin, dass diese Art der Förderung bedarfswidrig und im Übrigen konjunkturpolitisch antizyklisch sei. Auch steige bei hoher Leistungsfähigkeit das Risiko von Mitnahmeeffekten, da in diesen Fällen die Durchführung umweltfreundlicher Maßnahmen jedenfalls nicht aus Mangel an Kaufkraft unterbleiben müssten und möglicherweise auch ohne gezielte Vorteilszuwendung ergriffen worden wären.25 Aus finanzwissenschaftlicher Sicht ist hingegen pragmatisch abzuwägen, ob die genannten Nachteile einen völligen Verzicht auf die Möglichkeit rechtfertigen kön20 So für die h. M. Birk, Steuerrecht, Rn. 174; ders., StuW 1989, 212, 217; Birk/Barth, in: Hübschmann/Hepp/Spitaler, AO/FGO, § 4 AO Rn. 505; Jarass, in: Jarass/Pieroth, GG, Art. 3 Rn. 49 a. E.; Kirchhof, HStR IV, § 88 Rn. 61, 118; ders., StuW 2000, 316, 324; Sacksofsky, NJW 2000, 2619, 2626; Schmidt/Drenseck, EStG, 16. Aufl. 1997, § 10e Rn. 4, m. w. Nachw.; Surrey, StuW 1981, 359, 368 ff.; Tipke, StRO 1, S. 343, m. w. Nachw.; ders., StRO II, S. 718; Tipke/Lang, Steuerrecht, § 9 Rn. 43 a. E.; Trzaskalik, Gutachten, E 85 f.; Wieland, in: Festschrift für Zeidler 1, S. 735, 747 ff.; Zitzelsberger, StuW 1985, 197, 204. Wie so oft bei im Schrifttum angeblich klar erkannter Verfassungswidrigkeit hält sich das BVerfG jedoch bedeckt und hat bisher nur den Abzug von Parteispenden von der Bemessungsgrundlage bemängelt – dies im Übrigen auch nur im Hinblick auf die Chancengleichheit der Parteien – siehe BVerfGE 8, 51, 68 f.; 85, 264 313 f. 21 Osterloh, DStJG 24, 2001, S. 383, 402. 22 Siehe nur P. Kirchhof, NJW 2000, 792: Soweit moniert werde, dass Bezieher höherer Einkommen durch Berücksichtigung von Familienmerkmalen bessergestellt würden, werde der Unterschied zwischen der Belastungsgerechtigkeit und der Entlastungsgerechtigkeit verkannt. Die Einkommensteuer knüpfe an die Zahlungskraft an, die unabhängig von der Einkommenshöhe durch kinderbezogene Aufwendungen verringert werde. 23 Zur dogmatisch nicht hinreichend beleuchteten Frage, inwieweit durch Umweltgebrauch auch (nicht-marktliche) Leistungsfähigkeit ausgedrückt werden kann, Gawel, StuW 1999, 374. 24 Umbrecht, in: Kirchhof/Sohn/Mellinghoff, EStG, § 7d Rn. A 103; Nieder-Eichholz, Die Subventionsordnung, 1995, S. 218. 25 Siehe etwa Surrey, StuW 1981, 359, 368; Wernsmann, Verhaltenslenkung in einem rationalen Steuersystem, 2005, S. 137.

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nen, über eine nicht-leistungsfähigkeitsbezogene Korrektur der einkommensteuerrechtlichen Bemessungsgrundlage zusätzliche Anreize auszureichen, insbesondere wenn für den Förderzweck keine taugliche nicht-progressive steuerliche Alternative zur Verfügung steht. c) Gebühren Im Gegensatz zur umstrittenen Lenkungs-Besteuerung ist die lenkende Gebühr dogmatisch anerkannt. Auch wenn zwischen finanzrechtlicher Dogmatik und Finanzwissenschaft durchaus weiterhin signifikante Differenzen bestehen,26 was die Reichweite des Lenkungsansatzes betrifft (Beschränkung auf die bloße Bemessung der Gebührenhöhe im Einzelfall oder umfassendes Verständnis der Gebührengestaltung) sowie die Einhegung von Lenkung insbesondere durch die gebührenrechtlichen Verfassungsprinzipien der Äquivalenz und der (leistungsbezogenen) Gleichbehandlung, so ergeben sich doch für die hier interessierende Fragestellung von Anreizen durch Zahllast-Verschonung keine grundlegenden rechtsdogmatischen Einwendungen. Dies mag auch damit zusammenhängen, dass der Fall – soweit ersichtlich – bislang nicht rechtspraktisch geworden ist (siehe unten V.). Grundsätzlich begrenzt das die Gebührendogmatik beherrschende Äquivalenzmotiv zur Korrespondenz aus empfangener, individueller öffentlicher Leistung und geschuldeter entgeltlicher Gegenleistung ebenso wie der Gleichbehandlungsauftrag aus Art. 3 GG („gleiche Gebühr für gleiche Leistung“) spezifische, leistungsfremde Begünstigungen. Eine allgemeine, d. h. unspezifische Unterschreitung des landesrechtlich weithin normierten Kostendeckungsgrundsatzes aus Gründen des öffentlichen Interesses soll aber bei weiten Ermessensspielräumen des jeweiligen Satzungsgebers zulässig sein.27 d) Lenkungsabgaben Anders verhält es sich freilich bei genuinen (Umwelt-)Lenkungsabgaben: Hier erscheint eine Verschonung von solchen Zahllasten, die ja gerade im Dienste des Umweltschutzes erst statuiert wurden, grundsätzlich erklärungsbedürftig: Lenkungsabgaben honorieren Umweltschutz ihrer Grundidee nach durch eine Belastung im Falle einer Umweltinanspruchnahme und den dadurch platzierten Anreiz zur Minderung der umweltbezogenen Bemessungsgrundlage; einer zusätzlichen Verschonung zur Anreizsetzung bedarf es insoweit nicht, ja diese schwächt geradezu den durch Belastung vermittelten Anreiz. Insoweit ist eine ökologisch motivierte Verschonung von Zahllasten im Rahmen einer Umweltlenkungsabgabe grundsätzlich zweckwidrig. Die Zahllast kann funktional nur einmal anreizwirksam werden; insoweit schwächt jede Verschonung gleichzeitig den aus der Belastung erwarteten Anreiz bzw. lenkt die Anreizwirkung um auf ein abweichendes Lenkungsziel (dazu unten IV.).

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Dazu im Einzelnen Gawel, Die kommunalen Gebühren, 1995, S. 349 ff. Siehe nur Schulte/Wiesemann, in: Driehaus, KAG, § 6 Rn. 23.

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Zwar sind theoretisch Ausgestaltungen denkbar, bei denen im Ergebnis die Zahllast gemindert wird, aber zugleich zusätzliche Anreize ausgebracht werden können – so etwa im Falle sog. Aufstockungseffekte durch gezielte Rückführung von Abgabenaufkommen an einzelne Umweltnutzer bei investiven Gegenleistungen28 – eine unmittelbare Verschonung von der Abgaben-Zahllast liegt hier aber nicht vor; vielmehr wird dabei die unveränderte Abgabe durch eine zusätzliche, eigenständige Subvention ergänzt. Trotz der grundsätzlichen Zweckwidrigkeit von ökologisch motivierten Zahllastverschonungen bei Umweltlenkungsabgaben haben Bundes- und Landesgesetzgeber gerade in diesem Bereich zahlreiche Regelungen ausgebracht, die – neben dem Belastungsanreiz – eine gleichzeitige Honorierung umweltfreundlichen Verhaltens durch Verschonungsregelungen, mithin durch „Abgabenprivilegien“, vorsehen (dazu unten IV.). 2. Beurteilungskriterien Eine Beurteilung der Eignung ökologisch motivierter Verschonungsregelungen im Rahmen staatlicher Abschöpfungen kann sich auf verschiedene Kriterien beziehen: ¢ Zunächst ist die Effektivität angesprochen: Ist mit der Regelung etwas für den Umweltschutz gewonnen? Verfassungsrechtlich ist hier im Rahmen der Verhältnismäßigkeitsprüfung zugleich die „Eignung“ angesprochen. Dabei ist insbesondere auch von Bedeutung, ob die umweltbezogene Verschonung überhaupt eine ökologische Entlastungswirkung bezweckt oder möglicherweise gänzlich andere Zielstellungen verfolgt, z. B. eine schlichte Belastungsteuerung bei den Zensiten. ¢ Daneben wird aus ökonomischer Sicht auch die ökonomische Effizienz beachtlich sein: Gelingt über die Verschonung eine kostenminimale Förderung des Umweltzwecks? Sind Mitnahmeeffekte oder „perverse Anreize“ durch strategisches Verhalten zu befürchten? ¢ Zudem steht die jeweilige Systemgerechtigkeit in Frage: Liegen konzeptionelle Systembrüche vor, derentwegen die Zahllast-Verschonung als Fremdkörper im jeweils gewählten Abschöpfungsgefäß gelten muss? ¢ Schließlich muss der Blick auf Zielkonflikte gerichtet werden: Ergibt sich Friktionspotenzial mit anderen Zielstellungen der Abschöpfungsregelung, z. B. mit fiskalischen, anderen lenkenden oder Gerechtigkeitsmotiven? Erscheint vor diesem Hintergrund die Verschonung noch angemessen?

28 Zu diesem Aufstockungseffekt RSU, Umweltgutachten 1978, S. 546 f.; Gawel, Umweltpolitik durch gemischten Instrumenteneinsatz, 1991, S. 106 ff.

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3. Befund im deutschen Steuer- und Abgabensystem Im deutschen Steuer- und Abgabensystem sind zahlreiche Regelungen implementiert, die den Umweltschutz als „Abgabenprivileg“ vorsehen bzw. in diese Richtung wirksam werden. Diese Regelungen sind über diverse Rechtsmaterien und Abschöpfungsformen verteilt. Sie finden sich zunächst im Steuersystem, und zwar sowohl bei der Einkommensteuer (Abschreibungserleichterungen nach §§ 7d, 51 Abs. 1 Nr. 2 lit. q EStG), der Umsatzsteuer (ermäßigter Steuersatz nach Anlage 2 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1, 2 für Holz) sowie verschiedenen Verbrauch- und Aufwandsteuern29 (Stromsteuer: § 9 Abs. 1 StromStG, Kfz-Steuer: KfzStG, passim). Ferner sind selbst die konzeptionell zur Verhaltenssteuerung durch Belastung berufenen Umweltlenkungsabgaben durchsetzt mit Zahllast-Verschonungsregelungen (Abwasserabgabe: §§ 9, Abs. 5, 6 und 10 Abs. 3 – 5 AbwAG; Landes-Wasserentnahmeabgaben: z. B. § 23 Abs. 10, 11 SächsWG). Im Gebührenrecht hingegen finden sich keine unmittelbaren Verschonungsregelungen, wohl aber im kommunalen Abgabenrecht allgemeine Öffnungsklauseln für eine ökologisch orientierte Bemessung. Schließlich finden sich im Preisrecht der Erneuerbaren Energien (EE)30 bei der Refinanzierung durch die sog. EEG-Umlage (§§ 34 ff. EEG) ökologisch konnotierte Verschonungsregelungen in Form des sog. „Grünstromprivilegs“ (§ 39 Abs. 1 EEG) und des „Eigenstromprivilegs“ (§ 37 Abs. 3 EEG).

III. Steuern 1. Überblick Das deutsche Steuersystem kennt zahlreiche Regelungen, die den Umweltschutz als Grundlage einer Steuerverschonung vorsehen. Im Einkommensteuerrecht sieht zunächst § 7d EStG diverse Abschreibungserleichterungen vor „für Wirtschaftsgüter, die dem Umweltschutz dienen“. Nach § 7d Abs. 3 EStG dienen Wirtschaftsgüter dann dem Umweltschutz, „wenn sie dazu verwendet werden, 1. a) den Anfall von Abwasser oder b) Schädigungen durch Abwasser oder c) Verunreinigungen der Gewässer durch andere Stoffe als Abwasser oder d) Verunreinigungen der Luft oder e) Lärm oder Erschütterungen zu verhindern, zu beseitigen oder zu verringern oder 2. Abfälle nach den Grundsätzen des Abfallbeseitigungsgesetzes zu beseitigen.“ § 51 Abs. 1 Nr. 2 lit. q EStG sieht darüber hinaus eine Verordnungsermächtigung der Bundesregierung (bei Zustimmung des Bundesrates) vor „über erhöhte Absetzungen bei Herstellungskosten“ für umweltfreundliche Maßnahmen, u. a. für Fernwärmeanschlüsse, Einbau von Wärmepumpenanlagen, Solaranlagen und Anlagen

29 In der Finanzwissenschaft spricht man stattdessen von „Steuern auf spezielle Güter“ – siehe Hansmeyer u. a., Steuern auf spezielle Güter, HdF II, 3. Aufl., 1980, S. 709 ff. 30 Siehe dazu auch den Beitrag von Franzius, in diesem Band.

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zur Wärmerückgewinnung, Errichtung von Windkraftanlagen oder von Anlagen zur Gewinnung von Gas, das aus pflanzlichen oder tierischen Abfallstoffen entsteht. Im Umsatzsteuerrecht ist ein ermäßigter Steuersatz vorgesehen für holzbasierte Bioenergieträger nach Anlage 2 Nr. 48 zu § 12 Abs. 2 Nr. 1 und 2 UStG. Danach unterfallen Brennholz, aber auch „Sägespäne, Holzabfälle und Holzausschuss, auch zu Pellets, Briketts, Scheiten oder ähnlichen Formen zusammengepresst“, dem ermäßigten Umsatzsteuersatz. Die demnach im Einkommen- und Umsatzsteuerrecht ausgebrachten ökologischen Verschonungsregelungen reihen sich bruchlos ein in die dort weit verbreiteten Begünstigungsregelungen für diverse wirtschaftslenkende Zwecke. Hierzu greifen die allgemeinen steuersystematischen Kritikpunkte, auf die oben (II.1.) exemplarisch für die Einkommensteuer bereits näher eingegangen worden ist. Darüber hinaus gehende Spezifika für umweltmotivierte Begünstigungen sind hingegen nicht ersichtlich. Aus diesem Grunde seien im Folgenden die ökologischen Begünstigungen bei den Verbrauch- und Aufwandsteuern näher betrachtet (Stromsteuer: nachfolgender Abschnitt 2.; Kfz-Steuer: Abschnitt 3.). 2. Stromsteuer Bei der Heranziehung zur Stromsteuer31 als indirekte Steuer auf den inländischen Stromverbrauch hat der Gesetzgeber eine Fülle an Begünstigungstatbeständen vorgesehen (§§ 9, 9a, 9b, 10 StromStG).32 Als ökologisch motivierte Verschonungsregelung kann dabei die in § 9 Abs. 1 StromStG normierte Befreiung für Strom aus erneuerbaren Energieträgern (EE) gelten, wenn dieser Strom aus einem ausschließlich aus solchen Energieträgern gespeisten Netz entnommen wird (Nr. 1). Begünstigt werden Wasser- und Windkraft, Sonnenenergie, Erdwärme, Deponiegas, Klärgas und Biomasse. Pumpspeicherkraftwerke sind ebenfalls über die Privilegierung des Strombezugs bei der Stromerzeugung selbst ausgenommen (Nr. 2). Wegen des extrem engen Anwendungsbereichs (ausschließlich EE-gespeiste Netze) spielt die Regelung als Umweltprivileg gegenwärtig keine große Rolle, ist aber Gegenstand rechtspolitischer Überlegungen zur Förderung der Direktvermarktung. Der klimafreundliche Schienenverkehr profitiert nach § 9 Abs. 1 Nr. 5 und Abs. 2 StromStG ebenfalls durch konditionierte Befreiung bzw. Ermäßigung. Eine Neuregelung des sog. Spitzenausgleichs für Unternehmen nach § 10 StromStG33 brachte das (Zweite) „Gesetz zur Änderung des Energiesteuer- und des Stromsteuergesetzes sowie zur Änderung des Luftverkehrsteuergesetzes“ vom 31

Stromsteuergesetz v. 24.3. 1999 (BGBl. I S. 378; 2000 I S. 147), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 5.12. 2012 (BGBl. I S. 2436, 2725). 32 Siehe u. a. Schiebold/Otto, ZNER 2002, 14; Meißner, StEW 2011, 19 (jeweils zu § 9 Abs. 1 Nr. 3 StromStG); Milewski, CuR 2007, 3 (zu § 10 StromStG). 33 Siehe grundlegend Milewski, CuR 2007, 3.

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5.12. 2012 ab 2013.34 Beim Spitzenausgleich können Unternehmen des produzierenden Gewerbes von der nach Anwendung des § 9b StromStG verbleibenden Steuerlast nochmals weiter entlastet werden. Die Höhe der Entlastung hängt von der Differenz der Stromsteuerbelastung des Unternehmens und der Entlastung, von der das Unternehmen durch die von der Stromsteuer finanzierte Senkung der Rentenversicherungsbeiträge bereits profitiert, ab. Die Entlastung wird nur gewährt, soweit die Stromsteuer die fiktive Ersparnis aus der Senkung der Rentenversicherungsbeiträge und einen Selbstbehalt von 1.000 Euro im Kalenderjahr übersteigt. Im Kalenderjahr können höchstens 90 % der Steuer erlassen, erstattet und vergütet werden. Unternehmen mit einem hohen Strombezug im Verhältnis zu den rentenversicherungspflichtigen Bruttolohnkosten profitieren dabei besonders von der Steuerentlastung. Hintergrund der Neuregelung ab 2013 war zum einen die Notwendigkeit, die Forderung der Europäischen Kommission zu erfüllen, für die Gewährung der Steuererleichterungen künftig eine Gegenleistung von den begünstigten Unternehmen zu verlangen. Nur unter dieser Voraussetzung war die notwendige Verlängerung der Ende 2012 auslaufenden beihilferechtlichen Genehmigung dieser Steuererleichterung möglich. Zum anderen setzt die Bundesregierung damit ihre im Energiekonzept 2010/201135 angekündigte Gesetzgebung um. Im Detail werden von Unternehmen, die künftig den sog. Spitzenausgleich nach § 10 StromStG in Anspruch nehmen wollen, Gegenleistungen zur Steigerung der Energieeffizienz verlangt. Diese sehen die Einführung und den Betrieb eines zertifizierten Energiemanagementsystems nach ISO 50001 oder eines Umweltmanagements nach EMAS als Voraussetzung für die Gewährung des Spitzenausgleiches vor (§ 10 Abs. 3 Satz 1, Abs. 4 StromStG). Abweichend davon können Unternehmen, die nach der Empfehlung 2003/361/EG der Europäischen Kommission36 zu den kleinen und mittleren Unternehmen zu zählen sind, alternative Systeme zur Verbesserung der Energieeffizienz betreiben, die einen geringeren Erfüllungsaufwand bedeuten. Diese sollen den Anforderungen der Norm DIN EN 16247-1 entsprechen (§ 10 Abs. 3 Satz 2 StromStG). Eine weitere Voraussetzung für die Gewährung des Spitzenausgleiches ab 2015 ist, dass das produzierende Gewerbe in Deutschland eine vorgegebene Steigerung der Energieeffizienz erreicht (§ 10 Abs. 6 StromStG). Dazu wird in einem Gutachten jährlich ab 2015 die Verbesserung der Energieeffizienz über alle betroffenen Unternehmen ermittelt und von der Bundesregierung im Bundesgesetzblatt veröffentlicht.

34 BGBl. I 2012, S. 2725, i.V.m. Bek. v. 19.12. 2012 (BGBl. I S. 2725). Siehe dazu auch Stein/Thoms, BB 2012, 1380; Milewski, ZfZ 2012, 281; Friedrich/Köthe, DStR 2013, 65. 35 Energiekonzept der Bundesregierung vom 28.10. 2010, www.bmu.de/files/pdfs/allge mein/application/pdf/energiekonzept_bundesregierung.pdf. 36 Empfehlung der Kommission v. 6.5. 2003 betreffend die Definition der Kleinstunternehmen sowie der kleinen und mittleren Unternehmen, ABl. L 124 v. 20.5. 2003, S. 36, http:// eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=OJ:L:2003:124:0036:0041:de:PDF.

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Zusammenfassend ergeben sich erhebliche Zweifel, inwieweit die über §§ 9, 10 StromStG ausgereichten Steuervorteile überhaupt ökologisch effektiv sein können – im Falle des § 9 Abs. 3 Nr. 1 mangels Anwendungsreichweite, im Falle des § 10 angesichts von Mitnahmeeffekten (allgemeine Effizienzverbesserung, die ohnehin stattfindet) oder von bloß prozeduralen Sicherungen in Gestalt von Energie- oder Umweltmanagementsystemen ohne konkreten Stromspar-Ertrag. Für diese zweifelhaften Nutzen werden aber klare Kosten der Regelungen in Kauf genommen, nämlich die Schwächung der über den steuerlichen Belastungsmodus direkt vermittelten Anreize zur Stromeinsparung (neben den Einnahmeausfällen). Zahllastabsenkungen jedweder Art und aufgrund welcher Motive auch immer reduzieren die Anreize zu verantwortlichem Stromverbrauch. Wegen der Gegenläufigkeit in derselben Zieldimension (Stromeinsparung) kann die Neuregelung des § 10 StromStG weiterhin als Instrument der Belastungssteuerung gelten. Die spezifische Begünstigung erneuerbarer Energieträger in § 9 Abs. 3 Nr. 1 hingegen ist zu eng gestrickt, um wirksam werden zu können. Zudem fragt sich in grundsätzlicher Perspektive, weshalb die Erneuerbaren, die bereits im EEG ihren komparativen Vorteil gegenüber konventionellen Energieträgern auf der Erlösseite erhalten, nochmals bei der Stromsteuer privilegiert werden müssen, d. h. bei einem Instrument, das allgemein, will heißen: technologieindifferent, zum Stromsparen anhalten soll. Auch der Stromverbrauch aus EE sollte effizient gestaltet werden – nicht zuletzt deshalb, weil auch die Erneuerbaren soziale Kosten bei Landschaftsverbrauch, Wohnumfeld-, Gewässer-, Natur- und Artenschutz hervorrufen. Insoweit ist nicht recht verständlich, warum ein allgemeines Stromsparinstrument nochmals technologiedifferenziert ausgestaltet wird, wo doch an anderer Stelle (EEG) die angestrebte Begünstigung der Erneuerbaren bereits prominent platziert wurde. 3. Kfz-Steuer a) Überblick und allgemeine Bewertung Die Kfz-Steuer37 wird im Wesentlichen für das Halten von Kraftfahrzeugen zum Verkehr auf öffentlichen Straßen erhoben (§ 1 KfzStG). Bemessungsgrundlage war bis zum Änderungsgesetz 2009 der Hubraum unter Berücksichtigung von spezifischen Schadstoffemissionen (Pkw) bzw. das Gesamtgewicht unter Berücksichtigung von spezifischen Schadstoff- und Lärmemissionen (Lkw). Nach jahrelanger Diskussion wurde die bundesdeutsche Kraftfahrzeug-Steuer zum 1. Juli 2009 – zunächst nur für Pkw-Neufahrzeuge – auch am CO2-Ausstoß ausgerichtet und damit klimapolitisch aufgewertet. Zugleich erhielt der Bund nach Art. 106 Abs. 1 Nr. 3 GG die Ertragshoheit für diese Steuer.38 Mit der Bündelung der Ertragskompetenzen der verkehrsbezogenen Steuern (Energiesteuer, Kfz-Steuer) beim Bund und der klimapoli37

Kraftfahrzeugsteuergesetz i. d. F. der Bekanntmachung v. 26.9. 2002 (BGBl. I S. 3818), zuletzt geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 5.12. 2012 (BGBl. I S. 2431). 38 Die Länder werden gemäß Art. 106b GG nunmehr durch einen durch Bundesgesetz zu bestimmenden Anteil am Steueraufkommen des Bundes kompensiert.

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tischen Ausrichtung der Kfz-Steuer werden seit langem geforderte steuerliche Maßnahmen umgesetzt. Doch wird damit die Kfz-Steuer zu einer politisch konsistent eingebetteten Klimaschutzsteuer?39 Die Belastungs- und Verschonungssystematik des Kfz-Steuer-Gesetzes ist von außerordentlicher Komplexität – dabei überlagern sich verschiedene Regelungsgenerationen, darin jeweils unterschiedlich ausgestaltete (temporäre) Befreiungsregelungen sowie Tarifdifferenzierungen nach Fahrzeug-Typ, Gewicht, Schadstoffklasse und CO2-Last. Beschränkt man sich hier auf die durch das KfzStG ausgereichten „Umweltprivilegien“, so geraten vor allem folgende Bestimmungen in den Blick: - befristete Steuerbefreiungen für Elektromotoren (seit Ende 2012 auch für LKW), - Veranlagung von Bestands-Pkw (Erstzulassung bis 30.6. 2009) sowie von Lkw nach Schadstoffklassen, - seit 1.7. 2009: CO2-Komponente als Teil-Bemessungsgrundlage für neu zugelassene Pkw. Insgesamt müssen die über die Kfz-Steuer gebotenen Anreize ökonomisch als außerordentlich schwach gelten: Die hier realisierbaren jährlichen steuerlichen Einsparungen durch Kauf eines CO2-armen oder elektrobetriebenen Neuwagens liegen nach Berechnungen in den meisten Fällen (deutlich) unterhalb von 1 % des NeuwagenPreises.40 Angesichts der gegenwärtigen Größenordnungen möglicher Händlerrabatte (insbesondere in der Phase der Abwrackprämie über 20 %) nehmen sich diese Anreize sehr bescheiden aus, selbst wenn man eine durchschnittliche Lebensdauer der Kfz von etwa acht Jahren zugrunde legt.41 Die Merklichkeit der Steuer wird durch den geringen Anteil der Kfz-Steuer an den gesamten Fahrzeugkosten beschränkt; dies gilt in besonderem Maße für die Neuwagenkäufe.42 Aus diesem Grunde ist auch von hohen Mitnahmeeffekten auszugehen; dies gilt insbesondere auch für Elektrofahrzeuge, wo der gebotene Steuervorteil nicht annähernd die Mehrausgaben bei der Anschaffung ausgleichen kann und so eher symbolisch die intrinsische Motivation von Konsumpionieren zu verstärken vermag – was auch eine gewisse umweltpolitische Berechtigung haben mag.43 Den spezifischen Vorzug der Kfz-Steuer gegenüber der oftmals priorisierten Energiebesteuerung, nämlich die umweltpolitisch ebenfalls relevanten Entscheidungen über die Neuanschaffung oder das Halten eines Kfz direkt mit Lenkungs-Anrei-

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Zu dieser Frage bereits Gawel, ZUR 2010, 3; ders., StuW 2011, 250. Siehe Dudenhöffer, ifo-Schnelldienst 6/2009, 3. 41 Stand 1.1. 2009: 8,2 Jahre/Pkw (vor der Abwrackprämien-Aktion) – siehe Institut für Energie- und Umweltforschung, Abwrackprämie und Umwelt – eine erste Bilanz, 2009, S. 2. 42 Siehe hierzu Kuhfeld/Kunert, DIW-Wochenbericht 49/2005, 745. 43 Zur Relevanz (der Schonung) intrinsischer Motivation für den Steuerungserfolg von Umweltpolitik Gawel, Perspektiven der Wirtschaftspolitik 2001, 145, m. w. Nachw. 40

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zen zu belegen,44 kann die Kfz-Steuer daher mangels Masse in der Praxis kaum wirklich ausspielen. Bei den Pkw wird zudem die Regel-Veranlagung nach Schadstoffklassen zugunsten der CO2-Komponente aufgegeben. Dabei war die Kfz-Steuer steuersystematisch der einzige praktisch verfügbare Hebel, um Anreize für das Einhalten von Abgasnormen zu platzieren.45 Die CO2-Komponente wurde so mit dem Wegfall der Luftschadstoffreferenz für Pkw erkauft. Insgesamt zeigt sich aber, dass aufgrund von System- und Wirkungsbrüchen die modifizierte Kfz-Steuer für Pkw insbesondere nicht als wirkungsvolle „Klimaschutzsteuer“ gelten kann (dazu unten b)).46 Die Förderung der Elektromobilität hingegen verpufft weitgehend in Mitnahmeeffekten. b) Die Klimakomponente der Kfz-Steuer für neu zugelassene Pkw Der Verkehrssektor trägt derzeit ca. 18 – 19 % zu den nationalen CO2-Emissionen bei.47 Dabei dominiert der Straßenverkehr mit 85 % (2005); hieran wiederum hat der Pkw-Verkehr einen Anteil von 60 %.48 Somit kommt der Kraftstoffeinsparung bei den Pkw eine sehr große Bedeutung für die Verringerung der verkehrsbedingten CO2-Emissionen zu. Während aber die gesamten jährlichen CO2-Emissionen in Deutschland gegenüber 1990 bis 2005 um 15 % zurückgingen, stiegen die CO2Emissionen im Verkehr um 12 % an.49 Der Verkehrssektor war lange Zeit der einzige Wirtschaftsbereich ohne Emissionsminderung gegenüber 1990. Das Wort vom klimapolitischen „Sorgenkind Verkehr“ machte folgerichtig die Runde.50 Zwar haben in den vergangenen zwei Jahrzehnten Effizienz-Fortschritte bei der Antriebstechnik Minderungspotenziale beschert. Steigende Kilometerleistung und der Trend zu größeren Autos mit leistungsstärkeren Motoren und höherem Komfort machen die dadurch erzielten Einsparungen jedoch zunichte. Es besteht daher Konsens, dass im Verkehrsbereich unverändert ein besonderer klimapolitischer Handlungsbedarf be44

Wirkungsbrüche in der Anreizkette der Energiesteuer können dazu führen, dass die Nachfrageentscheidungen über Anschaffung und fortgesetztes Halten eines Kfz durch eine in den Kraftstoffpreisen vermittelte Energiebesteuerung unzureichend verarbeitet und damit das Ziel einer (raschen) Verringerung der spezifischen CO2-Intensität im Fahrzeugbestand verfehlt wird. Denn klimapolitisch kann einerseits auf Nachfrager-Entscheidungen über die Fahrleistung (gefahrene km), andererseits auch auf Entscheidungen hinsichtlich des spezifischen Verbrauchs (Kraftfahrzeugtyp, Fahrstil, Wartung, Streckenmix) eingewirkt werden. Zu einer der emissionsrelevantesten Nachfrage-Entscheidungen zum spezifischen Verbrauch gehört fraglos aber auch die Kfz-Anschaffungsentscheidung. 45 So auch Pols, ifo-Schnelldienst 6/2007, 6, 8. 46 Gawel, StuW 2011, 250; ders., ZUR 2010, 3. 47 www.umweltbundesamt-daten-zur-umwelt.de/umweltdaten/public/theme.do?nodeI dent=2842. 48 Siehe Lahl, Die Verminderung der CO2-Emissionen von Personenkraftwagen, www. bmu.de/verkehr/downloads/doc/print/41482.php. 49 Ebenda. 50 Siehe statt vieler Böhler/Bongardt, Aus Politik und Zeitgeschichte 29 – 30/2007, 15.

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steht. Bisher wurde auf den Verkehrssektor im Wesentlichen durch die Lkw-Maut, Zuschläge bei der früheren Mineralölsteuer („Öko-Steuer“), emissionsabhängige Landegebühren auf deutschen Flughäfen sowie die steuerliche Förderung und die Statuierung von Beimischungsquoten für Biokraftstoffen klimapolitisch eingewirkt. Die Eckpunkte der Kfz-Steuer-Reform von 2009 sehen vor diesem Hintergrund Folgendes vor: – Die Steuer-Bemessungsgrundlage enthält zwei Komponenten: Hubraum wie bisher mit reduzierten Sätzen, zusätzlich der spezifische CO2-Ausstoß. – Ein an den Vorgaben der Europäischen Union orientierter CO2-Ausstoß für Pkw bleibt steuerfrei. Dieser CO2-Freibetrag beträgt bis 2011 120 g/km, bis 2013 110 g/km, ab 2014 95 g/km. – Der Tarif der CO2-Komponente ist linear (mit Freibetrag) ausgestaltet: Für jedes über die Zielgröße hinausgehende Gramm/km CO2 werden 2 Euro fällig. Aufgrund des Freibetrages ist damit zwar der Grenzsteuersatz konstant, die Durchschnittbelastung pro g/km steigt jedoch an (sog. indirekte Progression).51 – Der CO2-unabhängige Sockelbetrag (Hubraumbemessung) ist abhängig von der Antriebsart sowie der Hubraumgröße: 2 Euro je angefangene 100 ccm (Ottomotor) bzw. 9,50 Euro (Dieselmotor); die Steuersatzdifferenzierung nach Antriebsart wird also beibehalten. – Bestandsfahrzeuge werden nach dem alten Kfz-Steuerrecht veranlagt. Sie sollen ab 2013 „schonend“ in die neue Systematik überführt werden – die genaue Ausgestaltung ist bisher freilich noch nicht festgelegt worden. Das Ziel, den Kohlendioxidausstoß von Kraftfahrzeugen zu senken, ist zugleich ein wichtiger Bestandteil des EU-Ziels, den Treibhausgassaustoß bis 2020 um 20 Prozent zu senken. Hierzu sah die neue EU-Strategie 2007 neben nachfrageorientierten Maßnahmen (Energieverbrauch-Labelling, Kfz-Steuer-Angleichung, Werbe-Verhaltenskodex) auch „gesetzgeberische Maßnahmen“ auf der Angebotsseite vor: Mit der Verordnung EG 443/2009 wurden im Rahmen des sog. „EU-Klimapakets“ Kfz-Hersteller (oder Herstellergemeinschaften nach Art. 7) auf verbindliche Emissionsgrenzwerte ihrer Neuwagen verpflichtet: 2015 dürfen Neuwagen in der EU durchschnittlich nur noch 130 g CO2/km ausstoßen – ergänzt um „begleitende Maßnahmen“ im Umfang von angestrebt 10 g/km. Derzeit liegt der durchschnittliche CO2-Ausstoß neuer Pkw in der EU bei knapp 160 g/km. 130 g/km müssen durch Verbesserungen in der Motorentechnologie erreicht werden, wobei eine Einsparung von sieben Gramm durch sogenannte „Ökoinnovationen“, etwa Solardächer, angerechnet werden kann. Weitere Maßnahmen, in denen festgelegt wird, wie die zusätzlichen 10 g/km zu erreichen sind (etwa durch bessere Reifen oder die Nutzung von Biokraftstoffen), werden diese Verordnung ergänzen. Die Autoindustrie muss den Durch51 Siehe zur indirekten Progression beispielsweise Brümmerhoff, Finanzwissenschaft, 9. Aufl., 2007, S. 392 f.

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schnitts-Grenzwert von 130 Gramm CO2 pro Kilometer für Neuwagen 2015 voll erreichen. 2012 müssen 65 Prozent der Neuwagen eines Herstellers das Ziel erreichen. 2013 sollen es 75 Prozent sein und 2014 dann 80 Prozent. Bei Überschreiten der Grenzwerte werden Geldbußen fällig (Emissionsüberschreitungsabgabe gemäß Art. 9). 2020 dürfen Autos höchstens 95 g CO2/km ausstoßen. 2013 wird dieses Ziel nochmals überprüft. Ökonomisch lässt sich angesichts der Möglichkeit von Strafzahlungen die Grenzwert-Regelung der EU-Verordnung als CO2-Intensitätsabgabe auf Pkw mit Freibetrag interpretieren. Damit wirken auf das klimapolitische Ziel einer möglichst raschen Durchsetzung CO2-armer Fahrzeuge im bundesdeutschen Pkw-Bestand gleich drei Abgabeninstrumente ein: Neben das duale nationale System aus Energiesteuer und nunmehr CO2-orientierter Kfz-Steuer auf der Nachfrageseite tritt die EU-Fahrzeug-Pönale, welche die Hersteller zum Angebot CO2-ärmerer Pkw und – je nach Überwälzung der Pönale im Kaufpreis52 – u. U. auch die Nachfrage zur Bevorzugung sparsamer Fahrzeuge anhalten soll. Die neue Kfz-Steuer setzt von der Nachfragseite zusätzliche individuelle Anreize für Fahrzeuge bis zum Zielwert von zunächst 120 g/km (danach verschärft). Anreize, Fahrzeuge mit noch niedrigeren Emissionswerten anzuschaffen, werden jedoch gerade nicht gesetzt, da sich in diesem Bereich die Kfz-Steuer nicht weiter reduzieren lässt. Auch vorfristige Anschaffungen unterdurchschnittlich emissionsarmer Fahrzeuge werden so gerade nicht honoriert. Insbesondere aber auch die konkrete Ausgestaltung der Kfz-Steuer für Neu-Pkw weckt Zweifel, inwieweit hier effektive und zugleich effiziente klimapolitische Anreize gesetzt werden können. Dabei ist gleich eine lange und eindrucksvolle Reihe von Kritikpunkten laut geworden:53 - Die CO2-Orientierung gilt zunächst nur für Neufahrzeuge; der Altfahrzeugbestand bleibt bis 2013 vollständig ausgenommen und soll anschließend auch nur „schonend“ einbezogen werden. Neben fehlenden Emissionsdaten für Altfahrzeuge gilt im Gebrauchtwagenmarkt die mögliche Steuerausweichungsoption „Kauf eines emissionsärmeren Fahrzeugs“ als sozial unausgewogen. - Als Folge der Neuregelung sinkt die tatsächlich für die einzelnen Fahrzeugtypen zu entrichtende Zahllast der Kfz-Steuer in vielen Fällen: Vergleichsrechnungen machen deutlich, dass die Steuerlast für die Mehrzahl der zulassungsstarken Modelle als Folge der CO2-Orientierung zunächst sogar sinken wird.54 Der ohnehin bescheidene Substitutionseffekt der Neuregelung wird auf diese Weise durch 52 Die Pönale wird nur je Hersteller für die gesamte Flotte berechnet; es hängt daher von den Überwälzungsstrategien der Hersteller sowie den Nachfrageelastizitäten im jeweiligen Produktsegment ab, ob sich die CO2-Last auch im Kaufpreis und schließlich in der abgesetzten Menge widerspiegeln wird. 53 Siehe im Überblick Gawel, Wirtschaftsdienst 2011, 137. 54 Dudenhöffer, ifo-Schnelldienst 6/2009, 3; Ketterer/Wackerbauer, ifo-Schnelldienst 4/ 2009, 12, 13.

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einen „Einkommenseffekt“ der Niveauabsenkung bei wichtigen Marktsegmenten konterkariert. Dudenhöffer spricht hier gar von einem „Steuersenkungsprogramm“.55 Wo sich aber die Zahllast ermäßigt, können Anreize relativer Steuerpreise nur noch über Opportunitätskosten (noch größere Einsparungen bei Fahrzeugwechsel) gesetzt werden; empirisch gelten diese jedoch als schwächer ausgeprägt. Zudem setzt eine solche Verbilligung der Kfz-Haltung kontraproduktive Anreize bei der Entscheidung über den Verzicht auf ein Kfz. - Steuerlasterhöhung und Steuerlastermäßigung im Rahmen der Neuregelung sind darüber hinaus infolge der komplexen gesplitteten Bemessungsgrundlage keineswegs konsistent auf Fahrzeuge mit über- bzw. unterdurchschnittlichem Emissionspotenzial verteilt; vielmehr lassen sich nahezu alle Kombinationen von Fallgestaltungen finden: unterdurchschnittlich CO2-intensive Fahrzeuge mit Steuerlastsenkungen stehen neben solchen mit -erhöhungen, emissionsstarke Fahrzeuge zeigen teils kräftige Steuerbetragserhöhungen, aber auch nahezu unveränderte Zahllasten oder sogar Steuerbetragssenkungen. Die Hubraumkomponente schwächt nicht nur die Relevanz der CO2-Komponente, diese wird durch den Hubraumeinfluss auch verzerrt. Daher verletzt die Kfz-Steuer das ökonomische Effizienz-Prinzip des einheitlichen Kohlenstoffpreises56 und bietet verzerrte Anreize über die Emissionslast einzelner Fahrzeuge, weil Be- und Entlastungen nicht proportional zu den spezifischen Emissionen erfolgen.57 Insbesondere im Bereich spezifischer Emissionen ab 150 g/km sind, ohne dass ein System erkennbar wäre, alle Zahllaständerungen möglich.58 Der Hubraum als Bestandteil der Bemessungsgrundlage auch der neuen Kfz-Steuer ist als politische Reverenz an die mit der Steuer verbunden fiskalischen Interessen zu verstehen. Denn bei alleiniger CO2-Orientierung der Steuer droht – nicht zuletzt aufgrund der abschmelzenden Freibeträge sowie der EU-Pönale – eine mittel- bis langfristige Erosion der Bemessungsgrundlage durch Verbesserungen in der Antriebstechnik und verändertes Käuferverhalten. Der (ordnungsrechtlich nicht regulierte) Hubraum gilt demgegenüber als Garant der Dauerergiebigkeit der Steuer. Zudem mildert er die Wirkung der spezifischen CO2-Besteuerung und schont so die Interessen der deutschen Hersteller emissionsstarker Premium-Fahrzeuge. - Die Rolle finanz-, wirtschafts- und industriepolitischer Ziele bei der Neugestaltung der Kfz-Steuer wird im Übrigen auch daran deutlich, dass die im Zuge der Konjunkturmaßnahmen praktisch zeitgleich stimulierte deutliche Verjüngung des Fahrzeugbestandes durch Neuwagenkäufe (Abwrackprämie, Kfz-Steuerbefreiungen) gänzlich ohne Klimakomponente auskam; die Erfüllung der Euro-Ab55

Dudenhöffer, ifo-Schnelldienst 6/2009, 3. Dazu insbesondere Sinn, Das grüne Paradoxon – Plädoyer für eine illusionsfreie Klimapolitik, 2008. 57 Siehe auch Ketterer/Wackerbauer, ifo-Schnelldienst 6/2009, 12, 14. 58 Der Grund hierfür liegt darin, dass auch Fahrzeuge mit großem Hubraum emissionsarm betrieben werden können; Hubraum und CO2-Ausstoß sind mithin gerade nicht proportional. 56

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gasnormen genügte. Immerhin wurden allein über die Abwrackprämie rund 2 Mio. Fahrzeuge ausgetauscht (dies entspricht 12 % der 17 Mio. Fahrzeuge, die aufgrund ihres Alters dafür in Frage kamen (5 % des Gesamt-Bestandes)) und immerhin noch etwa 780.000 zusätzliche private Zulassungen bewirkt (der Rest sind Mitnahme-Effekte des natürlichen Umschlages).59 Umwelt- und Konjunkturpolitik standen hier im Widerstreit, denn niedrige spezifische CO2-Emissions-Anforderungen für die Förderungsmaßnahmen hätten die Nachfrage wohl noch stärker an den Premium-Produkten aus deutscher Fertigung vorbeigelenkt. Die Neuregelung der Kfz-Steuer verpasst vorsätzlich die Chance, diesen Erneuerungsschub klimapolitisch zu nutzen. - Betrachtet man die Binnenkonstruktion der Kfz-Steuer, so wurde eine allzu starke Tarifspreizung zwischen emissionsarmen und emissionsstarken Fahrzeugen gedämpft durch den Einfluss der Hubraumkomponente, eine lineare Veranlagung (anstelle einer progessiven) und den Einbau des Freibetrages. Alle drei Konstruktionsmerkmale führen dazu, dass der relative Vorteil emissionsarmer Fahrzeuge geringer ausfällt als theoretisch möglich.60 Zwar wird betont, dass eine lineare Veranlagung der CO2-Intensität problemadäqut sei, da jeder Tonne die gleiche Klimaschädlichkeit zukomme;61 Progressionstarife sind damit lenkungspolitisch keineswegs ausgeschlossen, zumal ohnehin in der Praxis höchst unterschiedliche implizite CO2-Preise gesetzt werden.62 Tatsächlich wurde beim neuen Kfz-SteuerTarif aber gerade kein linearer Linientarif realisiert, sondern mit der Freibetragsregelung eine indirekte Progression der Durchschnittssteuersätze etabliert. - Bei Mengensteuern entwertet sich die Steuerlast real fortlaufend unter den Bedingungen einer inflationären Wirtschaft. Vor diesem Hintergrund sind die jährlichen Steuerlasterhöhungen um 20 E 2012 bzw. weitere 30 E 2014 durch dynamische Verkürzung des CO2-Freibetrages (von 120 auf 110 bzw. 95 g/km) kaum wirklich spürbare Verknappungssignale.63 - Am Systembruch der Steuersatzdifferenzierung zwischen Otto- und Dieselmotoren wird festgehalten. Die Subventionierung des Transportgewerbes bei der Energiesteuer (niedrigere Steuersätze für Diesel-Kraftstoff) wird „teilkompensiert“ durch einen „gewissen“ fixen Aufschlag bei der Kfz-Steuer. Das CO2-Signal der Kfz-Steuer wird so abermals verzerrt. Eine Klimaschutzsteuer müsste freilich technologieneutral jede Mengeneinheit CO2 gleichermaßen belasten. Die Technikwahl wird zudem insgesamt (über Energiesteuer und Kfz-Steuer) klimapoli59 Siehe Institut für Energie- und Umweltforschung, Abwrackprämie und Umwelt – eine erste Bilanz, 2009, S. 2 und 5. 60 Zum Problem der Tarifspreizung auch Ströbele, ifo-Schnelldienst 6/2007, 3, 5. 61 So etwa Pols, ifo-Schnelldienst 6/2007, 6, 8. 62 Zum Problem ineffizienter Regulierung durch unterschiedlich hohe (impliziter) CO2Preise auch Ketterer/Wackerbauer, ifo-Schnelldienst 4/2009, 12, 15. 63 Bei 2 % Inflationsrate p.a. beträgt der reale Wertverlust von 300 E Kfz-Steuer (VW Golf, alte Kfz-Steuer) binnen drei Jahren rund 18 Euro.

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tisch inkonsistent gesteuert, da Diesel-Motoren bei hoher Fahrleistung steuerliche Vorteile, bei niedriger Leistung jedoch Nachteile aufweisen.64 - Die neue Kfz-Steuer beschränkt ihre Lenkungswirkung auf die Erreichung des Zielwertes 120 g/km. Weitergehende Emissionsminderungen, insbesondere die vorfristige Einhaltung der ab 2012 bzw. 2014 geltenden verschärften Zielwerte werden nicht honoriert. Damit begnügt sich die CO2-Komponente mit Anreizen, die auf die Durchsetzung des aktuellen Standes der Technik gerichtet sind. Von einer Steuer, die „vor allem auf den Schutz des Klimas“ gerichtet ist, dürfte man hingegen erwarten, dass auch weitergehende Emissionspotenzial-Reduktionen aufgrund von Fortschritte in der Antriebstechnologie steuerlich gratifiziert werden. - Rebound-Effekte: EU-Pönale und neue Kfz-Steuer verfolgen eine Effizienzstrategie; sie greifen gerade nicht auf die effektiven CO2-Emissionen zu. Mit der Effizienzverbesserung in der Fahrzeugflotte allein ist für die Klimapolitik freilich noch nichts gewonnen. Vielmehr besteht die besondere Gefahr von sog. Rebound-Effekten65 : Reduzierungen im spezifischen Verbrauch eröffnen als relative Preissenkungen Optionen, bei unveränderten Kosten höhere Fahrleistungen oder CO2-relevante Komfort- und Motorleistungssteigerungen zu realisieren. Die Energiesteuer muss hier mit Blick auf die Fahrleistung und die übrigen Verbrauchsparameter (Fahrverhalten, Wartungszustand, Streckenmix) spürbar gegensteuern und so die Klimadividende von Effizienzverbesserungen steuerpolitisch am Markt sichern. Als Fazit lässt sich festhalten: Die Kfz-Steuer hat zwar finanzwissenschaftlich durchaus auch neben einer verbrauchsabhängigen Energiebesteuerung aus steuerund umweltpolitischen Gründen ihren Platz im Steuersystem. Im Rahmen einer auf CO2-Emissionen fokussierten Besteuerung schwindet freilich die Überzeugungskraft eines dualen Besteuerungssystems aus Kfz- und Energiesteuer. Die (zusätzliche) Besteuerung des bloßen CO2-Emissionspotenzials, die eine Kfz-Steuer hier noch übernehmen kann, könnte die Nachfrager-Entscheidungen über Kauf und Halten von Kfz unter CO2-Einspargesichtspunkten anleiten und so zu einer (rascheren) Durchsetzung des Fahrzeugbestandes mit verbrauchseffizienten Fahrzeugen beitragen. Abgesehen davon, dass gerade hierauf auch die sog. EU-Pönale gerichtet ist, fällt dieser denkbare klimapolitische Zielbeitrag für die Nachfrageseite jedoch in der konkreten Novelle 2009 wenig überzeugend aus: Die Anreizwirkung verharrt infolge der fortgeführten Hubraumkomponente und der vernachlässigbaren Kostenanteile der Steuer beim Kaufpreis auf niedrigem Niveau. Anreize für die vorfristige Anschaffung unterdurchschnittlich emissionsintensiver Fahrzeuge werden gerade nicht gesetzt. Zudem ist die mäßige und asymmetrische Lenkungswirkung auch noch in64

So auch Dudenhöffer, ifo-Schnelldienst 6/2009, 3, 4. In der ökonomischen Theorie bezeichnet man mit Rebound die auf Effizienzsteigerungen folgenden gegenläufige Mengeneeffekte, z. B. als Folge von Preisreduktionen (was billiger wird, wird stärker nachgefragt); siehe hierzu Herring, Energy & Environment 2000, 313. 65

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konsistent in ihrer Bewertung von CO2-Emissionen: Die Hubraumkomponente verzerrt die CO2-Knappheitssignale der Steuer willkürlich. Weiterhin wird der denkbare Lenkungseffekt dadurch entwertet, dass Bestandsfahrzeuge bis 2013 ohne besondere CO2-Anreize verbleiben. Die Neuregelung zielt damit vorerst nur auf die Erneuerung des Bestandes, hat aber gerade hierbei die massive Umwälzung im Fahrzeugbestand als Folge der sog. Abwrackprämie vorsätzlich verpasst. Die konkreten Belastungsverschiebungen über die einzelnen Fahrzeugtypen lassen eher ein „Steuersenkungsprogramm“ erkennen; die Kfz-Steuer wird so in ihrer umweltpolitischen Bedeutung eher geschwächt, da das Halten eines Kraftfahrzeugs insgesamt – der CO2-Komponente zum Trotz – vor allem im Massensegment günstiger wird. Von einer „Klimaschutzsteuer“ ist damit auch die neue Kfz-Steuer weit entfernt. Bekannte umweltpolitische Muster, die auf symbolische Politik setzen, aber ernstliche Belastungen und hieraus gespeiste Umstrukturierungen vermeiden,66 werden hier erneut erkennbar. Immerhin ist mit der Reform ein Einstieg in ein neues Besteuerungssystem gelungen, das künftig stärkere Lenkungsimpulse zu verbrauchsarmen Fahrzeugflotten geben könnte. Nennenswerte Anreize zur Verbreitung effizienter Fahrzeuge im Fahrzeugbestand können so freilich derzeit kaum gesetzt werden.

IV. Lenkungsabgaben 1. Funktionsbruch durch ökologisch motivierte Abgabenprivilegien Lenkungsabgaben honorieren Umweltschutz nach ihrer Grundidee durch einen selbsttätigen Anreiz zur Variation der Bemessungsgrundlage seitens der Zensiten. Sie steuern damit durch Belastung, nicht durch Verschonung. Gleichwohl haben Bundes- und Landesgesetzgeber selbst in den genuinen Umweltlenkungsabgaben des Wasserrechts zahlreiche Regelungen ausgebracht zur nochmaligen Honorierung umweltfreundlichen Verhaltens durch Verschonungsregelungen, mithin durch „Abgabenprivilegien“. Diese beziehen sich einerseits auf die Bundes-Abwasserabgabe (Abschnitt IV.2.) als auch auf die verschiedenen Landesregelungen über Wasserentnahmeabgaben67 (IV.3.).

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Siehe hierzu Gawel, Zur Politischen Ökonomie von Umweltabgaben, 1995. Siehe zu einem Überblick Gawel/Köck u. a., Weiterentwicklung von Abwasserabgabe und Wasserentnahmeentgelten zu einer umfassenden Wassernutzungsabgabe, UBA-Texte 67/ 2011, S. 103 ff. Zwischenzeitlich haben Sachsen-Anhalt und Rheinland-Pfalz Abgabepflichten neu eingeführt – dazu Gawel, Wasser und Abfall 2012, Heft 3, 32 (Sachsen-Anhalt) und ders., LKRZ 2012, 305 (Rheinland-Pfalz). 67

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2. Abwasserabgabe a) Überblick Seit nunmehr über 30 Jahren, beginnend mit dem 1.1. 1981, wird in Deutschland die Abwasserabgabe aufgrund des Abwasserabgabengesetzes (AbwAG) von 1976 erhoben.68 Das AbwAG kann sogar – lange vor Öko-Steuer und Emissionshandel, aber auch weit vor dem Kostendeckungsansatz aus Art. 9 EG-Wasserrahmenrichtlinie (WRRL) – als umweltpolitischer Pionier des Einsatzes von ökonomischen Anreizinstrumenten in der Praxis gelten. Die Abwasserabgabe belastet Direkteinleitungen von Abwasser in ein Gewässer (§ 1 AbwAG) nach Maßgabe von deren Schädlichkeit (§ 3 Abs. 1 AbwAG). Der Abgabe ist ein expliziter verhaltenslenkender Auftrag im Interesse des Gewässerschutzes beigegeben, auch wenn die konkrete Ausgestaltung deutlich eine Überformung als Vollzugshilfe zugunsten der wasserrechtlichen Anforderungen an Abwassereinleitungen erkennen lässt.69 In jedem Falle ist die Ausrichtung der Abgabe klar auf Minderung der Gewässerbelastung durch Abwasser bezogen. Diesem Ansatz folgt nicht nur der „Wirkungszweck“ der Abgabe, sondern auch ihr „Verwendungszweck“, denn in § 13 Abs. 1 AbwAG wird eine klare Zweckbindung der aufkommenden Mittel zugunsten von „Maßnahmen, die der Erhaltung oder Verbesserung der Gewässergüte dienen“, statuiert. Gegenwärtig ist – ausgelöst durch einen diesbezüglichen Forschungsauftrag des Umweltbundesamtes – eine intensive Diskussion um die Weiterentwicklung der Abwasserabgabe70 in Gang gekommen. Dabei spielen traditionell auch Vergünstigungen in der Abgabenkonstruktion eine große Rolle. Die Abwasserabgabe ist bislang nicht Gegenstand bundesverfassungsgerichtlicher Befassung gewesen. Verschiedene Landesverwaltungsgerichte haben sie in den 1980er Jahren als Sonderabgabe qualifiziert, wenngleich als eine Sonderabgabe mit einer besonderen Lenkungs- und Ausgleichsfunktion,71 für die eigene Rechtfer68 Gesetz über Abgaben für das Einleiten von Abwasser in Gewässer (Abwasserabgabengesetz – AbwAG) vom 13.9. 1976 in der Fassung der Bekanntmachung vom 18.1. 2005 (BGBl. I S. 114), zuletzt geändert durch Artikel 1 des Gesetzes vom 11.8. 2010 (BGBl. I S. 1163). Hierzu insbesondere Berendes, Das Abwasserabgabengesetz, 3. Aufl., 1995; Kotulla, Abwasserabgabengesetz, 2005; Köhler/Meyer, Abwasserabgabengesetz, 2. Aufl., 2006; Zöllner, in: Sieder/Zeitler/Dahme/Knopp, WHG und AbwAG, 2010; aus ökonomischer Sicht statt vieler Hansmeyer, Fallstudie: Finanzpolitik im Dienste des Gewässerschutzes, in: Schmidt, Öffentliche Finanzen und Umweltpolitik, 1989, S. 47 ff.; Ewringmann, Die Emanzipation der Abwasserabgabe vom Ordnungsrecht im Rahmen der EG-Wasserrahmenrichtlinie und eines Umweltgesetzbuches, in: Bohne, Perspektiven für ein Umweltgesetzbuch, 2002, S. 265 ff. 69 Siehe dazu Berendes, AbwAG, 1995, S. 11 ff.; Gawel/Köck u. a. (Fn. 67), S. 69 ff. 70 Gawel, ZfW 2011, 185; Palm u. a., KA 2012, 1048; Nisipeanu u. a., ZfW 2013, 70; Gawel/Köck u. a., Praktische Ausgestaltung einer fortzuentwickelnden Abwasserabgabe sowie mögliche Inhalte einer Regelung. Gutachten für das Umweltbundesamt, 2013. 71 Siehe OVG Münster, Urt. v. 20.9. 1983, DVBl. 1984, 348, 350; VGH Mannheim, Beschl. v. 27.1. 1984, DVBl. 1984, 345 f.; BayVGH, Beschl. v. 18.1. 1984, BayVBl. 1984, 279, 280;

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tigungskriterien gelten sollen. Die Qualifizierung der Abwasserabgabe als Sonderabgabe entspricht auch der wohl noch herrschenden Auffassung in der Literatur.72 Durch die Grundsatzentscheidung des BVerfG in seinem Beschluss vom 7. November 1995 zum sog. „Wasserpfennig“ des Landes Baden-Württemberg und zur Grundwasserentnahmeabgabe des Landes Hessen,73 ist die bisherige Einordnung der Abwasserabgabe allerdings substanziell in Frage gestellt.74 Nunmehr liegt die Analogie zur neuen Rechtfertigung von Wasserentnahmeabgaben als Gegenleistungsabgaben, die den Sondervorteil der individuellen Nutzung einer bewirtschafteten Gemeinressource zulässigerweise abschöpfen können, auf der Hand: Die Abwasserabgabe dürfte insoweit als Gegenleistung für eine staatliche Leistung anzusehen sein, nämlich für die Erlaubnis, das Wasser zu nutzen, obwohl es rechtlich der Allgemeinheit und nicht dem Nutzer zugeordnet ist. Der Gegenleistungsbezug scheidet die Abwasserabgabe sowohl von der Steuer als auch von der Sonderabgabe mit der Konsequenz, dass die Rechtfertigungskriterien, welche für Sonderabgaben vom BVerfG entwickelt worden sind, auf die Abwasserabgabe nicht anwendbar sind. Selbst wenn man dem nicht folgen wollte, besteht doch in Rechtsprechung und Literatur in hohem Maße Übereinstimmung darüber, dass die Abwasserabgabe jedenfalls nicht den Kriterien zu unterwerfen ist, die für die besonders steuerähnlichen Finanzierungs-Sonderabgaben entwickelt worden sind.75 b) Die Verschonungstatbestände im AbwAG Das AbwAG offeriert zur Honorierung umweltfreundlichen Verhaltens Zahllastverschonungen im Wesentlichen über zwei Konstruktionselemente: - Abgabesatzermäßigungen nach § 9 Abs. 5, 6 AbwAG, die bei Einhaltung bestimmter ordnungsrechtlicher Vorgaben eine Halbierung des Abgabesatzes vorsehen, - Verrechnungen von bestimmten Anlagen-Investitionen mit der Zahllast gemäß § 10 Abs. 3 – 5 AbwAG.

siehe auch VGH Kassel, Beschl. v. 28.6. 1983, UPR 1984, 30, 31, der ausschließlich die Lenkungsfunktion betont. 72 Vgl. nur Kotulla, AbwAG, 2005, Einf. Rn. 2, mit umfangreichen Hinweisen auf die Literatur. Siehe auch Berendes, AbwAG, 1995, S. 13 f.; Nisipeanu, Abwasserabgabenrecht, 1997, S. 5 ff.; ausführlich: Meßerschmidt, Umweltabgaben als Rechtsproblem, 1986, S. 191 – 252. 73 BVerfGE 93, 319 ff. – Wasserpfennig. 74 Siehe nur Köhler/Meyer, AbwAG, Einf. Rn. 44 f.; Gawel/Köck u. a. (Fn. 67), S. 53 ff. Siehe grundlegend auch Sacksofsky, Umweltschutz durch nicht-steuerliche Abgaben, 2000, S. 197 ff. A. A. Kotulla, AbwAG, 2005, Einführung, Rn. 2. 75 Vgl. statt vieler Berendes, AbwAG, 1995, S. 14; Köck, Die Sonderabgabe als Instrument des Umweltschutzes, 1991, S. 151 ff. A. A. etwa Nisipeanu, Abwasserabgabenrecht, 1997, S. 9; ebenso Meßerschmidt (Fn. 72), S. 238.

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Diese Verschonungsregelungen dienen der Vollzugsunterstützung des parallelen Wasserordnungsrechts oder der Belastungssteuerung, stören jedoch empfindlich den Wirkmechanismus einer effizienten Verhaltenssteuerung im Belastungsmodus, der einer Lenkungsabgabe eigentümlich wäre. Beide wirken daher als Fremdkörper in einer Lenkungsabgabe.76 c) Abgabesatzhalbierung Die Halbierung durchbricht den Grundsatz der vollen Kostendeckung, den Grundsatz des Verursacherprinzips sowie das Effizienzprinzip („gleiche Abgabe für gleiche Schädlichkeit“) und verstößt zudem gegen das ökonomische Lenkungskonzept der Abgabe, das maßgeblich auf der Zahllast für nicht-vermiedene Restnutzungen beruht (Einkommenseffekte – vgl. dazu oben I.). Eine Abgabesatzhalbierung ist damit evident konzeptwidrig im Rahmen einer Lenkungsabgabenkonstruktion. Diese im Grundsatz bereits seit 1976 vorgesehene Begünstigung der Restverschmutzung („nicht vermiedene Schadeinheiten“ – § 9 Abs. 5 AbwAG) wurde von Anfang an „überwiegend als systemwidrig empfunden“77. Sie ist deshalb schon im Ansatz systemwidrig, weil sie gegen das Grundprinzip aus § 3 Abs. 1 Satz 1 AbwAG verstößt: „Die Abwasserabgabe richtet sich nach der Schädlichkeit des Abwassers […]“. Nach diesem Grundsatz kommt es auf gerade auf die nicht vermiedenen Schadeinheiten an, d. h. es gilt: „Wer verschmutzt, zahlt“. Für gleiche Schädlichkeit ist auch die gleiche Abgabe zu entrichten. Dies ist zur Sicherung der ökonomischen Effizienz der Abgabenlenkung unerlässlich, denn nur wenn für jede Schadeinheit derselbe Abgabesatz gilt, kann eine nach Maßgabe der Grenzvermeidungskosten gesamtwirtschaftlich kostenminimale Strukturierung aller Vermeidungsanstrengungen gelingen.78 Nur unter diesen Voraussetzungen finden Vermeidungsmaßnahmen dort statt, wo sie am kostengünstigsten realisiert werden können. Jede Abweichung hiervon ist daher aus ökonomischer Sicht als Verstoß gegen die Effizienzbedingung rechtfertigungsbedürftig. Eine Tarifspaltung verstößt damit gegen ein Fundamentalprinzip der Abgabenlenkung. Die demgegenüber vom Gesetzgeber umgesetzte Betrachtungsweise „stellt nicht auf die vom Abwassereinleiter objektiv verursachte Gewässerbelastung [ab], sondern auf die Billigung seines Handelns durch die Rechtsordnung (,Wer nicht ord-

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Berendes, Das Abwasserabgabengesetz, 3. Aufl., 1995, S. 152 („systemwidrig“) und S. 168 („Fremdkörper“); Gawel, ZfW 2011, 185, 199, 210 f. 77 Berendes, AbwAG, 1995, S. 139. 78 Vgl. Scholl, Verhaltensanreize der Abwasserabgabe, 1998, S. 24 f. Eine Ausnahme hierzu bilden regional differenzierte Abgabesätze, welche räumlich variierenden Belastungssituationen Rechnung tragen. Eine solche Differenzierung ist theoretisch bei inhomogenen Immissionswirkungen gleicher Emissionslasten sinnvoll, wird hier aber nicht weiter verfolgt, da hierfür eine umfassendere Neukonzeption emissions- und immissionsbezogener Aufgaben einer Abgabe erforderlich wäre. Vgl. hierzu Gawel/Möckel, Raumforschung und Raumordnung 2011, 333.

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nungsgemäß reinigt, zahlt‘).“79 Sie kann daher auch nur im Rahmen einer Konzeption der Abgabe als Vollzugshilfe des Wasserordnungsrechts überzeugen. Der mit der Ermäßigungsoption geschaffene starke Anreiz zur Einhaltung der Anforderungen des WHG und der Abwasserverordnung (§ 9 Abs. 5) und zur beschleunigten Anpassung wasserrechtlicher Bescheide (Abs. 6) konnte angesichts der ursprünglichen Situation massiver Vollzugsdefizite früher durchaus als sinnvoll betrachtet werden. Hierfür wird jedoch eine Abkehr vom Verursacherprinzip in Kauf genommen, da für die Höhe der Abgabelast nun nicht mehr allein die Zahl der Schadeinheiten, sondern eben auch deren Verhältnis zum ordnungsrechtlichen Mindeststandard entscheidend ist. Da das Einhalten der entsprechenden Voraussetzungen (Stand der Technik) inzwischen keine relevante Hürde mehr darstellt, kann diese Regelung insoweit als weitgehend überholt angesehen werden. Der erheblichen Schwächung der Lenkungswirkung als Folge der Halbierung der Abgabelast stehen somit kaum noch Vorteile in nennenswertem Umfang gegenüber. Konkret bedeutet dies eine umfassende Preisgabe von Anreizen zur Entwicklung kostengünstiger Behandlungstechnologien sowie zum Wandel von Produktions- und Konsummustern. Auch dem Berücksichtigungsauftrag von Umwelt- und Ressourcenkosten der Gewässerbenutzung aus Art. 9 WRRL, der genau diese Effekte eines effizienten Ressourcenumganges bezweckt, kann so gerade nicht mehr entsprochen werden. Darüber hinaus bewirkt die Referenz auf das Wasserordnungsrecht und die dort üblichen branchenspezifischen Differenzierungen von Technikstandards intersektorale Wettbewerbsverzerrungen, da je nach Branchenzugehörigkeit Ermäßigungen mal gewährt, mal versagt werden können, obwohl eine gleiche Schädlichkeit des Abwassers vorliegt. Auf diese Weise erhalten einige Wirtschaftssektoren Wettbewerbsvorteile aufgrund von technischen Machbarkeiten, deren Berücksichtigung im Kontext einer ordnungsrechtlichen Gefahrenabwehr zweckmäßig sein mögen, nicht aber bei der Bemessung einer Umweltabgabe, für deren Wirkung das aktuelle Niveau des Technikstandards nur sehr bedingt von Bedeutung ist. Denn auch dort, wo keine ausreichenden technischen Lösungen zur Verringerung von Schadstofffrachten zur Verfügung stehen, entfaltet eine Abgabe Anreize durch Einkommensentzug und dadurch motivierte Innovationen oder anderweitige Preiseffekte. Die Verschonung durch Abgabesatzhalbierung ist damit einerseits ein Instrument der (außerökologischen) Belastungsreduktion, andererseits ein Hebel zur Vollzugsunterstützung umweltbezogener Normen, welcher aber der eigentlichen Funktionsweise einer Lenkungsabgabe wesensfremd ist und deren Vorteile und Mehrwerte gegenüber ordnungsrechtlicher Steuerung (Effizienz der Minderungsanstrengungen, Innovationsanreize, Markt- und Preiseffekte) gerade suspendiert.

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Berendes, AbwAG, 1995, S. 138.

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d) Verrechnungen Das Abwasserabgabengesetz sieht in § 10 Abs. 3 und 4 vor, dass Aufwendungen zur Errichtung oder Erweiterung von Abwasserbehandlungsanlagen sowie von Kanalsystemen, welche diesen Anlagen Abwasser zuführen, mit der Abgabeschuld verrechnet werden können. Im Falle von Investitionen in Behandlungsanlagen gilt eine Erheblichkeitsschwelle in Höhe einer mindestens 20 %igen Schadstofffrachtreduzierung innerhalb eines Abwasserteilstroms. Auf diese Weise soll Verwaltungsaufwand bei der Bearbeitung von Verrechnungsanträgen vermieden werden, von denen nur ein nur geringfügiger Beitrag zum Gewässerschutz ausgeht. Um überdies dem Nachholbedarf in den neuen Bundesländern übergangsweise Rechnung zu tragen, legt § 10 Abs. 5 AbwAG fest, dass in diesem Gebiet bis 2005 Investitionen auch mit der Abgabeschuld aus anderen Einleitungen verrechnet werden konnten. Die Verrechnungsregeln der Abwasserabgabe wurden seit Inkrafttreten des Gesetzes 1976 sukzessive erweitert.80 War zunächst nur eine Verrechnung im Sinne des Vorziehens der durch zusätzliche Behandlungsmaßnahmen verminderten Abgabe auf den Baubeginn vorgesehen („Bauzeitermäßigung“), so ist inzwischen eine Verrechnung der gesamten Abgabeschuld und damit das Erreichen einer faktischen Nullabgabe möglich. Zudem waren ursprünglich lediglich Investitionen in Abwasserbehandlungsanlagen verrechnungsfähig. Seit dem 4. Änderungsgesetz vom 3.11. 1994 hat darüber hinaus eine Ausweitung auf den vollständig neuen Maßnahmenbereich der Abwasserkanäle stattgefunden. Schließlich ist die Erheblichkeitsschwelle für Verrechnungen von Investitionen in Behandlungsanlagen im Laufe der Zeit abgesenkt worden, da sich die ursprünglich zu erbringende 20 %ige Minderung im gesamten Abwasserstrom mit fortschreitendem Technikniveau kaum noch zu erbringen war und daher das Erfordernis auf Teilströme beschränkt und damit die Schwelle insgesamt abgesenkt wurde. Verrechnungen müssen in einer lenkenden Abgabenregelung ebenfalls grundsätzlich als Fremdkörper81 angesehen werden: Eine lenkende Abgabe honoriert einerseits die Einleiter systematisch für deren eigene Vermeidungs- und Behandlungsanstrengungen; auf diese Weise können sich die Abgabepflichtigen konzeptkonform dauerhaft selbst entlasten und die Zahllast verringern. Dass zur Minderung der Zahllast zunächst eine „Lenkungslast“ geschultert werden muss, indem Verzicht geübt bzw. Investitionen getätigt werden müssen, entspricht systemnotwendig dem Anreizund Lastkonzept einer Abgabe und stellt keine „Doppelbelastung“ dar, wie immer wieder fälschlich behauptet wird.82 Es geht daher nicht an, die Lenkungslast mit der Zahllast zu verrechnen. Dies höhlt die allokative Funktion der Zahllast aus, wi80 Siehe dazu im Überblick Berendes, AbwAG, 1995, S. 153 ff., sowie die diesbezügliche Rechtsprechungsanalyse bei Gawel/Köck u. a. (Fn. 70), Abschnitt 3.1.6.4.b). 81 So bereits Gawel/Köck u. a. (Fn. 67), S. 10, 149; mit Blick auf § 10 Abs. 4 AbwAG auch Berendes, AbwAG, 1995, S. 168. 82 Zum Ganzen bereits Gawel/Köck u. a. (Fn. 67), S. 69 ff.; Gawel/Ewringmann, StuW 1994, 295.

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derspricht dem Anreiz- und Ausgleichsgedanken der Abgabe und ist nicht vereinbar mit dem Gedanken der Berücksichtigung von Umwelt- und Ressourcenkosten durch nicht vermiedene Gewässernutzungen aus Art. 9 WRRL. Durch (Voll-)Verrechnungen werden überdies ineffiziente Maßnahmen angereizt, die sich nicht in der Abwägung aus Vermeidungskosten und Abgabelast durchsetzen, sondern nur nach Maßgabe der rechtlich eröffneten Kostensenkung durchgeführt werden. Insoweit findet auch eine ökonomisch ineffiziente und ökologisch fragwürdige Investitionslenkung statt. Die stetige Ausweitung der Verrechnungsbestimmungen nach Anlass und Ausmaß der Verrechnungen verschärft die genannte Problematik. Sie verweist zugleich auf die vielfach mit der Abwasserabgabe verknüpfte Vorstellung, technische Fortschritte „um jeden Preis“ zu erzielen. Dies widerspricht jedoch fundamental dem Effizienzgedanken der Abgabe, die gerade effiziente von ineffizienten Maßnahmen selbsttätig durch dezentrales Abwägen seitens der „Hüter des Kostenwissens“, d. h. der jeweiligen Einleiter, abschichten möchte. Vor diesem Hintergrund sind auch Bestrebungen zu beurteilen, die verrechnungsfähigen Anlässe künftig nochmals auszuweiten, etwa mit Blick auf Phosphor-Rückgewinnung in Abwasserströmen oder Maßnahmen zur Verbesserung der Energieeffizienz. Entsprechende nochmalige Ausweitungen würden die in der Vergangenheit festzustellende Tendenz zur Extension von Verrechnungsregimen fortsetzen. Hinzu kommt, dass die Rechtslage inzwischen von vielen Seiten als kompliziert und überholt kritisiert wird.83 Zusammenfassend ist festzuhalten, dass die Verrechnungsregelungen grundsätzlich den Lenkungszielen der Abgabe entgegenstehen, indem sie weder primär volkswirtschaftlich sinnvolle noch ökologisch gebotene Maßnahmen zur Reduzierung der Gewässerbelastung fördern, sondern im Wesentlichen solche, bei denen ein hohes Verrechnungsvolumen zu erreichen sind. Die Verrechnung der Lenkungslast gegen die Zahllast ist im Kern konzeptwidrig. Auch europarechtlich ist die Verrechnung von Umwelt- und Ressourcenkosten mit betriebswirtschaftlichen Kosten der Abwasserbeseitigung sowie die Vereinbarkeit mit Beihilferecht mehr als zweifelhaft. Zusammen mit diversen landesrechtlichen Bestimmungen und zahlreichen Gerichtsurteilen bilden sie zudem ein kaum mehr überschaubares Geflecht aus Vorgaben, welche die vom Gesetzgeber ursprünglich vorgesehenen Eingrenzungen aufweichen und teilweise zu widersprüchlichen Anreizen führen. Die Fokussierung von Verrechnungen auf Maßnahmen zur Minderung von Schadstoffeinträgen in Gewässer wird zudem vor dem Hintergrund neuer Herausforderungen im Bereich der Wasserwirtschaft von den betroffenen Akteuren zunehmend infrage gestellt, um immer weitere Zwecke verrechnungsfähig zu stellen. Die Verrechnungen sind jedoch – mit Ausnahme der Bauzeitermäßigung – als Instrument der Lastminderung anzusehen und als solche auch zu beurteilen. Insgesamt erscheint das AbwAG-spezifische Verrech-

83

Vgl. z. B. Berendes, ZfW 2006, 151; Breuer, NVwZ 2012, 200.

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nungssystem de lege lata sowohl in seinen Grundzügen als auch seinen Einzelheiten als dringend reformbedürftig.84 3. Wasserentnahmeabgaben a) Überblick und Grundlagen Derzeit erheben die 13 Länder in unterschiedlichster Ausgestaltung Wasserentnahmeabgaben, d. h. Abgaben auf das „Entnehmen und Ableiten von Wasser aus oberirdischen Gewässern“ bzw. das „Entnehmen, Zutagefördern, Zutageleiten und Ableiten von Grundwasser“ (so etwa § 1 Abs. 1 WasEG NW). Ohne Abgabe auf Wasserentnahmen sind derzeit nur Hessen, Thüringen und Bayern. In Hessen wurde die in den 1990er Jahren eingeführte Abgabe zwischenzeitlich wieder abgeschafft.85 Seit dem „Wasserpfennig“-Urteil des BVerfG86 1995 ist geklärt, dass sie finanzverfassungsrechtlich als Gegenleistungsabgaben gerechtfertigt werden können, die zulässigerweise den Sondervorteil abschöpfen, auf eine bewirtschaftete Gemeinressource zum individuellen Vorteil zugreifen zu können. Wasserentnahmeabgaben zielen als lenkende Abgabeninstrumente im Kern auf eine Reduzierung des mengenmäßigen Ressourcendrucks auf Wasserkörper durch Entnahmevorgänge ab.87 Die Abgaben machen die (physische) Entnahme von Wasser aus Grund- und Oberflächengewässern für menschliche Zwecke abgabepflichtig. Sie sind jedoch keine Wasserverwertungsentgelte, die lediglich die wirtschaftliche Inwertsetzung von bereits entnommenem Wasser einer Abgabe unterziehen wollen. Wasserentnahmeentgelte zielen gerade auf die Reduzierung des Ressourcendrucks auf aquatische Ökosysteme durch Extraktion von Wasser für anthropogene Zwecke ab. Hierauf wollen sie lenkend einwirken, indem die Preise für Entnahmevorgänge um bislang nicht berücksichtigte („externe“) Umwelt- und Ressourcenkosten korrigiert werden. Dies hält Entnehmer zu effizienten, also Nutzen und Kosten korrekt abwägenden Entscheidungen an, und zwar auch dann, wenn das ökonomische Interesse am entnommenen Wasser mit dem Entnahmeakt sofort erlischt, die Extraktion „ungewollt“ erfolgt oder die Entnahme eines einzelnen Liters Wasser nur „kurz“ andauert.88 Denn es ist die Entzugswirkung selbst sowie eine dauerhafte Minderung der 84

Dazu eingehend Gawel/Köck u. a. (Fn. 70). Zur wechselvollen rechtspolitischen Geschichte der Abgaben siehe Gawel, NWVBl. 2012, 90. 86 BVerfG 93, 319 – Wasserpfennig. Die rechtswissenschaftliche Diskussion der „Wasserpfennig“-Entscheidung hat den BVerfG-Beschluss im Wesentlichen bestätigt – siehe etwa Murswiek, NVwZ 1996, 417 ff.; Sanden, UPR 1996, 181 ff.; Heimlich, DÖV 1997, 996 ff.; Raber, NVwZ 1997, 219 ff.; Hendler, NuR 2000, 661, 665 f.; zuletzt: Reinhardt, LKV 2007, 241, 245 f.; kritisch zur Wasserpfennig-Entscheidung demgegenüber Birk, in: FS Ritter, 1997, 41, 46 ff.; F. Kirchhof, in: Rengeling, EuDUR, Band I, 1226, 1247 ff. 87 Siehe dazu Gawel, Wasser und Abfall 2011, Heft 9, 47. 88 Gawel, DVBl. 2011, 1000; ebenso BVerwG, Urt. v. 28. 6. 2007 – 7 C 3/07 – Spandauer Schleuse. A. A. Meyer, Wasser und Abfall 2004, 21, 23 ff.; Waldhoff, DVBl. 2011, 653. 85

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Wasserführung auch bei raschem „Wasser-Umschlag“, welche Umwelt- und Ressourcenkosten auslösen und zu Wasserentnahmeentgelten umweltpolitisch Veranlassung geben. Der Lenkungszweck von Wasserentnahmeabgaben ist damit die Reduzierung des mengenmäßigen Ressourcendrucks auf Wasserkörper zur Vermeidung von quantitativ induzierten Gewässerbeeinträchtigungen.89 Die konkrete Ausgestaltung der Abgabepflichten in den 13 Länderregelungen ist höchst unterschiedlich. Neben der Bemessungsgrundlage (Heranziehung nur von Grundwasser- oder aber auch von Oberflächenwasserentnahmen), den Abgabesätzen und Tarifdetails (z. B. Freigrenzen und Ermäßigungen) unterscheiden sich die Länder vor allem durch breit gefächerte Ausnahmen von der Abgabepflicht: So sehen die Ländergesetze zur Erhebung von Wasserentnahmeabgaben zahlreiche, inhaltlich jedoch höchst disparate Befreiungsregelungen vor für einzelne Entnahmevorgänge, Entnahmeursachen (z. B. angeordnete Entnahmen) oder aber für bestimmte Verwendungszwecke des entnommenen Wassers. Dabei werden von den Landesgesetzgebern u. a. und in wechselnder Kombination erlaubnisfreie Nutzungen, Fischerei, Heilquellen, Löschwasser, Kühlwasser, Wärmegewinnung, Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, Wasserkraft u.a.m. aus der Abgabepflicht entlassen.90 Derartige Regelungen widersprechen freilich dem Grundgedanken der Abgabenpflicht auf Wasserentnahmen: Eine Befreiung nach der Verwendungsart käme nach dem Lenkungszweck einer Entnahmeabgabe (nicht: Verwendungsabgabe) ohnehin nur für solche Verwendungen in Betracht, die mit Blick auf ihre jeweiligen gewässerbezogenen Auswirkungen als „neutral“ oder geringfügig gelten könnten (fehlende Mengen-Signifikanz). Rechtlich räumt das BVerfG dem Gesetzgeber bei der Bemessung des Sondervorteils einen weiten Ermessensspielraum ein;91 inwieweit hier anstelle der Vorteilsbezogenheit auch die Bezugnahme auf Umwelt- und Ressourcenkosen, also die Auswirkungen auf das Gewässer selbst, herangezogen werden können, ist nicht abschließend geklärt, liegt aber nahe, da zwischen dem Rechtfertigungsgrund (Sondervorteil) und dem Bemessungsmaßstab zu unterscheiden ist und etwa im kommunalen Beitragsrecht auch seit langem unterschieden wird (Vorteil der möglichen Inanspruchnahme als Belastungsgrund, ansatzfähige Kosten der Infrastruktur hingegen als Kalkulationsgrundlage).92 Unionsrechtlich ist wegen der Unbestimmtheit von Art. 9

89 Zu den ökologischen Folgen auch Palm, Beitrag zur Erweiterung des Einsatzes ökonomischer Instrumente im Rahmen einer gesamtheitlichen Flussgebietsbewirtschaftung, 2006, S. 87 ff. Ein ausreichendes globales Wasserdargebot impliziert keineswegs die Abwesenheit derartiger Knappheitskosten – dazu eingehend Gawel/Fälsch, gwf-wasser/abwasser 2011, 838. 90 Im Überblick dazu Gawel/Köck u. a. (Fn. 67), S. 103 ff. 91 BVerfG, Beschl. v. 20.1. 2010 = NVwZ 2010, 831, 832 – Wasserentnahmeentgelt Niedersachsen: „Gestaltungs- und Einschätzungsspielraum bei der Schaffung eines angemessenen Gebührenrahmens“. 92 Hierzu Gawel, DVBl 2011, 1000, 1006 f.

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WRRL im Einzelnen umstritten, ob eine Freistellung eines Entnahmevorgangs als Verletzung des durch Art. 9 Gebotenen in Frage kommt.93 b) Verschonungsregelungen Zahllast-Verschonungen werden bei den Wasserentnahmeabgaben umfangreich ausgebracht: - Zahlreiche Landesregelungen nehmen Oberflächenwasserentnahmen grundsätzlich von der Abgabepflicht aus – so sehen etwa Berlin, Hamburg und das Saarland lediglich eine Abgabe auf Grundwasserentnahmen vor; - Die Landesgesetze sehen zudem jeweils breit gefächerte, jedoch höchst disparate Ausnahmen von der Abgabepflicht vor: In den Genuss dieser Befreiungsregelungen kommen einzelne Entnahmevorgänge (Oberflächenwasserentnahme), bestimmte Entnahmeursachen (z. B. angeordnete Entnahmen), aber auch wohldefinierte Verwendungszwecke des entnommenen Wassers (z. B. Fischerei, Heilquellen, Löschwasser, Kühlwasser, Wärmegewinnung, Land- und Forstwirtschaft, Bergbau, Wasserkraft u.a.m.). - Regelungen zu Abgabesatzreduktionen, Verrechnungen sowie weitere Tarifdetails (z. B. Freigrenzen) tragen zu zusätzlichen Zahllastreduzierungen bei, die z. T. an umweltfreundliches Verhalten geknüpft werden. Während die abgabenrechtliche Diskriminierung von Grund- und Oberflächenwasser grundsätzlich wegen der unterschiedlichen Knappheit und Gewässerfolgen sachgerecht anmutet (wenngleich auch nicht die völlige Freistellung der Oberflächenwasserentnahme motivieren kann), so widersprechen die weitreichenden Befreiungsregelungen mit Blick auf die Wasserverwendung dem Grundgedanken der Abgabenpflicht auf Wasserentnahmen:94 Unter Lenkungsgesichtspunkten kommt es auf die Entzugswirkung von Wasser aus dem natürlichen Wasserhaushalt an, nicht aber auf die anschließende Verwendung des Entnommenen. Inwieweit derartige Befreiungen auch rechtlich als gegenüber Art. 9 WRRL problematische „sachgrundlose Verschonungssubventionen“95 anzusprechen sind oder 93 Grundsätzlich befürwortend Breuer, Erhebungs- und Ermäßigungsvoraussetzungen der sächsischen Wasserentnahmeabgabe, 2008, S. 47 ff., der von „sachgrundlosen Verschonungssubventionen“ spricht, die von Art. 9 WRRL nicht gedeckt seien, sowie konkret mit Blick auf die fehlende Heranziehung von Oberflächenwasserentnahmen in Berlin, Hamburg und im Saarland (§ 13a Abs. 1 BWG; § 1 Abs. 1 HmbGruwaG; § 1 Abs. 1 GwEEG Saarland) auch Kolcu, Der Kostendeckungsgrundsatz für Wasserdienstleistungen nach Art. 9 WRRL, 2008, S. 166 – dies dürfte jedoch zu weitgehend sein, da Art. 9 WRRL nicht zu konkreten Abgabenlösungen verpflichtet und zudem die Ausnahmeregelungen in Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 WRRL beachtet werden müssen. 94 Gawel, Wasser und Abfall 2011, Heft 9, 47. 95 Breuer, Erhebungs- und Ermäßigungsvoraussetzungen der sächsischen Wasserentnahmeabgabe, 2008, S. 47 ff.

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aber vor der Ausnahmeregel des Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 WRRL gerechtfertigt erscheinen, ist umstritten. Ein verfassungsrechtliches Gebot zur Freistellung, etwa des Bergbaus, besteht jedenfalls nicht:96 Zum Teil wird argumentiert, hier fehle es an einem abschöpfbaren Sondervorteil und auch an effektiven Lenkungsmöglichkeiten, da das Sümpfungswasser „ungewollt“ anfalle, nicht vermindert werden könne und nach Anfall eine Belastung, aber keinen Vorteil für den Ableitenden mehr darstelle.97 Diese Argumente greifen jedoch nicht durch und liegen z. T. neben der Sache: Der vom BVerfG in seiner Wasserpfennig-Entscheidung für abschöpfbar erklärte Sondervorteil bezieht sich auf die Entnahme von Wasser aus einem bewirtschafteten Ressourcenpool, nicht jedoch auf die Nützlichkeit des Entnommenen. Im Übrigen lassen Bergbaubetriebe abzuleitendes Grundwasser naturgemäß nur anfallen, um aus dem dadurch erst ermöglichten Abbau von Bodenschätzen wirtschaftliche Vorteile zu ziehen. Lenkend können Abgaben hier schließlich nicht nur auf die gesamte Dauer der Wasserhaltung und den Einsatz von Dichtwänden, sondern zugleich über die Korrektur relativer Preise wirken, indem den Bodenschätzen mit starken Eingriffen in den Wasserhaushalt diese Folgekosten auch zutreffend angelastet werden Konzeptionell kommt eine Befreiung nach der Verwendungsart des Wassers nach dem Lenkungszweck einer Entnahmeabgabe (nicht: Verwendungsabgabe) ohnehin nur für solche Verwendungen in Betracht, die mit Blick auf ihre jeweiligen gewässerbezogenen Auswirkungen als „neutral“ oder geringfügig gelten könnten, d. h. wo eine Mengen-Signifikanz in Bezug auf das Entnahmegewässer fehlt. Als in diesem Sinne systemkonform könnten daher insbesondere die Ermäßigungsregelungen für Kühlwasser bei einer Durchlaufkühlung angesehen werden (z. B. § 2 Abs. 2 WasEG NW, § 2 Abs. 3 LWEntG RP), welche die Gewässer mengenmäßig schonen, soweit das entnommene Wasser dem Gewässer – mengenmäßig im Wesentlichen unverändert – nach einer bestimmten Zeit wieder zugeführt wird.98 § 2 Abs. 4 LWEntG RP sieht eine nochmalige Ermäßigung für Kühlwasser vor, wenn das entnommene Wasser für hocheffiziente KWK-Anlagen genutzt wird, die zudem ausschließlich mit bestimmten umweltfreundlichen Energieträgern betrieben werden müssen. Die Wasserentnahmeabgabe platziert auf diese Weise erwünschte energiewirtschaftliche Anreize, versetzt jedoch zugleich ihre Zahllast für andere als die zur Erhebung der Abgabe maßgeblichen Zwecke. Der Zugewinn an energiewirtschaftlicher Lenkung geht damit klar zu Lasten der gewässerschutzbezogenen Steuerungswirkung. Für die unter bestimmten Bedingungen ermäßigten Abgaben96 Siehe dazu Gawel, DVBl. 2011, 1000; BVerwG, Urt. v. 28. 6. 2007 – 7 C 3/07 – Spandauer Schleuse; a. A. Waldhoff, DVBl. 2011, 653; Meyer, Wasser und Abfall 2004, 21, 22 f. 97 So Meyer, Wasser und Abfall 2004, 21, 24; Waldhoff, DVBl 2011, 653; Durner/Waldhoff, Rechtsprobleme der Einführung bundesrechtlicher Wassernutzungsabgaben, 2013, S. 87 ff. 98 Dies bedeutet jedoch nicht, dass es bei Durchlaufkühlung gar keine Mengen-Signifikanz gäbe oder es insoweit eines Entnahmevorteils ermangele, wie aber bisweilen behauptet wird – dazu Gawel, Wasser und Abfall 2011, Heft 9, 47, m. w. Nachw.

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sätze (z. B. § 7 BremWEGG, § 23 Abs. 11 SächsWG; § 17f WG BW, § 22 Abs. 2, 3 NWG; § 4 GruWAG SLH) gilt das zuvor für die Abwasserabgabe (Abschnitt IV.2.) bereits Gesagte. In einigen Landesregelungen zu Wasserentnahmeabgaben ist zudem vorgesehen, Verrechnungen von Investitionen mit der Zahllast bei Einhaltung bestimmter wasserrechtlicher Vorgaben zu ermöglichen (z. B. § 23 Abs. 9, 10 SächsWG; § 8 WasEG NRW; § 10 GruWAG SLH, § 4 LWEntG RP).99 Diese Verrechnungsinstitute könnten – analog zum AbwAG (dazu oben IV.2.d)) – ebenfalls auf weitere politisch erwünschte Maßnahmen, z. B. der Verbesserung der Energieeffizienz bei Entnahmeoder Verwendungsprozessen (z. B. Kreislaufführung) erstreckt werden. Dadurch würden zusätzlich Anreize zu umwelt- oder energiepolitisch erwünschten Maßnahmen gegeben. Dies begegnet aber den grundsätzlichen Bedenken einer Vermischung und Verunklarung der Lenkungsziele durch Abgaben (siehe oben I.). Effizienz- und Verursacherprinzip sowie das Effizienzgebot aus Art. 9 Abs. 1 UAbs. 2 1. Sp.str. WRRL fordern vielmehr den Grundsatz „gleiche Abgabe bei gleicher Schädlichkeit bzw. gleicher Mengen-Signifikanz“, der auf diese Weise durchbrochen würde. Verrechnungsinstitute sind daher schon bei rein wasserwirtschaftlicher Ausrichtung problematisch, da sie den Wesenskern einer Lenkungsabgabe, die Zahllast auf Restnutzungen, aushöhlen; sie sollten aus diesem Grunde nicht auch noch auf sektorfremde Ziele (z. B. Energieeffizienz) ausgedehnt werden. Neben den systematischen Bedenken führt dies im Übrigen auch zu dem (von interessierter Seite durchaus gewollten) Nebeneffekt, dass sich die Zahllast – und damit spiegelbildlich aber auch das Aufkommen der Abgabe – immer weiter reduziert. Dies beschädigt daher zusätzlich auch noch die Finanzierungsfunktion der Abgabenlösung. Insgesamt erscheinen daher auch hier die Verschonungsregelungen konzeptionell zweifelhaft und hypertroph. Soweit überhaupt ökologisch motivierte Freistellungen erfolgen, wird entweder die nur einmal verfügbare Zahllast zu Lasten des Gewässerschutzes zweckentfremdet (z. B. Vergünstigungen zugunsten energieeffizienter Kühlprozesse) oder aber Vollzugshilfe für ordnungsrechtliche Normen geleistet (Ermäßigungen bei Stand der Technik) bzw. ineffiziente Investitionslenkung betrieben (Verrechnungen). Überwiegend handelt es sich aber auch schlicht um belastungssteuernde Maßnahmen (Befreiung von Bergbau, Land- und Forstwirtschaft usw.) ohne jeden umweltpolitischen Anspruch.

V. Gebühren Bei Benutzungsgebühren (oder den analog zu kalkulierenden privatrechtlichen Entgelten) mit Umweltbezug (Wasser-, Abwasser-, Abfallgebühren/-entgelte) ergibt sich ein Umweltschonungsanreiz durch die Belastung mit der Gebührenschuld – in99

Siehe zur Verrechnungsregelung in Rheinland-Pfalz Gawel, LKRZ 2012, 305, 311 f.

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soweit ähnlich den genuinen Lenkungsabgaben (dazu oben IV.). Aus diesem Grunde wird typischerweise über eine „Ökologisierung“ von Gebühren im Zusammenhang mit einer spezifischen Stärkung dieses Belastungsanreizes gesprochen (Höhe der Gebühr nach Maßgabe einer Vollkosten-Kalkulation, anreizorientierte Bemessung der Gebühr, z. B. über Starkverschmutzerzuschläge u. ä.).100 Eine Verschonung von Gebührenlasten im Interesse des Umweltschutzes ist hingegen typischerweise nicht vorgesehen; wie bei echten Lenkungsabgaben honoriert sich vielmehr umweltfreundliches Verhalten über eine Verminderung der Gebühren-Bemessungsgrundlage (Ab-/Wasser-/Abfallmenge, Zusammensetzung des Abwassers oder Abfalls) von selbst. Dass also weniger zahlen möge, wer mehr für die Umwelt unternimmt, muss daher satzungsrechtlich nicht gesondert implementiert werden. Insoweit sollen anreizbezogene Gebührenmodelle stets sicherstellen, dass sich umweltfreundliches Verhalten durch spürbare Minderung der Gebührenlast von selbst bezahlt macht.101 Dies entspricht aber gerade der Belastungslogik von Abgaben und ist frei von spezifischen Verschonungselementen. Die in einigen Kommunalabgabengesetzen der Länder explizit vorgesehenen „Öko-Klauseln“ für die Gebührenbemessung (Art. 8 Abs. 5 Satz 1 BayKAG; § 7 Abs. 1 Satz 4 KAG RP; § 14 Abs. 2 SächsKAG), aber auch die sachgesetzlichen Regelungen, die für die Gebührengestaltung umweltrelevanter Dienste Anreizgebote vorsehen (z. B. in § 9 Abs. 2 Satz 3 LAbfG NW) stellen daher Ermächtigungen bzw. Aufforderungen an die Satzungsgeber dar, Umweltschonungsanreize über Gebühren und Entgelte sicherzustellen. Diese werden regelmäßig über Variationen der Bemessungsgrundlage (oder den Bemessungsmaßstab) selbst realisiert und beinhalten keine gesonderten Verschonungsregelungen. Auch unionsrechtlich ist die Vorgabe aus Art. 9 Wasserrahmenrichtlinie (WRRL), wonach für Wasserdienstleistungen „unter Zugrundelegung des Verursacherprinzips“ der Grundsatz der Deckung der Kosten einschließlich Umwelt- und Ressourcenkosten zu berücksichtigen (Abs. 1 UAbs. 1) und für die Wasserpreispolitik effiziente Anreize gegenüber den Nutzern zu platzieren sind (Abs. 1 UAbs. 2 1. Sp.str.), nur dahingehend zu verstehen, dass sich Umweltschonungsanreize gerade durch verursachergerechte Belastung ergeben, nicht aber durch Last-Verschonung. Allerdings sieht Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 WRRL vor, dass die Mitgliedstaaten „dabei“ (also bei der Erfüllung der Pflichten aus den UAbs. 1 und 2) „den sozialen, ökologischen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Kostendeckung“ Rechnung tragen dürfen. Soweit hier ökologische Motive für eine Abschwächung der Kostendeckung herangezogen werden können, dürfte dies so zu verstehen sein, dass etwa die Wasserkraft, so man sie als „Dienstleistung“ im Sinne der Richtlinie ansehen will,102 zwar ihre Umwelt100

Siehe dazu Gawel, Die kommunalen Gebühren, 1995, S. 94 ff. Dazu auch Schulte/Wiesemann, in: Driehaus, KAG, § 6, Rn. 110 ff. 102 Dafür Dammert, Rechtsfragen zur Änderung des § 23 SächsWG, APr 5/2-39 A-3; Unnerstall, ZUR 2009, 234; ders., ZfU 2006, 449. Dagegen Kolcu (Fn. 93), S. 45 f., und Desens, Wasserpreisgestaltung nach Artikel 9 EG-WRRL, 2008, S. 147 ff., jeweils m. w. Nachw. 101

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und Ressourcenkosten bei der morphologischen und ökologischen Beeinträchtigung des genutzten Gewässers grundsätzlich zu tragen hat, auf eine entsprechende Anlastung aber ganz oder teilweise wegen ihrer klimapolitischen Vorzüge verzichtet wird, um erneuerbare Energien im ohnehin schwierigen Kostenwettbewerb gegen fossile Energieträger nicht zu belasten.103 Eine Umkehrung des nach UAbs. 1 und 2 vorgesehenen Umweltschonungsanreizes im Belastungsmodus (d. h. gerade umgekehrt auch durch Verschonungen) dürfte hingegen Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 WRRL nicht zu entnehmen sein.104 Vielmehr adressiert UAbs. 3 die Möglichkeit innerökologischer Zielkonflikte (z. B. Gewässerschutz versus Klimaschutz, Folgeschäden usw.). Auch dies kann also ein ökologisches Verschonungsmotiv sein, bei dem eine an sich gebotene oder zumindest zulässige Belastung im Interesse eines Umweltziels A zum Zwecke der Erreichung des konfligierenden Umweltziels B aber gerade unterbleibt. Bleibt man jedoch im jeweiligen Steuerungsfeld eines bestimmten Umweltproblems, so sind insgesamt keine rechtlichen Regelungen ersichtlich, die bei Entgeltabgaben eine ökologisch motivierte Verschonung von Zahllasten zur Erreichung des nämlichen Umweltziels vorsehen, ansinnen oder auch nur zulassen. Aus diesem Grunde werden nachfolgend Gebühren als Gefäß für gezielte Zahllast-Verschonungen aus ökologischen Gründen nicht weiter betrachtet. VI. Preisregelungen: EEG-Umlage und „Grünstromprivileg“ Das erstmals zum 1.4. 2000 in Kraft getretene Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG),105 mit dessen Hilfe der Anteil erneuerbarer Energien an der Elektrizitätserzeugung systematisch erhöht werden soll, sieht – vergleichbar den Vorgängerregelungen des Stromeinspeisungsgesetzes (StromEinspG)106 – in seiner aktuellen Fassung107 in § 8 zunächst eine Abnahme- und Durchleitungspflicht von regenerativ erzeugtem Strom durch die Netzbetreiber vor. Die §§ 16 ff. EEG normieren ferner für die geförderten Energieträger differenziert ausgestaltete, feste Vergütungssätze, die von den Netzbetreibern für die Einspeisung zu entrichten sind. Das Gesetz sieht 103

Siehe dazu eingehend Gawel, et 2011, Heft 8, 57; ders., SächsVBl 2013, 153. So wohl auch Kolcu (Fn. 93), S. 129, der auf Folgeschäden verweist, z. B. Vernässungsschäden bei rückläufigen Wasserentnahmen; Desens (Fn. 102), S. 230, hat hingegen Schwierigkeiten, überhaupt ökologische Nachteile bei Anwendung der Kostendeckungsregel zu erblicken und verweist auch auf die zwischenzeitliche Streichung des Merkmals „ökologisch“ im Gesetzgebungsverfahren. 105 Gesetz für den Vorrang Erneuerbarer Energien (Erneuerbare-Energien-Gesetz – EEG) v. 29.03. 2000 (BGBl. I S. 305). 106 Gesetz über die Einspeisung von Strom aus erneuerbaren Energien in das öffentliche Netz (Stromeinspeisungsgesetz) v. 7.12. 1990, BGBl. I, S. 2633. 107 Erneuerbare-Energien-Gesetz vom 25.10. 2008 (BGBl. I S. 2074), zuletzt geändert durch Art. 5 des Gesetzes vom 20.12. 2012 (BGBl. I S. 2730). 104

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schließlich eine neutralisierende Weiterwälzung der so entstehenden Zahllasten über die Wertschöpfungskette bis zum Stromversorger vor, der diese an den Endverbraucher weiterreicht: Zum 1.1. 2010 wurde die sog. „neue Wälzung“ zunächst im Verordnungswege108 eingeführt, sodann mit „Gesetz zur Neuregelung des Rechtsrahmens für die Förderung der Stromerzeugung aus erneuerbaren Energien“ v. 4.8. 2011109 zum 1.1. 2012 nunmehr auch gesetzlich in §§ 35 – 37 EEG110 verankert. Im Ergebnis erhalten Erzeuger, die Strom aus erneuerbaren Quellen bereitstellen, einen gesetzlich garantierten Mindestpreis, dessen über den jeweiligen Marktwert hinausreichende Refinanzierung im Wege einer Umlage der sog. Differenzkosten (Einspeisevergütung abzüglich Vermarktungswert – sog. EEG-Umlage) letztlich durch die Stromverbraucher getragen wird. Mangels Etatisierung eines Aufkommens bei einem Gemeinwesen kann diese „EEG-Umlage“ gemäß den §§ 34 – 39 EEG nicht als Abgabe angesehen werden; sie muss vielmehr als Abschöpfung eigener Art im Rahmen einer staatlichen Preisregelungen aufgrund der sachkompetenziellen Ermächtigung aus Art. 74 Abs. 1 Nr. 11 GG (Recht der Wirtschaft) angesprochen werden.111 Auch die Regelungen zur EEG-Umlage, also zur Refinanzierung der Förderung erneuerbarer Energien, sehen verschiedene Befreiungen und Ermäßigungen vor. Dazu zählen die besondere Ausgleichregelung nach den §§ 40 ff. EEG, wonach Schienenbahnen und Unternehmen des produzierenden Gewerbes aus Wettbewerbsgründen „privilegiert“ werden;112 ferner die Begünstigung des Eigenverbrauchs selbst erzeugten Stroms aus regenerativen Quellen („Eigenstromprivileg“ nach § 37 Abs. 3 EEG) sowie die Begünstigung der Direktvermarktung113 von ÖkoStrom durch das sog. „Grünstromprivileg“ nach § 39 Abs. 1 EEG.114 Als „Grünstromprivileg“ wird in diesem Zusammenhang die Regelung nach § 39 Abs. 1 EEG bezeichnet, wonach Energieversorgungsunternehmen (EVU) von der an 108 Verordnung zur Weiterentwicklung des bundesweiten Ausgleichsmechanismus (Ausgleichsmechanismusverordnung), v. 17.7. 2009, BGBl. I S. 2101. 109 BGBl. 2011 I, S. 1634. 110 Entsprechend wurde auch die AusglMechV geändert durch Art. 2 des Gesetzes v. 17.08. 2012 (BGBl. I S. 1754), ebenso die Ausgleichsmechanismus-Ausführungsverordnung (AusglMechAV) vom 22.02. 2010 (BGBl. I S. 134). 111 Siehe dazu ausführlich Gawel, DVBl. 2013, 409, m. w. Nachw. Im Schrifttum wird dagegen wiederholt die „Abgabenähnlichkeit“ von Preisinterventionen zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben verfassungsrechtlich problematisiert (von Stockhausen, Gesetzliche Preisintervention zur Finanzierung öffentlicher Aufgaben, 2007) oder gar zum Anlass genommen, die EEG-Umlage als verfassungswidrige Finanzierungs-Sonderabgabe einzustufen (Manssen, DÖV 2012, 499; ders., WiVerw 2012, 170). 112 Dazu Lehnert, ZUR 2012, 4; Gawel/Klassert, ZUR 2013, 467. 113 Der Direktvermarktung von EE sind wiederum mehrere Instrumente im EEG dienlich – siehe dazu im Überblick Wustlich/Müller, ZNER 2011, 380. Dazu auch Hahn/Naumann, NJW 2012, 818. 114 Siehe hierzu insbesondere Hummel, et 2012, Heft 8, 49; Andor u. a., emw 2/2011, 22; Moench/Ruttloff, RdE 2012, 134; Strohe, et 2011, Heft 9, 84.

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die Übertragungsnetzbetreiber zu entrichtenden EEG-Umlage auf ihre Stromlieferungen ganz oder teilweise befreit werden, wenn sie, bezogen auf die gesamte von ihnen gelieferte Strommenge, mindestens 50 % Strom aus EEG-fähigen Anlagen im Sinne der §§ 23 bis 33 EEG (gesamte Erneuerbare Energien) und gleichzeitig mindestens 20 % Strom aus EEG-fähigen Anlagen im Sinne der §§ 29 bis 33 EEG (Wind energie und Solarenergie) an Letztverbraucher liefern. Der Strom der EEG-fähigen Anlagenbetreiber muss dabei direkt an den betreffenden Händler verkauft werden (Direktvermarktung nach § 33a – i EEG 2012), d. h. der Anlagenbetreiber verzichtet auf den Bezug der ihm garantierten EEG-Vergütung. Die tragende Idee hinter der Konzeption besteht darin, dass wer als EVU zu mindestens der Hälfte seines Handelsvolumens EE-Strom bezieht sich bereits ausreichend „umweltfreundlich“ im Sinne der Ziele des EEG zeigt und insoweit aus der Solidarfinanzierung der EE-Förderung (teilweise) entlassen wird. Zudem ergibt sich durch die Bedingung, dass der angerechnete EE-Strombezug direkt vermarktet worden sein muss, ein kraftvoller „Pull-Faktor“ für die unter Marktintegrationsgesichtspunkten angestrebte Direktvermarktung von regenerativ erzeugtem Strom: Bei einem Anteil von 50 % EE-Strom darf dieser direkt bezogene EE-Strom aufgrund des Grünstromprivilegs (nach altem Recht) theoretisch um das Zweifache der EEG-Umlage teurer sein als der Börsenpreis für Strom, um noch direkt vermarktbar zu sein.115 Ob sich dieser Vertriebskanal unter Nutzung des Grünstromprivilegs insgesamt ökonomisch rentiert, hängt – neben dem gesetzlich gewährten Vorteil – von der Höhe der EEG-Umlage, dem Börsenpreis und den jeweiligen Gestehungskosten der EE ab. Bis Ende des Jahres 2011 lag die Befreiung (nach § 37 des EEG 2009) exakt in Höhe der EEG-Umlage (im Jahr 2011: 3,530 Cent/kWh). Nach dem EEG 2012 liegt die Ermäßigung ab dem Jahr 2012 hingegen nur noch bei 2 Ct/kWh (§ 39 Abs. 3 EEG 2012), zudem gedeckelt durch die jeweilige Höhe der EEG-Umlage. Vor den einschränkenden Änderungen im Zuge der EEG-Novelle 2012 war das Grünstromprivileg von zuletzt stark wachsender mengenmäßigen Bedeutung (Tabelle 1). Dies hängt unmittelbar mit der zeitgleich stark anwachsenden Höhe der EEG-Umlage (Tabelle 2) zusammen, so dass sich erstmals ab 2011 in der Kombination aus Grünstromprivileg und stark anwachsender EEG-Umlage relevante Vorteile der begünstigten Direktvermarktung vor allem bei Windenergie ergaben. Bei der deutlich teureren Solarenergie hingegen reichten die Grünstrom-Vorteile trotz gestiegener EEG-Umlage weiterhin nicht aus, um hier zu einer nennenswerten Belebung der Direktvermarktung zu führen (Tabelle 1). Um eine überbordende Inanspruchnahme zu verhindern, wurde im EEG 2012 nach dem sprunghaften Anstieg im Jahre 2011 sogleich gegengesteuert.

115

Siehe Strohe, et 2011, Heft 9, 84.

Umweltschutz als Abgabenprivileg

71

Tabelle 1 Nach § 17 EEG direkt vermarktete Strommengen 2010/2011 nach Herkunft (in MW) Monat

Wasser

Gase (Deponie-, Klär-, Grubengas)

Biomasse

Wind

Solar

Summe

Jul 2010

116

99

1

97

0,18

313

Aug 2010

123

122

1

74

0,09

320

Sept 2010

124

153

15

108

0,15

400 423

Okt 2010

112

192

0

119

0,07

Nov 2010

120

247

0

121

0,19

488

Dez 2010

125

168

0

102

0,05

395

Jan 2011

459

227

437

375

0,33

1.499

Feb 2011

513

247

555

795

0,37

2.110

Mär 2011

507

259

570

934

0,35

2.270

Apr 2011

532

280

626

914

0,29

2.353

Mai 2011

546

298

657

1.164

0,33

2.665

Jun 2011

544

305

712

1.323

0,12

2.885

Jul 2011

566

314

822

1.821

0,22

3.524

(Quelle: Strohe, et 9/2011, 85)

Tabelle 2 Entwicklung der EEG-Umlage 2000 – 2013 Jahr

EEG-Umlage (Ct/kWh)

2000

0,20

2001

0,25

2002

0,35

2003

0,42

2004

0,51

2005

0,69

2006

0,88

2007

1,02

2008

1,16

2009

1,31

2010

2,05

2011

3,53

2012

3,59

2013

5,27

(Quelle: Strohe, et 9/2011, 85)

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Das Institut des „Grünstromprivilegs“ dient damit gar nicht direkt umweltfreundlichem Erzeugungsverhalten, weil ja die Erzeugung von EE-Strom unabhängig davon in bestimmter Höhe durch das EEG gefördert wird. Vielmehr soll ein marktnaher Vertriebskanal, die Direktvermarktung von EE, vorteilhafter gestellt werden und damit deren Marktintegration vorangetrieben werden.116 Wegen der (früheren) Höhe des Privilegs (volle EEG-Umlage) und der strikten Schwellenwerte (50 % mit Alles-oder-Nichts-Wirkung) ist die Regelung aber mit erheblichen Effizienzproblemen behaftet. Ferner sind Mitnahmeeffekte zu beklagen. Aus ökonomischer Sicht müsste die Höhe der Förderung der Direktvermarktung an den erwarteten Effizienzvorteilen orientiert sein. Die (doppelte) EEG-Umlage nach altem Recht entsprach diesen aber ebenso allenfalls zufällig wie die Neuregelung. Fragwürdig ist zudem die willkürliche Festlegung der Quote auf 50 Prozent: Wird diese Quote knapp verfehlt, entfällt jegliche Förderung; ist die Quote hingegen bereits erreicht, so entfallen alle Anreize des Endkundenversorgers, weiteren direktvermarktenden EEG-Strom zu beziehen. Des Weiteren wird hier ebenso wie durch die optionale Direktvermarktung die Möglichkeit des „Rosinenpickens“ für Erneuerbare-Energien-Anbieter eröffnet, indem eine kostenlose Option zum kalendermonatlichen Ausstieg aus dem Fördersystem geboten wird. Im Ergebnis erhalten wir zwar eine verstärkte Direktvermarktung (2011 rd. 11 % des Gesamtstroms aus EE117), es entstehen aber unerwünschte Mitnahmeeffekte. Auch setzt das „Grünstromprivileg“ gerade keine Anreize zu einer effizienten (kostenminimalen) Direktvermarktung. Und einen nennenswerten ökologischen Mehrwert besitzt die Konstruktion ohnehin nicht, da Erzeuger jederzeit auf das Grundförderregime der Netzeinspeisung zum Garantiepreis zurückfallen können und dies weiterhin das Referenzszenario abgibt.

VII. Fazit Im Bereich der Abgaben und sonstigen Abschöpfungen treten Begünstigungen im Interesse des Umweltschutzes („Umweltschutz als Abgabeprivileg“) als ökologisch konnotierte Zahllast-Verschonungen in Erscheinung. Entsprechende Verschonungsregelungen sind in der Rechtsordnung über praktisch alle Umweltrechtsmaterien und Abschöpfungsformen verbreitet. Sie erfreuen sich – im Gegensatz zu belastenden Eingriffen („Umweltschutz als Abgabegrund“) politisch großer Beliebtheit, da umweltpolitische Anliegen über indirekte Verhaltenssteuerung nicht durch Kaufkraftabschöpfungen, sondern durch Kaufkraftzuführungen organisiert werden kann und so politische Zustimmung auf Stimmenmärkten sichern hilft. Wegen der höchst unterschiedlichen Ausgestaltungen, Zielsetzungen und Wirkungen in wiederum verschiedenen Abschöpfungs- und Abgabengefäßen ist eine 116 117

Siehe Gawel/Purkus, ZUR 2012, 587. Andor u. a., emw 2/2011, 23.

Umweltschutz als Abgabenprivileg

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einheitliche Beurteilung von Regelungen, die Umweltschutz als Abgabenprivileg einsetzen, kaum sinnvoll möglich. Eine Bewertung muss aber zunächst das jeweilige Abschöpfungs- bzw. Abgabengefäß und seine Belastungslogik berücksichtigen, in welches die Begünstigungs-Regelung eingebettet wird (Systemgerechtigkeit). Hier können sich bereits grundlegende Funktionsbrüche ergeben – insbesondere beim Einbau in genuine Umweltlenkungsabgaben. Speziell diese Umweltlenkungsabgaben sollten zur Wahrung ihres Wesenskerns von Zahllast-verschonenden Elementen aus ökologischen Gründen freigehalten werden. Des Weiteren ist zu beachten, dass keineswegs in allen Fällen einer phänotypischen Prämierung umweltfreundlichen Verhaltens diese auch den eigentlichen Zweck der Regelung abgibt: „Ökologisch konnotierte“ Regelungen sind eben noch keine ökologisch motivierten oder ökologisch wirksamen Normen. So zeigt sich z. B. beim „Grünstromprivileg“ das zentrale Motiv einer Förderung des Vertriebskanals der Direktvermarktung, bei der Befreiung bestimmter Wasserverwendungen von der Wasserentnahmeabgabe überwiegend eine angestrebte Belastungssteuerung bei den Abgabepflichtigen. In anderen Fällen treten verschiedene Umweltbelange oder Schutzkonzepte über Verschonungsregelungen miteinander in Konflikt: Dies gilt sowohl für den Konflikt zwischen eigenständige Lenkungsanreizen und bloßer Vollzugshilfe ordnungsrechtlicher Anforderungen (Abgabesatzermäßigungen nach AbwAG) als auch für die Adressierung unterschiedlicher Umweltziele, z. B. des Klima- und Gewässerschutzes (energiepolitisch motivierte Freistellungen bei Wasserentnahmeabgaben; ökologisch motivierte Abweichungen vom Kostendeckungsansatz nach Art. 9 Abs. 1 UAbs. 3 WRRL). Hierbei ergeben sich jeweils Friktionen, die zumindest konzeptionell und rechtspolitisch sorgfältig miteinander abgestimmt werden sollten. Zudem ergeben sich in praktisch allen Fällen zusätzlich gravierende Probleme in der konkreten Ausgestaltung. Dadurch wird eine Zielerreichung in den Dimensionen Effektivität (Wird etwas für den Umweltschutz gewonnen?), Kosteneffizienz (Gibt es Mitnahmeeffekte oder kontraproduktive Anreize?) oder aber der Systemgerechtigkeit innerhalb der gewählten Abgaben- oder Abschöpfungskonstruktion (Passt die Regelung in das tragende Abschöpfungskonzept?) erschwert. Schließlich darf nicht vergessen werden, dass eine indirekte Verhaltenssteuerung, die im Modus der Verschonung anstelle der Belastung operiert, grundlegende ökonomische Nachteile mit sich bringt: Nicht nur belasten Verschonungen öffentliche Haushalte und müssen an anderer Stelle mit dortigen gesellschaftlichen Nachteilen refinanziert werden; nicht nur suspendieren sie das Verursacher- zugunsten des Gemeinlastprinzips. Sie verzichten gerade auch auf grundlegende Vorzüge und marktwirtschaftliche Mehrwerte einer Verhaltenssteuerung, die auf volle Ressourcenverantwortung durch Kostendeckung und umfassende Anpassung von Konsum- und Produktionsprozessen unter Berücksichtigung der gesellschaftlichen Folgen der Naturindienstnahme verzichtet. Verschonungsanreize bleiben strikt auf das staatlich Förderfähige begrenzt und lösen weder effizientes Such- noch Innovationsverhalten

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aus, noch beenden sie Wettbewerbsverzerrungen bei der Umweltnutzung, und verfehlen zudem die ökonomisch angezeigte umfassende Preiskorrektur auf allen Wertschöpfungs- und Nutzungsstufen. Sie lösen volkswirtschaftlich unproduktives, „strategisches“ Verhalten aus und sind wegen Problemen der asymmetrischen Informationsverteilung zwischen Behörden und Begünstigungsempfängern typischerweise von Mitnahmeeffekten begleitet. Umweltpolitik sollte daher stets genau abwägen, in welchen Fällen und aus welchen Gründen mögliche Vorteile einer Verschonungspolitik die Inkaufnahme dieser gesamtwirtschaftlichen Nachteile (einschließlich der Refinanzierung über öffentliche Haushalte) zu rechtfertigen vermag.

Umweltschutz durch Benutzungsvorteile Von Martin Eifert

I. Benutzungsvorteile zwischen Versprechen und Missverständnis „Umweltschutz durch Benutzungsvorteile“ ist begrifflich eine absolute Win-winSituation. Die Umwelt wird geschützt, indem Vorteile an Benutzerinnen verteilt werden. Win-win-Situationen gelten als ein Schlüssel für nachhaltige Verhandlungserfolge1, so dass ein hohe Verbreitung dieses Ansatzes im Umweltrecht zu erwarten wäre. Diese Erwartung wird bei einem Blick in das Umweltrecht enttäuscht, denn es finden sich hier nur recht wenige Anwendungsfälle. Im Alltäglichen dürfen bestimmte leise Gartengeräte auch sonntags benutzt und Autos mit der grün gefärbten Umweltplakette 4 in der Windschutzscheibe in jedem Fall in die Innenstadt fahren. Außerdem dürfen leise Lastwagen durch Kurstädte wie Bad Reichenhall fahren und leise Flugzeuge auch spät abends in Düsseldorf und auf anderen Flughäfen landen. Damit wären die zentralen Benutzungsvorteile aber bereits genannt und es wird deutlich, dass sie keineswegs das Umweltrecht durchziehen. Liegt der Grund hierfür in nicht wahrgenommenen Chancen durch die Umweltpolitik oder darin, dass die Benutzungsvorteile eigentlich als solche gar kein eigenes Instrument des Umweltschutzes sind? Der Beitrag soll verdeutlichen, dass Letzteres der Fall ist. Die Benutzungsvorteile im Umweltrecht werden missverstanden, wenn sie als optimierende Anreizinstrumente eingeordnet werden.2 Das sind sie nicht, sollten sie aber auch nicht sein. Justiert man den Blick neu auf ihre eigentliche und bescheidenere Hauptfunktion, nämlich Korrektiv einer (umweltschützenden) Produktregelung zu sein, ergeben sich weiterhin wichtige, aber eben nur begrenzte Anwendungsbereiche. Die bestehenden Benutzungsvorteile fügen sich hier gut ein und sind damit Ausdruck eines sinnvollen 1 Vgl. nur zum bereits „klassisch“ genannte Harvard-Konzept mit dem zentralen Baustein des beiderseitigen Vorteils Fisher/Patton/Ury, Das Harvard-Konzept, 23. Aufl. 2009, S. 89 ff. 2 Vgl. nur Rogall, Bausteine einer zukunftsfähigen Umwelt- und Wirtschaftspolitik, 2000, S. 282 f. Einordnung als Anreiz (allerdings zu umweltfreundlichem Verhalten) auch bei Erbguth/Schlacke, Umweltrecht, 4. Aufl. 2012, § 5, Rn. 103; als ökonomische Anreize bei Sparwasser/Engel/Voßkuhle, Umweltrecht, 5. Aufl. 2003, § 2, Rn. 168. Einordnung als Instrument indirekter Verhaltenssteuerung auch bei Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 147 f.

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Martin Eifert

Umgangs durch die Umweltpolitik und nicht unterentwickelte Ansätze eines noch zu erschließenden Potentials. Die genauere Untersuchung der Benutzungsvorteile erfolgt in drei Schritten. Zunächst werden die Benutzungsvorteile in ihren unmittelbaren Regelungskontext der Benutzungsregime eingeordnet und in ihren typischen Ausgestaltungen skizziert. Anschließend wird der weitere Regelungskontext der Produktstandardisierung einbezogen und herausgearbeitet, welche genauere Funktion den Benutzungsvorteilen vor diesem Hintergrund zukommt. Abschließend wird dann auf den Luftverkehr eingegangen, der zugleich besonders wichtig, besonders kompliziert geregelt und rechtlich besonders umstritten ist. Das an den einfacheren Instrumenten entwickelte Grundverständnis der Benutzungsvorteile wird sich aber auch hier bestätigen.

II. Benutzungsvorteile als positive Hälfte der Benutzungsdifferenzierung Der Blick auf den unmittelbaren Regelungskontext des Benutzungsvorteils zeigt sofort, dass der Eindruck einer Win-win-Situation auf einer unzulässig einseitigen Betrachtung beruht. Mit dem Benutzungsvorteil wird die hübsche Seite einer umfassenderen Benutzungsregelung isoliert, die schon begrifflich auch die relative Benachteiligung anderer Nutzer voraussetzt. Benutzungsvorteile sind deshalb von vornherein keine eigenständigen Instrumente, sondern notwendig Teil einer umfassenderen Benutzungsregelung mit Belastungen und relativen Begünstigungen.3 Es täuscht deshalb, wenn sie in der Literatur als Alternative zu ordnungsrechtlichen Maßnahmen geführt werden.4 1. Belastungsperspektive als Ausgangspunkt und Differenzierung nach Umweltauswirkung Die Benutzungsregelung baut zunächst auf einer ordnungsrechtlichen Beschränkung auf. Führt die Benutzung von Sachen zu Umweltauswirkungen, die das akzeptable Maß überschreiten, werden die Benutzungen untersagt. Gartengeräte, Autos oder Flugzeuge dürfen dort nicht benutzt werden, wo und wann ihr Lärm nicht hinnehmbar ist, Kraftfahrzeuge nicht dort gefahren werden, wo die Schadstoffkonzentration in der Luft ohnehin schon zu hoch ist. Das gemeine Umweltordnungsrecht bildet die Grundlage der Benutzungsregelung. Benutzungsvorteile sind die generellen oder individuellen Ausnahmen für solche Benutzungen, bei denen die Umwelt3

Vgl. auch Kloepfer, Umweltrecht, 4. Aufl. 2005, § 5, Rn. 190. Vgl. nur explizit Boie, Ökonomische Steuerungsinstrumente im europäischen Umweltrecht, 2006, S. 128; Rogall, a.a.O., S. 203. In dieser Grundeinordnung und zum Ziel der Marktveränderung, aber mit ausdrücklicher Einbettung in das Beschränkungsregime, auch die umweltrechtliche Lehrbuchliteratur. Siehe nur Kloepfer, a.a.O., § 5, Rn. 190. 4

Umweltschutz durch Benutzungsvorteile

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auswirkungen nicht gravierend genug sind, um die sonst geltenden Beschränkungen zu verlangen.5 Dabei klingt schon an, dass Benutzungsregelungen typischerweise lokal begrenzt sind. Wären die benutzten Sachen grundsätzlich mit einer zu hohen Umweltbelastung verbunden, müssten ihnen allgemeine Produktvorgaben auferlegt werden und würde nicht an die nachgelagerte und schwerer kontrollierbare Benutzung angeknüpft. Die nachfolgende tour d’horizon durch die bestehenden Benutzungsregelungen jenseits des Luftverkehrs zeigt zwar unterschiedliche Ausgestaltungen, aber bereits die insoweit übereinstimmende Grundlogik auf. Verfassungsrechtlich ist der Benutzungsvorteil doppelt umhegt. Freiheitsrechtlich kann er nur geregelt werden, wo zunächst die grundlegende ordnungsrechtliche Beschränkung gerechtfertigt ist. Hierdurch ist der Anwendungsbereich beschränkt.6 Gleichheitsrechtlich muss die Abgrenzung der belasteten und bevorteilten Gruppen gerechtfertigt werden, wobei es regelmäßig um die Typisierungsbefugnis des Gesetzgebers gehen dürfte. Beide verfassungsrechtlichen Fragen sind jeweils für die einzelnen Regelungen zu untersuchen. Grundsätzlich liegt hier aber angesichts der rechtfertigenden Kraft der Umweltvorsorge für Freiheitsbeschränkungen und des weiten gesetzgeberischen Spielraums für wirtschaftsverwaltungsrechtliche Differenzierungen ohne Nähe zu verbotenen Unterscheidungskriterien oder erhebliche Eingriffsintensität kein besonderes verfassungsrechtliches Problem vor.7 Eine konkrete verfassungsrechtliche Prüfung ist deshalb bei der folgenden Skizzierung der konkreten Benutzungsregelungen entbehrlich.

5 Dieser Aspekt wird auch in der Begründung des UGB-KomE (S. 812 f.) betont („darauf gestützt, daß die Risiken, denen die Verwendungsbeschränkung begegnen will, bei der Verwendung des betreffenden Produkts nicht entstehen“, daneben: „daß solche Risiken durch andere entscheidende Umweltvorteile des Produkts aufgewogen werden“). Zur dort weitergehenden Annahme einer Anreizfunktion wegen Abweichungen von allgemeinen Standards siehe näher unten unter III. 6 Er kann in diesem Kontext sogar verfassungsrechtlich geboten sein, soweit die Beschränkung sonst unverhältnismäßig wäre. 7 Gleichheitsrechtlich besteht grundsätzlich ein weiter Spielraum des Gesetzgebers bei den wirtschaftsverwaltungsrechtlichen Typisierungen. Das Differenzierungskriterium der geringeren Umweltbelastung ist immer ohne Bezug zu den verbotenen Unterscheidungskriterien des Art. 3 Abs. 3 GG und vom Betroffenen selbst beeinflussbar. Es handelt sich überdies oft um relativ geringe Grundrechtseingriffe. Entsprechend dürften die Differenzierungen regelmäßig vom BVerfG im Ausgangspunkt unbeanstandet bleiben, vgl. nur BVerfGE 103, 310, 318 f. Auch dürfte dem Gesetzgeber für die bevorteilende Typisierung bei Benutzungsvorteilen eine recht breite Typisierungsmöglichkeit eingeräumt sein; vgl. zur Reichweite der Typisierungsbefugnis nur Dreier-Heun, GG, Bd. 1, 3. Aufl. 2013, Art. 3, Rn. 33, 37, 51; vgl. auch BVerfGE 17, 1, 12; 103, 310, 319; 111, 176, 188. Bei einer restriktiveren Betrachtung gerade der Typisierung müsste gefragt werden, inwieweit die Verwaltungsvereinfachung die Ungleichbehandlung rechtfertigt. Hier wäre es dann relevant, inwieweit es leichte Anknüpfungsmöglichkeiten durch bestehende Zertifizierungen etc. gibt. Je eher das spezifische Umweltproblem durch Umweltzeichen etc. in der Produktwelt abgebildet wird, desto eher müsste dann der Gesetzgeber die damit leicht umsetzbaren Differenzierungsmöglichkeiten aufgreifen.

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2. Geräte- und Maschinenlärmschutz und differenzierte zeitliche Benutzungsregelungen Einen ersten Anwendungsfall bilden die Geräte, die zur Verwendung im Freien bestimmt sind und erheblichen Lärm verursachen. Hier dürfen bestimmte Gerätearten – wie etwa Laubbläser und Grastrimmer – nach § 7 der 32. BImSchV (Geräte- und Maschinenlärmverordnung) in sensiblen Bereichen – wie etwa Wohngebieten, Kur- und Klinikgebieten oder Gebieten für die Fremdenbeherbergung – an Sonn- und Feiertagen sowie werktags zwischen 20 und 7 Uhr morgens nicht betrieben werden. Bei einigen besonders lauten Gerätearten – etwa Laubbläsern – wird dies durch eine differenzierte Benutzungsregelung ergänzt. Sie dürfen grundsätzlich auch in den Morgenstunden von 7 bis 9 Uhr, in der Mittagsruhe von 13 bis 15 Uhr und am frühen Abend von 17 bis 20 Uhr nicht betrieben werden. Eine Ausnahme davon wird aber für jene Geräte gemacht, die das gemeinschaftliche Umweltzeichen besitzen. Damit wird durch die zulässige Benutzung in diesen Stunden ein Vorteil gewährt. Praktisch geworden ist diese Regelung allerdings nicht, weil für die entsprechenden Geräte das Europäische Umweltzeichen nie verliehen wurde8 und die Verordnung zum Umweltzeichen 1980/2000 v. 17.7. 2000, auf die ein statischer Verweis erfolgte, seit 2009 aufgehoben ist.9 3. Umweltzonen und differenzierte räumliche Benutzungsregelungen Bekannter sind die differenzierten Benutzungsregelungen bei der Einrichtung von Umweltzonen. Diese Umweltzonen sind in Folge grenzwertüberschreitender Schadstoffbelastungen der Innenstädte verbreitet in Deutschland eingeführt worden und dürfen nur von Kfz mit niedrigen Schadstoffemissionen befahren werden. Den Hintergrund bildet das europäisch fundierte Gebot des § 47 BImSchG, bei Überschreitung der relevanten Immissionsgrenzwerte Luftreinhaltepläne oder ggf. auch Pläne für kurzfristig zu ergreifende Maßnahmen aufzustellen.10 In diesen sind die erforderlichen Maßnahmen zur gebotenen Verminderung von Luftverunreinigungen festzulegen, die anschließend von den zuständigen Verwaltungen umzusetzen sind. Da der Verkehr ein Hauptverursacher dieser Immissionen (insbesondere Feinstaub- und Stickstoffdioxidbelastungen) ist,11 sind Verkehrsbeschränkungen 8 Ein Katalog der mit dem EU-Umweltzeichen ausgezeichneten erhältlichen Geräte findet sich unter http://ec.europa.eu/ecat/, Stand: 16.7. 2013. 9 Es gilt jetzt die VO 66/2010 v. 25.11. 2009 über das EU-Umweltzeichen, ABl. L 027 v. 30.1. 2010, S. 1 ff. 10 Statt vieler zu den europarechtlichen Vorgaben zur Luftreinhalteplanung nur Jarass, VerwArch 2006, 429 ff.; Kloepfer, Die Feinstaubproblematik im System des neuen Luftreinhalterechts, in: Festschrift für Rehbinder, 2007, S. 379 ff.; Cancik, ZUR 2011, 283 f. 11 Vgl. beispielhaft den Luftreinhalteplan Köln und die bei ihm zu Grunde gelegten Zahlen, nach denen für die dort allein in Rede stehende Stickoxidbelastung als Verursachungsbeiträge nach Emittentengruppen ermittelt wurden: Verkehr 53 %, Industrie 38 % und Kleinfeue-

Umweltschutz durch Benutzungsvorteile

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hier regelmäßig ein wichtiger Baustein.12 Die zuständige Straßenverkehrsbehörde beschränkt oder verbietet den Kfz-Verkehr dann gem. § 40 BImSchG, soweit dies die Pläne vorsehen. Im Rahmen der Verkehrsbeschränkungen wiederum finden sich regelmäßig differenzierte Benutzungsregelungen, u. a. in Form der Einrichtung von Umweltzonen.13 Danach werden in bestimmten ausgeschilderten Gebieten nur Fahrzeuge zugelassen, die bestimmte Emissionsgrenzwerte einhalten, was diese wiederum durch eine Plakette gem. der Kfz-Kennzeichenverordnung (35. BImSchV) nachweisen müssen.14 In den Innenstadtbereichen vieler Städte dürfen nur noch Autos fahren, die der umweltfreundlichen Schadstoffklasse 4 angehören, die mittels grüner Plakette ausgewiesen wird.15 4. Lärmschutz und ausnahmsweise gewährte Benutzungsmöglichkeit Den dritten bedeutsamen Bereich gegenwärtiger Benutzungsvorteile bildet der Lärmschutz gegen Verkehr. Die Straßenverkehrsbehörden können nach § 45 StVO zum Schutz der Wohnbevölkerung (Abs. 1 S. 2 Nr. 3) und insbesondere auch zum Lärmschutz in sensiblen Gebieten wie Kurorten, Luftkurorten und Erholungsorten (Abs. 1a) wiederum Verkehrsbeschränkungen erlassen, etwa Durchfahrtsverbote oder zeitlich beschränkte Durchfahrtsverbote für Lkw.16 Auch diese Maßnahmen können planerisch angeleitet bzw. überformt sein, hier durch Lärmaktionspläne.17 Die europarechtlich veranlasste18 Regelung des § 47d BImSchG sieht für bestimmte Gebiete die Aufstellung von Lärmaktionsplänen vor, sofern Lärmprobleme oder rungsanlagen 9 % sowie innerhalb der Gruppe Verkehr die Beiträge der jeweiligen Verkehrsträger Straße 63 %, Schiene 1 %, „Offroad“ 7 %, Schiff 25 % und Flug 4 %. Die Rechtmäßigkeit der Umweltzone wurde bestätigt durch OVG NW, ZUR 2011, 199 ff. Vgl. auch die Wiedergabe der Zahlen in der Entscheidung OVGE BE 32, 203 ff., in der die Rechtmäßigkeit der Berliner Umweltzone festgestellt wird. 12 Siehe ausführlich Malchin, Durchführung und Durchsetzung von Immissionsgrenzwerten im Luftqualitätsrecht, 2009, S. 238 ff.; Paternoster, Verkehrsbeschränkungen zur Verringerung der innerstädtischen Feinstaubbelastung, 2010, S. 97 ff. 13 Siehe näher zu den Umweltzonen Rebler/Scheidler, UPR 2009, 436 ff.; Schröer/Kullick, NZBau 2012, 635 f.; Köck/Lehmann, ZUR 2013, 67, 74 ff. 14 Vgl. näher zu den Ausnahmen Rebler/Scheidler, NVwZ 2010, 98 ff. 15 Siehe zur Verbreitung der Umweltzonen und den darin aufgestellten Anforderungen die Informationen des Umweltbundesamtes, abrufbar unter http://gis.uba.de/website/umweltzo nen/index.htm, Stand: 16.7. 2013. 16 Zu Lärmschutz durch Nachtfahrverbote für Lkw siehe Steiner, DAR 1994, 341 ff. 17 Zu Lärmaktionsplänen ausführlich Blaschke, Lärmminderungsplanung, 2010, S. 250 ff.; zum aktuellen Stand der Lärmminderungsplanung in Deutschland siehe Cancik, WiVerw 2012, 210 ff. 18 Die mit Gesetz vom 24.6. 2005, BGBl. I S. 1794, eingeführten §§ 47a-f BImSchG dienen der Umsetzung der Richtlinie 2002/49/EG – UmgebungslärmRL. Zur Richtlinie und ihrer Umsetzung näher Blaschke, a.a.O., S. 58 ff.

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Lärmwirkungen ein Regelungsbedürfnis schaffen.19 Zu den Maßnahmen, die in Lärmaktionsplänen festgelegt werden können und die dann nach den jeweils einschlägigen Vorschriften durchzusetzen sind (§ 47d Abs. 6 i.V.m. § 47 Abs. 6 S. 1 BImSchG), zählen im Bereich des Straßenverkehrs u. a. die soeben erwähnten Verkehrsbeschränkungen auf Grundlage des § 45 StVO.20 Von den Verkehrsbeschränkungen können wiederum gem. § 46 Abs. 1 S. 1 Nr. 11 StVO Ausnahmen gemacht werden, die insbesondere für lärmarme Lkw erteilt werden.21 Die Ausnahmegenehmigungen nach der StVO sollen dabei grundsätzlich Ausnahmesituationen Rechnung tragen22 und dürfen keinen unbestimmten Personenkreis begünstigen23. Dieser straßenverkehrsrechtliche Regelungsmechanismus ist auch als Bad-Reichenhaller Modell bekannt, weil dieser Ort prominent davon Gebrauch gemacht hatte. Im Wege der Ausnahmegenehmigung kommt es also zu Benutzungsvorteilen für relativ umweltfreundlichere Lkw, die aber an die jeweils besondere Ausnahmesituation angepasst sind. Die Behörde kann zwar für die Bestimmung der Umweltfreundlichkeit auf die Anlage XV zur StVZO über „geräuscharme Kraftfahrzeuge“ zurückgreifen, aber mangels Verkehrszeichen oder -einrichtungen, die an die normierte Kennzeichnung der Geräuschklasse 1 anknüpfen, keine generalisierte Ausnahme regeln. 5. Zwischenergebnis: Benutzungsvorteile als bloße Reflexe der Benutzungsnachteile Im Ergebnis bestehen die Benutzungsvorteile in der Nicht-Anwendung von Benutzungsnachteilen. Die bestehenden Regelungen sind dabei Ausdruck der Belastungsgerechtigkeit bei besonderen umweltrechtlichen Problemlagen, in denen die größeren Umweltbelasterinnen vorrangig herangezogen werden. § 47 Abs. 4 BImSchG weist dies für die Luftreinhaltepläne ausdrücklich aus. Diese besonderen Problemlagen können in einem besonderen Schutzbedarf der Umgebung bestehen (Lärmschutz durch differenzierte Lkw-Fahrverbote für besonders ruhebedürftige Gebiete) oder in besonderen Belastungssituationen (differenzierte Fahrverbote in Umweltzonen von Gebieten mit Grenzwertüberschreitungen). Sie können auch sensible Tageszeiten mit besonderem Schutzbedarf betreffen wie bei den Gartengeräten. Die Benutzungsvorteile sind also nicht Vorteile gegenüber allgemeinen, sondern nur gegenüber solchen besonderen Verwendungsbeschränkungen. Sie sind nur Bestandteil der Regelung zur Vermeidung erheblicher Umweltbelastungen, sind aber kein 19 Zu diesem Erfordernis siehe Landmann/Rohmer-Hansmann, Umweltrecht, BImSchG § 47d, Rn. 8 f. 20 Zu Straßenverkehrslärm im Rahmen von Lärmaktionsplänen siehe Berkemann, NuR 2012, 517 ff., insb. 520 f., 523 – 528. 21 Vgl. zu den vielfältigen Bemühungen um Lärmschutz gegen Lkw-Lärm und die zentrale Rolle der Lärmschutzzonen und Ausnahmegenehmigungen dabei Rogall, a.a.O., S. 283 ff. 22 Vgl. Janker, in: Burmann/Heß/Jahnke/Janker, StVR, 22. Aufl. 2012, § 46 StVO, Rn. 1; siehe auch bereits BVerfGE 40, 371, 377. 23 BVerwGE 130, 383 ff.

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eigenes Instrument zur Minimierung von Belastungen etwa im Vorsorgebereich. In anderen Worten: Sie sind Bestandteil des Instruments der Benutzungsbeschränkung, nicht aber ein eigenständiges Instrument.

III. Benutzungsvorteile im Kontext der Produktstandardisierung 1. Benutzungsvorteile als Anreizstruktur? Diese Perspektive des Benutzungsvorteils als bloßem Reflex einer ordnungsrechtlichen Regelung mit Differenzierungsbedarf ist freilich nicht die Perspektive, unter der dieser Begriff regelmäßig behandelt wird. In der Literatur wird der „Benutzungsvorteil“ mit seinem Begriffshof der Belohnung aufgegriffen und die Perspektive des Motivationsanreizes gewählt.24 Der UGB-KomE, der den Benutzungsanreiz im allgemeinen Teil als Instrument verankern wollte, ordnet ihn insofern ganz typisch in den Kreis der Instrumente ein, „die die freiwillige Übererfüllung gesetzlicher Anforderungen belohnen“25. Anreizstrukturen zielen im Umweltrecht regelmäßig auf Optimierung in Richtung des Anreizes, wie sich etwa bei Abgaben, Zertifikaten und Umweltsiegeln beobachten lässt. Benutzungsvorteile unterscheiden sich von diesen Anreizen zunächst dadurch, dass sie nicht auf kontinuierliche Optimierung zielen, sondern allenfalls den Anreiz zum Sprung auf die Umweltfreundlichkeit der bevorteilten Produkte beinhalten. Auch insoweit funktionierten sie als grundsätzlicher Anreiz aber nur, wenn sie „Ausnahmen von allgemeinen Verwendungsbeschränkungen“ wären, „die bestimmten umweltfreundlichen Produkten gewährt werden“, wie dies die Begründung zum UGB-KomE formuliert26. § 204 UGB-KomE sah entsprechend jedenfalls auch die Möglichkeit allgemeiner Ausnahmen für insgesamt umweltfreundlichere (§ 204 Abs. 1) bzw. hinsichtlich der beschränkungsauslösenden Belastung weniger belastende Produkte (§ 204 Abs. 2) vor.27 Dass die bestehenden Benutzungsvorteile dem Muster allgemeiner Bevorteilung nicht entsprechen, wurde bereits deutlich. Das grundsätzliche Problem dieser Perspektive wird aber erst deutlich, wenn der weitere Kontext der Produktstandardisierung insgesamt mit in den Blick genommen wird. 2. Benutzungsregelungen und Produktmärkte Das verbreitete Verständnis der Benutzungsvorteile schaut auf den Vorteil für Inhaber umweltfreundlicher Produkte, der einen Kaufanreiz beinhaltet und so die Ver24

Vgl. nur oben die Nachweise in Fn. 2. UGB-KomE, S. 800. 26 UGB-KomE, S. 800. 27 Siehe UGB-KomE, S. 186.

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breitung umweltfreundlicher Produkte fördert.28 Die Vorteile sind aber auch hier eingebettet in ein umfassenderes, produktbezogenes Rechtsregime. Hier gibt es zunächst regelmäßig Produktstandards, die sich auch auf die Umweltauswirkungen der Produkte beziehen. Sie sind regelmäßig so gestaltet, dass typischerweise keine Gefahren für die Umwelt auftreten können und Vorsorge, meist nach dem Stand der Technik, verlangt wird.29 Diese Produktstandardisierung will und kann den mit der Verwendung typischerweise verbundenen Gefährdungslagen Rechnung tragen. Hiermit verfolgt sie letztlich das Ziel, eine breite Verkehrsfähigkeit der Produkte sicherzustellen.30 Der Sicherung einer breiten Verkehrsfähigkeit dient auch die Ansiedlung der Rechtsetzungskompetenz auf relativ hochrangigen Ebenen.31 In der Europäischen Union ist die Produktharmonisierung auf Grundlage von Art. 114 AEUV (ex Art. 95 EG) weitgehend europäisiert, was sich nicht zuletzt an der mehrfach angeführten Richtlinie zur Angleichung der Rechtsvorschriften über umweltbelastende Geräuschemissionen von zur Verwendung im Freien vorgesehenen Gartengeräten („Outdoorrichtlinie“)32 zeigt33. Auch die immissionsschutzrechtlichen Anforderungen an Fahrzeuge folgen im Wesentlichen europäischen Vorgaben.34

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Vgl. nur Kloepfer, a.a.O., § 5, Rn. 190. Vgl. nur § 38 BImSchG i.V.m. den Regelungen in §§ 47 ff. StVZO – gestützt auf § 38 Abs. 2 BImSchG; § 49 Abs. 1 StVZO; § 23 KrwG i.V.m. den Regelungen in §§ 12, 13 VerpackVO – gestützt auf §§ 23 Abs. 4, 24 Nrn. 1 – 3 KrwG; § 4 ElektroG; § 3 Abs. 1 ProdSG i.V.m. den Regelungen in §§ 2, 3 der 10. ProdSV – gestützt auf § 8 Abs. 1 ProdVG. 30 Vgl. RL 2000/14/EG – OutdoorRL, Erwägungsgrund 1; RL 2008/98/EG – AbfallrahmenRL, Erwägungsgrund 27; BGH, GRUR 2010, 169, 171. 31 Vgl. Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, AEUV Art. 114, Rn. 16. 32 RL 2000/14/EG. 33 Art. 12 RL 2000/14/EG harmonisiert die zulässigen Schallleistungspegel der dort gelisteten Maschinen und Geräte. Für diese und die in Art. 13 gelisteten Geräte und Maschinen besteht eine einheitliche Kennzeichnungspflicht mit der CE-Konformitätskennzeichnung gem. Art. 11, wobei der Kennzeichnung gem. Art. 8 eine Konformitätserklärung des Herstellers und gem. Art. 14 Abs. 1 ein Konformitätsbewertungsverfahren (für Geräte und Maschinen nach Art. 12) bzw. gem. Art. 14 Abs. 2 eine interne Fertigungskontrolle (für Geräte und Maschinen nach Art. 13) vorauszugehen hat. Bei Vorliegen dieser Voraussetzungen dürfen die Mitgliedstaaten das Inverkehrbringen und die Inbetriebnahme der Maschinen und Geräte gem. Art. 6 Abs. 1 nicht untersagen. Ihre Verwendung darf gem. Art. 17 nur ausnahmsweise, insb. in als sensibel eingestuften Bereichen und Zeiten beschränkt werden. Umgesetzt werden diese Regelungen im Speziellen durch die Geräte- und Maschinenlärmschutzverordnung – 32. BImSchV und im Allgemeinen durch die Vorschriften des ProdSG zur CE-Kennzeichnung und Produktaufsicht. 34 Reese, in: Giesberts/Reinhardt, BeckOK BImSchG, § 38, Rn. 3; vgl. die Auflistung der zahlreichen Richtlinien und Verordnungen in § 47 StVZO. Bspw. legen Art. 2, 2a der RL 70/ 220/EWG i. d. F. RL 2006/96/EG und Art. 10 VO (EG) Nr. 715/2007 jeweils Abgasgrenzwerte für bestimmte Fahrzeuge fest, bei deren Einhaltung Betriebserlaubnis, Verkauf, Zulassung, Inbetriebnahme, Benutzung oder Typengenehmigung nicht verweigert bzw. untersagt werden dürfen. 29

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Die Bevorteilung von Produkten als solche stellt aus dieser Perspektive nur scheinbar kein Problem dar. Behält man im Blick, dass sie nur Ausnahmen von Verwendungsbeschränkungen sind, fällt sofort auf, dass das Benutzungsregime insgesamt eine Störung der Produktmärkte darstellt. Differenzierte Benutzungsregelungen zersplittern einheitlich gedachte Produktmärkte.35 Sie betreffen zwar nicht die Produktzirkulation, aber Produkte haben natürlich nur so weit einen Markt, wie sie auch verwendet werden können. Wenn nun Benutzungsregelungen unterhalb der generellen Standardisierung auf besondere Problemlagen reagieren, sind sie sachlich uneinheitlich und führen schnell zu besonderer Unübersichtlichkeit. Die Hoffnung der Anreize durch Benutzungsvorteile beruht auf der Beobachtung, dass der relativ höchste Standard Marktwirkungen zeigen kann.36 Die grundsätzliche Möglichkeit hierzu wird als California-Effekt bezeichnet – in Anknüpfung an die Erfahrung im Kraftfahrzeugmarkt der USA, in dem die regelmäßig schärfsten Standards von Kalifornien letztlich prägend wirkten.37 Diese Perspektive begegnet hier aber zwei Problemen, die beide damit zusammenhängen, dass Benutzungsvorteile wegen ihres unmittelbaren Regelungskontextes keine eigenständigen Produktstandardisierungen sein können. Erstens setzt der California-Effekt zunächst eine hinreichende Marktgröße voraus. Benutzungsvorteile können den Anreizeffekt nur haben, wenn sie auf relevanten Märkten gelten. Weil die Benutzungsvorteile aber keine eigene Standardisierung darstellen, sondern im Konext allgemeiner Produktstandardisierung als Lösung für besondere Problemlagen eingebettet sind38, ist die relevante Marktgröße gerade kein Kriterium für ihre Ausgestaltung. Schon deshalb können sie konzeptionell nicht als eigenes Anreiz-Instrument verstanden werden, sondern nur einen entsprechenden angenehmen Reflex beinhalten. Zweitens sind notwendig unterschiedliche Regelungsebenen entscheidend. Im Gegensatz zu den zentralisierten Kompetenzen für die Produktstandardisierung sind für die Benutzungsregelungen regelmäßig untere Rechtsetzungsebenen zuständig. Die differenzierten Zeiten für die Geräte im Freien regelt der Bund39, die Um-

35 Die Verwirklichung des Binnenmarkts nach Art. 26 AEUV erfordert gerade den Abbau technischer Handelshemmnisse im Bereich des freien Warenverkehrs (wie z. B. unterschiedlicher Umweltschutzstandards), Kahl, in: Calliess/Ruffert, EUV/AEUV, AEUV Art. 26, Rn. 25. Auf Bedenken weist insoweit auch Kloepfer, a.a.O., § 5, Rn. 192, hin. 36 Vgl. Kloepfer, a.a.O., § 5, Rn. 190. 37 Vogel, Trading Up: Consumer and Environmental Regulation in a Global Economy, 1995. 38 Bspw. reagieren sie wie § 7 Abs. 1 Nr. 2 Hs. 2 der 2. BImSchV darauf, dass als Ausnahme zur Regel Schutzbedürfnisse besonders sensibler Bereiche (vgl. Art. 17 Outdoorrichtlinie), wie u. a. von Wohngebieten, Kleinsiedlungsgebieten, Erholungs-, Kur- und Klinikgebieten, beim Betrieb besonders leiser Outdoorgeräte nicht bestehen. 39 Die 32. BImSchV wurde auf Grundlage des § 48a BImSchG erlassen, die Bundeskompetenz folgt aus Art. 72 Abs. 1, 74 Abs. 1 Nr. 24 GG.

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weltzonen werden durch Luftreinhaltepläne etwa der Bezirksregierungen40 ggf. mit ergänzenden straßenverkehrsrechtlichen Regeln durch die Straßenverkehrsbehörden, also etwa Kreisordnungsbehörden41, festgelegt. Hier bildet sich kompetenziell die Erkenntnis ab, dass besondere Problemlagen problemnah und deshalb relativ dezentral zu regeln sind. Es ist aber dysfunktional, wenn im Mehrebenensystem der Rechtsetzung die unteren Ebenen über Benutzungsregelungen die Standardisierungsvorgaben der höheren Ebenen relativieren und dies umso mehr, wenn sich ihre Kompetenz aus der Sachnähe zu besonderen Problemlagen und nicht aus einem organisierten Standardisierungswettbewerb ergibt.42 Auch dieser Zusammenhang verdeutlicht, dass die Benutzungsregelungen auf die Lösung der besonderen Umweltprobleme begrenzt bleiben müssen und nicht als selbständiger Anreiz für die Produktmärkte betrachtet werden sollten. 3. Aufgabenverteilung von Produktstandards und Benutzungsregelungen Die sinnvolle Arbeitsteilung zwischen Produktstandardisierungen und Benutzungsregelungen sieht also wie folgt aus: Mit der Produktstandardisierung werden die generellen Umweltbelastungen geregelt und das hier gewählte Niveau sichert grundsätzlich die breite Verwendbarkeit der Produkte. In besonderen Problemlagen können differenzierte Benutzungsregelungen getroffen werden, die aber auch nur auf die Lösung der besonderen Problemlage zielen und keinen eigenen Zweck der Marktgestaltung haben. Sie sind also begrenzte Korrektive der Produktstandardisierung. Die bestehenden Regelungen zu Benutzungsvorteilen lassen sich hier grundsätzlich gut einordnen. Beispielhaft sei die Harmonisierung der Geräuschemissionen für Freilandgeräte genannt, die eine Öffnungsklausel für Verwendungsregelungen hat.43 Die Reichweite zulässiger Regelungen ist dabei auf den ersten Blick nicht an materielle Kriterien geknüpft. Der Zweck ergibt sich jedoch aus Erwägungsgrund 15. Dort heißt es: „Um die Bürger vor unverhältnismäßig hohen Lärmbelastungen zu schützen, sollten die Mitgliedstaaten in die Lage versetzt werden, die Verwendung von 40 So bspw. in Nordrhein-Westfalen gem. § 4 i.V.m Anhang II der ZustVU. Die Verwaltungskompetenz der Länder folgt aus Art. 83 GG. 41 So bspw. in Nordrhein-Westfalen gem. § 1 StVOZustBehV. Die Verwaltungskompetenz der Länder folgt aus Art. 83 GG. 42 Problematisch ist deshalb, wenn in der Literatur die Einführung von Benutzungsvorteilen gerade als Kompensation für den Verlust nationalstaatlicher Kompetenzen gepriesen wird (so Rogall, a.a.O., S. 296). In der 32. BImSchV wird das Problem indirekt aufgegriffen, indem der Verordnungsgeber bei den Benutzungsregelungen ausdrücklich feststellt, dass diese Regelungen für die Hersteller der „normalen“ Geräte den Absatzmarkt erhalten (vgl. die Begründung der Bundesregierung, abgedruckt in BR-Drs. 422/02, S. 22 f., abgedruckt auch in Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 32. BImSchV § 7, Rn. 1). 43 Art. 17 Outdoorrichtlinie.

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Geräten und Maschinen im Freien in Übereinstimmung mit dem Vertrag einzuschränken“. Benutzungsdifferenzierungen sollen also der Vermeidung unverhältnismäßigen Lärms dienen und nur diesem Zweck. Diesen Zweck, dem besonderen Schutzbedürfnis der Bevölkerung in Wohngebieten Rechnung zu tragen, nimmt auch die Begründung zur Verordnung als einzigen Zweck auf.44 Die Benutzungsvorteile wirken aber als begrenzte Korrektive wiederum auf die Produktstandardisierung zurück. Wenn zu viele Korrekturen notwendig werden, läuft der doppelte Zweck der Produktstandardisierung leer, nämlich zu hohe Umweltbelastungen zu vermeiden und eine hohe Verkehrsfähigkeit der Produkte zu sichern.

IV. Der umstrittene Bereich: Lärmschutz im Luftverkehr Das umstrittenste und komplizierteste Feld der Benutzungsvorteile bildet der Luftverkehr. Unkompliziert sind hier nur Landeplätze45, also die Flughäfen mit relativ wenig Flugbewegungen, die nach der Landeplatz-Lärmschutz-Verordnung einem Regelungsmodell unterliegen, das jenem der Laubgebläse eng verwandt ist und deshalb nicht weiter erörtert werden muss. Den schwierigeren und bedeutenderen Fall bilden die national und international bedeutsamen Verkehrsflughäfen. Auch hier sind die Benutzungsregelungen zunächst in eine zentralisierte Produktstandardisierung eingebunden, die im Folgenden zu skizzieren ist. 1. Völkerrechtliche Produktharmonisierung Das maßgebliche Forum zur internationalen Regulierung des zivilen Luftverkehrs bildet die International Civil Aviation Organization (ICAO)46. Sie wurde durch das multilaterale Abkommen über die internationale Zivilluftfahrt47 gegründet und genießt den Staus einer Sonderorganisation der Vereinten Nationen i.S.d. Art. 63 UN-Charter. Zur Zeit sind 191 Staaten Mitglieder der ICAO, so dass den völkervertraglichen Regelungen des ICAO-Abkommens nahezu universelle Geltung zukommt.48 44 Siehe BR-Drs. 422/02, abgedruckt bei Landmann/Rohmer, Umweltrecht, 32. BImSchV Rn. 3. 45 Eine Übersicht zu Begriff und Arten der Flugplätze bei Schwenk/Giemulla, Handbuch des Luftverkehrsrechts, 3. Aufl. 2005, S. 502 ff. 46 Eine einführende Darstellung zur ICAO bei Milde, International Air Law and ICAO, 2nd ed 2012, insb. S. 127 ff. 47 Auch „Chicagoer Abkommen“ oder ICAO-Abkommen genannt, geschlossen am 7.12. 1944. Die Bundesrepublik Deutschland trat erst nach Wiedererlangung der staatlichen Lufthoheit am 9.5. 1955 der ICAO im Jahre 1956 bei. Vgl. BGBl. 1956 II S. 411. 48 Einen Überblick über die multilateralen und bilateralen Luftfahrtabkommen bietet Schwenk/Giemulla, a.a.O., S. 10 ff. Die autorisierten Textfassungen des Abkommens finden

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Jeder Vertragsstaat ist gemäß Art. 37 des ICAO-Abkommens dazu verpflichtet, an einer höchstmöglichen Vereinheitlichung der den Luftverkehr betreffenden Vorschriften und Standards mitzuarbeiten, soweit eine solche Einheitlichkeit die Luftfahrt erleichtert und verbessert. Zu diesem Zweck kann die ICAO soweit erforderlich internationale Richtlinien, Empfehlungen und Verfahren (international standards and recommended practices and procedures) beschließen, die sich auf einzelne in Art. 37 aufgelistete Sachfelder beziehen bzw. sonstige Angelegenheiten, welche die Sicherheit, Regelmäßigkeit und Leistungsfähigkeit der Luftfahrt betreffen. Die Richtlinien werden als Anhänge des IACO-Abkommens bezeichnet und geführt. Bereits 1971 hat die ICAO auf dieser Grundlage mit der schrittweisen Regelung von Fluglärm begonnen.49 Die maßgeblichen Richtlinien und Empfehlungen finden sich im Anhang 16 Band I des ICAO-Abkommens.50 Im Anhang 16 Band I werden internationale Lärmgrenzwerte und einheitliche Messverfahren für die Lärmzertifizierung von Flugzeugtypen festgelegt. Die Lärmzertifizierung dient der Muster- und Verkehrszulassung von neuen Luftfahrzeugtypen. Durch sie wird bei einer Neuzulassung eines Luftfahrzeuges nachgewiesen, dass die technische Ausrüstung des Luftfahrzeuges so gestaltet ist, dass die durch seinen Betrieb entstehenden Lärmemissionen „nach dem jeweiligen Stand der Technik das unvermeidbare Maß nicht übersteigen“ (§ 3 Abs. 2 Nr. 2 LuftVZO). Die Regelungen und die Lärmgrenzwerte des Anhangs 16 Band I wurden durch die LuftVZO und die darauf gegründete „Lärmvorschrift für Luftfahrzeuge“ (LVL) in deutsches Recht transformiert. Soweit nach der Verordnung Nr. 216/2008/EG nunmehr die europäische Ebene für Fragen der Musterzulassung zuständig ist, gelten keine abweichenden Maßstäbe.51 Die Lärmgrenzwerte der Kapitel des Anhangs 16 Band I des ICAO-Abkommens sind somit völkerrechtlich, europarechtlich und nach deutschem Recht für

sich abrufbar unter http://www.icao.int/publications/Documents/7300_cons.pdf, Stand: 16.7. 2013. 49 Zur Entstehung des Anhangs 16 vgl. auch die kurze historische Hintergrundinformation im Vorwort des Anhangs 16 Band I, abrufbar unter: http://www.bazl.admin.ch/dokumentation/ grundlagen/02643, Stand: 16.7. 2013. 50 Eine knappe Übersicht zu Anhang 16 bietet Klußmann/Malik, Lexikon der Luftfahrt, 3. Aufl. 2012, Eintrag: Anhang 16, S. 13 f. Ausführlicher – insb. zu Chapter 3 des Anhangs 16 Band I – das UBA-Gutachten von Arps/Hermann/Zimmer/Krebs/Donnerhack/Kennepohl/ Kuhfeld, Verschärfung der Lärmgrenzwerte von zivilen Strahlenflugzeugen unter besonderer Berücksichtigung des Zusammenhangs zwischen den Lärm- und Schadstoffemissionen von Strahltriebwerken, Forschungsprojekt im Auftrag des Umweltbundesamtes, August 2006 (im Folgenden: UBA-Gutachten), abrufbar unter: http://www.umweltdaten.de/publikationen/fpdf-l/ 3186.pdf, Stand: 16.7. 2013. 51 Vgl. die Richtlinie der Kommission Nr. 748/2012 zur Implementierung der Verordnung. Dort wird in Anhang 1, 21.A.18 auf die Standards des Anhangs 16 Band I des ICAO-Abkommens verwiesen.

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die Muster- und Verkehrszulassung als Maßstab relevant und stellen somit den allgemein verbindlichen Mindeststandard für Neuzulassungen dar. Für die konkret anzuwendenden Mindeststandards werden zivile Flugzeuge mit Strahlantrieb durch den Anhang 16 des ICAO-Abkommens abhängig vom Datum ihres Musterzulassungsantrags in verschiedene Kapitel eingeteilt. Man spricht daher heute bei Strahlenflugzeugen von Chapter II, Chapter III und Chapter IV (zertifizierten) Flugzeugen, abhängig davon, wann die Musterzulassung beantragt wurde.52 Jedes Kapitel steht historisch auch für eine weitere Verschärfung der für die Lärmzertifizierung einzuhaltenden Lärmgrenzwerte. Eine Re-Zertifizierung und Einstufung in die höhere Kapitelklasse kommt in Betracht, wenn ein älteres Flugzeug generell oder durch technische Aufrüstung die strengeren Lärmgrenzwerte unterschreitet.53 Gegenwärtig läuft ein Verfahren für ein neues, gegenüber den bestehenden Regelungen weiter verschärftes Chapter.54 In der Praxis relevant sind mittlerweile nur noch Chapter III- und Chapter IVFlugzeuge. Die Grenzwerte von Chapter III-Flugzeugen werden durch Maximalwerte in einem detailliert geregelten Messverfahren ermittelt.55 Chapter IV nimmt Verschärfungen sowohl hinsichtlich der Methode als auch der Höchstwerte vor.56 52 Zertifizierung vor dem 6. Oktober 1977: Chapter II; vor dem 1. Januar 2006: Chapter III; nach dem 1. Januar 2006: Chapter IV. 53 Vgl. Anhang 16 Band I Chapter IV, 4.7 zum ICAO-Abkommen. 54 Am 14. Februar 2013 hat die ICAO mitgeteilt, dass sich das Committee on Aviation Environmental Protection (CAEP) auf neue Lärmgrenzwerte für neue Flugzeugtypen ab 2017 bzw. ab 2020 (für leichtere Flugzeuge) geeinigt hat. Der Lärmgrenzwert soll um 7 EPNdB unter den jetzigen Chapter IV-Lärmgrenzwerten liegen. Nach Konsultation mit den Mitgliedstaaten wird dieses Verhandlungsergebnis dem Rat der ICAO zur Abstimmung vorgelegt werden, der dann die neuen Lärmgrenzwerte beschließen und somit ein neues Klassifizierungs-Chapter einführen kann. Die Mitteilung ist abrufbar unter: http://www.icao.int/News room/News%20Doc%202013/COM.4.13.EN.pdf, Stand: 16.7. 2013. 55 Einen guten Überblick über das Messverfahren sowie eine Bewertung des Regelwerkes bietet das UBA-Gutachten, a.a.O., S. 43 – 51 (Darstellung), S. 51 – 59 (Bewertung): Das Messverfahren zur Ermittlung der Lärmgrenzwerte ist für die relevanten Chapter III- und für Chapter IV-Flugzeuge ist einheitlich im Appendix 2 des Anhangs 16 geregelt. Insgesamt sind drei Referenzmesspunkte maßgeblich, zwei für den Start und einer für die Landung: * Ein Überflug-Lärmmesspunkt in 6.500 m Entfernung vom Startpunkt auf einer gedachten Verlängerung der Mittellinie der Startbahn (flyover-reference noise measure point), * ein seitlicher Lärmmesspunkt auf einer Linie im Abstand von 450 m zur Mittellinie der Startbahn, an dem der Lärmpegel sein Maximum erreicht (lateral full-power reference noise measurement point), * ein Landeanflug-Lärmmesspunkt auf der verlängerten Mittellinie der Landebahn, der 120 m senkrecht unterhalb des 3-Grad-Gleitpfades liegt, was im ebenen Gelände zirka 2 km vor der Landebahnschwelle bedeutet (approach reference noise measurement point). Hinsichtlich der Chapter III Flugzeuge gelten nun – abhängig vom maximalen Startgewicht und der Anzahl der Triebwerke – folgende Messwerte an den einzelnen Referenzpunkten:

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Wir sehen also eine Produktharmonisierung auf höchster Ebene, die Mindeststandards festlegt. Die Einhaltung dieser völkerrechtlichen Mindeststandards gewährt aber grundsätzlich noch keinen Anspruch, die lärmzertifizierten Flugzeuge auf allen Flughäfen ohne Rücksicht auf deren lokalen Besonderheiten einsetzen zu können.57 2. Dezentrale lärmbedingte Betriebszeitenbeschränkungen Auch die ICAO geht davon aus, dass es trotz der schrittweisen Verschärfung der Lärmgrenzwerte für die Flugzeugtypenzulassung auf der Ebene der Mitgliedstaaten weiterhin das Bedürfnis nach flughafenbezogenen Maßnahmen zum Schutze der Bevölkerung vor Fluglärm gibt. Die ICAO versucht aber die einzelnen Maßnahmen zur Bekämpfung von Fluglärm (noise management), insbesondere lärmbezogene Betriebsbeschränkungen (operating restrictions), einheitlichen Leitlinien zu unterstellen und hierdurch auf das notwendige Maß zu beschränken. Die Leitlinien der ICAO finden ihre Grundlage in der auf der 33. Generalversammlung verabschiedeten Resolution A33-7 „Consolidated statement of continuing ICAO policies and practices related to environmental protection“58, insbesondere in deren Appendix C.59 Das Kernstück der Leitlinien bildet der sog. „ausgewogene Ansatz“ (balanced approach)60, der für die Mitgliedstaaten auch völkerrechtlich verbindlich geworden ist,

Am Überflug-Lärmmesspunkt: zwischen 89 und 106 EPNdB (Effective perceived noise level), * am seitlichen Lärmmesspunkt: zwischen 94 und 103 EPNdB, * am Landeanflug-Lärmmesspunkt: zwischen 98 und 105 EPNdB. Eine gewisse Verrechnung ist jedoch möglich. Denn sollte an einem oder zwei Messpunkten der Grenzwert um maximal zwei Einheiten, in der Summe aber nicht um mehr als drei Einheiten überschritten sein, so kann diese Überschreitung durch eine mindestens ebenso große Unterschreitung kompensiert werden (3.5. Trade-offs Chapter III Anhang 16 Band I). 56 Die Verschärfung der Lärmgrenzwerte durch Einführung des Chapters IV wurde in Anknüpfung an die Grenzwerte des Chapters III vollzogen. Die eingeschränkte Saldierungsmöglichkeit von Grenzwertüberschreitungen an den verschiedenen Referenzmesspunkten wurde abgeschafft. Zusätzlich muss die Summe aller drei Messpunktergebnisse mindestens zehn Einheiten kleiner sein als die Summe der nach Chapter III zulässigen Lärmgrenzwerte und die Summe von jeweils zwei der Messpunktergebnisse muss mindestens um zwei Einheiten kleiner sein als die Summe der an ihnen zulässigen Chapter III-Höchstwerte. 57 Vgl. Gronefeld, Die Berücksichtigung der Lärmklassifizierung von Flugzeugen in der Flughafenplanung, in: Ziekow (Hrsg.), Beschränkung des Flughafenbetriebs – Planfeststellungsverfahren – Raumordnungsrecht, 2004, S. 80; Hobe/Stoffel, ZLW 2003, 1, 9. 58 Abrufbar unter: http://www.icao.int/environmental-protection/Documents/STATE MENTS/A33-7.pdf, Stand: 16.7. 2013. 59 Bestätigt durch ICAO Assembly Resolutions A35-5 und A36-22. 60 Vgl. hierzu nur Stoffel, Anforderungen der Betriebsbeschränkungsrichtlinie und ihrer Umsetzung in das deutsche Recht, in: Ziekow (Hrsg.), Beschränkungen des Flughafenbetriebs *

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was für die lediglich in der Resolution enthaltenen Leitaussagen aufgrund des Wortlauts und ihres Charakters als „soft law“ nicht im strikten Sinne gilt.61 Nach dem „ausgewogenen Ansatz“ ist zunächst das Lärmproblem (noise problem) an einem konkreten Flughafen genau zu identifizieren. Anschließend sollen alle zur Lärmreduzierung in Betracht kommenden Maßnahmen sorgfältig ausgewertet werden, wobei vier Hauptelementen besondere Bedeutung zuzumessen ist: der Reduzierung des Fluglärms an der Quelle, Maßnahmen der Landes- und Flächennutzungsplanung, lärmmindernden Betriebsverfahren sowie, wenn auch ausdrücklich nicht als vorrangiges Mittel, lärmbedingten Betriebsbeschränkungen.62 Diese Möglichkeit lärmbedingter Betriebsbeschränkungen führt zum Benutzungsvorteil. Wir sehen bereits das bewährte Grundschema allgemeiner Produktstandards und differenzierter Benutzungsregelungen für besondere Problemlagen. Die Ausgestaltung des Verhältnisses beider Ansätze ist allerdings rechtlich kompliziert und umstritten. Das der Produktharmonisierung gegenläufige Benutzungsregime wird nachfolgend von unten nach oben dargestellt, so dass abschließend auf der europäischen Ebene der zentrale Streit um die Zulässigkeit einer Differenzierung für die relativ modernen Flugzeuge des Chapter IV behandelt werden kann. a) Ausgangslage: Individuelle Betriebszeitenregelungen an deutschen Verkehrsflughäfen Anders als im Fall der Landeplätze existiert für Verkehrsflughäfen63 in Deutschland keine allgemeine gesetzliche Regelung im Hinblick auf die zeitliche Zulässigkeit von Flugbewegungen bestimmter Flugzeuge. Beschränkungen von Betriebszeiten können aufgrund der konkreten Situation vor Ort für einzelne Flughäfen aber entweder im Rahmen des luftfahrtbehördlichen Genehmigungsverfahrens nach § 6 LuftVG oder während des nach § 8 Abs. 1 LuftVG erforderlichen Planfeststellungsverfahrens nach § 8 Abs. 4 LuftVG getroffen werden.64 – Planfeststellungsverfahren – Raumordnungsrecht, 2004, S. 52 ff.; Giesecke, Nachtflugbeschränkungen und Luftverkehrsrecht, 2006, S. 54 f. 61 Zur Bindungswirkung der Resolution A33-7 und zur Einordnung als „soft law“ vgl. Giesecke, a.a.O., S. 59. 62 Konkretisierende Hilfestellung für die Anwendung des „ausgewogenen Ansatzes“ bietet die Guidance on the Balanced Approch to Aircraft Noise Management (Doc 9829). Das Verhältnis dieser Elemente zueinander bestimmt die Resolution ansonsten nicht. 63 Als Flughäfen gelten solche Flugplätze, die nach Art und Umfang des vorgesehenen Flugbetriebs einer Sicherung durch einen Bauschutzbereich nach § 12 LuftVG bedürfen (§ 38 Abs. 1 LuftVZO). Sie werden nach § 38 Abs. 2 LuftVZO entweder als Flughäfen des allgemeinen Verkehrs (Verkehrsflughäfen) oder für besondere Zwecke (Sonderflughäfen) genehmigt. 64 Allgemein zum Genehmigungsverfahren nach § 6 LuftVG und zum Planfeststellungsverfahrens nach §§ 8 ff. LuftVG siehe Schwenk/Giemulla, a.a.O., S. 508 ff. (Genehmigung) und S. 540 ff. (Planfeststellung). Es gehört zu den – in der Literatur oft kritisiert und als

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An allen maßgeblichen Verkehrsflughäfen in Deutschland wurden auf dieser Grundlage zum Schutz der Flughafenumgebung vor Lärmeinwirkungen in den Nachtstunden65 bestimmte Einschränkungen des Flugbetriebs festgesetzt.66 Trotz der inhaltlichen Unterschiede hinsichtlich Art und Umfang der Beschränkungen ist allen zeitlichen Betriebsregelungen die Orientierung an den Lärmeinstufungen von Flugzeugen anhand der Kapitel des Anhangs 16 Band I zum ICAO-Abkommen gemeinsam.67 Ergänzend wird auf die sogenannte Bonusliste des Bundesverkehrsministeriums68 Bezug genommen, die nochmals lärmbezogene Differenzierungen innerhalb der Chapter III-Flugzeuge vornimmt.69 Für den Flughafen Düsseldorf70 etwa hat das Ministerium für Bauen und Verkehr NRW zur Verminderung der Lärmauswirkungen auf die Umgebung, gestützt auf § 6 LuftVG, u. a. geregelt, dass Chapter III-Flugzeuge aus der Bonusliste in den Abendrandstunden eine Stunde länger planmäßig den Flughafen anfliegen dürfen als andere Chapter III-Flugzeuge. Eine Differenzierung innerhalb von Chapter IV-Flugzeugen wird hier nicht vorgenommen, aber sich verschärfende Lärmprobleme auf den Flughäfen werfen bereits die Frage nach der Zulässigkeit auch solcher Differenzierungen auf. b) Der maßgebliche Rechtsrahmen: RL 2002/30/EG Der nationale Rechtsrahmen für Betriebszeitenregelungen wird schon länger durch die europäische Ebene überformt. Die gegenwärtig zentralen Vorgaben erfolmissglückt empfundenen, in der Praxis aber wohl nur noch selten Probleme verursachenden – Besonderheiten des luftverkehrsrechtlichen Zulassungsverfahrens, dass Planfeststellungsverfahren und Genehmigungsverfahren in der Regel kumulativ durchzuführen sind. Hierzu mit weiteren Nachweisen etwa Franke, Lärmgrenzwerte für die Planung von Verkehrsflughäfen, 2003, S. 67 – 78. Unter dem Gesichtspunkt des Fluglärmschutzes zu beiden Verfahren ebenso Stoermer, Der Schutz vor Fluglärm unter besonderer Berücksichtigung der luftverkehrsrechtlichen Zulassung von Flughäfen und der Festlegung der Flugverfahren, 2005, S. 78 ff. (Genehmigung) und S. 105 ff. (Planfeststellung). Nachträglich notwendig werdende Änderungen der betrieblichen Regelungen sind in beiden Fällen nach § 6 Abs. 4 S. 2 LuftVG, ggf. i.V.m. § 8 Abs. 4 S. 2 LuftVG möglich. 65 Zu Nachtflugbeschränkungen allgemein vgl. Deutsch, Nachtflugverbote im Luftverkehr – Versuch einer Systematisierung, in: Ziekow (Hrsg.), Beschränkungen des Flughafenbetriebs – Planfeststellungsverfahren – Raumordnungsrecht, 2004, S. 9 ff. 66 Für eine – auch weltweite – Übersicht zu lärmbezogenen Betriebs(zeit)beschränkungen siehe http://www.boeing.com/boeing/commercial/noise/listcountry.page, Stand: 16.7. 2013. 67 Zur Bedeutung der völkerrechtlichen Regelungen für die Lärmklassifizierung vgl. auch Gronefeld, Die Berücksichtigung der Lärmklassifizierung von Flugzeugen, a.a.O., S. 71, 78 ff. 68 Aktuell in der Bekanntmachung vom 20.3. 2003 in NfL I 83/03. 69 Zur Bonusliste allgemein vgl. Geisler, ZLW 1997, 307 ff.; speziell zu grundrechtlichen Fragestellungen Pieroth/Görisch, ZLW 2000, 17 ff. sowie Giemulla, ZLW 2000, S. 30 ff.; aus der Perspektive des allgemeinen Lärmschutzes ferner Koch, NVwZ 2000, S. 490, 498. 70 Die Nachtflugbeschränkungen des Flughafen Düsseldorfs können abgerufen werden unter: http://www.brd.nrw.de/verkehr/nachtflugbeschraenkung_duesseldorfer_flughafen/ pdf/NFB_DUS_Aenderung_2007_Text_MBl.pdf.

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gen durch die Richtlinie 2002/30/EG.71 Sie überführt die relevanten Leitlinien der ICAO weitgehend in das Gemeinschaftsrecht, führt den „ausgewogenen Ansatz“ ein, der das an der Lärmsituation des einzelnen Flughafens orientierte Vorgehen vorschreibt, und soll dazu beitragen, dass auf Flughäfen mit weitgehenden vergleichbaren Lärmproblemen die gleichen Betriebsbeschränkungen eingeführt werden (vgl. Erwägungsgrund 7). Die Richtlinie wurde durch die §§ 48a – 48f LuftVZO in durchaus missverständlicher Weise in das deutsche Recht umgesetzt. Für die Frage nach Benutzungsvorteilen durch Differenzierung wird deshalb nachfolgend die Richtlinie in Bezug genommen. Dabei ergibt sich ein gemischtes Bild: Die radikalste Differenzierung bildet ein Benutzungsverbot für bestimmte Flugzeugtypen, das im Luftverkehrsjargon „vollständiger Abzug“ genannt wird. Einen solchen vollständigen Abzug erlaubt die Richtlinie für bestimmte Flugzeugtypen. Sie lässt zunächst nach Art. 6 Abs. 1 dabei eine Differenzierung auch innerhalb der Chapter III-Flugzeuge zu. Bei Stadtflughäfen darf wegen der besonderen Probleme im Ergebnis sogar ein Abzug aller Chapter III-Flugzeuge vorgenommen werden. Die Regelungen dürfen aber die neueren und leiseren Chapter IV-Flugzeuge nicht erfassen. Weil in den Regelungen zum Abzug der Chapter III-Flugzeuge ausdrücklich erwähnt wird, dass Chapter IV-Flugzeuge selbst bei Stadtflughäfen nicht erfasst werden dürfen, ergibt sich im Erst-Recht-Schluss, dass ein Abzug von Chapter IV-Flugzeugen bei sonstigen Flughäfen nicht zulässig wäre. Benutzungsdifferenzierungen bei den Chapter IV-Flugzeugen können also allenfalls in partiellen Betriebsbeschränkungen, sprich: in Privilegierungen relativ leiserer Flugzeuge hinsichtlich der Start- und Landezeiten bestehen. Hier liegt der zentrale Streit. Sind solche Differenzierungen zulässig? Teilweise wird darauf verwiesen, dass solche Differenzierungen schon den völkerrechtlichen Vorgaben nicht entsprechen würden.72 Dabei wird insbesondere auf die Nr. 4 des Appendix E zur Resolution A33-7 der ICAO abgestellt.73 Unabhängig von der Auslegung der dortigen Formulierungen74 kann dieses Argument rechtlich aber nicht durchgreifen, weil die Resolution nicht rechtlich verbindlich ist.75 71

Vgl. zur Richtlinie Stoffel, a.a.O., S. 49 ff.; Giesecke, Nachtflugbeschränkungen und Luftverkehrsrecht, 2006, S. 111 ff., Gronefeld, Die Berücksichtigung der Lärmklassifizierung von Flugzeugen in der Flughafenplanung, a.a.O., S. 82 ff.; UBA-Gutachten, a.a.O., S. 26 ff. 72 So kommt Giesecke, Nachtflugbeschränkungen und Luftverkehrsrecht, 2006, S. 58 nach einer sorgfältigen Analyse unter Auswertung der Materialien zur Resolution zu dem Ergebnis, dass aufgrund der Resolution Chapter IV-Flugzeuge von keinen Betriebsbeschränkungen betroffen werden sollen, „welche darauf abzielen, den Zugang zu einem Flughafen zu beschränken.“ 73 Giesecke, a.a.O., S. 55 ff. 74 Unentschieden Stoffel, a.a.O., S. 56: „Welche Aussage zutrifft, kann daher zurzeit nicht mit hinreichender Sicherheit gesagt werden. (…) Daher bleibt es abzuwarten, wie sich die

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Die rechtlich verbindlichen Regelungen sind vielmehr der EU-Richtlinie zu entnehmen. Diese Richtlinie unterscheidet aber gerade bei den Betriebsbeschränkungen ausdrücklich zwischen dem vollständigen Abzug und partiellen, also zeitlichen Betriebsbeschränkungen.76 Die Regelungen des Art. 6 der Richtlinie, aus denen im ErstRecht-Schluss das Verbot des vollständigen Abzugs von Chapter IV-Flugzeugen geschlossen wurde, trifft deshalb keinerlei Aussage über eventuelle partielle Betriebsbeschränkungen. Deshalb bemisst sich die Zulässigkeit solcher Regelungen nur nach den allgemeinen Vorgaben und Maßstäben, welche die Richtlinie für alle Betriebsbeschränkungen aufstellt. Soweit es nicht auf einen de facto-Abzug hinausläuft, sind hiernach partielle Betriebsbeschränkungen im Rahmen des „ausgewogenen Ansatzes“ unter Einhaltung von Verhältnismäßigkeit und Nicht-Diskriminierung zulässig.77 Teilweise wird entgegengehalten, dass partielle Betriebsbeschränkungen aber Art. 4 Abs. 4 der Richtlinie widersprächen.78 Dort ist geregelt, dass leistungsbedingte Betriebsbeschränkungen an die Lärmwerte des Luftfahrzeugs aus der Lärmzertifizierung nach den ICAO-Regeln anknüpfen müssen. Dies kann aber nicht entgegenstehen, weil ja nicht die Anknüpfung an die übergreifende Chapter-Einteilung gefordert wird, sondern eine solche an die Lärmwerte des Luftfahrzeugs. Dieser ermöglicht aber gerade Differenzierungen und schließt sie nicht aus. Im Ergebnis sind also zeitliche Benutzungsvorteile im Rahmen lokal erforderlicher Lärmbegrenzungen auch innerhalb der Klasse der Chapter IV-Flugzeuge zulässig. Dieses Ergebnis wird auch durch den von der Kommission vorgelegten Vorschlag79 für eine Verordnung über Regeln und Verfahren für lärmbedingte Betriebsbeschränkungen bestätigt. Der Vorschlag bringt in seinem Art. 4 die Möglichkeiten und Grenzen der Betriebsbeschränkungen sehr viel klarer zum Ausdruck als dies der Staatenpraxis im Hinblick auf die Beschränkung von Kapitel-4 Flugzeugen entwickeln wird“; ebenso Hobe/Stoffel, Rechtsgutachten über rechtliche Fragestellungen zur Umsetzung eines „Nachtflugverbots“, vorgelegt für das Regionale Dialogforum am Flughafen Frankfurt, August 2002, S. 115: „Ob diese oder die restriktive Auslegung zutrifft, kann daher zurzeit nur als offen bezeichnet werden.“ 75 So im Hinblick auf die Bindungswirkung der Resolution A33-7 im Ergebnis zutreffend daher auch Giesecke, a.a.O., S. 60, der zwar eine „de facto-Verbindlichkeit“ konstatiert, aber zugleich einräumt, dass ein Staat gegen die Aussagen der Resolution verstoßen kann, ohne sich dabei völkerrechtswidrig zu verhalten. Ebenso Hobe/Stoffel, a.a.O., S. 119: „Eine strikte Rechtsbindung wird daraus nicht abzuleiten sein“. 76 Vgl. UBA-Gutachten, a.a.O., S. 32. 77 Wie hier zutreffen bereits Giesecke, a.a.O., S. 122: „Nachtflugbeschränkungen auf Zeitbasis wie z. B. Nachtflugverbote sind damit generell möglich.“ Ebenso jedenfalls im Ergebnis die Autoren des UBA-Gutachtens, a.a.O., S. 39. Unklar hinsichtlich des Ergebnisses bleibt Stoffel, a.a.O., S. 65; zweifelnd bezüglich der Vereinbarkeit der Differenzierung Hobe/ Stoffel, a.a.O., S. 208. 78 UBA-Gutachten, a.a.O., S. 33, mit der Folgerung, dass eine Chapter IV Bonusliste mit dem Ziel von Betriebsbeschränkungen nicht zulässig sei. 79 Abrufbar unter: http://eur-lex.europa.eu/LexUriServ/LexUriServ.do?uri=COM:2011: 0828:FIN:DE:PDF, Stand: 16.7. 2013.

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Richtlinie – und erst Recht im Vergleich zur nationalen Umsetzung in den §§ 48a ff. LuftVZO – gelungen ist.

V. Fazit Benutzungsvorteile haben nicht die Bedeutung erlangt, die ihnen zur Jahrtausendwende zugeschrieben wurde. Dies beruht vor allem auf einer damaligen Fehleinschätzung. Benutzungsvorteile sind keine sinnvollen Anreizmechanismen zur Optimierung umweltbelastender Produkte. Sie sind gemeinsam mit der Produktstandardisierung zu betrachten und dienen hier regelmäßig der lokalen Feinabstimmung in besonderen Lagen. Mit dieser Funktion sind sie zugleich ein Warnsignal und Korrektiv für die Produktstandardisierung. Wenn zu viele oder zu einschneidende lokale Sonderregelungen notwendig werden, wird deutlich, dass die Produktstandards ihre Aufgabe, im Regelfall die Umweltverträglichkeit der Verwendung zu gewährleisten, nicht mehr erfüllen. Sie müssen dann nachgebessert werden. Hier findet sich dann ja immerhin noch so etwas wie eine gewisse Antriebswirkung.

Preisprivilegien und Umweltsiegel im Dienste des Umweltschutzes Von Claudio Franzius

I. Privilegien im Recht Das Privileg ist im modernen Verfassungsstaat verpönt. Ob Apothekerprivileg, Abgeordneten- und Parteienprivilegien, richterliches Haftungsprivileg oder soziale Privilegien: Das Privileg hat in demokratischen Gesellschaften keinen guten Klang und trägt das Unwerturteil bereits in sich. Ein dirty word also. Das Bundesverfassungsgericht konstatiert: „Die Demokratie des Grundgesetzes ist eine grundsätzlich privilegienfeindliche Demokratie.“1 Warum sprechen wir also von Privilegien und nicht, wie bislang üblich, von Vorteilen für den Umweltschutz? Beim Privileg handelt es sich um einen historisch schwierigen Begriff.2 Ursprünglich war es ein politischer Kampfbegriff oder, wie es am Vorabend der französischen Revolution Abbé Sieyès formulierte, eine erbärmliche Erfindung.3 Ihm zufolge haben alle Privilegien nur den Zweck, entweder vom Gesetze zu befreien oder jemanden ein ausschließliches Recht auf etwas zu geben, das nicht durch das Gesetz verboten ist. Das Wesentliche des Privilegiums bestehe darin, dass man außer das gemeine Recht gestellt werde. Privilegien symbolisieren die Ungleichheit im Ancien Régime. Die Verfassung von 1791 schafft alle Vorrechte und Privilegien ab. In Deutschland stellte sich die Situation anders dar. Zwar wirkte sich das französische Versprechen, alle Privilegien abzuschaffen, auf die Privilegienlehre des deutschen Staatsrechts aus. Nach und nach wurden – nicht revolutionär, sondern evolutiv, man sprach von Jahrhunderten – die wohlerworbenen Rechte durch subjektive Rechte ersetzt.4 Das Privileg blieb jedoch ein Rechtsbegriff und noch heute erweist sich die Kritik am Privileg der Anderen häufig als eine Klage über den Mangel an eigenen Privilegien, nicht aber als Wunsch nach der Beseitigung der Privilegien selber. Privilegien sind ein Strukturmerkmal, aber mit dessen Verleihung auch ein Steuerungs1

BVerfGE 40, 296 (317). Vgl. Mohnhaupt, Die Unendlichkeit des Privilegienbegriffs, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 1, 1997, S. 1. 3 Sieyès, Über Privilegien, in: Foerster (Hrsg.), Abhandlung über die Privilegien. Was ist der der dritte Stand?, 1968 (1788). 4 Henke, System und Institute des öffentlichen Rechts, DVBl. 1983, 982 (986 f.). 2

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mittel des Staates im 19. Jahrhundert. Zwar ließ sich die Gewerbefreiheit gegen privilegierte Rechtspositionen ins Feld führen.5 Aber erst unter dem Grundgesetz erhalten der Freiheits- und der Gleichheitsgedanke die Kraft, mit der Figur des Privilegs zu brechen. Nachdem die Legitimation von Privilegien weggefallen war, bestand für den Privilegienbegriff auch keine juristische Restfunktion mehr.6 Aus den Lehrbüchern des Staats- und Verwaltungsrechts ist der Begriff verschwunden.7 Warum also Privilegien? Meine erste These lautet: Das hat mit grundlegenden Grenzverschiebungen im modernen Staat zu tun. Eine Grenze, die verschwimmt, wenn auch nicht aufgegeben wird, ist die Grenze zwischen öffentlich und privat. Mit der Privatisierung der Umweltüberwachung werden Freiräume geschaffen, die über eine Anreizpolitik und die Einräumung von Privilegien für umweltschonendes Verhalten gesteuert werden sollen. Die zweite Grenze, die Erosionen ausgesetzt ist, betrifft die „Innen-Außen“ Grenze. Denn mit der Aktivierung der Marktkräfte und der Steuerung des Verbraucherverhaltens geht ein europäischer Koordinierungsbedarf einher, der die traditionelle Grenze von inneren und äußeren Angelegenheiten des Staates brüchig werden lässt. Die privilegienfeindliche Gleichheit und Nichtdiskriminierung, wie sie in Art. 3 GG angelegt ist, erhält durch die Grundfreiheiten und das europäische Beihilfenregime „konstitutionelle Zähne“ und es erweitern sich die Maßstäbe für die Beurteilung von Privilegien im Recht. Diese Erosionen, Verschiebungen und Neuarrangements von Staatlichkeit werfen die Frage auf, ob die Verabschiedung vormoderner Kategorien aus dem Recht nur ein vorübergehender Abschied war.8 Führt die Rückkehr eudämonistischer Staatszwecke, wie es für die Anreizpolitik indirekter Verhaltenssteuerung9 oder das Regulierungsrecht10 befürchtet wird, zu einer Rückkehr des Privilegs? Werden dadurch Errungenschaften des Rechtsstaates, wird die Idee gleicher Freiheit preisgegeben?

II. Umweltschutz: Wer wird privilegiert? Dem kann hier nicht im Detail nachgegangen werden. Dramatisierungen sind jedoch fehl am Platze. Denn im Umweltrecht ist schon unsicher, wer überhaupt privilegiert wird. Das ist meine zweite These, die ich an drei Beispielen erläutern möchte: 5

Vgl. Kloepfer, Technik und Recht im wechselseitigen Werden, 2002, S. 18 ff. Klippel, Das Privileg in der deutschen Staatsrechtslehre des 19. Jahrhunderts, in: Dölemeyer/Mohnhaupt (Hrsg.), Das Privileg im europäischen Vergleich, Bd. 2, 1999, S. 285 (308). 7 Näher Rodi, Das Rechtsprivileg als Steuerungsmittel im Umweltschutz, in diesem Band. 8 Zur Frage, wie Recht und Politik unter veränderten Vorzeichen zusammenfinden: Franzius, Recht und Politik in der transnationalen Konstellation, im Erscheinen. 9 Di Fabio, Verwaltung und Verwaltungsrecht zwischen gesellschaftlicher Selbstregulierung und staatlicher Steuerung, VVDStRL 56 (1997), S. 235. 10 Schorkopf, Regulierung nach den Grundsätzen des Rechtsstaates, JZ 2008, 20. 6

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1. Privilegierung der Umweltschützer? Häufig ist so hören, dass umweltschützendes Handeln belohnt oder eben privilegiert wird. Dahinter kann man durchaus ein Fragezeichen setzen. Schon die Grundrechtsdogmatik stellt umweltbelastendes Handeln besser als umweltschützendes Handeln. Typischerweise ist es so, dass sich der Umweltgüter in Anspruch nehmende Nutzer auf die Freiheitsrechte als Abwehrrechte berufen kann, der Umweltschützer dagegen – wie der Waldeigentümer – nur auf die staatlich mediatisierten Schutzpflichten. Versuchen, diese strukturelle Asymmetrie zugunsten einer Engerfassung der grundrechtlichen Schutz- und Gewährleistungsbereiche11 zu mildern, begegnen weite Teile die Staatsrechtslehre mit Argwohn.12 Von einer grundrechtlichen Privilegierung der Umweltschützer kann jedenfalls keine Rede sein. Aber auch im Verwaltungsprozessrecht, wo das subjektive öffentliche Recht das Erbe des Rechtsprivilegs angetreten ist, stellen sich Fragen. Werden durch die Verbandsklage die Umweltverbände gegenüber den Individualklägern privilegiert? Das wird – jüngst auch vom Reformgesetzgeber des novellierten Umwelt-Rechtsbehelfsgesetzes13 – so gesehen, kann und muss aber bezweifelt werden. Die Klageberechtigung der Umweltverbände ist keine Privilegierung, sondern eine Beseitigung überkommener Privilegien, die in der Schutznormlehre perpetuiert werden und das objektive Umweltrecht, wozu die Vorsorgenormen gehören, der gerichtlichen Überprüfung entziehen. Denn die prozessuale Sonderstellung der Umweltverbände stellt den Individualrechtsschutz nicht in Frage, sondern hilft Lücken zu schließen, die bei der Durchsetzung umweltrechtlicher Normen durch die subjektiv-rechtlichen Beschränkungen der Individualklage entstehen.14 Der Stärkung des überindividuellen Rechtsschutzes mögen dogmatische Bedenken im Weg stehen, eine Privilegierung der Umweltverbände ist es nicht. 2. Privilegierung umweltschonender Stromproduktion? Sehr viel anschaulicher kann im Fall der „Energiewende“ von Privilegien gesprochen werden. Ist es richtig, von einer Privilegierung der umweltschonenden Stromproduktion, also dem viel zitierten Zahnarzt mit dem Solardach, zu sprechen? Den Kampf gegen die Ökologisierung der Stromproduktion haben die großen Energie11

BVerfGE 105, 252 (271 ff.) Glykol; 106, 275 (298 ff.) Festbetrag; 116, 202 (221 ff.) Tariftreue. Für den Umweltschutz Bruch, Umweltpflichtigkeit der grundrechtlichen Schutzbereiche, 2012, S. 22 ff. 12 Statt vieler Schoch, Entformalisierung staatlichen Handelns, in: Isensee/Kirchhof (Hrsg.), HStR III, 3. Aufl. 2005, § 37 Rn. 111 f.; anders Hoffmann-Riem, Enge oder weite Gewährleistungsgehalte der Grundrechte?, in: Bäuerle u. a. (Hrsg.), Haben wir wirklich Recht?, 2004, S. 53 ff. 13 § 4a UmwRG und die Begründung der Bundesregierung, BT-Drs 17/10957, 17; krit. Schlacke, in: Gärditz (Hrsg.), VwGO, 2013, Vorbem. zu §§ 1 – 6 UmwRG Rn. 67. 14 Franzius, Aktuelle Probleme des Umweltrechtsschutzes, in: FS Kloepfer, 2013, S. 377 (383).

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konzerne und die stromintensive Industrie verloren, nicht aber aufgegeben, sich ihre Zustimmung zur Förderung erneuerbarer Energien mit der Einräumung von Privilegien zu erkaufen. Das Zeitalter der Privilegien ist allem Anschein nach nicht zu Ende, eher eine Refeudalisierung des politischen Systems zu beobachten, indem politische Angriffsflächen für die Energiewende durch Kostenentlastungen für stromintensive Verbraucher abgemildert werden. Weil dies auf Kosten aller anderen nicht-privilegierten Letztverbraucher geschieht, kann von echten Privilegien gesprochen werden. So hat das Erneuerbare-Energien-Gesetz (EEG) einen Wälzungsmechanismus geschaffen, mit dem hohe Beträge für die Förderung der Erzeugung von Strom aus erneuerbaren Energien bereitgestellt werden. Allerdings hat der Erfolg seinen Preis. Denn die EEG-Umlage ist kontinuierlich gewachsen. Für die Regel, wonach die EEG-Umlage für jede „gelieferte“ Kilowattstunde erhoben wird, macht das Gesetz drei gewichtige Ausnahmen. Zu nennen sind das Grünstromprivileg, das Eigenstromprivileg und die Ausgleichsregelung nach §§ 40 ff. EEG.15 Befreiungen von der Umlage führen für alle anderen Stromverbraucher zu einer Erhöhung der Umlage, die inzwischen ein Viertel der gesamten EEG-Umlage ausmacht. Dahinter steht der jedem Privileg inhärente Vorwurf mangelnder Verteilungsgerechtigkeit. Für Aufsehen sorgte jüngst die Entscheidung des OLG Düsseldorf, das die Befreiung der stromintensiven Industrie von der Zahlung der Netzentgelte für rechtswidrig16 und die zugrundeliegende Vorschrift des § 19 Abs. 2 StromNEV für nichtig erklärt hat.17 Mit dieser Regelung, in der heißen Phase der Gesetzgebung nach der Atomkatastrophe von Fukushima im Sommer 2011 geschaffen, wurde die ursprüngliche Regelung, wonach die Unternehmen mit ihrem Netzbetreiber nur ein individuelles, bis auf 20 % reduziertes Netzentgelt vereinbaren konnten, durch die Regelung ersetzt, sich grundsätzlich von den Netzentgelten befreien zu lassen, wenn sie mehr als 7000 Arbeitsstunden und 10 Gigawattstunden pro Jahr abnehmen. Während die Bundesnetzagentur darauf verweist, dass die stromintensiven Betriebe aufgrund ihres hohen Verbrauchs netzstabilisierend wirken, rügten die Kläger das Schaffen von Fehlanreizen für einen erhöhten Stromverbrauch, um die Befreiungsschwelle von 10 Gigawatt im Jahr zu überschreiten.

15 Vgl. Kachel, Die besondere Ausgleichsregelung im EEG als Instrument zur Entlastung der stromintensiven Industrie, ZUR 2012, 32; Gawel, Umweltschutz als Abgabenprivileg, in diesem Band. 16 OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.3. 2013, VI-3 Kart 14/12 (V) u. a. Überraschend war die Entscheidung nicht, vgl. im einstweiligen Rechtsschutz bereits OLG Düsseldorf, Beschl. v. 14.11. 2012, VI-3 Kart 14/12 (V) Rn. 65 ff. sowie Beschl. v. 12.12. 2012, VI-3 Kart 46/12 (V) Rn. 37 ff. 17 Im Gesetzgebungsverfahren geänderte Rechtsverordnungen erhalten keinen Gesetzesrang, sondern bleiben Rechtsverordnungen, vgl. BVerfGE 114, 196; Maurer, Allgemeines Verwaltungsrecht, 18. Aufl. 2011, § 4 Rn. 53. Danach ist die Verwerfungskompetenz der Fachgerichte nicht ausgeschlossen.

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Der Düsseldorfer Kartellsenat vermisst eine ausreichende gesetzliche Ermächtigungsgrundlage. Nach § 24 EnWG sei der Verordnungsgeber nur ermächtigt, die Methode zur Bestimmung der Entgelte festzulegen. Da die Methode die Ausgewogenheit von Leistung und Gegenleistung sicherzustellen hat, sei der Verordnungsgeber zwar befugt, auch von einer grundsätzlich gewählten Methode abzuweichen und die Voraussetzungen für individuelle Entgelte zu regeln. Diese Regelungsbefugnis erfasse aber nur das „wie“ mit Blick auf die Ermittlung der Höhe der Entgelte, nicht das „ob“ von Entgelten.18 Bei der in § 19 Abs. 2 StromNEV vorgesehenen Befreiung handele es sich um kein individuelles Netzentgelt, denn der befreite Netznutzer entrichte keine Gegenleistung. Die Befreiung stelle keine methodisch abweichende Entgeltbildung, sondern eine vollständige Ausnahme von der Entgeltpflicht dar. Dem 3. Kartellsenat zufolge handelt es sich um eine Privilegierung und damit ein aliud zu der Entgeltbildung, denn mit der Methode der zu bildenden Entgelte habe sie nichts zu tun. Inzwischen plant die Bundesregierung mit einer Novellierung der Stromnetzentgeltverordnung die bislang „befreiten“ Unternehmen mit bis zu 20 % an den Netzkosten zu beteiligen.19 Am Ziel, die heimische Industrie im globalen Wettbewerb nicht zu benachteiligen, wird jedoch festgehalten, was die Europäische Kommission auf Beschwerden von Energieunternehmen und Verbraucherverbänden veranlasst hat, ein Beihilfeverfahren gegen Deutschland einzuleiten.20 3. Privilegierung der Betriebsorganisation und ökologischen Produktion? Ein drittes Beispiel: Auch im Bereich des Organisations- und Produktrechts ist häufig von Privilegierungen die Rede. Erhält ein Unternehmen, das sich erfolgreich am Umweltaudit beteiligt hat, durch die Vergabe des Umweltsiegels einen ungerechtfertigten Wettbewerbsvorteil? Oder ist es nicht vielmehr so, dass umweltbelastende Unternehmen im Markt bevorzugt werden, etwa im Vergabeverfahren, wo ökologische Kriterien zu den „beschaffungsfremden“ Vergabekriterien zählen. Ähnliche Fragen stellen sich für Preisvorteile durch die Vergabe des Bio-Siegels im ökologischen Landbau. Wird dadurch „Öko“ oder „Bio“ privilegiert? Oder ist es nicht so, dass Kostenvorteile der konventionellen Landwirtschaft abgebaut werden, weil diese bislang für Umweltschäden nicht haftet? Mit anderen Worten: Gleichen Öko- oder Bio-Kennzeichnungen nicht spezifische Nachteile aus, die umweltfreundliche Betriebe oder Produkte im Markt stets ausgesetzt sind? Zusammengefasst: Es ist nicht immer klar, wer überhaupt privilegiert wird. Der Privilegienbegriff ist ideologieanfällig und sollte mit Vorsicht verwendet werden. Vorliegend soll es um das Organisations- und Produktrecht gehen, also um das Um18

OLG Düsseldorf, Beschl. v. 6.3. 2013, VI-3 Kart 14/12 (V) u. a. Vgl. Spiegel ONLINE v. 7.3. 2013, http://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/regierungwill-privilegien-bei-netzentgelten-kappen-a-887439.html (20.4. 2013). 20 Europäische Kommission v. 6.3. 2013, IP/13/191. 19

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weltsiegel für die Betriebsorganisation nach dem EMAS-System (III.) und das BioSiegel nach der EU-Ökobasisverordnung (IV.). Bei der Frage nach der Rechtfertigung von Privilegien begegnen uns die Preisprivilegien der Energiewende wieder (V.).

III. EMAS-Privilegierung 1. Umweltsiegel Ein Umweltsiegel nach den Regelungen über die freiwillige Beteiligung von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für das Umweltmanagement und die Umweltbetriebsprüfung (EMAS)21 bietet Unternehmen einige Vorteile: Das Logo darf zwar nicht auf Produkten, wohl aber in der Außendarstellung des Unternehmens zu Werbezwecken eingesetzt werden. Es ist freilich eine Sache, mit der Vergabe des Umweltsiegels einen Wettbewerbsvorteil gegenüber nicht-auditierten Unternehmen zu erhalten, aber eine andere Sache, mit der Beteiligung an dieser „Selbstüberwachung“22 von ordnungsrechtlicher Kontrolle freigestellt zu werden. Dabei ist zwischen tatsächlichen und rechtlichen Privilegierungen zu unterscheiden: So ist die Anreizsteuerung nicht auf ein tatsächliches Zurückschrauben der behördlichen Kontrolltiefe an auditierten Standorten beschränkt. Um die Teilnahme von Unternehmen an der privatisierten Selbstüberwachung zu erhöhen, erhalten diese staatliche Gegenleistungen in Gestalt rechtlicher Privilegien. Zu nennen sind Überwachungserleichterungen nach §§ 24 WHG, 58e BImSchG, 61 KrWG und der EMAS-Privilegierungsverordnung23 für wiederkehrende Messungen und Funktionsprüfungen, aber auch Nachweiserleichterungen nach § 41 Abs. 1 Nr. 4 EEG.24 Zwar sind die Regelungen insgesamt von Zurückhaltung gekennzeichnet sind, auditierten Unternehmen die volle Organisationsfreiheit einzuräumen. Der Ausbau des EMAS-Systems vom ursprünglichen System- zu einem compliance-Audit25 legt jedoch in Teilbereichen die Annahme einer funktionalen Äquivalenz von privater und behördlicher Fremdkontrolle nahe, woran ordnungsrechtliche Überwachungser-

21 Verordnung (EG) Nr. 1221/2009 des Europäischen Parlaments und des Rates v. 25.11. 2009 über die freiwillige Teilnahme von Organisationen an einem Gemeinschaftssystem für Umweltmanagement und Umweltbetriebsprüfung, ABl L 342 v. 22.12. 2009, 1. 22 Leifer, Das europäische Umweltmanagement EMAS als Element gesellschaftlicher Selbstregulierung, 2007; Nissen, Die EG-Öko-Audit-Verordnung, 1999. 23 Verordnung über immissionsschutz- und abfallrechtliche Überwachungserleichterungen für nach der Verordnung (EG) Nr. 761/2001 registrierte Standorte und Organisationen (EMAS-Privilegierungsverordnung) v. 24.6. 2002, BGBl I 2247. 24 Monografisch: Adam, Die Privilegierung des EMAS-auditierten Unternehmens, 2011; Langerfeldt, Das novellierte Environmental Management and Audit Scheme (EMAS-II) und sein Potential zur Privatisierung der umweltrechtlichen Betreiberüberwachung in Deutschland, 2007. 25 Ewer, in: ders./Lechelt/Theuer, Handbuch Umweltaudit, 1998, Teil E.

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leichterungen im Einzelfall anknüpfen können.26 Ein noch nicht voll ausgeschöpftes „Privilegierungspotential“ dürfte in einer standardisierten, wenn auch nicht automatischen Bevorzugung von EMAS-Anbietern im Vergabeverfahren liegen, also im ökologischen Beschaffungswesen. 2. Voraussetzungen Diese unterschiedlichen Privilegien, die im EMAS-Logo mit dem Zusatz „geprüftes Umweltmanagement“ allenfalls angedeutet werden, knüpfen an ein privatisiertes Verfahrensarrangement an, das einer zurückgenommenen Kontrolle durch den Staat unterworfen ist. Die EMAS-Teilnahme ist mehrstufig aufgebaut: In einem ersten Schritt richtet das Unternehmen ein Umweltmanagementsystem ein und legt die Umwelterklärung vor. Diese wird einer externen Überprüfung durch einen privaten Umweltgutachter unterzogen27 und durch ihn für den Fall, dass alle Vorgaben aus der EMAS III-Verordnung eingehalten sind, für gültig erklärt. Abschließend erfolgt die Eintragung in ein Register, womit das Unternehmen die Befugnis erhält, die Teilnahmeerklärung zur Werbung zu verwenden, aber auch Behörden vorzulegen, um im Gegenzug kostenreduzierende Vollzugserleichterungen zu erhalten.28 Zwar müssen die privaten Gutachter zugelassen sein. Das geschieht in Deutschland durch die „Deutsche Akkreditierungs- und Zulassungsgesellschaft für Umweltgutachter“ (DAU), die als juristische Person des Privatrechts den Status eines Beliehenen hat und in die Richtlinien und Kontrollen des beim Bundesumweltminister gebildeten Umweltgutachterausschuss (UGA) eingebunden ist. Dessen aufsichtsrechtliche Befugnisse gegenüber der beliehenen Stelle sind jedoch auf eine Rechtsaufsicht beschränkt. Die Privatisierung der Umweltüberwachung führt zwar zu keinem Wegfall der staatlichen Aufgabe, verschiebt aber die staatliche Kontrolle auf eine institutionell abgesicherte Kontrolle und Überwachung der privaten Kontrolleure. Das Zertifizierungsverfahren selbst ist dagegen – als Privatverfahren29 – rechtlich 26

Zu Vollzugserleichterungen auf Landesebene hat der Umweltgutachter-Ausschuss einen Leitfaden herausgegeben, vgl. UGA, Fördermöglichkeiten und Privilegierungen für EMASOrganisationen, 2011. 27 Einordnung und Systematisierung Scherzberg, Der private Gutachter im Umweltschutz – Bestandsaufnahme und Entwicklungen im deutschen und europäischen Recht, in: GfU (Hrsg.), Dokumentation zur 29. wissenschaftlichen Fachtagung der Gesellschaft für Umweltrecht e.V., 2006, S. 39 (44 ff.). 28 Es handelt sich also um ein doppelfunktionales Instrument, das neben der Organisationsauch eine Informationsfunktion hat, indem die eigene Umweltleistung mit Hilfe des Umweltzeichens der Öffentlichkeit mitgeteilt wird, vgl. Rehbinder, Ziele, Grundsätze, Strategien und Instrumente, in: Hansmann/Sellner (Hrsg.), Grundzüge des Umweltrechts, 4. Aufl. 2012, § 3 Rn. 353. 29 Näher Appel, Privatverfahren, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2. Aufl. 2012, § 32.

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kaum geregelt, was angesichts der an die Prüftätigkeit des Umweltgutachters geknüpften Folgen für behördliche Vollzugsprivilegierungen überrascht. Diese „Partikularisierung“ der Verfahrensverantwortung30 ist nicht unproblematisch, woran qualitätssichernde Vorgaben für die Zulassung und Kontrolle der privaten Umweltprüfer nichts ändern. Denn diese Vorgaben betreffen das Verhältnis des Staates zum Umweltgutachter, nicht aber das Verhältnis des Umweltgutachters zum teilnehmenden Unternehmen und rechtfertigen es nicht, das Verfahren privater Umweltprüfungen ungeregelt zu lassen.31 Es kann hier zwar nicht darum gehen, die Umweltgutachter direkten Bindungen an öffentlich-rechtlichen Normen zu unterwerfen und sich damit dem Etatisierungsvorwurf32 auszusetzen, wohl aber darum, die gewährleistungsrechtlichen Gebote der sachgerechten Aufgabenwahrnehmung, der gleichmäßigen Interessenberücksichtigung und der hinreichenden Neutralitätssicherung im privaten Sektor wirksam werden zu lassen. Hieraus ergibt sich meine dritte These: Eine weitergehende Privilegierung eingetragener EMAS-Unternehmen setzt gemeinwohlsichernde Ausprägungen des privaten Zertifizierungsverfahrens voraus. Das Vertrauen darauf, dass Zertifizierungsmärkte unter Wettbewerbsbedingungen die gesetzlichen Gemeinwohlbelange von sich aus hervorbringen, kann die Verfahrensdefizite nicht überspielen. 3. Gründe Wozu also Privilegien? Privilegien stärken die Anreize für Unternehmen und Organisationen, sich an einer privatwirtschaftlich organisierten Qualitätskontrolle zu beteiligen, indem die laufenden staatlichen Kontrollen ihnen gegenüber zurückgenommen werden. Hierfür gibt es zwei Gründe: Der erste Grund ist steuerungstheoretischer Natur. Über die Grenzen des Ordnungsrechts und die „Krise des regulatorischen Rechts“ ist viel geschrieben worden, wenn auch weniger über die empirische Belastbarkeit solcher Annahmen.33 Was mit der Formulierung des binären Codes von rechtmäßig und rechtswidrig aus verfassungsrechtlicher Sicht ein Vorteil ist, stellt sich in der „Steuerungsperspektive“ als ein Nachteil dar. Denn weite Teile moderner Staatstätigkeit geraten mit der Fokussierung auf das Ordnungsrecht aus dem Blickfeld. Die Bevorzugung des materiellen Rechts gegenüber dem Verfahrensrecht legt einen rechtsstaatlichen Schatten auf die Anreizpolitik, was die Integration europarechtlicher Konzepte erschwert. 30

Appel, Privatverfahren (Fn. 29), § 32 Rn. 39. Krit. Eifert, Die geteilte Kontrolle, Die Verwaltung 39 (2006), S. 309 (328, 330); ders., Regulierungsstrategien, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 19 Rn. 57. 32 Trute, Vom Obrigkeitsstaat zur Kooperation. Zur Entwicklung des umweltrechtlichen Instrumentariums zwischen klassischem Ordnungsrecht und moderner Verwaltung, UTR 48 (1999), S. 13 (40). 33 Statt vieler Voßkuhle, Neue Verwaltungsrechtswissenschaft, in: Hoffmann-Riem/ Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR I, 2. Aufl. 2012, § 1 Rn. 10 ff. 31

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Hier führt die Dichotomie von direkter oder indirekter Verhaltenssteuerung angesichts neuartiger Mischungen – Stichwort: Instrumentenmix34 – nicht weiter.35 Insbesondere die Vorstellung, der Staat könne das gesamte Wissen zur behördlichen Steuerung des Umweltverhaltens vorhalten, erweist sich als überholt.36 In immer größerem Maße ist der Staat auf das in der Wirtschaft vorhandene private Wissen angewiesen und versucht dieses nutzbar zu machen. Deshalb greift es zu kurz, im freiwilligen Umweltaudit und der Vergabe des Umweltsiegels nur eine Staatsentlastung zu sehen. Vielmehr gelingt es dem Staat mit Hilfe dieser Regelungsstruktur, in für den Umweltschutz zentrale Bereiche der Betriebsorganisation vorzudringen, was ihm ordnungsrechtlich aus verfassungsrechtlichen Gründen weitgehend versperrt wäre. Der zweite Grund liegt im Unionsrecht. Art. 38 EMAS III-Verordnung erlaubt, zwingt die Mitgliedstaaten aber nicht, regulatorische Entlastungen für EMAS-registrierte Unternehmen vorzusehen. Bessere Rechtsetzung darf, muss aber keine Änderung der Rechtsinstrumente zugunsten EMAS-zertifizierter Unternehmen beinhalten, um das wirksame Funktionieren der Märkte zu fördern und die Wettbewerbsfähigkeit zu verbessern. Allerdings strebt die Union einen offenen Markt der Überwachungsanbieter an. Dessen Funktionsprinzipien dürften in der Logik des Binnenmarktes weniger ordnungsrechtliche, wohl aber vergaberechtliche Privilegien erlauben. In ökologischen Beschaffungsmärkten wird durch die EMAS-Registrierung mehr als bloß die Eignung nachgewiesen, mag ein generelles EMAS-Privileg im Kartellvergabeverfahren auch nicht gegeben sein. Das Umweltaudit ist kein Sonderfall, sondern fügt sich in europäische Verwaltungsmuster der Zertifizierung, Akkreditierung und Kennzeichnungen ein, womit auf marktwirtschaftliche Anreize, private Kontrollen und das Steuerungspotential des Verbraucherverhaltens abgestellt wird.37 Es obliegt den Mitgliedstaaten, eine Gleichwertigkeit zur behördlichen Kontrolle festzustellen und Anreize zur Teilnahme an selbstregulativen Systemen mit Vollzugserleichterungen zu erhöhen. Das ist den Behörden allerdings schon im Rahmen der pflichtgemäßen Ausübung des Überwachungsermessens möglich und das Ordnungsrecht bleibt die Folie für den Übergang in die viel beschworene Audit-Society. Diese Perspektive ist bereits im umweltrechtlichen Kooperationsprinzip und in „Verantwortungsteilungen“ angelegt, bedarf aber keines Rückgriffs auf die Figur des gleichheitswidrigen Rechtsprivilegs.

34 Vgl. Michael, Instrumentenmix, in: Hoffmann-Riem/Schmidt-Aßmann/Voßkuhle (Hrsg.), GVwR II, 2. Aufl. 2012, § 41 Rn. 44. 35 Franzius, Die Herausbildung der Instrumente indirekter Verhaltenssteuerung im Umweltrecht der Bundesrepublik Deutschland, 2000, S. 185 ff. 36 Vgl. Trute, in: Röhl (Hrsg.), Wissen – Zur kognitiven Dimension des Rechts, Die Verwaltung, Beiheft 9 (2010), S. 11 (27 ff.); Franzius, Regulierte Selbstregulierung als Koordinationsstrategie, in: Darnaculleta i Gardella (Hrsg.), Selbstregulierung als Umgangsstrategie des Rechts mit Ungewissheit in der Globalisierung, im Erscheinen. 37 Grundlegend Röhl, Akkreditierung und Zertifizierung im Produktsicherheitsrecht, 2000, S. 23 ff.

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IV. Bio-Kennzeichnungen Mit einer Steuerung des Verbraucherverhaltens und der gewachsenen Nachfrage nach ökologisch produzierten Lebensmitteln arbeiten auch Bio-Kennzeichnungen. Diese können privaten Ursprungs sein, hoheitlich angeregt oder an die Einhaltung bestimmter Anforderungen geknüpft sein, womit der ökologische Landbau gegenüber der konventionellen Landwirtschaft „privilegiert“ wird. Soweit das Bio-Siegel von akkreditierten Prüfstellen vergeben wird, ist die Kontrolle des Staates noch weiter zurückgenommen als im soeben angesprochenen Betriebsorganisationsrecht. 1. Preisvorteile Wo „Bio“ drauf steht, muss nicht „Bio“ drin sein, wird dem Verbraucher aber mitgeteilt, dass das Produkt im Einklang mit den Vorschriften der EU-Ökobasisverordnung38 hergestellt worden ist. Die Bereitschaft, für solche Produkte mehr zu bezahlen als für konventionelle Erzeugnisse, ist kontinuierlich gewachsen. Futtermittelskandale, die längst den Bio-Sektor erfasst haben, scheinen diesen Trend nicht aufhalten zu können. Der Jahresumsatz für ökologische Lebensmittel beträgt europaweit ca. 20 Milliarden Euro, was ungefähr 1,5 % des gesamten Nahrungsmittelmarkts entspricht. Im Jahr 2009 waren 4,7 % der gesamten landwirtschaftlich genutzten Fläche ökologisch bewirtschaftet. 1,4 % aller landwirtschaftlichen Betriebe in der EU 27 sind in der ökologischen Landwirtschaft tätig.39 Ob die Förderung des ökologischen Landbaus an die Ziele des Umweltschutzes hinreichend zurückgebunden ist, mag man bezweifeln. Angesichts des „Dschungels“ an Bio-Siegeln fragt sich aber auch, ob es gerade das europäische Siegel ist, dass es Öko-Betrieben erlaubt, sich gegenüber dem Hersteller konventioneller Lebensmittel im örtlichen Supermarkt zu behaupten. 2. Vergabe des Bio-Siegels Eine Pflicht zur Kennzeichnung besteht nicht. Werden Produkte mit Bio- oder Öko-Siegeln gekennzeichnet, müssen jedoch die Vorgaben der Verordnung eingehalten werden. Danach ist die Verwendung des Gemeinschaftslogos für vorverpackte Lebensmittel grundsätzlich Pflicht. Die Ökobasisverordnung – in Deutschland umgesetzt durch das Öko-Landbaugesetz40 und das Öko-Kennzeichengesetz41 – formu38 Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates v. 28.6. 2007 über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen und zur Aufhebung der Verordnung (EWG) Nr. 2092/91, ABl L 189 v. 20.7. 2007, 1. 39 Bericht der Kommission an das Europäische Parlament und den Rat über die Anwendung der Verordnung (EG) Nr. 834/2007 des Rates über die ökologische/biologische Produktion und die Kennzeichnung von ökologischen/biologischen Erzeugnissen v. 11.5. 2012, KOM (2012) 212, 3. 40 Gesetz zur Durchführung der Rechtsakte der Europäischen Union auf dem Gebiet des ökologischen Landbaus (Öko-Landbaugesetz) v. 7.12. 2008, BGBl I 2358; Verordnung über

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liert Ziele und Grundsätze für die landwirtschaftliche Erzeugung, die wie das grundsätzliche Verbot des Einsatzes genetisch veränderter Organismen nicht durch die Kommission im Wege der delegierten Rechtssetzung unterlaufen werden dürfen.42 Für die Vergabe des Bio-Siegels enthalten die Art. 23 ff. Öko-Basisverordnung nähere Vorgaben, darunter die verschiedenen Systeme der Kennzeichnung, die Pflichtangaben des Logos mit einer Codenummer der Kontrollstelle und der geografischen Herkunftsangabe sowie eine Bestätigung, dass private und staatliche Prüfzeichen nebeneinander bestehen bleiben können. Die EU-Ökobasisverordnung orientiert sich am Produktsicherheitsrecht, soll für faire Wettbewerbsbedingungen sorgen und das Vertrauen der Verbraucher sichern, enthält aber weder eine gesundheits- noch eine umweltpolitische Zielsetzung. Das Kontrollsystem liefert eine Gewähr für die Einhaltung der Herstellungsverfahren, nicht aber für die Erzeugnisse selbst, da es an wissenschaftlichen Methoden fehlt, mit denen festgestellt werden kann, ob es sich um ein biologisches Erzeugnis handelt oder nicht. Die vorgesehene Option, private Kontrollstellen beizubehalten, hat der Gesetzgeber in Deutschland genutzt.43 Um das Vertrauen der Verbraucher in die Kontrollen zu sichern, müssen private Kontrollstellen akkreditiert, also durch die zuständige Behörde zugelassen sein. Zertifikate der Kontrollstellen und Akkreditierungsbescheide der Zulassungsstellen entfalten transnationale Wirkungen im europäischen Rechtsraum. Um die Kontrollleistung zu erbringen, muss die Kontrollstelle keine Niederlassung im Inland haben, kann also für die Zertifizierung auch eine im europäischen Ausland zugelassene Stelle gewählt werden. Art und Häufigkeit der Kontrollen für jedes Unternehmen sollen risikoorientiert erfolgen, müssen jedoch mindestens einmal jährlich im Hinblick darauf vorgenommen werden, ob die Vorschriften der Verordnung eingehalten sind. Nicht weniger bedeutsam, aber verbesserungsbedürftig ist die Überwachung der Kontrollstellen durch die zuständigen Behörden. Diese sind in hohem Maße auf Informationen angewiesen, die ihnen nicht selbst vorliegen, sondern erst über ein jährlich zu übermittelndes Verzeichnis der durchgeführten Kontrollen zugehen. Der Europäische Rechnungshof rügt, dass es bei Verstößen, Unregelmäßigkeiten und Sanktionen große Unterschiede zwischen den Mitgliedstaaten, innerhalb der Mitgliedstaaten und selbst innerhalb der Kontrollstellen gibt.44 Unzureichende Kontrollen und Überwachungsdefizite wirken sich auf die Zulassung von Kontrollstellen nach dem Öko-Landbaugesetz (ÖLG-Kontrollstellen-Zulassungsverordnung) v. 7.5. 2012, BGBl I 1044. 41 Gesetz zur Einführung und Verwendung eines Kennzeichens für Erzeugnisse des ökologischen Landbaus (Öko-Kennzeichengesetz) i. d. F. der Bekanntmachung v. 20.1. 2009, BGBl I 78. 42 Näher Schmidt/Haccius, EG-Verordnung Ökologischer Landbau, 2008. 43 Die private Kontrolle habe sich bewährt, vgl. die Begründung der Bundesregierung zum novellierten Öko-Landbaugesetz, BT-Drs 16/10174, 11. 44 Europäischer Rechnungshof, Prüfung des Kontrollsystems, das die Produktion, die Verarbeitung, den Vertrieb und die Einfuhr von ökologischen/biologischen Erzeugnissen regelt, Sonderbericht Nr. 9/2012, Rn. 10, 34 ff.

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die Steuerungswirkung des Bio-Siegels aus, führen zur Verunsicherung beim Verbraucher und stellen Privilegierungen des ökologischen Landbaus in Frage. 3. Reformbedarf Während beim Umweltaudit das Zertifizierungsverfahren lückenhaft geregelt ist, erweist sich im Produktrecht die Überwachung der Kontrollstellen als defizitär. Dem wird man nicht dadurch begegnen können, dass sie stärker in die staatliche Verwaltung einbezogen und als Beliehene dem Zugriff des Staates ausgesetzt werden. Zwar würde eine Weisungsunterworfenheit nicht die Unabhängigkeit privater Stellen gegenüber den zu kontrollierenden Unternehmen in Frage stellen. Sie würde aber der Logik des europäischen Verwaltungsmodells widersprechen, das für den Vollzug der unionsrechtlichen Vorgaben auf eine Herauslösung der Kontrollstellen aus den staatlichen Hierarchien zielt. Anzusetzen ist vielmehr an der Effektuierung staatlicher Überwachungsbefugnisse. Schwierigkeiten ergeben sich vor allem bei der Rückverfolgbarkeit von Erzeugnissen oder bei der Kontrolle von Einfuhrregelungen unter der geforderten Gleichwertigkeit der Vorschriften und Kontrollsysteme. Immerhin 15 % der in Europa konsumierten ökologischen Erzeugnisse werden aus Nicht-EU-Ländern eingeführt.45 Neben der Verbesserung der Aufsicht über die Kontrollstellen, die über einen besseren Informationsaustausch in und zwischen den Mitgliedstaaten hinausreicht, aber schon wegen des unhintergehbaren Wissensproblems nicht einfach bei der Kommission verortet werden kann, stellt sich die Frage, wie die umweltschützende Funktion biologischer Herstellungsverfahren gestärkt werden könnte, um die Verwendung des Bio-Siegels glaubhaft an tatsächliche Verbesserungen im Umweltschutz zu knüpfen, etwa an einen reduzierten Wasserverbrauch und andere Ressourceneinsparungen. In Betracht kommen Haftungsregelungen für die Landwirtschaft, mit denen Umweltschäden den Verursachern zugerechnet werden könnten, aber auch – so meine vierte These – die Erstreckung der EMAS-Regeln auf die Bio-Produktion, mit denen Erzeuger und Händler dazu angehalten oder verpflichtet werden könnten, ein Umweltmanagementsystem einzurichten, um ihren Beitrag zum Umweltschutz und kosteneinsparende Auswirkungen der Tätigkeit auf die Umwelt messen und evaluieren zu können.46

V. Rechtfertigung von Privilegien Zum Schluss die fünfte und letzte These: Privilegien müssen „verdient“ werden, sind dann aber keine Umweltschutzprivilegien mehr, jedenfalls keine im engeren und 45

Europäischer Rechnungshof (Fn. 44), Rn. 2, 46 ff. Die Erstreckung der EMAS-Regeln auf den Öko-Landbau war Gegenstand der öffentlichen Konsultation zur Überarbeitung der europäischen Politik für den ökologischen Landbau, vgl. http://ec.europa.eu/agriculture/consultations/organic/2013_de.htm (20.4. 2013). 46

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verpönten Sinne. Juristisch stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung staatlich gewährter Vorteile zugunsten des Umweltschutzes. Zeichen sind Macht.47 Die Vergabe von Umweltzeichen dient der Information der Öffentlichkeit, ist aber nur mühsam als Eingriff in die wirtschaftlichen Grundrechte des nicht-privilegierten Unternehmens zu werten, jedenfalls mit dem hohen Schutzgut der Umwelt zu rechtfertigen. Dann müsste jedoch, um das Beispiel des Bio-Siegels aufzugreifen, die umweltschützende Zielrichtung des ökologischen Landbaus deutlicher zum Ausdruck kommen. Art. 20a GG mag als Staatszielbestimmung nur begrenzte Steuerungswirkungen entfalten, dürfte es aber erleichtern, einen sachlichen Grund für die Bevorzugung umweltzertifizierter Unternehmen im Vergabeverfahren anzunehmen. Die Einrichtung von Kontrollsystemen, mit der ein Teil der Kontrolle auf private Akteure verlagert wird, unterliegt dem eingriffsrechtlichen, gegebenenfalls auch dem institutionellen Gesetzesvorbehalt.48 Jedenfalls trifft den Gesetzgeber eine Gewährleistungspflicht, für eine gemeinwohlverträgliche Ausgestaltung der Regelungsstruktur zu sorgen, in der öffentliche und private Kontrollbeiträge miteinander verknüpft sind. Je stärker sich der Staat auf ein System privater Umweltprüfungen für die Berechtigung zur Verwendung des Umweltsiegels verlässt, desto systematischer muss die staatliche Überwachung der Kontrollregime ausfallen. Sichern Vorgaben die Qualität privater Kontrollen der Umweltvorschriften, dann kann das ausgestellte Zertifikat zum Anlass genommen werden, die ordnungsbehördliche Kontrolle darauf einzustellen und auf Doppelprüfungen zu verzichten. Das Kernproblem des privilegierten Umweltschutzes ist die Rechtsanwendungsgleichheit. Das Rechtsprivileg schafft Rechte, die das Prinzip der absoluten Rechtsgleichheit durchbrechen, so formulierte es Fritz Berolzheimer 1906.49 Und der Düsseldorfer Kartellsenat, mit den Tücken der Energiewende beschäftigt, wirft der Bundesregierung mit der Befreiung der stromintensiven Industrie von den Netzentgelten vor, den gesetzlichen Rahmen überschritten und gleichheitswidrige Privilegien vergeben zu haben. Rechtsgleichheit ist nun aber kein staatliches „Privileg“ mehr, sondern ein europäischer Wert und eine notwendige Bedingung für das Funktionieren des Binnenmarkts. Allerdings verschieben sich die Rechtfertigungsmaßstäbe nicht vollständig auf das Unionsrecht. Es kommt vielmehr zu einer Vervielfältigung der Maßstäbe. Das gilt für den grundrechtlichen Maßstab, aber auch für die subventionsrechtliche Beurteilung von Preisprivilegien. Nach der Energiebinnenmarktrichtlinie ist die Marktzugangsregelung nach objektiven Kriterien ohne Diskriminierung zwischen den Netznutzern anzuwenden. Das horizontale Diskriminierungsverbot des § 21 Abs. 1 EnWG verpflichtet die 47

Dédeyan, Macht durch Zeichen, 2004. Zurückhaltend Eifert, Geteilte Kontrolle (Fn. 31), S. 317 f. 49 Berolzheimer, System der Rechts- und Wirtschaftsphilosophie, Bd. 3, 1963 (1906), S. 172. 48

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Netzbetreiber, alle Netznutzer gleich zu behandeln, ihnen also gleiche Bedingungen der Netznutzung einzuräumen. Dem wird eine Privilegierung der „Stromfresser“ mit der Befreiung von den Netzentgelten nicht gerecht. Das OLG Düsseldorf kann im hohen Energieverbrauch der Unternehmen keine „Gegenleistung“ und damit keine sachliche Rechtfertigung der Ungleichbehandlung erkennen. Ob es sich auch um eine ungerechtfertigte Beihilfe handelt, ist demgegenüber unsicher. Die Bundesregierung ist der Auffassung, schon tatbestandlich liege keine Beihilfe im Sinne des Art. 107 Abs. 1 AEUV vor, da der wirtschaftliche Vorteil nicht aus staatlichen Mitteln gewährt, sondern über die Umlage von den Letztverbrauchern bezahlt werde. Das kann man so sehen, zumal der Europäische Gerichtshof im Preussen Elektra Urteil zum Stromeinspeisungsgesetz so argumentiert hatte.50 Aber diese Verengung des Beihilfenbegriffs, aus dem alle privatrechtlichen Ausformungen der Finanzierung herausfallen, ist nicht ohne Kritik geblieben.51 Jedenfalls liefert die Qualifizierung des Finanzierungsmodus nach der Rechtsform keine verlässliche Auskunft über die Reichweite des Beihilfenbegriffs, der staatliche Privilegierungen nicht verbietet, aber unter öffentlichen Rechtfertigungszwang stellt. Die Preisprivilegien der Energiewende werden industriepolitisch begründet. Ob pauschal befreite Unternehmen – wie die von der EEG-Umlage befreite Berliner S-Bahn, die Müritz Milch oder die Geestland Putenspezialitäten GmbH – wirklich im rauen weltweiten Wettbewerb stehen, kann man bezweifeln, nicht aber, dass sich eine Gesellschaft der Gleichen, soll sie die umweltpolitischen Weichenstellungen mittragen, einer Entsolidarisierung durch die Abwälzung der Kosten auf die Privathaushalte sperrt.52 Insoweit könnte, das sei hier nur angedeutet, aus der europäischen Staatsschuldenkrise und den „Rettungspaketen“ vielleicht etwas für die Energiewende gelernt werden können. Demgegenüber liefern Kennzeichnungen wie das EMAS-Zertifikat oder das Bio-Logo erst die Informationen, die der Markt und die Verbraucher im Supermarkt benötigen, um die von staatlicher Seite angemahnten Beiträge für den Umweltschutz leisten zu können. Um gleichheitswidrige Privilegien „im vorrevolutionären Sinne“ handelt es sich dabei nicht.

50

EuGH, Rs. 379/98 Preussen Elektra, Slg. 1999 I-6269 Rn. 58; Schlacke/Kröger, Die Privilegierung stromintensiver Unternehmen im EEG, NVwZ 2013, 313 (317). 51 Bultmann, Beihilfenrecht und Vergaberecht, 2004, S. 37, 39, 55 f. Zur Veränderung nationaler Governance-Strukturen durch das europäische Wettbewerbsrecht Schepel, Delegation of Regulatory Powers to Private Parties under EC Competition Law: Towards an Procedural Public Interest Test, CMLRev 39 (2002), S. 31. 52 Rosanvallon, Die Gesellschaft der Gleichen, 2013, S. 21 ff.; anders, aber nicht überzeugend v. Schweinitz, Energiewende und Belastungskumulationen am Beispiel von EEGUmlage, besonderer Ausgleichsregelung für stromintensive Unternehmen und der Eigenstromregelung, in: FS Kloepfer, 2013, S. 505 ff.

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VI. Zusammenfassung 1. Die Wiederkehr des Privilegs hat mit Grenzverschiebungen im modernen Staat zu tun. Zum einen verschiebt sich die Grenze zwischen öffentlich und privat, zum anderen aber auch die Grenze zwischen innen und außen. Darin spiegeln sich die Privatisierung und Europäisierung des Umweltschutzes. 2. Im Umweltrecht ist unsicher, wer privilegiert wird. Um ein für rechtswidrig erklärtes Privileg handelt es sich bei der Netzentgeltbefreiung der stromintensiven Industrie nach § 19 Abs. 2 StromNEV. Diese Preisprivilegien stellen aber keine unerlaubte Beihilfe dar. 3. Privilegierungen eingetragener EMAS-Unternehmen setzen gemeinwohlsichernde Ausprägungen des privaten Zertifizierungsverfahrens voraus. Das abverlangte Vertrauen darauf, dass Zertifizierungsmärkte unter Wettbewerbsbedingungen die gesetzlichen Gemeinwohlbelange von sich aus hervorbringen, kann Verfahrensdefizite nicht überspielen. 4. Die umweltschützende Funktion biologischer Herstellungsverfahren ist zu stärken, um die Verwendung des Bio-Logos glaubhaft an tatsächliche Verbesserungen im Umweltschutz zu knüpfen. Das legt die Erstreckung der EMAS-Regeln auf die Bio-Produktion nahe, mit denen Erzeuger und Händler angehalten werden könnten, ein Umweltmanagementsystem einzuführen, um ihren Beitrag zum Umweltschutz und kosteneinsparende Auswirkungen ihrer Tätigkeit auf die Umwelt erfassen und evaluieren zu können. 5. Privilegien müssen „verdient“ werden, sind dann aber keine Umweltschutzprivilegien im „verpönten“ Sinne. Juristisch stellt sich die Frage nach der Rechtfertigung staatlich gewährter Vorteile zugunsten des Umweltschutzes. Umweltzeichen wie das EMAS- oder Bio-Zertifikat liefern die Informationen, die der Markt und die Verbraucher benötigen, um die jeweils eigenen Beiträge für den Umweltschutz leisten zu können. Um gleichheitswidrige Privilegien handelt es sich dabei nicht.

Agrarprivileg im Umweltrecht – noch zeitgemäß? Von Felix Ekardt

I. Problemstellung: Landwirtschaft und Umweltschutz Das Verhältnis (zumindest) der konventionellen Landwirtschaft zum Umweltschutz ist ein langjähriger Gegenstand politischer und rechtlicher Kontroversen.1 Denn die Wirkungen landwirtschaftlicher Nutzung auf Natur und Umwelt sind mindestens ambivalent. Die praktisch flächendeckende Beeinflussung der Natur durch den Menschen – bei der quantitativ die Agrarwirtschaft die größte flächenmäßige Rolle spielt – hat dazu geführt, dass unberührte Ökosysteme als Lebensraum der natürlichen Fauna und Flora Europas weitgehend verschwunden und eine erhebliche Anzahl an Arten, nicht zuletzt Großtiere, ausgestorben sind. Viele Arten konnten freilich in den entstandenen Kulturlandschaften auch überleben, und viele wirbellose Tiere und Gefäßpflanzen haben von der Umgestaltung der Natur durch die Landwirtschaft profitiert. Teilweise hat die historische Landwirtschaft in Europa eine hohe Biodiversität gefördert.2 Seit den 50er und 60er Jahren des 20. Jahrhunderts wirkte sich die konventionelle, zunehmend industrialisierte Landwirtschaft allerdings zunehmend negativ auf die Artenvielfalt aus.3 Die intensivierte Landwirtschaft gilt dementsprechend als eine wesentliche Ursache für den Rückgang der biologischen Vielfalt.4 Noch nicht abschließend geklärte Risiken für die Natur entstehen durch die Ausbringung gentechnisch veränderter Pflanzen.5 1

Ausführlich zu Teilen des Beitrags (jeweils m.w.N.) schon Ekardt/Heym/Seidel, ZUR 2008, 169 ff.; zu Landwirtschaft und Klimawandel Ekardt/Hennig/Hyla, Landnutzung, Klimawandel, Emissionshandel und Bioenergie, 2010; Ekardt, Theorie der Nachhaltigkeit: Rechtliche, ethische und politische Zugänge – am Beispiel von Klimawandel, Ressourcenknappheit und Welthandel, 2011. 2 Plachter/Stachow/Werner, Methoden zur naturschutzfachlichen Konkretisierung der „Guten fachlichen Praxis“ in der Landwirtschaft, Naturschutz und Biologische Vielfalt 7/ 2005, S. 13 und 37; Henneke, Landwirtschaft und Naturschutz, 1986, S. 6 spricht gar vom Bauern als besten Naturschützer und Landschaftspfleger. 3 Vgl. Knickel/Janßen/Schramek, Naturschutz und Landwirtschaft, Kriterienkatalog zur „Guten fachlichen Praxis“, 2001, S. 11. 4 BMU, Umweltbericht 2006: Umwelt – Innovation – Beschäftigung, 2006, S. 98. Vgl. auch BMU, Umweltbericht 2002: Bericht über die Umweltpolitik der 14. Legislaturperiode; Ökologisch – modern – gerecht; die ökologische Modernisierung von Wirtschaft und Ge-

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Die intensive Landwirtschaft hat außerdem Anteil am globalen Klimawandel. Letzteres wird im Schatten der klassischen Schadstoffpolitik sowie der Energieund Klimapolitik immer noch oft übersehen. Die Landnutzung ist neben der Nutzung fossiler Brennstoffe der zweite Auslöser des globalen Klimawandels und damit für die künftige europäische und globale Klimapolitik zentral. Als Ursachen lassen sich eine übermäßige Viehwirtschaft, verstärkter Pflanzenschutz- und Düngemitteleinsatz, Vereinfachung von Fruchtfolgen, veränderte (intensivere) Bodenbearbeitungsmethoden, Flurbereinigung, Intensivierung der Grünlandnutzung, Melioration landwirtschaftlich genutzter Flächen (insbesondere Eindeichung und Entwässerung von Feuchtgebieten und Auen und Umbruch von Grünland zu Ackerland) und die Aufgabe traditioneller Bewirtschaftungssysteme identifizieren.6 Naturschutz und Landwirtschaft stehen zwar in einem Konfliktverhältnis, andererseits beziehen sich Naturschutz und Landschaftspflege in Deutschland aber regelmäßig auf vom Menschen geprägte Kulturlandschaften. Angesichts der Tatsache, dass die Hälfte der gesamten Fläche der Bundesrepublik Deutschland landwirtschaftlich genutzt wird und knapp 30 % von Wald bedeckt ist, der ganz überwiegend forstwirtschaftlich genutzt wird, ist der Naturschutz zur Erreichung seiner Ziele auf eine naturverträgliche Land- und Forstwirtschaft angewiesen.7 Hinzu kommt, dass auch die Nutzungsaufgabe vormals extensiv bewirtschafteter Lebensräume, durch den Verlust von wertvollen Offenlandbiotopen zum Schwund von Lebensräumen und Arten beitragen kann.8 Die Landwirtschaft stellt zudem eine Hauptbelastungsquelle für den Boden dar.9 Der Einsatz von Pflanzenschutz- und Düngemitteln durch den Landwirt zählt zu den größten Quellen der Bodenbelastung – und nicht zuletzt auch der Gewässer- und Grundwasserbelastung – insgesamt. Auf landwirtschaftlichen Nutzflächen in Deutschland werden im Durchschnitt weit höhere Stickstoff- und Phosphatmengen sellschaft, 2002, S. 120, wo die Landwirtschaft sogar als „hauptverantwortlich für den Verlust der biologischen Vielfalt“ angesehen wird. 5 SRU, Umweltgutachten 2004, S. 407; vgl. auch Kowarik/Heink/Bartz, Ökologische Schäden in Folge der Ausbringung gentechnisch veränderter Organismen im Freiland – Entwicklung einer Begriffsdefinition und eines Konzeptes zur Operationalisierung, BfN-Skript 166, 2006, S. 37 f. und 93 f. zur Bestimmung ökologischer Schäden und zu möglichen Auswirkungen der Agrogentechnik; dazu ferner der Sammelband Ekardt/Hennig/Ober (Hg.), Gentechnikrecht und Artenschutzrecht: Probleme von effektivem Umweltschutz und Demokratie bei der grünen Gentechnik, 2011. 6 Vgl. Plachter/Stachow/Werner, Methoden, S. 40 f. 7 Bundesamt für Naturschutz, Daten zur Natur 2004, 2004, S. 17 und S. 28; SRU, Umweltgutachten 2004, S. 173. 8 Vgl. SRU, Sondergutachten: Für eine Stärkung und Neuorientierung des Naturschutzes, 2002, S. 12; zu Naturschutz und Landwirtschaft und speziell zu ökonomischen Instrumenten des Naturschutzes (vergleichend mit solchen Instrumenten im Klimaschutz) erscheint ferner Ende 2013 ein Projektbericht für den Bundestag von Ekardt/Hennig/Steffenhagen. 9 SRU, Umweltgutachten 2004, S. 173; Sanden, in: Sanden/Schoeneck, Bundes-Bodenschutzgesetz: Kurzkommentar, 1998, § 17 Rn. 1.

Agrarprivileg im Umweltrecht – noch zeitgemäß?

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aufgebracht, als dem Boden wieder durch Nutzpflanzen entzogen werden. Diese Überdüngung der Anbauflächen führt zu einer Versauerung der Böden, die deren Filter- und Pufferfunktionen sowie ihre Fruchtbarkeit beeinträchtigt. Pflanzenschutzmittel können sich im Boden anreichern und so z. B. in Trinkwasser und Nahrungsmittel gelangen, Bodenlebewesen vernichten und eine Verringerung der Artenvielfalt in der Pflanzen- und Tierwelt bewirken.10 Daneben begünstigt die intensive landwirtschaftliche Nutzung den Bodenverbrauch in Form von Bodenverdichtungen.11 Es ist daher von einer Spannungslage zwischen moderner Landwirtschaft einerseits und ökologisch begründeten Anforderungen des Umweltschutzes andererseits zu sprechen.12 Hauptursächlich für die erheblichen landwirtschaftlichen Umweltbelastungen sind die Dynamik des Wirtschaftsgeschehens und des sinkenden Preisniveaus für landwirtschaftliche Erzeugnisse in den letzten Jahrzehnten und die darauf folgende Intensivierung, Spezialisierung, Rationalisierung sowie die zunehmende Kapitalintensität.13 Diese Entwicklung wird sich auch aufgrund der EU-Erweiterung um die osteuropäischen Staaten mit einem hohen Beschäftigungsanteil in der Landwirtschaft, aber auch aufgrund eines u. U. steigenden Liberalisierungsdrucks und des zunehmenden Energiepflanzenanbaus wohl noch verstärken.14 Angesichts des Ausmaßes an landwirtschaftlich genutzten und daher potenziell betroffenen Flächen ist die Verbesserung des Umweltschutzes in der Landwirtschaft deshalb ein Thema von hoher Aktualität.

II. Landwirtschaft und Naturschutzrecht Trotz der soeben geschilderten Missstände privilegiert das Umweltordnungsrecht die landwirtschaftliche Inanspruchnahme von Natur, Böden, Gewässern und Klima in vielfältiger Weise. Dies geschieht im Grundsatz so, dass ordnungsrechtlich entweder keine oder keine hinreichend präzisen und durchsetzbaren Anforderungen an die landwirtschaftliche Tätigkeit aufgestellt werden. Im Einzelnen:

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Vgl. zum Ganzen Blume, Handbuch des Bodenschutzes, 3. Aufl. 2004, S. 332 ff.; Härtel, Düngung im Agrar- und Umweltrecht, 2002, S. 51 f.; Peine, DVBl 1998, S. 157 (161); Kloepfer, Umweltrecht, 3. Aufl. 2004, § 19 Rn. 216. 11 Siehe im Einzelnen Empfehlungen des Wissenschaftlichen Beirats Bodenschutz, BTDrs. 14/2834, S. 39 f.; Schink, UPR 1999, S. 8 (13); Kloepfer, Umweltrecht, § 12 Rn. 8. 12 Für den Bereich des Bodenschutzes Versteyl, in: Versteyl/Sondermann, Bundes-Bodenschutzgesetz: Kommentar, 2. Aufl. 2005, § 17 BBodSchG Rn. 1. 13 Smeddinck/Tils, Normgenese und Handlungslogiken in der Ministerialverwaltung – die Entstehung des Bundes-Bodenschutzgesetzes, 2002, S. 172. Ebenfalls ursächlich für den – nicht nur landwirtschaftlichen – Umgang mit der Natur sind freilich bestimmte anthropologische und kulturelle Konstanten; vgl. dazu Ekardt, Steuerungsdefizite im Umweltrecht, 2001; Ekardt, Theorie, § 2. 14 Vgl. schon Schink, UPR 1999, S. 8; näher jetzt Ekardt, NuL 2012, S. 526 ff.; generell zu Problemen der Bioenergie Ekardt/Hennig, in: Ekardt/Hennig/Unnerstall (Hg.), Erneuerbare Energien, 2012, S. 173 ff. sowie Ekardt/v. Bredow, RELP 2012, S. 49 ff.

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Eine allgemeine Regelung zum Verhältnis von Naturschutz und Landwirtschaft enthält heute die Vorschrift des § 5 Abs. 1 BNatSchG, nach der bei Maßnahmen des Naturschutzes und der Landschaftspflege die besondere Bedeutung einer natur- und landschaftsverträglichen Land-, Forst-, und Fischereiwirtschaft für die Erhaltung der Kultur- und Erholungslandschaft zu berücksichtigen ist. Damit wird die besondere Bedeutung der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft für die Erhaltung der Kultur- und Erholungslandschaft betont.15 In Abweichung vom alten Agrarprivileg in § 2 Abs. 3 BNatSchG a.F. ist freilich nicht mehr die Bedeutung pauschal jeder „ordnungsgemäßen“, sondern nur noch der „natur- und landschaftsverträglichen“ Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft zu berücksichtigen. Die h.M. versteht hierunter die den Kriterien der guten fachlichen Praxis in § 5 Abs. 2 – 4 BNatSchG entsprechende Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft.16 Allerdings könnte der Begriff sich auch auf den anspruchsvolleren Maßstab der §§ 1, 2 BNatSchG beziehen, der gemäß § 4 BNatSchG von „jedem“ zu beachten ist. Nach der Vorschrift des vor dem eben genannten Hintergrund vielkritisierten17 § 5 Abs. 2 BNatSchG hat die Landwirtschaft neben den Anforderungen, die sich aus den für die Landwirtschaft geltenden Vorschriften und § 17 Abs. 2 BBodSchG (dazu s.u.) ergeben, insbesondere dort genannte, allerdings nicht näher spezifizierte Grundsätze der guten fachlichen Praxis zu erfüllen. Durch die Vermutungswirkung des § 14 Abs. 2 BNatSchG zugunsten der regelmäßigen Naturschutzkonformität einer in guter fachlicher Praxis ausgeübten Landwirtschaft erhält dies nicht zuletzt im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung Bedeutung. Eine konkrete Bedeutung in der Praxis hat dies dem Vernehmen nach bis dato indes nicht erlangt; vielmehr bleibt die Landwirtschaft mehr oder minder pauschal freigestellt von der Eingriffsregelung. Jenseits dessen werden durch die Landwirtschaftsklausel ohnehin keine 15

Die Vorschrift wird teilweise als Gewichtungsregel für das übergreifende (freilich durch eine Vielzahl vorrangiger spezieller Vorschriften wie die Eingriffsregelung überlagerte) Abwägungserfordernis zwischen Naturschutz und anderen Belangen (etwa bei der Befreiung von Schutzgebietsverordnungen) nach § 2 Abs. 1 BNatSchG angesehen; vgl. Gassner, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, Bundesnaturschutzgesetz: Kommentar, 2. Aufl. 2003, § 5 Rn. 12; ähnlich Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 5 Rn. 4, der von einer im Einzelfall widerleglichen Vermutung einer positiven Auswirkung zu Gunsten der Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft spricht. Andere folgern aus dem Berücksichtigungsgebot kein besonderes Gewicht der natur- und landschaftsverträglichen Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft im Rahmen etwaiger Abwägungen; vgl. Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht: Kommentar zum Bundesnaturschutzgesetz, Vorschriften und Entscheidungen, Stand: November 2007, § 5 Rn. 23; Louis, Bundesnaturschutzgesetz, 2. Aufl. 2000, § 2 Rn. 42; vgl. auch Wilrich, in: Marzik/Wilrich, Bundesnaturschutzgesetz: Kommentar, 2004, § 5 Rn. 13. 16 Wilrich, in: Marzik/Wilrich, Bundesnaturschutzgesetz, § 5 Rn. 11; Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, § 5 Rn. 16; Lorz/Müller/Stöckel, Naturschutzrecht, § 5 Rn. 6; weitergehend Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 5 BNatSchG Rn. 4. 17 Vgl. Gassner, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, Bundesnaturschutzgesetz, § 5 Rn. 12; Fischer-Hüftle, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, Bundesnaturschutzgesetz, § 5 Rn. 6.

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Ge- und Verbote vorgegeben, sondern lediglich (nicht abschließende) Grundsätze formuliert, denen die der guten fachlichen Praxis entsprechende Land-, Forst- und Fischereiwirtschaft aus Sicht des Naturschutzes genügen sollte. Insbesondere fehlt eine behördliche Befugnisnorm, nach der konkrete Betreiberpflichten festgelegt und auch durchgesetzt werden könnten.18 Sie bedürfen der weiteren Konkretisierung und Umsetzung. Die bisherige Praxis in den Bundesländern divergiert. Sowohl die hinreichende Konkretisierung als auch der reale Vollzug der Vorgaben unterliegt dennoch nicht unerheblichen Zweifeln.19 Dies gilt gerade auch mit Blick auf die naturschutzrechtliche Eingriffsregelung.20 Insbesondere fehlen im Naturschutzrecht also eine hinreichende Konkretisierung sowie eine behördliche Befugnisnorm für durchgängig wirksame Regulierungen der Landwirtschaft. Die Rechtslage in Schutzgebieten und im Artenschutz, die mit alledem noch nicht explizit angesprochen wurde, ist teilweise umstritten. Mit den §§ 30 Abs. 5, 39 Abs. 5, 40 Abs. 3 – 5, 44 Abs. 4 BNatSchG gelten freilich auch hier spezielle Landwirtschaftsklauseln mit cum grano salis ähnlichem Ergebnis wie bei der allgemeinen Eingriffsregelung.

III. Privilegierung der Landwirtschaft im Bodenschutz- und Wasserrecht Die Analyse zur Privilegierung der Landwirtschaft im Naturschutzrecht hinterlässt damit einen wenig vorteilhaften Eindruck. Ebenfalls zu betrachten sind nunmehr die (direkten oder indirekten) umweltrechtlichen Privilegierungen, die die Landwirtschaft im Bodenschutz- und Wasserrecht und auch in puncto Klimaschutz erfährt. 1. Privilegierung der Landwirtschaft in § 3 BBodSchG Einschlägige Privilegierungen der Landwirtschaft finden sich bereits im Anwendungsbereich des BBodSchG. Dessen Geltungsbereich ist durch umfangreiche Ausnahmen in § 3 BBodSchG erheblich eingeschränkt. Nähere Betrachtung soll hier nicht der oft problematische Vorrang des Abfallrechts erfahren, sondern § 3 Abs. 1 Nr. 4 BBodSchG, nach welchem diejenigen Vorschriften des Düngemittelund Pflanzenschutzrechts, die Einwirkungen auf den Boden regeln, der Anwendung 18 Gassner, in: Gassner/Bendomir-Kahlo/Schmidt-Räntsch, Bundesnaturschutzgesetz, § 5 Rn. 23; vgl. auch Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, § 5 Rn. 2. 19 Vgl. dazu auch Ekardt/Weyland/Schenderlein, NuR 2008, i.E. 20 Diese Privilegierung betrifft freilich nur Maßnahmen, die sich unmittelbar auf die Bodenbearbeitung und -nutzung beziehen. Lediglich die alltägliche Wirtschaftsweise, nicht aber Maßnahmen zur Vorbereitung der privilegierten Nutzung (wie z. B. die Entwässerung von Moorflächen) oder der Wechsel zu einer anderen Nutzungsart werden von der Regelung erfasst; vgl. Gellermann, in: Landmann/Rohmer, Umweltrecht, § 18 BNatSchG Rn. 20.

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des BBodSchG vorgehen; das DüngeMG21 als zentrales Gesetz im Bereich des Düngemittelrechts hat indes vorrangig die Ertragsförderung der Landwirtschaft zum Zweck.22 Einen Bezug zum Schutzgut Boden erfährt das Düngemittelrecht lediglich mittelbar in § 2 Abs. 2 DüngeMG, nach welchem durch Rechtsverordnung Typen von Düngemitteln zugelassen werden können, die bei sachgerechter Anwendung u. a. die Fruchtbarkeit des Bodens nicht schädigen und den Naturhaushalt nicht gefährden.23 Nach § 1a DüngeMG dürfen Düngemittel im Sinne des § 1 Nr. 1 bis 5 DüngeMG nur nach guter fachlicher Praxis angewandt werden (S. 1). Die Düngung nach guter fachlicher Praxis dient der Versorgung der Pflanzen mit notwendigen Nährstoffen sowie der Erhaltung und Förderung der Bodenfruchtbarkeit, um insbesondere die Versorgung der Bevölkerung mit qualitativ hochwertigen, preiswerten Erzeugnissen zu sichern (S. 2). Dies veranschaulicht, dass im DüngeMG mitnichten ein nachhaltig die Bodenfunktionen schützender oder wiederherstellender, also mit § 1 BBodSchG in Einklang zu bringender Ansatz vorzufinden ist; vielmehr zielt die Konzeption des DüngMG auf eine Betrachtung des Bodens ausschließlich als landwirtschaftlicher Produktionsfaktor. Zwar ist eine gute fachliche Praxis beim Düngen in der DüngeVO untergesetzlich konkretisiert, was jedoch wiederum Konkretisierungs- und Vollzugsprobleme ergibt.24 Ähnliche Probleme ergeben sich im Pflanzenschutzrecht, wie andernorts dargestellt.25 Mit den Subsidiaritätsregelungen aus § 3 Abs. 1 BBodSchG hat der Gesetzgeber somit auf bereits bestehende Regelungen Bezug genommen, die bis dahin eine stetige Verschlechterung des Bodenzustands insbesondere durch Schadstoffe nicht verhindern konnten. Indem das BBodSchG den Eintrag von Stoffen in landwirtschaftlich genutzte Böden nicht normiert, bleibt folglich der wesentliche Teil des qualitativen Bodenschutzes ungeregelt.26 Erst wenn es aufgrund der Nichtbeachtung des vorrangigen Fachrechts zu einer schädlichen Bodenveränderung gekommen ist, grei21 Gesetz über den Verkehr mit Düngemitteln (Düngemittelgesetz) vom 15.11. 1977, BGBl. I, S. 2134. 22 Kloepfer, Umweltrecht, § 19 Rn. 226, mit Verweis auf § 1 Nr. 1 DMG; Ekardt/Seidel, NuR 2006, S. 420 ff. Ausführlicher werden Fragen des Bodenschutz- und Kreislaufwirtschafts-/Abfallrechts behandelt bei Ekardt/Heym/Seidel, ZUR 2008, S. 169 ff.; Ekardt/Holzapfel/Ulrich/Schnug/Haneklaus, Agriculture and Forestry Research 2011, S. 83 ff. 23 Und selbst dieser lediglich mittelbare Schutz entsprang nicht vorrangig dem Umweltschutzgedanken, sondern dem Interesse der Landwirtschaft nach einer Standardisierung von Düngemitteln, vgl. Linden, Gewässerschutz und landwirtschaftliche Bodennutzung, 1993, S. 251; Ekardt/Seidel, NuR 2006, S. 420 ff. Im Übrigen ist bemerkenswert, dass dieser lediglich mittelbare Schutz des Bodens bei zum Export bestimmten Düngemitteln nicht gilt, sofern sie nicht als EG-Düngemittel bezeichnet werden, vgl. § 2 Abs. 3 Nr. 1 DMG. 24 Ekardt/Holzapfel/Ulrich/Schnug/Haneklaus, Agriculture and Forestry Research 2011, S. 83 ff.; Möker, in: Koch, Umweltrecht, 2002, § 15 Rn. 105; Peine, NuR 2002, S. 522 (524). 25 Vgl. dazu Ekardt/Heym/Seidel, ZUR 2008, S. 169 ff. 26 Peine, UPR 2003, S. 406 (408); Ekardt/Seidel, NuR 2006, S. 420 ff.; Ekardt/Holzapfel/ Ulrich/Schnug/Haneklaus, Agriculture and Forestry Research 2011, S. 83 ff.

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fen die Regelungen des BBodSchG, da nur dieses ein entsprechendes Regelungsinstrumentarium enthält.27 2. Privilegierung der Landwirtschaft in § 17 BBodSchG Für den verbleibenden, überwiegend nicht-stofflichen Teil28 der landwirtschaftlichen Bodenbeeinträchtigungen, der nicht bereits aus dem Anwendungsbereich des BBodSchG ausgenommen ist, enthält der vierte Teil des BBodSchG die speziell für die Landwirtschaft aufgenommene Regelung des § 17 BBodSchG, welche bestimmte Modifikationen der allgemeinen Vorsorgepflicht (Abs. 1) und der Pflicht zur Gefahrenabwehr (Abs. 3) vornimmt. Gemäß § 17 Abs. 1 S. 1 BBodSchG wird die Vorsorgepflicht nach § 7 BBodSchG durch die Einhaltung der guten fachlichen Praxis bereits erfüllt, deren Grundsätze in § 17 Abs. 2 BBodSchG genannt und konkretisiert werden (vgl. auch § 7 BBodSchG). Die Bundesregierung hat zur guten fachlichen Praxis Grundsätze und Handlungsempfehlungen veröffentlicht.29 Fraglich ist jedoch neben der Konkretisierungsthematik erneut, wie die Grundsätze der guten fachlichen Praxis durchsetzbar sind, falls ein Landwirt ihnen zuwider handelt: Während die allgemeinen Vorsorgepflichten des § 7 BBodSchG über § 10 Abs. 1 BBodSchG grundsätzlich durchgesetzt werden können, enthält § 17 BBodSchG keine Anordnungsbefugnis.30 Die Nichteinhaltung der guten fachlichen Praxis stellt nicht einmal eine Ordnungswidrigkeit i.S.d. § 26 BBodSchG dar. Zudem sind die Landesgesetzgeber an dem Erlass weitergehender Regelungen gehindert.31 27

Härtel, Düngung, S. 86 ff. und 228; Frenz, § 3 BBodSchG Rn. 15 ff. und 27 ff. So auch die Begründung des Regierungsentwurfs, BT-Drs. 13/6701, S. 43. 29 Bundesministerium für Ernährung, Landwirtschaft und Forsten, Bekanntmachung der Grundsätze und Handlungsempfehlungen zur guten fachlichen Praxis der landwirtschaftlichen Bodennutzung nach § 17 Bundes-Bodenschutzgesetz (BBodSchG) vom 23.02. 1999, BAnz. v. 20.04. 1999, S. 6585. 30 Vgl. zum folgenden auch Ekardt/Seidel, NuR 2006, S. 420 ff. – Die Ansicht von Bickel, Bundes-Bodenschutzgesetz: Kommentar, 4. Aufl. 2004, § 17 BBodSchG Rn. 1, nach welcher § 17 BBodSchG nicht von der Vorsorgepflicht des § 7 BBodSchG befreie, sondern deren Erfüllung einfordere und inhaltlich modifiziere, was zu einer Anwendbarkeit des § 10 Abs. 1 BBodSchG führte, ist zwar rechtspolitisch zu begrüßen, sie ist indes bei grammatischer und systematischer Auslegung (leider) nicht recht überzeugend. In systematischer Hinsicht ergibt der Vergleich mit der Vorschrift des § 17 Abs. 3 BBodSchG, welche explizit die subsidiäre Anwendung der übrigen Vorschriften des BBodSchG vorgibt, dass eine Durchsetzbarkeit der Vorsorgepflichten des § 17 Abs. 1 und 2 BBodSchG über § 10 BBodSchG gerade nicht gewollt war, da eine derartige Bestimmung im Rahmen der Vorsorgepflichten eben fehlt. Auch die Entstehungsgeschichte des BBodSchG steht einer solchen Auffassung entgegen; vgl. hierzu Smeddinck/Tils, Normgenese, S. 172 ff.; Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 13/6701, S. 65 (Nr. 36). 31 Ebenso Versteyl, in: Versteyl/Sondermann, BBodSchG, § 17 Rn. 12; Sanden, in: Sanden/ Schoeneck, BBodSchG, § 17 Rn. 7; Peine, DVBl. 1998, S. 157 (160); Hendler, in: Hendler/ Marburger/Reinhardt/Schröder, Bodenschutz und Umweltrecht, 2000, S. 87 (114). 28

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Somit stellt im Vorsorgebereich die fakultative Beratung durch die landwirtschaftlichen Beratungsstellen das alleinige Handlungsinstrument dar. Diese sind hierbei einem Konflikt ausgesetzt, da sie gleichzeitig gegenüber den Landwirten beim Vollzug der Maßnahmen im Rahmen der europäischen Agrarmarktordnung als Überwachungs- und Hoheitsbehörden auftreten. Als durchaus eigenartige Konsequenz aus diesem Rollenkonflikt hat das Bundesland Nordrhein-Westfalen die vor Ort beratenden Mitarbeiter der Landwirtschaftskammern von ihrer Pflicht entbunden, im Rahmen dieser Tätigkeit gewonnene Erkenntnisse über etwaige Missstände im Hinblick auf den Bodenschutz zu melden.32 In den ersten Referentenentwürfen zum BBodSchG waren dagegen Anordnungsbefugnisse zur Durchsetzbarkeit der Vorsorgepflichten im Bereich der landwirtschaftlichen Bodennutzung noch enthalten gewesen.33 Dann jedoch dominierte im Gesetzgebungsverfahren die Ansicht, die Landwirte seien bereits aus existenziellen Gründen an einer nachhaltigen Bodennutzung interessiert, so dass eine Anordnungsbefugnis entbehrlich sei.34 Dies ist angesichts einer ohnehin zunehmend zu beobachtenden Negativspirale aus sinkenden Einkommen und bodenschädlicher Anbauintensivierung sowie der wirtschaftlichen Perspektive im Bereich der Landwirtschaft indes eine nur sehr bedingt plausible Hoffnung. Aufgrund des Pufferungs- und Erholungsvermögens des Bodens, durch welches Schädigungen allenfalls mit beträchtlicher zeitlicher Verzögerung sichtbar werden35, kann auch nicht angenommen werden, dass dem Landwirt ein bodenschädigendes Verhalten unmittelbar durch Mindererträge vor Augen geführt werde.36 Zu Recht wird zudem auf häufiger werdende Fälle verwiesen, in denen Landwirte ohne Hofnachfolger ihren Betrieb weniger vorausschauend führen könnten.37

32 Smeddinck/Hogenmüller, ZAU 2000, S. 298 (307) mit Verweis auf § 4 Abs. 3 S. 1 LBodSchG NRW; an einem wechselseitigen Vertrauen zweifelt auch Numberger, in: Oerder/ Numberger/Schönfeld, BBodSchG, § 17 Rn. 6; der Idee einer Umorientierung der Landwirtschaft einzig durch Beratung ablehnend gegenüber steht ferner SRU, Sondergutachten Landnutzung, BT-Drs. 13/4109, S. 134. 33 Vgl. die Synopse der Referentenentwürfe bei Smeddinck/Tils, Normgenese, S. 448 ff.: Verordnungsermächtigung an die Bundesregierung und Anordnungsbefugnis (Entwurf vom 23.07. 1992), Verordnungsermächtigung an die Landesregierungen (Entwurf vom 16.12. 1992), Verordnungsermächtigung an BMU/BML (Entwürfe vom 30.11. 1993, 07.02. 1994 und 15.02. 1995). 34 Vgl. die Gegenäußerung der Bundesregierung zur Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 13/6701, S. 65 (Nr. 36). Vorausgegangen war die Forderung nach einer entsprechenden Anordnungsbefugnis in der Stellungnahme des Bundesrates zum Regierungsentwurf, BT-Drs. 13/6701, S. 55 (Nr. 42); in diese Richtung auch Antrag der SPDFraktion, BT-Drs. 13/7904, S. 17 (Nr. 35). 35 Kloepfer, Umweltrecht, § 12 Rn. 13; zu den emotionalen Friktionen des Reagierens auf Langfristgefährdungen vgl. m.w.N. Ekardt, Theorie, § 2 C. 36 So aber Frenz, NuR 2004, S. 642 (646). 37 Versteyl, in: Versteyl/Sondermann, BBodSchG, § 17 Rn. 14.

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Gemäß § 17 Abs. 3 BBodSchG werden die Pflichten nach § 4 BBodSchG durch die Einhaltung der in § 3 Abs. 1 BBodSchG genannten fachrechtlichen Vorschriften erfüllt; enthalten diese keine Anforderungen an die Gefahrenabwehr und ergeben sich solche auch nicht aus den Grundsätzen der guten fachlichen Praxis nach § 17 Abs. 2 BBodSchG, so gelten die übrigen Bestimmungen des BBodSchG. Im Gegensatz zu den Vorsorgepflichten ist im Rahmen der Gefahrenabwehr daher die Anordnung von bodenschutzrechtlichen Maßnahmen möglich. Jedoch trifft die Behörden mit dieser Konstruktion das Problem, dass sie vor Erlass einer Gefahrenabwehrmaßnahme im Bereich des Bodenschutzes erst darlegen müssen, dass der Gefahrenabwehr nicht durch Einhaltung der spezialgesetzlichen Anforderungen und der Grundsätze der guten fachlichen Praxis der Landwirtschaft Genüge getan wird.38 Bereits dies wirkt sich vollzugshindernd aus.39 Und selbst wenn man davon absähe, griffe das BBodSchG somit allenfalls (!) in dem Fall ein, dass es für die Bodenfunktionen (etwa durch Überdüngung) bereits zu spät und eine schädliche Bodenveränderung eingetreten ist – und auch in diesem Fall wird das Bodenschutzrecht wegen bestimmter sonstiger Eigenheiten (vor allem fehlender Grenzwerte) regelmäßig eher keine Wirkung erzielen.40 § 17 BBodSchG entfaltet folglich eine nur geringe Steuerungswirkung und erscheint eher als ein Fall primär symbolischer Gesetzgebung.41 Die somit zu konstatierende faktische Ausnahme der landwirtschaftlichen Bodennutzung vom Anwendungsbereich des BBodSchG verwundert nicht, wenn man sich vor Augen führt, dass 38

Loll, Vorsorgender Bodenschutz im Bundes-Bodenschutzgesetz, 2003, S. 187. Hier zeigt sich ein weiterer Widerspruch: Im Gesetzgebungsverfahren war die Forderung erhoben worden, den Anwendungsbereich in § 3 BBodSchG in den Fällen stets zu eröffnen, in denen die aufgeführten anderen Fachgesetze nicht gleichlautende oder weitergehende Vorschriften zum Schutz des Bodens enthielten (vgl. Änderungsantrag der SPD-Fraktion, BTDrs. 13/7904, Nr. 9, S. 6; Begründung der Anrufung des Vermittlungsausschusses durch den Bundesrat, BT-Drs. 13/8182, Nr. 4, S. 2; Empfehlung des Ausschusses für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit des Bundesrates, BR-Drs. 422/1/97, Nr. 4). Dies wurde jedoch mit der Begründung zurückgewiesen, mit einer solchen Formulierung werde die Abgrenzung der verschiedenen Rechtsbereiche auf die Vollzugsebene hin verschoben (vgl. Smeddinck/Tils, Normgenese, S. 100; Radtke, in: Holzwarth/Radtke/Hilger/Bachmann, Bundes-Bodenschutzgesetz, Bundes-Bodenschutz- und Altlastenverordnung: Handkommentar, 2. Aufl. 2000, § 3 BBodSchG Rn. 4; Schäfer, UPR 2001, S. 325 [326]). Eben diese Verschiebung ist jedoch, wie soeben gezeigt, mit der Regelung des § 17 Abs. 3 BBodSchG für den Bereich der Gefahrenabwehr im Rahmen landwirtschaftlicher Bodennutzung eingeführt worden. 40 Vgl. auch Ekardt/Lazar, Altlasten-Spektrum 2003, S. 237 ff. und Ekardt/Seidel, NuR 2006, S. 420 ff.: Selbst für eine Beseitigung einmal eingetretener Schäden fehlt es in der BBodSchV oft an den nötigen konkretisierenden Grenzwerten. Und in den Fällen, wo das Bodenschutzrecht konkrete Grenzwerte durch allgemeine Wertableitungsverfahren für den Einzelfall ersetzt, kann nämlich ganz generell keinesfalls mit einer wirksamen Schadensbeseitigung gerechnet werden. Denn diese Ableitungsverfahren belassen der Verwaltung so große Spielräume, dass alles am (häufig nicht vorhandenen) guten Willen der Administration hängt. Dies machen schon Topoi wie „Einzelfallbetrachtung“ und „Plausibilitätsprüfung“ deutlich. 41 So zutreffend Smeddinck/Hogenmüller, ZAU 2000, S. 298 (313). 39

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bereits im Rahmen der Gesetzesvorbereitung auf Ministerialebene die Landwirtschaftslobby stets in den Normfindungsprozess einbezogen war, auf eine dem Konsens mit der Landwirtschaftslobby gleichwertige Einbeziehung der Umweltverbände hingegen bewusst verzichtet wurde.42 3. Privilegierung der Landwirtschaft mit Klimaschutzund Wasserrechtsbezug Das Naturschutzrecht und das Bodenschutzrecht sind nicht die einzigen Rechtsgebiete mit Formen eines Agrarprivilegs. Dem Klimaschutz fehlt von vornherein weitgehend eine Operationalisierung im Bereich der Landnutzung wie etwa eine volle Einbeziehung in den EU-Emissionshandel. Im globalen Klimaschutzregime wird die Landnutzung vielmehr zu einem zweifelhaften Schlupfloch gegenüber den ansonsten bestehenden Reduktionserfordernissen. Dies wurde andernorts mehrfach ausführlich dargestellt.43 Nicht nur im Bodenschutz-, Klimaschutz- und Naturschutzrecht, sondern auch im Wasserrecht44 findet sich die Landwirtschaft von hinreichenden Schutzmechanismen ausgenommen. Hauptbelastungsquelle von Nähr- und Schadstoffbelastungen der Oberflächengewässer, der Eutrophierung der Übergangs- und Küstengewässer und der hohen stofflichen Belastung vieler Grundwasserkörper sind etwa wiederum primär Nährstoffeinträge aus der Landwirtschaft.45 Da einer der wichtigsten beeinträchtigenden Vorgänge für Gewässer die konventionelle Landwirtschaft mit ihren Nebenwirkungen ist, ergibt sich etwa ein Klärungsbedarf hinsichtlich des wasserrechtlichen Umgangs mit Düngungen. Der Streit um die Einordnung der Düngung als genehmigungspflichtige Gewässerbenutzung ist schon sehr alt.46 Rechtsinterpretativ könnte man argumentieren, dass, auch wenn die Düngung die Gewässerqualität beeinflussen kann, dies doch eigentlich hauptsächlich durch das Umweltmedium Boden verläuft, das inzwischen einem eigenen Schutz unterliegt. Da man aber im Immissionsschutzrecht nicht auch von einer Gewässerbenutzung ausgeht, wenn Luftschadstoffe über den Niederschlag in Gewässer eingetragen werden, so wäre dies auch im Falle der Düngung dahingehend zu verneinen, dass zumindest keine direkte Gewässerbenutzung vorliegt. Es bleibt im Regelfall nur eine „mittelbare“ Gewässerbenutzung, gegen deren Annahme allerdings nichts spricht, die indes wenig reale Bedeutung entfaltet. 42 Vgl. Smeddinck/Tils, Normgenese, S. 182 f.; Müller, in: Brandt/Smeddinck/Tils, Gesetzesproduktion im administrativen Binnenbereich, 2001, S. 28; kritisch auch Numberger, in: Oerder/Numberger/Schönfeld, BBodSchG, § 17 Rn. 2. 43 Vgl. pars pro toto Ekardt/Hennig/Hyla, Landnutzung, S. 11 ff. 44 Vgl. zum Wasserrecht m.w.N. Ekardt/Weyland/Schenderlein, NuR 2009, S. 388 ff. (auf der Basis einer Studie in einem vom BfN finanzierten Projekt zum geplanten UGB). 45 Vgl. etwa BMU, Bestandsaufnahme 2004, S. 13. 46 Zur Debatte siehe z. B. Linden, Gewässerschutz, S. 102 ff.; Härtel, Düngung, S. 169 ff.; Czychowski/Reinhardt, WHG, § 3 Rn. 71.

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Zumindest de lege ferenda könnte man freilich an eine Genehmigungspflicht für Düngungen denken. Das essentielle Problem ist indes – so auch bei Naturbeeinträchtigungen im Rahmen der naturschutzrechtlichen Eingriffsregelung – weniger die einzelne Düngung, sondern die Kumulation von verschiedenen Düngevorgängen und die dabei produzierten Düngeüberschüsse.47 Jenseits der Frage, ob man vielleicht bei der guten fachlichen Praxis in der Landwirtschaft48 z. B. maximal erlaubte Düngemittelüberschüsse festlegen könnte, führt dies zu der Einsicht: Ob die Vielzahl einzelner Vorgänge in der Landwirtschaft sich für eine (vollziehbare und damit allererst wirksame) ordnungsrechtliche Regulierung eignet, kann deutlich bezweifelt werden. Bei jedweder ordnungsrechtlichen (Abwägungs-)Lösung bleibt das Problem, dass „im Einzelfall“ etwaige Vorgaben dann doch immer durch Abwägungen bzw. Ausnahmen überwunden werden würden (was nach den bisherigen Erfahrungen mit umweltrechtlichen Abwägungen nur wenig Gutes verheißt). Dies gilt auch für den erheblichen Beitrag der Landwirtschaft via energieintensivem Dünger, methanfreisetzender Viehwirtschaft etc. zum Klimawandel. Die einzelnen Natur- bzw. Gewässerbeeinträchtigungen erscheinen für sich genommen dann u. U. stets als nicht ausreichend relevant, doch ergeben sich in der Summe eben sehr wohl relevante Beeinträchtigungen. Um Mengenproblematiken anzugehen, ist ein ordnungsrechtliches Ansetzen an einzelnen Tätigkeiten und Anlagen noch aus einer Reihe von weiteren Gründen lediglich ergänzend, kaum jedoch als Hauptinstrument tauglich. Stichworte für die sonst drohenden Steuerungsprobleme sind – das Gesagte fortführend – (a) mangelnde Strenge und Vollzugsdefizite; (b) Rebound-Effekte (also ein Auffressen von Verbesserungen durch eine absolut steigende Anzahl an Eingriffen infolge steigenden Wohlstands national und weltweit); (c) Verlagerungseffekte an andere Orte, in andere Sektoren oder hin zu anderen Ressourcen; (d) Abbildbarkeitsproblem; (e) Kumulationsproblem. Dies ist andernorts für den Bereich der Landnutzung wie auch für andere Nachhaltigkeitsthemen mehrfach breit behandelt worden und wird deshalb hier nicht erneut vertieft.49 Anders ausgedrückt: Die schädlichen Umweltauswirkungen der (insbesondere konventionellen) Landwirtschaft sind letztlich Mengenprobleme: Insbesondere die Wirkungen auf Klima und Biodiversität, eingeschränkt aber auch Schadstoffprobleme u. ä. sind weniger ein Problem einzelner Eingriffe als vielmehr ein Problem der Masse der Eingriffe.50 47

Allerdings ist auch der Zeitpunkt der Düngung und die aktuellen Eigenschaften des Bodens mit für das Austragsrisiko von Nährstoffen relevant ist. Daher gibt es z. B. Düngeverbote im Winter, wenn der (gefrorene) Boden nicht aufnahmefähig ist. Damit ist man schon bei der DüngeVO, die 2006 in manchen Punkten zwar grundlegend geändert wurde, an der tatsächlichen Belastungssituation allerdings weiterhin dem Vernehmen nach wenig ändert. 48 Vgl. z. B. § 11 SächsWG und § 13 I Nr. 5 WG BaWü. 49 Vgl. pars pro toto Ekardt, Theorie, § 6 D.–E. Vertiefungen dazu erfolgen im erwähnten Bundestagsprojektbericht von Ekardt/Hennig/Steffenhagen sowie in einem weiteren laufenden Projekt für BMU/UBA von Ekardt/Klinski/Schomerus. 50 Teilweise steht dahinter das grundlegende Problem, dass eine ökologische Landwirtschaft nicht auf rein technischem Wege erreichbar ist, sondern bei den Konsumenten Verhal-

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Ein Abbau der Agrarprivilegien im Ordnungsrecht wäre daher nicht der zentrale Ansatz für mehr Umweltschutz in der Landwirtschaft. Und ein solcher Abbau dürfte auch zu großen Vollzugsproblemen führen, denn wie sollte jede einzelne Düngung und jede einzelne Maßnahme auf dem Acker ordnungsrechtlich geprüft und sanktioniert werden. Wenn, dann wäre dies allenfalls auf der Basis einer – wohl noch nicht ausreichend fortgeschrittenen – Satelliten-Fernerkundung denkbar. Diese jedoch würde dann noch einen ganz neuen Steuerungsansatz eröffnen:

IV. Ökonomische Instrumentenalternativen Die soeben aufgelisteten Probleme verlangen für den gesamten Bereich agrarisch induzierter Umweltbeeinträchtigungen verstärkt nach ökonomischen Instrumentenansätzen.51 Wirksam gegen Mengenprobleme können vor allem großflächige Zertifikatmarktansätze sein, sofern sie inhaltlich und geographisch breit ansetzen sowie mit anspruchsvollen Reduktionszielen operieren (fast genauso wirksam können mit jenen Randbedingungen Abgabenansätze oder andere ökonomische Instrumente wie eine Streichung kontraproduktiver Subventionen sein). Nur so lassen sich Reboundund Verlagerungseffekte verlässlich ausschließen und zudem vollzugspraktisch vergleichsweise unbürokratische Arrangements ermöglichen (jene Effekte hat der juristische Diskurs über direkte und indirekte Steuerung in der Vergangenheit weitgehend ausgeblendet und damit u. U. den wesentlichen Aspekt gerade ausgelassen). Freilich ist die Integration der Landnutzung in einen globalen und europäischen Emissionshandel momentan noch aus mehreren Gründen schwierig. Selbst solange SatellitenFernerkundungstechniken, die die Treibhausgasrelevanz verschiedener Landnutzungsformen mit realistischem Überwachungsaufwand europa- oder sogar weltweit abbildbar machen, noch nicht marktreif zur Verfügung stehen52, sind jene Probleme über einen – dann neben dem auf fossile Brennstoffe ausgerichteten Emissionszertifikatmarkt zu installierenden – Flächenzertifikathandel oder eine erhöhte Flächenbesteuerung oder auch eine Düngerabgabe53 im Grundsatz lösbar.54 Dabei müsste tensänderungen erfordern würde, vor allem bei Fleischkonsum. Näher dazu Ekardt, Theorie, § 6 A. II.; Paech, Befreiung vom Überfluss, 2012; Jackson, Wohlstand ohne Wachstum, 2011. 51 Vgl. für eine nähere Darstellung wieder m.w.N. die bereits zitierten eigenen Publikationen und deren erwähnte aktuelle Ergänzungen. 52 Vgl. dazu näher m.w.N. Loft, Erhalt und Finanzierung biologischer Vielfalt – Synergien zwischen internationalem Biodiversitäts- und Klimaschutzrecht, 2009, S. 207 ff.; Ekardt/ Hennig/Hyla, Landnutzung, S. 17 f. 53 Eine solche „ökonomische“ Lösung ist gerade im Gewässerbereich auch europarechtlich durch das Ökonomisierungsgebot des Art. 9 WRRL zumindest nahegelegt. Die Düngung z. B. ist nach bisher h.M. zwar nur eine Wassernutzung (s. o.) und keine Wasserdienstleistung, da sie die Definition in Art. 2 Nr. 38 WRRL nicht erfüllt. Für Wassernutzungen verlangt Art. 9 Abs. 1 UAbs. 1 WRRL, dass auch diejenigen Wassernutzungen, die nicht Wasserdienstleistungen sind, einen angemessenen Beitrag zur Deckung der Kosten der Bereitstellung der Wasserdienstleistungen übernehmen, wenn sie einen Teil der Kosten verursacht haben. Dementsprechend hat z. B. die Landwirtschaft eigentlich die (Mehr-)Kosten zu tragen, die durch

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dann zwar mit vergröberten Einschätzungen zu bestimmten Flächennutzungskategorien gearbeitet werden, was sehr viel weniger genau ist als exakte Emissionsmessungen, aber dennoch die Entwicklung in die richtige Richtung lenken könnte, bis schließlich genauere Messtechniken zur Verfügung stehen. Generell sollte bedacht werden, dass anspruchsvolle Ziele und Vollzugsfreundlichkeit letztlich wichtiger erscheinen als minutiöse Zielgenauigkeit. Mengensteuerung i.e.S. durch Zertifikatmärkte oder i.w.S. durch ein Einwirken auf die Preise via Abgaben (und durch einen Umbau des Subventionssystems) erscheint häufig außerdem transparenter und damit auch demokratischer als eine immer komplexere ordnungsrechtliche Regulierung, die nur noch wenige Experten verstehen. Als wirksame Umweltpolitik erzwingt (vermittelt über das Medium Preis) allerdings ggf. eine partielle Lebensstilwende und ist deshalb bei Politik, Wirtschaft und Bürgern unbeliebt. Durchgreifende Probleme mit Wettbewerbsfähigkeit und sozialen Verteilungsfragen bestehen dagegen nicht, insbesondere bei EU-weiten Ansätzen: Auch wenn man zur Vermeidung von Verlagerungseffekten z. B. die Flächensteuern europaweit parallel weiterentwickeln würde, kämen ergänzend wieder Border Adjustments in Betracht. Die grundsätzliche Funktionsweise wurde bereits am Beispiel des Klimaschutzes erörtert; bekanntlich geht es um die Vermeidung von Verlagerungseffekten, um die Wettbewerbsfähigkeit und damit um Möglichkeit, überhaupt ökonomische Instrumente ohne weltweite Basis zu schaffen. Soziale Verteilungsfragen kann dies nicht vermeiden; sie entstehen jedoch bei jedweder ernst gemeinter Umweltpolitik – und noch viel mehr entstehen sie, wenn man z. B. dem Klimawandel seinen Lauf lässt.55 Freilich wird gegen wirksamere und vollzugsstärkere Regelungen angeführt, eine verschärfte Überwachung würde die Ausgrenzung der Landwirtschaft als „ständigem Sündenbock“ verstärken und das Dorfklima vergiften, was den Nutzen einer eingespielten Dorfgemeinschaft mit scharfer sozialer Missachtung der Abweichung von der guten fachlichen Praxis verspielte.56 Derartige Sichtweisen (abgesehen davon, dass sie die menschliche Verhaltensprägung auch durch Eigennutzen, hergebrachte Normalitätsvorstellungen und Emotionen wie Gewohnheit/Verdrängung/Bequemden übermäßigen Düngemitteleinsatz bei der Aufbereitung von Rohwasser für die Trinkwasserversorgung entstehen. 54 Bei der Bioenergie als Themenfeld, in dem Klimaschutz und Landnutzung – einschließlich Folgen für die Biodiversität – exemplarisch zusammenlaufen, gilt vom Ergebnis her selbiges – auch hier wäre eine Landnutzungs-Mengensteuerung der Ansatz, um ReboundEffekte, Verlagerungseffekte usw. zu vermeiden, die etwa durch die aktuellen ordnungsrechtlichen Ansätze gerade nicht vermieden werden. Damit wäre auch das Spannungsverhältnis zur Biodiversität, zur Welternährungslage und zur verstärkt nötigen stofflichen Biomassenutzung als Ölsubstitut stärker als bislang abgebildet, indem die Bioenergienutzung insgesamt begrenzt würde. Vgl. dazu ausführlich Ekardt/Hennig, Ambivalenzen, S. 173 ff.; Ekardt/v. Bredow, RELP 2012, 49 ff.; teilweise ähnlich Gawel/Ludwig, NuR 2011, 329 ff.; Gawel/Purkus, ZfU 2012, 29 ff. 55 Auch dazu m.w.N. Ekardt, Theorie, § 6 E. 56 In diesem Sinne Frenz, NuR 2004, S. 642 (646).

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lichkeit/Schwierigkeiten mit raumzeitlich entfernten Schädigungskausalitäten57 übersehen) würden indes dazu führen, dass dem Gesetzgeber überall dort, wo Vollzugsschwierigkeiten zu erwarten sind, ein legislatives Eingreifen im Wege von Anordnungs- und Sanktionsbefugnissen verwehrt wäre. Dabei wird zudem die Notwendigkeit eines Ausgleichs zwischen verschiedenen Interessen- bzw. Freiheitssphären verkannt, die gerade die Aufgabe von (rechtlich verfasster) Politik ist und die dagegen spricht, allein die Freiheit des Umweltnutzers zum Maßstab rechtlicher Regelungen zu erheben.58 Zudem dürfte auch die faktische Akzeptanz eines Regelwerkes, welches nicht rechtsfreie Räume für bestimmte Gruppen gewährt, für die übrigen Betroffenen und letztlich für alle Bürger leichter fallen.59

V. Abbau von Agrarprivilegien als Gleichheitsund Freiheitsgebot? Man könnte abschließend fragen, ob nicht schon der (deutsche und europäische) verfassungsrechtliche Gleichbehandlungsgrundsatz eine Reform der landwirtschaftsbezogenen Umweltpolitik erzwingt. Gibt es wirklich sachliche Gründe dafür, z. B. mittelständische Gewässereinleiter einem (mehr oder weniger) strengen Wasserrechts- und Naturschutzregularium zu unterwerfen, Landwirte dagegen großenteils nicht? Eine vermeintlich größere Bodenabhängigkeit der Landwirtschaft kann deren Privilegierung jedenfalls nicht rechtfertigen; denn auch industrielle Tätigkeiten sind mehr oder weniger auf eine „Bodengrundlage“ angewiesen. Der Gleichheitssatz ist freilich ein problematischer Maßstab, der immer häufiger überdehnt wird, zumal wenn er als Basis vager Zusatzkategorien wie Systemgerechtigkeit, Folgerichtigkeit oder Widerspruchsfreiheit dient. Vieles hängt zudem von der (spielraumreichen) Bildung der gleichheitsbezogenen Vergleichsgruppen ab. Auch die gleichheitsrechtliche Rechtfertigungsprüfung erscheint als durchaus spielraumreich. Deshalb ist bereits unter Gewaltenteilungsgesichtspunkten ein verfassungsgerichtliches Einfordern der Gleichheitsgarantien mit einigen Friktionen behaftet. Gleichwohl stehen Umweltziele etwa im Klimaschutz (nicht nur) bezogen auf die Landwirtschaft nicht zur beliebigen Disposition des Gesetzgebers. Jedenfalls dann 57

Vgl. dazu Ekardt, Theorie, § 2; Ekardt, Steuerungsdefizite, §§ 13, 14. Zum notwendigen multipolaren und wechselseitigen Freiheitsausgleich Ekardt, Theorie, §§ 4, 5. 59 Schließlich konnte auch eine – in der geschilderten Form wohl angesichts der dargestellten Tendenz zu größeren Betrieben längst nicht mehr überall intakte – Dorfgemeinschaft bislang die stetige Bodenverschlechterung nicht verhindern, zumal auch hier die Langzeitwirkung des Bodens ein schnelles Sichtbarwerden erschwert; eine realistischere Analyse der Motivationslagen im Bereich der Landnutzung bieten Ekardt/Holzapfel/Ulrich/ Schnug/Haneklaus, Agriculture and Forestry Research 2011, S. 83 ff.; Ekardt, Theorie, §§ 2, 6 E. V. 3. 58

Agrarprivileg im Umweltrecht – noch zeitgemäß?

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nicht, wenn man rechtsinterpretativ ein anspruchsvolles (deutsches und europäisches) Schutzgrundrechte-Konzept vertritt, welches sich von einigen – über lange Zeit wiederholten – Missverständnissen des gängigen deutschen Diskurses über „Schutzpflichten“ löst.60

60

Vgl. dazu Ekardt, Theorie, §§ 4, 5; zusammenfassend Ekardt, NVwZ 2013, 1105 ff.

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz? Von Reinhard Ellger

I. Wettbewerb, Kartellrecht und Umweltschutz Die technische und wirtschaftliche Entwicklung der letzten gut eineinhalb Jahrhunderte seit dem Beginn der industriellen Revolution hat dazu geführt, dass durch die ständig verbesserten Produktionsmethoden und den ausufernden Konsum der hergestellten Erzeugnisse die natürlichen Lebensgrundlagen des Menschen in zunehmenden Maße in Anspruch genommen, in ihrem Bestand bedroht und geschädigt werden1. Seit den 1970er Jahren hat sich in den entwickelten Industriestaaten der „ersten Welt“ die Einsicht durchgesetzt, dass die Umwelt im Interesse der gegenwärtigen und der zukünftigen Generationen vor einer übermäßigen Inanspruchnahme und Ausbeutung geschützt werden muss2. Die Probleme für die Lebensgrundlagen von Mensch und Natur, die durch eine immer schnellere Entwicklung industrieller Fertigungsmethoden unter ungebremster Ausbeutung von Umweltgütern zu Tage traten, wurden durch den 1972 veröffentlichten Bericht über „Die Grenzen des Wachstums“ an den Club of Rome3 eindrucksvoll ins öffentliche Bewusstsein gerückt. Seitdem hat das Thema Umweltschutz eine steile Karriere nicht nur auf Agenden von internationalen Organisationen, Regierungen und wissenschaftlichen Institutionen gemacht, sondern hat auch eine sehr weitreichende rechtliche Fundierung in der EU und den einzelnen Mitgliedstaaten, darunter Deutschland, erfahren. Die zum Schutz der Umwelt erlassenen Gesetze, Verordnungen und sonstigen Instrumente greifen sehr häufig in die Wirtschaftstätigkeit von Unternehmen und in den wirtschaftlichen Wettbewerb, das wichtigste ökonomische Steuerungselement der sozialen Marktwirtschaft, ein. Von einem Teil des Schrifttums wird daher ein grundlegender Zielkonflikt zwischen Umweltschutz und Kartellrecht konstatiert: Umweltschutzvereinbarungen zwischen Unternehmen seien politisch erwünscht, weil sie sich gegen den „Wettbewerb um weniger Umweltschutz“ richteten, könnten dabei

1

Siehe dazu nur Kloepfer, Umweltrecht (3. Aufl. 2004), 73 ff. Kloepfer, Umweltrecht, 93 ff. 3 Meadows, Die Grenzen des Wachstums (1972), 94 ff. 2

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aber wettbewerbsbeschränkend wirken und damit unter das Kartellverbot des § 1 GWB fallen.4 Im Grundsatz verfolgen Umweltschutz und wirtschaftlicher Wettbewerb jedoch durchaus miteinander in Einklang stehende Ziele: beide wollen die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt durch die effiziente Nutzung von Ressourcen optimieren oder anders gewendet: die Verschwendung knapper Ressourcen minimieren5. Auch Umweltgüter – wie saubere Atemluft und reines Wasser – gehören zu den knappen, nicht unbegrenzt zur Verfügung stehenden Gütern. Ziel der Umweltschutzpolitik und der durch sie geschaffenen Regelungsinstrumente ist es, die schadensstiftenden Wirkungen von Produktion und Konsum auf die Umwelt auf ein ökonomisch vertretbares Maß zu beschränken. Der (wirtschaftliche) Wettbewerb erreicht sein Ziel des effizienten Ressourceneinsatzes dadurch, dass er jedem Mitteleinsatz ein Auktions- oder Tauschverfahren vorschaltet, in dem die an einer Nutzung interessierten Marktakteure ihre Zahlungsbereitschaft für die Nutzung des knappen Guts offenbaren müssen6. Auf diese Weise lenkt der Wettbewerb die knappen Ressourcen an den Ort ihrer gesellschaftlich wertvollsten Nutzung. Allerdings funktioniert dieses Verfahren zur Entscheidung über die Nutzung knapper Güter nur dann, wenn die an einer marktlichen Transaktion beteiligten Akteure in der Lage sind, die Kosten und den Nutzen des angestrebten Gütergebrauchs zutreffend zu bewerten. Dies ist dann nicht der Fall, wenn nicht alle positiven und negativen Folgen der Ressourcennutzung bei den Nutzern anfallen, sondern von Dritten oder der gesamten Gesellschaft getragen werden. Die Ökonomie spricht insofern von positiven oder negativen externen Effekten. Diese externen Effekte beeinträchtigen die Funktionsfähigkeit des Wettbewerbs im Hinblick auf eine effiziente Nutzung knapper Güter und bilden daher einen in der Ökonomie anerkannten Fall des Marktversagens7. Der ausschlaggebende Indikator für die Knappheit eines Gutes ist sein Preis. Der Preis indiziert die Knappheit eines Gutes aber nur dann zutreffend, wenn alle Kosten der Nutzung eines Gutes auch bei seinem Nutzer anfallen. Werden solche Kosten aber – wie bei negativen externen Effekten –von Dritten oder der Gesellschaft getragen, gehen sie nicht in das Kosten/Nutzen-Kalkül des Nutzers und in den Preis ein8. Die Preise sind zu niedrig, weil die anfallenden externen Kosten nicht beim Nutzer des Gutes internalisiert werden.

4

Kloepfer, Umweltrecht, 520 f. m.w.N. The Nordic Competition Authorities, Joint Report: Competition Policy and Green Growth – Interactions and Challenges (2010), 15. 6 Behrens, Die ökonomischen Grundlagen des Rechts (1986), 114. 7 Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik (6. Aufl. 2005), 88 ff.; Monopolkommission, Wettbewerbsfragen der Kreislauf- und Abfallwirtschaft, Sondergutachten 37 (2003), 23. 8 Freitag/Hansen/Markert/Strauch, Umweltschutz und Wettbewerbsordnung (1973), 14; Behrens, 85 f. 5

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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Externe Effekte treten u. a. dann auf, wenn knappe Ressourcen die Eigenschaften öffentlicher Güter aufweisen: bei ihnen fehlt es an der Konsumrivalität und/oder an der Ausschließbarkeit Dritter von der Nutzung der Ressource9. Die letzte Eigenschaft ist typisch für Umweltgüter. Fehlt es an gesetzlichen Regelungen, die zu einer Internalisierung der Kosten für die Nutzung führen, sind sie „freie Güter“, die kostenlos von jedem in Anspruch genommen werden. Die Kosten für die Beeinträchtigung solcher Güter müssen dann von denjenigem getragen werden, den die Schäden treffen oder von der Gesellschaft als Ganzem. Es handelt sich dann um „soziale Kosten“ (social cost). Der Umstand, dass sich freie Güter nicht im Kosten/Nutzen-Kalkül ihrer Nutzer niederschlagen, hat fatale Folgen: sie werden übermäßig genutzt, weil ihr Gebrauch für diese kostenlos ist. Gleichzeitig investieren die Nutzer nicht ausreichend in die Erhaltung der freien Güter, weil eine solche Investition allen Nutzern, auch solchen, die sich an der Erhaltungsinvestition nicht beteiligen, zugute kommt und daher eine Amortisation der Erhaltungsinvestitionen durch den investierenden Nutzer nicht möglich ist. Die Ökonomie spricht hier von der „Tragedy of the Commons“10. Ziel der Umweltpolitik und ihres rechtlichen Instrumentariums ist es daher, die Kosten für die Inanspruchnahme bisher freier Umweltgüter bei den Nutzern zu internalisieren, um so die wahren Knappheitsrelationen bei der Nutzung von Umweltgütern im Rahmen der Preisbildung zu reflektieren. Bei privaten Gütern, bei denen Rivalität im Konsum und die Möglichkeit des Ausschlusses Dritter besteht, erfolgt die Internalisierung von Kosten und Nutzen über die Begründung ausschließlicher Eigentumsrechte (property rights) an solchen Gütern. Da Umweltgüter wegen ihrer Nicht-Ausschließbarkeit nicht einzelnen Rechtssubjekten als private Güter zugewiesen werden können, muss das Ziel der Internalisierung durch andere Instrumente erreicht werden. Der Ausgangspunkt des Umweltrechts ist dabei das sog. Verursacherprinzip11. Danach sollen die Kosten von Umweltschädigungen von demjenigen getragen werden, der diese Schädigungen bewirkt. Das Umweltrecht erreicht die Internalisierung der durch Umweltschädigungen verursachten Kosten durch eine Vielzahl rechtlicher Elemente wie etwa der Einführung von Haftungsregeln (Schadensersatzansprüche), Umweltabgaben und -steuern, Festsetzung von Obergrenzen der Um9

Behrens, 90; van Suntum, Die unsichtbare Hand (3. Aufl. 2005), 49 ff. So der Titel des berühmten Aufsatzes von Hardin, The Tragedy of the Commons, Science (N.S.) Vol 162, 1243 ff. (1968). Darin beschreibt Hardin die Auswirkungen der Externalisierung auf den Umweltschutz wie folgt: „In a reverse way, the tragedy of the commons reappears in problems of pollution. Here it is not a question of taking something out of the commons, but of putting something in – sewage, or chemical, radioactive, and heat wastes into water; noxious and dangerous fumes into the air; and distracting and unpleasant advertising signs into the light of sight. The calculations of utility are much the same as before. The rational man finds that his share of the cost of the wastes he discharges into the commons is less than the cost of purifying his wastes before releasing them. Since this is true for everyone, we are locked into a system of „fouling our own nest“, so long as we behave only as independent, rational, free-enterprisers.“ (Hardin, oben Fn. 10, 1245). 11 Siehe dazu Kloepfer, Umweltrecht, 189 ff. 10

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weltverschmutzung durch Normen und Standards und Pflichten zur Beseitigung von Umweltbeeinträchtigungen bzw. die Tragung der entsprechenden Kosten oder der Einführung handelbarer Emissionszertifikate, die den Inhabern das Recht zu bestimmten umweltwirksamen Emissionen geben.12 Bekanntestes Beispiel für Letztere ist das 2005 von der Europäischen Union gegründete Emissions Trading System EU ETS, das den Unternehmen, u. a. Fluggesellschaften, handelbare Zertifikate für die Emission des Treibhausgases Kohlendioxid zur Verfügung stellt, welches maßgeblich zur Klimaerwärmung beiträgt. Die Internalisierung der Kosten für Umweltbeeinträchtigungen bei den Verursachern durch diese Maßnahmen der Umweltpolitik zeigt aber auch noch etwas anderes: diese Maßnahmen gewährleisten den Umweltschutz nicht um jeden Preis, indem sie etwa die Emission eines bestimmten schädigenden Stoffes wie z. B. Kohlendioxids ganz verbieten13. Vielmehr zwingt die Internalisierung die Nutzer des Umweltguts dazu, bei der Nutzung der Ressource die Kosten dafür in ihr Kosten/Nutzen-Kalkül aufzunehmen und gegen die Vorteile der Nutzung abzuwägen. Die Nutzer werden eine zusätzliche Einheit des Umweltguts – etwa durch eine zusätzliche Menge an emittiertem Gas und die dadurch verursachte zusätzliche Schädigung – nur dann in Anspruch nehmen, wenn die Kosten, die sie für die Schadensvermeidung aufwenden müssen, geringer sind als die Schadenskosten. Dies lässt sich anhand der folgenden Graphik schematisch darstellen:

12 Siehe dazu etwa Kloepfer, Umweltrecht, 271 (gesetzliche Ge- und Verbote), 279 ff. (ök. Instrumente), 452 ff. (Umwelthaftungsrecht); Fritsch/Wein/Ewers, 164 ff. 13 Fritsch/Wein/Ewers, 96 f.

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Es wird davon ausgegangen, dass eine Zurückführung einer ursprünglichen Emission in der Menge 0 – 10 einerseits geringere Schadenskosten verursacht, aber andererseits zu einem Anstieg der Schadensvermeidungskosten für das emittierende Unternehmen führt. Eine Internalisierung der Schadenskosten beim Verursacher würde diesen dazu veranlassen, seine Emission so weit zu reduzieren, dass die Schadenskosten gerade seinen Schadensvermeidungskosten entsprechen. Dies ist der Fall bei einem Emissionsvolumen der Menge 5. Eine Emission darüber hinaus wäre nicht sinnvoll, weil die vom Verursacher zu tragenden Schadenskosten höher wären als die Schadensvermeidungskosten. Reduziert er seine Emission hingegen auf ein jenseits dieses Punktes liegendes Niveau, übersteigen die Schadensvermeidungskosten die Schadenskosten. So würde beispielsweise eine Zurückführung der Emission auf die Menge 3 zu Schadensvermeidungskosten in Höhe von ca. 3 im Punkt PSV1 und zu Schadenskosten in Höhe von etwa 0,2 im Punkt PS1 führen. Diese Reduktion würde einen Wohlfahrtsverlust nach sich ziehen, weil zur Verhinderung eines Schadens von 0,2 Schadensvermeidungskosten in Höhe von 3 aufgewandt werden müssten. Aus diesen Erwägungen wird deutlich, dass es wirtschaftlich nicht sinnvoll ist, die Emission gänzlich zu unterlassen. Es gibt demzufolge ein optimales Schädigungsniveau, welches ohne Wohlfahrtsverlust weder über-noch unterschritten werden kann. Insofern ist festzustellen, dass bei einer vollständigen Internalisierung der sozialen Umweltkosten beim Verursacher der Wettbewerb zu einem effizienten Produktions- und Konsumniveau führt, weil die Preise der Waren und Dienstleistungen die Knappheit der zu ihrer Herstellung in Anspruch genommenen Ressourcen – einschließlich der Umweltgüter – angemessen reflektieren. Bei vollständiger Internalisierung der durch die Nutzung der öffentlichen Umweltgüter entstandenen Kosten zeigt sich kein prinzipieller Widerspruch zwischen Umweltschutz und Wettbewerb. Diese Aussage ist jedoch in zweifacher Hinsicht zu relativieren: Die Maßnahmen des Umweltrechts zur Internalisierung der Kosten für Umweltmaßnahmen beeinflussen die Wettbewerbsverhältnisse auf den Märkten14. Solche Umweltschutzmaßnahmen führen zu einer Erhöhung der Produktionskosten bei den Unternehmen, die ihnen unterliegen. Durch sie kann sich das relative Preisgefüge auf den Märkten für Waren und Dienstleistungen verändern; die Verbraucher werden darauf mit Veränderungen ihres Konsumverhaltens reagieren und möglicherweise auf andere, weniger teure Produkte ausweichen, wenn sie die Möglichkeit dazu haben. Die Internalisierung der Umweltkosten kann tendenziell auch zu verstärkten, wettbewerbspolitisch unerwünschten Konzentrationsprozessen auf den betroffenen Märkten führen15. Manche der genannten Instrumente begünstigen große Firmen, weil diese in der Lage sind, die Umweltkosten über eine große Anzahl von Produktstücken besser zu verteilen als Unternehmen mit einer kleineren Ausbringungsmenge. Besonders deutlich wird dieser Effekt, wenn die Umweltkosten Fixkosten darstel14 15

The Nordic Competition Authorities, Competition Policy and Green Growth, 16 f. Kloepfer, Umweltschutz als Kartellprivileg, JZ 1980, 781.

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len, die unabhängig von der Zahl der produzierten Stücke anfallen wie z. B. emissionsminimierende Technologien in den Schornsteinen von Produktionsstätten. Im Endeffekt kann eine solche, auf Umweltschutzmaßnahmen beruhende Kostensteigerung dazu führen, dass die Mindestbetriebsgröße für die Herstellung eines bestimmten Produkts ansteigt. Die dadurch verursachten Konzentrationsprozesse können die Intensität des Wettbewerbs auf einem relevanten Markt mindern, weil die Zahl der Wettbewerber sinkt16. Die Beeinträchtigung des Wettbewerbs wiederum kann sich in Wohlfahrtsverlusten niederschlagen, die mit den Wohlfahrtsgewinnen aus der Internalisierung der Umweltkosten abgewogen werden müssen, um per Saldo eine Gesamtwohlfahrtsverminderung zu verhindern. Umweltschutzmaßnahmen können auch Marktzutrittsbarrieren für neue Unternehmen verursachen, weil es leichter ist, umweltschützende Technologien in neuen Produktionsstätten einzubauen und zu verwenden als in schon bestehenden Anlagen, so dass Newcomer mit höheren Umweltkosten belastet sein können als bereits auf dem Markt befindliche Unternehmen, wenn letztere von „grandfathering“-Regeln (Bestandsschutz) profitieren und daher die neue Umwelttechnik nicht einbauen müssen. Diese Folgen der Internalisierung sozialer Umweltkosten beim Verursacher sind allgemeiner Natur und treten unabhängig vom Verhalten einzelner Unternehmen dadurch ein, dass staatliche Regelungsinstrumente die Internalisierung der sozialen Kosten erst ermöglichen. Adressaten des Kartellrechts sind hingegen Unternehmen, die daran gehindert werden sollen, durch Verhaltenskoordinierung (Vereinbarungen, abgestimmtes Verhalten, Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen) oder die missbräuchliche Ausnutzung von Marktmacht den Wettbewerb zu beeinträchtigen. Auf dieser allgemeinen Ebene kommt es also nicht zu einem Normenkonflikt zwischen Umwelt- und Kartellrecht, wohl aber ist es Aufgabe einer aufeinander abgestimmten Umweltschutz- und Ordnungspolitik, Konflikte zwischen den Zielsetzungen beider Politikbereiche zu lösen und ihre negativen Auswirkungen, wie z. B. weniger Wettbewerb durch eine Förderung der Unternehmenskonzentration, möglichst zu minimieren. Allerdings können sich Normenkonflikte zwischen Normen des Umweltrechts auf der einen und Regeln des Kartellrechts auf der anderen Seite auf einer darunter liegenden Ebene ergeben. Die Implementierung des Verursacherprinzips durch das Umweltschutzrecht lässt sich in bestimmten Bereichen in wirtschaftlich effizienter Weise nur realisieren, wenn in Wettbewerb stehende Unternehmen miteinander kooperieren. Die Regeln des Umweltrechts sehen in solchen Fällen eine entsprechende, allerdings beschränkte Kooperation vor. Ein Beispielsfall ist die haushaltsnahe Entsorgung von Verpackungsmüll auf der Grundlage des Kreislaufwirtschaftsgesetzes und der Verpackungsverordnung. Die Einführung eines flächendeckenden Systems zur Entsorgung solchen Abfalls in Deutschland im Jahr 1991 hat zu erheblichen Wettbewerbsbeschränkungen auf den für diesen Bereich relevanten Märkten geführt, die erst allmählich und auch 16

The Nordic Competition Authorities, Competition Policy and Green Growth, 16 f.

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nur partiell beseitigt werden konnten. Hier stellt sich die Frage, in welchem Verhältnis Umweltschutzrecht und Kartellrecht zueinander stehen und welcher der beiden Regelungskomplexe im Konfliktfall Vorrang vor dem jeweils anderen beanspruchen kann. Daneben schließen aber auch Unternehmen miteinander wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen ab, um Verbesserungen des Umweltschutzes herbeizuführen, ohne dass ihre Kooperation durch eine umweltschutzrechtliche Norm vorgesehen ist oder erleichtert wird. In diesen Fällen stellt sich die Frage, ob und inwieweit solche durch den Umweltschutz motivierten Vereinbarungen durch die kartellrechtlichen Normen vom Kartellverbot freigestellt sind und ob die de lege lata vorhandenen Freistellungsmöglichkeiten ausreichend sind, um Umweltinteressen angemessen berücksichtigen zu können. Fraglich ist hier auch, ob angesichts des hohen rechtlichen Ranges des Umweltschutzes de lege ferenda eine besondere und weiterreichende Freistellung solcher Vereinbarungen erforderlich ist17. Darüber hinaus spielt der Umweltschutz auch eine wichtige Rolle bei der Gewährung staatlicher Beihilfen und gewinnt auch zunehmend an Bedeutung als Vergabekriterium bei der Erteilung öffentlicher Aufträge. Auch auf diese Aspekte soll in diesem Beitrag kurz eingegangen werden.

II. Umweltschutz vs. Wettbewerbsschutz: harmonische Koordination der Regelungen oder Vorrangkonflikte bei der Anwendung des Kartellrechts? Die rechtliche Grundlage für eine Berücksichtigung von Umweltbelangen bilden in erster Linie die Wettbewerbsregeln des Vertrages über die Arbeitsweise der Europäischen Union (AEUV), die in den Artt. 101 bis 106 des Vertrages niedergelegt sind. Das deutsche Kartellrecht des GWB, welches den europäischen Regelungen weitgehend angeglichen ist, wird am Rande mitbehandelt. Eine Schwerpunktsetzung bei den Wettbewerbsregeln des AEUV rechtfertigt sich auch aus der Erwägung, dass bei vielen der hier in Frage stehenden wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen nach Art. 101 Abs. 1 AEUV und missbräuchlichen Verhaltensweisen nach Art. 102 AEUV die Voraussetzungen der dort vorgesehenen Zwischenstaatlichkeitsklausel (Geeignetheit zur Beeinträchtigung des Handelsverkehrs zwischen den Mitgliedstaaten) vorliegen werden, so dass nach Art. 3 VO 1/200318 und dem von der Rechtsprechung entwickelten Anwendungsvorrang der EU-Wettbewerbsregeln im Verhältnis

17

Zu dieser Fragestellung insbesondere Kloepfer, Umweltrecht, 521. Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln vom 16.12. 2002, ABl. EU 2003 Nr. L 1/1. 18

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zu den mitgliedstaatlichen Wettbewerbsvorschriften19 sich im Konfliktfall ohnehin das europäische gegenüber dem deutschen Kartellrecht durchsetzt. 1. Ein praktisches Beispiel für den Konflikt zwischen Umweltund Wettbewerbsschutz: Die Abfall-Entsorgungsmärkte Als ein praktisches Beispiel für das Verhältnis von Umweltschutzrecht auf der einen Seite und Kartellrecht auf der anderen Seite bietet sich die Entwicklung auf den Märkten für die haushaltsnahe Entsorgung von Verpackungsmüll an. In der 1980er Jahren wurde deutlich, dass durch eine ungebremste Zunahme von Verpackungsmüll eine „Mülllawine“ auf die in Deutschland für die Abfallentsorgung zuständigen Kommunen zurollte. Diese Entwicklung brachte angesichts knapper werdenden Deponieraums und ausgelasteter Verbrennungsanlagen die Kommunen an den Rand ihrer Möglichkeiten zur ordnungsgemäßen Entsorgung. Um hier Abhilfe zu schaffen, entschloss sich der Gesetzgeber dazu, durch die bereits 1991 erlassene Verpackungsverordnung (VerpackV) sowie durch das 1994 verabschiedete, aber erst 1996 in Kraft getretene Kreislaufwirtschafts- und Abfallgesetz einen neuen wirtschaftlichen und rechtlichen Rahmen für die Abfallwirtschaft zu setzen20. Die normativen Grundlagen der Abfallentsorgung wurden später novelliert, sind aber in vielen Grundzügen gleichgeblieben. Heute wird die Entsorgung von Abfällen durch das Kreislaufwirtschaftsgesetz vom 24.2. 2012 (KrWG)21 sowie der Verpackungsverordnung (VerpackV) vom 21.8. 199822 geregelt. § 23 des KrWG weist dem Hersteller und dem Vertreiber von Erzeugnissen die Produktverantwortung für die Erfüllung der Ziele der Kreislaufwirtschaft zu. Die Produktverantwortung umfasst die Pflicht, Erzeugnisse so zu gestalten, dass bei ihrer Herstellung und ihrem Gebrauch möglichst wenig Abfall entsteht und sichergestellt ist, dass die nach Gebrauch entstandenen Abfälle umweltverträglich verwertet oder beseitigt werden (§ 23 Abs. 1 KrWG). § 25 Abs. 2 KrWG konkretisiert die sich aus der Produktverantwortung ergebenden Pflichten. Gemäß § 23 Abs. 2 Nr. 5 KrWG gehört dazu auch die Rücknahmepflicht für Abfälle, die nach Gebrauch oder Verbrauch der Erzeugnisse entstehen und die Pflicht zu ihrer umweltverträglichen Verwertung oder Beseitigung. Diese Rücknahmepflicht wird für Verpackungen in der auf § 25 des KrWG beruhenden VerpackV 19

EuGH 13.2. 1969, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 ff., Rdnr. 4 „Walt Wilhelm“; EuGH 10.7. 1980, verb. Rs. 253/78 und 1 bis 3/79, Slg. 1980, 2327, Rdnr. 16 „Giry und Guerlain“. 20 Siehe zu den wirtschaftlichen und rechtlichen Entwicklungen in diesem Bereich Monopolkommission, Wettbewerbsfragen der Kreislauf- und Abfallwirtschaft, Sondergutachten 37 (2003), 20; Velte, Duale Abfallentsorgung und Kartellverbot (1999), 72 ff. 21 Gesetz zur Förderung der Kreislaufwirtschaft und Sicherung der umweltverträglichen Bewirtschaftung von Abfällen (Kreislaufwirtschaftsgesetz – KrWG) v. 24.2. 2012, BGBl. 2012 I, 212. 22 VO über die Vermeidung und Verwertung von Verpackungsabfällen (VerpackV) v. 21.8. 1998, BGBl. 1998 I, 2379, zul. geändert durch die 5.VO zur Änderung der Verpackungsverordnung vom 2.4. 2008, BGBl. 2008 I, 531.

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näher ausgestaltet. Nach § 4 – 6 VerpackV 1998 bestehen Rücknahmepflichten für Hersteller und/oder Vertreiber für Transportverpackungen, Umverpackungen und Verkaufsverpackungen. Während die Rücknahmepflichten für Transportverpackungen und Umverpackungen unmittelbar durch die Hersteller und/oder Vertreiber zu erfüllen sind, ist für die Rücknahme von Verkaufsverpackungen eine kompliziertere Regelung vorgesehen, die bereits in der VerpackV 1991 vorgesehen war und – wenn auch mit zahlreichen Modifikationen – von der VerpackV 2008 fortgeführt wird. Nach § 6 Abs. 1 VerpackV sind Hersteller und Vertreiber von Waren mit Verkaufsverpackungen, die beim privaten Endverbraucher anfallen, verpflichtet, sich einem System anzuschließen, das die flächendeckende Rücknahme solcher Verpackungen gewährleistet (duales System). Die Pflicht eines Herstellers oder Vertreibers zum Beitritt zu einem dualen System kann entfallen, wenn der Verpflichtete nachweislich selbst die Verpackungsabfälle zurücknimmt und verwertet. Dem dualen System der haushaltsnahen Rücknahme von Verkaufsverpackungen liegt eine komplexe Vertragsstruktur zugrunde23. Die verpflichteten Hersteller und Vertreiber schließen mit einem dualen System einen sog. Lizenzvertrag, mit dem sie das Recht erwerben, das Zeichen „Der Grüne Punkt“ auf ihre Verkaufsverpackungen zu drucken und zugleich das duale System beauftragen, die flächendeckende Rücknahme des von ihnen in Verkehr gebrachten Verpackungsmülls zu organisieren. Dazu schließt das duale System einen Erfassungsvertrag mit einem lokalen Erfassungsunternehmen, das den Verpackungsmüll beim Verbraucher einsammelt. Der Erfasser liefert den Verpackungsmüll an ein Sortier- oder Aufbereitungsunternehmen, welches vom dualen System dazu beauftragt ist, den vom Erfasser angelieferten Müll zu sortieren bzw. zur weiteren Verwertung aufzubereiten. Schließlich veräußert das duale System den aufbereiteten Müll an einen Verwerter, der die im Wege des Recycling gewonnenen Stoffe weiterverarbeitet oder entsorgt. In der Anfangsphase der haushaltsnahen Entsorgung von Verpackungsmüll zwischen 1991 und 2003 war das System von erheblichen und schwerwiegenden Wettbewerbsbeschränkungen gekennzeichnet. Die VerpackV 1991 ging zwar nicht ausdrücklich, aber doch konzeptionell davon aus, dass die kostenlose, flächendeckende und haushaltsnahe Rücknahme von Verpackungsmüll nur durch ein duales System zu organisieren sei24. Tatsächlich hatte das Unternehmen DSD – Der Grüne Punkt zwischen 1991 und 2003 eine Monopolstellung auf diesem Markt inne. Dies führte zu wettbewerbsbeschränkenden Effekten auf beiden Seiten des Marktes: einerseits verfügte DSD über ein Angebotsmonopol gegenüber den Herstellern und Vertreibern von Waren mit Verkaufsverpackungen, die sich dem System anschließen mussten. 23 Siehe dazu im Einzelnen Monopolkommission, Wettbewerbsfragen der Kreislauf- und Abfallwirtschaft, Sondergutachten 37 (2003), 35 ff.; BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme – Zwischenbilanz der Wettbewerbsöffnung (2012), 16 ff.; Velte, Duale Abfallentsorgung und Kartellverbot,(1999), 99 ff.; Riesenkampff, Die private Abfallentsorgung und das Kartellrecht, BB 1995, 833 ff. (835 f.); Bock, Entsorgung von Verkaufsverpackungen und Kartellrecht, WuW 1996, 187 ff. (188). 24 BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 20.

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Gleichzeitig wurde deren Nachfrage gebündelt. DSD trat auf der anderen Seite des Marktes den Unternehmen, die Erfassungs-, Sortier- und Verwertungsleistungen anboten, als Nachfragemonopolist (Monopson) gegenüber. Von Anfang an war deutlich, dass die Erfassungsleistung die Eigenschaften eines natürlichen Monopols aufwies, da die Erfassungsinfrastruktur nicht duplizierbar ist und erhebliche Skalen- und Verbundvorteile bestehen, so dass hier kein Wettbewerb im Markt (durch mehrere konkurrierende Erfasser), sondern nur um den Markt möglich war und ist. Allerdings wurde auch dieser Wettbewerb um den Markt durch die Kopplung von Erfassungs-, Sortier- und Verwertungsleistungen sowie übermäßig lange Vertragslaufzeiten der Leistungsverträge gemindert. In der Anlaufphase des dualen Systems in Deutschland hielten sich sowohl die EU-Kommission als auch das BKartA als Kartellbehörden zurück25 und griffen nur in Randbereichen ein. So verhinderte das BKartA im Jahre 1993 den Versuch von DSD, sein Monopol auf die Entsorgung von Transportverpackungen auszudehnen.26 Die Europäische Kommission befasste sich in zwei Entscheidungen mit dem Unternehmen Duales System Deutschland GmbH. In der ersten untersagte sie dem Unternehmen, Lizenzgebühren von Herstellern und Vertreibern zu kassieren, ohne dass diese die Verwertungsleistungen in Anspruch nehmen, die von DSD organisiert werden, weil sie z. B. Eigenentsorgung betrieben. In der so ausgestalteten Lizenzgebühr sah die Kommission einen Verstoß gegen Art. 102 AEUV.27 In einer weiteren Entscheidung untersuchte die Kommission die Vereinbarkeit des Dualen Systems Deutschland mit Art. 101 AEUV, weil DSD einen Freistellungsantrag gestellt hatte. Die Kommission stellte erhebliche wettbewerbsbeschränkende Elemente in der Vertragskonstellation von DSD fest, stellte das System aber insgesamt – wenn auch unter Erteilung von Auflagen – vom Kartellverbot frei28. Nach einer entsprechenden Änderung von § 6 VerpackV 1998 wurden ab 2003 mit dem DSD konkurrierende duale Systeme zugelassen, die ebenfalls eine kostenlose flächendeckende Rücknahme von Verpackungsmüll anboten. Heute sind insgesamt 10 Unternehmen auf diesem Markt bundesweit tätig, die nach und nach von den zuständigen Behörden zugelassen wurden. Durch diese Entwicklung wurde das zuvor bestehende Monopol von DSD auf dem Markt für die Organisation von Erfassungs- und Verwertungsleistungen für Verpackungsmüll aufgebrochen. Wegen der Nichtduplizierbarkeit der Erfassungsinfrastruktur sind die konkurrierenden dualen Systeme jedoch bei der Erfassung des Verpackungsmüll insoweit auf Kooperation angewiesen, als sie die in einem bestimmten Gebiet bestehende Erfassungsinfrastruktur durch den Abschluss von Mitbenutzungsverträgen gemeinsam nutzen müssen. Die Marktanteile des ehemaligen Monopolisten sind mittlerweile auf rund 44 % 25

So hat das BKartA in der Anfangsphase das „Duale System Deutschland“ trotz seiner wettbewerbsbeschränkenden Elemente im Rahmen seines pflichtgemäßen Ermessens geduldet, s. dazu BKartA, Tätigkeitsbericht 1991/92, BT-Drucks. 12/5200, 132. 26 BKartA 24.6. 1993, WuW/E BKartA 2561 „Entsorgung von Transportverpackungen“. 27 Komm. 20.4. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 166/1 „DSD“. 28 Komm. 17.9. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 319/1 „DSD“.

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gesunken29. Unter dem Druck der Kartellbehörden schreiben die dualen Systeme die Erfassungsverträge nunmehr alle drei Jahre erneut aus. Die zuvor bestehende Kopplung der Erfassung mit Sortier- und Verwertungsleistungen ist weitgehend beseitigt30 und hat zu einer Marktöffnung für Unternehmen geführt, die nicht alle diese Leistungen gebündelt anbieten können. Durch diese und weitere Maßnahmen hat die Wettbewerbsintensität auf dem Markt für die haushaltsnahe Entsorgung von Verpackungsmüll deutlich zugenommen. Im Jahr 2012 führte das BKartA eine Sektoruntersuchung auf den Märkten für duale Systeme durch, die im Dezember 2012 veröffentlicht wurde. Darin stellt das Amt fest, dass die operativen Entsorgungskosten auf den Märkten der dualen Systeme von 1777 Mio. E im Jahr 2003 auf 824 Mio. im Jahr 2011, also um 54 % gefallen sind, wobei die Kosteneinsparung bei Sortierung und Verwertung durch den Wettbewerb der dualen Systeme am höchsten ausfalle31. Durch die Einführung und Stärkung wettbewerblicher Elemente auf den relevanten Entsorgungsmärkten hat sich nach der Schätzung des BKartA ein Konsumentennettowohlfahrtsgewinn von 2003 bis 2011 in Höhe von 5,6 Mrd. E ergeben32. Durch den Einsatz weiterer Wettbewerbselemente sieht das BKartA ein noch nicht ausgeschöpftes Kosteneinsparungspotential von 200 Mio. E pro Jahr. Demgegenüber sind befürchtete Nachteile durch die Wettbewerbsöffnung ausgeblieben. Es kam nicht zu einem Systemzusammenbruch und auch befürchtete Qualitätsverschlechterungen bei der Entsorgung haben sich nicht ergeben33. Insgesamt ist festzustellen, dass das Beispiel der dualen Systeme entschieden dafür spricht, dass der Wettbewerb für effizientere Verfahrensabläufe im System der Verpackungsmüllentsorgung sorgt als dies in einem System mit weitgehenden Wettbewerbsbeschränkungen bis hin zum Monopol der Fall wäre und dadurch zu sehr beträchtlichen Kosteneinsparungen führt, die letztlich den Konsumenten zugute kommen. Überdies wird auch deutlich, dass die Anwendung des Wettbewerbsrechts nicht zu nachweisbaren Schwächungen der im Rahmen der Verpackungsmüllentsorgung auf dem Spiel stehenden Umweltschutzinteressen führt. 2. Unternehmen und Staat im Recht der Wettbewerbsbeschränkungen a) Unternehmen als primäre Adressaten von Kartellund Missbrauchsverbot Die in Deutschland geltenden Normen zum Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs – die Artt. 101 ff. AEUV und die §§ 1 ff. GWB – richten sich an „Unternehmen“ als Adressaten der in ihnen enthaltenen Normbefehle. 29

BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 28. BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 69 ff. 31 BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 45. 32 BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 66. 33 BKartA, Sektoruntersuchung Duale Systeme, 49 ff. 30

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Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH sind als Unternehmen alle eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübenden Einrichtungen aufzufassen, unabhängig von ihrer Rechtsform und der Art ihrer Finanzierung34. Zu den Unternehmen im Sinne der kartellrechtlichen Vorschriften gehören auch öffentliche Unternehmen und der Staat selbst, soweit er unmittelbar oder durch eine seiner Untergliederungen eine wirtschaftliche Tätigkeit ausübt. Demzufolge werden wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nach Art. 101 AEUV, § 1 GWB und missbräuchliche Verhaltensweisen nach Art. 102 AEUV, § 19 GWB nur insoweit erfasst, als es sich um die Handlungen von Unternehmen handelt. Allerdings werden solche wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen und Handlungen den Unternehmen nur dann zugerechnet, wenn ihre Willensfreiheit nicht durch rechtlich verbindliche, zwingende Rechtsnormen aufgehoben wurde. Dies ist dann der Fall, wenn den Unternehmen ein gegen die Wettbewerbsregeln des AEUV oder die Normen des GWB verstoßendes Verhalten durch Rechtsnormen verbindlich vorgeschrieben ist. Das Verhalten der Unternehmen kann ihnen dann nicht zugerechnet werden, weil es nicht auf einer Betätigung ihrer Willensfreiheit beruht. b) Die Bindung staatlichen Handelns an das Kartellrecht, insbesondere die Wettbewerbsregeln des AEUV Aus dem Umstand, dass Unternehmen Verstöße gegen die Wettbewerbsregeln des AEUV nicht zugerechnet werden, die sie begehen, weil sie von Rechtsnormen eines Mitgliedstaates dazu gezwungen werden, kann nicht der Schluss gezogen werden, dass die Mitgliedstaaten auch befugt sind, den Unternehmen solche Verhaltensweisen vorzuschreiben. Denn dann wäre es ihnen möglich, sich den völkerrechtlichen Verpflichtungen gegenüber den anderen Mitgliedstaaten der EU, die alle Mitgliedstaaten durch den Abschluss von EUV und AEUV eingegangen sind, auf der Ebene des mitgliedstaatlichen Rechts zu entziehen. Nach Art. 4 Abs. 3 S. 3 EUV haben die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen zu unterlassen, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden. Zu den grundlegenden Zielen der Union gehört ausweislich des Protokolls Nr. 27 zum EUV/AEUV die Errichtung eines Systems, das den Wettbewerb im Binnenmarkt vor Verfälschungen schützt. Auf der Grundlage dieser Vorschriften hat der EuGH in ständiger Rechtsprechung die Verpflichtung der Mitgliedstaaten begründet, keine Maßnahmen zu treffen, die die praktische Wirksamkeit (effet utile) der Wettbewerbsregeln des AEUV beeinträchtigen oder gar ausschalten könnten. Dies hat der EuGH zunächst für Art. 86 EWG (heute: Art. 102 AEUV) in den Entscheidung Inno/ATAB für den Missbrauch einer marktbeherrschenden Stellung getan, wo es heißt: „Artikel 5 Abs. 2 des Vertrages (heute: Art. 4 Abs. 3 S. 3 EUV, R.E.) bestimmt, dass die Mitgliedstaaten alle Maßnahmen unterlassen, welche die Verwirklichung der Ziele des Vertra34 Siehe nur EuGH 7.12. 1984, Rs. 170/83, Slg. 1984, 2999, Rdnr. 11 „Hydrotherm“; EuGH 11.7. 2006, Rs. C-205/03, Slg. 2006, II-6319, Rdnr. 25 m.w.N. „FENIN“.

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ges gefährden könnten. Obgleich sich Artikel 86 an die Unternehmen richtet, begründet deshalb der Vertrag doch auch für die Mitgliedstaaten die Verpflichtung, keine Maßnahmen zu treffen oder beizubehalten, die die praktische Wirksamkeit dieser Bestimmung ausschalten könnten. … Desgleichen dürfen die Mitgliedstaaten keine Maßnahmen treffen, die es privaten Unternehmen ermöglichen, sich den ihnen durch die Artikel 85 – 94 des Vertrages (heute: Artt. 101 – 106 AEUV. R.E.) auferlegten Bindungen zu entziehen“.35

Die effet-utile-Rechtsprechung hat der EuGH zehn Jahre später im Urteil van Eycke auf das Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV erstreckt. Zugleich hat er die Reichweite der mittelbaren Bindung der Mitgliedstaaten an die unternehmensgerichteten Wettbewerbsregeln des Vertrages konkretisiert, indem er ausführte: „Nach ständiger Rechtsprechung des Gerichtshofes dürfen die Mitgliedstaaten jedoch aufgrund der Artikel 85 und 86 (heute: Artt. 101, 102 AEUV, R.E.) in Verbindung mit Artikel 5 (heute: Art. 4 EUV, R.E.) EWG-Vertrag keine Maßnahmen treffen oder beibehalten, die die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln aufheben könnten. Nach der Rechtsprechung ist ein solcher Fall gegeben, wenn ein Mitgliedstaat gegen Artikel 85 verstoßende Kartellabsprachen vorschreibt, erleichtert oder wenn er der eigenen Regelung dadurch ihren staatlichen Charakter nimmt, dass er die Verantwortung die in die Wirtschaft eingreifenden Entscheidungen privaten Wirtschaftsteilnehmern überträgt“.36

Der EuGH hat die (indirekte37) Bindung der Mitgliedstaaten an die Wettbewerbsregeln des AEUV nicht für bestimmte Gegenstandsbereiche des mitgliedstaatlichen Rechts relativiert. Diese auf dem effet-utile-Grundsatz beruhende Bindung umfasst daher auch staatliche Regelungen, die wettbewerbsbeschränkende Verhaltensweisen der Unternehmen aus Gründen des Umweltschutzes vorschreiben, erleichtern oder verstärken. Welche Folgen ergeben sich aus einem Verstoß eines Mitgliedstaats gegen den effet-utile-Grundsatz? Hierzu hat die Rechtsprechung des EuGH herausgearbeitet, dass mitgliedstaatliche Regelungen, die Unternehmen verpflichten, wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen abzuschließen oder ihnen eine solche Verhaltensweise erleichtern oder sie verstärken, unangewendet bleiben und zwar unabhängig davon, ob die mitgliedstaatliche Norm früher oder später als die Norm des Unionsrechts erlassen wurde.38 Diese Pflicht zur Nichtanwendung der den unionsrechtlichen Wettbewerbsregeln entgegenstehenden Vorschrift des mitgliedstaatlichen Rechts trifft sowohl die Gerichte wie auch die Verwaltungsbehörden des Mitgliedstaates.39 Im vorliegenden Zusammenhang ist zu prüfen, ob Vorschriften des deutschen Umwelt35

EuGH 16.11. 1977, Rs. 13/77, Slg. 1977, 2141, Rdnr. 30/35 „Inno/ATAB“. EuGH 21.9. 1988, Rs. 267/86, Slg. 1988, 4786, Rdnr. 16 „van Eycke“; ähnlich bereits EuGH 13.2. 1969, Rs. 14/68, Slg. 1969, 1 ff., Rdnr. 6 „Walt Wilhelm“. 37 So auch Frenz, Nationalstaatlicher Umweltschutz und EG-Wettbewerbsfreiheit (1997), 21. 38 EuGH 9.9. 2003, Rs. C-198/01, Slg. 2001, I-8079, Rdnr. 48 „Consorzio Industrie Fiammifieri“. 39 EuGH 9.9. 2003, Rs. C-198/01, Slg. 2001, I-8079, Rdnr. 49 „Consorzio Industrie Fiammifieri“. 36

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rechts Unternehmen wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen oder missbräuchliche Handlungen vorschreiben, erleichtern oder diese Handlungen verstärken. c) Staatlich initiierte Wettbewerbsbeschränkungen im Umweltschutzrecht und Effet-Utile des EU-Rechts Im deutschen Umweltrecht, genauer: im Abfallrecht, befinden sich an verschiedenen Stellen Vorschriften, die es den auf den relevanten Märkten tätigen Unternehmen erlauben, miteinander zu kooperieren und zum Teil auch die Art und Weise einer solchen Unternehmenskooperation vorgeben. So sieht etwa § 6 Abs. 3 S. 3 VerpackV vor, dass mehrere duale Systeme bei der Einrichtung und dem Betrieb ihrer Systeme zusammenwirken können, um die haushaltsnahe Rücknahme von Verkaufsverpackungen flächendeckend zu gewährleisten. Wegen der Engpassstellung der Erfassungsinfrastruktur, die nicht duplizierbar ist, sind die dualen Systeme auf eine gewisse Kooperation angewiesen. Diese Zusammenarbeit erfolgt im Rahmen einer Gemeinsamen Stelle, an der sich alle dualen Systeme zu beteiligen haben und für die in § 6 Abs. 7 S. 1 Nr. 1 – 3 VerpackV Umfang und Zweck der Zusammenarbeit festgelegt (und damit auch begrenzt) wird40. Ähnliche Regelungen sehen das Batteriegesetz41, das Elektrogesetz42 und die AltfahrzeugV43 vor: in allen diesen Bereichen sind Unternehmenskooperationen der zur Rücknahme verpflichteten Stellen vorgesehen. Bei näherer Betrachtung wird allerdings deutlich, dass keine der hier aufgeführten Bestimmungen des deutschen Abfall-Umweltrechts die von ihnen betroffenen Unternehmen verbindlich dazu verpflichtet, wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen abzuschließen. Solche Handlungen werden dadurch auch nicht erleichtert oder in ihrer Wirkung verstärkt. Eine Kooperation zwischen Unternehmen muss keineswegs immer und notwendigerweise mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen verbunden sein. Die Verwaltungspraxis der Kommission lässt keinen Zweifel daran, dass sie sich nicht daran gehindert fühlt, die Wettbewerbsregeln des AEUV auf deut40 Die Vorschrift lautet: „(7) Die Systeme haben sich an einer Gemeinsamen Stelle zu beteiligen. Die Gemeinsame Stelle hat insbesondere folgende Aufgaben: 1. Die Ermittlung der anteilig zuzuordnenden Verpackungsmengen mehrerer Systeme im Gebiet eines öffentlich-rechtlichen Entsorgungsträgers, 2. Aufteilung der abgestimmten Nebenentgelte; 3. wettbewerbsneutrale Koordination der Ausschreibungen.“ 41 § 6 Abs. 1, § 7 Abs. 3 des Gesetzes über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverträgliche Entsorgung von Batterien und Akkumulatoren (Batteriegesetz) v. 25.6. 2009, BGBl. 2009 I, 1582. 42 § 6 Abs. 1 i.V.m. § 14 (Gemeinsame Stelle), § 9 Abs. 8 (individuelle oder kollektive Rücknahme für die Selbstentsorgung durch die Hersteller) des Gesetzes über das Inverkehrbringen, die Rücknahme und die umweltverrägliche Entsorgung von Elektro- und Elektronikgeräten (Elektro- und Elektronikgesetz) v. 16.3. 2005, BGBl. 2005 I, 762. 43 § 3 Abs. 3 S. 1 (Möglichkeit zur Schaffung gemeinsamer Rückgabemöglichkeiten durch Autohersteller) der Verordnung über die Überlassung, Rücknahme und umweltverträgliche Entsorgung von Altfahrzeugen (AltfahrzeugV) v. 4.7. 1997 i. d. F. der Bek. vom 21.6. 2002, BGBl. 2002 I, 2214.

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sches Umweltrecht (in casu: auf die Märkte für die Entsorgung von Verpackungsmüll) anzuwenden.44 Im Hinblick auf die VerpackV hat die Kommission dabei festgestellt, dass deren Vorschriften die Unternehmen – wie z. B. DSD – nicht zu einem wettbewerbswidrigen Verhalten zwingen. Zum gleichen Ergebnis gelangte das BKartA im Altglaskartell-Fall45. Dort ging es um den gemeinschaftlichen Einkauf von aufbereitetem Altglas durch ein Kartell von Behälterglasherstellern von den dualen Systemen und den von diesen mit der Glaseinsammlung und – aufbereitung beauftragten Unternehmen. Das BKartA prüfte hier, ob die dem gemeinsamen Einkauf zugrunde liegenden Vereinbarungen den Unternehmen zurechenbar waren oder ob die Unternehmen durch Normen des KrWG oder der VerpackV zum gemeinsamen Einkauf des Altglases verpflichtet waren. Das BKartA konnte den betreffenden Rechtsgrundlagen keine Normen entnehmen, die die Unternehmen in das Einkaufskartell gezwungen hätten46. Die effet-utile Rechtsprechung des EuGH stellt sicher, dass die Wettbewerbsregeln des AEUV nicht durch mitgliedstaatliche Regelungen wie z. B. Umweltschutzgesetze unterlaufen werden können, durch die Unternehmen zu wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen oder Handlungen verpflichtet werden. d) Ausschluss des GWB durch die Normen des Umweltrechts? Verstellt die effet-utile-Rechtsprechung dem deutschen Gesetzgeber den Weg, durch entsprechende Ausgestaltung der innerstaatlichen Umweltschutzvorschriften die Anwendbarkeit der Artt. 101, 102 AEUV auf wettbewerbsbeschränkendes Verhalten von Unternehmen in Deutschland zu verhindern, so steht diese Möglichkeit dem deutschen Umweltgesetzgeber im Hinblick auf das GWB offen. Fraglich ist nur, ob diese Vorschriften so zu interpretieren sind, dass der Gesetzgeber das GWB vom Anwendungsbereich der genannten Gesetze und Verordnungen ausschließen wollte. aa) Ausdrücklicher Ausschluss Gelegentlich schließt der Gesetzgeber die Anwendbarkeit des GWB auf Vereinbarungen von Unternehmen oder Beschlüsse von Unternehmensvereinigungen, die im Anwendungsbereich eines anderen Gesetzes geschlossen bzw. getroffen wurden, aus. Dies hat er z. B. in § 40 des Bundeswaldgesetzes47 getan. Danach findet das GWB keine Anwendung auf Beschlüsse von Vereinigungen lediglich örtlich tätiger Forsterzeugerbetriebe, die die Erzeugung und den Absatz von forstwirtschaftlichen 44

Komm. 17.9. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 319/1 „DSD“; Komm. 20.4. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 166/1 „DSD“. 45 BKartA 31.5. 2007, WuW 2007, 806 ff. „Altglaskartell“. 46 BKartA 31.5. 2007, WuW 2007, 810, Tz. 74 „Altglaskartell“. 47 Gesetz zur Erhaltung des Waldes und der Förderung der Forstwirtschaft (Bundeswaldgesetz) vom 2.5. 1975, BGBl. 1975 I, 1037.

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Erzeugnissen betreffen; eine solche Vereinigung darf ihre Mitglieder hinsichtlich der Preisbildung beraten und ihnen auch Preisempfehlungen geben. Solche Tätigkeiten wären normalerweise nach § 1 GWB verboten. Beispielhaft für eine solche Ausnahme vom GWB sei auch auf § 69 SGB V48 verwiesen. Nach dieser Vorschrift sind Verträge zwischen gesetzlichen Krankenkassen mit Leistungsträgern wie Krankenhäusern, Ärzten oder Apotheken vom Kartell- und Missbrauchsverbot der §§ 1, 19 ff. GWB ausgenommen, soweit die Krankenkassen zum Abschluss dieser Verträge gesetzlich verpflichtet sind. Bei den hier in Frage stehenden Rechtsgrundlagen des Abfall- Umweltrechts fehlt es an einer Bestimmung, die das GWB ausdrücklich für nicht anwendbar erklärt. bb) Konkludenter Ausschluss des GWB wegen Normenkonflikts? Möglicherweise ergibt sich für den Fall, dass es zwischen Normen des AbfallUmweltrechts und des GWB einen Normenkonflikt gibt, aus den allgemeinen Regeln für die Auflösung solcher Normenkonflikte ein Vorrang des Umweltrechts und ein Zurücktreten des GWB. Zweifelhaft ist bereits, ob hier überhaupt eine Normkollision vorliegt. Davon spricht man, wenn ein Sachverhalt von zwei Normen erfasst wird und beide Normen in Bezug auf den Sachverhalt miteinander unvereinbare Rechtsfolgen aussprechen. Die hier in Frage stehenden Gesetze und Verordnungen des Abfall-Umweltrechts sehen in gewissem Umfang und für bestimmte Sachverhalte Kooperationsmöglichkeiten für Unternehmen vor. Ihr Wortlaut ist aber hinsichtlich der Kooperation und ihrer Umsetzung durch die beteiligten Unternehmen so offen gehalten, dass die Unternehmen nicht in wettbewerbsbeschränkende, mit dem Kartellrecht inkompatible Vereinbarungen hineingezwungen werden, sondern ihnen kartellrechtskonforme Kooperationsmöglichkeiten offen stehen. Zu Recht wies das BKartA in seiner Transportverpackungs-Entscheidung darauf hin, das die VerpackV die Gründung eines dualen Systems nicht zwingend vorschreibe, sondern den Herstellern und Vertreibern lediglich die Möglichkeit gebe, durch die Schaffung eines solchen System sich von ihren Rücknahmepflichten zu befreien.49 Auch die Kommission hat im DSD-Verfahren geprüft, ob die wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen, die zur Freistellung angemeldet worden waren, durch die VerpackV 1991 erzwungen worden seien und hat dies – wie das BKartA – verneint.50 Demgegenüber ist die vereinzelt in der Literatur vertretene Auffassung, dass die „Vielzahl kooperations- und konzentrationsfördernder Bestimmungen im neuen 48

Sozialgesetzbuch (SGB). Fünftes Buch (V) – Gesetzliche Krankenversicherung (Art. 1 des Gesetzes vom 20.12. 1988), BGBl. 1988 I, 2477. 49 BKartA 24.6. 1993, WuW/E BKartA 2561, 2572 f. „Entsorgung von Transportverpackungen“. 50 Komm. 17.9. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 319/1, Rdnrn. 166 – 171 „DSD“.

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KrWG“ den Schluss zulasse, dass der Gesetzgeber den Anwendungsbereich des GWB im Bereich der privaten Abfallentsorgung habe begrenzen wollen51, abzulehnen, da sie rechtlich nicht begründet ist. Für einen solchen Willen des Gesetzgebers gibt es keinen Anhaltspunkt. Soweit doch in größerem Umfang Normenkollisionen zwischen §§ 1, 2 und 19 ff. GWB und dem Abfall-Umweltrecht gesehen werden, prüft das Schrifttum, ob die Kollision durch die allgemeinen Regeln der Normenkonkurrenz zu lösen sind. Dazu gehört etwa der Grundsatz, dass das speziellere Gesetz dem allgemeineren, das jüngere dem älteren vorgeht. Allerdings setzt die Anwendung dieser Regeln voraus, dass der Sachverhalt von zwei Normen mit unvereinbarem Inhalt erfasst wird. Das Abfall-Umweltrecht regelt Rücknahmepflichten von Herstellern und Vertreibern bestimmter Erzeugnisse als Ausfluss ihrer Produktverantwortung und legt Wege fest, diesen Rücknahmepflichten zu genügen. In diesem Rahmen werden den Unternehmen auch Kooperationsmöglichkeiten eröffnet. Allerdings ist den Gesetzen und Verordnungen mit keinem Wort zu entnehmen, dass diese Kooperationsmöglichkeiten außerhalb des durch das GWB vorgegebenen kartellrechtlichen Bezugsrahmens realisiert werden können. Das Abfall-Umweltrecht und das GWB haben unterschiedliche Regelungsgegenstände. Deswegen sind die Kooperationsmöglichkeiten des Abfall-Umweltrechts auch nicht leges speciales gegenüber dem GWB.52 Darüber hinaus ließe sich das GWB auch nicht durch die Regelungen der VerpackV und der AltfahrzeugV aushebeln, weil diese als Rechtsverordnungen dem GWB als Gesetz in der Normhierarchie untergeordnet sind53. Insgesamt ist festzustellen, dass das GWB durch die Abfall-Umweltregelungen nicht ausgeschlossen wird. Vielmehr muss sich die Ausgestaltung der in diesen Regelungen vorgesehenen Kooperationsmöglichkeiten in dem vom GWB gezogenen Rahmen der Wettbewerbsordnung halten. 3. Einfallstore für umweltschutzrechtliche Belange in das Kartellrecht – Kartellrechtsinterne Lösungsansätze für Zielkonflikte zwischen Wettbewerbs- und Umweltschutzrecht Ist zunächst geklärt, dass das Umweltrecht nicht per se von der Anwendung der Wettbewerbsregeln des AEUV und des GWB ausgenommen ist, muss gefragt werden, ob und inwieweit innerhalb des Wettbewerbsrechts Ausnahmemöglichkeiten von den wettbewerbsrechtlichen Verboten zur Verfügung stehen, durch die die 51

So Riesenkampff, BB 1995, 837. Köhler, Abfallrückführungssysteme der Wirtschaft im Spannungsfeld von Umweltrecht und Kartellrecht, BB 1996, 2577 ff. (2579); Bock, WuW 1996, 191 f. 53 Siehe dazu Kloepfer, Umweltrecht und Kartellrecht, JZ 2002, 1123; Bock, WuW 1996, 191; Köhler, BB 1996, 2578. 52

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Durchsetzung wichtiger umweltschutzrechtlicher Belange im kartellrechtlichen Rahmen möglich wird. a) Tatbestandsrestriktionen des Kartellverbots zur Förderung von Umweltschutzbelangen Als gewissermaßen erste Ebene bei der Berücksichtigung von Umweltinteressen im Kartellrecht ist zu prüfen, ob eine Vereinbarung zwischen Unternehmen mit Umweltbezug bereits nicht in den Tatbestand des Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV oder § 1 GWB fällt. Der Tatbestand des Kartellverbots liegt nicht vor, wenn umweltschutzbezogene Vereinbarungen zwischen Unternehmen den Wettbewerb nicht i.S.v. Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB beschränken. Dies ist dann der Fall, wenn in den Vereinbarungen keine Regelungen vorgesehen sind, durch die die Vertragspartner ihre Handlungsfreiheit gegenüber Dritten und auch untereinander beschränken54. Darüber hinaus haben sich im europäischen wie auch im deutschen Kartellrecht sog. Tatbestandsrestriktionen entwickelt, durch die aus bestimmten Gründen Vereinbarungen, die eigentlich einen wettbewerbsbeschränkenden Inhalt aufweisen, aus dem Tatbestand des Kartellverbots ausgesondert werden. aa) Die „Rule of Reason“ im Rahmen von Art. 101 Abs. 1 AEUV Im Schrifttum wird erörtert, ob Umweltschutzinteressen im Wege der sog. „rule of reason“ aus dem Tatbestand von Art. 101 Abs. 1 AEUV ausgeschieden werden können.55 Unter der unionsrechtlichen rule of reason ist eine ungeschriebene Ausnahme vom Kartellverbot zu verstehen, durch die bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen aus dem Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV herausgenommen werden. Dies geschieht dadurch, dass eine Abwägung zwischen den Vor- und Nachteilen einer Vereinbarung bereits innerhalb des Tatbestands des Art. 101 Abs. 1 AEUV vorgenommen wird.56 Der EuGH hat eine solche Tatbestandsrestriktion in einigen Fällen vorgenommen und damit eine Diskussion im Schrifttum darüber angestoßen, ob eine solche ungeschrieben rule of reason neben der ausdrücklichen Ausnahmevorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV statthaft und erforderlich ist57. So hat der Gerichtshof in der Entscheidung Metro I festgestellt, dass ein selektives Vertriebssystem in der Form der einfachen Fachhandelsbindung, das den ihm zugehörigen Händlern untersagt, Waren an nicht zum System gehörige Händler zu verkaufen, nicht notwendigerweise den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUVerfüllt, insbesondere dann nicht, wenn auf dem relevanten Markt alternative Vertriebswege zur Verfügung ste54

Siehe z. B. Komm. 15.6. 2001, ABl. EG Nr. L 233/37, Rdnr. 70 – 86 „Eco-Emballages“. Kloepfer, Umweltschutz als Kartellprivileg, JZ 1980, 781 ff. (786); Frenz, 47 ff.; Velte, 195 ff. (im Rahmen von § 1 GWB a.F.). 56 Kling/Thomas, Kartellrecht (2007), 111. 57 Siehe dazu z. B. Emmerich, Kartellrecht, 78; Kling/Thomas, 111 ff., jeweils m.w.N. 55

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hen, zwischen denen der Verbraucher eine Auswahl treffen kann58. Daneben hat der EuGH auch in einigen anderen Fällen aufgrund einer der rule of reason nahekommenden Interessen- und Güterabwägung Vereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkenden Wirkungen bereits aus dem Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 AEUV herausgenommen59. Aus dieser Rechtsprechung hat ein Teil der Literatur den Schluss gezogen, dass nach dem Vorbild des US-amerikanischen Kartellrechts auch im Rahmen der Wettbewerbsregeln des AEUVeine Güterabwägung bereits im Tatbestand des Kartellverbots die Ermittlung der Vor- und Nachteile einer Vereinbarung für den Wettbewerb zulässig sei60. Ergebe diese Abwägung, dass eine Vereinbarung mehr positive als negative Wirkungen aufweise, liege bereits tatbestandsmäßig keine Wettbewerbsbeschränkung vor; auf eine Freistellung nach den Kriterien des Art. 101 Abs. 3 AEUV komme es nicht an. Allerdings ist die Anerkennung einer ungeschriebenen rule-of-reason Ausnahme für das Kartellverbot des Europäischen Rechts nicht auf ungeteilte Zustimmung getroffen. Das EuG lehnt die Anerkennung einer rule of reason klar ab61, eine Auffassung, die vom überwiegenden Teil des Schrifttums geteilt wird62. Auch der EuGH lässt insoweit gelegentlich Zweifel erkennen63. Die rule of reason entstammt dem US-amerikanischen-Kartellrecht. Die grundlegende Sec. 1 des Sherman Act von 189064 sieht ein umfassendes Kartell- und Monopolisierungsverbot vor, ohne dass das Gesetz dafür Ausnahmen enthält. Die US-Ge58

EuGH 25.10. 1977, Rs. 26/76, Slg. 1977, 1875, Rdnr. 21 „Metro I“. Siehe z. B. EuGH 19.2. 2002, Rs. C-309/99, Slg. 2002, I-1577, Rdnr. 97 „Wouters“. 60 Roth/Ackermann, in: Frankfurter Kommentar zum Kartellrecht, Art. 81 Abs.1 EG (LBl., Stand: Mai 2009), Rdnr. 351 ff.; Frenz, 47 ff.; zu der Diskussion siehe auch Emmerich, Kartellrecht, 78 m.w.N. 61 EuG 15.7. 1994, Rs. T-17/93, Slg. 1994, II-595, Randnr. 48 „Matra Hachette/Kommission“; EuG 15.9. 1998, verb. Rs. T-374/94, T-375/94, T-384/94 und T-388/94, Slg. 1998, II3141, Randnr. 136 „European Night Services“; EuG 18.9. 2001, Rs. T-112/99, Slg. 2001, II2459, Rdnr. 72 „M6/Kommission“; EuG 23.10. 2002, Rs. T-65/98, Slg. 2002, II-4662, Rdnr. 106 f. „Van den Bergh Foods“; EuG 2.5. 2006, Rs. T-328/03, Slg. 2006, II-1234, Rdnr. 69 „O2 (Germany)/Kommission“. 62 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 217; Bunte, in: Langen/Bunte, Kommentar zum Deutschen und Europäischen Kartellrecht, Bd. 2: Europäisches Kartellrecht (11. Aufl. 2010), Art. 81 Rdnr. 60; Ellger, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 3 AEUV, Rdnr. 53; Schumacher, Public-Private-Partnerships und Kartellrecht (2002), 164 ff.; Emmerich, Kartellrecht, 79; Bunte, Kartellrecht, 95. 63 EuGH 28.1. 1986, Rs. 161/84, Slg. 1986, 353, Rdnr. 24 „Pronuptia“. Vgl. auch EuGH 8.7. 1999, Rs. C-235/92 P, Slg. 1999, I-4575, Rdnr. 133 „Montecatini“, wo der Gerichtshof ausführt: „Insoweit ist lediglich festzustellen, dass die „rule of reason“, selbst wenn sie einen Platz im Rahmen von Artikel 85 Absatz 1 des Vertrages haben sollte, keinesfalls die Anwendung dieser Vorschrift im Fall eines Kartells ausschließen kann …“ (Hervorhebung durch den Verf.). Diese Formulierung deutet darauf hin, dass der Gerichtshof selbst keine klare Haltung zur Existenz einer „rule of reason“ im europäischen Kartellrecht einnimmt. 64 15 U.S.C. §1. 59

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richte, die das Gesetz anwenden mussten, erkannten, dass Vereinbarungen mit wettbewerbsbeschränkendem Inhalt durchaus effizienzsteigende Wirkungen haben können. Um solche Vereinbarungen nicht dem Verbot der Sec. 1 Sherman Act unterfallen zu lassen, entwickelten sie die (später so genannte) rule of reason. Danach waren wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen nicht verboten, wenn sie in dem Sinn vernünftig (reasonable) waren, dass sie zu Effizienzsteigerungen führten. Taten sie dies nicht, fielen sie unter das Verbot. Für Vereinbarungen mit schweren Wettbewerbsbeschränkungen (etwa Preiskartelle) hingegen fand keine Prüfung der Vor- und Nachteile der Wettbewerbsbeschränkung statt, sondern solche Vereinbarungen waren per se verboten (per se illegality). Im europäischen und im deutschen Kartellrecht hingegen sind ausdrückliche Ausnahmen vom Kartellverbot enthalten. Eine Abwägung der Vor-und Nachteile einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung bereits auf der Tatbestandsebene des Kartellverbots ist daher nicht erforderlich. Vielmehr passt eine rule of reason nicht in die Systematik des europäischen und deutschen Kartellrechts und ist daher abzulehnen65. Eine Ausnahme vom Kartellverbot zugunsten umweltbezogener Vereinbarungen kann demzufolge nicht auf die sog. rule of reason gestützt werden. bb) Immanenztheorie als ungeschriebene Einschränkung von § 1 GWB Eine der im europäischen Kartellrecht diskutierten rule-of-reason ähnliche Tatbestandsrestriktion wird im Rahmen von § 1 GWB durch die sog. Immanenztheorie erreicht66. Es handelt sich dabei um eine ungeschriebene Ausnahme vom Kartellverbot des § 1 GWB, die im wesentlichen Verträge aus dem Tatbestand des § 1 GWB ausnimmt, die in ihrem Kern kartellrechtsneutral sind, aber zu ihrer Durchführung notwendigerweise gewisse Bestimmungen enthalten, die wettbewerbsbeschränkender Natur sind. Es handelt sich dabei nicht um eine Rechtsgüterabwägung, in deren Rahmen der Wettbewerbsschutz mit kollidierenden Rechtsgütern, etwa Umweltschutzinteressen, gegenübergestellt werden. Vielmehr geht die Immanenztheorie davon aus, dass Verträge nicht gegen den Tatbestand des Kartellverbots verstoßen können, soweit diese Verträge von der Rechtsordnung als rechtmäßig anerkannt sind und die wettbewerbsbeschränkenden Klauseln erforderlich sind, um die betreffenden Verträge durchzuführen.

65

Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 217; Bunte, in: Langen/Bunte, Kommentar zum Deutschen und Europäischen Kartellrecht, Bd. 2: Europäisches Kartellrecht (11. Aufl. 2010), Art. 81 Rdnr. 60; Ellger, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 3 AEUV, Rdnr. 53; Schumacher, Public-Private-Partnerships und Kartellrecht (2002), 164 ff.; Emmerich, Kartellrecht, 79; Bunte, Kartellrecht, 95; a.A. Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 101 AEUV Rdnr. 20. 66 Siehe generell zur Immanenztheorie Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht-GWB: Kommentar zum Deutschen Kartellrecht (4. Aufl. 2007), § 1 GWB, Rdnr. 175 ff.; Kling/Thomas, 542 ff.

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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Durch die Tatbestandsrestriktion der Immanenztheorie werden vor allem Wettbewerbsverbote in Unternehmensveräußerungsverträgen oder Gesellschaftsverträgen erfasst67. Solche Wettbewerbsverbote werden in bestimmtem Umfang für solche Verträge als funktionsnotwendig angesehen, um die Transaktion überhaupt abschließen zu können. Es erscheint allerdings zweifelhaft, ob Verträge, die wettbewerbsbeschränkende Klauseln aus Gründen des Umweltschutzes enthalten, mittels der Immanenztheorie aus dem Tatbestand des Kartellverbots des § 1 GWB ausgenommen werden können. Es gibt keine Vertragskategorie, die von der Rechtsordnung anerkannt ist, aber nur durchgeführt werden kann, wenn sie umweltschutzbezogene wettbewerbsbeschränkende Klauseln enthält. Die Tatbestandsrestriktion der Immanenztheorie lässt sich für eine Ausnahme zugunsten des Umweltschutzes daher nicht fruchtbar machen68. cc) Güterabwägung im Tatbestand von § 1 GWB Eine Herausnahme von wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen mit umweltschutzbezogenen Inhalten aus dem Tatbestand des § 1 GWB kann auch unmittelbar aufgrund einer Rechtsgüterabwägung zwischen dem Interesse an der Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs mit außerwettbewerblichen Belangen wie z. B. denen des Umweltschutzes erfolgen69. Zu Beginn seiner Tätigkeit in den 1960er Jahren hatte das BKartA bestimmte wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen, die der Wahrung von außerwettbewerblichen Interessen dienten, aufgrund einer Rechtsgüterabwägung aus dem Tatbestand des § 1 GWB ausgeschieden. Dabei hatte es bestimmte Rechtsgüter wie z. B. die Sicherheit beim Betrieb elektrischer Geräte70, die Standardsetzung durch DINNormen71 und die Festlegung von Arbeitsbedingungen zwischen Unternehmen72 als zumindest potentiell höherrangig als das Interesse an der Aufrechterhaltung eines wirksamen Wettbewerbs angesehen. Allerdings hat das BKartA diese Tatbestandsrestriktion durch Rechtsgüterabwägung bereits seit langem aufgegeben, weil sie nicht mit der Systematik des Kartellverbots und der Ausnahmen davon vereinbar war73. In jüngerer Zeit hat der BGH in vereinzelten Fällen das Kartellverbot durch Rechtsgüterabwägung tatbestandlich eingeschränkt, so dass sich die Frage stellt, 67

Zimmer, in: Immenga/Mestmäcker, § 1 GWB, Rdnr. 177. So auch Kloepfer, Umweltrecht und Kartellrecht, JZ 2002, 1117 ff. (1122); a.A. Köhler, BB 1996, 2579 f.; Velte, 207 – 209. 69 Dazu z. B. Kloepfer, Umweltschutz als Kartellprivileg, JZ 1980, 786; Velte, 196 f. 70 BKartA 20.2. 1960, WuW/E BKartA 145 „Doppelstecker“; BKartA 5.6. 1963, WuW/E BKartA 370 „Handfeuerlöscher“. 71 BKartA 17.5. 1967, WuW/E BKartA 1125 „DIN-Normen“. 72 BKartA 31.1. 1961, WuW/E BKartA 339 „Sonnabendarbeitszeit“. 73 Siehe dazu näher Emmerich, Kartellrecht, 326. 68

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ob insoweit die alte Rechtsgüterabwägung des BKartA in abgewandelter Form wieder auflebt74. Allerdings ist die Reichweite dieser Tatbestandsrestriktion zweifelhaft. Außerdem steht auch ihr die Systematik des Kartellrechts mit dem grundsätzlichen Verbot wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen mit gesetzlich umschriebenen Ausnahmen entgegen. Daher können sich auch nicht möglicherweise als höherrangig zu beurteilende Interessen des Umweltschutzes gegen die Belange des Wettbewerbsschutzes auf der Tatbestandsebene des Verbots nach § 1 GWB durchsetzen. Die Berücksichtigung solcher Interessen kann allenfalls im Rahmen der Freistellung nach § 2 GWB erfolgen. b) Freistellung vom Kartellverbot Genießen umweltschutzbezogene Interessen und Werte nicht schon wegen ihres höheren rechtlichen Rangs Priorität im Verhältnis zum Kartellrecht, so ist zu untersuchen, ob eine sachgemäße Koordination von Umweltschutzinteressen einerseits und dem Interesse an der Sicherung eines wirksamen Wettbewerbs durch das Kartellverbot in Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB im Rahmen der Freistellungsvorschriften des Kartellrechts erfolgen kann. aa) Freistellungsvoraussetzungen Das europäische und das deutsche Kartellrecht sehen in Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 1 GWB gleichlautende Ausnahmen vom Kartellverbot vor. Liegen die Voraussetzungen der Freistellung vor, ist eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung oder abgestimmte Verhaltensweise und der Beschluss einer Unternehmensvereinigung nicht nach Art. 101 Abs. 1, § 1 GWB verboten, sondern eine solche Vereinbarung etc. darf legal praktiziert werden. Eine Freistellung vom Kartellverbot setzt voraus, dass eine Vereinbarung a) zu einer Verbesserung der Warenerzeugung oder -verteilung oder zur Förderung des wirtschaftlichen und technischen Fortschritts beiträgt, b) die Verbraucher am daraus entstehenden Gewinn angemessen beteiligt werden, c) keine Beschränkungen auferlegt werden, die zur Erreichung dieser Ziele unerlässlich sind und schließlich d) keine Möglichkeiten eröffnet werden, für einen wesentlichen Teil der betreffenden Waren den Wettbewerb auszuschalten. Diese vier Voraussetzungen müssen kumulativ vorliegen, um eine Freistellung vom Kartellverbot herbeizuführen. Auch Vereinbarungen, die wettbewerbsbeschränkend sind und umweltbezogene Zielsetzungen verfolgen, können vom Kartellverbot freigestellt sein, wenn sie die genannten Voraussetzungen erfüllen. Die Vorteile in Bezug auf die Verbesserung der Warenerzeugung und – verteilung bzw. auf die Förderung des technischen und wirtschaftlichen Fortschritts müssen objektiver Natur sein, d. h., sie dürfen sich nicht allein nur mit Blick auf die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen ergeben. Eine „Verbesserung“ liegt nur dann vor, wenn ein Vergleich der Situation mit wett74

BGH 18.2. 2003, WuW/E 1119, 1123 „Verbundnetz II“.

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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bewerbsbeschränkender Vereinbarung mit der Situation ohne diese ergibt, dass die Vorteile aus der Wettbewerbsbeschränkung ihre Nachteile überwiegen.75 Die Vorteile, die sich aus einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung ergeben können, sind entweder quantitativer oder qualitativer Natur76. Als Vorteile quantitativer Natur sieht die Europäische Kommission im wesentlichen Effizienzsteigerungen an, die sich z. B. in Kosteneinsparungen aufgrund von Größen- oder Verbundvorteilen niederschlagen können. Eine dem Umweltschutz zugute kommende Vereinbarung könnte etwa zwischen zwei KFZ-Herstellern mit dem Ziel abgeschlossen werden, sich auf die Entwicklung und Herstellung bestimmter Komponenten abgasfreundlicher Motoren zu spezialisieren und den jeweils anderen Partner damit zu beliefern (Spezialisierungsvereinbarung). Solche Vereinbarungen enthalten häufig Klauseln, die Dritte von den Lieferbeziehungen der Partner ausschließen. Wegen möglicher Effizienzvorteile können sie jedoch vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV, §1 GWB freigestellt sein. Neben Kosteneinsparungen sind im Rahmen von Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB auch qualitative Effizienzgewinne anerkennungsfähig. Darunter sind neue und verbesserte Waren und Dienstleistungen aufgrund technischer und wirtschaftlicher Fortentwicklungen zu verstehen.77 Insbesondere unter dieses Tatbestandselement dürfte sich eine Vielzahl von Umweltschutzvereinbarungen subsumieren lassen, die – falls sie die übrigen Voraussetzungen von Art. 101 Abs. 1, § 2 Abs. 1 GWB erfüllen – von Kartellverbot ausgenommen sind. Die Kommission hat die Freistellungsfähigkeit von Umweltschutzvereinbarungen in ihren Leitlinien für horizontale Zusammenarbeit 2001 grundsätzlich positiv beurteilt, indem sie anerkannte, dass unter Art. 101 Abs. 1 fallende Umweltschutzvereinbarungen wirtschaftliche Vorteile erbringen können, „wenn sie entweder auf der Ebene des Einzelnen oder auf der Ebene sämtlicher Verbraucher schwerer wiegen als die nachteiligen Auswirkungen auf den Wettbewerb“.78 Erforderlich ist dabei, dass per Saldo Nettovorteile beim Abbau von Umweltbelastungen entstehen. In diesem Zusammenhang weist die Kommission darauf hin, dass diese Nettovorteile in zwei Stufen eintreten könnten, nämlich entweder bei den einzelnen Verbrauchern auf dem jeweiligen relevanten Markt oder bei den Verbrauchern allgemein. Dabei kommt es auf den Nettovorteil für die Umwelt allgemein nur dann an, wenn Vorteile für die einzelnen Verbraucher nicht ermittelbar sind.79 Hier setzt sich die Kommission allerdings in Gegensatz zu ihren eigenen Grundsätzen für die Anwendung des Art. 101 Abs. 3 AEUV. In ihren 75

Komm. 8.9. 1977, ABl. EG 1977 Nr. L 242/10, Rdnr. 41 „COBELPA/VNP“. Komm., Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004 Nr. C 101/97, Rdnr. 64 ff. und 69 ff. 77 Komm., Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004 Nr. C 101/97, Rdnr. 69 – 72. 78 Komm., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EG 2001 Nr. C 3/2, Rdnr. 193. 79 Komm., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Artikel 81 EG-Vertrag auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EG 2001 Nr. C 3/2, Rdnr. 194. 76

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Leitlinien zur Anwendung des Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag geht sie klar davon aus, dass der Begriff des Verbrauchers in dieser Vorschrift „alle Nutzer der Produkte, auf die sich die Vereinbarung bezieht, einschließlich Produzenten, die die Ware als Vorprodukt benötigen, Großhändler, Einzelhändler und Endkunden, … Verbraucher … sind also Kunden der Vertragsparteien und die späteren Käufer der Produkte“.80 Die Kommission beschränkt hier den Anwendungsbereich von Art. 101 Abs. 3 AEUVauf Verbraucher, die sich entweder auf demselben relevanten Markt wie die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen befinden oder die am Ende einer Wertschöpfungskette das Produkt schließlich erwerben. Es ist nicht die Rede davon, dass die Verbraucher ganz allgemein, die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt oder die Umwelt insgesamt durch den Verbraucherbegriff der Vorschrift erfasst werden. Diese engere Auslegung entspricht auch Sinn und Zweck des Art. 101 Abs. 3 AEUV als Ausnahmevorschrift. In den von der Kommission 2010 erlassenen Leitlinien für horizontale Zusammenarbeit findet sich kein Abschnitt mehr zu der kartellrechtlichen Behandlung von Umweltschutzvereinbarungen; vielmehr sind solche Vereinbarungen nunmehr durch den Abschnitt über Normungsvereinbarungen mitumfasst81. Dies wird auch daran deutlich, dass diesem Abschnitt ein praktisches Beispiel beigefügt ist, das eine Umweltvereinbarung zum Gegenstand hat82. Es ist aber kein Anzeichen dafür erkennbar, dass sich die Haltung der Kommission zur Behandlung von Umweltschutzvereinbarungen im Vergleich zu den Leitlinien 2001 in den Leitlinien 2010 geändert hätte. Durch Art. 101 Abs. 2 AEUVund § 2 Abs. 1 und 2 GWB sind zwei Wege zur Freistellung vorgezeichnet, nämlich durch eine Gruppenfreistellungsverordnung (GVO) oder unmittelbar unter Anwendung der Kriterien des Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 1 GWB im Einzelfall. bb) Gruppenfreistellung Seit Inkrafttreten der VO 1/200383 am 1.5. 2004 ist die Freistellung vom Kartellverbot als Legalausnahme ausgestaltet. Für eine rechtswirksame Freistellung kommt es nicht mehr darauf an, dass eine Kartellbehörde – etwa die Europäische Kommission – eine Freistellung mit konstitutiver Wirkung ausspricht. Eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung ist ex lege freigestellt, wenn die Voraussetzungen von 80 Komm., Leitlinien zur Anwendung von Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag, ABl. EG 2004 Nr. C 101/97, Rdnr. 84. 81 Komm., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C 11/1, Rdnr. 257: „Vereinbarungen, in denen Normen für die Umweltleistung von Produkten oder Herstellungsverfahren festgelegt sind, sind ebenfalls Gegenstand dieses Kapitels.“ 82 Komm., Leitlinien zur Anwendbarkeit von Art. 101 AEUV auf Vereinbarungen über horizontale Zusammenarbeit, ABl. EU 2011 Nr. C 11/1, Rdnr. 329. 83 Verordnung (EG) Nr. 1/2003 des Rates vom 16.12. 2002 zur Durchführung der in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags niedergelegten Wettbewerbsregeln, ABl. EG 2003 Nr. L 1/1.

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Art. 101 Abs. 3 AEUV84, § 2 Abs. 1 GWB vorliegen. Diese Voraussetzungen sind allerdings durchsetzt mit unbestimmten Rechtsbegriffen; im Einzelfall kann es für Unternehmen und ihre rechtlichen Berater schwierig sein zu entscheiden, ob eine Vereinbarung freigestellt ist oder unter das Kartellverbot fällt. Um hier für mehr Rechtssicherheit zu sorgen und den Unternehmen einen „safe harbour“ für ihre Vereinbarungen zur Verfügung zu stellen, hat die Kommission für die in der kartellrechtlichen Praxis wichtigsten Bereiche Gruppenfreistellungsverordnungen erlassen. Diese ermöglichen es Unternehmen, relativ einfach zu erkennen, ob eine durch sie abzuschließende Vereinbarung vom Kartellverbot freigestellt ist. Nach § 2 Abs. 2 GWB gelten die europäischen Gruppenfreistellungsverordnungen auch im Anwendungsbereich des GWB, selbst wenn die Voraussetzungen der Zwischenstaatlichkeitsklausel nicht gegeben sind. Für Umweltschutzvereinbarungen besonders relevant sind die GVOen für Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung85, für Technologietransfervereinbarungen86 und für Spezialisierungsvereinbarungen87. Nach der GVO für Forschung und Entwicklung können Unternehmen Vereinbarungen zur gemeinsamen Forschung und Entwicklung von Umwelttechnologie abschließen. Die GVO für Technologietransfervereinbarungen erlaubt ihnen den Abschluss von Lizenzverträgen, um Umwelttechnik, die durch Rechte des geistigen Eigentums vor dem freien Zugriff vor jedermann geschützt werden, zur Nutzung auf Dritte zu übertragen. Die Spezialisierungs-GVO gestattet es Unternehmen, Größen- und Verbundvorteile durch eine spezialisierte Herstellung von Umwelttechnik zu nutzen. Die Freistellung durch diese GVOen setzt voraus, dass die an den entsprechenden Vereinbarungen beteiligten Unternehmen bestimmte Marktanteilsschwellen nicht überschreiten88 und die Vereinbarungen keine Klauseln mit schweren Wettbewerbsbeschränkungen (hard-core-Beschränkungen wie z. B. Preisabsprachen, Quotenkartelle, Marktaufteilungen etc.) enthalten89.

84

Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003. Verordnung (EU) Nr. 1217/2010 der Kommission vom 14.12. 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Vereinbarungen über Forschung und Entwicklung, ABl. EU 2010 Nr. L 335/36. 86 Verordnung (EG) Nr. 772/2004 der Kommission vom 27.4. 2004 über die Anwendung von Artikel 81 Abs.3 EG-Vertrag auf Gruppen von Technologietransfer-Vereinbarungen, ABl. EU 2004 Nr. L 123/11. 87 Verordnung (EU) Nr. 1218/2010 der Kommission vom 14.12. 2010 über die Anwendung von Artikel 101 Abs. 3 des Vertrags über die Arbeitsweise der Europäischen Union auf bestimmte Gruppen von Spezialisierungsvereinbarungen, ABl. EU 2010 Nr. L 335/43. 88 Art. 4 Abs. 2 FuE-GVO: 25 %; Art. 3 Abs. 1 und 2 Technologietransfer-GVO: 20 % bei konkurrierenden Unternehmen, 30 % bei nicht konkurrierenden Unternehmen; Art. 3 Spezialisierungs-GVO: 20 %. 89 Art. 4 FuE-GVO; Art. 4 Technologietransfer-GVO; Art. 4 Spezialisierungs-GVO. 85

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Es ist davon auszugehen, dass ein erheblicher Teil der in der Praxis abgeschlossenen Umweltschutzvereinbarungen durch eine dieser GVOen erfasst wird und danach freigestellt ist. cc) Umweltschutz im Rahmen der Einzelfreistellung im Spiegel der Fallpraxis von Kommission und BKartA Falls jedoch eine wettbewerbsbeschränkende Umweltschutzvereinbarung nicht unter eine GVO fällt, ist anhand der Tatbestandsmerkmale von Art. 101 Abs. 3 AEUV bzw. § 2 Abs. 1 GWB zu prüfen, ob die entsprechende Vereinbarung vom Kartellverbot freigestellt ist. Hier zeigt sich in der Entscheidungspraxis von Kommission und BKartA recht deutlich, dass Umweltschutzerwägungen im Rahmen der Freistellungspraxis eine durchaus unterschiedliche Rolle spielen können. Zunächst sind Umweltschutzerwägungen und -argumente – vor allem in älteren Entscheidungen – nur zur Verstärkung einer auf andere Feststellungen gestützte Freistellung herangezogen worden, gewissermaßen als obiter dictum. In einer Reihe neuerer Entscheidungen hingegen wurde die Freistellung von Umweltschutzerwägungen bestimmt. Es ist in diesem Zusammenhang allerdings darauf hinzuweisen, dass seit dem Inkrafttreten der VO 1/2003 das bis dahin bestehende Freistellungsmonopol der Kommission beseitigt und durch das System der Legalausnahme ersetzt wurde90. Seitdem gibt es keine kartellbehördlichen Freistellungsentscheidungen mehr; die Freistellungfrage wird allenfalls inzident mitgeprüft, wenn eine Vereinbarung zum Gegenstand eines behördlichen Verfahrens wird. Seit diesem Zeitpunkt kann daher nicht mehr weiterverfolgt werden, welche Umweltschutzvereinbarungen in der Praxis eine bedeutsame Rolle spielen. (1) Umweltschutz als ergänzende Erwägung bei positiver Freistellungsentscheidung In einer Reihe älterer Freistellungentscheidungen wurden Umweltschutzerwägungen vorwiegend zur Verstärkung der argumentativen Basis für positive Freistellungentscheidungen herangezogen, die jedoch in ihrem Kern durch andere Erwägungen und Feststellungen getragen wurden. Es handelte sich bei den von der Kommission entschiedenen Fällen ausnahmslos um die Anmeldung von Gemeinschaftsunternehmen (GU) zur Freistellung, in deren Rahmen die Gründungsunternehmen entweder die gemeinsame Forschung und Entwicklung und/oder die Herstellung bestimmter Erzeugnisse betreiben wollten. In allen Fällen hat die Kommission eine Freistellung vom Kartellverbot erteilt. Sie hat dies im Kern auf wirtschaftliche Erwägungen, vor allem unter Hinweis auf Kosteneinsparungen, getan. Lediglich ergänzend hat die Behörde im Rahmen dieser Entscheidungen darauf hingewiesen, dass die wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen auch zu gewissen Verbesserungen des Umweltschutzes und damit auch zu 90

Art. 1 Abs. 2 VO 1/2003.

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Gewinnen für die Verbraucher führten91. Pars pro toto sei hier auf die Entscheidung Ford/Volkswagen verwiesen. Dabei ging es um ein Gemeinschaftsunternehmen zur Entwicklung und Produktion einer Großraumlimousine, die in einer in Portugal zu errichtenden Produktionsstätte gebaut werden sollte. Hier wies die Kommission am Rande darauf hin, dass „ dem Umweltschutzgedanken … mit erheblichen Verbesserungen des Fahrzeugs Rechnung getragen [wird]. So wird beispielsweise auf die Verwendung potentiell gefährlicher Stoffe (z. B. FCKW, PVC) in dem Fahrzeug völlig verzichtet oder deren Anteil drastisch gesenkt und der Grad der Wiederverwertbarkeit des MPV deutlich erhöht werden“. Darüber hinaus warte das Fahrzeug mit niedrigen Emissionen und geringem Kraftstoffverbrauch auf.92 (2) Umweltschutzmaßnahmen als Verbesserung der Warenherstellung oder -verteilung oder als Beitrag zum technischen oder wirtschaftlichen Fortschritt nach Art. 101 Abs. 3 AEUV Später jedoch hatte die Kommission auch über Fallgestaltungen zu entscheiden, in denen der Umweltschutz für die wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung selbst und damit auch für die Freistellungentscheidung von zentraler Bedeutung war. Hier kommen die in den Jahren 2001 bis 2003 von der Kommission entschiedenen Fälle über Entsorgungssysteme für Verpackungsmüll in mehreren Mitgliedstaaten sowie ein Kartell von Waschmaschinenherstellern in Betracht, die sich zur Rechtfertigung ihrer Vereinbarung auf die Wahrung von Umweltschutzanliegen berufen hatten. In der Entscheidung „DSD“ hatte die Kommission erhebliche wettbewerbsbeschränkende Auswirkungen durch die Ausschließlichkeitsbindung in den Leistungsverträgen zwischen dem DSD und den Entsorgern festgestellt93. Bei der Prüfung der Freistellungsfähigkeit kam sie zum Ergebnis, dass die Freistellungsvoraussetzungen in Bezug auf die Ausschließlichkeitsbindung vorlagen. Allerdings hielt die Kommission die lange Dauer der Leistungsverträge und damit auch der Ausschließlichkeitsbindung (zum Teil über 10 Jahre) nicht für unerlässlich, um die Ziele der Vereinbarung zu erreichen. Sie verpflichtete DSD daher dazu, die Leistungsverträge nicht für eine längere Dauer als drei Jahre abzuschließen sowie Wettbewerbern von DSD die Mitbenutzung der Müllbehälter zu gestatten und stellte das DSD insgesamt vom Kartellverbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV – allerdings unter diesen Auflagen – frei94. Diese Entscheidung wurde vom EuG bestätigt.95 Analog dazu prüfte und entschied die Kommission im Jahr 2003 im Fall der österreichischen dualen Systeme ARGEV 91 Komm. 8.12. 1983, ABl. EG 1983 Nr. L. 376/17, S. 20 „Carbon Glas Technologie“; Komm. 23.12. 1992, ABl. EG 1993 Nr. L 20/14, Rdnr. 26 „Ford/Volkswagen“; Komm. 18.5. 1994, ABl. EG 1994 Nr. L 144/20, Rdnr. 71 „Exxon/Shell“; Komm. 21.12. 1994, ABl. EG 1994 Nr. L 378/37, Rdnr. 25 und 27 „Philips/Osram“. 92 Komm. 23.12. 1992, ABl. EG 1993 Nr. L 20/14, Rdnr. 26 „Ford/Volkswagen“. 93 Komm. 17.9. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 319/1, Rdnr. 122 ff. „DSD“. 94 Komm. 17.9. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 319/1, Rdnr. 142 ff. „DSD“. 95 EuG 24.5. 2007, Rs. T-289/01, Slg. 2007, II-1694 „Der Grüne Punkt-Duales System Deutschland GmbH“.

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und ARO96. Auch hier stellt sie die durch die Systeme vorgesehene Ausschließlichkeitsbindung zwischen dem dualen System und den Erfassern des Mülls vom Kartellverbot frei, allerdings mit der Auflage, dass die Erfasser nicht daran gehindert werden, mit Konkurrenten des ARGEV-ARO-Systems Verträge über die Mitbenutzung der Müllbehältnisse abzuschließen97. Eine gegen Art. 101 Abs. 1 AEUV verstoßende Ausschließlichkeitsbindung wie beim deutschen und den österreichischen Systemen war im Rahmen des ebenfalls zur Freistellung angemeldeten französischen dualen Systems Eco-Emballages nicht vorgesehen. Nach gründlicher Prüfung stellte die Kommission bei diesem dualen System fest, dass es nicht den Tatbestand des Art. 101 Abs. 1 erfüllt und daher auch nicht nach Abs. 3 dieser Vorschrift vom Kartellverbot freigestellt werden muss98. Die Entscheidungen über eine umweltgerechte Entsorgung von Verpackungsmüll betrafen Systeme, die innerhalb eines vom jeweiligen mitgliedstaatlichen Recht geschaffenen gesetzlichen Rahmen tätig wurden. Im Jahr 1999 von der Kommission entschiedenen Fall CECED handelte es sich dagegen um eine Vereinbarung zwischen den Herstellern von Haushaltswaschmaschinen, die allein auf ihrer freien Willensentscheidung beruhte und nicht von staatlichen Einflüssen geprägt war99. CECED ist ein Verband von Haushaltsgeräteherstellern in der gesamten EU, der nach belgischem Recht gegründet wurde und seinen Sitz in Brüssel hat. Im Rahmen dieses Verbandes schlossen die führenden Hersteller von Waschmaschinen, die zusammen über einen Marktanteil von mehr als 90 % im Binnenmarkt verfügten, eine Vereinbarung ab, nach der sie sich u. a. verpflichteten, ab einem bestimmten Zeitpunkt keine Waschmaschinen der Energieeffizienzklassen D, E, F und G mehr herzustellen oder in die Union einzuführen. Die Kommission stellte fest, dass diese Vereinbarung den Wettbewerb beschränkte, indem sie den Beteiligten die Herstellung und Einfuhr bestimmter Waschmaschinen in der bzw. in die EU untersagte. Die Auswahl der Verbraucher wurde durch die Vereinbarung reduziert, da sie Waschmaschinen mit einer niedrigeren Energieeffizienzklasse von den Unternehmen, die an der Vereinigung beteiligt waren, nicht mehr kaufen konnten. Die Kommission hat hier die Freistellungsvoraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV als erfüllt angesehen und die Vereinbarung vom Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV freigestellt. Dabei sah sie den Beitrag der Vereinbarung zum wirtschaftlichen und technischen Fortschritt darin, dass der potentielle Energieverbrauch durch den Ersatz älterer durch neuere Waschmaschinen mit besserer Energieeffizienz um mindestens 15 – 20 % sinke.100 Der wirtschaftliche Nutzen für den Verbraucher liege darin, dass höhere Kosten für den Erwerb moderner Waschmaschinen durch die Energieeinsparung in einem Zeitraum von neun bis 40 Monaten wieder erwirtschaftet werden könn96

Komm. 16.10. 2003, K (2003) 3703 endg., COMP D3/35473 „ARGEV, ARO“. Komm. 16.10. 2003, K (2003) 3703 endg., COMP D3/35473, Rdnr. 288 „ARGEV, ARO“. 98 Komm. 15.6. 2001, ABl. EG Nr. L 233/37, Rdnr. 70 – 86 „Eco-Emballages“. 99 Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47 „CECED“. 100 Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47, Rdnr. 47 „CECED“.

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ten101. Allerdings gesteht die Kommission ein, dass aufgrund der Verdrängung von Waschmaschinen schlechterer Energieklassen die Preise für die neuen Maschinen auch höher ausfallen könnten102. Daneben legt die Kommission auch dar, dass nicht nur die Käufer neuer Waschmaschinen von der verbesserten Energieeffizienz profitieren sondern noch viel mehr die Gesellschaft als Ganzes. Unter Berufung auf den damaligen Art. 174 EG-Vertrag (heute: Art. 191 AEUV), wonach die Umweltpolitik zur Erreichung der Ziele des Umweltschutzes beizutragen hat, weist sie darauf hin, dass der durch die verhinderte Schwefeldioxid-Emission anfallende Gewinn für die Gesellschaft insgesamt die höheren Anschaffungskosten für die Verbraucher um das mehr als siebenfache übersteige103. Im Ergebnis ist der Kommission in diesem Fall nicht zuzustimmen. Eine angemessene Beteiligung des Verbrauchers am Gewinn, der durch eine wettbewerbsbeschränkende Vereinbarung entsteht, kann sich immer nur auf den Verbraucher unmittelbar auf dem relevanten Markt oder aber auf einem benachbarten Markt beziehen, nicht aber auf den Vorteil der gesamten Gesellschaft. Eine solche Auslegung gibt der Wortlaut des Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht her. Darüber hinaus bleibt auch unklar, ob die Vereinbarung zur Erreichung des Ziels der Effizienzverbesserung tatsächlich unerlässlich war. Schließlich ist es offensichtlich, dass bei einem Marktanteil des Kartells von über 90 % der Wettbewerb für einen wesentlichen Teil der Waren auf dem relevanten Markt ausgeschaltet wird. Zu bedenken ist dabei auch, dass Herstellung, Einfuhr und Vertrieb von Waschmaschinen mit schlechterer Energieeffizienz weder verboten noch gesetzlich eingeschränkt war. Der Verdacht, dass die an der Vereinbarung beteiligten Unternehmen den Wettbewerb durch die Hersteller und Importeure solcher Waschmaschinen ausschalten wollten, liegt also nicht fern. Die Kommission hätte die Vereinbarung nicht freistellen dürfen. Zu einer anderen Beurteilung als die Kommission im Fall CECED gelangte das BKartA bei der Anwendung von Art. 101 AEUV und §§ 1, 2 GWB auf ein Beschaffungskartell für Altglas in Deutschland104. Praktisch alle in Deutschland tätigen Hersteller von Behälterglas kauften für die Weiterverarbeitung aufbereitetes Altglas, das von den privaten Haushalten über ein duales System entsorgt worden war, entweder vom dualen System oder direkt von den Unternehmen, welche vom dualen System mit der Einsammlung und Aufbereitung des Altglases beauftragt waren, über eine Einkaufsgesellschaft (Gesellschaft für Glasrecycling und Abfallvermeidung mbH GGA), der alle in Deutschland tätigen Behälterglashersteller als Gesellschafter angehörten. Der Einkauf des aufbereiteten Glases erfolgte ausschließlich über die Einkaufsgesellschaft und nicht durch die einzelnen Behälterglashersteller. Das BKartA sah in den diesen Vorgängen zugrunde liegenden Vereinbarungen zwischen den Glasherstellern – insbesondere durch die 101

Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47, Rdnr. 52 „CECED“. Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47, Rdnr. 53 „CECED“. 103 Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47, Rdnr. 55 – 57 „CECED“. 104 BKartA 31.5. 2007, WuW 2007, 806 ff. „Altglaskartell“.

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dadurch erreichte Bündelung der Nachfrage – schwerwiegende Wettbewerbsbeschränkungen und demzufolge einen Verstoß gegen das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB. Die Mitglieder des Altglaskartells vertraten die Auffassung, dass die zwischen ihnen abgeschlossenen Vereinbarungen nach Art. 101 Abs. 3 AEUV und § 2 Abs. 1 GWB vom Kartellverbot freigestellt seien, da sie die in diesen Vorschriften genannten Vorschriften erfüllten. Dabei wiesen sie u. a. darauf hin, dass durch den gemeinsamen Einkauf aufbereiteten Altglases Effizienzgewinne durch eine geringere Inanspruchnahme von primären Rohstoffen für die Glasherstellung entstünden105. Die verstärkte Nutzung recycelten Altglases vermindere den Einsatz von Primärrohstoffen und die Emission von Kohlendioxid, die bei der Verarbeitung der Primärrohstoffe zu Glas anfalle. Allerdings stellte das BKartA fest, dass die Wettbewerbsbeschränkung (= der gemeinsame Einkauf durch die GGA) nicht unerlässlich i.S.v. Art. 101 Abs. 3 lit. a) AEUV/§ 2 Abs. 1 Nr. 1 GWB sei. Der gemeinsame Einkauf sei weder für die kostengünstige Versorgung der Hersteller mit Altglas, noch für die Sicherstellung der Qualität des Sekundärrohstoffs noch für die Einhaltung der vorgeschriebenen Recyclingquoten und für die geltend gemachten Energieeinsparungen eine unerlässliche Voraussetzung106. Nach Auffassung des BKartA wurden hier die Verbraucher auch nicht angemessen am entstehenden Gewinn der Unternehmen beteiligt. Darüber hinaus stellte das BKartA fest, dass durch das Altglaskartell der Wettbewerb auf den relevanten Märkten ausgeschaltet wurde. Die Voraussetzungen für eine Freistellung lagen demzufolge nicht vor und das Altglaskartell wurde verboten. Der Altglaskartell-Fall zeigt deutlich, dass ein vager Hinweis auf mögliche positive Auswirkungen einer wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarung auf Belange des Umweltschutzes nicht ausreicht, um die Freistellung einer solchen Vereinbarung zu rechtfertigen. Vielmehr gilt für Umweltschutzvereinbarungen wie für alle anderen wettbewerbsbeschränkenden Vereinbarungen, dass sie nur vom Kartellverbot freigestellt sind, wenn alle Voraussetzungen, die Art. 101 Abs. 3 AEUV/§ 2 Abs. 1 GWB für eine solche Freistellung nennen, kumulativ vorliegen. Liegen die Freistellungsvoraussetzungen nicht nachweislich vor, bleibt es bei dem Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV/§ 1 GWB. Gemäß Art. 2 der VO 1/2003 obliegt den Unternehmen, die sich auf die Freistellung berufen, die Beweislast für die Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV. (3) Hard-Core-Kartelle unter dem Deckmantel des Umweltschutzes Klar und unbestritten ist hingegen, dass Vereinbarungen, die nur vorgeblich Umweltschutzzwecken dienen, hinter deren Schleier die beteiligten Unternehmen aber lediglich zum Schaden der Verbraucher Preise absprechen oder Märkte aufteilen, nicht freistellbar sind. Hier geht es in Wirklichkeit nicht um eine Förderung des Umweltschutzes, sondern um durch Kartellierung ermöglichte überhöhte Preise, um 105 106

BKartA 31.5. 2007, WuW 2007, 816, Tz. 187 „Altglaskartell“. BKartA 31.5. 2007, WuW 2007, 816 f., Tz. 189 – 193 „Altglaskartell“.

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ohne wirtschaftliche Zusatzleistung die Ertragssituation der Unternehmen auf Kosten ihrer Kunden zu verbessern. Solche „Hard-Core“-Kartelle verstoßen gegen das Verbot des Art. 101 Abs. 1 AEUV, ohne gemäß Abs. 3 der Vorschrift freistellbar zu sein, da sie weder zu einer Effizienzsteigerung noch zu einer angemessenen Verbraucherbeteiligung am für die Unternehmen entstehenden Gewinn führen und auch die Voraussetzung der Unerlässlichkeit nicht erfüllen. Im Fall Consumer Detergents107 hatte die Vereinigung europäischer Waschmittelhersteller eine europaweite Umweltinitiative mit dem Ziel gestartet, den Verbrauch von Waschmittel und Verpackungsmaterial zu senken. Die Kartellbeteiligten nutzen die Umweltinitiative um direkte und indirekte Preiserhöhungen, die koordinierte Einschränkung der Werbemaßnahmen sowie den Austausch sensibler Unternehmensinformationen zu verabreden. Hier kam eine Freistellung nicht in Betracht; die Unternehmen mussten Bußgelder in Höhe von mehr als 300 Mio. E bezahlen. c) Berücksichtigung umweltschutzrechtlicher Belange außerhalb der Freistellungsvoraussetzungen? – Zur Rolle der Querschnittsbestimmungen des AEUV bzw. der Staatszielbestimmung des Art. 20 lit. a) GG Kontrovers diskutiert wird im Schrifttum die Frage, ob und inwieweit eine Ausnahme vom Kartellverbot auch außerhalb der ausdrücklich in den relevanten Kartellrechten vorgesehenen Ausnahmebestimmungen bzw. darüber hinaus möglich ist. aa) Europäisches Unionsrecht Insbesondere nach dem Inkrafttreten der VO 1/2003 am 1.5. 2004 mit der Einführung des Systems der Legalausnahme und der Aufgabe des Freistellungsmonopols der Kommission nach der alten VO 17/62108 stellte sich die Frage, ob auch nicht-wettbewerbliche Zielsetzungen des EUV und des AEUV im Rahmen des Art. 101 Abs. 3 AEUV zu berücksichtigen sind und, falls dies bejaht wird, welche Rolle sie dort zu spielen haben. Ein Teil des Schrifttums vertritt die Auffassung, dass nicht-ökonomische Vertragsziele, die in sog. Querschnittsbestimmungen niedergelegt sind109, unter Umständen zur Freistellung einer Vereinbarung vom Kartellverbot führen können, auch wenn die strikt ökonomisch ausgerichteten Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV nicht gegeben sind. Dabei wird auch eine erweiternde Auslegung des 107

Komm. 13.4. 2011, C (2011) 2528 final, COMP/39579 „Consumer Detergents“. Verordnung Nr. 17, Erste Durchführungsverordnung zu den Artikeln 85 und 86 des Vertrages, ABl. EWG 1962, S. 204. Die VO 17/62 wurde mit Wirkung vom 1.5. 2003 durch die VO 1/2003 ersetzt. 109 Dazu gehören z. B. die Gleichstellung von Mann und Frau, Art. 8 AEUV; der Sozialschutz, Art. 9 AEUV; Schutz vor Diskriminierung, Art. 10 AEUV; Umweltschutz, Art. 11 AEUV; Verbraucherschutz, Art. 12 AEUV; Tierschutz, Art. 13 AEUV. 108

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Art. 101 Abs. 3 AEUV befürwortet, die daraus hinausläuft, die Freistellungskriterien so zu interpretieren, dass sie auch nicht-ökonomische Vorteile erfassen.110 Für den Umweltschutz bestimmt die Querschnittsklausel des Art. 11 AEUV, dass die Erfordernisse des Umweltschutzes bei der Festlegung und Durchführung von Unionspolitiken und – maßnahmen insbesondere zur Förderung einer nachhaltigen Entwicklung berücksichtigt werden müssen. Für die Umweltpolitik der Union selbst schreibt Art. 191 AEUV vor, dass sie zur Erhaltung und dem Schutz der Umwelt, zum Schutz der menschlichen Gesundheit, zur umsichtigen und rationellen Verwendung natürlicher Ressourcen sowie zur Förderung internationaler Umweltmaßnahmen beiträgt und dabei auf ein hohes Umweltschutzniveau abzielt. Eine Freistellung vom Kartellverbot außerhalb der Kriterien des Art. 101 Abs. 3 AEUV aufgrund von Belangen und Interessen, die in den Querschnittsklauseln des AEUV enthalten sind, ist indes abzulehnen111. Sie widerspricht dem allgemeinen Auslegungsgrundsatz des EU-Rechts, dass Ausnahmebestimmungen im AEUV eng auszulegen sind112. Hinzu kommt, dass seit der Einführung des Systems der Legalausnahme durch die VO 1/2003 die Gerichte und Kartellbehörden der Mitgliedstaaten zur Anwendung der Wettbewerbsregeln des AEUV berufen sind. Diese Behörden und Gerichte können aber im Regelfall nicht wissen, wie die Umweltschutzpolitik der Union in bestimmten Punkten genau aussieht, in welchem Rangverhältnis sie zu anderen Politiken der Union steht und wie sich die unterschiedlichen Politiken gegenseitig beeinflussen. Sie sind auch nicht dazu ermächtigt, selbst eine solche Politik für die Union zu entwerfen. Dazu sind nur die zuständigen Unionsorgane befugt. Es handelt sich bei der Anwendung von Art. 101 Abs. 3 AEUV durch eine Kartellbehörde oder ein mitgliedstaatliches Gericht um eine reine Rechtsentscheidung. Eine 110 So wohl Monti, Article 81 EC and Public Policy, CMLR 2002, 1057 ff. (1074 f.): „Read together, DSD and CECED suggest that the protection of environmental assets is close to becoming a ,core‘ factor in the eye of the Commission, whereby a reduction in pollution, or an agreement’s contribution to pollution-reduction targets set by Community Law might be sufficient to persuade the Commission to exempt. This is justified by the high priority placed on sustainable development in the EC Treaty.“ (S. 1075); in dieselbe Richtung weisend Schröter, in: v.d.Groeben/Schwarze, Kommentar zum Vertrag über die Europäische Union und zur Gründung der Europäischen Gemeinschaft (6. Aufl. 2003), Art. 81 Abs. 3, Rdnr. 317. 111 So auch Koch, Die Einbeziehung nichtwettbewerblicher Erwägungen in die Freistellungsentscheidung nach Art. 81 Abs. 3 EG, ZHR 169 (2005), 625 ff. (635 ff.); Quellmalz, Die Justiziabilität des Art. 81 Abs. 3 EG und die nichtwettbewerblichen Ziele des EG-Vertrages, WRP 2004, 461 ff. (466 ff.); Schuhmacher, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Das Recht der Europäischen Union. Kommentar, Art. 101 AEUV (LBl., Std. Apr. 2012), Rdnr. 21; Ellger, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 3 AEUV, Rdnr. 311 ff. 112 Siehe nur EuGH 14.12. 1962, verb. Rs. 2 und 3/62, Slg. 1962, 867, 881 „Lebkuchen“; EuGH 17.6. 1981, Rs. 113/80, Slg. 1981, 1625, Rdnr. 7 „Kommission/Irland“; speziell zu Gruppenfreistellungsverordnungen als Ausnahmeregelungen des Kartellrechts EuGH 7.9. 2006, Rs. C-125/05, Slg. 2006, I-7637, Rdnr. 27 „Vulcan Silkeborg“; EuGH 28.2. 1991, Rs. C234/89, I-925, Rdnr. 46 „Delimitis/Henninger Bräu“; EuG 19.3. 2003, Rs. T-213/00, Slg. 2003, II-913, Rdnr. 484 „CMA CGM/Kommission“; Mayer, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 19 EUV, Rdnr. 56; Ellger, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 3, Rdnr 346.

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Ausübung von Ermessen oder die nur eingeschränkter richterlicher Kontrolle zugängliche Ausfüllung eines Beurteilungsspielraums ist damit nicht verbunden113. Da die Vorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV justiziabel zu sein hat, ist eine Berücksichtigung inhaltlich weitgehend unbestimmter Gemeinschaftspolitiken nicht praktikabel. Würde man ein solches Vorgehen bejahen, stünde zu befürchten, dass sich außerhalb des Tatbestands der Vorschrift eine allgemeine Rechtfertigung für eine Einschränkung des Wettbewerbsprinzips entwickelt, die der Willkür Tür und Tor öffnet. Die Verpflichtung zum Schutz wirksamen Wettbewerbs, die in Artt. 101, 102 AEUV rechtlich zwingend ausgestaltet ist, würde sich zu einem bloßen Programmsatz abschwächen, dessen Realisierung weitgehend von Erwägungen politischer Opportunität abhinge. Eine solche Verwässerung des Wettbewerbsschutzes wäre mit seiner rechtlichen Ausgestaltung durch Artt. 101 ff. AEUV und dem System des unverfälschten Wettbewerbs, das gemäß dem Protokoll Nr. 27 zu EUV und AEUV114 konstitutiver Bestandteil des Binnenmarktes ist, unvereinbar. Inhaltlich ist darüber hinaus zu der Frage des Rangverhältnisses anzumerken, dass sich im Rahmen von EUV und AEUV kein Vorrang des Umweltschutzes vor dem Wettbewerbsschutz ergibt. Zwar berücksichtigt die Union gemäß Art. 11 AEUV bei Festlegung und Durchführung ihrer Politiken und Maßnahmen die Belange des Umweltschutzes. Darüber hinaus leistet sie nach Art. 191 Abs. 1, 2 AEUV einen Beitrag zum Umweltschutz, wobei sie auf ein hohes Schutzniveau abzielt. Die Verantwortung und die Kompetenzen der Union zum Schutz des wirtschaftlichen Wettbewerbs reichen aber viel weiter. Gemäß Art. 3 Abs. 3 EUV errichtet die Union einen Binnenmarkt; Art. 119 Abs. 1 verpflichtet die Mitgliedstaaten und die Union bei der Realisierung des Binnenmarktziels zur Einführung einer Wirtschaftspolitik, die dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb folgt. Diese Zielsetzung wird durch Art. 120 AEUV noch einmal bekräftigt, wonach Mitgliedstaaten und Union im Einklang mit dem Grundsatz einer offenen Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb handeln. Das Wettbewerbsziel der Europäischen Union wird konkretisiert und gesichert durch die Wettbewerbsregeln der Artt. 101 – 106 AEUV, die konsistent und strikt anzuwenden sind. Es gibt keinen Hinweis darauf, dass die Verträge dem Ziel des Umweltschutzes den Vorrang vor dem Ziel des freien Wettbewerbs einräumen wollten. Art. 11 AEUV bestimmt lediglich, dass der Umweltschutz bei der Festlegung und Implementierung von Unionspolitiken zu berücksichtigen ist. Die Vorschrift trifft aber keine Entscheidung darüber, wie und – im Falle konfligierender politischer Zielsetzungen – mit welchem Gewicht der Umweltschutz in die Erwägungen einzubeziehen ist. Art. 11 ist nicht als Kollisionsregel für die Auflösung von Konflikten zwischen dem Umweltschutz und anderen Vertragszielen wie z. B. der Sicherung des wirtschaftlichen Wettbewerbs auf dem Binnenmarkt zu qualifizieren. Vielmehr ist 113 114

309.

Siehe etwa Ellger, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 101 Abs. 3 AEUV, Rdnr. 61, 62. Protokoll Nr. 27 über den Binnenmarkt und den Wettbewerb, ABl. EU 2008 Nr. L 115/

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Art. 11 AEUVeher als Argumentations- und Begründungsgebot aufzufassen115. Eine Legitimation zur Freistellung wettbewerbsbeschränkender Vereinbarungen außerhalb der Voraussetzungen des Art. 101 Abs. 3 AEUV kann Art. 11 AEUV keinesfalls entnommen werden116. bb) Deutsches Recht Im deutschen Recht wurde in einer gewissen Analogie zur Diskussion zur Berücksichtigung der Querschnittsklauseln im Rahmen des AEUV erörtert, ob nicht Staatszielbestimmungen des Grundgesetzes als höherrangiges Recht bei der Auslegung von § 2 Abs. 1 GWB zu beachten sind. In Betracht kommt hier für den Umweltschutz insbesondere Art. 20 lit. a) GG. Danach hat der Staat die natürlichen Lebensgrundlagen zu schützen. Die vollziehende Gewalt und die Rechtsprechung verwirklichen dieses Ziel im Rahmen von Recht und Gesetz. Im Schrifttum wird darauf hingewiesen, dass der Wettbewerb – anders als der Umweltschutz durch Art. 20 lit. a) GG – keinen Verfassungsrang genieße117. Dies allerdings verkennt den Rang der durch Art. 119 Abs. 1 AEUV vorgegebenen Grundsätze der europäischen Wirtschaftsverfassung. Zu diesen für die Mitgliedstaaten ebenso wie für die Union verbindlichen Grundsätzen gehört auch die offene Marktwirtschaft mit freiem Wettbewerb. Art. 119 Abs. 1 gilt unmittelbar auch in der Bundesrepublik Deutschland; der AEUV stellt im Verhältnis zum Grundgesetz das höherrangige Recht dar. Auch der einschränkende Hinweis auf Recht und Gesetz, in deren Rahmen der Umweltschutz zu berücksichtigen ist, zeigt bereits, dass mit Art. 20 lit. a) GG einfachgesetzliche Regelungen nicht überspielt werden können. Solche Staatszielbestimmungen gewinnen ihren Einfluss auf das einfachgesetzliche Recht bei der Ausfüllung von Generalklauseln und der Ausübung von Ermessen118. Die Entscheidung über die Freistellung einer Vereinbarung vom Kartellverbot nach § 2 GWB ist weder mit der Ausfüllung einer Generalklausel noch mit der Ausübung von Ermessen verbunden. Die Staatszielbestimmung des Art. 20 lit. a) GG ist daher nicht geeignet, eine Freistellung von Umweltschutzvereinbarungen über die Voraussetzungen von § 2 Abs. 1 GWB hinaus zu rechtfertigen. d) Umweltschutz und Missbrauchsverbot Neben dem Kartellverbot bildet das Verbot der missbräuchlichen Ausnutzung einer marktbeherrschenden Stellung gemäß Art. 102 AEUV die zweite Säule des 115

Nettesheim, in: Grabitz/Hilf/Nettesheim, Art. 11 AEUV, Rdnr. 22. Die nur sehr begrenzte normative Bedeutung von Art. 11 AEUV wird auch dadurch deutlich, dass die Kommission bei der einzigen Freistellungsentscheidung, bei der sie sich auf die rechtlichen Grundlagen des Umweltschutzes im Vertrag berufen hat, nicht Art. 11 AEUV (= Art. 6 EG), sondern Art. 191 AEUV (= Art. 174 EG) herangezogen hat, s. Komm. 24.1. 1999, ABl. EG Nr. L 187/47, Rdnr. 55 „CECED“. 117 Kloepfer, Umweltrecht und Kartellrecht, JZ 2002, 1121. 118 Kloepfer, Umweltrecht und Kartellrecht, JZ 2002, 1122. 116

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Wettbewerbsschutzes im EU-Recht. Art. 102 AEUV sanktioniert lediglich das missbräuchliche Ausnutzen einer marktbeherrschenden Stellung, nicht aber deren Erwerb als solchen119 (es sei denn, bereits darin liegt ein Missbrauch120). Im Unterschied zu Art. 101 AEUV kennt Art. 102 AEUV keine Freistellungsvorschrift. Jedoch ist anerkannt, dass im Rahmen des Missbrauchskonzepts eine Rechtfertigung von Verhaltensweisen durch das marktbeherrschende Unternehmen möglich ist121. Ein Unternehmen besitzt eine marktbeherrschende Stellung, wenn es in der Lage ist, sich in nennenswertem Umfang unabhängig von seinen Konkurrenten, Lieferanten und letztlich dem Verbraucher zu verhalten122. Missbräuchliche Verhaltensweisen eines Marktbeherrschers können sich gegen tatsächliche oder potentielle Konkurrenten mit dem Ziel richten, diese vom Markt zu vertreiben oder einen Marktzutritt zu verhindern (Behinderungsmissbrauch) oder gegenüber Abnehmern Lieferanten unangemessene Preise und sonstige Konditionen zu erzwingen (Ausbeutungsmissbrauch). Was die Berücksichtigung von Umweltschutzanliegen im Rahmen des Kartellrechts angeht, bleibt die praktische Bedeutung des Missbrauchstatbestands in Art. 102 AEUV weit hinter der des Kartellverbots in Art. 101 AEUV zurück. Soweit ersichtlich, hat die Kommission bisher nur in einem Fall Art. 102 im Zusammenhang mit Umweltschutzbelangen geprüft. In der Entscheidung vom 20.4. 2001 untersagte die Kommission der DSD AG (Duales System Deutschland AG) gemäß Art. 82 EG-Vertrag (heute: Art. 102 AEUV, R. E.) missbräuchliche Verhaltensweisen gegenüber seinen Konkurrenten und seinen Anbietern. Die Kommission stellte sowohl einen Ausbeutungsmissbrauch123 als auch einen Behinderungsmissbrauch124 im Verhalten von DSD fest. Der Ausbeutungsmissbrauch lag darin, dass die Kunden von DSD Lizenzgebühren für die Benutzung des Zeichens „Der Grüne Punkt“ bezahlen mussten, obwohl nachweislich ein Teil der von ihnen in Verkehr gebrachten Verpackungen nicht von DSD, sondern in anderer Weise entsorgt wurde. Zugleich behinderte die von DSD praktizierte Entgeltregelung Wettbewerber des Systems, weil es für die Kunden von DSD wirtschaftlich uninteressant war, für die Entsorgung von Teilmengen des von ihnen in Verkehr gebrachten Verpackungsmülls auf Konkurrenten des DSD auszuweichen. DSD konnte für diese missbräuchlichen Verhaltenswei119 Emmerich, Kartellrecht, 147 f.; kritisch dazu Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 386. 120 EuGH 21.2. 1973, Rs. 6/72, Slg. 1973, 215, Rdnr. 25 „Europemballage und Continental Can“. 121 Für die Fallgruppe des Behinderungsmissbrauchs s. dazu Komm., Erläuterungen zu den Prioritäten bei der Anwendung von Art. 82 des EG-Vertrags auf Fälle des Behinderungsmissbrauchs durch marktbeherrschende Unternehmen, ABl. EU 2009 Nr. C 45/7, Rdnr. 28 ff. 122 EuGH 13.2. 1979, Rs. 85/76, Slg. 1979, 461, Rdnr. 38 f. „Hoffmann-LaRoche“. 123 Komm. 20.4. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 166/1, Rdnr. 111 ff. „DSD“. 124 Komm. 20.4. 2001, ABl. EG 2001 Nr. L 166/1, Rdnr. 114 ff. „DSD“.

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sen keine objektive Rechtfertigung vorbringen. Demzufolge wurde das Verhalten durch die Kommission untersagt. Gegen diese Entscheidung legte DSD Rechtsmittel zum EuG ein, das jedoch die Kommissionsentscheidung in vollem Umfang bestätigte125. Das weitere Rechtsmittel von DSD gegen das Urteil des EuG wies der EuGH ab.126 4. Umweltschutz als Rechtfertigung für eine Ausnahme bestimmter Unternehmen oder Wirtschaftsbereiche vom Wettbewerbsrecht nach Art. 106 Abs. 2 AEUV Art. 106 Abs. 2 AEUV sieht zugunsten bestimmter Kategorien von Unternehmen eine Ausnahme von den Bindungen dieser Unternehmen an den AEUV vor. Nach dieser Vorschrift gelten die Bestimmungen des AEUV, insbesondere die Wettbewerbsregeln für Unternehmen, die mit Dienstleistungen von besonderem wirtschaftlichen Interesse betraut sind, nicht, soweit die Anwendung dieser Vorschriften die Erfüllung der besonderen Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Allerdings darf durch die Ausnahme die Entwicklung des Handelsverkehrs nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt werden, das dem Interesse der Union zuwiderläuft. Bei Art. 106 Abs. 2 AEUV handelt es sich um eine der umstrittensten und in den Einzelheiten am wenigsten geklärten Vorschriften unter den Wettbewerbsregeln des AEUV. Seine Aufnahme in den ursprünglichen EWG-Vertrag hängt eng mit dem heutigen Art. 106 Abs. 1 zusammen, der den Mitgliedstaaten weitgehend die Möglichkeit entzieht, Maßnahmen in Bezug auf ihre öffentlichen Unternehmen zu treffen, die mit den Wettbewerbsregeln und den Beihilfevorschriften unvereinbar sind. Darin sahen insbesondere die anfänglichen Mitgliedstaaten, die über einen großen öffentlichen Sektor verfügten (Frankreich und Italien) eine erhebliche Einschränkung ihrer Souveränität. Andererseits hatten vor allem die Beneluxstaaten auf die Unterwerfung der öffentlichen Unternehmen unter die Wettbewerbsregeln gedrängt, weil sie ansonsten weitreichende Umgehungsmöglichkeiten in Bezug auf die Wettbewerbsregeln befürchteten127. Art. 106 Abs. 2 AEUV ist der Kompromiss, der die Anliegen beider Seiten wahren sollte. Bei allen Unklarheiten steht doch fest, dass Art. 106 eine Ausnahme von der Anwendbarkeit nur im Einzelfall gewährt: für jedes Unternehmen oder jeden Mitgliedstaat, der die Ausnahme des Art. 106 Abs. 2 AEUV für sich in Anspruch nimmt, ist gesondert zu prüfen, ob die Voraussetzungen vorliegen, unter denen ein Unternehmen von der Anwendung der Wettbewerbsregeln (oder der Bestimmungen des AEUV insgesamt) freigestellt wird.

125

EuG 24.5. 2007, Rs. T-151/01, Slg. 2007, II-1610 „Der Grüne Punkt-Duales System Deutschland“. 126 EuGH 16.7. 2009, Rs. C-385/07 P, Slg. 2009, I-6155 „Der Grüne Punkt – Duales System Deutschland“. 127 Emmerich, Kartellrecht, 288 f.

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a) Umweltschutzleistungen als Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichen Interesse Für eine Freistellung nach Art. 106 Abs. 2 AEUV kommen nur Unternehmen in Betracht, die mit der Erbringung von „Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse“ betraut sind. Es handelt sich dabei um Leistungen der Daseinsvorsorge, die sich von „normalen Dienstleistungen“ dadurch unterscheiden, dass sich nach dem Willen der jeweiligen Mitgliedstaaten auch zur Verfügung gestellt werden müssen, wenn der Markt nicht genügend Anreize dafür gibt.128 In der Praxis handelt es sich dabei häufig um Leistungen, die flächendeckend im gesamten Gebiet eines Mitgliedstaates oder einem Teil davon zu erschwinglichen Preisen und diskriminierungsfreien Bedingungen für die Leistungsempfänger angeboten werden, wie z. B. Universaldienstleistungen der Telekommunikation oder bestimmte Leistungen des öffentlichen Personennahverkehrs. Der Umweltschutz stellt keine „Dienstleistung“ i.S. des Art. 106 Abs. 2 AEUV dar. Gleichwohl können Unternehmen mit der Erbringung von Aufgaben betraut sein, deren Erfüllung (auch) im Interesse eines möglichst weitreichenden Umweltschutzes liegt129. Dies ist z. B. der Fall bei der Einführung dualer Systeme zur haushaltsnahen Entsorgung von Verpackungsmüll. Die dualen Systeme sind Ausdruck der Produktverantwortung derjenigen, die solche Verpackungen in Verkehr bringen. Die Verpflichtung, die Abholung solcher Verpackungsabfälle sicherzustellen, soll dazu beitragen, die Verpackungsabfälle möglichst zu minimieren und die angefallenen Abfälle so weit wie möglich wiederzuverwerten. Damit verfolgen diese Systeme Ziele des Umweltschutzes. Der EuGH hatte in zwei Entscheidungen zu beurteilen, ob Unternehmen, die mit der Bewirtschaftung von Abfällen betraut waren, Dienstleistungen von allgemeinem wirtschaftlichem Interesse erbrachten. In der älteren Entscheidung hat der Gerichtshof dies für möglich gehalten (in casu kam es auf eine Entscheidung dieser Frage nicht an)130, in der jüngeren Entscheidung hat er dies ausdrücklich und insbesondere für den Fall anerkannt, dass die Dienstleistung ein Umweltproblem beseitigen soll131. b) Betrauung Eine mögliche Befreiung eines Unternehmens von den Wettbewerbsregeln des AEUV kann nur erfolgen, wenn das Unternehmen mit der Erbringung der besonderen Dienstleistungen der Daseinsvorsorge „betraut“ worden ist. Dazu ist ein besonderer Betrauungsakt notwendig, durch den der Staat das Unternehmen mit der Erbringung der Dienstleistung beauftragt. Dieser Akt kann durch Gesetz, Verwaltungs128 Komm., Leistungen der Daseinsvorsorge in Europa, ABl. EG 2001 Nr. C 17/4, Rdnr. 14. 129 EuGH 23.5. 2000, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3777, Rdnr.75 „Sydhavnens“. 130 EuGH 25.6. 1998, Rs. C-203/96, Slg. 1998, I-4111, Rdnr. 64 ff. „Dusseldorp“. 131 EuGH 23.5. 2000, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3777, Rdnr.75 „Sydhavnens“.

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akt oder öffentlich-rechtlichen Vertrag erfolgen. Nach § 6 Abs. 3 VerpackV hat ein System flächendeckend im Einzugsgebiet des verpflichteten Vertreibers unentgeltlich die Abholung gebrauchter Verkaufsverpackungen zu gewährleisten. Ein System wird gemäß § 6 Abs. 5 VerpackV von der für die Abfallwirtschaft zuständigen Landesbehörde zugelassen. Sollte ein System die flächendeckende Entsorgung des Verpackungsmülls nicht mehr gewährleisten, so kann ihm diese Behörde die Zulassung entziehen. Darin liegt eine Betrauung i.S.v. Art. 106 Abs. 2 AEUV132. c) Rechtliche oder tatsächliche Verhinderung der Aufgaben durch Anwendung der Wettbewerbsregeln Eine Freistellung von den Wettbewerbsregeln nach Art. 106 Abs. 2 AEUV kann ein Unternehmen nur dann erlangen, wenn die Anwendung dieser Regeln die rechtliche oder tatsächliche Verhinderung der Aufgaben des Unternehmens zur Folge hätte. Eine rechtliche Verhinderung liegt vor, wenn die Norm des Unionsrechts eine durch Art. 106 Abs. 2 AEUV erfasste mitgliedstaatliche Regelung verdrängen würde; in tatsächlicher Hinsicht wird die Aufgabe verhindert, wenn ihre Erfüllung durch die Anwendung der unionsrechtlichen Bestimmungen wirtschaftlich unmöglich wird.133 In Übereinstimmung mit dem Prinzip, dass Ausnahmevorschriften eng zu interpretieren sind, hatte der EuGH strenge Maßstäbe an das Kriterium der Aufgabenverhinderung angelegt. Die Aufgabenerfüllung müsse durch die Anwendung des Unionsrechts nachweislich verhindert werden, nicht ausreichend sei dagegen eine bloße Erschwerung oder Behinderung134. In einigen jüngeren Entscheidungen hat der Gerichtshof diese wortlautgemäße Auslegung des Art. 106 Abs. 2 AEUV jedoch dahin aufgeweicht, dass es ausreiche, dass die Erfüllung der Aufgabe durch die Anwendung der unionsrechtlichen Vorschriften gefährdet würde135. Im Schrifttum wird diese Rechtsprechung zum Teil als grundsätzliche Richtungsänderung bei der Auslegung der Vorschrift aufgefasst136, andere Stimmen plädieren dafür, die geänderte Auslegung auf die besonderen Fallkonstellationen zu beschränken, die den Entschei-

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Insoweit wohl zweifelnd Kloepfer, Umweltrecht und Kartellrecht, JZ 2002, 1125 f. Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 106 Abs. 2, Rdnr. 102. 134 EuGH 30.4. 1974, Rs. 155/73, Slg. 1974, 409 ff., Rdnr. 14 „Sacchi“; EuGH 23.4. 1991, Rs. C-41/90, Slg. 1991, I-1979, Rdnr. 24 „Höfner und Elser“; EuG 19.6. 1997, Rs. T-260/94, Slg. 1997, II-997, Rdnr. 138 „Air Inter“; dazu auch Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/ Mestmäcker, Art. 106 Abs. 2 AEUV, Rdnr. 103 m.w.N. 135 EuGH 23.10. 1997, Rs. C-157/94, Slg. 1997, I-5699, Rdnr. 43 „Kommission/Niederlande“; EuGH 21.9. 1999, Rs. C-115/97 bis C-117/97, Slg. 1999, I-6025, Rdnr. 107 „Brentjens“. 136 Möschel, Europäisches Kartellrecht in liberalisierten Wirtschaftssektoren, WuW 1999, 832 ff. (835); Bartosch, Dienstleistungsfreiheit versus Monopolrechte – zur Fragwürdigkeit des Remailing-Urteils des EuGH vom 10.2. 2000, NJW 2000, 2251 ff. (2252). 133

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dungen des EuGH zugrunde lagen137. Bereits wegen des insoweit klaren Wortlauts der Vorschrift ist der letztgenannten Auffassung zu folgen. Bereits aus dem Wortlaut der Vorschrift ergibt sich, dass eine Freistellung nach Art. 106 Abs. 2 AEUV voraussetzt, dass die Anwendung der Wettbewerbsregeln die Erfüllung der Daseinsvorsorge-Aufgabe rechtlich oder tatsächlich verhindert. Ist dies nicht der Fall, weil z. B. eine Vereinbarung bereits nach Art. 101 Abs. 3 AEUV freigestellt ist und daher (rechtlich) nicht verhindert wird, ist, ist für eine Ausnahme nach Art. 106 Abs. 2 AEUV kein Raum. Die Fallpraxis der Kommission bezüglich des dualen Abfallentsorgungssystem in Deutschland hat deutlich gezeigt, dass die Wettbewerbsregeln des AEUV genügende Flexibilität aufweisen, um den Besonderheiten dieser Systeme gerecht zu werden und ihnen die Erfüllung ihrer Aufgaben zu ermöglichen. Der EuGH hat bisher nur in einem Fall die Verleihung eines Ausschließlichkeitsrechts an bestimmte Müllentsorgungsunternehmen als gerechtfertigt angesehen, weil insoweit eine besondere Situation vorlag, als es in der betreffende Region einen Mangel an Kapazitäten für die umweltgerechte Entsorgung und Behandlung von Bauschutt gab138. Solche Mangelsituationen werden aber eine seltene Ausnahme sein. Sollten sie aber doch einmal vorliegen, so unterliegen die Mitgliedstaaten bei der Anwendung von Art. 106 Abs. 1 und 2 AEUV dem Verhältnismäßigkeitsgrundsatz: sie haben diejenigen Maßnahmen zum Schutz der Umwelt zu wählen, die den Wettbewerb am wenigsten beschränken139. Die Verwaltungspraxis der Kommission zeigt, dass umweltschutzrechtliche Belange im Bereich des Kartellrechts angemessen im Rahmen der Freistellungsvorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV berücksichtigt werden können; für eine Anwendung des Art. 106 Abs. 2 AEUV dürfte insoweit nur wenig Raum vorhanden sein. d) Keine dem Interesse der Union zuwiderlaufende Beeinträchtigung des Handelsverkehrs Darüber hinaus setzt eine Freistellung nach Art. 106 Abs. 2 AEUV voraus, dass durch die Verdrängung der Wettbewerbsregeln der Handelsverkehr in der Union nicht in einem Ausmaß beeinträchtigt wird, der mit dem Unionsinteresse nicht mehr vereinbar ist.

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Mestmäcker/Schweitzer, in: Immenga/Mestmäcker, Art. 106 Abs. 2 AEUV, Rdnr. 103. EuGH 23.5. 2000, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3777, Rdnr.83 „Sydhavnens“. 139 EuGH 23.5. 2000, Rs. C-209/98, Slg. 2000, I-3777, Rdnr.80 „Sydhavnens“.

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e) Ergebnis: Ausnahme im Einzelfall für bestimmtes Unternehmen; keine generelle Bereichsausnahme Im Ergebnis ist festzuhalten, dass Art. 106 Abs. 2 AEUV nur unter sehr engen Voraussetzungen eine Verdrängung der Wettbewerbsregeln des Vertrages zur Wahrung umweltschutzbezogener Belange ermöglicht. Die Vorschrift bildet auch keine Grundlage für eine Bereichsausnahme zugunsten des Umweltschutzes, sondern erlaubt lediglich die Freistellung bestimmter Unternehmen nach sorgfältiger Prüfung der (engen) Tatbestandsvoraussetzungen des Art. 106 Abs. 2 AEUV im Einzelfall. Bei sachgemäßer Anwendung der Freistellungsvorschrift des Art. 101 Abs. 3 AEUV auf Umweltschutzvereinbarungen dürfte für Art. 106 Abs. 2 AEUV nur wenig Raum bestehen. 5. Besondere Freistellungsregelungen für den Umweltschutz – brauchen wir de lege ferenda ein „Kartellprivileg“? Nachdem nun die Möglichkeiten ausgelotet sind, umweltschutzbezogenen Belangen im Rahmen des geltenden Kartellrechts eine angemessene Berücksichtigung zukommen zu lassen, stellt sich die Frage, ob – noch über diese Möglichkeiten hinausgehend – eine allgemeine gesetzliche Bereichsausnahme oder eine besondere Regelung für die Einzelfreistellung von Umweltschutzvereinbarungen erforderlich ist. a) Bereichsausnahmen als Bestandteil des europäischen und deutschen Wettbewerbsrechts Im Unterschied zum deutschen Kartellrecht war das europäische Wettbewerbsrecht von Anfang an mit der Einführung von Bereichsausnahmen, durch die gesamte Wirtschaftsbereiche von der Anwendung der Wettbewerbsregeln ausgenommen wurden, äußerst sparsam. Das europäische Recht kennt im Grunde nur eine Bereichsausnahme für die Landwirtschaft in Art. 42 AEUV. Danach ist das Kapitel über die Wettbewerbsregeln auf die landwirtschaftliche Produktion und den Vertrieb der entsprechenden Erzeugnisse nur soweit anwendbar, soweit dies durch Rat und Parlament im Wege einer Verordnung festgelegt ist. Weitere Bereichsausnahmen sieht das europäische Recht nicht vor. Anders ist die Entwicklung im deutschen Kartellrecht verlaufen. Die früheren Fassungen des GWB sahen Bereichsausnahmen in großem Umfang vor, etwa für die Kredit- und Versicherungswirtschaft, für Energieversorgungsunternehmen, für Urheberrechtsverwertungsgesellschaften, für die zentrale Vermarktung an Übertragungsrechten für Sportwettbewerbe etc.140 Von diesen Ausnahmebereichen ist nach dem jetzigen Rechtszustand nicht viel übrig geblieben, weil sich herausstellte, dass 140 Siehe dazu BKartA, Ausnahmebereiche des Kartellrechts – Stand und Perspektiven der 7. GWB-Novelle, Diskussionspapier (2003).

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für die generelle Befreiung ganzer Wirtschaftssektoren häufig keine sachliche Berechtigung bestand und die Abwesenheit von Wettbewerb zu erheblichen Effizienzverlusten führte. Man darf vermuten, dass die Bereichsausnahmen häufig eher das Ergebnis geschickter politischer Lobbyarbeit waren als ordnungspolitische Notwendigkeit. Heute hat sich das GWB auch bei den Bereichsausnahmen eng an das europäische Wettbewerbsrecht angepasst. § 28 GWB sieht eine Bereichsausnahme für die Landwirtschaft vor, während § 30 GWB die Preisbindung der zweiten Hand bei Zeitungen und Zeitschriften vom Kartellverbot ausnimmt. Besondere Vorschriften, die eine Ausnahme vom Kartellverbot speziell für Umweltschutzvereinbarungen vorsehen, sind weder im europäischen noch im deutschen Kartellrecht enthalten. b) Ansätze zur Entwicklung einer Bereichsausnahme zugunsten des Umweltschutzes Gelegentlich sind in der Vergangenheit jedoch Ansätze zu solchen Regelungen in das Gesetz aufgenommen oder zumindest im Entwurf vorgeschlagen worden. aa) § 7 GWB a.F. Mit der 6. GWB-Novelle 1998 fügte der Gesetzgeber den damaligen § 7 GWB neu in das Gesetz ein. Die Vorschrift stellte – unter weitgehender Annäherung an den Wortlaut des damaligen Art. 81 Abs. 3 EG-Vertrag – eine Zwischenlösung zwischen dem bis dahin im GWB vorherrschenden Enumerationsprinzip bei der Freistellung und der europäischen Lösung einer Generalklausel dar141. Nach § 7 Abs. 1 waren Vereinbarungen und Beschlüsse vom Kartellverbot freigestellt , die unter angemessener Beteiligung der Verbraucher am entstehenden Gewinn zu einer Verbesserung der Rücknahme oder Entsorgung von Waren und Dienstleistungen beitragen. Die 7. GWB-Novelle brachte zum 1.7. 2005 eine völlige Anpassung von Kartellverbot in § 1 und Freistellung in § 2 GWB an die europäischen Wettbewerbsregeln von Art. 101 Abs. 1 und Abs. 3 AEUV. Damit war das „Kombinationsmodell“ des § 7 Abs. 1 GWB obsolet geworden und fiel der Reform zu Opfer. § 7 GWB a.F. war die erste GWB-Norm, die mit der ausdrücklich geregelten Kooperationsmöglichkeit zu Zwecken der Rücknahme und Entsorgung Umweltschutzbelangen Rechnung trug. bb) § 39 Abs. 2 des Entwurfs zu einem Umweltgesetzbuch 1998 § 39 des vom Bundesumweltministerium erarbeiteten und 1998 vorgelegten Entwurfs eines Umweltgesetzbuchs sah eine Art Bereichsausnahme vom Kartellverbot für bestimmte Umweltschutzvereinbarungen vor142. Solche Vereinbarungen sollten 141

(123).

Schumacher, Sonstige Kartelle, § 7 GWB und sonstige Kartelle, WuW 2002, 121 ff.

142 Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und Reaktorsicherheit (Hrsg.), Umweltgesetzbuch (UGB-KomE), 1998, S. 122:

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der Kartellbehörde angezeigt werden. Nach § 39 Abs. 2 UGB-Entwurf sollte § 1 GWB nicht auf wettbewerbsbeschränkende Verträge und Beschlüsse anwendbar sein, wenn diese der Erreichung von Zielen einer auf der Grundlage des Umweltgesetzbuchs erlassenen Rechtsverordnung dienten und die Wettbewerbsbeschränkung aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich war. Die Bereichsausnahme sollte allerdings nur gelten, wenn ein wesentlicher Wettbewerb auf dem relevanten Markt bestehen blieb. Die Freistellung trat nicht ein, wenn die Kartellbehörde ihr innerhalb von drei Monaten nach Anmeldung widersprach. Diese Bereichsausnahme war in der 2008 vorgelegten letzten Fassung des Entwurfs nicht mehr enthalten. Möglicherweise stand dahinter die Erkenntnis, dass ein gesonderter Freistellungstatbestand für Vereinbarungen mit Umweltschutzzwecken angesichts der durch § 2 GWB gewährleisteten Freistellungsmöglichkeiten nicht mehr erforderlich war. Auch wäre eine solche nationale Bereichsausnahme im Hinblick auf den Vorrang des europäischen Kartellrechts nach Art. 3 VO 1/ 2003 in der Praxis wohl nicht sehr bedeutsam gewesen, da sie sich nur auf wettbewerbsbeschränkende Vereinbarungen ausgewirkt hätte, die von lokaler oder regionaler Bedeutung gewesen wären und die nicht von der Zwischenstaatlichkeitsklausel des Art. 101 Abs. 1 AEUV erfasst worden wären. „§ 39 Abs. 1 Private Umweltschutzverträge, Umweltschutzkartelle (1) Verträge zwischen Unternehmen und Vereinigungen von Unternehmen sowie Beschlüsse von Vereinigungen von Unternehmen, die der Erfüllung von Anforderungen einer auf Grund dieses Gesetzbuches erlassenen Rechtsverordnung, einer Zielfestlegung nach § 34 oder eines normersetzenden Vertrages nach § 36 dienen, sind den für die Festlegung oder die Vereinbarung der Anforderungen zuständigen Behörden und der Kartellbehörde anzuzeigen. (2) Auf Verträge und Beschlüsse nach Absatz 1 ist § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen nicht anwendbar, wenn 1. die Verträge oder Beschlüsse die Erfüllung von Anforderungen einer auf Grund dieses Gesetzbuches erlassenen Rechtsverordnung, einer Zielfestlegung nach § 34 oder eines normersetzenden Vertrages nach § 36 dienen, 2. die Beschränkung des Wettbewerbs aus Gründen des Umweltschutzes erforderlich ist und 3. ein wesentlicher Wettbewerb auf dem Markt bestehen bleibt. (3) Verträge und Beschlüsse im Sinne von Absatz 2 sowie ihre Änderungen und Ergänzungen bedürfen zu ihrer Wirksamkeit der Anmeldung bei der Kartellbehörde. Bei der Anmeldung ist nachzuweisen, dass die Voraussetzungen des Absatzes 2 vorliegen und dass die Wettbewerber, Lieferanten und Abnehmer, die durch Verträge oder Beschlüsse betroffen werden, in angemessener Weise gehört worden sind. Ihre Stellungnahmen sind der Anmeldung beizufügen. Die Anmeldung ist im Bundesanzeiger bekannt zu machen. Die Verträge und Beschlüsse werden nur wirksam, wenn die Kartellbehörde innerhalb einer Frist von drei Monaten seit Eingang der Anmeldung nicht widerspricht. Die Kartellbehörde hat zu widersprechen, wenn nicht nachgewiesen wird, dass die in Absatz 2 bezeichneten Voraussetzungen vorliegen. Die Entscheidung der Kartellbehörde ergeht im Einvernehmen mit der für den Umweltschutz zuständigen Behörde. (4) Liegen die Voraussetzungen des Absatzes 3 nicht vor, so kann das für Wirtschaft zuständige Bundesministerium im Benehmen mit dem für den Umweltschutz zuständigen Bundesministerium auf Antrag die Erlaubnis zu einem Vertrag oder Beschluss im Sinne des § 1 des Gesetzes gegen Wettbewerbsbeschränkungen erteilen, wenn ausnahmsweise die Beschränkung des Wettbewerbs aus überwiegenden Gründen des Umweltschutzes unter Berücksichtigung der Gesamtwirtschaft notwendig ist. Dem Antrag ist eine Stellungnahme der betroffenen Wettbewerber, Lieferanten und Abnehmer beizufügen.“

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Seit 2009 steht eine Verabschiedung des Umweltgesetzbuches nicht mehr auf der politischen Tagesordnung. c) Bedürfnis nach einer Bereichsausnahme für den Umweltschutz? Besteht ein wirklicher Bedarf an einer gesonderten Regelung für die Freistellung von Umweltschutzvereinbarungen vom Kartellverbot oder gar eine generell geltende Bereichsausnahme? Eine solche Notwendigkeit könnte dann begründet werden, wenn klare Hinweise darauf gegeben wären, dass das gegenwärtige System der Freistellung aus Gruppenfreistellungsverordnungen und Einzelfreistellung nicht in angemessener Weise Umweltschutzbelange bei der Kooperation von Unternehmen berücksichtigen kann. Nachweise für solche Unzulänglichkeiten des bestehenden Freistellungssystems gibt es aber nicht. Vielmehr ist festzustellen, dass Art. 101 Abs. 3, Art. 106 Abs. 2 AEUV im europäischen Recht und § 2 GWB im deutschen Recht Freistellungsmöglichkeiten bieten, die es jedenfalls in der bisher erkennbaren Verwaltungspraxis von Kommission und Bundeskartellamt vollkommen ausreichende Möglichkeiten eröffnet haben, umweltschutzrechtliche Belange zu berücksichtigen, wenn die wirtschaftlichen Vorteile der Vereinbarung größer sind als die Kosten der Wettbewerbsbeschränkung. Eine Bereichsausnahme für den Umweltschutz begründet die Gefahr, dass der Wettbewerb zugunsten des Umweltschutzes übermäßig zurückgedrängt wird. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass Umweltschutz besser und effizienter in einem System des Wettbewerbs verwirklicht werden kann (Beispiel: DSD – die sukzessive Einführung von Wettbewerbselementen hat zu Einsparungen von rund 1 Mrd. E pro Jahr geführt). Angesichts der niedrigen Schwelle für die Anwendbarkeit des europäischen Kartellrechts (Zwischenstaatlichkeitsklausel)143 würde eine Bereichsausnahme für den Umweltschutz nur sinnvoll sein, wenn sie nicht auf das GWB beschränkt wäre, sondern in die Wettbewerbsregeln des AEUV eingepasst würde. Dafür sind rechtspolitisch keinerlei Chancen erkennbar. Bedacht werden sollte bei der Frage, inwieweit der Wettbewerbsschutz durch den Umweltschutz zurückgedrängt wird auch, dass Unternehmen immer im Eigeninteresse handeln und nicht im Allgemeininteresse. Dieses Problem hatte schon der Gründungsvater der modernen Nationalökonomie, der Schotte Adam Smith, der eigentlich Moralphilosoph war, erkannt. In seinem 1776 erschienenen Hauptwerk „Der Wohlstand der Nationen“ schreibt er treffend dazu folgendes: „Geschäftsleute des gleichen Gewerbes kommen selten, selbst zu Festen oder zur Zerstreuung, zusammen, ohne dass das Gespräch in einer Verschwörung gegen die Öffentlichkeit 143 Kom., Leitlinien über den Begriff der Beeinträchtigung des zwischenstaatlichen Handels in den Artikeln 81 und 82 des Vertrags, ABl. EU 2004 Nr. C 101/81.

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endet oder irgendein Plan ausgeheckt wird, wie man die Preise erhöhen kann. Solche Zusammenkünfte kann man aber unmöglich durch irgendein Gesetz unterbinden, das durchführbar oder mit Freiheit und Gerechtigkeit vereinbar wäre, doch sollte das Gesetz keinerlei Anlass geben, solche Versammlungen zu erleichtern, und, noch weniger, sie notwendig zu machen“.144

Dieser scharfsinnigen Analyse ist auch heute nichts hinzuzufügen und sie kann zwanglos auch auf Umweltschutzvereinbarungen zwischen Unternehmen bezogen werden. Daher ist eine kartellrechtliche Kontrolle von Unternehmenskooperationen auch dann unverzichtbar, wenn diese – jedenfalls vorgeblich – dem Umweltschutz dienen. Insgesamt ist festzustellen, dass ein „Kartellprivileg“ für den Umweltschutz weder erforderlich noch wünschenswert ist, sondern sich eher schädlich auf die allgemeine Wohlfahrt auswirken würde.

III. Umweltschutz und Beihilfenrecht Ein häufig von den Mitgliedstaaten der EU eingesetztes Mittel, ihre Politik zum Schutz der Umwelt zu fördern, besteht in der Gewährung von staatlichen Beihilfen an Unternehmen, die damit Umweltschutzmaßnahmen finanzieren. Die Verfolgung einer mitgliedstaatlichen Umweltschutzpolitik mit dem Instrument von Subventionen darf sich jedoch nur nur in dem rechtlichen Rahmen vollziehen, den der AEUV für staatliche Beihilfen vorsieht. 1. Grundsätzliches Verbot von staatlichen Beihilfen nach Art. 107 Abs. 1 AEUV Art. 107 Abs.1 AEUV enthält ein generelles Verbot für staatliche Beihilfen. Die Vorschriften über staatliche Beihilfen finden sich im Kapitel des AEUV über die Wettbewerbsregeln. Der systematische Zusammenhang zwischen den Beihilfenormen und den unternehmensgerichteten Kartellvorschriften und den staatsgerichteten Grundfreiheiten ergibt sich aus dem Binnenmarktbezug145. Die Grundfreiheiten entziehen den Mitgliedstaaten, die Kartellvorschriften den Unternehmen die Kontrolle über die wirtschaftlichen Vorgänge auf dem Binnenmarkt. Die dadurch gesicherte Freiheit der Unternehmen, sich unter gleichen Bedingungen auf dem gesamten Binnenmarkt betätigen zu können, würde unterlaufen werden können, wenn die Mitgliedstaaten bestimmte Unternehmen (zumeist solche, die auf ihrem Territorium ansässig sind) durch staatliche Beihilfen privilegieren könnten. Staatliche Beihilfen beeinflussen immer die Wettbewerbsverhältnisse auf Märkten, weil sie nie gleichmäßig 144 Smith, Der Wohlstand der Nationen. Eine Untersuchung seiner Natur und seiner Ursachen, übersetzt von Recktenwald (3. Aufl. 1983), 112. 145 Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht,1050 ff.

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allen Unternehmen zugute kommen, sondern selektiv verteilt werden. Sie bedürfen daher der Kontrolle. Die Vorschriften über staatliche Beihilfen weisen einen grundlegenden Unterschied zu den Kartellvorschriften auf: die Beihilfevorschriften sind nach der Rechtsprechung des EuGH nicht unmittelbar anwendbar, weil das Verbot des Art. 107 Abs. 1 wegen der weiten Ermessensspielräume der Kommission bei der Anwendung der Ausnahmen des Art. 107 Abs. 3 und der dabei erforderlichen Bewertung wirtschaftlicher Vorgänge weder absolut noch unbedingt sei146. Einzelne können daher aus diesen Vorschriften keine subjektiven Rechte herleiten. Dies ist erst dann möglich, wenn die Kommission auf der Grundlage der Beihilfevorschriften eine Einzelentscheidung erlassen hat. Nach dem Wortlaut von Art. 107 Abs. 1 AEUV gelten die Vorschriften nur für Beihilfen der Mitgliedstaaten, nicht für solche der Union. 2. Ausnahmen vom Beihilfenverbot, Art. 107 Abs. 2, 3 (insbes. Abs. 3 lit. c) Das generelle Verbot staatlicher Beihilfen wird von so vielen Ausnahmen relativiert, dass teilweise daran gezweifelt wird, ob sich das Verhältnis von Art. 107 Abs. 1 einerseits und Art. 107 Abs. 2 und 3 andererseits als Regel und Ausnahme beschreiben lässt. Art. 107 Abs. 2 nennt drei Kategorien von Beihilfen, die ex lege vom Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV ausgenommen sind. Art. 107 Abs. 3 AEUV hingegen sieht fünf Arten unterschiedlicher Beihilfen vor, die nicht im Wege der Legalausnahme vom Verbot freigestellt sind, aber von der Kommission, die gemäß Art. 108 AEUV für die Beihilfeaufsicht zuständig ist, genehmigt werden können. Als Rechtsgrundlage für die Genehmigung von Umweltschutzbeihilfen ist Art. 107 Abs. 3 lit. c), in dem es um die Förderung bestimmter Wirtschaftszweige und Wirtschaftsgebiete geht, von besonderer Bedeutung. 3. Generell freigestellte Umweltbeihilfen gemäß Art. 17 ff. AGV a) Funktion und Anwendungsbereich der AGV Die Kommission hat – gestützt auf eine entsprechende Ermächtigungsgrundlage des Rates – im Jahr 2008 eine allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung für die Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt erlassen (AGV).147 Darin legt sie für zahlreiche Kategorien von Beihilfen 146 Siehe nur EuGH 11.7. 1996, Rs. C-39/94, Slg. 1996, I-3547, Rdnr. 36 „SFEI“; Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 1043. 147 VO (EG) Nr. 800/2008 vom 6.8. 2008 zur Erklärung der Vereinbarkeit bestimmter Gruppen von Beihilfen mit dem Gemeinsamen Markt in Anwendung der Artikel 87 und 88 EG-Vertrag (allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung), ABl. EU 2008 Nr. L 214/3.

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die Einzelheiten ihrer Freistellung vom Beihilfenverbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV fest. Beihilfen, die den in der AGV aufgestellten Voraussetzungen entsprechen, sind vom Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV ausgenommen, ohne dass sie von den jeweiligen Mitgliedstaaten bei der Kommission angemeldet und von dieser genehmigt werden müssen. Die AGV dient einerseits der Entlastung der Kommission vom Massengeschäft der Beihilfenaufsicht und andererseits den Mitgliedstaaten, indem sie Rechtssicherheit in Bezug auf die zulässige Gewährung bestimmter Subventionen gewährleistet. Zu den von der AGV freigestellten staatlichen Beihilfen gehören auch zahlreiche Arten von Umweltbeihilfen. b) Zulässige Beihilfemaßnahmen im Umweltsektor Artt. 17 – 25 der AGV stellen in erheblichem Umfang Umweltschutzbeihilfen vom Verbot des Art. 107 Abs. 1 AEUV frei. Dabei versteht die AGV nach der Legaldefinition des Art. 17 Nr. 1 AGV unter Umweltschutz „jede Maßnahme, die darauf abzielt, einer Beeinträchtigung der natürlichen Umwelt oder der natürlichen Ressourcen durch die Tätigkeit des Beihilfeempfängers abzuhelfen oder vorzubeugen, die Gefahr einer solchen Beeinträchtigung zu vermindern oder zu einer rationelleren Nutzung dieser Ressourcen einschließlich Energiesparmaßnahmen und die Nutzung erneuerbarer Energien führen soll.“ Die AGV stellt in diesem Zusammenhang Umweltbeihilfen frei, die folgenden Zielen dienen: ¢ Investitionsbeihilfen, die Unternehmen unterstützen, über Gemeinschaftsnormen des Umweltschutzes hinauszugehen oder den Umweltschutz bei Fehlen solcher Normen zu verbessern (Art. 18 AGV); ¢ Beihilfen für die Anschaffung neuer Fahrzeuge, die über Gemeinschaftsnormen hinausgehen oder durch die der Umweltschutz bei Fehlen solcher Normen verbessert wird (Art. 19 AGV); ¢ Beihilfen für kleine und mittlere Unternehmen zur Anpassung an künftige Gemeinschaftsnormen (Art. 20 AGV); ¢ Umweltschutzbeihilfen für Energiemaßnahmen (Art. 21 AGV); ¢ Beihilfen für Investitionen in hocheffiziente Kraft-Wärme-Kopplung (Art. 22 AGV); ¢ Umweltschutzbeihilfen für Investitionen in erneuerbare Energien (Art. 23 AGV); ¢ Beihilfen für Umweltstudien (Art. 24 AGV); ¢ Beihilfen in Form von Umweltsteuerermäßigungen (Art. 25 AGV). Dabei definiert die AGV jeweils sehr detailliert die Bereiche und Ziele, die mit den Beihilfen gefördert werden sollen und legt auch prozentuale Höchstsätze für die Förderung fest.

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c) Rechtsfolgen der Freistellung nach der AGV Fällt die Beihilfemaßnahme eines Mitgliedstaates im Umweltbereich unter die AGV, so ist sie mit dem AEUV vereinbar, ohne dass es einer Anmeldung bei der Kommission und einer Genehmigung bedarf. 4. Nicht von der Gruppenfreistellung erfasste Umweltbeihilfen: Freistellung nach Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV Fällt eine Umweltbeihilfe nicht unter die weitgefächerten Ausnahmebestimmungen der AGV, bedeutet dies nicht, dass sie nach Art. 107 Abs. 1 AEUV verboten ist. In einem solchen Fall ist zu prüfen, ob eine Freistellung nach Art. 107 Abs. 3 lit. c) in Betracht kommt148. Danach können Beihilfen als mit dem Binnenmarkt vereinbar angesehen werden, die zur Förderung gewisser Wirtschaftszweige oder Wirtschaftsgebiete gewährt werden, wenn sie die Handelsbedingungen nicht in einer Weise verändern, die dem gemeinsamen Interesse zuwiderläuft. Um den Mitgliedstaaten eine Grundlage zur Beurteilung der Zulässigkeit von Beihilfevorhaben auf dem Gebiet des Umweltschutzes an die Hand zu geben, hat die Kommission umfangreiche Leitlinien zur Auslegung von Art. 107 Abs. 3 lit. c) in Bezug auf den Umweltschutz erlassen. So konkretisiert sie die Anwendung der Vorschrift sehr detailliert und umfangreich in den Leitlinien für staatliche Umweltschutzbeihilfen aus dem Jahr 2008149. Besondere Leitlinien hat die Kommission für bestimmte Beihilfemaßnahmen in Bezug auf das System für den Handel mit Treibhausgasemissionen für die Zeit nach 2012 erlassen150. Durch diese Beihilfen soll vor allem Unternehmen geholfen werden, bei denen wegen der Preiserhöhungen durch das ETS-System die Gefahr besteht, dass CO2- Emissionen verlagert werden. Es handelt sich bei den Leitlinien – anders als bei der AGV – nicht um verbindliche Rechtsakte der Union. Die Unionsgerichte, die mitgliedstaatlichen Gerichte und auch die mitgliedstaatlichen Wettbewerbsbehörden werden dadurch nicht gebunden. Eine gewisse Selbstbindung tritt lediglich für die Kommission ein; wegen des auch unionsrechtlich anerkannten Vertrauensgrundsatzes darf sie nicht ohne sachlich gerechtfertigten Grund staatliche Beihilfen anders beurteilen als in den Leitlinien festgelegt.

148 Siehe dazu Ehricke, in: Immenga/Mestmäcker, Wettbewerbsrecht, EG/Teil 1, Kommentar zum Europäischen Kartellrecht (4. Aufl. 2007), Art. 87 Abs. 3 EGV, Rdnr. 86 ff. (Umweltbeihilfen). 149 Komm., Leitlinien der Gemeinschaft für staatliche Umweltschutzbeihilfen, ABl. EU 2008 Nr. C 82/1. 150 Komm., Leitlinien für bestimmte Beihilfemaßnahmen im Zusammenhang mit dem System für den Handel mit Treibhausgasemissionszertifikaten nach 2012, ABl. EU 2012 Nr. C 158/4.

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Umweltschutzbeihilfen, die nach Art. 107 Abs. 3 lit. c) freigestellt werden sollen, müssen bei der Kommission angemeldet und von dieser genehmigt werden. 5. Ergebnis Die Mitgliedstaaten fördern in vielfältiger Weise den Schutz der Umwelt und die effiziente Nutzung natürlicher Ressourcen durch alle möglichen Arten von Beihilfen für private Unternehmen. Dies kann dazu beitragen, wettbewerbsschädliche Effekte von Umweltschutzanforderungen, etwa auf kleine und mittlere Unternehmen im Vergleich zu Großunternehmen, die die Kosten des Umweltschutzes auf eine größere Produktion verteilen können, abzufedern. Auch können Umweltbeihilfen dazu beitragen, gesetzlich festgelegte Umweltstandards früher zu erreichen als es in den Rechtsakten vorgesehen ist. Zu bedenken ist bei staatlichen Beihilfen immer, dass sie den Wettbewerb zwischen Unternehmen verzerren. Nicht selten wird aber auch die eigentlich beabsichtigte Anreizwirkung auf die Unternehmen verfehlt; es kommt zu Mitnahmeeffekten: die Unternehmen beantragen Beihilfenunterstützung für Maßnahmen, die sie auch ohne die Beihilfe vorgenommen hätten151.

IV. Die Berücksichtigung von Umweltschutzbelangen im europäischen Vergaberecht 1. Wettbewerbsschutz und die Vergabe öffentlicher Aufträge Das Recht der Europäischen Union sieht besondere Regeln für die Vergabe öffentlicher Aufträge vor. Diese Vergaberegelungen haben mit den Wettbewerbsregeln des AEUV das Ziel gemeinsam, unverfälschten Wettbewerb auf freien Märkten zu sichern. Das öffentliche Beschaffungswesen ist in der Europäischen Union von großer wirtschaftlicher Bedeutung. Die Mitgliedstaaten beschaffen Waren und Dienstleistungen im Wert von ca. 16 % des Bruttoinlandsprodukts152. Die Staaten fragen auf dem Markt Waren und Dienstleistungen wie private Unternehmen nach. Allerdings unterliegen sie dabei nicht demselben Druck, auf Wirtschaftlichkeit zu achten wie Privatunternehmen. Zudem zeigt die Erfahrung, dass die Mitgliedstaaten dazu neigen, öffentliche Aufträge an Unternehmen zu vergeben, die auf ihrem Territorium ansässig sind. Um auch hier einen diskriminierungsfreien Binnenmarkt für alle Anbieter in Europa zu schaffen, hat die Union Rechtsgrundlagen erlassen, die das öffentliche Vergabewesen regeln153. 151

170. 152

Diese Gefahr sehen auch Fritsch/Wein/Ewers, Marktversagen und Wirtschaftspolitik,

Komm., Umweltorientiertes Öffentliches Beschaffungswesen, Dok. KOM (2008) 400 endg., 2. 153 Siehe allgemein zur Vergabe öffentlicher Aufträge Mestmäcker/Schweitzer, Europäisches Wettbewerbsrecht, 924 ff.

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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2. Anwendungsbereich und Grundsätze der Vergabe-Richtlinien der Europäischen Union Um einen auf den Grundsätzen der Diskriminierungsfreiheit und der Transparenz beruhenden grenzüberschreitenden Wettbewerb um öffentliche Aufträge der Mitgliedstaaten zu ermöglichen, hat die Europäische Union zwei Richtlinien erlassen, die für Kernbereiche der öffentlichen Beschaffung Verfahren vorschreiben, die die Erreichung dieser Ziele sicher stellen sollen. Es handelt sich dabei um ¢ die Richtlinie 2004/18/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3. 2004 zur Koordinierung der Verfahren zur Vergabe öffentlicher Bauaufträge, Lieferaufträge und Dienstleistungsaufträge154 (BLD-Richtlinie) sowie ¢ die Richtlinie 2004/17/EG des Europäischen Parlaments und des Rates vom 31.3. 2004 zur Koordinierung der Zuschlagserteilung durch Auftraggebers im Bereich der Wasser-, Energie- und Verkehrsversorgung sowie der Postdienste155 (sog. Sektorenrichtlinie). Die Richtlinien sehen auf der ersten Stufe der Auftragsvergabe eine öffentliche Ausschreibung von Aufträgen vor, die es allen interessierten und geeigneten Unternehmen ermöglicht, sich um den Auftrag zu bewerben. In der zweiten Phase des Verfahrens prüfen die Auftraggeber die Eignung der Anbieter. Für die dritte und letzte Phase des Vergabeverfahrens enthalten die Richtlinien Vorgaben für die Zuschlagsentscheidung, d. h. für die Auswahl des Bewerbers, der den Auftrag erhalten soll. Für diesen Abschnitt des Vergabeverfahrens ist fraglich, ob und in welchem Umfang Umweltschutzbelange ein zulässiges Kriterium für den Zuschlag von öffentlichen Aufträgen sein können. Die Richtlinien sehen Schwellenwerte vor, bei deren Überschreitung die in ihnen vorgeschriebenen Vergabeverfahren anzuwenden sind. Bei den beiden EU-Regelungen für die öffentliche Auftragsvergabe handelt es sich um Richtlinien, die in den Mitgliedstaaten nicht unmittelbar anwendbar sind, sondern der Umsetzung bedürfen. Im deutschen Recht sind sie durch die §§ 97 ff. GWB umgesetzt worden. 3. Zuschlag im Vergabeverfahren Für den Zuschlag im Vergabeverfahren sehen die Richtlinien zwei alternative Kriterien vor, nämlich entweder den günstigsten Preis oder das wirtschaftlich günstigste Angebot.

154 155

ABl. EU 2004 Nr. L 134/114. ABl. EU 2004 Nr. L 134/1.

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a) Zulässige Zuschlagskriterien aa) Günstigster Preis Die Auftraggeber können als Zuschlagskriterium ausschließlich den niedrigsten Preis festlegen156. Dies bedeutet, dass derjenige Bieter mit dem Auftrag betraut wird, der die ausgeschriebene Leistung zum niedrigsten Preis anbietet. Hat sich der Auftraggeber für dieses Zuschlagskriterium entschieden, kann er die Auftragsvergabe nicht von zusätzlichen anderen Anforderungen abhängig machen. bb) Wirtschaftlich günstigstes Angebot Der Auftraggeber kann den Zuschlag aber auch an den Bewerber vergeben, der das wirtschaftlich günstigste Angebot unterbreitet hat. Bei dieser Variante des Zuschlagsverfahrens finden neben dem Preis auch noch andere Kriterien Berücksichtigung. Beispielhaft nennen die Richtlinien hier Qualität, Preis, technischen Wert, Ästhetik, Zweckmäßigkeit, Umwelteigenschaften, Betriebskosten, Rentabilität, Kundendienst und technische Hilfe, Lieferzeitpunkt und Lieferungs- oder Ausführungsfrist. Unter diesen Kriterien, deren Aufzählung nicht abschließend ist, befinden sich auch die Umwelteigenschaften der zu liefernden Sache oder Dienstleistung. b) Die Berücksichtigung von Umweltinteressen im Vergabeverfahren Wesentliche Grundanforderungen an die Rechtmäßigkeit des Vergabeverfahrens sind Transparenz und Gleichbehandlung aller Anbieter. Das Zuschlagsverfahren nach dem wirtschaftlich günstigsten Angebot birgt die Gefahr, dass der Auftraggeber die einzelnen zu berücksichtigenden Kriterien so kombiniert und untereinander gewichtet, dass ein bestimmter, bereits vorher feststehender Anbieter zum Zuge kommt. Um dies zu verhindern, hat die Rechtsprechung des EuGH gewisse Anforderungen entwickelt, die ein solches Vorgehen möglichst ausschließen sollen. Im Vorabentscheidungsverfahren Concordia Bus Finland ging es um eine Ausschreibung der Stadt Helsinki für eine städtische Buslinie; die Auftraggeberin hatte für den Zuschlag das Verfahren des wirtschaftlich günstigsten Angebots gewählt157. Bei der Beurteilung der Angebote sollten drei Gruppen von Kriterien berücksichtigt werden, nämlich der Gesamtpreis, die Qualität des Fuhrparks und das Qualitäts- und Umweltkonzept des Verkehrsunternehmers. Für die ersten beiden Kriteriengruppen war ein festes Punktesystem vorgesehen, für das Umweltkonzept konnten Zusatzpunkte vergeben werden. Den Zuschlag erhielt das kommunale Verkehrsunternehmen, da es die Busse mit den geringsten Schadstoff- und Lärmemissionen besaß. Dagegen klagte der unterlegene Konkurrent mit der Begründung, dass die Zusatzpunkte für das Umweltkonzept für den Einsatz von Bussen angerech156 157

Art. 53 Abs. 1 lit. b) BLD-Richtlinie; Art. 55 Abs. 1 lit. b) Sektoren-Richtlinie. EuGH 17.9. 2002, Rs. C-513/99, Slg. 2002, I-7251 „Concordia Bus Finland“.

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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net worden seien, die nur ein Bewerber, nämlich das kommunale Unternehmen, habe bieten können. Dies sei diskriminierend. Dazu stellte der EuGH fest, dass ein Auftraggeber im Rahmen des Zuschlags aufgrund des günstigsten wirtschaftlichen Angebots Umweltschutzkriterien berücksichtigen darf, sofern diese Kriterien mit dem Gegenstand des Auftrags zusammenhängen, dem Auftraggeber keine uneingeschränkte Entscheidungsfreiheit über den Zuschlag einräumen und in der Veröffentlichung der Ausschreibung ausdrücklich genannt sind und alle wesentlichen Grundsätze des Gemeinschaftsrechts, vor allem das Diskriminierungsverbot, beachtet worden seien158. Hier seien die Zuschlagskriterien objektiv und ohne Unterschied auf alle Angebote angewandt worden und hätten auch in einem sachlichen Zusammenhang zum Gegenstand des Auftrags gestanden. Daher sei das Diskriminierungsverbot nicht verletzt worden159. Diese Anforderungen hat der EuGH in einem kurz danach entschiedenen Fall bestätigt160. Darüber hinaus muss das Kriterium der Umwelteigenschaften in der Ausschreibung so gefaßt sein, dass eine effektive Nachprüfung der Richtigkeit der in den Angeboten enthaltenen Angaben möglich ist. Auch darf sich das Kriterium der Umwelteigenschaft sich nicht auf Umstände beziehen, die in keinem Zusammenhang mit dem Gegenstand des Auftrags stehen161.

V. Ergebnisse 1.

Wettbewerb und Umweltschutz verfolgen im Grundsatz übereinstimmende Ziele. Beide wollen die gesamtgesellschaftliche Wohlfahrt durch die effiziente Nutzung knapper Ressourcen optimieren und die Verschwendung solcher Güter verhindern.

2.

Typischerweise sind Umweltgüter öffentliche Güter, von deren Nutzung Dritte nicht ausgeschlossen werden können und bei denen keine Konsumrivalität besteht. Der freie (kostenlose) Zugriff auf die öffentlichen Umweltgüter führt zu negativen externen Effekten und damit zu ineffizienter Güternutzung.

3.

Um eine effiziente Nutzung von Umweltgütern zu gewährleisten, müssen Kosten und Nutzen des Gebrauchs beim Nutzer internalisiert werden. Da die öffentlichen Umweltgüter wegen der erwähnten Eigenschaften nicht einfach in private Güter umgewandelt werden können, muss eine Internalisierung auf andere Weise erfolgen. Ansatz hierzu ist das umweltrechtliche Verursacherprinzip. Das Umweltrecht wendet unterschiedliche Instrumente an, um die Kosten der Nutzung von Umweltgütern beim Verursacher zu internalisieren oder eine (kostenlose) Inanspruchnahme solcher Güter zu verhindern: Haftungsregeln, Um158

EuGH 17.9. 2002, Rs. C-513/99, Slg. 2002, I-7251, Rdnr. 64 „Concordia Bus Finland“. EuGH 17.9. 2002, Rs. C-513/99, Slg. 2002, I-7251, Rdnr. 83 „Concordia Bus Finland“. 160 EuGH 4.12. 2003, Rs. C-448/01, Slg. 2003, I-14558, Rdnr. 33 „EVN/Wienstrom“. 161 EuGH 4.12. 2003, Rs. C-448/01, Slg. 2003, I-14558, Rdnr. 72 „EVN/Wienstrom“.

159

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Reinhard Ellger

weltstandards, gesetzliche Obergrenzen für Emissionen, Emissionszertifikate, Umweltsteuern. 4.

Unter bestimmten Voraussetzungen (z. B. nennenswerte Skalen- und Verbundvorteile, natürliche Monopole) kann zur Realisierung von Umweltschutzmaßnahmen die Kooperation von miteinander in Wettbewerb stehenden Unternehmen ökonomisch sinnvoll sein.

5.

Zum Teil (etwa im Bereich der flächendeckenden haushaltsnahen Entsorgung von Verpackungsmüll durch duale Systeme) werden Kooperationen zwischen Unternehmen durch Rechtsvorschriften nahe gelegt.

6.

Die Kooperation zwischen konkurrierenden Unternehmen zu Zwecken des Umweltschutzes darf sich nur in den Grenzen vollziehen, die die Wettbewerbsregeln des AEUV und das GWB für eine solche Zusammenarbeit aufstellen.

7.

Die Mitgliedstaaten der EU sind indirekt an die (unternehmensgerichteten) Wettbewerbsregeln des AEUV gebunden. Sie dürfen nach Art. 4 Abs. 3 EUV keine Maßnahmen ergreifen oder beibehalten, die die Verwirklichung der Ziele der Union gefährden. Für das Wettbewerbsrecht folgt nach st. Rspr. des EuGH daraus, dass die Mitgliedstaaten keine Maßnahmen treffen dürfen, die die praktische Wirksamkeit der Wettbewerbsregeln beeinträchtigen (effet utile). Dies schließt eine Beschränkung der Reichweite der Wettbewerbsregeln durch mitgliedstaatliches Umweltrecht aus.

8.

Auch auf der Ebene des deutschen Rechts können umweltrechtlich motivierte Unternehmenskooperationen nur in den Grenzen legal praktiziert werden, die das GWB dafür zieht. Weder das Kartellverbot noch das Missbrauchsverbot des GWB sind durch das Umweltrecht ausgeschlossen.

9.

Die Anwendung des Kartellverbots in Art. 101 Abs. 1 AEUV, § 1 GWB wird nicht durch Tatbestandsrestriktionen zugunsten des Umweltschutzes begrenzt.

10. Eine angemessene und nach den bisherigen Erfahrungen auch vollkommen ausreichende Berücksichtigung von Umweltschutzbelangen wird im Kartellrecht durch die Freistellungsvorschriften des Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 GWB gewährleistet. Die Fallpraxis von Kommission und BKartA zeigt, dass diese Vorschriften hinreichend flexibel sind, die Belange des Umweltschutzes zu wahren, ohne auf die Leistungsfähigkeit des wirtschaftlichen Wettbewerbs zu verzichten. 11. Eine Freistellung von Umweltschutzmaßnahmen außerhalb des Tatbestands von Art. 101 Abs. 3 AEUV, § 2 Abs. 1 GWB ist nicht möglich, da es dafür an einer Rechtsgrundlage fehlt. 12. Die kostendämpfende und effizienzsteigernde Wirkung wirtschaftlichen Wettbewerbs auch im Bereich des Umweltschutzes wird durch die Erfahrungen mit den dualen Systemen in Deutschland bestätigt. Nach seiner Gründung war die Struktur der haushaltsnahen Verpackungsmüllentsorgung in Deutsch-

(K-)Ein Kartellprivileg für den Umweltschutz?

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land durch die Monopolstellung eines einzelnen dualen Systems und weitreichende weitere Wettbewerbsbeschränkungen gekennzeichnet. Auf Drängen des BKartA und der Kommission wurde das Monopol beseitigt und schrittweise mehr Wettbewerb eingeführt. Dies hat nach Erkenntnissen des BKartA im Zeitraum von 2003 bis 2011 zu einer Kostenreduktion im Bereich der flächendeckenden haushaltsnahen Entsorgung von Verpackungsmüll von mehr als 1 Mrd. E oder 54 % geführt. Der Marktanteil des ehemaligen Monopolunternehmens ist auf 44 % gesunken. Wesentliche Nachteile für den Umweltschutz oder die Funktionsfähigkeit des dualen Systems durch die Einführung von Wettbewerbselementen sind nicht bekannt geworden. 13. De lege ferenda ist eine gesonderte Freistellungsmöglichkeit oder gar eine Bereichsausnahme für den Umweltschutz nicht erforderlich, da ein Ausgleich zwischen Umweltschutzbelangen und dem Interesse am Schutz des freien Wettbewerbs angemessen im Rahmen der kartellrechtlichen Freistellungsvorschriften erfolgen kann. 14. Umweltschutzbeihilfen sind in großem Umfang durch die allgemeine Gruppenfreistellungsverordnung zu Art. 107 Abs. 3 AEUVoder durch Einzelfreistellung nach Art. 107 Abs. 3 lit. c) AEUV legalisiert. Sie können zur Erreichung von Umweltschutzzielen beitragen, verfälschen aber auch den Wettbewerb. Ob solche Subventionen die von ihnen erwarteten Anreize für ein bestimmtes Verhalten der Empfänger tatsächlich bewirken, bleibt wegen häufiger Mitnahmeeffekte zweifelhaft. 15. Unter bestimmten Voraussetzungen, die Transparenz und Diskriminierungsfreiheit bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sichern sollen, können Umweltschutzeigenschaften von Waren und Dienstleistungen nach dem europäischen Vergaberecht ein zulässiges Zuschlagskriterium bei der Vergabe öffentlicher Aufträge sein.

Verkehrssicherungspflichten – Haftungsprivilegien in Naturschutzgebieten Von Eckard Rehbinder

I. Einleitung Zu den Zielen des Bundesnaturschutzgesetzes gehört auch die Erholung in Natur und Landschaft. § 1 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG bestimmt, dass Natur und Landschaft so zu schützen sind, dass die Vielfalt, Eigenart und Schönheit sowie der Erholungswert von Natur und Landschaft auf Dauer gesichert sind. Der praktischen Ermöglichung der Erholung in Natur und Landschaft dient das in § 59 BNatSchG niedergelegte Betretungsrecht. Danach ist das Betreten der freien Landschaft auf Straßen und Wegen sowie auf ungenutzten Grundflächen zum Zweck der Erholung allen gestattet. Eine parallele Regelung findet sich in § 14 Abs. 1 S. 1, 2 BWaldG. Traditioneller Kern dieses Rechts auf Erholung in der Natur sind das Wandern in der freien Landschaft einschließlich des Waldes sowie in den süddeutschen Ländern auch das Pilze- und Beerensammeln. Es gibt aber eine Reihe anderer Aktivitäten, die dem Betretungsrecht unterliegen oder von den Ländern dem Betreten gleichgestellt werden können, wie z. B. das Radfahren, das Reiten oder Bergsteigen. Eine Fülle von Gerichtsentscheidungen, die sich mit Unfällen im Wald befasst haben,1 zeigt, dass es nicht nur auf Deutschlands Straßen, sondern auch im Wald und in der Flur Unfälle mit zum Teil schlimmen Folgen geben kann. So war z. B. einer Spaziergängerin, die mit ihrem Hund auf einem Waldweg befand, ein 17 Meter langer Starkast auf den Hinterkopf gefallen, mit der Folge, dass sie eine schwere Gehirnschädigung erlitt.2 In einen anderen Fall war ein Wanderer im Wald in der Dunkelheit vom Weg abgewichen und dann mitten im Wald an einem ehemaligen Steinbruch über zehn Meter abgestürzt. Die Folge dieses Sturzes war eine Querschnittslähmung.3 Eine Frau war im Winter mit ihrem Hund auf einem Waldweg spazieren gegangen. Da ein umgestürzter Baum den Weg versperrte, um1 Vgl. Bittner, Verkehrssicherungspflicht auf Waldwegen, VersR 2009, 896; Breloer, Zur Häufigkeit der Baumkontrollen des Waldbesitzers, AFZ 2004, 69; Orf, Aus der Rechtsprechung zur Verkehrssicherungspflicht des Waldbesitzers, NZV 1997, 201; Klose/Orf, Forstrecht, 2. Aufl. 1998, § 14 BWaldG Rdnr. 45 ff. 2 BGH, NuR 2012, 885; ähnlicher Fall (aber mit geringeren Folgen) in der Flur: OLG Celle, NVwZ-RR 2013, 9. 3 OLG Karlsruhe, NuR 2011, 823.

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Eckard Rehbinder

ging sie den Baum auf einem Trampelpfad, der sich neben dem Weg gebildet hatte. Auf dem schrägen und durch Eisbildung glatten Boden verlor sie das Gleichgewicht und zog sich beim Auffangen des Sturzes eine komplizierte Speichertrümmerfraktion eines Handgelenks zu.4 Fälle dieser Art können sich auch in Schutzgebieten ereignen, soweit sie für die Öffentlichkeit zugänglich sind. Das Thema der nachfolgenden Überlegungen sind die Verteilung der Verantwortung für die Sicherheit der Erholungssuchenden in Schutzgebieten und die sich hieraus ergebenden haftungsrechtlichen Folgen dieser Verantwortung. Wer trägt die Verantwortung – ist es der Besitzer oder, sofern dieser durch naturschutzrechtliche Verbote an Schutzmaßnahmen gehindert ist, der Staat oder ist es der Erholungssuchende selbst, der auf eigene Gefahr handelt und die Folgen von Unfällen dieser Art als Teil des eigenen Lebensrisikos zu tragen hat?

II. Grundlagen 1. Gesetzliche Regelungen Sowohl das Bundesnaturschutzgesetz als auch das Bundeswaldgesetz enthalten als Annexregelungen zum Betretungsrecht Vorschriften über die Verantwortlichkeit für Schäden, die Betretungsberechtigte bei Ausübung ihres Rechts erleiden. § 60 BNatSchG bestimmt, dass das Betreten der freien Landschaft auf eigene Gefahr erfolgt, dass keine zusätzlichen Sorgfalts- oder Verkehrssicherungspflichten begründet werden und insbesondere keine Haftung für typische, sich aus der Natur ergebende Gefahren entsteht. § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG enthält eine ähnliche, knapper formulierte Regelung, die an das Handeln auf eigene Gefahr anknüpft und dieses gesetzlich dahin interpretiert, dass insbesondere waldtypische Gefahren erfasst sind. Das Verhältnis der naturschutz- und forstrechtlichen Vorschriften über das Betretungsrecht und die Haftpflicht in der Natur zueinander ist allerdings streitig.5 Nach wohl überwiegender Meinung umfasst der Begriff der freien Landschaft die Gesamtheit von Wald und Flur. Konsequenter Weise gilt danach auch das Betretungsrecht des § 59 BNatSchG für den Wald. Die Verweisung des § 59 Abs. 2 S. 1 BNatSchG, wonach sich das Betreten des Waldes nach Forstrecht richtet, soll nur die Modalitäten des in § 59 BNatSchG begründeten Betretungsrechts betreffen.6 Für diese Auslegung 4

LG Hannover, NuR 2006, 597. Für Vorrang des § 59 BNatSchG: Kraft, in: Lütkes/Ewer, BNatSchG, 2011, § 59 Rdnr. 19 f.; Fischer-Hüftle, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, Bundesnaturschutzgesetz, 2. Aufl. 2011, § 59 Rdnr. 1; a.M. Maus, in: Frenz/Jürgen Müggenborg, BNatSchG, 2011, § 59 Rdnr. 2, 10 f.; offen gelassen von BGH, NuR 2012, 885. 6 Kraft, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 7; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 7; a.M. Maus, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 3; Otto, Haftungsregelung im neuen Naturschutzrecht, NuR 2010, 329, 5

Verkehrssicherungspflichten – Haftungsprivilegien in Naturschutzgebieten

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spricht zum einen die Wortwahl des Gesetzes. Im Gegensatz zum bisherigen Recht, wo man dies im Hinblick auf die Verwendung des Begriffs „Flur“ auch anders sehen konnte, ist der Begriff der freien Landschaft allumfassend. Zum anderen wäre ansonsten die Nennung der forstwirtschaftlichen Nutzung in den allgemein geltenden Beschränkungsmaßnahmen des § 59 Abs. 2 S. 2 BNatSchG kaum verständlich. Immerhin weist der Wortlaut der Verweisung auf das Forstrecht eher in die gegenteilige Richtung. Auch fehlt im Bundeswaldgesetz jede Bezugnahme auf das Bundesnaturschutzgesetz, die die Annahme einer lediglich konkretisierenden Funktion des Forstrechts stützen könnte. Zweifelhaft ist, ob auf der Grundlage der überwiegenden Meinung auch die Haftungsregelung des § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG von § 60 BNatSchG verdrängt wird. Diese Frage wird nicht in vollem Umfang durch die Abgrenzung hinsichtlich des Betretungsrechts präjudiziert. Je nachdem, ob man das Haftungsregime des § 60 BNatSchG als eine selbständige Materie oder nur als eine Modalität des Betretungsrechts ansieht, kann man hinsichtlich der Haftung zu einer unterschiedlichen Einordnung kommen. Im ersteren Fall könnte § 60 BNatSchG wie § 59 BNatSchG auch den Wald als Teil der freien Natur umfassen und § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG wäre bedeutungslos.7 Im letzteren Fall stellt § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG eine echte Spezialregelung dar.8 Am Ergebnis ändert all dies aber nichts, da kaum anzunehmen ist, dass der Gesetzgeber des Bundeswaldgesetzes eine abweichende Haftungsregelung vorsehen wollte.9 Insbesondere gibt es für die forstrechtliche Regelung keine besondere Begründung im Hinblick auf die Sonderstellung der Forstwirtschaft, die ggf. eine von § 60 BNatSchG abweichende Auslegung und Entscheidung von Einzelfällen rechtfertigen könnte. Aus Gründen der Praktikabilität und weil dies bei Schutzgebieten näher liegt, wird im Folgenden grundsätzlich von § 60 BNatSchG auch insoweit ausgegangen, als Schutzgebiete als Wald anzusehen sind.

2. Verkehrssicherungspflicht als Ausgangspunkt § 60 BNatSchG knüpft an die zivilrechtliche Verkehrssicherungspflicht an und setzt voraus, dass auch in der freien Landschaft grundsätzlich eine Verkehrssicherungspflicht besteht, die den Eigentümer und Besitzer als Sachherrn trifft. Die allgemein anerkannte Rechtsfigur der Verkehrssicherungspflicht dient der Begründung von Handlungspflichten zur Erfolgsabwendung im Fall des Unterlassens sowie der Konkretisierung der Pflichtwidrigkeit im Rahmen der deliktischen Haftung 330; ders., Neue gesetzliche Regelungen für das Betreten der freien Landschaft auf Straßen, Wegen, ungenutzten Grundstücken und im Wald, UPR 2010, 301. 7 So Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 19; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 7; § 60 Rdnr. 1. 8 So Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 2; wohl auch BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 22 f. 9 Vgl. Begr. RegEntw., BT-Drucks. 17/1220, S. 1, 7.

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Eckard Rehbinder

nach § 823 Abs. 1 BGB;10 § 836 BGB stellt eine gesetzliche Spezifizierung dar. Haftungsgrund ist nach ganz überwiegender Meinung die besondere Verpflichtung desjenigen, der zu seinem eigenen Vorteil eine Gefahrenlage schafft, insbesondere einen Verkehr eröffnet oder eine Sache beherrscht, für die Sicherheit des Publikums oder derjenigen, die sich im Gefahrenbereich der Sache befinden, zu sorgen und eine Schädigung dieser Personen möglichst zu verhindern. Die Verkehrssicherungspflicht rechtfertigt sich auch durch den Vertrauensschutzgedanken. Das Opfer darf darauf vertrauen, dass der Sachherr die Sicherheit in seinem Herrschaftsbereich gewährleistet.11 Zum Teil wird die Verkehrssicherungspflicht stattdessen auch auf eine Rechtsanalogie zu den §§ 228, 904 und 906 BGB gestützt.12 Die Verantwortlichkeit geht über das umweltrechtliche Verursacherprinzip hinaus. Sie ist nicht nur Handlungs-, sondern auch eine Art Zustandshaftung. Verantwortlich ist auch derjenige, der in seinem Herrschaftsbereich eine von einem anderen geschaffene Gefahr duldet oder andauern lässt.13 Dies gilt insbesondere, wie § 836 Abs. 2 BGB zeigt, auch für den Rechtsnachfolger.14 Das Maß der Verantwortlichkeit wird durch eine Reihe von Wertungsgesichtspunkten, insbesondere durch den Gedanken der Zumutbarkeit bestimmt. Der Sachherr muss nicht jede nur denkbare Schädigung, sondern nur solche Schädigungen abwenden, deren möglicher Eintritt nahe liegt. Er muss nur diejenigen Maßnahmen treffen, die ein umsichtiger und verständiger, in vernünftigen Grenzen vorsichtiger Mensch für notwendig und ausreichend halten darf, um andere vor Schäden zu bewahren, und die den Umständen nach finanziell, personell und organisatorisch zuzumuten sind.15 Obwohl sich in der Praxis die Haftung für die Verletzung von Verkehrssicherungspflichten der Gefährdungshaftung annähert, bleibt sie, wie die genannte Formel zum Ausdruck bringt, Haftung für Unrecht (Verschuldenshaftung). Sie ist wie die zivilrechtliche Haftung allgemein primär durch den Gedanken gerechten Schadensausgleichs geprägt. Aspekte der Prävention und der Verbesserung der ge10 Vgl. Raab, Die Bedeutung der Verkehrssicherungspflicht und ihre systematische Stellung im Deliktsrecht, JuS 2002, 1041. 11 BGH, NuR 2012, 885 Rn. 6 – 8 m.w.Nachw.; NuR 2010, 85 Rdnr. 6; NJW 2008, 3775 Rdnr. 9; NJW 2007, 2182 Rdnr. 11; NJW-RR 2001, 1208 f.; Wagner, in: Münchener Kommentar zum BGB, Bd. 5, 5. Aufl. 2009, § 823 Rdnr. 238, 241, 244, 261; Hager, in: Staudinger, BGB, Neubearbeitung 2009, § 823 Rdnr. E 13, 16; v. Bar, Verkehrssicherungspflichten, 1980, S. 117 ff. 12 Wilhelmi, Risikoschutz durch Privatrecht, 2009, S.30 ff., 230 ff., 237 ff. 13 BGH, NuR 2012, 885, Rn. 6; NJW 2007, 2182 Rdnr. 11; NuR 2006, 594 Rdnr. 13; NJW 1985, 1773, 1774; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2008, 1247; VersR 1998, 1166; Hager, in: Staudinger, oben Fn. 11, § 823 Rdnr. E 13, 16; v. Bar, oben Fn.11, S. 113 ff.; Bittner, VersR 2009, 896, 898; a.M. Wilhelmi, oben Fn. 12, S. 190 ff. (nur nach §§ 836 – 838 BGB). 14 BGH, NJW 2007, 2182 Rdnr. 11; LM Nr. 164 § 823 D c; RGZ 138, 21, 22; Hager, in: Staudinger, oben Fn. 11, § 823 Rdnr. E 17; Agena, Verkehrssicherungspflicht bei Waldbäumen, NuR 2007, 707, 710. 15 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 7; VersR 2010, 554 Rdnr. 6; VersR 2006, 233 Rdnr. 10; Edenfeld, Grenzen der Verkehrssicherungspflicht, VersR 2002, 272, 276 f.; Wilhelmi, oben Fn. 12, S. 245 ff.

Verkehrssicherungspflichten – Haftungsprivilegien in Naturschutzgebieten

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samtgesellschaftlichen Wohlfahrt unter Einbeziehung von Maßnahmen des Selbstschutzes des Opfers16 können bei der Haftungsausfüllung mitbedacht werden, sie dürften aber bei der Haftungsbegründung keine Rolle spielen. Allerdings kann man die zivilrechtliche Haftung und ihre Grenzen, die insbesondere durch den Gedanken der Eigenverantwortung des Opfers markiert werden, nicht völlig isoliert von kollektiven Schadenstragungssystemen betrachten. Haftpflichtige Personen und Opfer stehen sich nicht isoliert gegenüber. Die haftpflichtigen Personen haben vielfach eine Haftpflichtversicherung, wenngleich das für Waldbesitzer meist nicht zutrifft, Opfer sind meist Mitglieder der Sozialversicherung und mögen auch eine private Unfallversicherung abgeschlossen haben. Obwohl die Einstandspflicht kollektiver Schadenstragungssysteme vordergründig die haftpflichtrechtlichen Wertungen nicht bestimmt, wäre es unrealistisch anzunehmen, dass sie völlig ohne Einfluss sind. Die allgemeine Tendenz zur Ausdehnung der zivilrechtlichen Haftung lässt sich zu einem erheblichen Teil durch die Existenz kollektiver Schadenstragungssysteme erklären. Richtig ist aber, dass hierdurch sowohl das Argument, es müsse einer Haftungsüberdehnung entgegen gewirkt werden, als auch das Gegenargument, eine extensive Annahme der Eigenverantwortung des Opfers verstoße gegen Grundsätze elementarer Gerechtigkeit, relativiert wird.

III. Abwandlung des allgemeinen Haftungsregimes durch § 60 BNatSchG 1. Handeln auf eigene Gefahr und Haftungsfreistellung bei naturtypischen Gefahren Die Haftungsregelung des § 60 BNatSchG wirft in systematischer Hinsicht einige Fragen auf.17 Am Anfang der Vorschrift (S. 1) steht die Aussage, dass das Betreten auf eigene Gefahr erfolgt. Damit soll aber, wie die folgenden Sätze der Vorschrift zeigen, nicht gesagt werden, dass der Eigentümer überhaupt keiner Verkehrssicherungspflicht unterliegt. Es sollen durch das Betretungsrecht nur keine zusätzlichen Sorgfalts- und Verkehrssicherungspflichten begründet werden (S. 2). Auch diese Aussage ist aber schwer verständlich. Stellt man sich den hypothetischen Zustand ohne Betretungsrecht vor, so dürften wegen unerlaubten Verweilens im Gefahrenbereich eigentlich überhaupt keine Verkehrssicherungspflichten bestehen, es sei denn, Kinder würden besonders angelockt. Dies kann aber wohl auch nicht gemeint sein. Besser wäre die Formulierung gewesen, dass keine besonderen Pflichten begründet 16

Vgl. hierzu Kötz/Wagner, Deliktsrecht, 11. Aufl. 2010, Rdnr. 119 ff. m.w.Nachw. zur US-amerikanischen und deutschen Diskussion zur ökonomischen Analyse des Haftungsrechts; kritisch Wilhelmi, oben Fn. 12, S. 22 ff. 17 Vgl. Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 6, 10; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 4 ff.; zum bisherigen Landesrecht Agena, Verkehrssicherungspflichten in der freien Landschaft, NuR 2003, 654, 658.

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werden. Die Kernaussage des § 60 BNatSchG findet sich im Satz 3, wonach insbesondere keine Haftung für typische, sich aus der Natur ergebende Gefahren besteht. Damit wird das Handeln auf eigene Gefahr konkretisiert. Im Ergebnis besteht damit eine stark reduzierte Verkehrssicherungspflicht.18 Diese Regelung entspricht weitgehend der bisherigen Rechtsprechung.19 Diese Rechtsprechung beruht, wie zuletzt das wichtige Urteil des Bundesgerichtshofs vom 2. Oktober 2012,20 meist auf einer Auslegung von landesrechtlichen Vorläuferregelungen des § 60 BNatSchG oder Umsetzungsgesetzen zu § 14 BWaldG a.F., die das Betretungsrecht unter den Vorbehalt des Handelns auf eigene Gefahr stellten. Nur vereinzelt gibt es schon Rechtsprechung zum neuen Recht, etwa zu § 14 Abs. 1 S. 4 BWaldG.21 Die Rechtfertigung für die Reduzierung der Verkehrssicherungspflicht liegt vor allem darin, dass das Betretungsrecht dem Eigentümer bzw. Besitzer im Rahmen der Sozialbindung als Inhaltsbestimmung des Eigentums auferlegt worden ist und dieser keinen Nutzen aus dem Betreten der freien Natur durch Dritte zieht.22 Die von der Rechtsordnung auferlegte Duldung des Betretens stellt keine eigennützige Verkehrseröffnung dar. Von einem Haftungsprivileg kann man daher nur bei formaler Betrachtungsweise sprechen. Vielmehr ist die Haftungsfreistellung das Korrelat der Duldungspflicht. Mit § 60 BNatSchG gestaltet der Gesetzgeber den Inhalt des Eigentums unter Abwägung der kollidierenden wirtschaftlichen Interessen des Eigentümers bzw. Besitzers einschließlich seines fehlenden Nutzens, des Interesses der Allgemeinheit an Sicherung der Erholungsfunktion der freien Landschaft und des Integritätsinteresses der Betretungsberechtigtem (als potentiellen Opfern) aus. Eine weitere Rechtfertigung für die Haftungsfreistellung liegt in der eingeschränkten Beherrschbarkeit der Gefahrenquelle, d. h. darin, dass die Gefahren aus der freien Landschaft wegen der weiten Ausdehnung der betreffenden Flächen schwer zu lokalisieren und zu beherrschen sind.23 Es ist zwar nicht anzunehmen, dass der Betretungsberechtigte bei verkehrsüblicher Vorsicht diese Gefahren in jedem Fall erkennen kann, so dass es schon aus diesem Grund gerechtfertigt erschiene, den Bereich seiner Eigenverantwortung auszudehnen, indem von ihm eine den Risiken der Natur angepasste Verhaltensweise erwartet wird.24 Jedoch muss ihm das Risiko bewusst sein und er muss, wenn er es nicht tragen will, auf ein Betreten der freien Natur ver18 A.M. nach früherem Recht die singuläre Entscheidung des OLG Hamm, VersR 1985, 597 (im Wald überhaupt keine Verkehrssicherungspflicht). 19 Vgl. die Nachweise in BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 12, 14. 20 NuR 2012, 885 Rdnr. 10 f., vgl. aber Rdnr. 23. 21 Etwa OLG Karlsruhe, NuR 2011, 823. 22 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 19; Gebhardt, „Auf eigene Gefahr“ – Relevanz des § 14 Abs. 1 Satz 3 Bundeswaldgesetz für die Verkehrssicherungspflicht im Wald, NuR 2008, 754, 761, 763; Agena, NuR 2007, 707 f., 710 f., 713; Bittner, VersR 2009, 896, 898; FischerHüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 2 f.; vgl. aber Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 5. 23 Begr. RegEntw., BT-Drucks. 16/12274, S. 74; Gebhardt, NuR 2008, 754, 761, 763. 24 So aber BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 13; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 3, 5.

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zichten.25 Unfälle, die gleichwohl geschehen, liegen in seiner Risikosphäre. Weitere dogmatische Konstruktionen zur Begründung dieses Ergebnisses wie die Figur des sozialadäquaten Selbstgefährdung oder des allgemeinen Lebensrisikos bringen keinen zusätzlichen Erkenntnisgewinn, so dass auf sie verzichtet werden kann. Vor diesem Hintergrund erscheint es korrekt, wenn das Gesetz den Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr nicht erst, wie sonst üblich, beim Mitverschulden nach § 254 BGB, sondern bereits bei der Haftungsbegründung einführt. Für naturtypische Gefahren besteht grundsätzlich keine Verkehrssicherungspflicht und damit auch keine Verpflichtung zur Kontrolle von Gefahrenquellen wie etwa einer Baumkontrolle. 2. Anwendbarkeit der Haftungsregelung auf Schutzgebiete Schutzgebiete wie Naturschutzgebiete, Nationalparke, Biosphärenreservate, Naturparke, Landschaftsschutzgebiete sowie gesetzliche Biotope gehören zur freien Landschaft im Sinne des § 59 BNatSchG. In ihnen gilt nach allgemeiner Auffassung in gleicher Weise wie außerhalb von Schutzgebieten grundsätzlich das Betretungsrecht das § 59 BNatSchG.26 Es kann jedoch unmittelbar durch spezielle Regelungen im Bundesnaturschutzgesetz und den Naturschutzgesetzen der Länder ausgeschlossen oder eingeschränkt sein oder auf der Grundlage der § 22 Abs. 1 S. 2, § 59 Abs. 2 S. 2 BNatSchG durch die Schutzverordnung ausgeschlossen oder eingeschränkt werden. Auch flächenhafte geschützte Naturdenkmäler und Landschaftsbestandteile (§§ 28, 29 BNatSchG) können grundsätzlich Objekte des Betretungsrechts sein, jedoch wird ihr Betreten vielfach mit ihrem Schutz unvereinbar und daher ausgeschlossen sein. Auch in diesem Fall kommen sie allerdings als Gefahrenquelle für Personen in Betracht, die das Gelände in ihrer Umgebung befugt betreten. Für Schutzgebiete gilt ebenfalls grundsätzlich das Haftungsregime des § 60 BNatSchG (bzw. des § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG).27 Die Vorschriften sind allgemein formuliert und unterscheiden nicht nach der Art der Nutzung. Es handelt sich nicht um Haftungsprivilegien für die Land- und Forstwirtschaft, sondern, wenn man diese Klassifizierung überhaupt gebrauchen will, um solche jedweden Besitzers von Flächen in der freien Landschaft, der das Betreten dulden muss. Allerdings könnte man die Auffassung vertreten, dass die Öffnung von Schutzgebieten für den Publikumsverkehr nicht auf einer Duldungspflicht beruht, sondern eine freiwillige Verkehrseröffnung darstellt, die eine besondere Verkehrssicherungspflicht nach sich zieht, weil und soweit solche Gebiete an sich nicht für den Publi25 Gebhardt, NuR 2008, 754, 762; zurückhaltend nach allgemeinem Recht Wilhelmi, oben Fn. 12, S 245 ff., 261. 26 VGH München, NuR 1984, 193; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 9; Kraft, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 10; Gassner/Heugel, Das neue Naturschutzrecht, 2010, Rdnr. 223; Maus, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 15; Agena, Verkehrssicherungspflichten in besonders geschützten Teilen von Natur und Landschaft, NuR 2005, 223 ff.; ders., NuR 2007, 707, 718. 27 s. die in Fn. 26 Genannten.

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kumsverkehr offen sind.28 Dies trifft aber für viele Schutzkategorien nicht zu, da hier eine Öffnung erfolgen soll oder gar erfolgen muss, soweit dies der Schutzzweck erlaubt oder keine Gefahr der Beeinträchtigung besteht (§ 24 Abs. 2 S. 2, § 25 Abs. 2, 3, § 26 Abs. 1 Nr. 3, Abs. 2, § 27 Abs. 1 Nr. 3, 4, § 30 Abs. 2 BNatSchG). Allgemeine Aussagen zum Umfang der Öffnungspflicht sind kaum möglich. Qualifizierte Benutzungsarten wie Radfahren (jedenfalls außerhalb befestigter Wege), Reiten, Klettern, Drachenfliegen, Betreiben von Modellflugzeugen oder Zelten können je nach Sachlage unzulässig sein. Jedoch dürfte feststehen, dass das bloße Betreten des Gebiets auf Wegen regelmäßig nicht dem Schutzzweck widerspricht oder keine verbotene Beeinträchtigung darstellt.29 Die Schutzverordnung bildet hier daher lediglich eine Modalität der Einschränkung des vorgegebenen Betretungsrechts, sie stellt keinen Akt der Verkehrseröffnung dar. Die Zulassung des Betretens führt folgerichtig dazu, dass auch die Haftungsreduzierung nach § 60 BNatSchG (bzw. § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG) im Bereich der Wege anwendbar bleibt. Für Naturschutzgebiete bestimmt allerdings das Gesetz, dass deren Öffnung im Ermessen der Behörden steht (§ 23 Abs. 2 S. 2 BNatSchG). Dies kann man auch für die Teile von Nationalparken und Biosphärenreservaten annehmen, die wie Naturschutzgebiete (d. h. mit dem gleichen Schutzregime) zu schützen sind. Der Schutzzweck hat in solchen Schutzgebieten Vorrang vor der Erholungsvorsorge. Vielfach wird hier daher von einer Verdrängung des Betretungsrechts gesprochen und die gesetzliche Regelung als repressives Verbot mit Ausnahmevorbehalt qualifiziert.30 Jedoch muss die zuständige Behörde nach pflichtgemäßem Ermessen über den Umfang des Schutzes entscheiden.31 Bei der Ausübung des Ermessens ist auch das gesetzliche Ziel der Erholungsvorsorge (§ 1 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG) und damit das Betretungsrecht zu berücksichtigen. Eine freie Disposition über die Zulassung des Betretens ist nicht zulässig. Mögen insoweit auch behördliche Entscheidungsspielräume bestehen, so steht doch die gesetzliche Bindung im Vordergrund. Bei eindeutiger Vereinbarkeit mit dem Schutzzweck ist das Betreten zu dulden. In der Praxis wird daher regelmäßig der Zugang eröffnet und dieser lediglich durch Maßnahmen der Besucherlenkung und das Verbot von typischerweise beeinträchtigenden Benut28

So beiläufig OLG Koblenz, NVwZ-RR 1990, 169, 170 (Duldung der Nutzung von Waldgelände als Parkplatz); zweifelnd Hendrischke, Verkehrssicherungspflicht in Großschutzgebieten – Problempapier –, BfN-Skripten 84, 2003, S. 20. 29 Vgl. Schumacher/Schumacher, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, BNatSchG, 2. Aufl. 2011, § 24 Rdnr. 24 f.; § 25 Rdnr. 26, 33; § 27 Rdnr. 16, 22 f.; Schumacher/Schumacher/Fischer-Hüftle, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 26 Rdnr. 18 f., 29; Kratsch/Czybulka, in: Schumacher/Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 30 Rdnr. 30; Heugel, in: Lütkes/Ewer, oben Fn. 5, § 24 Rdnr. 12, § 26 Rdnr. 12; § 25 Rdnr. 12; § 26 Rdnr. 8; § 27 Rdnr. 8, 11 f.; § 29 Rdnr. 13 f.; § 30 Rdnr. 8 f.; Appel, in: Frenz/Müggenborg, oben Fn. 5, § 24 Rdnr. 34 f.; § 25 Rdnr. 32, 37; § 26 Rdnr. 30; § 27 Rdnr. 27; § 29 Rdnr. 22. 30 Appel, oben Fn. 29, § 23 Rdnr. 46 f.; Schumacher/Schumacher/Fischer-Hüftle, oben Fn. 29, § 23 Rdnr. 49; Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, § 23 Rdnr. 88; Kerkmann, in: ders., Naturschutzrecht in der Praxis, 2. Auflage 2010, § 5 Rdnr. 64. 31 Vgl. VGH Kassel, NuR 1993, 165, 166.

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zungen in naturverträgliche Bahnen gelenkt.32 Daher passt auch in Naturschutzgebieten und vergleichbar geschützten Teilen anderer Schutzgebiete der Gedanke einer rein freiwilligen Verkehrseröffnung nicht. Das Betretungsrecht wird nur insoweit verdrängt, als dies nach § 23 Abs. 2 S. 2 BNatSchG zulässig ist. Es besteht daher kein Grund, die Haftungsreduzierung nach § 60 BNatSchG in streng geschützten Schutzgebieten grundsätzlich zu versagen. Immerhin erscheint insoweit eine gesetzliche Klarstellung sinnvoll.

IV. Einzelfragen 1. Abgrenzung von naturtypischen und atypischen Gefahren Von zentraler Bedeutung ist auf der Grundlage des geltenden Rechts die Auslegung des Begriffs der naturtypischen Gefahr und die Subsumtion einzelner Fallgestaltungen unter diesen Begriff. Naturtypische Gefahren sind bei enger Auslegung nur solche, die sich aus der Natur in der freien Landschaft nahezu zwangsläufig ergeben. Meist wird der Begriff auch auf Gefahren ausgedehnt, die sich aus der Art der ordnungsgemäßen Bewirtschaftung der betreffenden Flächen unter Beachtung ihrer Zweckbestimmung ergeben.33 Zum Teil sieht man solche Gefahren auch nur als der naturtypischen Gefahr gleichstehende Gefahren an, die unter dem übergeordneten Gesichtspunkt des Handelns auf eigene Gefahr zum Haftungsausschluss führen.34 Nachfolgend soll der weiten Auslegung gefolgt werden, zumal es sich nicht um eine inhaltliche, sondern nur um eine terminologische Frage handelt. Die Haftungsfreistellung für naturtypische Gefahren gilt nicht nur für die freie Landschaft einschließlich des Waldes als solche, sondern auch für vom Besitzer angelegte Wirtschaftswege wie Wald- und Feldwege, Wander- oder Bergpfade in der freien Landschaft.35 Die Eigenschaft als naturtypisch kann selbstverständlich auch auf Eigenheiten des Naturraums beruhen, dem die Landschaft angehört, wie z. B. bei Mooren.36 Bei der Abgrenzung von naturtypischen und in der Natur atypischen Gefahren spielt neben der Natur der Gefahrenquelle und der Art der Bewirtschaftung auch die Zweckbestimmung der Fläche eine Rolle. Der Begriff der Bewirtschaftung kann daher nicht dahin verstanden werden, dass es sich stets um eine solche zu wirtschaftlichen Zwecken handeln muss. Vielmehr ist der weite Begriff der Bewirtschaf32

Vgl. Appel, oben Fn. 29, § 23 Rdnr. 47; Heugel, oben Fn. 29, § 23 Rdnr. 15 f. BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 25; Klose/Orf, oben Fn. 1, § 14 BWaldG Rdnr. 45 f.; Agena, NuR 2007, 707, 713; Gebhard, NuR 2008, 754, 758. 34 Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 13. 35 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 15 – 17; OLG Hamm, NuR 2007, 845; OLG Düsseldorf, NJW-RR 2008, 1247, 1248; OLG Karlsruhe, NuR 2011, 823, 824; OLG Naumburg, OLGR 2007, 224, 226; Orf, Neue Entwicklungen im Bereich Waldbetretungsrecht – Haftung, RdL 2008, 281, 282; Agena, NuR 2007, 707, 711; Kraft, oben Fn. 5, § 59 Rdnr. 12 ff., § 60 Rdnr. 9; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 7 f.; Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 8 f.; Hager, in: Staudinger, oben Fn. 11, § 823 Rdnr. E 171. 36 Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 9. 33

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tung maßgeblich, wie er im Wasserrecht anerkannt ist. Auch eine Bewirtschaftung unter ökologischen Gesichtspunkten, die für den Wald nach § 5 Abs. 3 BNatSchG geboten ist, stellt eine Bewirtschaftung im Sinne der Definition der naturtypischen Gefahr dar. Eine Bewirtschaftung z. B. des Waldes zur Erhaltung oder Schaffung eines naturnahen Bestands stellt eine Art der Bewirtschaftung dar, deren Risiken naturtypisch sind und daher vom Besucher hingenommen werden müssen. Das Gleiche muss für Schutzgebiete gelten. Die dort angeordneten Einschränkungen der konventionellen land- und forstwirtschaftlichen Bewirtschaftung etwa in Form von Totholzinseln und Naturwaldflächen, der natürlichen Sukzession in aufgelassenen Dünen im Braunkohlentagebau, der Förderung der Bildung von Feuchtgebieten bis hin zum reinen Prozessschutz stellen grundsätzlich Maßnahmen ökologischer Bewirtschaftung dar, die für die betreffenden Flächen aufgrund ihrer Zweckbestimmung typisch sind.37 Der Besucher, der im Schutzgebiet Naturnähe sucht, muss auch das damit verbundene Risiko hinnehmen. Es besteht daher kein rechtlich zwingender Grund dafür, dass in Nationalparken systematisch Bäume an für Besucher vorgesehenen Wegen entfernt werden, um diese zu schützen.38 Entgegen einem Eindruck, den man aus Stellungnahmen im Schrifttum zur Rechtslage bei Naturdenkmalen gewinnen könnte,39 sind auch Gefahren etwa durch besonders geschützte Einzelbäume oder Baumgruppen naturtypisch, wenn diese in der Flur stehen. Die reichhaltige Kasuistik zum Begriff der naturtypischen Gefahr hat sich bisher auf waldtypische Gefahren konzentriert, lässt sich aber ohne weiteres auch auf die freie Landschaft außerhalb des Waldes und auf Schutzgebiete aller Art übertragen. Beispiele für waldtypische Gefahren sind – soweit auch in Schutzgebieten relevant – etwa der Abbruch von Ästen und das Umstürzen von Bäumen aufgrund von Wuchs, Alter, Zustand und Witterungseinflüssen, herausstehende Wurzeln und Laubfall. Von Bedeutung besonders für Schutzgebiete ist dabei, dass eine im Vordringen begriffene, von der jüngsten höchstrichterlichen Rechtsprechung offenbar geteilte Auffassung Totholz und nicht besonders gepflegte Teile des Waldes (Naturwälder oder nicht bewirtschaftete Wälder) grundsätzlich als eine waldtypische Gefahrenquelle ansieht, mit der Folge, dass auch insoweit regelmäßige Baumkontrollen nicht geboten sind.40 Damit wird Änderungen der Bewirtschaftungsziele in Richtung auf Erhaltung und Schaffung naturnaher Wälder Rechnung getragen. Unter den Gefahren, die 37

Vgl. Agena, NuR 2007, 707, 718; Gebhardt, NuR 2008, 754, 763. Vgl. zu dieser Praxis im Nationalpark Bayerischer Wald Agena, NuR 2005, 223, 226 mit Fn. 111. 39 Insbesondere Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 11 ff. 40 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 22, 25; LG Hannover, NuR 2006, 597; bestätigt durch OLG Celle, VersR 2006, 1423; LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781 f.; Begr. RegEntw. BTDrucks. 17/1220, S. 1, 7; Agena, NuR 2011, 707, 715; Gebhardt, NuR 2008, 754, 763; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 12; Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 9, 10; a.M. OLG Koblenz, NVwZRR 1990, 169, 170; Breloer, Verkehrssicherungspflicht für Totholz im Wald? insbesondere im bewirtschafteten und unbewirtschafteten Bestand, an Wegen und Straßen, AUR 2004, 174, 176; Orf, NZV 1997, 201, 208 (bei von Wanderern stark frequentierten Wegen). 38

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in der freien Natur – im Wald und außerhalb des Waldes – auftreten können, sind etwa zu nennen Gefahren durch Einzelbäume oder Baumgruppen, Gefahren aus dem Wegezustand wie Fahrspuren, Unebenheiten, Rillen und Abflussrinnen, Geröll, Vertiefungen oder glitschige oder fehlende Holzstufen von Wegen an Hängen, Gefahren durch Schnee, Eis, Überschwemmungen, Erdrutsche, aufgelassene Steinbrüche, die schon Teil der Natur sind, Steinschlag, Gefahren in Felsen und Mooren sowie Gefahren durch Wildtiere. In der freien Landschaft atypische Gefahren sind solche, die sich nicht durch die Natur oder die Art der Bewirtschaftung unter Berücksichtigung der Zweckbestimmung der Fläche mehr oder weniger zwangsläufig ergeben, sondern vom Besitzer oder Dritten geschaffen worden sind oder von ihm geduldet werden, die ein Betretungsberechtigter nicht oder nicht rechtzeitig erkennen kann und auf die er sich daher auch nicht einzurichten vermag.41 Diese Definition erscheint auf den ersten Blick problematisch, weil sie, anstatt die atypischen Gefahren gegenständlich zu umschreiben, zum Teil deskriptiv oder gar normativ zusätzlich auf das „bewegliche“ Merkmal der Erkennbarkeit für den Besucher rekurriert und damit ein erhebliches Maß an Rechtsunsicherheit in Kauf nimmt. Immerhin dürfte dieses Merkmal zur Korrektur unangemessener Ergebnisse schwer entbehrlich sein. Als in der freien Natur atypisch gelten etwa nicht zu erwartende Hindernisse, die einen Weg versperren wie Sperrbäume oder Forstwegschranken, jagdliche Fanggruben, fehlerhaft gelagerte Holzstapel, tiefe Löcher in Wirtschaftswegen und noch betriebene Steinbrüche. Das Gleiche gilt für grundsätzlich für technische Kunstbauten. Als atypisch sind insbesondere Gefahren durch Schutzhütten oder Unterstände anzusehen (wo oft § 836 BGB eingreift), jedenfalls an oder in der Nähe von Wegen42. Die Einordnung anderer Kunstbauten, die Wegezubehör darstellen oder der Sicherung einer ökologischen Bewirtschaftung dienen wie Stege, Schutzzäune oder Absperrungen gegen das Betreten, ist zweifelhaft.43 Wirtschafts- und Wanderwege, obwohl vom Besitzer hergestellt und damit künstlich in die Landschaft „hineingebracht“, sind aber nicht atypisch, da sie der eigentliche Gegenstand des Betretungsrechts sind und ansonsten der Haftungsausschluss seine Bedeutung verlöre. Eine heute als Mindermeinung zu bezeichnende Auffassung sieht auch Totholz als atypisch an.44 Wie bereits dargelegt, ist dieser Auffassung bereits für den Wirtschaftswald nicht zu folgen. Allerdings kann es insbesondere in Großschutzgebieten besondere für die Natur atypische Gefahren geben. Besuchereinrichtungen, wie z. B. Aussichtsplattformen oder Stege auf Mooren, sind als Einrichtungen einer Verkehrseröffnung anzusehen, die einem besonderen Haftungsregime unterliegen. Ihre Sicherheit kann man im Üb41 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 26 m.w.Nachw.; Agena, NuR 2007, 707, 713; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 14 f.; Hager, in: Staudinger, oben Fn. 11, § 823 Rdnr. E 171; ohne die Einschränkung der Erkennbarkeit Gebhard, NuR 2008, 754, 758; Klose/Orf, oben Fn. 1, § 14 Rdnr. 50. 42 Vgl. OLG Braunschweig, MDR 2008, 1272. 43 Vgl. Agena, NuR 2005, 223, 226. 44 s. oben Fn. 40.

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rigen ohne große Abstriche an den naturschutzfachlichen Zielen relativ leicht gewährleisten. Anders ist dies aber bei Flächen ehemaliger Truppenübungsplätze, die militärische Altlasten enthalten. Der ehemalige Zweck des Geländes als Truppenübungsplatz vermag die für die Besucher kaum erkennbare Exposition gegenüber explosivem Material im Boden nicht zu rechtfertigen. Sofern solche Flächen ausnahmsweise außerhalb der Wege betreten werden dürfen, etwa zum Pilze- und Beerensammeln, besteht hier eine umfassende Verkehrssicherungspflicht und bei Schäden eine entsprechende Haftung des Besitzers nach § 823 Abs. 1 BGB unter dem Gesichtspunkt, dass dieser eine in seinem Herrschaftsbereich, wenngleich von einem Rechtsvorgänger verursachte Gefahr duldet oder andauern lässt.45 Allerdings dürfte der Besitzer dieser Pflicht bereits durch Sperrungen oder auch nur Warnhinweise nachkommen können. 2. Verkehrssicherungspflichten trotz naturtypischer Gefahren Mit der dargestellten Kasuistik kann man aus der Sicht des Naturschutzes leben. Der Bereich der naturtypischen Gefahren ist so umfassend, dass es scheint, dass Abstriche an den Schutzzielen und übermäßige Aufwendungen in Schutzgebieten zum Schutz von Besuchern ohne weiteres vermieden werden können. Jedoch täuscht diese Kasuistik. In mehr oder weniger großem Umfang wird anerkannt oder jedenfalls erwogen, Verkehrssicherungspflichten auch im Bereich naturtypischer Gefahren anzuerkennen. Die hier in Betracht kommenden, meist umstrittenen Fallgruppen differenzieren nach der Nähe und Erkennbarkeit der Gefahr, der Verkehrsbedeutung von Wirtschaftswegen, der Verkehrseröffnung und sonstigen Handlungen des Besitzers zur Verkehrserleichterung und der Nähe zu einer öffentlichen Straße und anderweitig genutzten Grundstücken. a) Nähe und Erkennbarkeit der Gefahr für den Besitzer Es entspricht einer verbreiteten Auffassung, dass eine Verkehrssicherungspflicht des Besitzers auch bei naturtypischen Gefahren dann eingreift, wenn es sich um zeitlich nahe (akute), nach Art und Umfang schwere Gefahren, also Gefahren für Leib und Leben, handelt und diese Gefahren aufgrund besonderer Gefahranzeichen erkennbar sind.46 Zum Teil wird die Verkehrssicherungspflicht allerdings auf Gefahren dieser Art beschränkt, die dem Besitzer bekannt sind oder sich ihm aufdrängen muss-

45 Agena, NuR 2005, 223, 226; allgemein Enders, Die zivilrechtliche Verantwortung für Altlasten und Abfälle, 1999, S. 270 ff.; ferner oben Fn. 13; a.M. für zivile Altlasten Knoche, Altlasten und Haftung, 2001, S. 159 ff. (da ursprünglich die Erkennbarkeit fehlte). 46 OLG Koblenz, NVwZ-RR 1990, 169, 170; OLG Hamm, NuR 2007, 845; LG Braunschweig, NuR 2007, 778 f.; LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781; LG Saarbrücken, AUR 2010, 167, 168 ff.; Agena, NuR 2007, 707, 709 f.; wohl auch Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 12; noch weitergehend Breloer, AUR 2004, 174, 176 f.

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ten.47 Zu nennen sind etwa unmittelbar umsturzgefährdete Bäume (Schieflage), abwurfgefährdete Äste („Hänger“) oder nicht gesicherte Höhlen. Zum Teil wird auch an Wegen in der unmittelbaren Nachbarschaft von naturbelassenen Waldgebieten generell eine gesteigerte Kontrollpflicht bejaht.48 Diese Relativierung der Haftungsfreistellung ist mit der Regelung des § 60 BNatSchG kaum vereinbar, methodisch schwer begründbar und führt zu einer erheblichen Rechtsunsicherheit. Man muss sich davor hüten, § 60 S. 3 BNatSchG im Wege einer auf den Einzelfall bezogenen Restriktion auszuhebeln. Für die Relativierung der Haftungsfreistellung sprechen sicherlich Argumente der Gerechtigkeit, Sachnähe und der besseren wirtschaftlichen Möglichkeiten des Sachherrn zur Schadensverhütung: Der Besitzer sollte die Betretungsberechtigten nicht sehenden Auges in ihr Unglück laufen lassen dürfen. Ein gutes Beispiel ist das Abbrechen von Kreidefelsen im Nationalpark Jasmund auf Rügen. Es ist aber alles andere als klar, wie intensiv und zeitnah die Gefahr sein muss und ob nur die positive Kenntnis (oder das bewusste sich Verschließen gegenüber der Kenntnis) die Verkehrssicherungspflicht auslöst oder ob bloße Erkennbarkeit ausreicht; in letzterem Fall kommt hinzu, dass das Maß der vorgelagerten Beobachtungs- und Ermittlungspflichten offen ist. Die bisher entschiedenen Fälle und Stellungnahmen des Schrifttums erlauben keine sichereren Schlussfolgerungen hinsichtlich des Verhaltensstandards in der einen oder anderen Richtung. Eine weite Verkehrssicherungspflicht könnte jedenfalls bei ausgedehnten Wäldern und Freiflächen sowie Großschutzgebieten mit langen Wirtschafts- und Wanderwegen mit unzumutbaren Kosten für den Besitzer verbunden sein. Sie würde bei Großschutzgebieten dazu führen, dass der Besitzer ein Interesse an einer großräumigen Sperrung hat, was dem Anliegen der Öffnung von Schutzgebieten zur Erholung und Akzeptanzgewinnung für den Naturschutz zuwiderliefe. Allenfalls wenn man die Kontrollpflicht auf eine stichprobenartige Sichtkontrolle durch Abgehen oder Abfahren von Wirtschaftswegen nach guter fachlicher Praxis, etwa bei der üblichen Begehung des Reviers oder Schutzgebiets, bei der Holzaufnahme oder nach schweren Sturmereignissen, beschränkt, erscheint die Rücknahme der Haftungsfreistellung im Wege der Restriktion einigermaßen erträglich.49 Auch insoweit kann sich die reduzierte Verkehrssicherungspflicht im Regelfall aber kaum auch noch auf das Waldinnere oder Innere des Schutzgebiets beziehen.50 47

Gebhard, NuR 2008, 754, 763; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 16; Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 14. 48 LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781; Breloer, Verkehrssicherungspflicht bei Bäumen, 6. Aufl. 2002, S. 54; vgl. Orf, NZV 1997, 201, 208. 49 Vgl. Agena, NuR 2007, 707, 709, 715. 50 OLG Celle, VersR 2006, 1423; OLG Karlsruhe, NuR 2011, 823, 824; OLG Bamberg, MDR 2008, 1272; OLG Stuttgart, 15.5. 2006; LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781; Agena, NuR 2007, 707, 715 f.; a.M. Breloer, AUR 2004, 174, 175 f.; Hötzel, Verkehrssicherungspflicht für Bäume – Zehn Jahre Rechtsprechung zum Visual Tree Assessment, VersR 2004, 1234, 1239; Riethmüller/Wagner, Verkehrssicherungspflicht in der Forstwirtschaft, Wertermittlungsforum (WF) 1999, 201, 208.

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b) Verkehrsbedeutung von Wirtschaftswegen In einem Teil der untergerichtlichen Rechtsprechung und Literatur wird angenommen, dass bei hoher Verkehrsfrequenz von Wirtschafts- oder Wanderwegen gesteigerte Verkehrssicherungspflichten bestehen.51 Diese Auffassung ist jedenfalls vor dem Hintergrund der gesetzlichen Regelung des § 60 S. 2, 3 BNatSchG abzulehnen. Durch die Frequentierung eines Wirtschafts- oder Wanderwegs wird im Allgemeinen nicht die Gefahrenlage, sondern nur die Zahl der exponierten Personen und damit das mögliche Ausmaß von Schäden erhöht. Bei ökonomischer Betrachtung mag dies gesteigerte Verkehrssicherungspflichten rechtfertigen. Der Haftungsfreistellung nach § 60 S. 2, 3 BNatSchG ist aber eine solche Differenzierung fremd, wie auch der BGH in seinem Urteil vom 2. Oktober 201252 entschieden hat, das zwar zu § 14 BWaldG a.F. ergangen ist, aber die Neuregelung bereits in den Blick genommen hat. Dies ist auch auf Schutzgebiete zu übertragen, zumal hier, wie bereits dargelegt, kaum weitergehende Steuerungsmöglichkeiten bestehen, als dies außerhalb von Schutzgebieten der Fall ist. c) Verkehrseröffnung und sonstige Handlungen des Besitzers zur Verkehrserleichterung Die in § 60 BNatSchG vorgesehene Reduzierung der Verkehrssicherungspflicht gilt nach ihrem Sinn und Zweck nicht, wenn der Besitzer durch Schaffung von Erholungseinrichtungen selbst den Verkehr eröffnet. Dies gilt in Schutzgebieten insbesondere für Gaststätten, Imbissbuden, Aussichtsplattformen, Beobachtungsplätze, Campingplätze, Naturlehrpfade, Tierfreigehege oder Parkplätze. Bei diesen Einrichtungen und auch den unmittelbar zu ihnen führenden ausgebauten Zufahrtswegen handelt es sich meist um Exklaven der Bebauung und nicht mehr um freie Natur. Auf jeden Fall fehlt es an der die Haftungseinschränkung rechtfertigenden Duldungspflicht des Besitzers. Für sie ist § 60 S. 3 BNatSchG daher teleologisch zu reduzieren und es gilt die unbeschränkte Verkehrssicherungspflicht.53 Die bloße Erleichterung des Betretens durch Beschilderung (z. B. durch Wegweiser oder Wegzeichen) oder Befestigung bis hin zur Asphaltierung oder die Begrenzung oder Lenkung des Betretens im Rahmen einer Schutzverordnung steht dagegen einer Verkehrseröffnung nicht gleich.54 In Schutzgebieten kommt es daher nicht dar51

So LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781; Breloer, AUR 2004, 174, 176; Schulz, Baumkontrolle im Wald, AUR 2012, 121, 126 f.; Bittner, VersR 2009, 896, 901 f. 52 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 18 – 21; ebenso LG Saarbrücken, AUR 2010, 167, 168 ff.; Agena, NuR 2007, 707, 714; ders., NuR 2005, 223, 227; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 16; Gebhard, NuR 2008, 754, 763. 53 Agena, NuR 2005, 223, 227; ders., NuR 2007, 707, 711. 54 Agena, NuR 2007, 707, 715; ders., NuR 2005, 223, 227; Gebhardt, NuR 2008, 754, 763; Söhnlein, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 15; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 5; Bittner, VersR 2009, 896, 901 f.; Hendrischke, oben Fn. 28, S. 15, 20; a.M. offenbar LG Tübingen, NuR

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auf an, ob die Wege vom Besitzer besonders gekennzeichnet oder gar vorgeschrieben werden (Wegezwang) oder das Betreten auf den betreffenden Wegen allgemein zugelassen wird. Wer anders entscheidet, würde das gesamte Konzept beschilderter Wanderwege in Deutschland auf einen Schlag beseitigen, weil ansonsten der Besitzer solche Schilder entfernen oder die Entfernung der von Wandervereinen mit seiner Duldung angebrachten Schilder verlangen müsste, um der Haftpflicht zu entgehen. Wenn die Duldung der Beschilderung nach Landesforstrecht angeordnet ist, scheidet eine Verantwortlichkeit des Besitzers ohnehin von vornherein aus. Auch die bloße Bezeichnung von Wald als Erholungswald (§ 13 BWaldG) stellt keine Verkehrseröffnung dar.55 Daher gilt auch in Naturparken, die nach dem Gesetz speziell für die Erholung bestimmt sind (§ 27 Abs. 1 Nr. 3 BNatSchG), unabhängig von ihrer (teilweisen) Ausweisung als Naturschutz- oder Landschaftsschutzgebiet die Haftungsreduzierung für naturtypische Gefahren. Es gibt allerdings auch Grenzfälle, deren Einordnung Schwierigkeiten macht. Umstritten ist die Behandlung von Langlaufloipen, die etwa in Naturparken und FFH-Gebieten angelegt werden.56 Ein Teil der Rechtsprechung57 nimmt unabhängig von einer Widmung auch eine Verkehrseröffnung an, wenn der Besitzer einen Wirtschaftsweg entsprechend der Straßenverkehrsordnung beschildert. Schließlich wurde eine Verkehrseröffnung für einen Radwanderweg in der Flur bejaht, der nicht nur als solcher beschildert war, sondern auch im Internet von der Gemeinde beworben wurde.58 Die genannten Fälle zeigen, dass der Begriff der „Einladung“ auf Flächen, die ohnehin für das Betreten offen sind, keine eindeutigen Ergebnisse gewährleistet. Im Hinblick auf die grundsätzliche Haftungsreduzierung nach § 60 BNatSchG muss der Begriff eher restriktiv ausgelegt werden. Es ist zu bedauern, dass eine solche Gesamtschau bisher nicht vorgenommen wurde. Kein rechtlich befriedigender (wenngleich vielleicht praktischer) Ausweg ist es, zum Ausgleich für die Restriktion des § 60 BNatSchG im Gegenzug die Anforderungen an den Umfang der Verkehrssicherungspflicht zu vermindern.59

2007, 780, 781; als Faktoren der Subsumtion unter das Merkmal der Einladung auch OLG Celle, NVwZ-RR 2013, 9, 10. 55 A.M. Riethmüller/Wagner, WF 1999, 121, 124 56 Für volle Verkehrssicherungspflicht LG Tübingen, NuR 2007, 780, 781; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 5 mit Fn. 7; a.M. Hendrischke, oben Fn. 28, S. 15. 57 OLG Hamm, NuR 2007, 845 und als Vorinstanz LG Arnsberg, NuR 2007, 774, 776 (Meschede-Fall). 58 OLG Celle, NVwZ-RR 2013, 9, 10. 59 So aber OLG Celle, aaO.

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d) Wald oder Bäume an einer öffentlichen Straße Für Wald oder Bäume in der freien Landschaft, auch solche in einem Schutzgebiet, die in unmittelbarer Nähe zu einer öffentlichen Straße oder Eisenbahn stehen, gilt nach allgemeiner Auffassung60 eine unbegrenzte Verkehrssicherungspflicht. Zwar unterliegen die entsprechenden Flächen ebenfalls dem Betretungsrecht, aber das vorrangige Schutzbedürfnis des öffentlichen Verkehrs rechtfertigt eine teleologische Reduktion des § 60 BNatSchG. Diskutabel ist rechtspolitisch allerdings die Frage, ob nicht die Verkehrssicherungspflicht auf den Träger der Straßenbaulast übergehen sollte. e) Ränder von Schutzgebieten Man könnte der Auffassung sein, dass im Übergang von einem bewaldeten oder nicht bewaldeten Schutzgebiet zur Flur keine besonderen haftungsrechtlichen Probleme entstehen, weil beide zur freien Landschaft gehören und ein einheitlicher Pflichtenmaßstab gilt. Jedoch ist es möglich, dass durch Umstürzen von Bäumen oder Herabfallen von Ästen landwirtschaftlich genutztes Land oder dort weidendes Vieh beschädigt oder verletzt wird. § 60 BNatSchG ist insoweit trotz seines Wortlauts nicht maßgeblich, weil es nicht um die Rechtsbeziehungen zwischen Besitzer und Betretungsberechtigtem geht. Eine Einschränkung der Verkehrssicherungspflicht kann sich wohl nur auf der Maßnahmenebene durch Rückgriff auf den Maßstab des verständigen Besitzers (Maßnahmen, die ein verständiger, den Naturschutz berücksichtigender Besitzer für ausreichend halten darf) und der Zumutbarkeit ergeben.61 In begrenztem Umfang können hier moderne naturschutzfachliche Zielsetzungen in Richtung auf Naturnähe, Ermöglichung der natürlichen Sukzession und Schutz der Übergangsgebiete, aber auch die wirtschaftlichen Folgen umfassender Kontrollen der ausgedehnten Ränder des Schutzgebiets Eingang in die Bewertung finden. Das Ergebnis wäre dann eine insbesondere hinsichtlich der Art der Kontrollen und der Kontrollhäufigkeit reduzierte Verkehrssicherungspflicht.62 Eindeutig ist die Rechtslage, wenn ein Schutzgebiet an den besiedelten Bereich angrenzt. Hier unterliegt der Besitzer in vollem Umfang der Verkehrssicherungspflicht.

60 BGH, NuR 2012, 885 Rdnr. 15 – 17; MDR 1974, 217; OLG Koblenz, NVwZ-RR 1990, 169; OLG Köln, VersR 1992, 1370; Agena, NuR 2007, 707, 711 f.; Bittner, VersR 2009, 896, 901 f. 61 Vgl. die Nachweise oben Fn. 15. 62 Vgl. OLG Koblenz, NVwZ-RR 1990, 169, 170; Agena, NuR 2007, 707, 710, 716 ff.; für unbegrenzte Verkehrssicherungspflicht LG Göttingen, NuR 2007, 779; vgl. zum Maßstab des „verständigen“ Durchschnittsbenutzers im privaten Nachbarrecht BGHZ 120, 239, 255; 140, 1, 5; 148, 261, 264.

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3. Umfang der Verkehrssicherungspflicht Der Umfang der Verkehrssicherungspflicht in den Fällen, in denen sie wegen atypischer Gefahren oder trotz naturtypischer Gefahren aus besonderen Gründen besteht, bestimmt sich grundsätzlich nach dem Maßstab der Zumutbarkeit. Dabei sind die Art der Gefahrenquelle und deren Erkennbarkeit, die bestehenden Sicherheitserwartungen, die Wahrscheinlichkeit des Schadenseintritts und die Art und Höhe des möglichen Schadens zu berücksichtigen. Der Begriff der Zumutbarkeit gestattet eine fallgruppenspezifische Differenzierung in den Fällen, in denen eine naturtypische Gefahr wegen der Nähe und Erkennbarkeit der Gefahr oder im Grenzbereich zu landwirtschaftlich genutztem Gelände Verkehrssicherungspflichten auslöst. Er ist aber auch offen für Wirtschaftlichkeitserwägungen. Allerdings lässt sich das Kriterium der Zumutbarkeit letztlich nur im Einzelfall anwenden und ist daher ein Einfallstor für erhebliche Rechtsunsicherheit. Ob und wann z. B. der Besitzer bei extremen Wettereinwirkungen Gefahren durch umgestürzte oder umsturzgefährdete Bäume beseitigen muss, lässt sich kaum genau bestimmen. Allgemein kann man allerdings sagen, dass generelle oder ad hoc angeordnete Sperrungen regelmäßig zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht ausreichen werden. Vielfach ist eine physisch-reale Gefahrenbeseitigung gar nicht möglich, ohne substantielle Abstriche an den naturschutzfachlichen Zielen zu machen. Man denke an Sukzessionsflächen in aufgegebenen Bergbaulandschaften oder militärische Altlasten. § 59 Abs. 2 BNatSchG ermöglicht landesrechtliche Regelungen, die den Besitzer zu Sperren zum Schutz der Erholungssuchenden berechtigen. Insofern kann im Schutzregime einiges an dem, was zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht erforderlich ist, abstrakt-generell geregelt werden. Als Alternative zu Sperrungen, die einen Besucherverkehr nicht ausschließt, kommt ein passiver Schutz durch bloße Warnhinweise auf Gefahren in Betracht.63 Dazu kann auch ein Hinweis auf Gefahren durch naturnahe Bewirtschaftung gehören. Die Anbringung von Schildern an den wichtigsten Eingangswegen, die das Gebiet als Schutzgebiet einer bestimmten Kategorie ausweisen, genügt generell, um den Besucher auf für die konkrete Schutzkategorie typische Gefahren hinzuweisen.64 4. Übergang der Verkehrssicherungspflicht auf die Naturschutzbehörde Viel diskutiert ist die Frage, wen die Verantwortung trifft, wenn der Besitzer aufgrund des Schutzregimes und der sich daraus ergebenden Überformung der privatrechtlichen Verfügungsbefugnis durch das öffentliche Recht65 daran gehindert ist, 63 OLG Köln, NJW-RR 1987, 988; Edenfeld, VersR 2002, 272, 276; Agena, NuR 2007, 707, 715; allgemein vgl. Wilhelmi, oben Fn. 12, S. 159 f., 251, 279. 64 Agena, NuR 2005, 223, 225; ders., NuR 2007, 707, 716; a.M. Orf, NVZ 1997, 201, 208. 65 Agena, NuR 2005, 223.

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nach allgemeinem Recht notwendige Maßnahmen der Verkehrssicherung zu treffen. Ein genereller Übergang der Verkehrssicherungspflicht in Schutzgebieten auf die Naturschutzbehörde wird zutreffend abgelehnt.66 Soweit dem Besitzer Nutzungsbefugnisse und entsprechende Einwirkungsmöglichkeiten verbleiben, muss er auch die Verantwortung für die Verkehrssicherheit in dem von ihm beherrschten Gefahrenbereich tragen, soweit sie nicht, wie meist, im Hinblick auf naturtypische Gefahren ausgeschlossen ist. Wenn allerdings, was insbesondere bei Naturdenkmälern, aber auch in Naturschutzgebieten und Nationalparken von Bedeutung ist, eine zum Schutz des Publikums notwendige Einwirkung des Besitzers, wie etwa das Fällen eines nicht mehr standfesten Baums, die Entfernung abgestorbener Äste oder der Abschuss von gefährlichen Wildtieren, aufgrund absoluter Veränderungsverbote oder Schutzgebote unzulässig ist, beschränkt sich seine Verkehrssicherungspflicht allenfalls auf eine gelegentliche Sichtkontrolle und Meldung der auf diese Weise entdeckten Zustandsmängel oder sonstigen Gefahren an die zuständige Behörde. Hierdurch darf aber keine Haftungslücke entstehen. Daher trifft die zuständige Behörde eine Garantenpflicht. Die Verkehrssicherungspflicht im Übrigen, d. h. insbesondere die Pflicht zu weitergehenden Kontrollen und Maßnahmen zur Beseitigung festgestellter Gefahren, geht auf sie über. Diese haftet nach den Grundsätzen der Amtspflichtverletzung.67 Unter dem Gesichtspunkt der Rechtssicherheit ist allerdings zu kritisieren, dass es an einer klaren Abgrenzung der jeweiligen Pflichten fehlt, insbesondere der Umfang der residualen Verkehrssicherungspflichten des Besitzers unklar ist. Das Schutzregime kann die Haftungsverlagerung auf die Naturschutzbehörde vielfach dadurch vermeiden, dass es eine Freistellung für unmittelbar erforderliche Maßnahmen und im Übrigen einen Genehmigungs- oder Ausnahmevorbehalt für sonstige Maßnahmen, die der Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht dienen, vorsieht.68 Im letzteren Fall gehört es zur Erfüllung der Verkehrssicherungspflicht des Besitzers, dass dieser um Genehmigung oder Erteilung einer Ausnahme nachsucht. Der allgemeine Befreiungstatbestand nach § 67 BNatSchG genügt hierfür aber 66

OLG Karlsruhe, NJW-RR 2006, 1167, 1168; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 14 ff.; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 5; Agena, NuR 2005, 223,f., 227, 228, 229; ders., NuR 2007, 707, 718; Helge Breloer, Verkehrssicherungspflicht für Naturdenkmale: Aufgaben- und Haftungsverteilung zwischen Eigentümer, Behörden und Baumpflegern, AgarR 2003, 101, 102; Albrecht Bell, Die Verkehrssicherungspflicht insbesondere beim Betreten der freien Natur unter Berücksichtigung von ökologischen Schutzgebieten, Sächs.VBl. 2000, 1, 2 f.; Oliver Wittek/ Franz Otto, Verkehrssicherungspflicht in Bezug auf Bäume im öffentlichen Raum, KommJur 2009, 373, 375. 67 BGH, MDR 1962, 378; OLG Celle, NJW 1957, 1637, 1638; OLG Frankfurt, NJW 1989, 2824, 2825; AgarR 2000, 107; OVG Münster, NuR 1984, 253; LG Arnsberg, AgarR 1994, 345; Agena, NuR 2005, 223 ff.; ders., NuR 2007, 707, 718; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 18; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 5; Meßerschmidt, Bundesnaturschutzrecht, § 28 Rdnr. 70; a.M. Bell, Sächs.VBl. 2000, 1, 3 (lediglich Härteausgleich). 68 Ausführlich hierzu Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 19 ff.; Agena, NuR 2005, 223, 228; ders., NuR 2007, 707, 718 f.

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nicht.69 Für Schäden, die in der Schwebezeit während eines Verwaltungs- oder Verwaltungsgerichtsverfahren eintreten, muss allerdings die Behörde verantwortlich bleiben. Unabhängig davon, was der Grund für den ausstehenden Abschluss des Verfahrens ist – man denke an Meinungsverschiedenheiten zwischen den Beteiligten über die Eignung oder Zumutbarkeit von Maßnahmen –, liegt dieses Risiko im Verantwortungsbereich der Behörde, weil die fehlende Genehmigung oder Ausnahme den Besitzer an eigenem Handeln zur Gewährleistung der Sicherheit des Publikums hindert.70 Zum Teil gibt es auch landesrechtliche Regelungen über die Verantwortungsverteilung. Soweit sie dem Eigentümer eines Naturdenkmals sogar eine Pflegepflicht auferlegen, ist ihre Verfassungsmäßigkeit allerdings nicht über alle Zweifel erhaben.71

V. Reformperspektiven Die vom Gesetzgeber sicherlich gut gemeinte Haftungsregelung des § 60 BNatSchG (sowie des § 14 Abs. 1 S. 3, 4 BWaldG) vermag nicht in allem zu befriedigen. Zwar führen die Begriffe des Handelns auf eigene Gefahr und des naturtypischen Risikos zu einer Pflichtenentlastung des Besitzers von Flächen in der freien Natur. Auch ist die Rechtssicherheit verbessert worden. Jedoch gewährleisten weder das Gesetz noch die hierzu oder zu den landesrechtlichen Vorgängerregelungen ergangene Judikatur sowie das entsprechende Schrifttum schon ein ausreichendes Maß an Rechtsicherheit. Zielkonflikte zwischen dem Naturschutz mit seinen modernen Schutzkonzepten und den eher gestiegenen Sicherheitserwartungen der Besucher bleiben bestehen. Wie auch bisher hängt die Entscheidung im Einzelfall stark von einer Wertung verschiedener Faktoren ab.72 Neuralgische Punkte sind insbesondere die grundsätzliche Anwendbarkeit des Haftungsprivilegs in streng geschützten Schutzgebieten, die Bedeutung von spezifischen Bewirtschaftungs- und Schutzkonzepten für die Auslegung des Begriffs der naturtypischen Gefahr und der Umfang residualer Verkehrssicherungspflichten des Besitzers im Bereich an sich naturtypischer Gefahren.73 Es erscheint daher sinnvoll, auch über mögliche Veränderungen der Regelung des § 60 BNatSchG (und des § 14 Abs. 1 BWaldG) nachzudenken. Es hat in der Vergangenheit vor Erlass des neuen Bundesnaturschutzes einige Vorschläge in dieser Richtung gegeben.74 Im Einzelnen sind die folgenden Vorschläge zu nennen:

69 Agena, NuR 2005, 223, 228; Fischer-Hüftle, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 19 ff.; a.M. Louis, Bundesnaturschutzgesetz, 2. Aufl. 2000, § 12 Rdnr. 143. 70 So mit Recht Fischer-Hüftle, aaO; vgl. auch OLG Hamm, NVZ 1994, 27 f. 71 Vgl. Agena, NuR 2005, 223, 228 m.w.Nachw. 72 Vgl. zum bisherigen Recht Hendrischke, oben Fn. 28, S. 17. 73 Vgl. Kraft, oben Fn. 6, § 60 Rdnr. 20; Hendrischke, oben Fn. 28, S. 19 ff. 74 Dazu insbesondere Hendrischke, oben Fn. 28, S. 25 ff.; Agena, NuR 2005, 223, 229 f.

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¢ Konkretisierung der Haftungsregelung dahin, dass insbesondere in schutzwürdigen Bereichen Gefahren durch Tot- und Altholzbestände als naturtypische Gefahren gelten; ¢ Einführung einer besonderen Schutzkategorie des Wildniswaldes zur Gefahrenaufklärung der Besucher; ¢ konkrete Beschränkungsmöglichkeiten für das Betretungsrecht in Schutzgebieten; ¢ Regelung oder landesrechtliche Ermächtigungen zur Regelung der Verkehrssicherungspflicht bzw. zum Haftungsausschluss jeweils im Schutzregime; ¢ Regelung des Umfangs des Übergangs der Verkehrssicherungspflicht auf die Naturschutzbehörde oder den Träger der Straßenbaulast. Sinnvoll erscheint es auf jeden Fall, durch Konkretisierung des Begriffs der naturtypischen Gefahr ausdrücklich zu regeln, dass naturnahe Bewirtschaftungs- und Schutzkonzepte nicht zu besonderen Haftungsrisiken führen. Dies sollte insbesondere in Schutzgebieten, aber auch im Wirtschaftswald gelten. Erreichen könnte man dies dadurch, dass entweder die anerkannten Elemente des Begriffs der naturtypischen Gefahr in § 60 BNatSchG (und § 14 Abs. 1 S. 4 BWaldG) unter Einschluss der Bestimmung des Gebiets besonders benannt werden oder in einem Halbsatz des § 60 S. 3 BNatSchG (und § 14 Abs. 1 S. 4 BWaldG) hinzugefügt wird, dass Gefahren durch besondere Bewirtschaftungs- und Schutzkonzepte in der freien Landschaft, insbesondere in Schutzgebieten, als naturtypisch gelten. Damit wäre auch klargestellt, dass die Haftungsregelung des § 60 BNatSchG (und des § 14 Abs. 1 BWaldG) auch in Schutzgebieten gilt. Bei einer derartigen Regelung bedürfte es dann wohl kaum noch einer neuen Schutzkategorie des Wildniswaldes.75 Die Gefahrenaufklärung der Besucher könnte auch auf andere Weise, etwa durch einen speziellen Hinweis auf die Art der Bewirtschaftung im Wirtschaftswald, erfolgen; in Schutzgebieten erscheint ein Hinweis auf die jeweilige Schutzkategorie an den wesentlichen Eingangswegen ausreichend, aber auch erforderlich. Das Betretungsrecht kann bereits nach geltendem Recht zur Erreichung der Schutzziele wie auch zur Gewährleistung der Sicherheit der Besucher beschränkt werden. Ein Bedarf für weitergehende generelle Regelungen ist nicht ersichtlich. Eine Verlagerung der Haftungsproblematik in das Schutzregime, d. h. eine Ermächtigung der Länder, wonach in den Schutzverordnungen jeweils bestimmt werden kann, welche Vorkehrungen gegen Gefahren und Unfälle in Abwägung des Schutzzwecks des Gebiets mit den damit verbundenen Risiken zu treffen sind, ist sicherlich denkbar. Sie gestattet, über bloße Sperren hinaus die Verkehrssicherungspflichten auf den Einzelfall abzustimmen. Eine solche Regelung hat aber auch Nach75 A.M. Hendrischke, oben Fn. 28, S. 30 f., der aber davon ausgeht, dass an Wegen in unmittelbarer Nähe von Naturwald besondere Verkehrssicherungspflichten bestehen.

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teile.76 Sie würde praktisch zu einem Flickenteppich an Haftungsregimen führen. Auch ist nicht klar, wie die Besucher davon Kenntnis nehmen sollen, in welchem Maß sie geschützt sind oder auf eigene Gefahr handeln. Eine abstrakt-generelle Regelung erscheint vorzugswürdig. Eine konkrete Regelung über die Verantwortungs- und Haftungsverteilung zwischen Besitzer, Naturschutzbehörde und Träger der Straßenbaulast erscheint grundsätzlich sinnvoll. Insbesondere sollten bei einem Übergang der Verantwortlichkeit auf die Naturschutzbehörde oder den Träger der Straßenbaulast Art und Umfang der beim Besitzer noch verbleibenden Verkehrssicherungspflichten geregelt werden. Alle bisherigen Vorschläge sind allerdings nicht dazu geeignet, die Rechtssicherheit im Residualbereich der Verkehrssicherungspflichten bei ernsten, zeitnahen, aber naturtypischen Gefahren zu erhöhen. Zunächst ist daher zu entscheiden, inwieweit hier eine besondere Verkehrssicherungspflicht begründet, also § 60 S. 3 BNatSchG (und § 14 Abs. 1 S. 4 BWaldG) entgegen seinem Wortlaut eingeschränkt werden soll. Wie in der Literatur betont wird, dürfen die Sorgfaltspflichten der Besitzer nicht überspannt werden.77 Andererseits dürfen die Besucher auch nicht völlig schutzlos gegenüber Gefahren sein, die der Besitzer kennt oder deren Kenntnis sich ihm aufdrängt und die er unschwer (durch Entfernung der Quelle der Gefahr oder Sperrungen) beseitigen oder vor denen er warnen kann. Eine ausdrückliche Regelung mit diesem Inhalt könnte in einem neuen § 60 S. 4 BNatSchG (und § 14 Abs. 1 S. 5 BWaldG) erfolgen.

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Grundsätzlich positiv dagegen Hendrischke, oben Fn. 28, S. 29 f.; Agena, NuR 2005, 223, 229. 77 Otto, NuR 2010, 329, 330 f.; Edenfeld, VersR 2002, 272, 276; Kraft, oben Fn. 5, § 60 Rdnr. 7, 16, 20.

Autorenverzeichnis Prof. Dr. Martin Eifert, LL.M., Humboldt-Universität zu Berlin Prof. Dr. Felix Ekardt, LL.M., M.A., Leiter Forschungsstelle Nachhaltigkeit und Klimapolitik, Vorstandsmitglied des Ostseeinstituts für Seerecht, Umweltrecht und Infrastrukturrecht der Juristischen Fakultät der Universität Rostock (OSU), Long-term Fellow des Forschungsinstituts für Philosophie Hannover (FIPH) Prof. Dr. Reinhard Ellger, Max-Planck-Institut für ausländisches und internationales Privatrecht Hamburg PD Dr. Claudio Franzius, Privatdozent an der Humboldt-Universität zu Berlin, Vertretung eines Lehrstuhls für öffentliches Recht an der Ruhr-Universität Bochum Prof. Dr. Erik Gawel, Helmholtz-Zentrum für Umweltforschung (UFZ), Department Ökonomie, Institut für Infrastruktur und Ressourcenmanagement der Universität Leipzig Prof. em. Dr. Michael Kloepfer, Emeritus der Humboldt-Universität zu Berlin, Leiter der Forschungsplattform Recht (FPR) der Juristischen Fakultät der Humboldt-Universität zu Berlin, dabei u. a. Präsident des Forschungszentrums Umweltrecht e.V. (FZU) Prof. em. Dr. Eckard Rehbinder, Emeritus der Universität Frankfurt a.M., Mitglied der Forschungsstelle Umweltrecht der Universität Frankfurt a.M. Prof. Dr. Michael Rodi, M.A., Universität Greifswald, Direktor des Instituts für Klimaschutz, Energie und Mobilität (IKEM)