Umweltgeschichte: Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule 9783412216115, 9783412221676


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Umweltgeschichte: Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule
 9783412216115, 9783412221676

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Heike Düselder Annika Schmitt Siegrid Westphal (Hg.)

Umweltgeschichte Forschung und Vermittlung in Universität, Museum und Schule

2014 BÖHLAU VERLAG KÖLN WEIMAR WIEN

Gedruckt mit freundlicher Unterstützung des Niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http: /  / dnb.d-nb.de abrufbar.

Umschlagabbildung: Niendorp. Sendae Desertum, olim Sinedi; Kupferstich von Johann Georg Rudolphi; aus: Ferdinand von Fürstenberg: Monumenta Paderbornensia ex Historia Romana, Francica, Saxonica eruta, et novis inscriptionibus, figuris, tabulis geograpicis et notis illustrata, Amsterdam 1672, S. 232. (Universitätsbibliothek Osnabrück)

© 2014 by Böhlau Verlag GmbH & Cie, Köln Weimar Wien Ursulaplatz 1, D–50668 Köln, www.boehlau-verlag.com Alle Rechte vorbehalten. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig. Korrektorat: Olga Weckenbrock, Osnabrück Druck und Bindung: Strauss GmbH, Mörlenbach Gedruckt auf chlor- und säurefreiem Papier ISBN 978-3-412-22167-6

Inhalt

SIEGRID WESTPHAL Umweltgeschichte: Didaktische Hoffnungen und praktische Erfahrungen – Vorwort .........................................................................................

7

HEIKE DÜSELDER / ANNIKA SCHMITT Einleitung .................................................................................................................

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EINFÜHRUNGSREFERATE MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSEN Umweltgeschichte als geschichtswissenschaftliche Disziplin in Deutschland .........................................................................................................

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BERND-STEFAN GREWE Umweltgeschichte unterrichten: Für eine kritische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern ................................................................

37

NINA MÖLLERS Umwelt(geschichte) im Museum ..........................................................................

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LANDNUTZUNG – FORSCHUNGSERGEBNISSE ALS VERMITTLUNGSGRUNDLAGE WERNER RÖSENER Der Wandel der Kulturlandschaft aus der Perspektive der Agrargeschichte ................................................................................................

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ANNIKA SCHMITT Die „Conservirung“ der natürlichen Ressourcen: Bedingungen der Naturnutzung in der Frühen Neuzeit am Fallbeispiel der Oldendorfer Mark im Hochstift Osnabrück ...............................................

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6

Inhalt

KULTURLANDSCHAFTEN UND IHRE VERMITTLUNG HANSJÖRG KÜSTER Landschaft: ein materielles und immaterielles Kulturerbe ............................... 113 GERHARD HENKE-BOCKSCHATZ Kulturlandschaften wahrnehmen und entschlüsseln oder: Welche Kompetenzen brauchen SchülerInnen zur historischen Spurensuche? ......... 123 HEIKE DÜSELDER Vom Staunen zum Verstehen – Umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum ................................................................................................ 143

ERFAHRUNGSBERICHTE IN DER ARBEIT MIT SCHULEN/ UMWELTDIDAKTIK CHRISTOPH REINDERS-DÜSELDER Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II: Chancen – Perspektiven – Grenzen: Ein Erfahrungsbericht .......................... 159 INDRE DÖPCKE Umweltgeschichte unterrichten. Eine empirische Untersuchung zu LehrerInnenvorstellungen ................................................................................. 175 BRITTA WEHEN-BEHRENS „Früher hat man mit der Umwelt gelebt, heute lebt man über ihr“ – SchülerInnenvorstellungen zur Geschichte der Umwelt .................................. 191

BEISPIELE UMWELTGESCHICHTLICHER THEMEN IM MUSEUM KERSTIN WAGENER Umweltgeschichtliche Perspektiven im Freilichtmuseum: Über lernbezogene und ästhetische (Un-)Möglichkeiten ................................. 209 NINA MÖLLERS Das Anthropozän: Wie ein neuer Blick auf Mensch und Natur das Museum verändert ........................................................................................... 217 Abbildungsverzeichnis ........................................................................................... 231 Autorenverzeichnis ................................................................................................. 233

SIEGRID WESTPHAL

Umweltgeschichte: Didaktische Hoffnungen und praktische Erfahrungen – Vorwort Folgt man dem Überblickswerk zur Umweltgeschichte von Winiwarter und Knoll, dann scheint es ein deutsches Charakteristikum zu sein, mit der Umweltgeschichte „didaktische Hoffnungen“ zu verknüpfen. Insofern reiht sich der vorliegende Sammelband in eine gewisse Tradition ein, denn auch wir verbinden damit das Anliegen, nicht nur die wissenschaftlichen Potenziale von Umweltgeschichte sichtbar zu machen, sondern auch ihre Möglichkeiten im Bereich der Umwelterziehung und Umweltbildung aufzuzeigen. Damit wird zum ersten Mal der Versuch unternommen, die Vermittlung von umweltgeschichtlichen Ansätzen in der Wissenschaft, im Museum und in den Schulen darzustellen und die Hindernisse, aber auch die vielfältigen Möglichkeiten zu thematisieren, die sich aus einer Vernetzung der umweltgeschichtlichen Projekte und Maßnahmen in den drei Institutionen ergeben können. Gleichzeitig bildet der Sammelband den Abschluss eines Projekts, das sich drei Jahre lang der Aufgabe gewidmet hat, am Beispiel des Themas „Mensch und Umwelt“ die Zusammenarbeit von Universität, Museum und Schule zu erproben. Ausgangspunkt des Projektes bildeten die positiven Erfahrungen der Zusammenarbeit zwischen dem Niedersächsischen Freilichtmuseum - Museumsdorf Cloppenburg unter Leitung von Prof. Dr. Uwe Meiners und dem Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit (IKFN) an der Universität Osnabrück unter Leitung von Prof. Dr. Siegrid Westphal seit dem Jahr 2004. Dabei ging es um die Umsetzung neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse im Rahmen des Ausstellungskonzepts des Museumsdorfs. Ein von 2005 bis 2007 laufendes Forschungsprojekt beschäftigte sich mit dem Adel auf dem Lande und hat sich in einer Dauerausstellung im Haus Arkenstede und zahlreichen Publikationen niedergeschlagen. In diesem Kontext wurde auch schon mit einer großen Tagung zum Thema „Adel und Umwelt“ die Brücke zur Umweltgeschichte geschlagen. Die bewährte Kooperation zwischen Universität und Museum sollte in der Folge nicht nur einfach fortgesetzt, sondern auf einer neuen Ebene weiterentwickelt werden. Dies geschah auf zwei Wegen. Zum einen wurde nun die Umweltgeschichte ganz ins Zentrum der Forschung gerückt, zum anderen wurde die Institution Schule in die Kooperation mit einbezogen, unter der fachdidaktischen Begleitung von Prof. Dr. Dietmar von Reeken von der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Siegrid Westphal

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1.

Projekt „Mensch und Umwelt“

Mit dem Thema „Mensch und Umwelt“ widmete sich das Projekt einem Kernthema der Umweltgeschichte. Es ging um die als wandelbar begriffene historische Mensch-Umwelt-Beziehung, speziell um die Rekonstruktion von Umweltbedingungen in der Vergangenheit sowie die Rekonstruktion von deren Wahrnehmung und Interpretation durch die damals lebenden Menschen (Herrmann, Sieferle). Was machte das Besondere unserer Zugangsweise zur Umweltgeschichte aus? 1. Der Zeitraum: Im Gegensatz zu vielen auf die Neuzeit ausgerichteten umwelthistorischen Forschungen fokussierte sich das Projekt auf die Frühe Neuzeit, also eine Epoche, die vor der Industrialisierung angesiedelt ist. Insbesondere stand das 18. Jahrhundert im Zentrum, mit dem auch die geistesgeschichtliche Entwicklung der Aufklärung verbunden wird, in der sich unter den Prämissen Ausnutzung natürlicher Ressourcen und Effizienzsteigerung ein neues Verständnis von Natur, auch bezeichnet als „Ökonomisierung von Natur“ herausgebildet hat. 2. Die Perspektive: Umweltgeschichte wird überwiegend von der Vorstellung geprägt, dass das Verhältnis von Mensch und natürlicher Umwelt prekär sei und der Mensch natürlichen Systemen schaden könne, was letztlich wiederum problematische Rückwirkungen auf den Menschen selber habe. Das Projekt legte dagegen einen Fokus auf die umweltbewahrenden Verhaltensmuster von Menschen in der Vergangenheit. 3. Die Themenwahl: Durch die Kooperation mit dem Museumsdorf Cloppenburg ergab sich als Schwerpunktthema der Forschung der ländliche Raum in der Frühen Neuzeit, insbesondere der Wandel der Agrarwirtschaft und der ländlichen Gesellschaft vom 18. bis 20. Jahrhundert mit seinen Ursachen, Begleiterscheinungen und Folgen für die Naturwahrnehmung und das MenschUmwelt-Verhältnis insgesamt. Das Thema war interdisziplinär im Schnittfeld von Wissenschaftsgeschichte, Agrargeschichte und Umweltgeschichte angesiedelt. Im Zentrum standen die Naturkultivierung, Naturerhaltung und Nachhaltigkeit am Beispiel der Landwirtschaft im Nordwesten des Heiligen Römischen Reiches deutscher Nation. Konkret ging es um den Umgang mit Böden, die Ressourcennutzung und daraus entstehende Konflikte, Gartenbau und Nutzpflanzen, landwirtschaftliche Geräte und neue Technologien, Ernährungsverhalten oder aber auch das Gesundheitsbewusstsein. Dies waren zentrale Komponenten der Mensch-Umwelt-Beziehung in der Vergangenheit, die sich auch in besonderer Weise mit den Anliegen des Museumsdorfes Cloppenburg verbinden ließen.

Vorwort

2.

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Neue Kooperationsformen

Die Besonderheit des Projektes lag jedoch auch darin, dass neben Universität und Museum mit den Schulen eine dritte Bildungsinstitution einbezogen wurde. Das Zusammenspiel von Forschung an der Universität, Dokumentation und Präsentation im Museum und forschendem Lernen an den Schulen ließ sich – so unsere Erfahrung – besonders gut mit einem interdisziplinär und aktualitätsbezogenem Thema wie der Umweltgeschichte erproben. Der Fachwissenschaft an der Universität Osnabrück kam dabei die Aufgabe zu, umweltgeschichtliche Forschung zur Frühen Neuzeit zu betreiben, entsprechende Qualifikationsarbeiten und wissenschaftliche Publikationen zu produzieren sowie begleitende Lehrveranstaltungen durchzuführen. Das Museumsdorf Cloppenburg nutzte die Möglichkeiten der sachkulturellen Dokumentation, suchte nach neuen Formen der Präsentation bei der Vermittlung und Visualisierung der von der Forschung bereit gestellten Inhalte und entwickelte entsprechende museumsdidaktische Konzepte. Die beiden Kooperationsschulen haben durch forschendes Lernen auf die von der universitären Forschung angebotenen Themenschwerpunkte und die musealen Vermittlungskonzepte zurückgegriffen und erarbeiteten im Rahmen von Unterrichtseinheiten kleinere „Bausteine“, die in das größere zentrale Ausstellungsvorhaben, einen umweltgeschichtlichen Rundgang, im Museumsdorf Cloppenburg eingehen sollen. Alle Maßnahmen wurden evaluiert und fachdidaktisch begleitet. Es soll nicht verschwiegen werden, dass die komplexen Formen der Kooperation auch Probleme mit sich brachten und sich als sehr viel zeit- und arbeitsaufwändiger als geplant erwiesen haben. Insbesondere die Zusammenarbeit mit den Schulen verlangte großen Einsatz von allen Seiten. Nicht immer konnten die gegenseitigen Erwartungen vollends erfüllt werden. Ebenso stellte es sich als schwierig heraus, im schulischen Alltag genug Raum für außerschulische Aktivitäten wie eine solche Kooperation zu finden. Nur aufgrund des großen Engagements einer Gruppe von LehrerInnen an den Kooperationsschulen, die sich weit über das übliche Maß hinaus in das Pilotprojekt eingebracht haben, und einer umsichtigen Leitung des Projekts konnten am Ende eine Reihe von Erfolgen erzielt werden. Die intensive Zusammenarbeit mit den Schulen ermöglichte den WissenschaftlerInnen an Universität und Museum Einblicke in das Denken heutiger Kinder und Jugendlicher über Umweltthemen und forderte dazu heraus, neue Wege und innovative Formen der Wissensvermittlung zu erproben. Zu erwähnen seien hier nur eine Reihe von Workshops, bei denen SchülerInnen beispielsweise die Ergebnisse ihrer Seminarfacharbeiten präsentierten, oder ein großer SchülerInnenkongress mit Schwerpunktthemen wie Energie, Ernährung und Landwirtschaft. Vielen wird sicherlich das Kochen nach einem Rezept des 18. Jahrhunderts, das Theaterspielen oder Experimentieren in Erinnerung bleiben, entscheidend war jedoch für die Kooperationspartner des Projekts, dass

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Siegrid Westphal

sich bei den SchülerInnen typische klischeehafte Denkmuster zur Geschichte der Umwelt durch die von der universitären Forschung gegebenen Impulse nachweislich verändert haben. Am Ende des Kongresses besaßen sie deutlich differenziertere Vorstellungen und konnten reflektierter mit der Umweltgeschichte umgehen. Insofern haben sich unsere „didaktischen Hoffnungen“ in der Tat erfüllt. Ein wichtiges Anliegen des Projektes war es auch, die eigenen wissenschaftlichen Ergebnisse mit denen von anderen, ähnlich ausgerichteten Projekten zu vergleichen und Erfahrungen auszutauschen. Nicht zuletzt deshalb trafen sich im Juni 2012 eine Reihe von FachwissenschaftlerInnen, Museumsfachleuten und DidaktikerInnen in Osnabrück, um unter dem Thema „Umweltgeschichte im ländlichen Raum – Forschung, Dokumentation, Vermittlung“ über grundlegende Aspekte dieser Thematik zu diskutieren. Ein Fazit dieser Veranstaltung ist sicherlich, dass Umweltgeschichte in besonderer Weise dazu geeignet ist, Brücken zwischen verschiedenen Disziplinen und Bildungsinstitutionen zu schlagen. Es bedarf in der Zukunft aber noch weit mehr Anstrengungen, um Umweltgeschichte zu institutionalisieren und zu einem selbstverständlichen Inhalt von Vermittlungskonzepten in Schulen und Museen zu machen. Abschließend gilt es, im Namen aller Kooperationspartner einer ganzen Reihe von Institutionen und Personen zu danken, die das Projekt überhaupt erst ermöglicht und zum Gelingen beigetragen haben. Wir danken dem Niedersächsischen Ministerium für Wissenschaft und Kultur für die großzügige Förderung aus Mitteln des Niedersächsischen Vorab der Volkswagenstiftung. Unser besonderer Dank gilt unserem wissenschaftlichen Beirat, ohne dessen Kompetenz und Engagement dieses Projekt nicht hätte gelingen können. Große Verdienste bei der Entstehung und Durchführung des Projekts hat sich Frau Dr. Heike Düselder erworben, die mit Kompetenz, Beharrlichkeit und diplomatischem Geschick die vielfältigen Aktivitäten koordiniert und das Projekt geleitet hat. Wir danken darüber hinaus den Doktorandinnen Frau Annika Schmitt und Frau Indre Döpcke für die kontinuierliche und engagierte Mitarbeit im Projekt, zu dessen maßgeblicher Intention von Anfang an die Förderung des wissenschaftlichen Nachwuchses gehörte. Auch den zahlreichen SchülerInnen, den studentischen und wissenschaftlichen Hilfskräften sowie den MitarbeiterInnen im Museumsdorf Cloppenburg sowie am IKFN in Osnabrück – insbesondere Frau Dr. Olga Weckenbrock für die Mitarbeit an diesem Sammelband – und der fachdidaktischen Professur in Oldenburg sei an dieser Stelle unser besonderer Dank ausgesprochen ebenso wie den LehrerInnen an den beiden Kooperationsschulen, der Helene-Lange-Schule in Oldenburg sowie der Liebfrauenschule in Cloppenburg. Nicht zuletzt den Vortragenden auf der Tagung in Osnabrück und den BeiträgerInnen des Sammelbandes gilt unser großer Dank, der sich mit der Hoffnung verbindet, dass viele von unseren Erfahrungen profitieren werden.

HEIKE DÜSELDER / ANNIKA SCHMITT

Einleitung Seit 2005 läuft die UN-Dekade „Bildung für Nachhaltige Entwicklung“, deren Hauptanliegen es ist, Kindern, Jugendlichen und Erwachsenen nachhaltiges Denken und Handeln zu vermitteln und sie in die Lage zu versetzen, Entscheidungen für die Zukunft zu treffen und dabei abzuschätzen, wie sich das eigene Handeln auf künftige Generationen oder das Leben in anderen Weltregionen auswirken wird.1 Dafür werden auf der Homepage der UN zahlreiche Projekte, Ideen und Materialien vorgestellt. Es fehlt jedoch eine Betrachtung des historischen Mensch-Umwelt-Verhältnisses. Für die Orientierung in der Gegenwart ist die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit allerdings zentral, denn nur so können langfristige Entwicklungen, die auch in die Zukunft weisen, sichtbar gemacht und verstanden werden.2 Somit bietet die Umweltgeschichte eine Handlungsgrundlage für Gegenwart und Zukunft und stellt damit gleichzeitig einen wichtigen Baustein im Gefüge der Umweltbildung und damit zu einer Bildung für Nachhaltige Entwicklung dar.3 Die Umweltgeschichte ist als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft aus der Umweltbewegung der 1970er Jahre entstanden und hat seitdem eine dynamische Entwicklung erfahren.4 Die Themen reichen von der Erforschung historischer Naturwahrnehmung, der Siedlungsgeschichte, einer Umweltgeschichte der Stadt oder von Handel, Transport und Verkehr bis zu Krisenphänomenen – wobei die Klimageschichte und die Geschichte von Naturkatastrophen zwei aktuelle Forschungsschwerpunkte bilden – und sind oftmals nur durch eine fächerübergreifende Herangehensweise zu erforschen. Die Umweltgeschichte ist also in besonderem Maße inter- und transdisziplinär aufgestellt und durch eine ausgesprochene Methoden- und Themenvielfalt gekennzeichnet. Von zunehmender Bedeutung ist dabei die Frage, wie sich Ergebnisse der Umweltgeschichte vermitteln und in die Umweltbildung einflechten lassen. Mit dieser Thematik hat sich das von 2009 bis 2012 an der Universität Osnabrück angesiedelte Projekt „Mensch und Umwelt – Pilotprojekt zur Vernetzung von Forschung, museologischer Dokumentation und Didaktik“ auseinandergesetzt. Dabei wurden anhand umweltgeschichtlicher Themen neue Kooperationsformen zwischen den drei Bildungsinstitutionen Universität, Museum und Schule ent1 2 3 4

Siehe unter http://www.bne-portal.de/was-ist-bne/grundlagen/ [01.09.2013]. Siehe den Beitrag von Bernd-Stefan Grewe in diesem Band. Vgl. dazu INDRE DÖPCKE, Umweltgeschichte. Eine relevante Dimension des Geschichtsunterrichts, in: BÄRBEL KUHN / ASTRID WINDUS (Hrsg.), Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht, St. Ingbert 2013, S. 9-16. Zur Entwicklung der Umweltgeschichte siehe UWE LUEBKEN, Undiszipliniert. Ein Forschungsbericht zur Umweltgeschichte, S. 1-37, hier S. 1, URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/forum/2010-07-001 [03.08.2013].

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Heike Düselder / Annika Schmitt

wickelt und erprobt.5 Im Juni 2012 fand im Rahmen dieses Projektes das Symposium „Umweltgeschichte des ländlichen Raumes in Wissenschaft, Museum und Schule“ statt, bei dem die teilnehmenden WissenschaftlerInnen aus Universitäten und Museen zusammen mit LehrerInnen über die Chancen und Grenzen einer interinstitutionellen Zusammenarbeit bei der Generierung und Vermittlung umwelthistorischer Fragestellungen diskutierten. Der vorliegende Sammelband bündelt die Ergebnisse dieses Symposiums. Bei seiner Konzeption erschien ein enger gefasster inhaltlicher Rahmen als Diskussionsgrundlage sinnvoll. Schon im Verlauf des Projektes hatte sich durch die Beteiligung des Museumsdorfs Cloppenburg, die räumliche Verortung der beiden Schulen sowie die universitäre Forschung der nordwestdeutsche ländliche Raum als gemeinsamer Forschungs- und Vermittlungsraum herauskristallisiert.6 Eine Umweltgeschichte des ländlichen Raumes mit seinen naturräumlichen Spezifika und Landnutzungssystemen vom 18. bis ins 19. Jahrhundert bildete somit die Klammer für die drei im Projekt „Mensch und Umwelt“ verankerten Institutionen Universität, Museum und Schule. Methodisch entwickelte sich daraus eine Herangehensweise, die Umweltgeschichte nicht primär ressourcen-, sondern raumbezogen auffasst und auf eine ländliche Umwelt bezieht. Für die Epoche der Frühen Neuzeit ist dies nicht nur deshalb sinnvoll, weil rund 90 Prozent der Bevölkerung auf dem Land lebten und in den Strukturen der vormodernen Wirtschaftsweisen ihre Existenz bestritten, sondern auch, weil in den vormodernen Agrarsystemen ein enges Beziehungsgefüge zwischen den physischen Gegebenheiten und den Faktoren Bevölkerung, Herrschaftsstrukturen und Produktionsweisen („strukturelle Kopplung von Natur und Kultur“) existierte. Sich diesen Strukturen anzunähern, ist ein zentrales Anliegen der Umweltgeschichte, da sie immer eine konkrete räumliche Komponente hat und die große Diversität lokaler Systeme betont. Den Ausgangspunkt des Symposiums und dieses Sammelbandes bilden also der ländliche Raum und seine Rekonstruktion als historische Kulturlandschaft mit ihrer kleinräumigen, von einer Vielzahl soziokultureller Strukturen beeinflussten Entwicklung von Landnutzung und Landschaftsgestaltung. Ein solcher Raumbezug bietet sowohl für die fachwissenschaftliche als auch für die fachdidaktische und museologische Behandlung umwelthistorischer Aspekte einen Anknüpfungspunkt und eine Schnittstelle. Entsprechend gliedern sich die thematischen Blöcke in eine fachwissenschaftliche Sektion zur Landnutzung, eine integrative Sektion zu Kulturlandschaften und ihrer Vermittlung aus fachwissenschaftlicher, musealer und schulischer Perspektive sowie zwei anschließende Sektionen zur Umweltdidaktik und 5 6

Siehe das Vorwort von Siegrid Westphal in diesem Band. Kooperationspartner waren das Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit, der Lehrstuhl Geschichtsdidaktik der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg, das Niedersächsische Freilichtmuseum – Museumsdorf Cloppenburg sowie zwei weiterführende Schulen in Oldenburg und Cloppenburg.

Einleitung

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musealen Präsentationsformen. Auf Grundlage der durch die fachwissenschaftliche Forschung zu Kulturlandschaften bereit gestellten Wissensbasis diskutieren alle Beiträge mögliche Vermittlungsansätze umwelthistorischer Themen und die Chancen einer interinstitutionellen Kooperation. Voraussetzung dafür ist aber zunächst eine ‚Bestandsaufnahme‘ umweltgeschichtlicher Ansätze in den verschiedenen Bereichen. Den Auftakt des Sammelbandes bilden deshalb drei Einführungsreferate von Manfred JakubowskiTiessen, Bernd-Stefan Grewe und Nina Möllers, die aus Sicht von Universität bzw. Forschung, Schule und Museum über die gegenwärtige Situation der Umweltgeschichte und ihre Potenziale reflektieren. Übereinstimmend wird die mangelnde Institutionalisierung der Umweltgeschichte konstatiert, wobei vor allem die Interdisziplinarität der Umweltgeschichte als ‚Hemmschuh’ gesehen wird. Darüber hinaus werden Wege aufgezeigt, wie die Umweltgeschichte in den drei Bildungsinstitutionen implementiert werden kann. Neben Vorschlägen einer strukturellen Umgestaltung spielen vor allem kreative und integrative Vermittlungsansätze die entscheidende Rolle. Der Universität kommt dabei die Aufgabe zu, Wissen zu generieren und für die Vermittlung in Schule und Museum aufzubereiten. Die umwelthistorische Forschung an der Universität bildet somit den Ausgangspunkt der Auseinandersetzung mit der Umwelt in Schule und Museum. Auf diese Weise soll die Umwelt – noch stärker als bisher – „als bestimmender Faktor gesellschaftlicher Entwicklungen begriffen werden“, so Manfred Jakubowski-Tiessen im Rahmen seiner Bestandsaufnahme der Umweltgeschichte als wissenschaftliche Disziplin. Er beanstandet in seinem Beitrag die mangelnde Institutionalisierung der Umweltgeschichte an deutschen Universitäten. Zwar sei ihre dynamische Entwicklung als Teildisziplin der Geschichtswissenschaft durch zahlreiche Publikationen zu den verschiedensten Themen belegt, doch würde sich dies derzeit nicht in der Schaffung von Lehrstühlen mit der ausschließlichen Denomination „Umweltgeschichte“ niederschlagen. Noch immer sei die Umweltgeschichte nur im Rahmen drittmittelgeförderter Projekte präsent,7 sodass die Forschung eine notwendige Kontinuität vermissen lasse. Ähnlich wie Manfred Jakubowski-Tiessen für die Universitäten konstatiert Bernd-Stefan Grewe für die Umweltgeschichte ein Schattendasein im schulischen Unterricht. Dabei sieht er zahlreiche Vorteile in der Thematisierung der Geschichte der Umwelt als Teil einer universellen Umwelterziehung. Zum einen schaffe der zeitliche Abstand eine kritische Distanz zum Gegenstand, sodass aus der Beurteilung einer historischen Situation nicht automatisch Verhaltenserwartungen für die Gegenwart entstünden. Zum anderen gebe die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine wichtige Orientierung für die Gegenwart, indem die Vergangenheit als etwas Gewordenes, also etwas Gestalt- und Verän7

So im DFG-geförderten Graduiertenkolleg Interdisziplinäre Umweltgeschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa (2004-2013) an der GeorgAugust-Universität Göttingen.

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derbares erscheine. Umweltgeschichte vermittle zudem ein Verständnis dafür, wie Wertewandel, politische Umbrüche, wirtschaftliches Handeln oder technische Entwicklungen den Umgang vergangener Gesellschaften mit der Natur beeinflussten. Umweltgeschichte solle aber nicht nur im Projektunterricht oder am Rande behandelt werden, wie dies noch immer häufig geschieht. Vielmehr müsse diese zu einem Kernbereich der historischen Bildung werden, indem sie als gleichberechtigte ökologische Dimension neben die kulturellen, politischen, wirtschaftlichen oder sozialen Dimensionen gestellt würde. Auf Grundlage dieses Postulats erarbeitet Grewe verschiedene Leitlinien für einen umwelthistorischen Unterricht, die auch die Abkehr von gängigen Klischees und Denkmustern, etwa eines „umwelthygienischen“ Ansatzes beinhalten. Das spezifische Potenzial der Umweltgeschichte als schulisches Unterrichtsthema sieht Grewe in der Kenntnis langfristiger Entwicklungstrends und der differenzierten Sichtweise auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis in Vergangenheit und Gegenwart. Über die Situation der Umweltgeschichte in den Museen und deren Zukunftspotenziale reflektiert Nina Möllers in ihrem Beitrag. Zwar sei das Thema Umwelt Gegenstand zahlreicher Ausstellungen, doch mangele es an einem historisierenden Blick und einer systematischen Aufbereitung. Sie betont jedoch, dass in der Beschäftigung mit Umweltthemen ein großes Potenzial für Museen liege, sich als Wissens-, Lern- und Handlungsort neu zu positionieren. Dafür seien jedoch interdisziplinäre Ansätze zwischen Geistes-, Sozial und Naturwissenschaften vonnöten, die dazu beitragen müssten, Museen als Orte des integrativen Wissens und der ganzheitlichen Reflexion und Diskussion für die Gesellschaft zu stärken. Am Beispiel des Deutschen Museums zeigt sie einen möglichen Weg für etablierte Museen auf, wie eine historisierende Perspektive in Ausstellungsvorhaben mit Umweltbezug eingenommen werden kann. Die drei einführenden Beiträge zeigen, dass Umweltgeschichte in allen Bildungsinstitutionen eine untergeordnete Rolle spielt. Größere Bedeutung und gesellschaftspolitische Relevanz kann sie erst dann gewinnen, wenn sie vor allem an den Universitäten institutionell verankert wird, sich an aktuellen gesellschaftlichen Problemlagen orientiert und ihre Erkenntnisse in Schule und Museum vermittelt werden. Erst dann ist es möglich, neue Perspektiven und differenziertes Wissen über das historische Mensch-Umwelt Verhältnis an die Stelle „alter“ Erklärungsmuster zu setzen. Denn häufig dominiert beim Thema Umwelt die Auseinandersetzung mit Umweltkonflikten, wodurch der Schwerpunkt auf den problematischen Folgen menschlicher Eingriffe in die Natur liegt. Dass dies jedoch nicht zwangsläufig so sein muss, zeigen beispielsweise die Aufsätze von Werner Rösener und Annika Schmitt. Sie zeichnen die historische Entwicklung der Kulturlandschaft in Nordwestdeutschland nach und gewähren neue Perspektiven auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis, indem auf Nachhaltigkeitsaspekte in der vorindustriellen Landwirtschaft verwiesen wird. Werner Rösener zeigt, dass sich das Aussehen der Kulturlandschaft vom frühen Mittelalter bis zur Moderne stets verändert hat und den menschlichen Be-

Einleitung

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dürfnissen entsprechend umgestaltet wurde. Insbesondere zwischen dem 11. und 13. Jahrhundert habe sich die Kulturlandschaft durch ein Bevölkerungswachstum und damit verbundene Prozesse der Bodenintensivierung (Eschwirtschaft, Plaggendüngung, Roggenanbau) stark gewandelt. Die Langzeitperspektive auf die Entwicklung der Kulturlandschaft verdeutlicht die Dynamik des Wandels, der stets durch sozioökonomische, kulturelle oder politisch-herrschaftliche Faktoren ausgelöst wurde. Dem Übergang zur rationellen Landwirtschaft am Ende des 18. bzw. zu Beginn des 19. Jahrhunderts widmet sich Annika Schmitt in ihrem Beitrag. Ihre Studie über die in der vorindustriellen Landwirtschaft praktizierte gemeinschaftliche Ressourcennutzung richtet sich explizit gegen das aufklärerische Postulat einer zwangsläufigen Ausbeutung natürlicher Ressourcen durch kollektive Nutzungsformen. Sie weist nach, dass die traditionelle Form der Landwirtschaft zahlreiche Nachhaltigkeitsaspekte beinhaltete, die sich aus einer Flächen- und Ressourcenlimitierung ergaben. Am Beispiel einer einzelnen Mark im Hochstift Osnabrück identifiziert sie das Nachhaltigkeitsprinzip als Grundlage der vorindustriellen Landwirtschaft. Das von den Aufklärern transportierte Bild einer ressourcenverbrauchenden Nutzungsform kann somit relativiert und durch ein differenziertes, auf die erhaltenden und bewahrenden Aspekte ausgerichtetes ersetzt werden. Auch Annika Schmitt verweist auf die Wirkmächtigkeit allgemeiner historischer Prozesse, zum Beispiel eines Bevölkerungswachstums für die Entwicklung der Landwirtschaft und auf die damit einhergehenden strukturellen Veränderungen der Kulturlandschaft. Auf welche Art und Weise solche Ergebnisse der Universitätsforschung vermittelt werden können, zeigen die Beiträge der zweiten Sektion des Sammelbandes. Hansjörg Küster, Gerhard Henke-Bockschatz und Heike Düselder widmen sich der Wahrnehmung und Entschlüsselung von Kulturlandschaften durch den Menschen. Bewusst werden in diesem Themenblock eine fachwissenschaftliche, museale und schulische Perspektive zusammengeführt, um die sich aus den beschriebenen Vermittlungsansätzen ergebenden Synergieeffekte aufzuzeigen. Den Beiträgen ist gemeinsam, dass sie Kulturlandschaften nicht als Einheiten beschreiben, sondern sie in ihrer Differenziertheit erfassen und darin Schlüsselphänomene hervorheben, die auch für gegenwärtige Umweltbedingungen ein Erklärungspotenzial bereit halten und richtungsweisend wirken können. Dieser theoretische und methodische Zugang bietet für eine Didaktik der Umweltgeschichte vielfältige Entfaltungs- und Anknüpfungsmöglichkeiten, um SchülerInnen und MuseumsbesucherInnen den Aspekt der eigenen räumlichen Umgebung und deren Veränderungen bewusst zu machen. Über die Besonderheiten von Kulturlandschaften reflektiert Hansjörg Küster in seinem Aufsatz zu den „materiellen“ und „immateriellen“ Komponenten von Landschaft. Als „materielles Erbe“ bezeichnet er die durch die Wechselwirkung von Natur und Kultur entstandene sichtbare Kulturlandschaft. Unter dem immateriellen Kulturerbe versteht er zum einen die Ideen, die der Gestaltung der

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Landschaft zugrunde liegen, zum anderen die Wahrnehmung und Deutung der Kulturlandschaft. Letzteres wird am Beispiel der Heideflächen verdeutlicht, die – eigentlich Resultat menschlicher Eingriffe in die Natur und zuvor „Schreckbild von Wildnis und Wüstenei“ – in der Aufklärungszeit unter anderem durch Jean André du Luc eine Deutungsverschiebung erfuhren und fortan als „schöne Natur“ gesehen wurden. Die Vorstellungen, die in den verschiedenen Epochen von der Natur bzw. der Kulturlandschaft existierten, müssen also stets mitgedacht werden, so Küster. Für den schulischen Unterricht hieße dies, Konzepte zu entwickeln, mit deren Hilfe Landschaften in ihren Eigenheiten dargestellt werden können. Ein wichtiger Ansatzpunkt ist dabei für Küster das Wissen über Landschaft, über das eine emotionale Verbindung hergestellt werden könne. Hier knüpft der Beitrag von Gerhard Henke-Bockschatz an, der sich mit der Wahrnehmung und Entschlüsselung von Kulturlandschaften und der Frage beschäftigt, wie jungen Menschen im Rahmen von forschend-entdeckenden Lernprozessen die historische Dimension von Kulturlandschaften nahe gebracht werden kann. Das bewusste Wahrnehmen von Kulturlandschaften sei eine wichtige Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Entwicklung von Landschaften zu verstehen und sich in diese einzumischen. Ein Bewusstsein über die Historizität des Raumes könne anhand von „aufschließenden Elementen“, d. h. charakteristischen Kulturlandschaftselementen wie z. B. „Knicks“ (Wallhecken) in Verbindung mit erklärendem Quellenmaterial geschaffen werden. Die Elemente einer Kulturlandschaft ordnet Henke-Bockschatz bestimmten gesellschaftlichen (z. B. Herrschaft, Verwaltung, Recht), wirtschaftlichen (z. B. Industrie) und kulturell-ästhetischen (z. B. Religion, Kult) Funktionen zu. Am Beispiel einer westmecklenburgischen Region und den dort vorhandenen historischen Überresten wird verdeutlicht, wie SchülerInnen vermittelt werden kann, dass die sie umgebende Kulturlandschaft eine Geschichte hat und nicht „natürlich“ oder „statisch“ ist, wie dies SchülerInnen oftmals glauben. Die Behandlung des Themas „Kulturlandschaften“ im Unterricht könne sie u. a. zu Überlegungen darüber anregen, welche Art von Landschaft ihnen lebens- und bewahrenswert erscheine. Auch im Rahmen des von Heike Düselder vorgestellten Vermittlungskonzepts spielt die Wahrnehmungskompetenz der BesucherInnen im Museum die entscheidende Rolle. Sie fokussiert sich auf die umwelthistorischen Bedeutungsebenen – die sie Mikrogeschichten nennt – und auf die Historizität von Objekten im Museum. Am Beispiel des im Museumsdorf Cloppenburg ausgestellten Tiefpflugs erklärt sie, wie über die Entschlüsselung seiner Mikrogeschichte das Objekt seine Bedeutung für eine bestimmte Entwicklung und Fragestellung zurückerlangt. Der Tiefpflug beeindrucke die BesucherInnen allein durch seine imposante Größe und wecke somit Interesse, doch erst über seine „Mikrogeschichte“ werde er als Instrument der Moorkultivierung und damit massiver Eingriffe in die Natur erkannt. Das quasi funktions- und bewegungslos gewor-

Einleitung

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dene Museumsobjekt werde in seinen Kontext gerückt und könne dazu dienen, dem Besucher langfristige Prozesse und Zusammenhänge zu erklären. Die Bereitstellung von Wissen, die Schulung der Wahrnehmungskompetenz sowie die Handreichung von Hilfsinstrumenten – etwa der historischen Quellenkritik – bilden den Ausgangspunkt selbständiger Beschäftigung mit der Umwelt und ihrer systemischen Zusammenhänge. Die Bedeutung dieser Erkenntnis insbesondere für die Vermittlung von Umweltgeschichte in der schulischen Praxis wird an den Beiträgen von Britta Wehen-Behrens und Indre Döpcke deutlich. Beide können in ihren Untersuchungen zu SchülerInnen- bzw. LehrerInnenvorstellungen zur Umweltgeschichte eine andauernde Dominanz des „umwelthygienischen Ansatzes“ (Rolf-Peter-Sieferle) nachweisen. Dieser Ansatz, der die Geschichte des Mensch-Natur-Verhältnisses als „Katastrophengeschichte“ oder als „Negativgeschichte“ beschreibt und in der fachwissenschaftlichen Forschung längst durch differenziertere Sichtweisen ersetzt wurde, präge die Vorstellungen von LehrerInnen und SchülerInnen gleichermaßen. Britta Wehen-Behrens zeigt zunächst anhand einer im Rahmen des „Mensch und Umwelt“-Projektes durchgeführten explorativen Studie die Dominanz des „umwelthygienischen Ansatzes“ als typisches Denkmuster bei den SchülerInnen der am Projekt beteiligten Integrierten Gesamtschule in Oldenburg auf. Sie kann überzeugend darlegen, dass sich diese Vorstellungen im Projektverlauf und durch Projektaktivitäten geändert haben und eine Anreicherung der SchülerInnenvorstellungen erreicht worden ist. So gründen die von ihr aufgestellten Leitlinien zur Behandlung umweltgeschichtlicher Themen im Unterricht auf dem in der Forschung präsenten Konzept des „conceptual enrichment“, bei dem SchülerInnenvorstellungen nicht ersetzt, sondern anknüpfend an das Alltagswissen der Lernenden angereichert werden sollen. Als mögliche Unterrichtsansätze kämen Vergleiche zwischen „früher“ und heute“ infrage und die Behandlung von Inhalten, welche die SchülerInnen zum Nachdenken über eigene Lebensgewohnheiten anrege. Dazu könnten vor allem lokale, das Interesse der SchülerInnen weckende Themen behandelt werden und unter das Motto „ein neuer Blick auf alte Themen“ gestellt werden. In Übereinstimmung mit der Einschätzung Bernd-Stefan Grewes führt auch Indre Döpcke zunächst das Schattendasein der Umweltgeschichte im schulischen Unterricht an. Dabei betont sie, dass die Integration umweltgeschichtlicher Themen in den Unterricht wesentlich von der Entscheidung der LehrerInnen abhänge. Auf Basis einer qualitativen Studie geht sie der Frage nach, welche fachlichen und fachdidaktischen Vorstellungen und Orientierungen bei erfahrenen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte als Unterrichtsgegenstand existieren. Diese Vorstellungen werden den drei Wissensrepräsentationen knowing that, knowing how und knowing why zugeordnet. Sie kommt zu dem Ergebnis, dass den meisten Lehrkräften die historische Dimension des Mensch-UmweltVerhältnisses nicht bewusst sei. Verantwortlich dafür sei die mangelnde Behandlung des Themas in der universitären LehrerInnenausbildung, die wiede-

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rum auf die fehlende Institutionalisierung der Umweltgeschichte an den Universitäten zurückzuführen sei. Eine Implementierung der Umweltgeschichte in die Curricula und den schulischen Unterricht setze somit eine verbesserte Ausbildung der LehrerInnen, etwa durch thematisch ausgerichtete Fortbildungen voraus. Aufschlussreich in Hinblick auf die Chancen und Grenzen des Unterrichtens von Umweltgeschichte in der Schule ist der Erfahrungsbericht des am Projekt „Mensch und Umwelt“ beteiligten Lehrers Christoph Reinders-Düselder. Die mit der Umweltgeschichte verknüpften Möglichkeiten kreativer Unterrichtsgestaltung – interdisziplinäre Zugänge, projektorientierte Unterrichtsorganisation, Realisierung jahrgangsübergreifender Unterrichtsarrangements und Kooperationsmöglichkeiten mit außerschulischen Einrichtungen – erprobte er im Rahmen des Seminarfaches der Jahrgangsstufen 12 und 13 an der Oldenburger Kooperationsschule. Sein Bericht enthält einen detaillierten Kursverlaufsplan über vier Halbjahre, der von den Synergien und Ergebnissen kreativer Vermittlungsansätze im schulischen und außerschulischen Kontext zeugt. Trotzdem fällt sein Resümee der Unterrichtserfahrungen durchaus kritisch aus, indem er auf die Grenzen des Unterrichtens von Umweltgeschichte – Befangenheit der Lehrkräfte und SchülerInnen und fehlende Unterrichtswerke – verweist. Insbesondere hebt er die Rolle der Schulleitungen und schulischen Funktionsträger hervor, die entscheidend zur interdisziplinären Kooperation unter Einschluss außerschulischer Einrichtungen beitragen müssten. Durch die mit den Ergebnissen der Universitätsforschung abgestimmten Konzeptionen von Ausstellungen leisten auch die Museen einen bedeutenden Beitrag zur Umweltbildung von breiteren Bevölkerungsschichten. Die Betonung von Zusammenhängen und die interaktive Einbindung der BesucherInnen eint die beiden Beiträge von Kerstin Wagener und Nina Möllers, die sich mit den musealen Voraussetzungen von Umweltgeschichte und neuen Präsentationsformen beschäftigen. Die Ausstellungsgestalterin Kerstin Wagener reflektiert über das Potenzial von Freilichtmuseen bei der Behandlung umweltgeschichtlicher Themen und präsentiert den Vermittlungsansatz einer „narrativen Ausstellung“. Dieser Ansatz wird derzeit in der im Museumsdorf Cloppenburg umgesetzten Dauerausstellung erprobt, die auf den Ergebnissen des Projekts „Mensch und Umwelt“ fußt. Insbesondere Freilichtmuseen hätten aufgrund ihrer gattungsspezifischen Art der Präsentation in kontextbezogenen Gebäudeensembles und Landschaftselementen ein großes Potenzial, umweltgeschichtliche Fragestellungen anschaulich zu vermitteln. Für das Freilichtmuseum biete die Umweltgeschichte zudem die Chance, sich aus ihrer Fixierung auf die Sachkultur zu lösen und sich auf die Dynamik des historischen Mensch-Umwelt-Verhältnisses zu fokussieren. Dabei würden gerade Freilichtmuseen, die sich in einem vielfältigen Netzwerk wissenschaftlicher (Teil-) Disziplinen – etwa der Sozial-, Kultur-, Technik-, Architektur-, Naturgeschichte, Volkskunde, Biologie oder Ökologie – bewegen, der

Einleitung

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Interdisziplinarität der Umweltgeschichte gerecht. Das Gestaltungskonzept einer „Narrativen Ausstellung“ passt sich diesen besonderen Gegebenheiten an, indem Objekte oder Ensembles aus allen Perspektiven untersucht werden. Dabei sollen die Geschichten und Kontexte hinter und zwischen den Dingen aufgespürt, des Weiteren diese Geschichten in Wort, Bild und Inszenierung in eine adäquate Dramaturgie gebracht werden. Das Ziel narrativer Ausstellungen sei die Schaffung von Lernimpulsen durch interpretierende, assoziierende und emotionalisierende Zugänge sowie die aktive Beteiligung der Besucher. Einen neuen Denkrahmen und ein damit verbundenes Ausstellungskonzept des Deutschen Museums rund um den Begriff „Anthropozän“ stellt Nina Möllers in ihrem Beitrag vor. Das „Anthropozän“ umfasse eine derzeit noch nicht formal anerkannte auf das Holozän folgende oder dieses ablösende Erdepoche, deren Beginn nicht eindeutig definiert sei. Sie sei jedoch durch die Dominanz des Menschen geprägt, der als mächtiger geo- und biologischer Akteur und Gestalter der Erde stark in die Natur eingreife. Zudem betone der Begriff die langfristigen Auswirkungen menschlichen Handelns und verknüpfe somit Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft stärker miteinander. Möllers kann das besondere Potenzial dieses eher global ausgerichteten Ansatzes aufzeigen, der die Zusammenschau vormals isoliert voneinander betrachteter Phänomene und die Wahrnehmung ihrer systemischen Abhängigkeiten ermöglicht. Die Umsetzung in einer Ausstellung bringe zwar eine Reihe von Schwierigkeiten mit sich – beispielsweise das Problem des allumfassenden globalen und zeitlichen Rahmens – eröffne aber auch neue Perspektiven. Gerade das Museum biete über museale Objekte und den dreidimensionalen Ausstellungsraum die Bedingungen dafür, die systemischen Abhängigkeiten des Anthropozäns durch Gegenüberstellungen und die Betonung von Spannungsverhältnissen darzustellen. Durch das Anthropozän könnten umweltrelevante Themen in aller Komplexität und Kontroversität vermittelt werden. Museen würden so zu Orten gesellschaftspolitischer Diskussion. Führt man die Ergebnisse der Sektionen zusammen, dann wird deutlich, dass es nur auf der Basis neuer Forschungsergebnisse möglich ist, sich in aktuelle Diskussionen einzumischen statt allein ausdiskutierte Themen in Museum und Schule zu vermitteln. Voraussetzung dafür ist die Institutionalisierung der Umweltgeschichte an den Universitäten. Die Interdisziplinarität der Umweltgeschichte ist dabei Chance und nicht Hemmnis. Sie bietet aufgrund ihrer Breite der Themen verschiedene Entwicklungsmöglichkeiten und Potenziale für eine Zusammenarbeit nicht nur mit anderen universitären Fächern, sondern auch mit außeruniversitären Bildungseinrichtungen wie Schulen und Museen. Am Beispiel einer „Umweltgeschichte des ländlichen Raumes“ als eng gefasster inhaltlicher Klammer lassen sich die Synergien unmittelbar darstellen: Ausgehend von dem durch die Forschung generierten Wissen über Kulturlandschaften und einer differenzierten Sichtweise darauf geht es darum, diese zu „lesen“ bzw. zu „entschlüsseln“, die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen und Zusammen-

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Heike Düselder / Annika Schmitt

hänge zu erkennen. Dabei sollen Lernende und MuseumsbesucherInnen über die Schulung ihrer Wahrnehmungskompetenz zu selbständigem Denken und Handeln angeregt werden. Die Orientierung an „aufschließenden Elementen“, narrative Ansätze oder emotionale Zugänge sind dabei konkrete schulische oder museale Vermittlungsansätze. So ergeben sich aus den mit der Umweltgeschichte verbundenen Kooperationsmöglichkeiten neue schulische und außerschulische Vermittlungskonzepte, die auch eine allgemeine Umweltbildung bzw. eine Bildung für nachhaltige Entwicklung bereichern können.

M A N F R E D J A K U B O W S K I -T I E S S E N

Umweltgeschichte als geschichtswissenschaftliche Disziplin in Deutschland Als Helmut Jäger 1994 seine im Wesentlichen an der historischen Geographie orientierte „Einführung in die Umweltgeschichte“ herausgab, formulierte er folgenden programmatischen Satz: „Umweltgeschichte ist als wissenschaftliche Teildisziplin grundlegend zum Verständnis heutiger Umwelten, deren Probleme sich größtenteils nur unter dem Aspekt ihres Gewordenseins werden lösen lassen. Daher besitzen manche Studiengänge aus dem Umweltbereich, die sich ohne Berücksichtigung von Umweltgeschichte ganz vordergründig nur mit der Gegenwart befassen, eine fundamentale Lücke.“1

Inzwischen sind fast zwei Dezennien vergangen und es stellt sich die Frage, ob die von Jäger konstatierte „fundamentale Lücke“ inzwischen geschlossen wurde. Wie steht es heute mit der Umweltgeschichte als Disziplin oder Teildisziplin in der Wissenschaft an deutschen Universitäten?

1.

Die Anfänge der Umweltgeschichte

Die Umweltgeschichte ist in Deutschland in engem Zusammenhang mit der Umweltbewegung der 1970er Jahre entstanden, in den USA und England bereits etwas früher. Die umweltgeschichtlichen Forschungsfelder wurden infolgedessen im Wesentlichen aus aktuellen Fragestellungen heraus gewonnen und werden es zum Teil noch heute. Und dies geschieht nicht zuletzt aus der Erkenntnis heraus, dass aktuelle Umweltprobleme zumeist eine historische Dimension haben und die langfristigen, teilweise auch unbeabsichtigten Folgen menschlichen Handelns gegenüber der Umwelt nicht ohne historische Rückblende zu verstehen sind. Aufgrund ihres Entstehungskontextes stand die Umweltgeschichte von Anfang an in dem Dilemma, sich einerseits gegen politische Instrumentalisierungen wehren, andererseits aber die aktuelle Relevanz ihrer Forschungen herausstellen zu müssen, um überhaupt Aufmerksamkeit in der Öffentlichkeit zu erlangen. Im Gegensatz zur allgemeinen Geschichtswissenschaft, die sich im Hinblick auf ihren Anwendungsbezug vornehmlich als Orientierungswissenschaft versteht, ist der Anspruch der Umweltgeschichte wesentlich stärker auf eine öffentliche Aufklärung und politische Beratung aus-

1

HELMUT JÄGER, Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994, S. 4.

24

Manfred Jakubowski-Tiessen

gerichtet.2 Umweltgeschichte will „auch Informationen an eine interessierte Öffentlichkeit vermitteln. Sie wendet sich in Beratungsprozessen auch an politische Entscheidungsträger, an Industrie und Wirtschaft.“3 So formulieren Winiwarter und Knoll in ihrer Einführung in die Umweltgeschichte. Dass eine solche anwendungs- und aktualitätsbezogene Zielsetzung der Umweltgeschichte niemals zu einer Einbuße an wissenschaftlicher Unabhängigkeit führen und Umweltgeschichte keinesfalls zu einer Legitimationswissenschaft degenerieren darf, versteht sich von selbst.4 Denn umweltgeschichtliche Forschungen sollten zur Versachlichung von Debatten beitragen und möglichst jeden „falschen Ökoalarm“ entlarven.5 Erste umweltgeschichtliche Forschungen haben sich in Deutschland aus der Technikgeschichte heraus entwickelt. Noch lange wurde für eine enge Verkoppelung von Technikgeschichte und Umweltgeschichte plädiert.6 Dieses Plädoyer erklärt sich im Wesentlichen aus der Genese der historischen Umweltforschung, die sich in besonderer Weise zunächst den umweltbelastenden Technikfolgen der Industrialisierung widmete. Bei vielen Themen der Umweltgeschichte ist eine Verknüpfung von umwelt- und technikgeschichtlichen Aspekten zwar nach wie vor sinnvoll. Jedoch hat es sich gezeigt, dass man durch eine zu enge Ver2 3

4

5 6

Das zeigt beispielhaft die Einleitung des 1987 erschienenen Sammelbandes FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER / THOMAS ROMMELSPACHER (Hrsg.), Besiegte Natur. Geschichte der Umwelt im 19. und 20. Jahrhundert, München 1987, S. 6-19. VERENA WINIWARTER / MARTIN KNOLL, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 16; siehe ferner PATRICK MASIUS / OLE SPARENBERG / JANA SPRENGER (Hrsg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Göttingen 2009. Dass die Umweltgeschichte zur Aufrechterhaltung ihrer wissenschaftlichen Unabhängigkeit vermeiden müsse, sich als politische Interessenvertreterin zu positionieren, betont eindringlich BERND HERRMANN, Umweltgeschichte. Eine Einführung in Grundbegriffe, Berlin u. a. 2013, S. 9. Allerdings formuliert er auch, dass Umweltgeschichte „für sich wohl am ehesten in Anspruch nehmen“ dürfe, Lehren bereitzuhalten. „Lernverweigerung – hierüber wird Einvernehmen erreicht werden – können wir uns angesichts der drohenden ökologischen Endzeit nicht mehr erlauben. Bei Lichte besehen haben wir uns dies auch nie leisten können.“ BERND HERRMANN, Umweltgeschichte als Integration von Natur- und Kulturwissenschaften, in: GÜNTER BAYERL / NORMAN FUCHSLOCH / THORSTEN MEYER (Hrsg.), Umweltgeschichte. Methoden, Themen, Potentiale, Münster 1996, S. 21-30, hier S. 24. Siehe dazu FRANK UEKÖTTER / JENS HOHENSEE (Hrsg.), Wird Kassandra heiser? Die Geschichte falscher Ökoalarme, Stuttgart 2004. So etwa 1990 JOACHIM RADKAU, Umweltprobleme als Schlüssel zur Periodisierung der Technikgeschichte, in: Technikgeschichte 57, 1990, S. 345-361. Vgl. auch ULRICH TROITZSCH, Historische Umweltforschung: Einleitende Bemerkungen über Forschungsstand und Forschungsaufgaben, in: Technikgeschichte 48, 1981, S. 77-190. Verena Winiwarter sieht „die Umweltgeschichte als durchaus korrigierende Weiterentwicklung der klassischen Technikgeschichte“ an. VERENA WINIWARTER, Umweltgeschichte: Über die Wechselwirkungen zwischen Natur und Kultur, in: Klaudyan. Internetzeitschrift für historische Geographie und Umweltgeschichte 5, 2001, S. 1-18, hier S. 5.

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knüpfung dieser Disziplinen Gefahr läuft, nur Themen der späteren Neuzeit und der Zeitgeschichte aufzugreifen und einen Teil des enorm breiten Spektrums umweltgeschichtlicher Aspekte – besonders früherer Epochen – aus den Augen zu verlieren.7 Auch die Sozial- und Wirtschaftsgeschichte hat sich schließlich zunehmend umweltgeschichtlichen Themen gewidmet.8 Inzwischen haben sich auch andere historische Disziplinen für umweltgeschichtliche Fragen geöffnet.9 Es bleibt schließlich daran zu erinnern, dass es bereits vor der Umweltgeschichte eine historische Umweltforschung gegeben hat, wenn diese auch noch nicht unter dieser Bezeichnung fungierte. Die Entwicklung von Landschaften ist beispielsweise schon lange ein typisches Forschungsfeld der historischen Geographie sowie der Kultur- und Biogeographie gewesen.10 Auch haben die Agrar- und Forstwissenschaften durchaus Erkenntnisse zum MenschUmwelt-Verhältnis in früheren Gesellschaften beitragen können. Agrarische Produktionsweisen und Veränderungen von Landschaften stehen in einem engen Wechselverhältnis zueinander.

2.

Forschungsgegenstand der Umweltgeschichte

Dass eine neu entstehende historische Disziplin oder Teildisziplin sich möglichst früh über Methodik und Gegenstand ihrer Forschungen verständigen muss, liegt auf der Hand. So entstanden recht bald Debatten über Zielrichtung und Gegenstand umweltgeschichtlicher Forschung. Anfangs wurde besonders um die Frage gerungen, ob die Umweltgeschichte einem anthropozentrischen Ansatz oder einem biozentrischen, ökozentrischen oder holistischen Ansatz 7

Dies betont in ähnlicher Weise NILS FREYTAG, Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283, 2006, S. 383-407, hier S. 387. 8 Aus wirtschafts- und umweltgeschichtlicher Perspektive siehe zum Beispiel demnächst: MATTHIAS MUTZ, Umwelt als Ressource. Die sächsische Papierindustrie, 1850-1930, Göttingen 2013. 9 HOLGER SONNABEND, Naturkatastrophen in der Antike. Wahrnehmung – Deutung – Management, Stuttgart 1999; DERS., Katastrophen in der Antike, Darmstadt 2013; DERS., Mensch und Landschaft in der Antike, Stuttgart 1999. 10 Zu neueren Forschungen zur Landschaftsentwicklung aus historisch-geographischer sowie geo- und bioökologischer Sicht siehe HANS-RUDOLF BORK, Landschaftsentwicklung in Mitteleuropa: Wirkungen des Menschen auf Landschaften, Gotha u. a. 1998 und HANS JÖRG KÜSTER, Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 1999; DERS., Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft, München 2012; siehe ferner GÜNTER BAYERL / THORSTEN MEYER (Hrsg.), Die Veränderung der Kulturlandschaft. Nutzungen – Sichtweisen – Planungen, Münster 2003; FRANÇOIS WALTER, Les figures paysagères de la nation. Territoire et paysage en Europe (16e–20e siècle), Paris 2004; DAVID BLACKBOURN, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2007 (Engl.: The conquest of Nature. Water, Landscape and the Making of Modern Germany, London 2006).

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folgen solle. Während beim anthropozentrischen Ansatz entweder vom Eingebundensein des Menschen in die Natur bei einer gleichzeitigen Sonderstellung der menschlichen Existenz oder von einem Gegenüber von Mensch und Natur ausgegangen wird, bewerten die alternativen Ansätze den Menschen als Teil der Natur und stellen ihn auf eine Stufe mit anderen Lebewesen.11 Den jeweiligen Ansätzen und Zugängen entsprechend differieren auch die Vorstellungen darüber, wie Umweltgeschichte zu definieren sei.12 Nach längeren kontroversen Debatten hat sich schließlich eine allgemein tragfähige und pragmatische Definition herausgebildet: Umweltgeschichte erforscht die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur in der Vergangenheit.13 Diese Definition berücksichtigt, dass sowohl Veränderungen in der Gesellschaft als auch in der Umwelt Rückwirkungen auf das Mensch-Umwelt-Verhältnis haben können. Da wir aber hinter einen epistemischen Anthropozentrismus ohnehin nicht zurück können, ist es unvermeidlich, am anthropozentrischen Ansatz für Umweltgeschichte festzuhalten. Erst das Wissen, dass das Mensch-Umwelt-Verhältnis immer in eine politische und soziale Ordnung sowie in eine ökonomische und kulturelle Struktur eingebunden ist, ermöglicht es, den Umgang des Menschen mit der Natur hinreichend zu erklären. Das Spezifische der Umweltgeschichte besteht gerade darin, dass sie an der Schnittstelle von Kultur und Natur angesiedelt ist. Deshalb gilt es, gesellschaftliche Handlungspraktiken gegenüber Natur und Umwelt stets unter Berücksichtigung ihrer kulturellen Implikationen zu untersuchen. Wollen wir beispielsweise die Bewältigungsstrategien vormoderner Gesellschaften gegenüber Naturkatastrophen verstehen, so ist es notwendig, die epistemischen und handlungspraktischen Grenzen zu wissen, die von ihren jeweiligen Deutungsmustern für Naturkatastrophen gesetzt werden.

11 Meyer-Abich, der eine holistische Sichtweise vertritt, führt den Begriff der „Mitwelt“ ein, um die Gleichwertigkeit der Tiere und Pflanzen mit dem Menschen zum Ausdruck zu bringen. KLAUS MICHAEL MEYER-ABICH, Aufstand für die Natur: Von der Umwelt zur Mitwelt, München 1990. 12 Das zeigt zum Beispiel die Definition in dem Buch von WILLIAM BEINART / PETER COATES, Environment and History. The Taming of Nature in the USA and South Africa, London u. a. 1995, S. 1: ,,Environmental history deals with the various dialogues over time between people and the rest of nature, focusing on reciprocal impacts.” Der Mensch wird nach dieser Definition als ein Teil der Natur gesehen. Mit der Restnatur steht er handelnd und beobachtend bzw. bewertend in Wechselbeziehung. Die unterschiedlichen Definitionen von Umweltgeschichte haben, wie mir scheint, allerdings nur bedingt Auswirkungen auf die konkreten umweltgeschichtlichen Forschungen gehabt. 13 So bereits BERND HERRMANN, Vorwort, in: DERS. (Hrsg.), Umwelt in der Geschichte. Beiträge zur Umweltgeschichte, Göttingen 1989, S. 5. Diese Definition hat sich weitgehend durchgesetzt, vgl. etwa WOLFRAM SIEMANN / NILS FREYTAG, Umwelt – eine Geschichtswissenschaftliche Grundkategorie, in: WOLFRAM SIEMANN (Hrsg.), Umweltgeschichte. Themen und Perspektiven, München 2003, S. 7-20, hier S. 8.

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3.

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Themenfelder

Da die Umweltgeschichte ihre Fragestellungen zunächst aus Umweltproblemen der Gegenwart entwickelte, verwundert es nicht, dass erste umfangreichere umweltgeschichtliche Untersuchungen zur Luft- und Wasserverschmutzung und zur Energie- und Ressourcenfrage durchgeführt wurden.14 Die Industrialisierung, die mit der verbreiteten Nutzung fossiler Energien einherging, kann als das Staat und Gesellschaft wohl prägendste Ereignis im Übergang zur Moderne angesehen werden. Unter ökologischen Aspekten ist die industrielle Revolution nach John W. Benett die einzige universalgeschichtliche Revolution, die als ecological transition bezeichnet werden kann.15 Die Umweltgeschichte der 1980er und 1990er Jahre hatte sich geradezu zu einer reinen Verschmutzungsgeschichte entwickelt, zu einer Geschichte des steten Versagens.16 Dieses Niedergangsparadigma ist inzwischen obsolet, da es zu einseitig ist und gegenläufige Tendenzen unberücksichtigt lässt.17 Als der Umwelthistoriker Arne Andersen auf einer Tagung im Jahr 1993 nach seiner Konzeption von Umweltgeschichte gefragt wurde, definierte er in seiner Antwort zunächst, was Umweltgeschichte für ihn nicht bedeute: „Die Geschichte von Naturkatastrophen oder vom Klima.“18 Diese Antwort überrascht angesichts der Tatsache, dass gerade diese beiden Themenbereiche gegenwärtig die am intensivsten erforschten und in der Öffentlichkeit am stärksten wahrgenommenen Forschungsfelder der Umweltgeschichte darstellen. Andersen begründete seine entschiedene Position mit dem Postulat einer 14 Beispielhaft FRANZ-JOSEF BRÜGGEMEIER, Das unendliche Meer der Lüfte: Luftverschmutzung, Industrialisierung und Risikodebatten im 19. Jahrhundert, Essen 1996; DERS. / THOMAS ROMMELSBACHER, Blauer Himmel über der Ruhr: Geschichte der Umwelt im Ruhrgebiet 1840-1990, Essen 1992; FRANK UEKÖTTER, Von der Rauchplage zur ökologischen Revolution: eine Geschichte der Luftverschmutzung in Deutschland und den USA 1880-1970, Essen 2003; ANDREAS DIX, Industrialisierung und Wassernutzung: eine historisch-geographische Umweltgeschichte der Tuchfabrik Ludwig Müller in Kuchenheim, Bonn 1994; ROLF PETER SIEFERLE, Der unterirdische Wald. Energiekrise und Industrielle Revolution, München 1982. 15 JOHN W. BENETT, The ecological transition. Cultural Anthropology and Human Adaptation, New Brunswick 2009 (1. Aufl. 1976). 16 UEKÖTTER, Von der Rauchplage zur Ökologischen Revolution, S. 13. 17 JOACHIM RADKAU, Unausdiskutiertes in der Umweltgeschichte, in: MANFRED HETTLING (Hrsg.), Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. Hans-Ulrich Wehler zum 60. Geburtstag, München 1991, S. 44-57, hier S. 45. 18 ARNE ANDERSEN, Über das Schreiben von Umweltgeschichte, in: CHRISTIAN SIMON (Hrsg.), Umweltgeschichte heute: Neue Themen und Ansätze der Geschichtswissenschaft – Beiträge für die Umwelt-Wissenschaft, Helsinki 1993, S. 44-57, hier S. 44 f.; vgl. FRANZ MAUELSHAGEN, Keine Geschichte ohne Menschen. Die Erneuerung der historischen Klimawirkungsforschung aus der Klimakatastrophe, in: ANDRÈ KIRCHHOFER u. a. (Hrsg.), Nachhaltige Geschichte. Festschrift für Christian Pfister, Zürich 2009, S. 169-193.

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anthropozentrischen Geschichtsforschung: „Geschichte ist auch für mich als Umwelthistoriker immer die Geschichte der Menschen, ihrer Aktionen und Reaktionen, ihrer ideologischen Verarbeitungen von Wirklichkeit.“19 Diese Begründung für den Ausschluss der Klimageschichte und der Geschichte der Naturkatastrophen aus dem Kanon umweltgeschichtlicher Themenfelder muss den heutigen Umwelthistoriker erstaunen; zumal Andersen in seiner Begründung in nuce darlegt, worum es der heutigen Umweltgeschichte mit ihrem breiten Themenspektrum doch in besonderer Weise geht: zum einen das Eingreifen des Menschen in die Natur und die daraus resultierenden Folgen zu untersuchen und zum anderen die Reaktionen des Menschen auf natürliche Prozesse und Ereignisse in ihrem historischen Wandel zu erfassen. Andersen zeigt ein zu einseitiges Verständnis vom Mensch-Umwelt-Verhältnis und übersieht die kulturellen Implikationen und anthropogenen Komponenten, welche sich in der Geschichte der Naturkatstrophen20 und der Klimageschichte21 widerspiegeln. Mit der inhaltlichen und zeitlichen Ausweitung der umweltgeschichtlichen Themenfelder seit den 1990er Jahren hat sich die Blickrichtung der Untersuchungen erweitert. Viel stärker als vorher sind nunmehr neben den Handlungspraktiken auch die Wahrnehmungs- und Deutungsmuster von Umwelt und Natur in den Blick gekommen.22 Künftige Forschungen müssten m. E. anstreben, die korrelative Beziehung zwischen den kulturellen Voraussetzungen und den realgeschichtlichen Bedingungen menschlichen Handelns gegenüber der Natur noch intensiver zu beleuchten. Dabei wird es weniger darauf ankommen, sich an den „Ideen der großen Geister“ zu orientieren, sondern vielmehr zu untersuchen, welche Brechungen und Modifikationen derartige Ideen erfuh19 Ebd. 20 Siehe zum Beispiel MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSEN, Sturmflut 1717. Die Bewältigung einer Naturkatstrophe in der Frühen Neuzeit, München 1992; CHRISTIAN ROHR, Mensch und Naturkatastrophe. Tendenzen und Probleme einer mentalitätsbezogenen Umweltgeschichte des Mittelalters, in: SYLVIA HAHN / REINHOLD REITH (Hrsg.), UmweltGeschichte. Arbeitsfelder – Forschungsansätze – Perspektiven, Wien 2001, S. 13-31; FRANÇOIS WALTER, Katastrophen, eine Kulturgeschichte vom 16. bis ins 21. Jahrhundert, Stuttgart 2010. 21 WOLFGANG BEHRINGER, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007; FRANZ MAUELSHAGEN / CHRISTIAN PFISTER, Vom Klima zur Gesellschaft: Klimageschichte im 21. Jahrhundert, in: HARALD WELZER / HANSGEORG SOEFFNER / DANA GIESECKE (Hrsg.), KlimaKulturen. Soziale Wirklichkeiten im Klimawandel, Frankfurt a. M. 2010, S. 241-269; WOLFGANG BEHRINGER / HARTMUT LEHMANN / CHRISTIAN PFISTER (Hrsg.), Kulturelle Konsequenzen der „Kleinen Eiszeit“, Göttingen 2005; FRANZ MAUELSHAGEN, Klimageschichte der Neuzeit, Darmstadt 2010; ferner NICO STEHR / HANS VON STORCH, Klima, Wetter, Mensch, München 1999. 22 Zur historischen Umweltwahrnehmung siehe das jüngst erschienene Buch von MARTIN KNOLL, Die Natur der menschlichen Welt. Siedlung, Territorium und Umwelt in der historisch-topografischen Literatur der Frühen Neuzeit, Bielefeld 2013; instruktiv auch hinsichtlich der Wahrnehmungs- und Deutungsebene von Natur FRANÇOIS WALTER, Bedrohliche und bedrohte Natur. Umweltgeschichte der Schweiz seit 1800, Zürich 1996.

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ren, bevor sie die Ebene der breiten Bevölkerung erreichten, und welche Wirkungen sie dort entfalteten. Radkau hat völlig zu Recht betont: „Zwischen den Höhenflügen der Geistesgeschichte und den konkreten Fallstudien, zwischen dem alttestamentlichen Dominium-terrae-Gebot und der Wupperverschmutzung um 1890 fehlt immer noch die mittlere Ebene.“23 Entscheidend für den Umgang mit der Umwelt waren alltägliche Vorstellungen und Gewohnheiten, die es zu erhellen gilt. Ebenso sind jene Reizschwellen zu ermitteln, welche Umweltprobleme in der Wahrnehmung der Zeitgenossen überhaupt akut werden ließen.

4.

Natur und Kultur: die umweltgeschichtliche Perspektive

Neben der symbolischen und wahrnehmungsgeschichtlichen Ebene haben wir es bei der Erforschung von Naturverhältnissen auch immer mit einer materiellen Dimension zu tun. Natur ist nicht nur Konstrukt, sondern auch materiell fassbar und kann mit den theoretischen Mitteln der Naturwissenschaften beschrieben werden. Frühere Umweltbedingungen lassen sich deshalb nur in Zusammenarbeit mit naturwissenschaftlichen Disziplinen rekonstruieren. Als Umwelthistoriker(in) muss man sich aber bewusst sein, dass auch naturwissenschaftliche Forschungserkenntnisse stets kritisch zu rezipieren sind, weil auch deren Ergebnisse durch kulturelle und gesellschaftliche Rahmenbedingungen mit beeinflusst werden. Wir bleiben jedoch darauf verwiesen, „Natur als ein objektiv Vorgegebenes und als ein kulturell Konzeptioniertes zugleich denken zu müssen“, betont Ludwig Fischer.24 „Aber je entschiedener man in das Begreifen von Natur die Deutungen unserer sozialen Wirklichkeit hineinragen sieht, desto dringlicher wird das reflexive Einholen dieser Art des Begreifens. Und es sei noch einmal betont: Dies gilt für die wissenschaftliche Erkenntnis nicht weniger als für das ‚Alltagsverständnis‘“.25

23 RADKAU, Unausdiskutiertes, S. 48. 24 LUDWIG FISCHER, Einleitung, in: DERS. (Hrsg.), Projektionsfläche Natur. Zum Zusammenhang von Naturbildern und gesellschaftlichen Verhältnissen, Hamburg 2004, S. 11-28, hier S. 15; ferner ROLF PETER SIEFERLE / HELGA BREUNINGER (Hrsg.), NaturBilder, Wahrnehmungen von Natur und Umwelt in der Geschichte, Frankfurt a. M. u. a. 1999. 25 FISCHER, Einleitung, S. 18. Es ist keineswegs nur eine Frage der Geistes- und Ideengeschichte, was in unterschiedlichen gesellschaftlichen Kontexten unter ‚Natur‘ zu verstehen ist, wie Winiwarter meint, sondern eine durchaus zentrale Frage der Umweltgeschichte, weil diese auch die Ebene der Handlungspraktiken gegenüber der Natur betrifft. WINIWARTER, Umweltgeschichte, S. 5.

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Eine signifikante Schnittstelle zwischen Natur und Kultur bildet beispielsweise die Geschichte der Naturkatastrophen.26 Ein natürliches Extremereignis – wie zum Beispiel ein Erdbeben – stellt an sich noch keine Naturkatastrophe dar. Naturwissenschaftlich erhobene Daten und Fakten allein können somit noch keine ausreichende Grundlage bilden, um ein Naturereignis als Katastrophe zu charakterisieren. Erst wenn die Lebenswelten der Menschen in erheblichen Maße betroffen sind und die Gesellschaft ein Erdbeben, eine Sturmflut oder einen Vulkanausbruch als einen Extremfall ihrer Erfahrung wahrnimmt, kann von Naturkatastrophe gesprochen werden. Die naturwissenschaftlich ermittelten Fakten über die Genese und Intensität einer Katastrophe wie auch die aus überlieferten Quellen eruierten Daten über Opfer und Schäden können als Indizien dafür gelten, welches Maß an Zerstörung in einem bestimmten gesellschaftlichen und kulturellen Kontext vorliegen muss, damit eine Gesellschaft ein extremes Naturereignis als Katastrophe deutet. Insofern bleibt auch unter kulturgeschichtlicher Perspektive eine Berücksichtigung quantifizierbarer Faktoren von Gewicht. Vorgänge in der Natur sollten also erst zu einem Thema der Umweltgeschichte werden, wenn sie einen Bezug zu den Menschen und ihren gesellschaftlichen Verhältnissen aufweisen. Das bedeutet, dass Umweltgeschichte zum einen bemüht sein sollte, die jeweiligen zeitgenössischen Umweltbedingungen, soweit diese für das Mensch-Umwelt-Verhältnis relevant sind, zu erfassen und zum anderen „die zeitgenössischen umweltwirksamen Normen, Handlungen und Handlungsfolgen“ zu analysieren.27 Natur darf dabei keineswegs als statisches Gegenüber des Menschen verstanden werden. Vielmehr ist die Natur selbst stets dynamisch und unterliegt – auch ohne anthropogene Einwirkungen – ständigem Wandel. Wie die historische Klimatologie zum Beispiel gezeigt hat, ist das Klima im Laufe der Jahrhunderte starken natürlichen Schwankungen unterworfen, was u. a. zu berücksichtigen ist, wenn wir nach den anthropogenen Einflüssen auf das Wetter infolge der fortschreitenden Industrialisierung fragen.

5.

Teildisziplin der Geschichtswissenschaft

In der Geschichtswissenschaft hat sich die Umweltgeschichte inzwischen einen festen Platz erkämpft. Ein deutliches Zeichen dieser Entwicklung ist die Tatsache, dass sich in der renommierten Reihe „Enzyklopädie Deutscher Geschichte“ allein zwei Bände der Umweltgeschichte widmen. Reinhold Reith hat den

26 SUSANNA M. HOFFMAN / ANTHONY OLIVER-SMITH (Hrsg.), Catastrophe & Culture. The Anthropology of Disaster, Santa Fe u. a. 2002; GREG BANKOFF / GEORG FRERKS / DOROTHEA HILHORST (Hrsg.), Mapping Vulnerability. Disasters, Development, and People, London 2004. 27 HERRMANN, Umweltgeschichte, S. 6.

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Band über die Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit28 verfasst und Frank Uekötter den entsprechenden Band für das 19. und 20. Jahrhundert.29 Als ein weiteres Indiz der zunehmenden Integration der Umweltgeschichte in die deutsche Geschichtswissenschaft sind sicher auch die ersten beiden, auf Deutsch vorliegenden Einführungen in die Umweltgeschichte zu werten, die 2007 von Winiwarter und Knoll und 2013 von Bernd Herrmann30 publiziert wurden. Die Veröffentlichung solcher einführenden Bücher macht nur Sinn, wenn man auf eine aufnahmebereite Leserschaft hoffen darf. In geschichtswissenschaftlichen Handbüchern und Überblicksdarstellungen haben umweltgeschichtliche Forschungen dagegen bisher nur vereinzelt Eingang gefunden, so etwa in dem von Christoph Dipper bereits 1991 publizierten Buch über die deutsche Geschichte vom Dreißigjährigen Krieg bis zur Französischen Revolution.31 Das erste Kapitel dieser Überblicksdarstellung ist umweltgeschichtlichen Aspekten gewidmet („Die Herrschaft der Natur. Die Aneignung der Umwelt in der Frühen Neuzeit“). Ebenso hat Paul Münch in seiner 1999 verfassten Darstellung über die Geschichte des 17. Jahrhunderts verschiedene umweltgeschichtliche Themen aufgegriffen. Er behandelt klimageschichtliche Aspekte, Naturkatastrophen, Hungerkrisen, Eingriffe in Natur und Landschaft und schließlich auch das Mensch-Tier-Verhältnis.32 Vorbildlich wird die Umweltgeschichte in dem 2009 von Jürgen Osterhammel publizierten monumentalen Werk über das 19. Jahrhundert integriert. Er habe in seinem Buch kein eigenes Kapitel über Umweltgeschichte verfasst, so Osterhammel, weil zum einen die Forschungslage für das 19. Jahrhundert noch recht ungünstig sei und zum anderen ‚Umwelt‘ und ‚Natur‘ „nahezu allgegenwärtige und oft prägende Faktoren“ seien.33 Deshalb werden umweltgeschichtliche Themen nicht isoliert, sondern jeweils in ihren historischen Kontexten behandelt. So finden sich beispielsweise in dem Kapitel „Risiken und Sicherheiten materieller Existenz“ einzelne Abschnitte über den Kampf gegen die Pocken34, über Naturkatastrophen35 und Hungersnöte:36 Außerdem werden dem „Siedlungskolonialismus“37 und der „Natureroberung“38 jeweilige Abschnitte in dem 28 REINHOLD REITH, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit (EDG 89), München 2011. 29 FRANK UEKÖTTER, Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts (EDG 81), München 2007. 30 BERND HERRMANN, Umweltgeschichte. Eine Einführung in Grundbegriffe, Berlin u. a. 2013. 31 CHRISTOPH DIPPER, Deutsche Geschichte 1648-1789, Frankfurt a. M. 1991. 32 PAUL MÜNCH, Das Jahrhundert des Zwiespalts. Deutsche Geschichte 1600-1700, Stuttgart u. a. 1999. 33 JÜRGEN OSTERHAMMEL, Die Verwandlung der Welt. Eine Geschichte des 19. Jahrhunderts, München 2009, S. 541. 34 Ebd., S. 271 f. 35 Ebd., S. 294-297. 36 Ebd., S. 300-314. 37 Ebd., S. 539-591.

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großen Kapitel „Frontiers: Unterwerfung des Raumes und Angriff auf nomadisches Leben“ gewidmet. Auch an weiteren Stellen nimmt Osterhammel Bezug auf umweltgeschichtliche Aspekte, die er stets mit politischen, sozialen, ökonomischen und kulturellen Faktoren zu verknüpfen versteht. In diesem Werk Osterhammels wird weitgehend umgesetzt, was Wolfram Siemann und Nils Freytag etwa eine Dekade zuvor gefordert haben: Umwelt als vierte geschichtswissenschaftliche Grundkategorie gleichberechtigt neben Herrschaft, Wirtschaft und Kultur zu stellen.39 Im Wesentlichen sind es vier Argumente, die sie zur Begründung anführen: 1. Es sei eine biologische Grundkonstante für den Menschen, auf die Natur angewiesen zu sein.40 2. Herrschaft und Umwelt seien auf vielfältige Weise miteinander verbunden. Zu denken wäre zum Beispiel an die Verfügungsmacht über die lebensnotwendigen Ressourcen Wasser, Boden und Holz.41 3. Auch sprächen die engen Wechselwirkungen mit der Grundkategorie Wirtschaft dafür, „der Umwelt den Rang einer historischen Grundkategorie beizumessen“.42 Hingewiesen wird u. a. auf die Notwendigkeit einer konstanten Energieversorgung, welche erst eine wirtschaftliche Prosperität ermögliche. 4. Und schließlich sei die Umwelt auf vielfältige Weise mit der Grundkategorie Kultur verflochten.43 In der Tat sollte Umwelt als bestimmender Faktor gesellschaftlicher Entwicklungen noch stärker als bisher als Grundkategorie geschichtswissenschaftlicher Forschungen begriffen werden. Umweltgeschichte kann durch neue Fragestellungen die bisher üblichen Kategorien Herrschaft, Wirtschaft und Kultur ergänzen und zugleich neues Licht auf deren multiple Verflechtungen werfen. Unter umweltgeschichtlicher Perspektive lassen sich zudem mikro- und makrohistorische Ansätze hervorragend verbinden. Umweltgeschichtliche Fragestellungen führen nicht allein über disziplinäre, sondern auch über nationale Grenzen hinaus. Sie eignen sich somit in besonderer Weise für komparatistische, transnationale und globale Untersuchungen.

6.

Institutionalisierung der Umweltgeschichte

Die zunehmende Rezeption umweltgeschichtlicher Forschungen in der Geschichtswissenschaft korreliert jedoch in keiner Weise mit einer Institutionalisierung der Umweltgeschichte an deutschen Universitäten. In den Siebziger- und Achtzigerjahren des 20. Jahrhunderts wurde Umweltgeschichte vor allem in Ar38 39 40 41

Ebd., S. 541-564. SIEMANN / FREYTAG, Umwelt. Ebd., S. 13. Siemann und Freytag (S. 14) weisen in diesem Zusammenhang darauf hin, dass Joachim Radkau seiner Weltgeschichte der Umwelt den Titel „Natur und Macht“ gegeben habe. 42 Ebd., S. 16. 43 Ebd., S. 17.

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beitsgruppen und auf Workshops am Rande der Geschichtswissenschaft diskutiert und auf dieser Ebene inhaltlich und methodisch vorangetrieben. Im universitären Raum entstanden – wie erwähnt – erste Arbeiten zur Umweltgeschichte an Lehrstühlen für Technikgeschichte wie etwa bei Ulrich Troitzsch in Hamburg und Günter Bayerl in Cottbus. Bayerl startete die wissenschaftliche Reihe „Cottbusser Studien zur Technik, Arbeit und Umwelt“ im Jahr 1996 mit einem Band zur Umweltgeschichte.44 Inzwischen sind in dieser Reihe etliche Bücher zur Umweltgeschichte erschienen.45 Über die Technikgeschichte kam auch Joachim Radkau zur Umweltgeschichte. Radkau, zweifelsohne einer der wichtigsten Protagonisten der Umweltgeschichte in Deutschland, hatte von 1980 bis 2009 den Lehrstuhl für Neuere Geschichte an der Universität Bielefeld inne. Zum inhaltlichen Schwerpunkt seiner Forschungen und Publikationen wurde neben der Technikgeschichte, der er sich seit den 1970er Jahren immer stärker zuwandte, schließlich die globale Umweltgeschichte.46 Die erste Professur für Umweltgeschichte in Deutschland wurde an der Universität Hannover eingerichtet und nach dem Weggang ihres Inhabers, Franz-Josef Brüggemeier, wieder abgeschafft. Brüggemeier hat auf seinem Freiburger Lehrstuhl für Sozial-, Wirtschafts- und Umweltgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts weiterhin Themen der Umweltgeschichte in Lehre und Forschung bearbeitet, vor allem aber Drittmittelprojekte und Dissertationen auf diesem Gebiet betreut.47 An der Universität Darmstadt besteht seit einiger Zeit der Masterstudiengang „Geschichte – Umwelt – Stadt“.48 Dieser Studiengang basiert im Wesentlichen auf 44 GÜNTER BAYERL / NORMAN FUCHSLOCH / TORSTEN MEYER (Hrsg.), Umweltgeschichte. Methoden, Themen. Potentiale, Münster 1996. 45 Zum Beispiel: MANUELA ARMENAT, Die „vollkommende“ Ausbildung der Schwarzen Elster. Eine multidimensionale Studie zur Wasserwirtschaft und zum Kulturlandschaftswandel 1800-1945, 2012; KNUT KAISER u. a. (Hrsg.), Historische Perspektiven auf Wasserhaushalt und Wassernutzung in Mitteleuropa, 2012; MARCUS STIPPAK, Beharrliche Provisorien. Städtische Wasserversorgung und Wasserentsorgung in Darmstadt 18691889, 2010; MARCUS POPPLOW (Hrsg.), Landschaften Agrarisch-Ökonomischen Wissens. Strategien innovativer Ressourcennutzung in Zeitschriften und Sozietäten des 18. Jahrhunderts, 2010; WOLFGANG E. HÜPER, Asbest in der Moderne. Industrielle Produktion, Verarbeitung, Verbot, Substitution und Entsorgung, 2008; GÜNTER BAYERL / TORSTEN MEYER (Hrsg.), Die Veränderung der Kulturlandschaft. Nutzungen – Sichtweisen – Planungen, 2003; SUSANNE KÖSTERING / RENATE RÜB (Hrsg.), Müll von gestern? Eine umweltgeschichtliche Erkundung in Berlin und Brandenburg, 2003; PETER MICHAEL STEINSIEK, Nachhaltigkeit auf Zeit. Waldschutz im Westharz vor 1800, 1999; BERND HERRMANN, „Nun blüht es von End‘ zu end‘ allüberall“. Die Eindeichung des NiederOderbruches 1747-1753, 1997. 46 Die zuletzt erschienenen großen Werke zur Umweltgeschichte sind die Bände: Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2000; Die Ära der Ökologie. Eine Weltgeschichte, München 2011. 47 Zum Beispiel das DFG-Projekt Waldsterben „Und ewig sterben die Wälder…“. Siehe unter http://www.waldsterben.uni-freiburg.de/. 48 Ab dem Wintersemester 2013/14 geht der Studiengang in den Studiengang „Technik – Umwelt – Stadt“ ein.

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dem Forschungsschwerpunkt ‚Stadt- und Umweltgeschichte‘ des Lehrstuhls für Neuere Geschichte.49 Eine Juniorprofessur für Umweltgeschichte wurde vor einigen Jahren an der Universität Bochum neu eingerichtet.50 Einen wichtigen Impuls bekam die Institutionalisierung der Umweltgeschichte in Deutschland durch die Einrichtung des von der DFG geförderten Graduiertenkollegs „Interdisziplinäre Umweltgeschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa“ an der Universität Göttingen im Jahr 2004.51 In diesem Graduiertenkolleg, das naturwissenschaftliche und geschichtswissenschaftliche Ansätze zu verbinden sucht, sind bisher Forschungen und Publikationen zu folgenden Themenbereichen entstanden: Raumnutzung und Raumerfahrung im Mittelalter52, Umweltgeschichte des Waldes53, Naturkatastrophen54, Schädlingsbekämpfung und Viehseuchen im 18. Jahrhundert55, Missernten und Hungerkrisen in der Frühen Neuzeit56, Überschwemmungska49 Den Lehrstuhl hat seit 2004 Prof. Dr. Dieter Schott inne. 50 Inhaber der Juniorprofessur ist PD Dr. Cornel Zwierlein. 51 Siehe unter http://www.anthro.uni-goettingen.de/gk/; Initiator dieses Graduiertenkollegs war Bernd Herrmann, ebenfalls einer der Pioniere der Umweltgeschichte in Deutschland. Vgl. BERND HERRMANN / CHRISTINE DAHLKE (Hrsg.), Elements – continents: approaches to determinants of environmental history and their reifications, Stuttgart 2009. Siehe ferner die im Rahmen des Graduiertenkollegs bisher erschienenen vier Bände „Schauplätze der Umweltgeschichte“ und die „Beiträge zum Göttinger Umweltgeschichtlichen Kolloquium“. 52 JENS POTSCHKA, Wasser und Gewässer auf dem Gebiet der Elbslaven: eine semantische Analyse von Wahrnehmungs- und Deutungsmustern mittelalterlicher Autoren, Göttingen 2011. 53 RICHARD HÖLZL, Umkämpfte Wälder: Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760-1860, Frankfurt a. M. 2010; AXEL BADER, Wald und Krieg: wie sich in Kriegs- und Krisenzeiten die Waldbewirtschaftung veränderte. Die deutsche Forstwirtschaft im Ersten Weltkrieg, Göttingen 1011. 54 PATRICK MASIUS / JANA SPRENGER / EVA MACKOWIAK (Hrsg.), Katastrophen machen Geschichte – Umweltgeschichtliche Prozesse im Spannungsfeld von Ressourcennutzung und Extremereignis, Göttingen 2010; PATRICK MASIUS, Risiko und Chance: Naturkatastrophen im Deutschen Kaiserreich (1871-1918). Eine umweltgeschichtliche Betrachtung, Göttingen 2010. 55 STEFFI WINDELEN, Mäuse, Maden, Maulwürfe. Zur Thematisierung von Ungeziefer im 18. Jahrhundert, Göttingen 2010; JANA SPRENGER, „Die Landplage des Raupenfraßes“. Wahrnehmung, Schaden und Bekämpfung von Insekten in der Forst- und Agrarwirtschaft des preußischen Brandenburgs (1700-1850), Quedlinburg 2011; DOMINIK HÜNNIGER, Die Viehseuche von 1744-52. Deutungen und Herrschaftspraxis in Krisenzeiten, Neumünster 2011; CARSTEN STÜHRING, Der Seuche begegnen. Deutung und Bewältigung von Rinderseuchen im Kurfürstentum Bayern des 18. Jahrhunderts, Frankfurt a. M. 2011; KATHARINA ENGELKEN / DOMINIK HÜNNIGER / STEFFI WINDELEN (Hrsg.), Beten. Impfen, Sammeln. Zur Viehseuchen- und Schädlingsbekämpfung in der Frühen Neuzeit, Göttingen 2007. 56 DOMINIK COLLET / THORE LASSEN / ANSGAR SCHANBACHER (Hrsg.), Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf soziale und klimatische Vulnerabilität, Göttingen 2012.

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tastrophen und Wasserbaumaßnahmen im deutschen Raum57, Landschaftswandel in der Neuzeit58 sowie Forschungen zu Umweltvorstellungen und Naturkonzepten.59 Ein internationales Zentrum für Umweltgeschichte ist im Jahr 2009 mit dem „Rachel Carson Center“ in München entstanden, eine vom Bundesministerium für Bildung und Forschung im Rahmen der Käte Hamburger Kollegs finanzierte Einrichtung.60 Dieses zunächst für sechs Jahre geförderte Kolleg hat sich in kurzer Zeit zu einer der wichtigsten Forschungs- und Tagungsstätten der internationalen Umweltgeschichte entwickelt. In Zusammenarbeit mit der LudwigMaximilians-Universität wurde ein Doktorandenprogramm zum Thema „Umwelt und Gesellschaft“ aufgelegt.61 Die Umweltgeschichte hat in Deutschland somit in gewissem Maße auch institutionell einen Aufschwung erfahren, allerdings ist dieser vor allem auf die beiden durch Drittmittel finanzierten Kollegs in Göttingen und München zurückzuführen. Lehrstühle mit der ausschließlichen Denomination ‚Umweltgeschichte‘ gibt es derzeit nicht, und selbst Professuren mit dem zusätzlichen Schwerpunkt ‚Umweltgeschichte‘ sind nach wie vor eine Rarität an deutschen Universitäten. Alles in allem kann allerdings konstatiert werden, dass die noch 2006 von Jens Ivo Engels geäußerte Kritik „am bedauerlichen Desinteresse“ an umwelt57 WIEBKE BEBEMEIER / ANNA-SARAH HENNIG / MATTHIAS MUTZ (Hrsg.), Vom Wasser. Umweltgeschichtliche Perspektiven auf Konflikte, Risiken und Nutzungsformen, Siegburg 2008; WIEBLE BEBERMEIER, Wasserbauliche Maßnahmen in Norddeutschland und ihre Folgen: von den ungünstigen Wasserverhältnissen an der Hunte (1766-2007), Göttingen 2008; ARMENAT, Die „vollkommende“ Ausbildung der Schwarzen Elster. 58 JESSICA PREUTENBORBECK, Landnutzungswandel und Biodiversität: eine historisch ökologische Analyse am Beispiel des Naturraumes Göttinger Wald, Diss. Göttingen 2009; ULRIKE ANDERS / LINDA SZÜCS (Hrsg.), Landnutzungswandel in Mitteleuropa. Forschungsgegenstand und methodische Annäherung an die historische Landschaftsanalyse, Göttingen 2012. 59 LARS KREYE/ CARSTEN STÜHRING / TANJA ZWINGELBERG (Hrsg.), Natur als Grenzerfahrung. Europäische Perspektiven der Mensch-Natur-Beziehung in Mittelalter und Neuzeit, Göttingen 2009; MAREN ERMISCH / ULRIKE KRUSE / URTE STOBBE (Hrsg.), Ökologische Transformationen und literarische Repräsentationen, Göttingen 2010; ULRIKE KRUSE, Der Natur-Diskurs in der Hausväterliteratur und volksaufklärerischen Schriften: vom späten 16. bis zum frühen 19. Jahrhundert, Bremen 2013; TANJA ZWINGELBERG, Medizinische Topographien, städtebauliche Entwicklungen und die Gesundheit der Einwohner urbaner Räume im 18. und 19. Jahrhundert, Göttingen 2013. 60 Siehe unter http://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/index.html. Siehe die „RCC Perspektives“, 2010-2013, bes. Issue 1: CHRISTOF MAUCH / HELMUTH TRISCHLER, „International Environmental History; Nature as a Cultural Challenge” und Issue 2: CHRISTOF MAUCH, „Das neue Rachel Carson Center in München oder was heißt und zu welchem Ende betreibt man Weltumweltgeschichte?“. 61 Zu den Inhalten der einzelnen Promotionsvorhaben siehe BERND HERRMANN / CHRISTOF MAUCH (Hrsg.), From Exploitation to Sustainability? Global Perspektives on the History and Future of Resource Depletion, Stuttgart 2013, S. 169-194.

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geschichtlichen Untersuchungen, die sich nicht zuletzt auch in der Zurückhaltung bei Aufnahme umweltgeschichtlicher Bücher in den Kanon der Zeitgeschichte äußere, zwar heute so nicht mehr zu halten ist.62 Eine dauerhafte Institutionalisierung der Umweltgeschichte in der deutschen Wissenschaftslandschaft bleibt aber weiterhin ein dringliches Desiderat.

62 JENS IVO ENGELS, Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13, 2006, S. 32-38, hier S. 32.

B E R N D -S T E F A N G R E W E

Umweltgeschichte unterrichten: Für eine kritische Auseinandersetzung mit umwelthistorischen Denkmustern1 1.

Umweltgeschichte – muss das sein?

Die ersten Reaktionen einer 11. Klasse auf das angekündigte Thema „Umweltgeschichte“ war ein unüberhörbares Stöhnen: “Umwelt – keinen Bock!” – „Nicht schon wieder!“ – „Diese Öko-Themen sind doch langweilig und öde.“ – Diese und ähnliche Statements kann man erhalten, wenn man im Geschichtsunterricht das Thema „Umwelt“ ankündigt. Das überrascht, gehören doch nach Ansicht der meisten Europäer die Umweltprobleme zu den dringendsten Fragen der Gegenwart. Trotzdem waren meine SchülerInnen alles andere als begeistert. Weshalb hielten sie so wenig von diesem Thema? Interessierten sie sich für Umwelt nicht oder war das Thema für sie nicht relevant? Woher kamen die Vorurteile gegen das Umweltthema? In der Folgezeit habe ich immer wieder (oft in Vertretungsstunden und nach Unterrichtsbesuchen) auch mit anderen Schulklassen darüber gesprochen und nach dem Hintergrund für die ablehnende Haltung vieler SchülerInnen gefragt. Drei Ursachen lassen sich nach diesen Gesprächen herausschälen: Erstens reagierte ein beträchtlicher Teil der SchülerInnen genervt auf Lehrende, die sie hinter vorgehaltener Hand abwertend als „Öko“ oder „Stricksocke“ bezeichneten. Sie meinten damit einen bestimmten Lehrertyp, der das Umweltthema für das Allerwichtigste hält und seine ganze Lebensweise an Umweltaspekten ausrichtet. Anhänger der Alternativ-Bewegung haben seit den 1970er Jahren die drohende Zerstörung der natürlichen Umwelt zu einem politischen Thema gemacht. Für viele wurden „Umwelt“ und „Natur“ dabei sogar zu einer Art „Ersatzreligion“. „Natur“ und das „Natürliche“ wurden dabei regelrecht sakralisiert und daraus ein eigenes, geschlossenes Wertesystem abgeleitet. Das bot eine moralisch eindeutige Richtschnur für die meisten Lebensbereiche: Autofahren ist schlecht; Fahrrad und Bahnfahren sind gut; McDonald’s ist schlecht; Bio-Obst ist gut; Steaks und Pommes Frites sind schlecht; Tofu und Müsli sind gut; Plastiktüten sind schlecht; Stofftaschen gut; usw. In vielen skandinavischen und deutschsprachigen LehrerInnenzimmern war dieser LehrerInnentyp bis zur letzten Pensionierungswelle noch häufig anzutreffen. Als geschlossenes Milieu ist diese Umweltbewegung inzwischen auf dem Rückzug 1

Dieser Beitrag ist eine überarbeitete und erheblich erweiterte Fassung eines inzwischen gelöschten Internetbeitrags „Umweltgeschichte unterrichten“. Es handelte sich um eine ergänzende Handreichung zu: UTE GRONWOLDT (Red.), Recycling, Bonn 2006.

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begriffen. Das liegt vor allem daran, dass die meisten ihrer Werte heute auf einen breiten gesellschaftlichen Konsens stoßen, wenn auch nicht in ihrer ursprünglichen Radikalität. Inzwischen haben sehr viele Bürger, die sich selbst nie als „Ökos“ oder „Alternative“ bezeichnen würden, ein ausgeprägtes Umweltbewusstsein. Ob beim Kauf von Lebensmitteln oder bei der Wahl von Verkehrsmitteln fließen ökologische Kriterien inzwischen weitaus häufiger in die Entscheidung ein als etwa noch vor 20 Jahren. Keine deutsche Partei verzichtet in ihrem Programm auf eine ausführliche Positionierung zum Thema Umweltpolitik, wenngleich sich beim näheren Vergleich deutliche Unterschiede im Verständnis dessen zeigen, was sie jeweils unter „Umweltpolitik“ verstehen.2 Neue Wirtschaftsbranchen entstanden wie etwa die Wind- und die Solarenergie, die sich auf den nachhaltigen Umgang mit natürlichen Ressourcen spezialisiert haben. Dass Umweltthemen in den verschiedenen Unterrichtsfächern inzwischen inhaltlich verankert sind, ist ebenfalls ein unbestreitbarer Verdienst der Umweltbewegung. Kein Rahmenlehrplan verzichtet auf das Thema „Umwelterziehung“. Doch wenn SchülerInnen die „Ökos“ ablehnen, darf dies nicht mit einer grundsätzlichen Ablehnung der von ihnen vertretenen Umweltwerte verwechselt werden. Zum einen stand hinter dieser Ablehnung oft auch ein Generationenkonflikt, der in der deutlichen Abgrenzung neu heranwachsender Generationen auf die Ideale und Stile ihrer Vorgänger begründet war. Zum anderen waren einige „Ökos“ so überzeugt von der Richtigkeit ihrer Anliegen, dass sie gegensätzliche Sichtweisen nur schwer oder nicht tolerieren konnten. Gerade von thematisch interessierten Lehrenden werden Umweltthemen deshalb oft moralisiert und nicht offen diskutiert. Das erwartete Ergebnis einer ‚Diskussion‘ steht im Grunde von Anfang an fest. Zweitens führt diese mangelnde Offenheit oft zu einem für viele SchülerInnen unerträglichen Unterrichtsstil. Diesen Stil kann man als ‚Betroffenheitspädagogik‘ bezeichnen.3 Die Lehrperson bringt den Lernenden ein bestimmtes Thema nahe, indem sie Betroffenheit erzeugt, oft unter Verwendung entsprechend emotionalisierender Bilder oder Texte. Kurzfristig werden die SchülerInnen mit einer dramatischen Realität konfrontiert, die sie zu einer – meist von Anfang an in eine bestimmte Richtung tendierenden – Stellungnahme heraus2

3

Siehe die Parteiprogramme der im Bundestag vertretenen Parteien. Die Unterschiede zeigen sich insbesondere bei den Themen Atomkraft und Klimawandel, Energiewende und Verkehrspolitik. Diese sind leicht im Internet zugänglich und stellen in der Sekundarstufe II ein hervorragendes Material für eine vergleichende Textarbeit dar (im Politikunterricht oder zur abschließenden Herstellung eines Gegenwartsbezugs am Ende einer umwelthistorischen Unterrichtsreihe). Gerade Themen wie die Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus und der Shoa, aber auch der Verteilung von Armut und Reichtum zwischen den industrialisierten Gesellschaften des Nordens und dem globalen Süden laden angesichts der damit verbundenen menschlichen Dramen zu solchen Betroffenheitseinstiegen oder entsprechenden Materialien ein.

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fordert. Sie haben in ihren Antworten keine echte Wahl, oft existiert keine Möglichkeit zu einem abweichenden Werturteil. Im Allgemeinen lernen SchülerInnen sehr schnell, in ihren Antworten auf die Erwartungshaltung ihrer Lehrerin oder ihres Lehrers zu reagieren, und wissen genau, welche Unterrichtsbeiträge positiv bewertet werden. Stereotype und vorhersagbare Wortmeldungen sind die Folge. Langeweile droht. Andere Lernende, die weniger auf allgemeinen Konsens und die mögliche Erwartung der Lehrperson konditioniert sind, gehen in eine innere oder äußere Opposition. Sie fühlen sich manipuliert oder unterfordert, opponieren oder ziehen sich zurück. Manche Frustration engagierter LehrerInnen über in einer „derart wichtigen Frage“ uneinsichtige oder uninteressierte Schülerschaft, mancher Schock über die „Ansichten“ einer nachwachsenden Generation hat hier möglicherweise ihre Ursache. Man kann sich deshalb fragen, ob die teilweise zu beobachtende Oppositionshaltung tatsächlich ein Aufbegehren gegen die Werte der erziehenden Generation bedeutet. Ist es nicht eher die Forderung nach Spielräumen und nach geistiger Autonomie, um ein eigenes, nicht als implizite Erwartung bereits vorgezeichnetes Urteil entwickeln zu dürfen? Drittens ist das Thema „Umwelt“ im Geschichtsunterricht nicht isoliert von seiner Behandlung in anderen Fächern zu betrachten.4 Umweltaspekte sind inzwischen zu Lerninhalten in den meisten Fächern geworden: Ob in Geographie oder in Gemeinschaftskunde (Sozialkunde, Politik), ob in Biologie und Chemie oder in Religion und Ethik, ob in Deutsch oder im Fremdsprachenunterricht – kaum ein Unterrichtswerk verzichtet auf Umweltthemen. Kein Wunder, wenn Schüler auf die Ankündigung eines Umweltthemas mit einem gestöhnten „Nicht schon wieder“ reagieren! Deshalb sind folgende Fragen berechtigt: Muss denn das Umweltthema dann auch noch im Geschichtsunterricht behandelt werden? Oder droht hier möglicherweise ein „Overkill“, der Abwehrmechanismen statt einer ernsthaften Auseinandersetzung mit dem Thema auslöst?5 An dieser Stelle könnte man die üblichen Rechtfertigungsformeln zur Legitimierung des Themas „Umwelt“ und zu seiner Gegenwarts- und Zukunftsrele4

5

Vgl. auch BODO VON BORRIES, Wie vermittelt man Umweltgeschichte in der Schule?, in: PATRICK MASIUS / OLE SPARENBERG / JANA SPRENGER (Hrsg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Rezeption einer jungen Disziplin, Göttingen 2009, S. 241-258. (Dort auch Hinweise auf weitere Publikationen von Bodo von Borries zur Umweltgeschichte in der Schule). Die meisten geschichtsdidaktischen Publikationen zur Umweltgeschichte stellen diese Frage nicht explizit, sondern gehen von der Gegenwartsrelevanz des Themas aus. Vgl. BODO VON BORRIES, Umweltgeschichte. Vergessene Einsichten und neuartige Herausforderungen, in: Geschichte lernen 1, 1988, S. 8-13; JÖRG CALLIEß / JÖRN RÜSEN / MEINFRIED STRIEGNITZ (Hrsg.), Mensch und Umwelt in der Geschichte, Pfaffenweiler 1989; ALFRED KOTTER, Umweltgeschichte, in: WALTRAUD SCHREIBER (Hrsg.), Erste Begegnungen mit Geschichte. Grundlagen historischen Lernens, Teilbd. 2, Neuried 1999, S. 847-863; CHRISTOPH KÜHBERGER, Umweltgeschichte im Unterricht, in: Historische Sozialkunde 2, 2008, S. 37-40.

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vanz wiederholen. Das würde aber nicht deutlich machen, worin der Mehrwert seiner Behandlung durch das Fach Geschichte liegen könnte. Zunächst sollte also kurz beleuchtet werden, was der Geschichtsunterricht für dieses Thema leisten kann und worin sein spezifischer Beitrag zu einer Umwelterziehung liegen könnte. Im Vergleich zu anderen Fächern hat eine Behandlung von Umweltthemen im Geschichtsunterricht mehrere Vorteile: Erstens schafft der zeitliche Abstand eine kritische Distanz zum Gegenstand, so dass aus Beurteilungen einer historischen Situation nicht automatisch Verhaltenserwartungen für die Gegenwart erwachsen. Die Vergangenheit ist nicht mehr veränderbar (nur ihre Interpretation). Wenn die SchülerInnen nach der historischen Analyse eigene Werturteile entwickeln, hat dies keine unmittelbaren Konsequenzen für ihr – in vielen Unterrichtssituationen zumindest implizit gefordertes – Handeln in der Gegenwart. Dies begünstigt eine unvoreingenommene Haltung (auch der engagierten Lehrperson) gegenüber dem studierten Gegenstand.6 Zweitens schafft die Auseinandersetzung mit der Vergangenheit eine wichtige Orientierung in der Gegenwart. Langfristige Entwicklungen, die auch in die Zukunft weisen können, werden sichtbar und verstanden. Die Gegenwart erscheint dann nicht mehr als ein Zustand, der mitunter lähmend wirken kann, sondern als etwas Gewordenes, d. h. etwas das sich verändert hat und damit grundsätzlich gestaltbar ist.7 Drittens kann sich das Fach Geschichte nicht auf die Vermittlung von Daten und Fakten aus der eigenen Nationalgeschichte beschränken, wenn es Lernenden ein tiefergehendes Verständnis der Gegenwart vermitteln will.8 Die Auswahl der Unterrichtsthemen kann nicht allein auf der Basis einer historischen Tradition geschehen, in die man sich stellen möchte. Seit der geschichtsdidaktischen Wende der 1970er Jahre ist dies Konsens in der Geschichtsdidaktik, auch wenn sie sich in den letzten beiden Jahrzehnten viel stärker auf Methodenfragen und eine Kompetenzdebatte konzentriert hat, als Kriterien für die Auswahl der Themen für den Geschichtsunterricht zu entwickeln oder Entwürfe für ein

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Genau dies ist das Problem etwa des Kapitels „Umwelt hat Geschichte“ in: Entdecken und Verstehen 3, Berlin 2009, S. 214-219. Hier sind die für einzelne Unterrichtsstunden vorgesehenen Themen bereits eindeutig überschrieben: „Lösungsversuche: Was können wir tun?“, „Global denken – lokal handeln“. Hier geht es um die wichtige geschichtsdidaktische Dimension des Historizitätsbewusstseins, das gerade hinsichtlich gegenwartsbezogener Schlüsselprobleme wichtige Einsichten vermittelt, vor allem aber politisch motivierend wirken kann. Die grundsätzliche Veränderbarkeit auch scheinbar zementierter Strukturen ist eine der wichtigsten Grundeinsichten, die Lernende im Geschichtsunterricht erwerben können. Vgl. BERND-STEFAN GREWE, Mensch und Umwelt. Ein alternatives Leitmotiv für eine global orientierte Geschichtsbildung, in: SUSANNE POPP / JOHANNA FORSTER (Hrsg.), Curriculum Weltgeschichte. Globale Zugänge für den Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2008, S. 270-291.

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neues Curriculum vorzulegen.9 Niemand in der Geschichtsdidaktik würde heute den Standpunkt vertreten, dass man gerade bei Schlüsselfragen der Gegenwart (Umweltfragen sind Überlebensfragen) auf eine historische Orientierung verzichten sollte. Die Stoffauswahl im Fach Geschichte dient nicht nur dem kulturellen Gedächtnis einer Gesellschaft, sie muss sich auch an den Schlüsselproblemen der Gegenwart orientieren und historisches Wissen zu diesen Schlüsselproblemen vermitteln. Sonst bleibt Geschichtsunterricht ein nur konservierendes, museales Projekt. Viertens vermittelt die Umweltgeschichte ein Verständnis dafür, wie Wertewandel, politische Umbrüche, wirtschaftliches Handeln, materielle Sorgen und technische Möglichkeiten den Umgang vergangener Gesellschaften mit der Natur beeinflussten. Hierbei kann die Einsicht vermittelt werden, warum rein technische Lösungen für die Umweltprobleme nicht ausreichen. Wirtschaftliche, soziale, politische, kulturelle und ökologische Faktoren beeinflussten den Umgang einer Gesellschaft mit ihrer Umwelt. Erst die variantenreiche Kombination dieser Faktoren prägte das Verhältnis zur Umwelt. Diese Einsicht kann Geschichte besser als manche andere Fächer vermitteln.10 Fünftens hinterfragt das Fach Geschichte historische Vorurteile und Mythen. Implizit werden bei der Behandlung von Umweltthemen in der Schule auch Geschichtsbilder transportiert, die ein idealisiertes Bild der Vergangenheit entwerfen. Im gesellschaftlichen Bewusstsein existiert heute ein Bild der vorindustriellen Zeit als eine Art Gegenmodell zum Industriezeitalter mit seinen massiven Umweltzerstörungen. Naturvölker werden idealisiert, ihr Umgang mit der natürlichen Umwelt gilt als schonend, vorgestellt als ein Leben „im Einklang mit der Natur“. Nur wenigen LehrerInnen ist bewusst, wie stark Richtlinien, Schulbücher und andere Unterrichtsmaterialien solche stereotypen Denkmuster11 transportieren und damit im Grunde die Entwicklung eines reflektierten Ge9

Zwar gibt es inzwischen einzelne Vorschläge, etwa zur stärken Berücksichtigung des interkulturellen Lernens oder der Weltgeschichte, diese stellen jedoch nur Erweiterungen bestehender Curricula dar. Bezeichnenderweise sind die beiden letzten, umfassenderen Vorschläge für neue Curricula wenig diskutiert worden. Vgl. BODO VON BORRIES, Überlegungen zu einem doppelten chronologischen Durchgang im Geschichtsunterricht der Sekundarstufe I, in: GWU 52, 2001, S. 76-90; GERHARD SCHNEIDER, Neue Inhalte für ein altes Unterrichtsfach. Überlegungen zu einem alternativen Curriculum Geschichte in der Sekundarstufe I, in: MARKO DEMANTOWSKY / BERND SCHÖNEMANN (Hrsg.), Neue geschichtsdidaktische Positionen, Bochum 2002, S. 119-141. Kritisch auch: HANSJÜRGEN PANDEL, Geschichtsunterricht nach PISA. Kompetenzen, Bildungsstandards und Kerncurricula, Schwalbach/Ts. 2005. 10 Wobei diese Interdependenz der Dimensionen Politik, Gesellschaft, Wirtschaft und Kultur natürlich keine Besonderheit der Umweltgeschichte ist, sondern diese Form ihres Zusammendenkens ganz allgemein eine der spezifischen Charakterzüge und Stärken des Geschichtsunterrichts ist. 11 An dieser Stelle bevorzuge ich den Begriff des „Denkmusters“ gegenüber dem hier ebenfalls verwendbaren Begriff „Narrativ“, weil „Denkmuster“ die damit verbundene inhaltliche Beschränkung des historischen Denkens viel stärker zum Ausdruck bringt.

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schichtsbewusstseins eher untergraben als fördern. Im nächsten Abschnitt soll deshalb versucht werden, einige dieser typischen und weitverbreiteten Denkmuster aufzuspüren und damit Probleme der bisherigen Behandlung des Themas Umwelt im Geschichtsunterricht zu identifizieren.

2.

Fallstricke der Umweltgeschichte

Umweltgeschichte befasst sich mit den Beziehungen zwischen Menschen und dem Rest der Natur. Bereits lange, bevor sich eine wissenschaftliche Richtung explizit mit der Umwelt befasste, gab es Historiker, die diese Beziehung zum Bestandteil ihrer Analyse machten. Nicht erst die französischen AnnalesHistoriker um Fernand Braudel und Emmanuel Le Roy Ladurie bemühten sich um historische Erklärungen, die beispielsweise die Bodenbeschaffenheit, die geographische Lage an Gewässern oder in Gebirgen, die daraus resultierenden Verkehrsmöglichkeiten, die vorhandenen Bodenschätze, das Klima und seine möglichen gesundheitlichen Auswirkungen berücksichtigten.12 Schon im 5. Jahrhundert vor unserer Zeitrechnung beschrieb Herodot Ägypten als ein „Geschenk des Nils“. In dieser Tradition historischer Erklärungen führen bestimmte Naturbedingungen entweder direkt zur Ausprägung einer bestimmten Kultur oder sie engen den Entfaltungsraum einer Kultur sehr stark ein. Man kann dieses Denkmuster „von der Natur zur Kultur“ auch als „geographischen“ oder „naturalistischen Materialismus“ (Rolf-Peter Sieferle) bezeichnen.13 Es lässt sich unreflektiert in vielen Schulbüchern (und im Geschichtsunterricht) noch finden. Das klassische, auf die Herodotquelle zurückgehende Beispiel ist die Nilschwemme. Vielfach wird die Herausbildung der ägyptischen „Hochkultur“, des ägyptischen Staates, seiner Herrschaftsform und seiner arbeitsteiligen Gesellschaftsform als eine unmittelbare Reaktion auf das jährliche Nilhochwasser dargestellt.14 Man kann sich allerdings fragen, ob sich stattdessen nicht auch eine stärker genossenschaftlich organisierte, ebenfalls arbeitsteilige Gesellschaft hätte herausbilden können. Dieses Denkmuster tritt bei der Behandlung von Umweltgeschichte in der Neuzeit deutlich zurück. Im späten 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts galt die „Industrielle Revolution“ den meisten Historikern als ein entscheidender und triumphaler Fortschritt des Abendlandes. Sie feierten das wirtschaftliche Wachstum und die „Emanzipation der Menschen von der organi12 Vgl. FERNAND BRAUDEL, Das Mittelmeer und die mediterrane Welt in der Epoche Philipps II., 3 Bde., Frankfurt a. M. 1990 (frz. 1949); DERS., Sozialgeschichte des 15.-18. Jahrhunderts, 3 Bde., München 1985-86; EMMANUEL LE ROY LADURIE, Histoire du clima depuis l’an mil, Paris 1967. 13 ROLF PETER SIEFERLE, Die Grenzen der Umweltgeschichte, in: GAIA 2, 1993, S. 8-21. 14 Vgl. stellvertretend für fast alle Geschichtslehrwerke der Sekundarstufe I: Geschichte und Geschehen 1/2, Ausgabe C (Rheinland-Pfalz/Saarland), Leipzig 1996, S. 46.

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schen Natur, an deren Schranken er bisher gebunden war“.15 In den Jahrzehnten nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Industrialisierungsprozess zwar immer weniger positiv bewertet, doch dieses zweite umwelthistorische Denkmuster hat sich erhalten: Es wird nach den Wirkungen von Kultur auf Natur gefragt. Nicht mehr die Natur prägt das Handeln der Gesellschaften, sondern die Kultur drückt der Natur ihren Stempel auf. In den Geschichtsbüchern für den Unterricht tritt uns dieses Denkmuster beispielsweise mit folgenden Themen entgegen: „Wie veränderten die Griechen ihre Umwelt?“16, „Klöster prägen die Umwelt“17. Diese beiden Denkmuster („von der Natur auf Kultur“ und „von der Kultur auf Natur“) schließen sich übrigens nicht gegenseitig aus, da vormoderne Gesellschaften weiterhin als stärker den ‚Launen der Natur‘ ausgeliefert gelten. Bezeichnenderweise werden Unterrichtsthemen, die sich mit den Wirkungen von Kultur auf Natur befassen eher mit jenen früheren Gesellschaften (griechische Polis, römisches Reich) verbunden, in deren Kulturtradition sich westliche Gesellschaften bis heute stellen. Wie bereits der wertende Begriff der „Hochkultur“ birgt dies eine implizite Gefahr, die Kulturleistungen anderer Gesellschaften gering zu schätzen, die in außereuropäischen Kontexten andere Formen der Interaktion mit dem Rest der Natur haben („Sammler und Jäger“, Nomaden). „Umweltgeschichte“ unter dieser Selbstbezeichnung tauchte in Europa erstmals in den 1970er Jahren auf. Auch die frühen Umwelthistoriker fragten nach der Wirkung von Kultur auf Natur. Einerseits suchten sie nach Vorläufern aktueller Umweltprobleme (Luftverschmutzung, Gewässerverunreinigung, Erosion, Müll, Energieknappheit), andererseits nach früheren Formen des Umweltund Ressourcenmanagements. Man kann dieses Denkmuster auch als „umwelthygienischen Ansatz“ bezeichnen.18 Dieser enthält meist normative Vorstellungen von einer heilen und gesunden Natur oder eines harmonischen Gleichgewichts, das durch menschliches Eingreifen gestört wird. Viele der Arbeiten des umwelthygienischen Ansatzes erzählen die Geschichte der Menschheit als eine Dauerkrise der Mensch-Natur-Beziehung, deren Intensität zunahm. Bei vielen Lesern entstand der Eindruck, als handele es sich bei den Umweltproblemen um eine anthropologische Konstante der Geschichte, als sei alles schon einmal da gewesen. Auch dieses ältere, umwelthistorische Klischee begegnet uns in den Lehrwerken für den Geschichtsunterricht: „Auf den Spuren der Römer: Umweltprobleme – ein alter Hut“19. 15 FRANZ SCHNABEL, Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert, Bd. 3: Erfahrungswissenschaften und Technik, München 1950, S. 246 f. 16 Entdecken und Verstehen 1 (NRW), Berlin 2012, S. 104 f. Vgl. „Antikes Griechenland. Wahlseite „Technik und Umwelt“ in: Geschichte Real 1 (NRW), Berlin, S. 96 (und S. 123: „Das römische Weltreich: Wahlseite: Technik und Umwelt“). 17 Zeiten und Menschen 5 (Baden-Württemberg), Paderborn 2008, S. 87-93. 18 SIEFERLE, Grenzen der Umweltgeschichte. 19 Entdecken und Verstehen 1 (Geschichte/Politik an Hauptschulen in NRW), Berlin 2005, S. 98.

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Demgegenüber erkennt einer der Pioniere der deutschen Umweltgeschichte, Joachim Radkau, eine andere Kontinuität. Seiner Ansicht nach besteht das Kontinuum darin, dass die Lösung von Ressourcen- und Umweltproblemen immer wieder neue Umweltprobleme zur Folge hatte.20 Diese originelle Überlegung bietet einen Ansatzpunkt für die chronologische und thematische Gliederung von Umweltgeschichte als einer Geschichte der Energiesysteme, doch blendet sie damit andere interessante Zugänge zur Umweltgeschichte aus, die Radkau selbst in anderen Werken erschlossen hat. Problematisch an der frühen Umweltgeschichte und am umwelthygienischen Denkmuster sind die dabei vermittelten Dichotomien, die insbesondere bei Konfliktstudien zutage treten. Hier ist immer wieder zu beobachten, wie die sozialen Akteure in ‚Betroffene‘ und ‚Leidtragende‘ einerseits und in ‚Täter‘ und ‚Profiteure‘ andererseits eingeteilt werden. Dabei kann man an gängige Klischees und Protestmuster der Umweltbewegung anknüpfen: Industrielle, Großkapitalisten und weiße Kolonisten spielen hier die Rolle der Bösewichte, vergiftete Arbeiterfamilien, hungernde Fischer und Indianer geben die Opfer bzw. die Helden. Aus diesem Grund ist auch der didaktische Vorschlag neu zu überdenken, inwieweit es sinnvoll ist, Umweltgeschichte vor allem durch das Studium von Umweltkonflikten zu vermitteln. Es besteht hierbei ein latentes Risiko, Klischees und Vorurteile zu verstärken, statt sie kritisch zu überprüfen.21 Die Umweltgeschichte hat sich im zurückliegenden Jahrzehnt von vielen anfangs unkritisch übernommenen Denkmustern verabschiedet und sich als ein interdisziplinärer Forschungszweig mit einem stark ausgeprägten Methodenbewusstsein etabliert. Zumindest für europäische Umwelthistoriker gilt, dass sie Natur und Kultur nur noch in Ausnahmefällen als Gegensatz begreifen und zwischen ihnen eindeutige Verursachungslinien unterstellen.22 Umwelthistorische Untersuchungen haben beispielsweise gezeigt, dass die Entwicklung der natürlichen Umwelt selbst in abgelegenen, scheinbar unberührten Gegenden sehr eng mit der jeweiligen Kultur verwoben ist. Dabei wird der ältere geographische Begriff der „Kulturlandschaft“ mit neuen Inhalten gefüllt. UmwelthistorikerInnen anderer Kontinente übernehmen hingegen diese Einsicht erst langsam. Sie konzipieren Umweltgeschichte oft noch als Gegensatz zwischen einer menschlichen Zivilisation und der ‚Wildnis‘. Insbesondere bei der Untersuchung kolonialer Kontexte ist dieses Denkmuster noch weitverbreitet. Die Kolonisierung ansässiger Völker und die Kolonisierung der Natur werden dabei parallelisiert. Die Intensität einer wirtschaftlichen Nutzung durch die Kolonisten wird 20 JOACHIM RADKAU, Fortschritt und Umwelt, in: Praxis Geschichte 6, 2012, S. 4-9. 21 Material zur Behandlung von historischen Umweltkonflikten in: Politik & Unterricht 4, 1995: „Umweltkonflikte in der Geschichte“. 22 Vgl. die neueren und empfehlenswerten Einführungen in die Umweltgeschichte: MARTIN KNOLL / VERENA WINIWARTER, Umweltgeschichte, Köln 2007; FRANK UEKÖTTER, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007; REINHOLD REITH, Umweltgeschichte der Frühen Neuzeit, München 2011.

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dabei zum alleinigen Maßstab, die Prägung einer natürlichen Umwelt durch vorkoloniale Gesellschaften damit abgewertet oder übersehen. Lange wurde ignoriert, wie beispielsweise Indianer bestimmte Beutetiere ausrotteten oder Gewässer überfischten. Selbst scheinbar primitive Jäger- und Sammlergesellschaften nahmen entscheidenden Einfluss auf die Zusammensetzung von Flora und Fauna, lebten gewissermaßen in einer „Kulturlandschaft“ und nicht nur in einer „ökologischen Nische“.23 Wer allerdings ihre Einflussnahme auf Umwelt mit jener der Kolonisten vergleichen will, muss offenlegen, welche Wertmaßstäbe er dabei anlegt. Das bietet reichlich Diskussionsstoff: Ist das Urbarmachen von Waldflächen eine Naturzerstörung oder eine zivilisatorische Leistung? Kann man das „Leben im Einklang“ mit der Natur positiv bewerten, wenn einige Jäger- und Sammlergruppen ihre Säuglinge töteten, wenn die Nahrungsgrundlage knapp wurde?24 Die hier vorgestellten Denkmuster prägen unsere Vorstellungen der Mensch-Umwelt-Beziehung in der Vergangenheit. Die meisten Lernenden und Lehrenden haben sich wahrscheinlich noch nicht aktiv mit diesen Mustern beschäftigt und ihr eigenes Vorverständnis reflektiert. Der umwelthygienische Ansatz war in den letzten Jahren dominant: Wenn Umweltgeschichte im Unterricht vermittelt werden soll, denken die meisten Lehrenden als erstes an die Umweltfolgen der Industrialisierung.25 Damit möchte ich keineswegs die fundamentale Bedeutung der Industrialisierung für den Umgang mit der natürlichen Umwelt in Frage stellen, sondern auf die prägende Wirkung unreflektierter Denkmuster auch für die Auswahl der Unterrichtsgegenstände aufmerksam machen. Sie verstellen mitunter den Blick auf die tatsächliche Bandbreite umwelthistorischer Themen für den Geschichtsunterricht. Auf der anderen Seite liegt gerade in diesen vorgeblichen Fallstricken der Umweltgeschichte eine große Chance für den Geschichtsunterricht.

3.

Umweltgeschichte im Unterricht – lohnende Perspektiven

Wenn SchulexpertenInnen und WissenschaftlerInnen über die Frage umwelthistorischer Bildung in der Schule debattieren, werden meist drei Möglichkeiten diskutiert: (a) Umweltgeschichte als eine Erweiterung des bestehenden Lehrplans um umwelthistorische Inhalte, (b) als Form des Projektunterrichts oder (c) 23 Stellvertretend die Arbeiten von STEPHEN J. PYNE, Fire in America. A Cultural History of Wildland and Rural Fire, Seattle 1997; DERS., Burning Bush. A Fire History of Australia, Seattle 1998. 24 Eine herausragende Sammlung dieser und weiterer kontroverser Umweltthemen bietet: JOACHIM RADKAU, Mensch und Natur in der Geschichte, Leipzig 2002. 25 So auch die Verknüpfung der Themen in den entsprechenden Sonderheften der Lehrerzeitschriften Geschichte Lernen (4, 1988 „Umweltgeschichte“) und Praxis Geschichte (4, 1997 „Mensch und Umwelt“; 6, 2012 „Industrialisierung und Umwelt“).

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als grundsätzliche Gleichberechtigung der ökologischen Dimension mit den politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Dimensionen der Geschichte. Umweltgeschichte fristet in neueren Schulbüchern allenfalls ein Schattendasein. Damit ist nicht gemeint, dass die Beziehung Mensch-Natur in den Büchern nicht auftaucht, sondern dass wie beim bereits erwähnten Beispiel der Nilschwemme bestimmte Denkmuster transportiert werden, ohne sie für eine bewusste historische Umweltbildung zu nutzen. Die Absicht, Umweltgeschichte zu vermitteln, beschränkt sich oft auf die Behandlung der Industrialisierung und folgt einem typisch umwelthygienischen Ansatz.26 In anderen Schulbüchern findet sich Umweltgeschichte geradezu symbolisch an den Rand gedrängt, wenn sie unvermittelt als „Exkurs“ auftaucht oder in den Anhang verbannt ist.27 Hier spiegelt sich ein grundlegendes Problem der Erweiterung bestehender Lehrpläne (Curricula) und damit auch der Schulbücher: Wie können umwelthistorische Inhalte noch in den ohnehin meist überfüllten Lehrplan integriert werden? Was soll dafür wegfallen? Eine weitere Ausdehnung der Stofffülle wird zu Recht von den meisten Lehrenden abgelehnt. SchulbuchautorInnen umgehen Antworten auf diese Fragen eben durch solche Exkurse und machen den Lehrenden damit ein Angebot, das aber unverbindlich bleibt. Die wachsende Bedeutung einer historischen Umweltbildung ist den meisten LehrplanmacherInnen und auch den Kulturbehörden bereits bewusst, sie engagieren sich für die Berücksichtigung der Umweltgeschichte, wollen dabei aber niemanden vor den Kopf stoßen. Besonders in den skandinavischen Ländern wird in der Schule die Methode des Projektunterrichts oft und erfolgreich praktiziert. Das entdeckende Lernen bewirkt eine oft sehr große Motivation der SchülerInnen. Stärker als im normalen Unterricht entfalten sie eigene Fragestellungen und tragen selbst die Verantwortung für ihren Lernerfolg. In einer anderen Klasse waren gerade diejenigen meiner SchülerInnen, die am lautesten über das Umweltthema geklagt hatten, nun mit größtem Eifer bei der Sache. Auch die im Learners’ Guide No. 6 26 Z. B.: Geschichte und Geschehen 3, Leipzig 2005, S. 130-132: „Industrialisierung und soziale Frage. Folgen für die Umwelt“; Forum Geschichte 3 (Baden-Württemberg), Berlin 2006, S. 98 f.: „Im Blickpunkt: Industrie und Umwelt – eine Beziehung mit Risiko“; Geschichte erleben 4, Bamberg 2007, S. 17 f.: „Schattenseiten des Fortschritts: Umweltbelastungen“; Kursbuch Geschichte (Oberstufe Baden-Württemberg), Berlin 2002, S. 72-78: „Folgen der Industrialisierung für die Umwelt, die Beispiele Urbanisierung und Umweltgefährdungen“; Kurshefte Geschichte: Industrielle Revolution und Moderne um 1900. Handreichungen für den Unterricht, Berlin 2001, S. 147-161: „Ökologische Herausforderungen der Industriegesellschaft“; Entdecken und Verstehen 3, Berlin 2012, S. 258-260: „Industrialisierung und Umwelt“; Spurensuche Geschichte 3, Stuttgart 1992, S. 86-89: „Industriechancen und Altlasten – Das Beispiel der ehemaligen Kokerei Schaumburg unter umweltgeschichtlichen Aspekten“. 27 Vgl. Entdecken und Verstehen 1 (Realschule NRW), Berlin 2006‚ S. 162-179: „Von der Urgeschichte bis zum Ende des römischen Reiches: Umwelt hat Geschichte“.

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„Learning from Environmental History in the Baltic Countries“ vorgestellten Projekte zeugen vom großen Engagement und der Begeisterung von Lernenden (und Lehrenden).28 Unstrittig ist die Projektmethode deshalb besonders motivierend, weil sie die Neugier der Lernenden weckt und dabei so offen ist, dass sie ihren selbst entwickelten Fragestellungen nachgehen können. Fast alle machten dabei die Erfahrung, dass die erzielten Lernerfolge weitaus nachhaltiger und umfassender waren als ein von der Lehrkraft gesteuerter Unterricht.29 Trotzdem kann und darf sich Umweltgeschichte nicht auf den Projektunterricht beschränken. Wie in anderen Situationen auch kann er eine nachhaltige Wirkung gerade in der Verstärkung bereits bestehender Umweltklischees oder der geschilderten Denkmuster haben. Wenn Projekte die Umweltgeschichte der eigenen Lebenswelt erforschen, etwa die Geschichte der Wasserversorgung oder inzwischen stillgelegter Industriebetriebe, besteht ein Risiko, dass die ermittelten Kausalbeziehungen wieder die gängigen Muster und eine zwar materialreiche, doch oberflächliche und klischeebelastete Erzählung produzieren.30 Es ist deshalb unbedingt nötig, dass diese Klischees und typischen Denkmuster den SchülerInnen transparent sind. Die Lehrkräfte müssen sie in die Lage versetzen, dass sie selbst derartige Muster erkennen und eigenständig komplexere Erklärungen entwickeln können. Lernende benötigen dafür ein entsprechendes intellektuelles Werkzeug. Vor einer Beschränkung der Umweltgeschichte ausschließlich auf den Projektunterricht ist noch aus einem anderen Grund dringend zu warnen: Dann droht eine Verbannung in besondere Lernsituationen, eine Marginalisierung der umwelthistorischen Inhalte statt eine umwelthistorischen Bildung, die Orientierungshilfen für eine komplexe Gegenwart liefert. Eine historisch fundierte Umweltbildung, die diesen Namen verdient, kann also nur dann erreicht werden, wenn Umweltfragen nicht länger in die Peripherie des Geschichtsunterrichts verlagert werden, sondern zu einem Kernbereich historischer Bildung werden. Umwelt als Kernbereich historischer Bildung – wie hat man sich das vorzustellen? Die Prämisse lautet, dass die ökologische Dimension der Geschichte genauso relevant ist wie ihre politische, wirtschaftliche, soziale oder kulturelle Dimension. Jede dieser fünf Dimensionen ist mit den anderen eng vernetzt. 28 THE BALTIC SEA PROJECT (Hrsg.), Learning from Environmental History in the Baltic Countries, Learners’ Guide No. 6, Stockholm 2004. 29 Ein Wegweiser zu umwelthistorischen Quellen in Niedersachsen: PETER-MICHAEL STEINSIEK / JOHANNES LAUFER, Quellen zur Umweltgeschichte in Niedersachsen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Ein thematischer Wegweiser durch die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs, Göttingen 2012. 30 Vgl. dazu die Ergebnisse des Schülerwettbewerbs „Umwelt hat Geschichte“ von 1986/87. (Begleitmaterial: KÖRBER-STIFTUNG (Hrsg.), Umwelt hat Geschichte, Hamburg 1988). – Dass es auch anders geht, beweisen die Schulprojekte des Zentrums für Umweltgeschichte in Wien, siehe unter http://www.umweltgeschichte.uniklu.ac.at/ index,3563,Sparkling+Science+++%22Unsere+Umwelt+hat+Geschichte%22.html [01.06.2013].

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Fast alle HistorikerInnen würden protestieren, wenn man die Französische Revolution etwa nur politikgeschichtlich erklären wollte. Sofort würden sie auf die ungelösten wirtschaftlichen und sozialen Probleme Frankreichs in den 1780er Jahren und in kultureller Hinsicht auf die europäische Aufklärung verweisen. Es ist heute undenkbar, die politische Geschichte ohne ihre Verknüpfung mit der wirtschaftlichen Entwicklung zu behandeln, ohne sie mit den gesellschaftlichen Ungleichheiten als einer wichtigen Grundlage der Herrschaftsausübung und dem kulturellen Selbstverständnis einer Gesellschaft zu verbinden. Ohne den Rückbezug auf die anderen Dimensionen lassen sich weder politische Ereignisse, wirtschaftliche oder soziale Veränderungen, noch ein kultureller Bruch verstehen und erklären. Das gilt in gleichem Maße für die ökologische Dimension. Sie ist für die Geschichte von gleicher Bedeutung wie die anderen, im historischen Denken fest verankerten Dimensionen: Dass epochale politische Ereignisse wie Kriege oder Revolutionen in aller Regel gewaltige und über Generationen erfahrbare Veränderungen im Umgang mit der Natur mit sich brachten, wird schon nach kurzem Nachdenken klar. Das gilt sowohl für die Russische Revolution und die damit einhergehenden Veränderungen der Landwirtschaft, als auch für den Stalinismus mit seinen menschenverachtenden Großprojekten (Kanal- und andere gigantische Wasserbauten), für die Eroberungen eines Cortez’ mit den verheerenden Seuchen, die bis zu 90 Prozent der amerikanischen Ureinwohner töteten; das gilt aber auch für die bis heute fast unbewohnbaren Landschaften, die der Grabenkrieg 1914-1918 oder die Napalmbomben in Vietnam hinterlassen haben; aber auch für die Massenmigrationen von germanischen und slawischen Völkern im Frühmittelalter; und für die oft imitierte Landschaftsarchitektur von Ludwig XIV. in Versailles. Stets hatten politische Ereignisse und Entscheidungen erheblichen Einfluss auf die Umwelt. Den meisten HistorikerInnen und LehrerInnen ist aber weniger bewusst, dass die Herrschaftsfrage seit der Antike in vielen Fällen sehr eng mit der Kontrolle über zentrale natürliche Ressourcen einer Epoche verbunden war. Ökologische Fragen waren in vielen Fällen ein zentrales, manchmal sogar das wichtigste Feld politischer Betätigung, ob bei der Entscheidung über Nutzung und Verteilung knappen Wassers oder hinsichtlich der politischen Kontrolle über den Wald mit der Schlüsselressource Holz.31 Die soziale Dimension ist ähnlich eng mit der ökologischen Dimension verbunden, was nicht nur für Agrargesellschaften gilt. Veränderungen der natürlichen Umwelt haben oft starke soziale Veränderungen nach sich gezogen, ob als Folge von Klimaverschiebungen, Natur- oder Umweltkatastrophen, ob durch Abholzung oder Überweidung, durch Fischerei oder Waldrodung. Umgekehrt haben die großen sozialen Veränderungen wie Übergänge von einer feudalen zu einer bürgerlichen, bzw. sozialistischen Gesellschaft weit reichende 31 Vgl. JOACHIM RADKAU, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2002.

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Umweltfolgen, weil sich dadurch der Umgang mit den natürlichen Ressourcen (Boden, Wasser, Tiere, Wald, Bodenschätze) entscheidend verändern konnte. Es existieren bislang kaum umwelthistorische Studien zur Frage, ob es einen grundlegenden Zusammenhang der Entwicklung von Armut und Umwelt gibt.32 Dass die Entwicklung von Wirtschaft und Umwelt in einem engen kausalen Zusammenhang stehen, ist heute ein Gemeinplatz. Das Klischee besagt, dass hauptsächlich ökonomische Interessen für die Nutzung der Natur und deren negative Folgen verantwortlich sind. Die Bedeutung der anderen Dimensionen wird dabei oft übersehen: politische Vorgaben, Sozialstruktur, kulturelle Muster und die spezifischen Eigenschaften eines bestimmten Ökosystems prägen Entwicklungen entscheidend mit. Gerade die vorindustrielle Wirtschaft war stark auf natürliche Ressourcen wie Wasserkraft und Holz zur Brennenergie angewiesen. Die Knappheit dieser natürlichen Ressourcen begrenzte für Jahrhunderte die Ausdehnung der wirtschaftlichen Produktion in Europa.33 Aber auch die Deutung der Natur, die Religion und die Tabus einer Gesellschaft sind für die Entwicklung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses von großer Bedeutung. Man muss nur an die Folgen veränderter Heiratsgewohnheiten oder der Geburtenkontrolle für die Bevölkerungsentwicklung als einen zentralen Umweltfaktor denken.34 Aber auch Hellenismus und Romanisierung, Christianisierung und die Ausbreitung des Islam, die höfische Kultur und die Renaissance brachten im Zusammenspiel mit natürlichen Gegebenheiten neue Kulturlandschaften hervor. Viele Kulturen passten sich ihrer natürlichen Umwelt in besonderer Weise an, durch raffinierte kollektive Nutzungssysteme, Tabus oder Rituale, die Missbräuchen vorbeugten und individuelle Interessen bändigten. Eindeutige Wirkungen von Natur auf Kultur und in umgekehrter Richtung lassen sich dabei selten beobachten, eher wechselseitige Beziehungen. Zusammenfassend spricht vieles dafür, die ökologische Dimension gleichberechtigt neben die klassischen vier Dimensionen der Geschichte zu stellen. Bei den obigen Beispielen liegt der Akzent auf dem historischen Wandel, weil sich 32 Die Ergebnisse der umwelthistorischen Tagung „Handeln in Hungerkrisen. Neue Perspektiven auf Hunger als Folge klimatischer und sozialer ‚Vulnerabilität‘“ liegen bislang erst als Konferenzbericht vor, siehe unter http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/ termine/id=17511 [01.06.2013]. Zum Zusammenhang von Klimaentwicklung und Hungersnöten u. a. CHRISTIAN PFISTER, Das Klima der Schweiz von 1525 bis 1860 und seine Bedeutung in der Geschichte von Bevölkerung und Landwirtschaft, 2 Bde., Bern 1984; WOLFGANG BEHRINGER, Kulturgeschichte des Klimas. Von der Eiszeit bis zur globalen Erwärmung, München 2007. – Hingegen gibt es wenige Studien zur Ressourcenverteilung und ihrer Auswirkung auf die Armutsentwicklung. Nur ansatzweise bei BERND-STEFAN GREWE, Der versperrte Wald. Ressourcenmangel in der bayerischen Pfalz 1814-1870, Köln 2004. 33 Vgl. ROLF PETER SIEFERLE U. A., Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung, Köln 2006. 34 Vgl. CHRISTIAN PFISTER, Bevölkerungsgeschichte und historische Demographie 15001800, München 2007.

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so die wechselseitige Vernetzung der verschiedenen Dimensionen besser erläutern lässt. Dabei spielt die Kontinuität ökologischer Systeme und die Eigendynamik der natürlichen Prozesse auch für die Umweltgeschichte eine wichtige Rolle.35 Die Schulbücher müssen keineswegs völlig umgeschrieben werden, um ein Bewusstsein für die ökologische Dimension der Geschichte zu schaffen. Manchmal muss eine Fragestellung nur geringfügig verändert werden, damit SchülerInnen die Bedeutung der Umwelt für einen politischen, wirtschaftlichen, sozialen oder kulturellen Prozess bzw. die Bedeutung eines entsprechenden Prozesses für den Umgang mit der natürlichen Umwelt erkennen und verstehen können. Dieses Plädoyer für eine stärkere Berücksichtigung der Umweltdimension sollte nicht mit ihrer Verabsolutierung verwechselt werden. Es ist sicherlich nicht hilfreich bei allen historischen Ereignissen und Kontinuitäten permanent die ökologische Dimension hervorzuheben. Aber Lehrkräfte sollten in der Lage sein, diese Dimension zumindest mitzudenken. Oft genügt ein etwas näheres Hinsehen, um sie auch in scheinbar Altbekanntem neu zu erkennen. Kehren wir zum Beispiel Herodot zurück. SchülerInnen sind ohne Weiteres in der Lage, das von ihm verwendete historische Denkmuster „von der Natur zur Kultur“ zu erkennen – im „Geschenk des Nils“ schwingt die Vorstellung mit, als gebe es eine kausale Verbindung von der Nilschwemme zur Hochkultur, zum Reich der Pharaonen. Das Muster kann gerade bei jüngeren SchülerInnen auch durch einen Perspektivwechsel oder die Übernahme einer fiktiven historischen Persönlichkeit (z. B.: Schreibe einen Antwortbrief eines Nilbewohners oder einer Nilbewohnerin an Herodot) transparent gemacht werden.36 Im Oberstufenunterricht bietet es sich hingegen an, mehrere wissenschaftliche Textauszüge, die mit entsprechend eindeutigen Deutungsmustern arbeiten, vergleichend auf ihre Erklärungsansätze zu untersuchen und diese zu diskutieren. OberstufenschülerInnen mit Schwerpunkt „Geschichte“ oder Studierende könnten dann als Haus-, Fach- oder Semesterarbeit ihre alten Schulbücher auf die Frage hin untersuchen, welche Deutungsmuster dominieren. Bei entsprechendem Bewusstsein der Lehrenden für die ökologische Dimension der Geschichte und für die gängigen Umweltklischees kann gerade auch in dieser Hinsicht eher „schlechtes“ Arbeitsmaterial fruchtbar gemacht werden. Es kommt eben auf die Fragestellung an.37

35 Zur Problematik einer Periodisierung der Umweltgeschichte FRANK UEKÖTTER (Hrsg.), The Turning Points of Environmental History, Pittsburgh 2010. 36 Vgl. KARIN BUSCH, Unterrichtsstunde: Bäuerliche Arbeit in Ägypten, o. O. 2008. 37 Das Verfahren wurde für andere Themen bereits erfolgreich angewandt CAROLA GRUNER / WALTRAUD SCHREIBER (Hrsg.), Geschichte durchdenken: Schüler vergleichen internationale Schulbücher. Das Beispiel: „Wende 1989/1990“, Neuried 2010.

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Leitlinien für umwelthistorischen Unterricht

Die zentrale Aufgabe einer umwelthistorischen Bildung ist es, den SchülerInnen eine differenziertere Sicht zu vermitteln, wie sich die Mensch-UmweltBeziehungen bis hin zu den heute ungelösten Umweltproblemen entwickelt haben. Umweltgeschichtlicher Unterricht vermittelt mit der Frage nach ihrer Genese einen weiteren analytischen Zugang, um diese aktuellen Probleme besser zu verstehen.38 Er emanzipiert die Lernenden von gängigen Klischees und verbreiteten Denkmustern. Das Wissen um das Gewordensein der heutigen Lage verschafft ihnen ein Bewusstsein für die Gestaltbarkeit historischer Prozesse und öffnet so die Zukunft. Historisches Wissen erzeugt Skepsis gegenüber allen eindimensionalen Erklärungen und Lösungsansätzen. Wer gelernt hat, wie eng die fünf Dimensionen nicht nur hinsichtlich der Umweltfragen miteinander vernetzt sind, der erkennt auch, wie begrenzt manche populistische Forderung ist. Aus dieser Zielsetzung leiten sich die folgenden Leitlinien für einen umwelthistorischen Unterricht ab: 1. Umweltgeschichte muss sich von gängigen Klischees und Denkmustern lösen. Manche Kollegen bezweifeln, ob es sinnvoll ist, eine umwelthistorische Reihe mit der Diskussion einer sehr offenen Frage zu beginnen: „Wie war das Verhältnis von Mensch und Natur vor der Industrialisierung?“ Oder: „Lebten die Menschen des Mittelalters in Harmonie mit der Natur?“ Derartige Fragen sind zu Beginn eines Themas keineswegs „blanker Unsinn“, sondern sie aktivieren die auch bei SchülerInnen verbreiteten Denkmuster und Klischees. Es lohnt sich, diese als Arbeitshypothesen auf Wandplakat oder Overheadfolie festzuhalten, um sie später nach dem Studium von Quellen oder eigenen Recherchen zu überprüfen. Dabei erkennen die Lernenden als ein Resultat eigenen Denkens, wie begrenzt diese Klischees sind. Zugleich führt ihnen diese Revision bisheriger und nicht hinterfragter Annahmen den eigenen Lernfortschritt deutlich vor Augen. Diese Emanzipation von gängigen Interpretationen kann nicht durch einen Lehrervortrag vermittelt werden, als Lehrperson sollte man sich hier zurückhalten und den SchülerInnen geduldig zuhören, wenn sie diese Klischees reproduzieren. Lernende wollen ernst genommen werden, auch wenn ihre Ansichten (vorübergehend) in die Irre gehen. 2. Sachurteil und Werturteil sollen deutlich voneinander getrennt werden. Diese Binsenweisheit der Geschichtsdidaktik bleibt allerdings gerade im Hinblick auf umwelthistorische Themen gerne unbeachtet. Bevor etwa „Sündenfälle“ im Umgang mit Natur bewertet werden (z. B. Raubbau an den Wäldern, ungeklärte Abwässer), muss zunächst verstanden werden, was die Menschen in ihrem jeweiligen Kontext dazu veranlasste, auf diese oder jene Weise zu handeln. Auf keinen Fall dürfen vergangene Verhaltensweisen a priori mit unseren heutigen Wertmaßstäben gemessen werden. Erst wenn die Andersartigkeit einer 38 Vgl. RADKAU, Mensch und Umwelt; DERS., Fortschritt und Natur.

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historischen Situation verstanden ist, sind auch Werturteile möglich. Eine vielleicht gut gemeinte, aber moralistisch inspirierte Umweltgeschichte verfehlt ihren Zweck. 3. Umweltgeschichte ist keine Katastrophengeschichte. Die ökologische Dimension der Geschichte umfasst weitaus mehr als eine Geschichte der Umweltzerstörungen und der Umweltbelastungen. Zum einen würde ein solcher Ansatz nur Frustrationen auslösen, zum anderen bietet die Geschichte zahlreiche Beispiele für Systeme einer nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen, ob bei der Wasserverteilung, der Fischerei oder der Waldnutzung. Die spannende Frage ist, warum über Jahrhunderte hinweg funktionierende Systeme eines Tages erodierten. Ist dafür der von Garret Harding in „The Tragedy of the Commons“ betonte Gegensatz von Gemeinnutz und Egoismus verantwortlich? Weshalb konnten diese Nutzungssysteme dann aber solange Bestand haben? 4. Diese offenen Fragen bieten Ansatzpunkte für lebhafte Diskussionen und machen Umweltgeschichte spannend. Hier können Projekte ihren Ausgangspunkt nehmen, hier besteht Raum für entdeckendes Lernen. SchülerInnen entwerfen eigene Hypothesen zu Ursachen historischer Veränderungen, um diese anschließend in der Gruppe kritisch zu überprüfen und zu modifizieren. 5. Umweltgeschichte trainiert kritisches Lesen von Quellen. Auch dieses für Geschichtsunterricht und Wissenschaft selbstverständliche Vorgehen einer quellenkritischen Auswertung wird bei umwelthistorischen Lehrmaterialien oft übergangen. Leicht ist man aufgrund eigener Wertvorstellungen geneigt, bestimmte Quellen, die dem persönlichen Weltbild entsprechen, schnell für bare Münze zu nehmen. Das gilt insbesondere für entsprechende Klagen aus dem Kontext des Mensch-Umwelt-Verhältnisses: Klagen von Fischern über Überfischung und verschmutzte Gewässer oder von Förstern über eine drohende Waldvernichtung nimmt man bereitwilliger auf als solche, die das Gegenteil behaupten. Deshalb kommt es darauf an, dass die SchülerInnen lernen, auch jene Quellen kritisch zu betrachten, denen sie aufgrund ihrer Perspektive gerne Glauben schenken würden. Es kam durchaus vor, dass Fischer aus einem Dorf über die Überfischung durch benachbarte Orte klagten, nur um diese von besonders ergiebigen Fischgründen abzuhalten.39 Lernende müssen deshalb Kriterien entwickeln, die es ihnen erlauben die Glaubwürdigkeit von Quellenaussagen zu bewerten. Besonders gut lässt sich diese Fähigkeit durch die Untersuchung von Umweltkonflikten trainieren. Denn hier beleuchten in der Regel mehrere Quellen einen historischen Sachverhalt aus unterschiedlichen Perspektiven und vertreten unterschiedliche Interessen. Die Standortgebundenheit von Aussagen wird deutlich.40 39 Vgl. die Beispiele bei RADKAU, Fortschritt und Umwelt. 40 Neben den bereits zitierten Lehrwerken sind weitere geeignete Quellensammlungen: JÜRGEN PANDEL, Gestalten und Zerstören. Neue Blicke auf die Umweltgeschichte. Schwalbach/Ts. 2005; STEPHAN SCHMAL, Umweltgeschichte, Bamberg 2001; GÜNTER BAYERL / ULRICH TROITZSCH (Hrsg.), Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der

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6. Umweltgeschichte soll neugierig machen. Nur wenige historische Themen sind so eng mit dem Alltag von Menschen in früheren Zeiten verknüpft wie die Umweltgeschichte. Beispielsweise hatte das heute selbstverständliche Bedürfnis nach Reinlichkeit, das erst im 19. Jahrhundert immer weitere Gesellschaftskreise erfasste, durch Wasserverbrauch beim Baden, Putzen und Waschen, durch die zunehmende Verwendung von Seifen und Waschmittel starke Auswirkungen auf den Wasserhaushalt. Viele der kleinen Dinge des Alltags erhalten so wieder Bedeutung und einen Platz in der Geschichte. Vieles am Alltagsverhalten früherer Zeiten erscheint befremdlich oder sogar ekelhaft, wirft durch seinen affektiven Gehalt aber Fragen auf. Weshalb nutzte man beispielsweise den Menschenkot auch als Dünger für die Felder, handelte man mit menschlichem Urin als Säure in der Textilproduktion? Gab es dazu keine Alternativen?41 Hierbei geht es darum, ein Verständnis für die innere (soziale) Logik früherer Verhaltensweisen zu entwickeln. Umweltgeschichte vermittelt auch die Kenntnis langfristiger Entwicklungstrends, die von der Vergangenheit bis in die Gegenwart reichen. Deshalb kann sie nicht erst mit der Industrialisierung beginnen, viele entscheidende Veränderungen in der Mensch-Natur-Beziehung erfolgten bereits in der Vormoderne. Die SchülerInnen sollten lernen, welche Relevanz etwa Wasser, fruchtbarer Boden und der Wald für den Alltag der Menschen hatten.42 Die SchülerInnen sollen Veränderungen im Umgang mit den wichtigsten Umweltbereichen erkennen und lernen, wie diese differenziert beschrieben und erklärt werden können. Monokausale Deutungsmuster verlieren ihre Legitimation, wenn Lernende begreifen, wie ökologische, politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Entwicklungen miteinander verwoben sind. Ein differenziertes Bild der MenschUmwelt-Beziehungen vergangener Gesellschaften ermöglicht den SchülerInnen Antike bis heute, Göttingen u. a. 1998; BODO VON BORRIES, Kolonialgeschichte und Weltwirtschaftssystem. Europa und Übersee zwischen Entdeckungs- und Industriezeitalter 1492-1830, Düsseldorf 1986. – Weitere Unterrichtsvorschläge und Lehrhilfen bieten der Landesbildungsserver Baden-Württemberg, Umweltgeschichte unter http://www.schule-bw.de/unterricht/faecheruebergreifende_themen/landeskunde/modelle/epochen/umweltgeschichte/ [01.06.2013]; Universität Passau, Unterrichtsbausteine Umweltgeschichte unter http://www.geschichtsbausteine.uni-passau.de/unterrichtsbausteine/umweltgeschichte.html [01.06.2013]; Quellen zur Atomkatastrophe von Tschernobyl: SWETLANA ALEXIJEWITSCH, Stimmen aus Tschernobyl – Essay, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13, 2006 unter http://www.bpb.de/apuz/29831/stimmen-austschernobyl-essay [01.06.2013]. – Noch nicht erhältlich war der angekündigte Band von: BÄRBEL KUHN / ASTRID WINDUS (Hrsg.), Umwelt und Klima im Geschichtsunterricht, St. Ingbert 2013. – Völlig unbrauchbar und ohne jeglichen Unterrichtsbezug sind die Veröffentlichungen der Reihe „Studienarchiv Umweltgeschichte“. 41 Vgl. BERND-STEFAN GREWE, The History of Recycling, in: UTE GRONWOLDT (Red.), Recycling, Bonn 2006, S. 102-113. 42 Dieser Aspekt wird beispielsweise für das Alltagsleben im Mittelalter in folgenden Lehrwerken ansatzweise umgesetzt: Entdecken und Verstehen 1, S. 182 f.: „Wie bekam man mehr Menschen satt?“

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auch ihre reflektierte und differenzierte Bewertung in der Gegenwart. Dazu gehört auch eine Historisierung der Umweltbewegung.43

43 Vgl. MELANIE URBAN, „Gesundes Volk in frischer Natur“. Die Anfänge der Natur- und Tierschutzbewegung, in: Praxis Geschichte 6, 2012, S. 44-49.

NINA MÖLLERS

Umwelt(geschichte) im Museum Spielt Umwelt(geschichte) im Museum eine Rolle? Im ersten Augenblick möchte diese Frage wohl jeder bejahen. Bei genauerem Hinsehen entpuppt sie sich jedoch als weitaus komplexer als zunächst angenommen. Zumal es einen Unterschied macht, ob man von Umwelt oder Umweltgeschichte spricht. Während umweltrelevante Themen schon seit einiger Zeit, insbesondere seit Aufkommen der Klimawandeldebatte, ihren Platz in Ausstellungen, musealen Forschungsprojekten und Bildungsprogrammen finden, sucht man nach der Geschichte der Umwelt oftmals noch vergeblich. Museen, die das Wort Umwelt im Namen tragen oder sich zumindest groß auf die Fahnen geschrieben haben, kann man in Deutschland an einer Hand abzählen. Zu nennen sind vor allem kleinere und mittelgroße Museen wie das Museum Wald und Umwelt in Ebersberg, das Museum für Natur und Umwelt in Lübeck, das Namu (Natur – Mensch – Umwelt) in Bielefeld oder das Museum Lüneburg, das sich der regionalen Landschaft aus naturkundlicher, archäologischer und kulturgeschichtlicher Sicht widmet. Darüber hinaus beschäftigen sich die traditionsreichen großen naturkundlichen Museen mit Umweltthemen sowie die seit einigen Jahren vermehrt entstehenden ‚Wissens- und Erlebniswelten‘ wie beispielsweise das Klimahaus Bremerhaven. Schon ein solch kursorischer Blick auf die Museumswelt reicht aus, um die Problematik zu erkennen: Umwelt als Kollektivbegriff für allerlei Themen und Problemlagen hat das Museum erreicht. Doch obwohl heute kaum ein Haus ohne Anklänge an die Umwelt auskommt, fehlt es eines historisierenden Blicks und einer systematischen Aufbereitung, insbesondere in sammlungsbasierten Häusern. Das insgesamt recht zerfaserte Zustandsbild spiegelt in Teilen die Entstehungsgeschichte und Situation der Umweltgeschichte als wissenschaftliche Disziplin, die schon immer in besonderer Weise von ihren unscharfen Grenzen – oder positiv ausgedrückt ihrer Interdisziplinarität – bestimmt war.1 Zudem ist der museale Umgang mit Umweltthemen vor dem Hintergrund der Geschichte der Institution Museum zu sehen, die im Verlauf des 18. und 19. Jahrhunderts zu einer differenzierten, bisweilen starren, Typologie führte, in der ‚die Umwelt‘ nicht ohne Weiteres eine Heimstatt fand. Blickt man in die fernere Vergangenheit, stellt sich zudem ein lexikalisches Problem. Das uns heute so geläufige Wort ‚Umwelt‘ in seiner ökologischen Bedeutung fand vor dem 20. Jahrhundert noch so gut wie keine Verwendung. Vielmehr ging es um die Natur und die Naturdinge, für deren Darstellung, Erforschung und Sammlung vornehmlich die Naturkundemuseen und deren Spezialhäuser der Paläontologie, Mineralogie oder Geologie zuständig waren. Natur wurde vor allem in ihrer Gegensätzlich1

DOUGLAS R. WEINER, A Death-Defying Attempt to Articulate a Coherent Definition of Environmental History, in: Environmental History 10, 2005, S. 404-420, hier S. 404.

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keit zur Kultur wahrgenommen und dargestellt. Darüber hinaus beschäftigten sich Kunstmuseen, vornehmlich in der Form von Landschaftsdarstellungen, und ethnologische Museen, zum Beispiel durch das Sammeln von Artefakten fremder ‚primitiver Naturvölker‘, mit umweltrelevanten Themen. Aber auch wissenschaftlich-technische Sammlungen thematisierten die Natur, indem sie die vom Menschen zur Erkundung und Eroberung der äußeren Umwelt ersonnenen Maschinen, Technologien und wissenschaftlichen Methoden zur Schau stellten. Aufgrund der weitläufigen, sich gleichzeitig aber immer stärker ausdifferenzierenden Museumslandschaft, die über das letzte Jahrhundert entstanden ist, fällt eine generelle Bestandsaufnahme zur Umweltthematik und -geschichte in deutschen Museen schwer und kann in diesem Rahmen nur skizzenhaft ausfallen. Im Jahr 2011 gab es in Deutschland über 6.000 Museen mit einer kaum überschaubaren Vielfalt an Themen, Typen und Trägern.2 Neben den bekannten großen Gattungen wie Kunst-, Archäologie-, Ethnologie-, Naturkunde-, Technik- und Geschichtsmuseen haben sich im Laufe der Zeit auch sehr spezifische Typen wie zum Beispiel das Phyletische Museum in Jena oder das Zuckermuseum in Berlin herausgebildet. Als einer der neuesten, sich aber schnell ausbreitenden Museumstypen, dürfen zudem die Firmenmuseen – neudeutsch: Brandlands – gelten. So werden Umweltthemen hier und da immer wieder aufgegriffen, ohne jedoch die ganz große Bühne beanspruchen zu können. Dies wird – und muss – sich in den kommenden Jahren und Jahrzehnten ändern. Der Aufstieg der Umwelt(geschichte) im musealen Bereich basiert dabei auf einer Kombination von Push- und Pull-Faktoren. Einerseits werden die Museen immer stärker gezwungen, die in Politik und Gesellschaft virulenter werdenden Themen in ihre Arbeitsbereiche aufzunehmen; auch um im steigenden Konkurrenzdruck untereinander und vor allem mit anderen Angebotsorten der Erlebnisgesellschaft bestehen zu können. Andererseits liegt in der Beschäftigung mit der Umweltthematik für Museen das große Potenzial, sich als Wissens-, Lernund Handlungsort neu zu positionieren. ‚Unsere Umwelt‘ wird zum beherrschenden Thema des 21. Jahrhunderts, über das Museen nicht nur eine reagierende Daseinsberechtigung, sondern eine aktiv agierende Akteursposition entwickeln können.

2

STAATLICHE MUSEEN ZU BERLIN – PREUßISCHER KULTURBESITZ, INSTITUT FÜR MUSEUMSFORSCHUNG, Statistische Gesamterhebung an den Museen der Bundesrepublik Deutschland für das Jahr 2011, Berlin 2012, S. 7.

Umwelt(geschichte) im Museum

1.

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Staunen, Sammeln, Ordnen: Naturdinge im Museum der frühen Neuzeit

Ein kurzer Blick zurück auf die historische Entwicklung des Museums unter besonderer Berücksichtigung der Perspektive eines Technikmuseums soll dazu dienen, die gegenwärtige museale Situation der Umweltgeschichte und das Potenzial für die Zukunft besser einordnen zu können. Noch immer können Fachleute vorzüglich über Vorformen und Ausprägungen der ersten Museen nach modernem Format diskutieren. Es besteht jedoch weitestgehend ein Konsens darüber, dass die adligen Kunst- und Wunderkammern sowie die Naturalienkabinette der Renaissance wegweisenden Einfluss auf die Entwicklung der modernen Museumswelt hatten. Sie spiegeln das im 15. und 16. Jahrhundert vorherrschende Bestreben, die Welt zu durchdringen, zu ordnen und zu verstehen. Als „begehbare Enzyklopädie [und] Labor zur Erforschung der Natur“3 zeigten sie die präsentierten Natur- und Kunstdinge in einer heute oft befremdlich anmutenden Zusammenschau. Im weiteren Verlauf der Jahrhunderte, insbesondere als Reaktion auf die Aufklärung, gewann der Wunsch nach Kategorisierung, taxonomischen Ordnungen und Vergleichen an Bedeutung. Insbesondere die von Carl Nilsson Linnaeus entwickelte botanische und zoologische Nomenklatur verstärkte diesen Ordnungswillen und bestärkte den Menschen in seiner Rolle als Klassifizierer und Ordnungshüter. Er wurde der natürlichen Welt zunehmend entrückt; der Dualismus von Natur und Kultur verstärkte sich.

2.

Formieren, Kontrollieren, Darstellen: Bürgertum und Ingenieure im Museum des 19. Jahrhunderts

Eine ganz neue, aber sehr bedeutende prägende Rolle kam Museen unterschiedlicher Couleur ab Mitte des 18. und verstärkt im 19. Jahrhundert im Kontext von Nationalstaatsbildungen zu. Die sich ausdifferenzierenden bürgerlichen Schichten nutzten nun den öffentlichen Raum des Museums, um politische und kulturelle Identitäten zu entwickeln und zu festigen. Während vor allem der Ausstellungsraum der Weltausstellungen zur bildenden Kraft im Formierungsprozess der modernen Staaten wurde,4 instrumentalisierte das aufstrebende Bürgertum das Museum zur Repräsentation seiner steigenden Bedeutung für das Sozialgefüge. Im 19. Jahrhundert hatten sich bereits verstärkt bürgerliche Vereine gebildet, die zum Beispiel Sammlungen naturkundlicher Art gründeten. Zusammenwirkend mit der zunehmenden Professionalisierung der Naturwissenschaften, die auch in einer Hinwendung zu Laborexperimenten resultierte, 3 4

ANKE TE HEESEN, Theorien des Museums. Eine Einführung, Hamburg 2012, S. 36. TONY BENNETT, The Birth of the Museum. History, Theory, Politics, London 1995, S. 418-419.

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veränderten diese Kräfte nun auch die museale Darstellung von Natur und Umwelt. Statt der taxonomischen Reihen rückten nun Zusammenhänge und Kontextualisierungen von Naturdingen in den Vordergrund. Das Diorama als Darstellung der Umwelt von Pflanzen und Tieren wurde zu einem vorherrschenden Präsentationsmittel.5 Ein anderer Bereich, in den das erstarkende Selbstbewusstsein der bürgerlichen Schichten und insbesondere der wachsenden Zahl von Ingenieuren hineinwirkte, waren die entstehenden Technikmuseen. Ausgehend von den seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beliebten Gewerbe-, Elektrizitäts- und Weltausstellungen, die vor allem die technische und wirtschaftliche Leistungsfähigkeit der Nationalstaaten dokumentieren und fördern sollten, engagierte sich der zunehmend in Vereinigungen organisierte Ingenieursstand für die Schaffung von eigenen Repräsentationsräumen. Die Gründung des Deutschen Museums in München in der wilhelminischen Zeit ist ein Ausdruck und Ergebnis dieser Suche der Ingenieure nach sozialer Anerkennung und Gleichstellung mit den alten akademischen Eliten. Technische Erfindungen wollten sie auf derselben Stufe mit künstlerischen Meisterwerken sehen und dadurch ihrem Anspruch auf Lenkungs- und Planungskompetenz Ausdruck verleihen. Indem naturwissenschaftliche und technische Errungenschaften den Nimbus des Schöpferischen erhielten, sollten Naturwissenschaftler, Techniker und Unternehmer als Fortschritts- und Kulturträger im traditionellen Bildungsbürgertum Anerkennung erhalten.6 Im 1903 gegründeten Deutschen Museum, das 1925 seinen imposanten Ausstellungsbau auf der ehemaligen Kohleninsel in der Isar erhielt, materialisierte sich der Anspruch der Ingenieure auf soziale und kulturelle Anerkennung in mehrerlei Hinsicht. Schon der dem Museum zugrunde liegende Meisterwerksgedanke, der sich auch in seinem offiziellen Namen „Deutsches Museum von Meisterwerken der Naturwissenschaft und Technik“7 widerspiegelt, postulierte klar, dass die naturwissenschaftlichen und technischen Errungenschaften mit einem künstlerischen Schöpfungsgeist gleichgesetzt und ihnen ein wesentlicher Anteil am Fortschritt der Nation zugeschrieben wurde. Daran geknüpft war die Vorstellung kongenialer Forscher- und Ingenieurspersönlichkeiten, die ihren Höhepunkt im Ehrensaal fand, wo herausragenden Naturwissenschaftlern, Ingenieuren und Industriellen in Form von Büsten und Gemälden die notwendige Ehrerbietung erbracht wurde.8 5 6 7

8

HEESEN, Theorien, S. 67. WALTER HOCHREITER, Vom Musentempel zum Lernort. Zur Sozialgeschichte deutscher Museen 1800-1914, Darmstadt 1994, S. 157, 137-142, 154-159. Andere während der Planungsphase diskutierte Vorschläge waren u. a. Germaneum, Miller-Museum, Meistermuseum, Museum der deutschen Arbeit und Walhalla der Technik. Verwaltungsarchiv Deutsches Museum, Museumsgeschichte 1903-. Rundschreiben des Museums vom 02.01.1905. Die Auswahl der dargestellten Personen ist sehr aussagekräftig. „Ausländische“ Wissenschaftler fanden erst nach der kriegsbedingten Renovierung in den 1950er Jahren einen

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Abb. 1: Oskar von Miller (1855-1934), Bauingenieur, Elektrizitätspionier und Gründer des Deutschen Museums. Für das Deutsche Museum wie auch für andere Technikmuseen dieser Zeit spielte Natur vor allem als ein durch vom Menschen ersonnene Technik zu kontrollierender und Ressourcen bereithaltender Raum eine wichtige Rolle. So bildete das bis heute vorhandene begehbare Bergwerk im Untergeschoss des Deutschen Museums die Grundlage und den Ausgangspunkt für die Entstehung einer sich zu immer neuen Höchstleistungen aufschraubenden Ingenieurskunst. Die geologische Natur bildete hier den Hintergrund für die darzustellenden kulturellen Leistungen des Menschen. Dabei hat sich das Deutsche Museum bei seiner Gründung durchaus einiges abgeschaut von den naturkundlichen Museen: Analog zu deren Ordnungssystemen entwickelte das Museum eine Nomenklatur von naturwissenschaftlichen und technischen Fachgebieten, innerhalb derer lineare Fortschrittsreihen von der einfachen Handwerkstechnik bis zum jeweils aktuellen technischen Gerät dargeboten wurden. So durchliefen die BesucherInnen – so sie sich denn an den vorgeschlagenen Rundweg hielten – zunächst den Bergbau und das Hüttenwesen, um dann über die großen Maschinentechnologien und die naturwissenschaftlichen Grundkenntnisse der Mathematik, Physik und Chemie zur Lebensmitteltechnik, der häuslichen und städtischen Infrastruktur und schließlich der Astronomie zu kommen. Wirkliche VerPlatz (Leonardo da Vinci und Antoine Laurent Lavoisier) und die erste und bis heute einzige Frau ist seit 1991 Lise Meitner.

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bindungen zwischen den einzelnen Fachgebieten wurden jedoch kaum gezogen und die Präsentation beschränkte sich gemäß dem damaligen Stil auf dreidimensionale Objekte, Tafeln und einzelne Knopfdruck-Experimente, für die das Deutsche Museum Anfang des 20. Jahrhunderts weit über Deutschland hinaus berühmt wurde. Innerhalb der einzelnen Ausstellungsbereiche herrschte der „Modus der Aktualität“9 vor: Sowohl die Kriterien für den Aufbau der Sammlungen als auch die Darstellungsprinzipien in den Ausstellungsräumen wurden zur damaligen Zeit auf Präsentabilität ausgerichtet. Die Funktion der Wissensvermittlung, über die sich viele Wissenschafts- und Technikmuseen definierten, trat im Deutschen Museum besonders stark zutage. Durch den Einsatz von Originalobjekten, ergänzt durch Schnittmodelle, Schemazeichnungen und Demonstrationen sollten die Technik als angewandte Naturwissenschaft dargestellt und Funktionsweisen und Prozesse vermittelt werden. Daraus resultierte eine gewisse Reduzierung auf technikimmanente Aspekte, auch wenn die Satzung als Aufgabe des Museums formulierte, die „historische Entwicklung der Naturwissenschaft und Technik und der Industrie zu erforschen [und] deren Wechselwirkungen und kulturelle Bedeutung zu zeigen“.10 Dem in der Zeit vorherrschenden Fortschrittsoptimismus und der insbesondere im Ingenieursstand verbreiteten Technikgläubigkeit entsprach des Weiteren die gewählte Präsentation in Entwicklungsreihen, die mit dem neuesten Produkt – häufig von Industriefirmen gestiftet – endeten und so eine fast alternativlose lineare Aufstiegsgeschichte suggerierten, in der kein Platz war für wissenschaftliche Unsicherheit, Fehlschläge oder gar Technikversagen. So begann beispielsweise die dargestellte Entwicklungsreihe im Ausstellungsraum zur Kühlung (Abb. 2) zwar durchaus beim mühevollen Natureisgewinn am Gletscher, dargestellt durch Wandabbildungen, ging dann jedoch über zu wichtigen Erfindungen für die Erschaffung ‚künstlicher Kälte‘ durch das Verfahren von Carl von Linde (der selbst an der Gründung des Deutschen Museums beteiligt war), um schließlich beim industriell hergestellten Kühlschrank für jedermann sozusagen als Krone der technischen Schöpfung zu enden. Dass es noch bis weit nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs dauern würde, bis sich der durchschnittliche deutsche Haushalt ein solches Gerät würde leisten können, war für die Darstellung der technischen Leistungen unerheblich. Die Fokussierung auf Entwicklungslinien ließ kaum Raum für soziale und kulturelle Kontexte, eine Tatsache, die auch Zeitgenossen auffiel und zu Kritik 9

Gottfried Korff zitiert in HELMUTH TRISCHLER, Das Technikmuseum im langen 19. Jahrhundert: Genese, Sammlungskultur und Problemlagen der Wissenskommunikation, in: BERNHARD GRAF / HANNO MÖBIUS (Hrsg.), Zur Geschichte der Museen im 19. Jahrhundert, 1789-1918, Berlin 2006, S. 81-92. 10 MUSEUM VON MEISTERWERKEN DER NATURWISSENSCHAFT UND TECHNIK, Unter dem Protektorate Seiner Königlichen Hoheit des Prinzen Ludwig von Bayern. Satzung. Allerhöchst genehmigt unter Verleihung der Rechtsfähigkeit einer Anstalt des öffentlichen Rechtes am 28. Dezember 1903, S. 3.

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am Konzept führte. Eine in der museumswissenschaftlichen Forschung häufig diskutierte Debatte wurde vom Berliner Professor Alois Riedler ‚angezettelt‘, der im Vorstandsrat des Deutschen Museums saß und für die Gestaltung einer Abteilung zuständig war. In einer Stellungnahme kritisierte er das Fehlen der Wirkungsgeschichte von Technik und schrieb: „Ein technisches Museum muss Sammelpunkt für die Darstellung einer wirklichen Entwicklungsgeschichte des Menschen und der Menschengemeinschaft sein; dann muss es aber eine eindringliche und einigermaßen genügende Darstellung der Kulturzustände geben, die durch die Technik herbeigeführt wurden.“11 Riedlers Kritik wurde zwar intensiv diskutiert, blieb letztlich jedoch wirkungslos, sodass das Gründungskonzept des Museums sozialen, kulturellen und damit auch umweltthematischen Kontexten kaum bis gar keinen Raum einräumte.

Abb. 2: Ausstellungsraum „Kühlung“, Deutsches Museum, um 1935. Um die Wende zum 20. Jahrhundert war die Museumswelt, insbesondere im Bereich der Technik- und Wissenschaftsmuseen, geprägt von den Bemühungen der bürgerlichen Schichten, insbesondere den Ingenieuren, eine eigene Identität 11 Verwaltungsarchiv Deutsches Museum, VA 3969, Anregungen 1925-1945, Alois Riedler an den Vorstand des Deutschen Museums, 29.11.1905. Für eine nähere Beschreibung der Riedler-Debatte siehe HOCHREITER, Vom Museumstempel, S. 163-167.

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und gesellschaftliche Position unter Bezug auf das vorherrschende Fortschrittsund Wachstumsparadigma für sich zu schaffen. Sozialkritische Aspekte fanden ihren Raum eher in den entstehenden Arbeitervereinen und Ausstellungen zum Arbeitsschutz und der Hygiene. Durch die Industrialisierung und Modernisierung ausgelöste Einflüsse auf die Ökosysteme wurden im musealen Umfeld noch nicht rezipiert. Natur wurde vielmehr als eine durch naturwissenschaftliche Bildung und angewandte Technik zu beherrschende Kraft gesehen. Eine ihr eigene Handlungs- und Wirkmächtigkeit wurde ihr allenfalls noch als Bedrohung in Form von Naturkatastrophen zugestanden, die jedoch mit fortschreitender Technik ebenfalls als kontrollierbar visioniert wurde. Diese Sichtweise hat die Museumswelt nachhaltig geprägt. Nicht so sehr durch das Fehlen der Umwelthemen in den Ausstellungen – diese werden ja bisweilen erweitert und aktualisiert –, sondern viel tiefgreifender durch damit verbundene Sammlungspolitiken. Die vorherrschende Fortschrittserwartung und Technikbegeisterung jener Zeit erschuf in den Objektsammlungen überall dort große Löcher, wo es um die potenziell negativen Auswirkungen der Technik auf die Umwelt ging. Weil der Aspekt des Umwelteinflusses nicht im Vordergrund stand, ja sehr häufig gänzlich vernachlässigt wurde, bildeten sich Sammlungen heraus, die die Darstellung von Umweltthemen in heutigen Ausstellungen bisweilen erschwert.

3.

Aufbau, Aufbruch, Ausklammerung: Umwelt(geschichte) im Schatten des 1950er Syndroms

Obwohl Ausstellungen im nationalsozialistischen Regime als Propagandamittel für völkische Ideologie und Führerkult durchaus eine wichtige Funktion zugekommen war, hatten umweltrelevante Themen während dieser Zeit keine Rolle gespielt. Wo das Verhältnis von Mensch und Natur thematisiert worden war, ging es zuvorderst um die möglichst rationelle Ausnutzung der natürlichen Ressourcen, der Erschaffung von Ersatzstoffen für durch den Krieg nicht zugängliche oder schwindende Stoffe oder um die überzeichnete Darstellung eines deutschen ‚Volkskörpers‘, der die Natur durch seinen technischen Erfindungsgeist scheinbar zu beherrschen vermochte. Wichtig für die weitere Entwicklung der Umweltgeschichte im Museum wurde aber die Nachkriegszeit, wenn auch nur als Folie, vor der das Erwachen einer musealen Umweltbewegung ab den 1970er Jahren zu sehen ist. Die auf das Ende des Krieges folgende Dekade brachte Westeuropa, insbesondere Westdeutschland, einen ungeahnten wirtschaftlichen Aufschwung, der zur Entstehung einer Massenkonsumgesellschaft beitrug. Die mit dieser einsetzenden Wachstumsperiode verbundenen sozialen und kulturellen Veränderungen werden zusammen mit den ökonomischen, politischen, aber auch ökologi-

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schen Wirkungen häufig unter dem Schlagwort des „1950er Syndroms“12 gefasst. Gemeint sind damit die vielfältigen Veränderungen in der Produktionsund Lebensweise der westdeutschen Gesellschaft jener Zeit, die einerseits zu einem wachsenden Bruttoinlandsprodukt, andererseits aber auch zu erhöhtem Energieverbrauch, gestiegenem Flächenverbrauch und einer zunehmenden Schadstoffbelastung von Luft, Wasser und Böden führten. Ein wesentlicher Faktor war die beispiellose Verbilligung von Energie, ausgelöst insbesondere vom sinkenden Erdölpreis durch die Entdeckung großer Reserven in der Sowjetunion und dem Nahen Osten. Zwar blieben die 1950er Jahre zunächst vor allem eine Zeit der Wohlsta+ndserwartung, denn der Wohlstandserfüllung, doch wesentliche Grundlagen für die Massenkonsum- und Wegwerfgesellschaft wurden hier gelegt. In der allgemein einsetzenden Begeisterung für die Automobilität wurde Bedenken in Bezug auf die Zersiedlung von Städten und die Versiegelung von Naturflächen kaum Raum gegeben.

Abb. 3: Saalansicht Abteilung Starkstromtechnik, Deutsches Museum, 1953. Während das freie Ausstellungs- und das Messewesen stetig wuchsen und sich auf Wirtschaftsförderung und Konsumanreize konzentrierten, um den wirt12 CHRISTIAN PFISTER (Hrsg.), Das 1950er Syndrom. Der Weg in die Konsumgesellschaft, Bern 1995.

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schaftlichen Wiederaufbau anzukurbeln, spiegelten museale Ausstellungen die allgemeine Aufbruchsstimmung der 1950er Jahre durch eine Fokussierung auf Zukunftsthemen. Wissenschafts- und Technikmuseen wandten sich in dieser Zeit verstärkt den Grundlagenwissenschaften zu und griffen die Euphorie über die vielversprechende Atomenergie und den sich ankündigenden kommerziellen Luftverkehr für die Massen in neueingerichteten Ausstellungen auf. Nicht ohne Grund war es im Deutschen Museum die Physik, die als eine der ersten Abteilungen nach Beseitigung der Kriegsschäden wieder hergerichtet wurde. Die erste nach Kriegsende komplett neu gestaltete Abteilung war die Starkstromtechnik (Abb. 3), die im Jubiliäumsjahr 1953 ganz im Stile der damaligen Museumsszenographie eröffnet wurde: Wie gewohnt wurde der Raum beherrscht von eindrucksvollen dreidimensionalen technischen Artefakten, über die mithilfe begleitender Texte, Abbildungen und Schemata Funktionsweise und Aufgabe innerhalb des technischen Großsystems verdeutlicht wurden. Eine soziale oder kulturelle, geschweige denn eine ökologische Kontextualisierung des Techniksystems suchte man jedoch vergebens. Die mit großen Erwartungen verbundene Kerntechnik fand im Deutschen Museum vor allem durch eine vom Informationsdienst der USA im Rahmen der Kampagne „Atoms for Peace“ entwickelten und um die Welt geschickten Wanderausstellung Beachtung, die im Herbst 1955 in der noch unbenutzten Schifffahrtshalle des Deutschen Museums gezeigt wurde.13

4.

Erklären, Bewusstmachen, Handeln: Der Aufstieg der Umwelt(geschichte) im Museum

Auch wenn die Periodisierung der Umweltgeschichte in der Wissenschaft weiterhin diskutiert wird,14 so ist doch deutlich geworden, dass die deutsche Museumslandschaft bis in die 1960er Jahre hinein ein weitestgehend umweltfreier Raum blieb. Dies änderte sich erst, als auch unter dem Einfluss der ersten Nachkriegsrezession in Deutschland 1966/67 verstärktes Augenmerk auf die möglichen Folgen des schnellen Wachstums und damit verbundenen Gesellschaftswandels geworfen wurde. Negative Nebenwirkungen wie erhöhte Verschmutzungswerte von Wasser, Böden und Luft sowie mögliches Technikversagen mit weitreichenden Folgen traten nun vermehrt in den Fokus. Medienwirksame Studien wie „Der stumme Frühling“ aus der Feder der US-amerikanischen Biologin Rachel Carson aus dem Jahr 1963 sowie die vom Club of Rome in 13 Zur Geschichte des Wiederaufbaus des Deutschen Museums nach 1945, insbesondere den verschiedenen Ausstellungsbereichen, siehe KAREN KÖNIGSBERGER, „Vernetztes System“? Die Geschichte des Deutschen Museums 1945-1980 dargestellt an den Abteilungen Chemie und Kernphysik, München 2009. 14 JENS IVO ENGELS, Umweltgeschichte als Zeitgeschichte, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 13, 2006, S. 32-38.

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Auftrag gegebene Studie „Die Grenzen des Wachstums“ von 1972, die insbesondere in Deutschland große Diskussionen auslösten, trugen maßgeblich zur Entstehung einer Umweltbewegung bei und verdeutlichten in Wissenschaft und Öffentlichkeit die Wahrnehmung, dass menschliche Verhaltensweisen langfristige Folgen für die Umwelt hatten. Die Erdölpreiskrise von 1973 und die darauf folgenden Maßnahmen wie Sonntagsfahrverbote und Geschwindigkeitsbegrenzungen trafen viele Deutsche am eigenen Leib und ließen die Rufe nach ressourcenschonenderem Konsum und umweltfreundlicherer Technik – freilich mit einer ganz bestimmten Stoßrichtung – lauter werden. Führten die Ölpreiskrisen die Abhängigkeit der modernen Industriestaaten von fossilen Energieträgern vor Augen, so wurde der Glaube an die Beherrschbarkeit der Technik vor allem durch vermehrt bekannt werdende Unfälle in Kernkraftwerken erschüttert. So kam es 1979 im amerikanischen Harrisburg im Kernkraftreaktor Three Mile Island durch Versagen von Maschinenteilen sowie Bedienungsfehlern zu einem Unfall, der eine partielle Kernschmelze zur Folge hatte und in der amerikanischen, aber auch westeuropäischen Gesellschaft zu Protesten und der Formierung einer Anti-Kernkraftbewegung beitrug. In der Museumswelt führten die gesteigerte Wahrnehmung von Umweltproblematiken und ein wachsendes Verständnis für die Fragilität von technischem Wissen insbesondere in den gegenwartsnahen Museen zu einem Umdenken. Dies fiel zusammen mit der in den 1970er Jahren ohnehin geführten Diskussion über die gesellschaftliche Rolle von Museen und die Entwicklung der professionellen Museumspädagogik, die eine Umgestaltung des „Musentempels“ zum „Lernort“ forderte.15 Während in Deutschland zunächst allgemein über eine Neuausrichtung des Museums diskutiert wurde, setzten sich Museologen in anderen Ländern bereits explizit mit der daraus resultierenden Bedeutung umweltrelevanter Themen für die Museen auseinander. In den USA hatte die American Association of Museums (AAM) bereits 1971 ein erstes Handbuch zu Umweltthemen in Museen entwickelt, das museumsübergreifend angelegt war und die Bildungsfunktion und soziale Verantwortung musealer Institutionen unterstrich.16 Im Rückblick auf die bisherige Geschichte des Museumswesens und die sichtbarer werdenden Problematiken der westlichen Konsumgesellschaften forderten viele ExpertInnen einen neuen Fokus auf die Bildungsfunktion von Museen. Erklären, bewusst machen und Anstöße liefern zu lösungsorientiertem Handeln: Dies sollten die Museen als außerschulische Bildungseinrichtungen zur Aufgabe haben. Einerseits rückten so nun umweltrelevante Themen erstmals wirklich in den Fokus musealer Praktiken. Andererseits blieben sie jedoch noch stark im gegenwartsorientierten Denken verhaftet. Historische, insbesondere kulturhistorische Aspekte fanden angesichts der drängenden 15 ELLEN SPICKERNAGEL / BRIGITTE WALBE (Hrsg.), Das Museum. Lernort contra Musentempel, Gießen 1976. 16 AMERICAN ASSOCIATION OF MUSEUMS (Environmental Committee), Museums and the Environment: A Handbook for Education, New York 1971.

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Fragen kaum Platz. Das Selbstverständnis vieler Museen, die sich an dieser Diskussion beteiligten, entsprach wohl ungefähr der Forderung von Bengt Hubendick, wie er sie bei der neunten ICOM-Konferenz 1971 in Paris formulierte: „With regard to dissemination, the first responsiblity of the museum is to explain environmental problems to the public and to demonstrate the urgency of finding solutions to population growth, the destruction of natural resources, the problem of waste and global pollution.“17

Mit Bezug auf umweltbezogene Ausstellungen waren in dieser Zeit vor allem die USA führend. Bei Ausstellungen wie „Can Man Survive?“ am American Museum of Natural History (1969) oder „Man and the Environment“ am Field Museum of Natural History (1974) lag der Fokus – die Schwerpunkte der sich formierenden Umweltwissenschaften spiegelnd – vor allem auf der Darstellung der Schäden, die die modernen industriellen Nutzungsprozesse der Erde zugefügt hatten. Fast schon unausweichlich herrschte deshalb ein didaktischer und teilweise alarmistischer Ton vor, der den Museen zwar eine kurzzeitige Präsenz innerhalb der erstarkenden Umweltbewegung ermöglichte, letztlich aber keinen nachhaltigen Erfolg versprach. In Technikmuseen fanden umweltorientierte Themen dagegen noch immer nur vereinzelt Einzug und wo sie es taten, standen häufig die Möglichkeiten technischer Lösungen im Mittelpunkt. Historisierende und interkulturelle Perspektiven auf das Mensch-Natur-Verhältnis wurden kaum thematisiert. Einen Vorstoß in diese Richtung unternahmen die sich in den 1970er Jahren von Frankreich ausgehend entwickelnden Ecomusées, die als Art Zwitter fortan einen Platz an der Schnittstelle von Museum und Baudenkmal einnahmen. Zwar haben Ecomusées weitaus weniger mit ökologischen Themen zu tun als ihr Name zunächst suggeriert, denn ihr Verständnis von Umwelt bezieht sich vor allem darauf, eine Landschaft oder Region mitsamt seiner Bevölkerung und deren Kultur zu begreifen und dies vor allem in partizipativer Weise zu tun. Dennoch hat die Idee der Ecomusées, wie sie erstmals auf verschiedenen ICOM-Konferenzen zu Beginn der 1970er Jahren formuliert wurde18, dazu beigetragen, dass sich Museen jeglicher Couleur zunehmend für ein interdisziplinäres Denken öffneten – eine Grundvoraussetzung, damit Umweltthemen überhaupt ihren Weg in die unterschiedlichen Spartenmuseen finden konnten. Gemeinsam mit der zunehmenden Verfestigung des Gedankens vom Museum als Lernort entstanden in den 1980er Jahren nun auch museale Umsetzungen von Umweltthemen, die über eine alarmistische Darstellung allein der Umweltschäden hinausgingen. Das Deutsche Museum hatte in den 1970er Jah17 BENGT HUBENDICK, Museums and Environment, in: Le musée au service des hommes aujourd’hui et demain, Proceedings of ICOM’s 9th General Conference, Paris, 1971, Paris 1972, S. 39-48. 18 HILDEGARD VIEREGG, Geschichte des Museums. Eine Einführung, München 2008, S. 156.

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ren ohnehin eine Modernisierungsphase durchgemacht und durch Umstrukturierungen vor allem die Bildung und Forschung als Bereiche akzentuiert: Gänzlich neu etabliert wurde 1971 die Hauptabteilung Bildung und Öffentlichkeit und im November 1976 wurde das Kerschensteiner Kolleg als Fortbildungseinrichtung für SchülerInnen, LehrerInnen und andere Berufsgruppen eingerichtet.19

Abb. 4: Ausstellungsraum „Umwelt“, Deutsches Museum, 2010. Während das erwachende Bewusstsein für Umweltthemen relativ schnell seinen Widerhall in Sonderausstellungen und Bildungsprogrammen finden konnte, stellte sich dies bei den Dauerausstellungen schwieriger dar. Wie auch viele andere Museen kämpfte das Deutsche Museum dabei nicht zuletzt mit der Tatsache, dass es keine expliziten Sammlungen – weder im Objekt- noch Archivbestand – zu Umweltthemen gab. Auch wenn dies aus unserem heutigen Verständnis der Umweltthematik nicht unbedingt notwendig erscheint, weil prinzipiell fast jedes Thema und damit auch jedes Objekt aus einer umwelthistorischen Perspektive befragt werden kann, verzögerte dies doch die Einrichtung einer Dauerausstellung zum Thema Umwelt. Nicht zuletzt waren an die neue Perspektive grundlegende Fragen der Museologie und des Sammlungsverständnisses geknüpft: Handelte es sich bei der Umweltthematik um ein querliegendes Thema, das sich in möglichst jedem Sammlungsbereich spiegelte, oder sollte 19 WILHELM FÜßL, Geschichte des Deutschen Museums, München 2003, S. 181 f.

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man vielmehr einen eigenen Sammlungsbereich anlegen und wenn ja, was wäre die ihm zugrunde liegende Sammlungspolitik? Das Deutsche Museum entschied sich 1992, eine eigene Ausstellungseinheit und ein daran gekoppeltes Sammlungsgebiet zu schaffen, das jedoch bezeichnenderweise „Umwelttechnik“ heißt und die Untergruppen Ökologie, Umweltschäden, Analytik und Umweltschutztechnik umfasst.

Abb. 5: Mitteldeutscher Braunkohletagebau Geiseltal, Diorama von Michael Zeno Diemer, Deutsches Museum, 1925. Sechs Jahre nach seiner Eröffnung zog der Ausstellungsbereich „Umwelt“ innerhalb des Deutschen Museums um: in das Untergeschoss der zentral gelegenen Kraftmaschinenhalle. Auch wenn die Umwelt(geschichte) nun einen bis heute gültigen Ort im Deutschen Museum gefunden hatte, so lassen Lokalität und Darstellung doch noch Rückschlüsse auf die untergeordnete Bedeutung innerhalb des traditionsreichen Hauses zu. Eingezwängt im Kellergeschoss und sowohl räumlich als auch thematisch relativ losgelöst vom Rest der übrigen Ausstellungen, führten umwelthistorische Perspektiven in den 1990er Jahren noch immer ein Schattendasein. Auch der Blick blieb noch weitestgehend eindimensional: Zwar war man sich inzwischen der Verantwortung bewusst, auch die Einflüsse von Technik auf die Umwelt darzustellen, doch ein wirkliches Durchdringen der Materie, d. h. der wechselseitigen Beeinflussung von Natur und Technik gelang noch selten. Damit blieb auch der Blick auf das Verhältnis von Mensch und Natur und der Rolle von Technik als Ausdruck dieses Ver-

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hältnisses traditionellen Mustern verhaftet: Natur und Kultur wurden noch immer als getrennte Kategorien gesehen. Umwelt wurde als etwas Additives wahrgenommen, um deren Darstellung man sich bemühte, die jedoch noch nicht als integraler Teil jeglicher menschlicher sozio-technischer Systeme zu betrachten war. Im Rahmen der aufkommenden Nachhaltigkeitsdebatte entstand insbesondere in vielen Technikmuseen – aber nicht nur dort – der Eindruck einer Natur, die zwar bedroht, letztlich aber bei intelligentem Einsatz menschlicher Fähigkeiten noch zu retten oder aber – je nach Tonlage – ohnehin bereits unrettbar war. Was wir zu welchem Zeitpunkt überhaupt unter Natur oder Umwelt verstanden haben und verstehen, was wir als schützenswert erachten und welchen Einfluss dieses Verständnis auf unser Wirken auf die Umwelt hat(te), diese Fragen wurden noch selten gestellt. Als eine zu anderen historischen Disziplinen querliegende Erweiterung der Betrachtungsweise blieb Umweltgeschichte – und hier sei insbesondere der zweite Teil des Wortes betont – trotz verschiedener Versuche in Technikmuseen und vielen kulturhistorischen Museen weiterhin randständig und verzahnte sich nur wenig mit vorhandenen Präsentationen und Darstellungsweisen. Dies überrascht insofern, als dass bei näherer Betrachtung deutlich wird, dass umweltwissenschaftliche Perspektiven eigentlich schon immer Thema dieser Museen waren; sie wurden nur nicht als solche wahrgenommen und benannt. Illustrieren kann man den sich historisch verändernden Blick am Beispiel eines für das Deutsche Museum typischen Dioramas des Braunkohletagebaus im Geiseltal (Abb. 5), das aus dem Originalbestand des Museums aus den 1920er Jahren stammt. Es ist wohl keine zu wagemutige These zu behaupten, dass wir die darin dargestellte Szenerie heute mit anderen Augen sehen als damalige MuseumsbesucherInnen. Wo diese ein Beispiel großer Ingenieursleistungen für die Nutzbarmachung von Rohstoffen zur Energieproduktion sahen, nehmen wir heute vor allem den tiefgreifenden und mit vielen langfristigen Nebenwirkungen einhergehenden Eingriff in die Natur durch die Technik wahr. Nicht menschlichen Wagemut, Leistungswillen und Eroberungskraft, sondern auch Profitdenken, Nutzungsgier und Kurzfristdenken sehen viele BesucherInnen in diesem Diorama verkörpert. Ein und dasselbe Objekt hat immer vielfältige Bedeutungen und Botschaften, die noch dazu auf unterschiedliche Empfänger stoßen. Unter diesem Gesichtspunkt wäre es interessant, Ausstellungen wie die im Deutschen Museum, die aufgrund ihrer schieren Größe mehrere Jahrzehnte Sammlungsgeschichte abbilden, unter dem umwelthistorischen Blick einmal gegen den Strich zu bürsten. Umweltgeschichte im Museum bedeutet auch, einen selbstreflexiven Blick auf sich selbst als sammelnde, forschende und bildende Institution zu werfen. Die Reflexion über die eigenen historisch gewachsenen Darstellungsweisen verspricht Erkenntnisse über deren Rolle für die Ausprägung historischer Umweltwahrnehmungen. Museen als Wissenschafts- und Repräsentationsorte, die nicht nur Wissen abbilden sondern auch produzieren, nehmen eine ganz wichtige Rolle in der Herausbildung eines Umweltverständnisses ein.

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Wie stark die Darstellung von Umwelt verknüpft sein kann mit Repräsentationen anderer Interpretationskategorien wie z. B. Geschlecht oder ethnischen Identitäten haben die Untersuchungen von Donna Haraway und Mieke Bal am Beispiel des traditionsreichen American Museum of Natural History in New York gezeigt. Haraway wandte sich dabei den berühmten Säugetierdioramen aus den 1930er Jahren zu und zeigte durch eine eingehende Analyse auf, wie in diesen Darstellungen keineswegs nur die menschlichen Vorstellungen vom tierischen Leben reflektiert werden. Denn die vermeintliche Natürlichkeit, die dort dargestellt wird, definiert zugleich Kategorien wie Geschlecht, ‚Rasse‘ und soziale Zugehörigkeiten der menschlichen Gesellschaften.20 Knapp zwanzig Jahre später beschäftigte sich die Kulturtheoretikerin Mieke Bal erneut mit dem Museum. Sie konzentrierte sich auf die dort zu findenden Darstellungen indigener Völker im Zusammenhang mit Tierdarstellungen. Dabei arbeitete auch sie heraus, dass aus vermeintlich neutralen Präsentationsformen, die eine ‚natürliche’ Situation abbilden, tatsächlich ganz bestimmte, historisch gewachsene Herrschaftsstrukturen und -praktiken sprechen.21 Auch wenn sich diese Arbeiten nicht direkt mit umweltgeschichtlichen Themen beschäftigen, sondern mit Fragen der menschlichen Identität, so waren sie doch prägend für einen neuen wissenschaftlichen Umgang mit musealen Repräsentationen. Ihre interdisziplinären Ansätze sind dabei genauso wichtig wie der Blickwinkel, den diese Arbeiten einnahmen: Das Museum und seine Ausstellungen wurden nicht länger als nahezu sakrale Orte verstanden, deren kritische Beleuchtung insbesondere ihrer Repräsentationsmuster und Definitionsmacht an eine Beleidigung grenzte. Indem die Arbeiten ganz neue Sichtweisen auf uns schon sehr vertraut gewordene Bilder ermöglichten, haben sie auch der Umweltgeschichte einen Weg bereitet. Ähnlich wie bei den von Haraway und Bal hervorgekehrten versteckten Herrschaftsmechanismen, muss in der Umweltgeschichte – insbesondere wenn sie im Museum stattfindet – der Blick hinter die Bilder gewagt werden. Die durch tradierte Präsentationsmuster und Objektsammlungen transportierten Naturbilder und -interpretationen bedürfen einer kritischen Analyse. Insbesondere sollte der Binarismus zwischen Natur und Kultur betrachtet werden. Dabei geht es nicht darum, vergangene museale Umgangsweisen und -deutungen im Nachhinein als falsch oder unzureichend zu stigmatisieren, sondern um eine differenziertere und selbstreflexive Betrachtung unserer eigenen kulturellen Aneignungs- und Interpretationsweisen von Umwelt und der dahinterstehenden gesellschaftlichen Aushandlungsprozesse. Für das Deutsche Museum war diesbezüglich die 2002-2003 gezeigte Sonderausstellung „Klima – Das Experiment mit dem Planeten Erde“ wegweisend. Auch wenn der Fokus auf der damals in der breiten Öffentlichkeit diskutierten 20 DONNA HARAWAY, Teddy Bear Patriarchy. Taxidermy in the Garden of Eden, New York City, 1908-1936, in: Social Text 11, 1984/1985, S. 20-64. 21 MIEKE BAL, Sagen, Zeigen, Prahlen, in: MIEKE BAL, Kulturanalyse, Frankfurt a. M. 2002, S. 72-116.

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Gefahr des Klimawandels lag und die Ausstellung dazu wissenschaftlichtechnische Informationen und Hintergründe bot, wurde das Klima als Phänomen auch in seiner historisch gewachsenen und gewandelten Beziehung zum Menschen gesetzt. Die damit aufgemachte kulturhistorische Perspektive auf das Klima ergänzte die aktuelle wissenschaftliche Diskussion und thematisierte die umwelthistorische Dimension menschlichen Umgangs und Reaktion, ja sogar induzierte Beeinflussung, auf klimatische Phänomene. Der Einleitungstext des Ausstellungskatalogs machte nicht nur deutlich, wie neu diese Zusammenschau für den Museumsbereich war, sondern brachte ebenso auf den Punkt, dass die althergebrachte Trennung zwischen Natur und Kultur, in diesem Fall Technik, in Zeiten der tiefen menschlichen Eingriffe in das System Erde obsolet geworden ist: „Wetter und Klima, so möchte man meinen, sind kein Thema für ein Technisches Museum, sondern handeln von Natur. […] Natur und Kultur lassen sich allemal nicht mehr säuberlich voneinander trennen und so bildet denn auch ein prominentes Symbol technischer Kultur, eine Dampfmaschine, den Auftakt zur Klimaausstellung im Technischen Museum.“22

Die Wahrnehmung dieser Verschränkung von Phänomenen, Ursachen, Interpretationen und damit auch Wissenschaften und Museumssparten spiegelt sich auch in der 2011 begonnenen Zukunftsinitiative des Deutschen Museums, in deren Rahmen nicht nur eine umfangreiche Gebäudesanierung sowie der Bau eines Schaudepots angegangen werden, sondern auch alle Ausstellungsbereiche aktualisiert bzw. gänzlich neu eingerichtet werden. Die in der Klima-Ausstellung bereits exerzierte Interdisziplinarität wird nun auch auf die Dauerausstellungen übertragen: So werden die alten Themengruppen, die teilweise seit der Museumsgründung vor über 100 Jahren Geltung hatten, aufgelöst zugunsten von Themenclustern, die die alten, starren Fachgebiets- und Sammlungsgrenzen überwinden und den Weg in Richtung einer inter- und transdisziplinären Technik-, Wissenschafts- und Umweltforschung weisen. Neben dem zentralen Cluster zum Themenblock Umwelt, Gesundheit und Lebenswelt werden umweltrelevante Aspekte auch in den anderen Bereichen wie Verkehr und Mobilität, Material und Produktion oder Medien, Kommunikation und Information eine wichtige Rolle spielen. Zur neuen Bedeutung umweltwissenschaftlicher Themen im Deutschen Museum trägt auch das seit 2009 bestehende Rachel Carson Center for Environment and Society (RCC) bei. Als internationales und interdisziplinäres Zentrum für Geisteswissenschaftliche Forschung wurde es als gemeinsame Initiative der Ludwig-Maximilians-Universität in München und dem Deutschen Museum gegründet und wird im Rahmen der Förderinitiative „Käte Hamburger Kollegs“ vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanziert. Ziel des RCC ist 22 WALTER HAUSER (Hrsg.), Klima – Das Experiment mit dem Planeten Erde, München 2002, S. 9.

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es, die Rolle von Geisteswissenschaften in gegenwärtigen politischen und wissenschaftlichen Debatten über die Umwelt zu stärken. Neben einem Fellowship-Programm unterhält es mehrere Schriftenreihen und bietet ein breitgefächertes Outreach-Programm in die Gesellschaft hinein, das u. a. eine Filmreihe, das Digital Environment and Society Portal sowie Ausstellungen im Deutschen Museum und anderen Orten umfasst.23

Abb. 6: Sonderausstellung „Klima – Das Experiment mit dem Planeten Erde“, Ausstellungsbereich „Messen und Beobachten“, Deutsches Museum, 2002. Ein wichtiger Schritt, den Museen mit Unterstützung anderer Einrichtungen wie dem Rachel Carson Center gehen müssen, ist die Heranführung an die Gegenwart und Zukunft. Damit ist nicht nur die Aktualisierung von Darstellungsweisen oder das Aufgreifen aktuell diskutierter Themen gemeint. Es geht vielmehr um eine Frage der Haltung. Ihre Zukunft und bedeutende Rolle für in Gesellschaft und Politik diskutierte Problemlagen können Museen langfristig nur sichern, wenn sie ihre Scheu vor allem Gegenwärtigen und Zukünftigen ablegen. Natürlich erfordert diese Erweiterung viel Fingerspitzengefühl. Der Wert, der insbesondere in den vielfältigen Museumssammlungen liegt, darf dabei nicht aus den Augen verloren werden. Im Gegenteil: Es muss darum gehen, Wege zu finden, wie dieser Wert insbesondere durch eine sinnvolle und bereichernde Ver23 Für mehr Informationen zum RCC siehe http://www.carsoncenter.uni-muenchen.de/ sowie für das Digital Portal http://www.environmentandsociety.org/.

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knüpfung von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wieder in den Mittelpunkt gerückt werden kann.

5.

Von der Beglaubigungsinstanz zum Ort der Kontroverse und Diskussion: Umweltthemen im Museum des 21. Jahrhunderts

Blickt man aus der Perspektive der Umweltgeschichte auf die Museumsgeschichte zurück, so ergibt sich heute ein ganzer Strauß an Möglichkeiten. Umweltgeschichte ist nicht einfach nur ein weiteres Thema, das Museen hier und da verarbeiten müssen. Sie stellt vielmehr eine große Chance dar, sich neu zu positionieren und die Rolle von Museen für unsere Gesellschaften auf überzeugende Weise zu definieren. Um dieses Potenzial nutzen zu können, müssen sich Museen allerdings auf Wagnisse einlassen. Die museale Beschäftigung mit Umweltgeschichte bedarf eines gänzlich neuen Sehens. Umwelt kann nicht länger additiv als etwas Zusätzliches gesehen werden und in schwer erreichbare Keller oder kaum einsichtige Ecken ‚verbannt’ werden. Mensch und Natur müssen mehr denn je zusammen gedacht werden, was insbesondere für Technikmuseen bedeutet, dass Umwelt nicht lediglich ein weiterer Themenbereich ist, sondern vielmehr Teil jedes technischen Systems und damit jeder Ausstellungsthematik sein muss. Gerade weil sowohl Technik als auch Natur als menschengemacht gelten können, bedarf ihre Betrachtung mitsamt ihrer Wechselwirkungen interdisziplinärer Ansätze zwischen Natur-, Geistes- und Sozialwissenschaften. Übertragen auf den Museumsbereich bedeutet dies die Notwendigkeit der Überwindung alter, oft künstlich aufrechterhaltener Kategorien und Zuständigkeiten. Mehr Zusammenarbeit der unterschiedlichen Sparten würde nicht die Existenz der einzelnen Häuser gefährden, sondern dazu beitragen, Museen als Orte des integrativen Wissens und der ganzheitlichen Reflexion und Diskussion für die Gesellschaft zu stärken. Als Basis der musealen Beschäftigung mit Umweltthemen müssen auch neue Objekte erschlossen bzw. bestehende Sammlungen gegen den Strich gebürstet werden. In dreidimensionalen Hinterlassenschaften finden wir die materielle, nicht selten sogar einzige Überlieferung vergangener menschlicher Umgangsformen und -interpretationen von Natur und Umwelt.24 Um als Wissensagenturen und Diskussionsplattformen im Rahmen von Umweltdebatten und Aushandlungsprozessen nutzbar zu sein, müssen Museen – genau wie andere Institutionen – alte Darstellungs- und Interpretationsmuster der Umweltgeschichte hinterfragen, die häufig nur wenige Zwischentöne zwischen Fortschrittsparadigma auf der einen und Niedergangsgeschichte auf der anderen Seite zuließen. Museen sollten sich offen direkt in die Mitte der Diskus24 CHRISTOPHER CLARKE, Museums, the Environment, and Public History, in: MARTIN V. MELOSI / PHILIP V. SCARPINO (Hrsg.), Public History and the Environment, Malabar, Florida 2004, S. 130-131.

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sion begeben und sich mit ihren Beiträgen um frische und neue Sichtweisen bemühen, um Handlungsmöglichkeiten auf der Basis einer breiten gesellschaftlichen Diskussion auszuloten. Dies beinhaltet jedoch auch, dass sich Museen stärker als bisher den sogenannten ‚hot topics’ zuwenden. Anstatt sich hinter den Schutzwall angeblich bewiesener historischer und wissenschaftlicher Tatsachen zurückzuziehen, sollten sich Museen selbstbewusst damit auseinandersetzen, dass auch sie nicht fertige Antworten, sondern vor allem Denk- und Diskussionsanstöße auf der Basis fundierter Wissenschaft und Museumspraxis anbieten können. Erste Ansätze hin zu einer partizipativen und kontroversen Darstellung und Auseinandersetzung sind bereits gemacht, doch ihr wahres gestalterisches Potenzial für die Gesellschaft können Museen erst ausschöpfen, wenn sie sich – bei Einhaltung aller gebotenen wissenschaftlichen Vernunft – aktiv in den Prozess der Wissensgenerierung und Meinungsbildung einschalten. Tatsächlich zeigen viele Erfolgsmodelle aus der ganzen Welt, dass Kontroversen nicht nur aus marketingstrategischen Gesichtspunkten gut sind für die Museumswelt.25 Natürlich agieren Museen nie im luftleeren Raum. Nicht zuletzt vor dem Hintergrund schmaler werdender öffentlicher Budgets und der steigenden Notwendigkeit des Sponsorings zur Aufrechterhaltung des Museumsbetriebs, sind sie stets gezwungen einen Drahtseilakt zwischen Wissenschaftlichkeit, Neutralität, Finanzierbarkeit und öffentlichen Erwartungen zu vollziehen. Gerade hier aber setzt die Bedeutung der Gegenwart und Zukunft ein. Es ist und bleibt Aufgabe des Museums, seine Relevanz für die Gesellschaft über seine Angebote deutlich zu machen. Innerhalb dieses Rahmens kommt den Themen der Umwelt eine wichtige Rolle zu, denn hier verknüpfen sich Vergangenheit – aufgezeichnet in schriftlichen und bildlichen Quellen, aber eben auch materiellen Hinterlassenschaften – mit gegenwärtigen Fragestellungen und in der Zukunft zu erwartenden Situationen und notwendigen Handlungsstrategien. Auch wenn es bisweilen ein wenig abgedroschen klingen mag, in kaum einem anderen Feld trifft es so deutlich zu: Nur wenn wir verstehen, wie sich das menschliche Verhältnis zur Umwelt entwickelt hat und dies zur gegenwärtigen Situation führte, nur dann können wir Strategien zum Umgang mit der Umwelt in der Zukunft entwickeln. Sich als Museum mit der Gegenwart oder gar Zukunft zu beschäftigen, kann und darf nicht heißen, die Bedeutung der Vergangenheit herabzusetzen oder gar als Prophet auftreten zu wollen. Es ist vielmehr die Forderung nach einer Ausdehnung des Blickwinkels: Insbesondere im Bereich der Umweltwissenschaften ist die Kenntnis von vergangenen Zukunftsvisionen, Handlungsoptionen und eingeschlagenen Wegen inklusive ihrer Auswirkungen begehrenswertes Wissen für die Gestaltung der Gegenwart und Zukunft. Museen sind für die Vermittlung dieses Wissens nicht nur besonders geeignet, sondern aufgrund ihrer Publikumswirksamkeit sogar explizit dazu aufgerufen. Nehmen wir die Herausforderungen der gegenwärtigen Welt ernst, brauchen 25 FIONA CAMERON / LYNDA KELLY (Hrsg.), Hot Topics, Public Culture, Museums, Newcastle 2010.

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wir eine demokratisch fundierte Technikbewertung, deren Basis ein breites Wissen um umweltwissenschaftliche Vergangenheit sein muss. Museen müssen sich dafür nicht bis zur Unkenntlichkeit verwandeln. Im Gegenteil: Es sind gerade die Merkmale, die sie zu Museen machen, die großes Potenzial für Umweltthemen und Umweltgeschichte in sich tragen. Ausstellungen bieten aufgrund ihrer dreidimensionalen inszenatorischen Darstellungsweise besondere Möglichkeiten, die systemischen Zusammenhänge auf visuell attraktive Weise darzustellen und die Möglichkeit sinnlichen Erlebens komplexer Zusammenhänge.26 Zudem verfügen Museen mit ihren Objektsammlungen über ein Kapital, das sie auf besondere Weise von Universitäten unterscheidet. Ihre Objekte geben uns als historische Quellen Auskunft über vergangene Naturbilder. Zudem offenbaren sie Informationen über die Entstehung, die Benutzung und die Entsorgung materieller Kultur in historischer Perspektive – ein Reservoir an Informationen, die schriftliche und bildliche Quellen ergänzen können, aber bislang zu wenig genutzt werden. Das große Thema „Umwelt“ fordert das Museum als sammelnde, zeigende, forschende und lehrende Institution heraus. Es hält ihr einen Spiegel vor und fragt nach der Relevanz des Museums als gesellschaftliche und politische Institution. Noch wissen wir nicht, wie die Antwort auf diese Frage ausfallen wird, aber klar scheint, dass das 21. Jahrhundert auch für das Museum das Zeitalter der Umwelt werden wird.

26 Siehe hierzu in diesem Band NINA MÖLLERS, Das Anthropozän. Wie ein neuer Blick auf Mensch und Natur das Museum verändert.

 

WERNER RÖSENER

Der Wandel der Kulturlandschaft aus der Perspektive der Agrargeschichte 1.

Einleitung

Als Caesarius, der ehemalige Abt des Eifelklosters Prüm, im Jahre 1222 eine Neufassung des älteren Prümer Urbars von 893 vornimmt, notiert er eine interessante Beobachtung zur Entwicklung der Kulturlandschaft: Es seien jetzt, wie er schreibt, mehr als drei Jahrhunderte verflossen, seitdem das ältere Urbar abgefasst worden sei. In diesem Zeitraum seien viele Wälder gerodet, zahlreiche Dörfer errichtet, auch viele Weinberge angelegt und ausgedehnte Ländereien kultiviert worden.1 Caesarius, der die einzelnen Besitzungen und Rechte des bedeutenden Benediktinerklosters kenntnisreich kommentiert,2 ist ein zuverlässiger Zeuge des grundlegenden Wandels, den die deutsche Kulturlandschaft in der hochmittelalterlichen Ausbauphase vom 11. bis 13. Jahrhundert erlebte. Für uns stellt sich in einer erweiterten Zeitdimension die Frage, wieweit sich die nordwestdeutsche Kulturlandschaft vom Frühmittelalter bis zum 19. Jahrhundert in agrarhistorischer Hinsicht verändert hat. Im Folgenden soll das gestellte Thema anhand von drei Schnittstellen untersucht werden, die wichtige Stationen des Kulturlandschaftswandels markieren. Zuerst soll ein Blick auf die Verhältnisse des Frühmittelalters in Siedlung, Agrarwirtschaft und Umwelt geworfen werden, wobei die Zeit des 9. Jahrhunderts in besonderem Maße interessiert. Es folgen eine Untersuchung der Wandlungsprozesse des Hochmittelalters und speziell ein Blick auf die Kulturlandschaft der Zeit um 1300. In einem dritten Schritt werden schließlich die kulturlandschaftlichen Verhältnisse in der Mitte des 19. Jahrhunderts untersucht, als Bauernbefreiung und Markenteilung wichtige Veränderungen in der Agrarlandschaft verursachten. Bei diesem jahrhundertelangen Prozess des Wandels der Kulturlandschaft3 in Mittelalter und Neuzeit treten neben den Natur- und Um1 2 3

HEINRICH BEYER (Hrsg.), Urkundenbuch zur Geschichte der jetzt die Preußischen Regierungsbezirke Coblenz und Trier bildenden mittelrheinischen Territorien, Bd. 1: Von den ältesten Zeiten bis zum Jahr 1169, Koblenz 1860, S. 201. Vgl. LUDOLF KUCHENBUCH, Bäuerliche Gesellschaft und Klosterherrschaft im 9. Jahrhundert. Studien zur Sozialstruktur der Familia der Abtei Prüm, Wiesbaden 1978, S. 12-27. Dazu HELMUT JÄGER, Entwicklungsprobleme europäischer Kulturlandschaften, Darmstadt 1987; DERS., Einführung in die Umweltgeschichte, Darmstadt 1994; MARTIN BORN, Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft, Darmstadt 1974; HANSJÖRG KÜSTER, Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa, München 1995; WINFRIED SCHENK, Historische Kulturlandschaftsforschung im Spannungsfeld von älteren Ansätzen und aktuellen Fragestellungen und Methoden, in: Siedlungsforschung 24, 2006, S. 9-12.

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Wandel der Kulturlandschaft

weltfaktoren vor allem Grundherren und Bauern als Hauptakteure in Erscheinung, da bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts fast 70 Prozent der Bevölkerung in der Landwirtschaft tätig sind und dementsprechend Wirtschaft und Gesellschaft wesentlich vom Agrarsektor geprägt werden.4 Als Beobachtungsfeld sollen uns der nordwestdeutsche Raum und insbesondere das Gebiet zwischen Ems und Weser dienen.

2.

Die Zeit um 850 im Kontext frühmittelalterlicher Verhältnisse

Wenn wir unseren Blick auf die Epoche des Frühmittelalters und auf die damaligen Formen der Kulturlandschaft richten, so kann uns die bekannte Geschichtsquelle der Translatio Sancti Alexandri einen ausgezeichneten Einstieg in unser Thema gewähren.5 In diesem Schriftzeugnis wird die Translation der Reliquien des Heiligen Alexanders von Rom nach Wildeshausen durch Waltbert, dem Enkel des Sachsenherzogs Widukind, in den Jahren 850 bis 851 geschildert und dabei werden die Reisestationen Osnabrück, Wallenhorst, Bokern bei Damme, Holtrup bei Vechta und Wildeshausen erwähnt. Diese Translation muss im Kontext der Missionierung und herrschaftlichen Durchdringung Sachsens durch einheimische Magnaten und erobernde Franken nach den langjährigen Sachsenkriegen Karls des Großen gesehen werden.6 Erst die religiöse, wirtschaftliche und politische Erfassung des westfälischen Raumes, in dem Herzog Widukind und sein Geschlecht ihre Hauptbasis gehabt hatten, konnte dauerhafte Strukturen in Wirtschaft, Herrschaft und Kirchenorganisation schaffen. Osnabrück war gegen Ende des 8. Jahrhunderts im Zuge der Sachsenmission Sitz einer Bischofskirche geworden, die erst allmählich auf seine Umgebung einwirkte. Das Gebiet der späteren Diözese war zunächst vor allem von den Missionszellen Meppen und Visbek geprägt, welche die Christianisierung dieser

4 5

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Vgl. WERNER RÖSENER, Die Bauern in der europäischen Geschichte, München 1993, S. 242; FRIEDRICH-WILHELM HENNING, Landwirtschaft und ländliche Gesellschaft in Deutschland, Bd. 1: 800 bis 1750, Paderborn 1979, S. 24 f. BRUNO KRUSCH, Die Übertragung des H. Alexanders von Rom nach Wildeshausen durch den Enkel Widukinds 851. Das älteste niedersächsische Geschichtsdenkmal, in: Nachrichten der Gesellschaft der Wissenschaften zu Göttingen aus dem Jahre 1933. Philologisch-Historische Klasse 1933, S. 405-436. Vgl. HEDWIG RÖCKELEIN, Reliquientranslationen nach Sachsen im 9. Jahrhundert. Über Kommunikation, Mobilität und Öffentlichkeit im Frühmittelalter, Stuttgart 2002, S. 127-134. Vgl. DIETER HÄGERMANN, Bremen und Wildeshausen im Frühmittelalter. Heiliger Alexander und heiliger Willehad im Wettstreit, in: Oldenburger Jahrbuch 85, 1985, S. 15-33; HEINRICH SCHMIDT, Die Bremer Kirche und der Unterweserraum im frühen und hohen Mittelalter, in: WERNER GOEZ U. A. (Hrsg.), Stadt, Kirche, Reich. Neue Forschungen zur Geschichte des Mittelalters anlässlich der 1200. Wiederkehr der ersten urkundlichen Erwähnung Bremens, Bremen 1983, S. 9 f.

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Region vorantrieben.7 Die Kirche in Visbek war eine Stiftung des Adeligen Gerbert, der dem dortigen Kloster als Abt Castus vorstand und den Bau von Kirchen in den Nachbarorten unterstützte. Visbek hatte 819 von Ludwig dem Frommen die Immunität verliehen bekommen, was den damaligen Rang der Visbeker Missionszentrale eindrucksvoll demonstrierte.8 Sächsische Adelige wie Gerbert waren eng mit den Adelsgeschlechtern der Franken verbündet und betrieben die Christianisierung des Landes zugleich zum Ausbau ihrer eigenen Besitz-und Herrschaftsstellung. Ein direkter Nachkomme Widukinds,9 sein Enkel Waltbert, der als Graf im Lerigau fungierte, errichtete in den vierziger Jahren des 9. Jahrhunderts in Wildeshausen ein Kanonikerstift, in das er im Winter 850/51 einen Reliquienschatz aus Rom herbeiführte, und zwar die Körperreliquien des Märtyrerheiligen Alexander, die der Sakralausstattung der jungen Kirche in Wildeshausen dienen sollten. Der Translationsbericht der Fuldaer Mönche beschreibt den Reliquienzug des Heiligen Alexanders in den Wintermonaten 850/51 durch die damalige Landschaft zwischen Osnabrück und Wildeshausen eindrucksvoll anhand seiner Hauptstationen. Im Bericht wird Osnabrück als monasterium10 bezeichnet, womit offenbar auf das Osnabrücker Domstift hingewiesen wird, von dem die Reisegesellschaft würdevoll empfangen wurde. Nördlich von Osnabrück nahm der Reliquienzug seinen Weg durch das Dorf Wallenhorst, wo der Heilige durch ein Wunder bei einem Augenkranken die allgemeine Aufmerksamkeit erregte. In Wallenhorst, wo ein Meierhof stand, befand sich das Zentrum einer Grundherrschaft mit abhängigen Bauernstellen. Anschließend machte der Zug Halt in Bokern bei Damme, wo der Anführer des Zuges, Graf Waltbert, offensichtlich über Eigengut verfügte, da eine Hörige des Grafen hier von einer Krankheit geheilt wurde.11 Bokern lag im Gau Dersaburg, der erstmals 785 in Verbindung mit den Eroberungszügen Karls des Großen im westlichen Sachsen genannt wird.12 Auf der nächsten Station, im Dorf Holtrup im Lerigau an der Straße von Vechta nach Visbek, wurde ein junges Mädchen vom Heiligen Alexander geheilt.13 Dies war der letzte Halt des Zuges, bevor man in Wildeshausen, ebenfalls im Lerigau gelegen und Zielort der Translation, ankam. Welche Besonderheiten lässt die damalige Kulturlandschaft zwischen Osnabrück und Wildeshausen erkennen? Die genannten Stationen Wallenhorst, Bokern und Holtrup waren offenbar altbesiedelte Orte, die als Gehöftgruppen und Dörfer in Erscheinung traten. Zwischen diesen Orten mit ihren Fronhöfen, 7 8 9 10 11 12 13

Vgl. HANS PATZE, Mission und Kirchenorganisation in karolingischer Zeit, in: DERS. (Hrsg.), Geschichte Niedersachsens, Bd. 1, Hildesheim 1977, S. 653-712, hier S. 698. JOHANN FRIEDRICH BOEHMER (Bearb.), Regesta Imperii, Bd. 1. Die Regesten des Kaiserreiches unter den Karolingern 751-918, Innsbruck 1908, Nr. 702. KARL SCHMID, Die Nachfahren Widukinds, in: Deutsches Archiv 20, 1964, S. 1-47. KRUSCH, Übertragung, S. 431. Ebd. Vgl. RÖCKELEIN, Reliquientranslationen, S. 314. KRUSCH, Übertragung, S. 431.

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Wandel der Kulturlandschaft

Bauernstellen und Ackerfeldern erstreckten sich große Waldflächen sowie ausgedehnte Moor- und Niederungszonen. Die Frühform des nordwestdeutschen Dorfes setzte sich aus einer lockeren Ansammlung von Bauernhöfen zusammen, die nicht ein breiter Acker- und Grasgürtel, sondern nur ein schmaler Innenring umgab, in dem das geringe, aus Streifen und Blöcken zusammengesetzte Getreideland und auch die Hofweide vereint waren, die als Nah- und Nachtweide diente.14 Um diesen Innengürtel der Hofstellen, der mit Bäumen durchsetzt war, legte sich ein breiter, zunächst lockerer, dann dichter werdender Wald, der als Sommer- und Außenweide, Jagd- und Holzrevier diente und allmählich in die noch weitgehend unberührten Kernwaldzonen überging. Man muss also von der Nutzung her eine dreifache Gliederung des Landes annehmen. Es bestand aus dem Kulturland in engerem Sinne, das als Garten, Acker, Wiese und Weide diente, ferner den Randzonen der Wälder, die durchweidet wurden, und schließlich den eigentlichen Kernwaldflächen. Diese waren oft große Niederungs- oder Bergwälder, die aus Eichen, Buchen und anderen Bäumen bestanden und ein dichtes Unterholz aufwiesen. Aus dieser Skizzierung der frühmittelalterlichen Siedlungsformen wird deutlich, dass in der damaligen Kulturlandschaft die Kleinsiedlungen vorherrschten und das Haufendorf mit geschlossener Ackerflur, Gemengelage der Parzellen und Feldgemeinschaft eine spätere Erscheinung war. Die Einzelhöfe und Gehöftgruppen des Frühmittelalters waren jedenfalls nicht von weiten Getreideflächen umgeben; es herrschte vielmehr eine viehbetonte, noch ungeregelte Feldgraswirtschaft vor. Ansätze zur Dreifelderwirtschaft und zur intensiven Bebauung von Eschfluren waren zwar vorhanden, doch die eigentliche Zeit der Dreifelderwirtschaft, sofern sie sich ausbildete, begann erst im Hochmittelalter.15 Der Nahrungshaushalt eines frühmittelalterlichen Bauernhofes stützte sich nach Berechnungen von Wilhelm Abel auf Getreideerträge, die auf ungefähr drei Hektar Ackerland gewonnen wurden. Daneben war dieser Hof auf Viehhaltung angewiesen, damit die Bauernfamilie mit genügend Milch und Fleisch versorgt wurde. Zur Fleischbeschaffung diente mit Vorrang die Haltung von Schweinen, die in ausgedehnten Wäldern reichlich Nahrung fanden. Aufschlussreiche Einblicke in die Agrarwirtschaft und Kulturlandschaftsentwicklung des Osnabrücker Nordlandes gewährt die Heberolle des Reichsklosters Corvey aus der Zeit um 1000.16 Diese Heberolle verzeichnet detailliert die Landausstattung der einzelnen Fronhöfe und Bauernhufen sowie die Abga-

14 Vgl. WILHELM ABEL, Geschichte der deutschen Landwirtschaft vom frühen Mittelalter bis zum 19. Jahrhundert, Stuttgart 1967, S. 17; WERNER RÖSENER, Bauern im Mittelalter, München 1985, S. 40-45. 15 Vgl. WERNER RÖSENER, Agrarwirtschaft, Agrarverfassung und ländliche Gesellschaft im Mittelalter, München 1992, S. 20. 16 HANS HEINRICH KAMINSKY, Studien zur Reichsabtei Corvey in der Salierzeit, Köln 1972, S. 195-222.

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ben der zinspflichtigen Bauern.17 Ausführlich werden auch die umfangreichen Corveyer Besitzungen im Osnabrücker Nordland zwischen Ems und Hunte beschrieben. In den Jahren 834 und 855 hatten die fränkischen Könige die Missionszellen Meppen und Visbek samt ihren umfangreichen Grundbesitzungen und Rechten an die Weserabtei Corvey übertragen. Zum Grundherrschaftszentrum Visbek gehörten neben Villikationen und zahlreichen Bauernhufen auch viele Eigenkirchen im Leri-, Hase- und Fenkigau.18 Da sich die Corveyer Besitzverhältnisse im Nordland während des 10. Jahrhunderts wenig verändert haben, spiegeln die Angaben der Corveyer Heberolle noch im Wesentlichen den karolingerzeitlichen Besitzstand wider. Aus den Angaben zu den Leistungen des Sallandes der Herrenhöfe und den Abgaben der hörigen Bauern ersieht man, dass im Nordland der Roggenanbau an erster Stelle stand.19 Neben dem Roggen war der Hafer ein wichtiges Nahrungsmittel der bäuerlichen Haushalte. Weizen wurde fast überhaupt nicht angepflanzt, worin sich die begrenzte Fruchtbarkeit der Geestböden des Osnabrücker Nordlandes spiegelte. Die ausgedehnten Heideflächen zwischen Ems und Hunte bildeten offensichtlich schon damals eine gute Voraussetzung für eine intensive Schafzucht mit ihren Woll- und Fleischprodukten. Die Abgabe von umfangreichen Honigmengen wies außerdem auf eine blühende Bienenzucht in diesen Gebieten hin.

3.

Die Zeit um 1300 am Ende des Hochmittelalters

Ein Blick auf die Verhältnisse in Agrarwirtschaft und Kulturlandschaft in der Zeit um 1300 kann den Umfang der Veränderungen verdeutlichen, welcher in der Epoche des Hochmittelalters auch im nordwestdeutschen Raum eingetreten ist. Vom 11. bis 13. Jahrhundert erlebte Mitteleuropa zweifellos grundlegende Wandlungen in Siedlungsstruktur, Bevölkerungsdichte, Wirtschaft und Herrschaft. Die hochmittelalterliche Aufschwungsphase, die von einem optimalen Warmklima begünstigt wurde,20 war geprägt von einer starken Bevölkerungszu-

17 Vgl. WERNER RÖSENER, Strukturformen der älteren Agrarverfassung im sächsischen Raum, in: Niedersächsisches Jahrbuch 52, 1980, S. 107-143, hier S. 129 f.; DERS., Zur Struktur und Entwicklung der Grundherrschaft in Sachsen in karolingischer und ottonischer Zeit, in: ADRIAAN VERHULST (Hrsg.), Le grand domaine aux époques mérovingienne et carolingienne, Gent 1985, S. 173-207, hier S. 196-203. 18 RÖSENER, Struktur und Entwicklung, S. 199; HEINRICH SCHMIDT, Visbek, in: ULRICH FAUST (Bearb.), Die Benediktinerklöster in Niedersachsen, Schleswig-Holstein und Bremen, München 1979, S. 485-487. 19 KAMINSKY, Studien, S. 36-38, S. 195-222. 20 Vgl. WERNER RÖSENER, Das Wärmeoptimum des Hochmittelalters. Beobachtungen zur Klima- und Agrarentwicklung des Hoch- und Spätmittelalters, in: Zeitschrift für Agrargeschichte etc. 58, 2010, S. 13-30.

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nahme, intensiver Rodungstätigkeit und umfangreichem Landesausbau.21 Seit dem 11. Jahrhundert vergrößerte sich die Bevölkerung in den meisten Ländern um das Zwei- bis Dreifache, so dass um 1300 eine erkennbare Grenze der Expansion erreicht war. Parallel zur Bevölkerungszunahme wurde das Kulturland an vielen Stellen auf Kosten der bis dahin noch nicht bewirtschafteten Flächen ausgeweitet. Dieser hochmittelalterliche Landesausbau vollzog sich im WeserEms-Gebiet in der Marschenkolonisation entlang der Küsten und Flüsse, wo Deiche errichtet und Sumpfflächen trockengelegt wurden, in den ausgedehnten Moorgebieten der Niederungszonen und in den waldigen Mittelgebirgszonen des südlichen Osnabrücker Landes, wo Wälder gerodet und neue Dörfer angelegt wurden. In den ausgedehnten Geestebenen zwischen Ems und Weser entstanden ferner zahlreiche neue Siedlungen mit Esch- und Weidefluren, so dass der Zugang zu den dazwischen liegenden Markenzonen stärker reglementiert wurde. Unter den Marken sind dabei sich allmählich ausbildende Landschaftsteile zu verstehen, an denen die benachbarten Siedlungen gemeinschaftliche Anteilsrechte besaßen. Diese Expansion des Hochmittelalters verwandelte das Bild der nordwestdeutschen Kulturlandschaft in einem Ausmaße, wie es seitdem nur noch in der Epoche der Industrialisierung während des 19. und 20. Jahrhunderts geschah. Im Kontext dieses Landesausbaus wirkte außerdem ein weiterer wichtiger Faktor auf das Siedlungsbild, die Agrarwirtschaft und die Kulturlandschaft ein, und zwar die Urbanisierung.22 Während des 12. und 13. Jahrhunderts wurden nämlich zahlreiche Städte gegründet, so dass um 1300 die Stadtentstehung in Mitteleuropa einen Höhepunkt erreicht hatte. Im Weser-Ems-Raum waren dies die größeren Städte Osnabrück, Oldenburg und Bremen, aber auch Kleinstädte wie Friesoythe, Vechta und Wildeshausen. Die Notwendigkeit, die städtische Bevölkerung aus der agrarischen Überschussproduktion mit zu ernähren, führte ebenfalls dazu, dass man die Getreideflächen erweiterte und das Ackerland intensiver bebaute. Im Zuge des Landesausbaus und der Verstärkung der bischöflichen Herrschaft kam es um 1070 zu einer heftigen Auseinandersetzung zwischen Bischof Benno II. von Osnabrück und den Bauern nahe der Iburg im nördlichen Teutoburger Wald.23 Die Bauern jener Gegend trieben nach alter Gewohnheit ihre 21 Allgemein dazu ABEL, Landwirtschaft, S. 67-109; HAGEN KELLER, Zwischen regionaler Begrenzung und universalem Horizont. Deutschland im Imperium der Salier und Staufer 1024 bis 1250, Frankfurt a. M. 1990, S. 238-257; RÖSENER, Agrarwirtschaft, S. 16-22. 22 Vgl. FRANK G. HIRSCHMANN, Die Stadt im Mittelalter, München 2009, S. 12 f.; WILHELM KOHL, Die Ämter Vechta und Cloppenburg vom Mittelalter bis zum Jahre 1803, in: ALBRECHT ECKHARDT/ HEINRICH SCHMIDT (Hrsg.), Geschichte des Landes Oldenburg, Oldenburg 1987, S. 235-260. 23 HEINRICH BRESSLAU (Hrsg.), Vita Bennonis II. episcopi Osnabrugensis autore Nortberto abbate Iburgensi, Hannover 1902, S. 16 f. – Vgl. WERNER RÖSENER, Bauern in der Salierzeit, in: STEFAN WEINFURTER (Hrsg.), Die Salier und das Reich, Bd. 3: Gesellschaftlicher

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Schweine in die bei der Iburg gelegenen Wälder und mästeten sie dort an den reichen Eichelerträgen. Bischof Benno jedoch, der seit 1068 an der Spitze des Osnabrücker Hochstifts stand und voll Energie den Ausbau der bischöflichen Herrschaft betrieb, wollte die Markenrechte der Bauern nicht mehr gelten lassen. Er betrachtete den bei der Iburg gelegenen Wald als herrschaftliches Eigentum und erklärte ihn zu einem bischöflichen Forst. Als der bischöfliche Verwalter die Bauern mit Gewalt am Betreten der strittigen Waldflächen hindern wollte, wurde er von den aufgebrachten Bauern vertrieben. Sie waren davon überzeugt, dass ihnen alte genossenschaftliche Rechte zu Unrecht entzogen würden und wollten ihren Anspruch durch Eid bekräftigen. Bischof Benno aber überlistete die Bauern und ließ allein die eidliche Aussage seines Vogtes gelten, der zusammen mit einigen Getreuen und bischöflichen Gefolgsleuten das strittige Waldstück umschreiten und zum alleinigen Besitz des Bischofs erklären ließ. Der Bischof befahl dann, den ihm zugesprochenen Berg abzuholzen und dort eine wehrhafte Burg zu errichten. Dieser skizzierte Konflikt zwischen dem Osnabrücker Bischof und den Bauern im Teutoburger Wald bei Iburg muss im Zusammenhang der Binnenkolonisation des Hochmittelalters und der knapper werdenden Landreserven gesehen werden. Im Bereich der Diözese Osnabrück entstanden seit dem 11. Jahrhundert viele neue Siedlungen und Einzelhöfe, so dass die verbliebenen Flächen immer stärker beschnitten wurden. Die zwischen den alten Kirchspielorten und Bauerschaften gelegenen Markgenossenschaften besaßen Rechte und Gewohnheiten, die auf den regelmäßig stattfindenden Markversammlungen der daran beteiligten Gemeinden, den Höltingen und Gerichtstagen, verhandelt wurden. Nordwestdeutschland war nach Leopold Schütte ein Gebiet mit einem ausgeprägten ländlichen Genossenschaftswesen.24 Neben den Bauerschaften, von denen in den Streusiedlungsgebieten mehrere zu einem Kirchspiel gehörten, hatten vor allem die Markgenossenschaften eine wichtige Stellung. Marken waren im nordwestdeutschen Raum anfangs nicht an Gemeindeformen und Gemeindegrenzen gebunden, sondern hatten zunächst keine klaren Grenzen. Sie erstreckten sich über die Linien der Kirchspiele hinweg und hatten gegen das Ackerland, in das sich die Genossen einer Bauerschaft teilten, allmählich zurückweichende Grenzsäume. Je nach Wirtschaftform, Bevölkerungszunahme und dadurch erzeugtem Nahrungsdruck wurden die Marken, an denen ursprünglich nur die älteren Bauernstellen, die Erbhöfe mit Markberechtigung, Anteile hatten, zunehmend durch Neusiedlerstellen und durch die Anlage neuer Kämpe und Zuschläge sowie durch die immer weiter in den Wald hineinreichende Viehhude zurückgedrängt, bis es schließlich keine unberührten Areale und ideengeschichtlicher Wandel im Reich der Salier, Sigmaringen 1991, S. 51-73, hier S. 51. 24 LEOPOLD SCHÜTTE, Markenrecht und Markengerichtsbarkeit in Nordwestdeutschland, in: UWE MEINERS / WERNER RÖSENER (Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cloppenburg 2004, S. 31-45.

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mehr gab. Die Viehherden vermischten sich leicht mit denen der an den anderen Rändern der Marken wohnenden Nachbargemeinden, so dass es zu Auseinandersetzungen zwischen den jeweiligen Hirten und Aufsichtspersonen kam. Zu den Nutznießern der Marken gehörten auch die adeligen Grundherren, die durch ihre Rechte an den hörigen Bauern über einen starken Einfluss verfügten.25 Sie hatten entsprechend ihrer oft umfangreichen Eigenwirtschaft die Mark ebenso stark genutzt wie die Bauern und galten ebenfalls als Erbeigentümer, als Erbexen der Marken. Zu diesen Erbexen konnte auch der Landesherr, wie z. B. der Osnabrücker Bischof, gehören, der sich durch den örtlich zuständigen Amtmann, zumeist ein in der Region ansässiger Adeliger, vertreten ließ. Der Kreis der am Markengericht beteiligten Personen setzte sich aus den alten Erbhofinhabern und den neu hinzugetretenen Mark- und Pferdeköttern zusammen. Der Markenherr, sofern er vorhanden war, ernannte in der Regel den Markenrichter, Holtrichter oder Holtgreve genannt, meist ein Angehöriger der größeren Bauern, der ein Gut des Herrn als Höriger bewirtschaftete. Dieser leitete das einmal im Jahr stattfindende Gericht, berief zusätzliche Gerichtstage und war für den korrekten Ablauf der in den Markenrechten und Weistümern vorgeschriebenen Gerichtsverhandlungen und Urteilsformen zuständig. Neben der Ausweitung der Anbauflächen durch die Beschneidung von Marken und allgemein durch die Erschließung von Neuland in Marsch- und Moorgebieten wurde während des Hochmittelalters die Bodennutzung auch auf den altbesiedelten Fluren stark intensiviert. An erster Stelle muss hier die Dreifelderwirtschaft genannt werden, die in Dörfern mit Gewannfluren eine beträchtliche Steigerung der Agrarproduktion bewirkte.26 Die Anfänge dieses Feldsystems reichen zwar in die Karolingerzeit zurück, doch war es damals auf wenige Ackerflächen beschränkt. Die Äcker der Bauernhöfe wurden im Frühmittelalter offenbar noch überwiegend in der extensiven Form der einfachen Feldgraswirtschaft bestellt. Die Dreifelderwirtschaft stieg während des Hochmittelalters zur dominierenden Form des Ackerbaus auf und breitete sich vor allem in den Dorfsiedlungsgebieten Mittel- und Süddeutschlands immer stärker aus. Auf den Eschböden des Osnabrücker Landes war die Einfeldwirtschaft in Gestalt des „ewigen Roggenbaus“ seit dem 11. Jahrhundert weit verbreitet. In jährlicher Wiederkehr wurden bei diesem Anbausystem die Äcker nur mit einer Frucht, dem zuverlässigen und widerstandsfähigen Roggen, bebaut.27 Die Esche bildeten kleinflächige, geschlossene Komplexe von langstreifigen und blockförmigen Äckern, die zur Abwehr von Wild und Vieh mit Wallhecken geschützt waren. Der kontinuierliche Roggenanbau auf den Eschländereien erforderte eine beständige Erneuerung der pflanzlichen Wachstumsbedingungen, was man durch Plaggendüngung erreichen konnte; Stalldung wurde dabei zusammen mit Heideund Grasplaggen regelmäßig den Eschböden zugefügt. Im Laufe der Zeit ent25 Ebd., S. 33. 26 Vgl. RÖSENER, Bauern im Mittelalter, S. 129. 27 Vgl. RÖSENER, Agrarwirtschaft, S. 20.

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standen in den Eschdörfern Nordwestdeutschlands durch Bodenauftragung mächtige Aufbauschichten, die teilweise bis in die Zeit um 1000 oder noch früher zurückgehen. Die Plaggendüngung auf den Eschböden in dem Gebiet zwischen Ems und Weser setzte offenbar besonders im 11. Jahrhundert ein, wie archäologische Untersuchungen im Ammerland bei Oldenburg und in anderen Regionen ergaben.28 Die Ausbreitung der Plaggendüngung auf den Eschflächen und der Dreifelderwirtschaft in den Dorffluren ging im Hochmittelalter einher mit einer „Vergetreidung“ der Agrarlandschaften auf Kosten der Viehwirtschaft.29 Auf den Eschböden Nordwestdeutschlands wurde in erster Linie Roggen geerntet, aber Hafer bildete die wichtigste Sommerfrucht, da der Hafer als Futter für die zunehmende Pferdehaltung diente. Auch andere Pflanzen gewannen seit dem Hochmittelalter in den Agrarlandschaften an Bedeutung. Dazu gehörten Hülsenfrüchte wie Erbsen und Linsen, Faserpflanzen wie Hanf und Flachs für die Textilherstellung, aber auch der Buchweizen. Diese Sonderkulturen wurden zumeist in den Gärten oder auf besonderen Feldstücken gepflanzt, die nicht der Flurordnung und dem gemeinsamen Weidegang auf den Markenflächen unterlagen. Die Fortschritte in der hochmittelalterlichen Agrarwirtschaft beruhten aber nicht auf bedeutsamen technischen Neuerungen, so dass man nicht von einer „Agrarrevolution“ sprechen kann.30 Vielmehr wurden vorhandene Geräte wie Pflug, Kummet und Sense weiterentwickelt. Unter den Ackerbaugeräten ist besonders der Beetpflug zu nennen, der seit dem Hochmittelalter wesentlich zur Steigerung der Getreideerträge auf den Ackerflächen beitrug. Überblickt man die Geschichte der Kulturlandschaft und der Agrarwirtschaft während des Hochmittelalters insgesamt, so war die Siedlungs- und Bevölkerungsentwicklung um 1300 an einem kritischen Punkt angelangt. Es zeigten sich damals bereits Grenzen der Siedlungsverdichtung und der Bevölkerungszunahme, die dann in der nachfolgenden Epoche des Spätmittelalters zu Bevölkerungsverlusten, Siedlungsrückgang und Wüstungsphänomenen führten.31

28 Vgl. KARL-ERNST BEHRE, Zur mittelalterlichen Plaggenwirtschaft in Nordwestdeutschland und angrenzenden Gebieten nach botanischen Untersuchungen, in: HEINRICH BECK U. A. (Hrsg.), Untersuchungen zur eisenzeitlichen und frühmittelalterlichen Flur in Mitteleuropa und ihrer Nutzung, Tbd. 2, Göttingen 1980, S. 30-44; DIETER ZOLLER, Untersuchung von Dorfkernen und Wirtschaftsfluren mit archäologischen Methoden, in: Lübecker Schriften zur Archäologie und Kulturgeschichte 4, 1980, S. 207-210; neuerdings THEO SPEK, Entstehung und Entwicklung historischer Ackerkomplexe und Plaggenböden in den Eschlandschaften der nordöstlichen Niederlande, in: Siedlungsforschung 24, 2006, S. 219-250. 29 Vgl. ABEL, Landwirtschaft, S. 88-91. 30 Vgl. GEORGES DUBY, La révolution agricole médiévale, in: Revue de Géographie de Lyon 29, 1954, S. 361-366. 31 Dazu RÖSENER, Bauern im Mittelalter, S. 255-276.

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4.

Die Mitte des 19. Jahrhunderts im Umfeld von Bauernbefreiung, Markenteilung und Flurbereinigung

Ein dritter Zeiteinschnitt soll uns jetzt die Kulturlandschaftsentwicklung in der Mitte des 19. Jahrhunderts vor Augen führen, die im Zeichen von Bauernbefreiung, Markenteilung und Individualisierung der Agrarwirtschaft stand. Wenn man die Geschichte des ländlichen Raumes in der Neuzeit überblickt, so haben selten staatliche Maßnahmen so grundlegend in die Siedlungsstruktur und Agrarwirtschaft der Dörfer und Bauernhöfe eingegriffen wie die Grundablösungen, Gemeinheitsteilungen und Flurbereinigungen der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Sie lösten im Akt der Bauernbefreiung die jahrhundertelangen Grundherrschaftsrechte mit den auf den Höfen und Bauernstellen lastenden Verpflichtungen an Natural- und Geldrenten ab und machten den Weg frei für eine leistungs- und marktorientierte Agrarwirtschaft.32 Im Zeitraum zwischen 1750 und 1850 wurden die Lebensverhältnisse sowohl in den Dörfern und Siedlungen als auch das allgemeine Bild der Kulturlandschaft vor allem durch drei Faktoren verändert. Erstens wurden die Bauern auf dem Weg der Grundablösung aus vielfältiger herrschaftlicher Abhängigkeit befreit, was man als Bauernbefreiung bezeichnet hat. Zweitens wurden bislang genossenschaftlich genutzte Flächen in der Umgebung der Dörfer und Siedlungen auf die einzelnen Nutzungsberechtigten aufgeteilt, also der Vorgang der Markenteilung. Drittens durch den Prozess der Verkoppelung und Flurbereinigung, bei dem das in Parzellen zersplitterte Ackerland zu größeren Feldstücken zusammengelegt wurde. Die Ursachen von Bauernbefreiung und Agrarreformen liegen in den gewandelten Vorstellungen von Freiheitsrechten, die besonders im Zuge der Aufklärung und der Französischen Revolution die feudale Agrarverfassung auflösen und beseitigen wollten. Das unter dem Einfluss des aus Osnabrück stammenden Reformpolitikers Johann Carl Bertram Stüve im Jahre 1831 entstandene Ablösungsgesetz führte im Königreich Hannover in verzögerter Form zur Bauernbefreiung.33 Anders als im Königreich Preußen, wo die Gutsherren bereits zwanzig Jahre vorher im Kontext der Agrarreformen auf dem Weg der Abtrennung von Bauernland entschädigt worden waren, kam es im Königreich Hannover und im Osnabrücker Raum nicht zur Ausweitung des Großgrundbesitzes, weil die Regulierung hier stattdessen Kapitalzahlungen und Geldrenten vorsah. Ähnlich lagen die Verhältnisse und Reformmaßnahmen im benachbarten Großherzogtum Oldenburg. Mit der Bauernbefreiung und der Neuordnung der Grundbesitzrechte waren zugleich die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass man auch betriebswirtschaftliche Reformen durchführen konnte. Sie be32 Vgl. RÖSENER, Bauern in der europäischen Geschichte, S. 221-241; CHRISTOF DIPPER, Die Bauernbefreiung in Deutschland, 1790-1850, Stuttgart 1980. 33 Vgl. KARL HEINZ SCHNEIDER / HANS HEINRICH SEEDORF, Bauernbefreiung und Agrarreformen in Niedersachsen, Hildesheim 1989, S. 65-68.

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standen hauptsächlich in den Gemeinheitsteilungen, die sich bei den Markenteilungen in komplizierten Prozessen vollzogen. Trotz mancher positiver Züge ließen die Agrarreformen aber auch viele Benachteiligte zurück. Wer als Heuermann oder Häusling keinen eigenen Hof besaß, blieb auch weiterhin ohne eigenen Landbesitz und lebte wie bisher in drückender sozialer Lage. Die Abwanderung in die entstehenden Industrieorte oder die Auswanderung nach Amerika war für die unteren Schichten der ländlichen Bevölkerung im 19. Jahrhundert häufig die einzige Überlebenschance. In welchem Zustand befanden sich damals die Marken im nordwestdeutschen Raum, bevor deren Aufteilung einsetzte? Der Schriftsteller Johann Gottfried Hoche unternahm 1798 eine Reise durch Nordwestdeutschland34 und schilderte auf seiner Fahrt durch das Osnabrücker Nordland und die Region zwischen Ems und Hunte das Aussehen der Landschaft mit folgenden Worten: „Der ganze Strich Landes von Quakenbrück aus über Vechta, Kloppenburg, Frisoyta bis an die Soeste, von da über die Ems und wieder an der Hase hinaus, gehört nicht nur zu den schlechtesten in Westphalen, sondern in ganz Deutschland. Man glaubt in den Steppen von Sibirien zu seyn, wenn man die Haiden durchwatet und vor sich den Wind mit Bergen und Hügeln spielen siehet. Alles ist öde und still, nicht ein Vogel singt sein Morgenlied und ergötzt das Ohr des Wanderers. Nicht ein Baum, nicht ein Busch bietet ihm Schatten dar.“35

Speziell mit Blick auf die umfangreichen Marken schreibt er dann: „In diesen Haiden siehet man hin und wieder einzelne Schafställe aufgebauet, worin die Haidschnucken, mit krummen Hörnern, Schutz vor Stürmen finden. Diese Heerden erblickt man in den Haidhügeln oft nicht eher, bis man ihnen nahe ist.“36 Diese oft zitierten Stellen darf man aber nicht als eine realistische Beschreibung des tatsächlichen Landschaftszustandes nehmen, da die Schilderung im Stil der Aufklärungsliteratur abgefasst ist und die Verhältnisse rhetorisch überzeichnet werden. Der Realität der Gemeinheitsverhältnisse kommt man näher, wenn man die Markenteilungen des 19. Jahrhunderts konkret anhand archivalischer Quellen untersucht. Bauernbefreiung und Markenteilung veränderten das Gesicht der Kulturlandschaft im Raum des westlichen Niedersachsen während des 19. Jahrhunderts grundlegend. Gemeinheitsteilungen waren im Königreich Hannover zwar bereits in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts möglich gewesen, doch hatten diese zunächst nur geringe Realisierungschancen gehabt.37 Infolge der kriegerischen Ereignisse und der französischen Besetzung des Landes von 1803 bis 1813 konnten die frühen Teilungsordnungen erst rund zwanzig Jahre später 34 Vgl. WERNER RÖSENER, Die Entstehung der Markgenossenschaften des Mittelalters in Theorie und Realität, in: MEINERS / RÖSENER, Allmenden, S. 17. 35 JOHANN GOTTFRIED HOCHE, Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Gröningen, Bremen 1800 (ND Leer 1977), S. 96 f. 36 Ebd., S. 98. 37 SCHNEIDER / SEEDORF, Bauernbefreiung, S. 46-55.

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wirksam werden. Die traditionelle Mentalität der Bauern hatte sich allmählich verändert und die Zahl der teilungswilligen Markgenossen war erst mit der Zeit gewachsen. Viele Dörfer und Bauerschaften beantragten schließlich eine Auflösung ihrer Marken, zumal die Übernutzung der Marken durch einen zu hohen Viehbestand, durch den erhöhten Plaggenbedarf und durch die Vermehrung der Anbauer- und Heuerlingsstellen weiter fortgeschritten war. Dazu kamen Preisstürze für die Agrarprodukte, schwere Missernten und die Not der Tagelöhner und Heuerleute. Im Jahre 1822 wurde endlich eine Gemeinheits- und Markenteilungsordnung für das Fürstentum Osnabrück erlassen, die verbindliche Regelungen für die Aufteilung der Marken festlegte.38 Am Beispiel der nördlich von Bersenbrück gelegenen Rüsforter Mark lassen sich die Vorgänge einer Markenteilung in der Zeit um 1830 exemplarisch aufzeigen.39 Die Vermessung der Rüsforter Mark erfolgte zunächst durch den Geometer Broxtermann aus Ankum, der bereits am 1. März 1829 einen Teilungsplan, auch „Teilungs-Receß“ genannt, vorlegte.40 Dann dauerte es nochmals bis zum 8. April 1831, bis die Rüsforter Markgenossen diesem „Receß“ zustimmten. Der Teilungsplan ist in einem gebundenen Folioband in Rüsfort zusammen mit einer Karte der geteilten Markenareale erhalten. Begleitet wurde die Teilung durch eine Teilungskommission, deren Protokolle aus den Jahren 1817 bis 1841 auch die Meinungsbildungsprozesse, die Abrechnung der Kosten und einige besonders spektakuläre Konfliktfälle festhalten. Der Umfang des aufgeteilten Markenareals lässt sich in Relation zu der gesamten Nutzungsfläche der Bauerschaft Rüsfort vor der Teilung genau ermitteln. Demnach waren in dieser Bauerschaft vor der Markenteilung erst 56 Prozent des Landes privat genutzt; ein großer Teil, und zwar fast die Hälfte des Areals, gehörte noch zum Allgemeingut der Mark.41 Die Einzelheiten des Teilungsverfahrens können hier nur kurz skizziert werden.42 Ausgangspunkt der Teilung war die für die Umlegung der Kosten allgemeine Klassifizierung nach Hofgrößen. Die Rechte aller Markberechtigten wurden in Bruchteilen eines Vollerbenhofes gemessen. Es gab Vollerben, Halberben, Erbkötter sowie Viertel- bis Achtelerben für die Markkötter. Die Rechte des Landeserben wurden mit 2 ½ Anteilen berücksichtigt und das Amt des Unterholzgrafen mit 1/6 zusätzlich abgefunden. Zusammen mit den Rechten der Ausmärker wurde die Rüsforter Mark auf über 30 Vollerbenteile aufgeschlüsselt. Da außerdem der Boden noch nach Güteklassen bonitiert wurde, ergab sich ein recht komplizierter Verteilungsmodus, in dem auch noch die Lage der vorgesehenen Grundstücke berücksichtigt werden musste. Daher ist es aus heutiger 38 Ebd., S. 81. 39 JÜRGEN ESPENHORST, Zurück in vergangene Zeiten. Neue Aspekte zur Entstehung ländlicher Siedlungen. Rüsfort im Artland, 890-1990, Gehrde 1990. 40 Ebd., S. 38. 41 Ebd., S. 39. 42 Siehe dazu ebd., S. 38-41.

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Sicht verständlich, dass die Teilung der Mark ein kostspieliges und zeitaufwändiges Unternehmen war. Ähnlich wie bei der Flurbereinigung fühlten sich einige Bauern ungerecht behandelt, sodass aus dem Teilungsverfahren auch eine Reihe von Prozessen entstanden. Markenteilung und Bauernbefreiung führten in der Bauerschaft Rüsfort außerdem zu einer gesteigerten Mobilität des Bodens, da die erhaltenen Zuschläge teilweise getauscht oder verkauft wurden. Einige Verkäufe waren erforderlich, um die Kosten der Teilung, die auf die einzelnen Betriebe umgelegt wurden, zu decken. So verschärfte die Rüsforter Markenteilung die soziale Spannung zwischen den finanzkräftigen und armen Markgenossen. Auf der Verliererseite standen unbestritten die Heuerleute, soweit sie nicht in der Lage waren, sich als Neubauern eigenen Grund und Boden zusammenzukaufen. Die Heuerleute hatten früher eine faktische Nutzung der Mark genossen, auf die sie aber keinen rechtlichen Anspruch hatten. Als nun bei der Markenteilung streng die Rechte jeder Eigentumsklasse gewahrt wurden, gingen sie als Pächter vollkommen leer aus. Insbesondere fiel der Fortfall der gemeinen Weide für die Heuerleute schwer ins Gewicht. Die Mitbenutzung der Markengründe, in denen das Vieh vom Frühjahr bis in den Herbst hinein Nahrung fand, hatte den Heuerleuten ermöglicht, umfangreiche Viehbestände zu halten. Durch die Markenteilung wurde das Bild der Landschaft völlig verändert. Wo früher die Wege mehr oder weniger frei durch die Gegend verliefen und je nach Zustand des Fahrweges die Spuren nach Belieben verlegt wurden, mussten nun klare Verhältnisse geschaffen werden. Der Lauf der Wege und Bäche wurde geordnet, Brücken und Gossen errichtet und damit die Landschaft endgültig reguliert. Wichtig für die Rüsforter Gegend war außerdem die Tatsache, dass seit dem Herbst 1818 die Hase, der Hauptfluss der Landschaft, eingedeicht und in ihrem Lauf begradigt und verkürzt war. Außerdem veränderte sich allgemein die Nutzungsstruktur der Landschaft. Die Fluren, die an den Landesherrn fielen, wurden mit Fichten besetzt und zum Staatsforst Bersenbrück geschlagen. Ein solches geschlossenes Waldgebiet, zudem noch Nadelwald, hatte es hier vorher nicht gegeben. Ähnliche Beispiele des Wandels der Landschaft könnten aus vielen Gemeinden des Osnabrücker Nordlandes und der angrenzenden Gebiete erbracht werden.

6.

Schluss

Wenn man abschließend ein kurzes Fazit zum Wandel der Kulturlandschaft im Spannungsfeld agrarwirtschaftlicher Innovationen vom Frühmittelalter bis zum 19. Jahrhundert zieht, kann man grundlegende Wandlungsvorgänge konstatieren, die das Bild der Landschaft im Laufe der Zeit verändert haben. Auch in der nachfolgenden Zeit und insbesondere im 20. Jahrhundert wandelte sich die Kulturlandschaft des nordwestdeutschen Raumes in starkem Maße, als die Mechanisierung und Industrialisierung der Landwirtschaft besonders im Weser-Ems-

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Gebiet auf die Struktur der Agrarlandschaft einwirkten. Im 20. Jahrhundert und besonders nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Landschaft in einem solchen Maße durch Maschinen und neue Agrartechniken verändert wie nie zuvor in ihrer Geschichte.43 Hauptansatzpunkt der Mechanisierung landwirtschaftlicher Arbeitsvorgänge war zunächst der Einsatz von Traktoren statt der Pferde. Es folgten Mähdrescher, die den Getreideanbau bedeutend erleichterten und den Vorteil von Großfeldern aufzeigten. Auch die Ernte von anderen Feldfrüchten, der Zuckerrüben, der Kartoffeln und der Maisfrüchte, wurde zunehmend mechanisiert und mit Vollerntemaschinen bewältigt. Die Folge war eine weitgehende Ersetzung bäuerlicher Arbeitskraft und tierischer Zugleistung durch Maschinen, die nur auf Großfeldern rentabel wirtschaften konnten. Der Vorgang der Mechanisierung wurde dann eingebettet in den Prozess der Industrialisierung der Landwirtschaft. Mit diesem Begriff wird eine Entwicklung charakterisiert, die durch das Vordringen industrieller Produktionsformen im Agrarsektor gekennzeichnet ist und deren Ergebnis die moderne Intensivlandwirtschaft darstellt.44 Die vermehrte Nutzung von Mineraldünger, der Einsatz von chemischen Pflanzenschutzmitteln und die Anwendung gentechnischer Erkenntnisse in der Tier- und Pflanzenzucht markieren einige Hauptaspekte dieser Entwicklung. Auf der sozialökonomischen Ebene führt dieser Prozess zu einer wirtschaftlichen Gefährdung der kleinen und mittleren Bauernhöfe, so dass nur die großen kapitalstarken Betriebe eine Überlebenschance haben. Die Aufgabe zahlreicher Bauernhöfe hat aber erhebliche Auswirkungen auf das dörfliche Leben und die Struktur der Agrarlandschaft, die zunehmend von Großfeldern und Großbetrieben beherrscht wird. Ferner müssen die ökologischen Folgen der industrialisierten Landwirtschaft bedacht werden, da sich durch die modernen Agrarbetriebe die Umweltprobleme dramatisch verschärfen. In Regionen mit Massentierhaltung von Schweinen und Geflügel konzentrieren sich die umweltrelevanten Probleme der dichten Viehhaltung, wozu nicht zuletzt die GülleFrage gehört. Die moderne Intensivlandwirtschaft in den Ackerbauzonen beschert der Kulturlandschaft weitere Probleme. Die Ausbreitung der Großflächenwirtschaft und der Monokulturen mit Mais, Raps und anderen Pflanzen sowie der Einsatz von Pestiziden haben dazu geführt, dass die Intensivlandwirtschaft heute als der Hauptverursacher des Rückgangs vieler Tier- und Pflanzenarten und der Belastung der Nahrungsmittel mit chemischen und biologischen Rückständen angesehen wird. Die Industrialisierung von Teilen der Landwirtschaft hat somit die Strukturen der agrarischen Produktion vielfältig verändert und auch tiefgreifende Auswirkungen auf die Kulturlandschaft gehabt.45 43 Vgl. RÖSENER, Bauern in der europäischen Geschichte, S. 242-275. 44 HANS-WILHELM WINDHORST, Industrialisierte Landwirtschaft und Agrarindustrie – was ist das?, in: DERS. (Red.), Alternativen in der Agrarproduktion – ein Ausweg aus den Problemen?, Vechta 1990. 45 Vgl. TANJA BUSSE, Landwirtschaft am Scheideweg, in: Aus Politik und Zeitgeschichte 5/6, 2010, S. 3-5.

ANNIKA SCHMITT

Die „Conservirung“ der natürlichen Ressourcen: Bedingungen der Naturnutzung in der Frühen Neuzeit am Fallbeispiel der Oldendorfer Mark im Hochstift Osnabrück 1.

Einleitung

Unter den Aufklärern des 18. Jahrhunderts herrschte Konsens darüber, dass die in der bäuerlichen Gesellschaft praktizierte gemeinschaftliche Ressourcennutzung problematisch sei und einer angestrebten Intensivierung der landwirtschaftlichen Produktion entgegenstünde. Die „Markenverwüstung“ als Prozess der Bodendegradation und Ressourcenknappheit wurde als dem System inhärentes Problem angesehen und auf die gemeinschaftliche Nutzung der Ressourcen innerhalb der landwirtschaftlichen Organisationseinheiten der Marken zurückgeführt.1 Das Landschaftsbild des ausgehenden 18. Jahrhunderts schien diese Theorie zu bestätigen und führte zu zahlreichen Klagen seitens der aufklärerisch orientierten Agrarschriftsteller. Auch der an agronomischen Fragen interessierte Landdrost Ernst von Vincke klagte über die Zustände im Osnabrückischen Hochstift: „[…] denn man betrifft den itzigen Zustand aller unserer Marken! sie sind durch die […] Missbräuche von aller Holz Cultur entblößt, kein Interessent hat seinen nothdürftigen Brand mehr daraus, den er doch ehedem daraus hatte, und billig haben sollte: das Plaggenmatt, so wie auch Gänse, Schweine, und Schafe, narben die besten Gründe ab, welche mit dem schönsten Holzwachs prangen könnten und für die Kühe bleibt ein magerer Grund übrig, woran sie sich müde, und oft eher hungrig als satt nagen.“2

Vincke argumentiert klassisch im Sinne der Aufklärung. Der seiner Wahrnehmung zufolge prekäre Zustand der Marken wird auf zwei Faktoren zurückgeführt: Erstens auf den Missbrauch der Bauern, die – da es sich um Gemeinschaftsflächen handelte – ressourcenverbrauchend wirtschafteten und zweitens auf die extensive Form der Landwirtschaft. Letztere brachte aus Sicht der Agrarreformer eine ‚Verschwendung‘ derjenigen (Heide-)Flächen mit sich, die besser in fruchtbare Äcker oder Forsten umgewandelt werden könnten. Dieses gängige Argumentationsmuster über die Markenwirtschaft als einer ressourcen1

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FRANK KONERSMANN, Genossenschaftliche Markennutzung versus Agrarindividualismus? Positionen und Argumentationen der Agrarreformen: ein Problemaufriss (17201817), in: UWE MEINERS / WERNER RÖSENER (Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cloppenburg 2004, S. 141-156, hier S. 144. NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 584 fol. 68-77: Ausführlicher Bericht Ernst von Vinckes über Markenteilungen, ohne Datum.

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Annika Schmitt

und flächenverbrauchenden Nutzungsform hat auch die moderne Forschung lange Zeit geprägt. Erst in jüngerer Zeit wurden Postulate laut, nach denen die Markenwirtschaft durchaus als nachhaltige Nutzungsform einzustufen sei und als Argument die jahrhundertelange Existenz des Markenwesens angeführt.3 Stefan Brakensiek leitete daraus 2002 ein Forschungsdesiderat ab und verwies auf die Notwendigkeit, der Frage der Nachhaltigkeit des Markenwesens bzw. den eigentlichen Gründen für seine Krisensymptome anhand von Fallstudien nachzugehen.4 Auslöser dieser ‚neuen‘ Sichtweise in der historischen Allmendeforschung waren die Forschungen Elinor Ostroms, die anhand von aktuellen Fallbeispielen die Regelungen und Mechanismen zum Schutz gemeinschaftlich genutzter Ressourcen analysierte und eine umfassende Theorie der institutionellen Aspekte der Selbstverwaltung und Bewirtschaftung von common pool resources aufstellte.5 Ostrom hatte sich explizit gegen die von Garret Hardin 1968 aufgestellte tragedy of the commons-These6 von der zwangsläufigen Übernutzung von in Gemeineigentum befindlichen Ressourcen gewandt, die im Übrigen an die Haltung der Agrarschriftsteller des 18. Jahrhunderts erinnert. Ostrom kam zu dem Ergebnis, ,,that overuse and destruction of common-pool resources is not determinant and inescapable outcome when multiple users face a commons dilemma“.7 Die offensichtlich bestehende Diskrepanz zwischen der zeitgenössischen Wahrnehmung des Markenwesens im 18. Jahrhundert und neueren Forschungsansätzen legt nahe, die Frage der Nachhaltigkeit der Markenwirtschaft am konkreten Fallbeispiel zu prüfen. Dafür bietet sich der Raum des Hochstifts Osnabrück als ein für die nordwestdeutsche Markenwirtschaft charakteristisches 3

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Der Umwelthistoriker Joachim Radkau erkennt auch die historische Allmendenutzung unter bestimmten Voraussetzungen als nachhaltige Nutzungsform an und Rolf-Peter Sieferle identifiziert das „Nachhaltigkeitsprinzip“ als „generelle Grundlage der bäuerlichen Wirtschaft“. Vgl. JOACHIM RADKAU, Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der Umwelt, München 2002, S. 90-98 und ROLF-PETER SIEFERLE, Wie tragisch war die Allmende?, in: Gaia 4, 1998, S. 304-306, hier S. 306. STEFAN BRAKENSIEK, Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen. Verwaltung – Bewirtschaftung – Nachhaltigkeit, in: JOHANNES ALTENBEREND / REINHARD VOGELSANG (Hrsg.), Kloster – Stadt – Region. Festschrift für Heinrich Rüthing, Bielefeld 2002, S. 291-314, hier S.312 f.; DERS., The management of common land in north western Germany, in: MARTINA DE MOOR / LEIGH SHAW-TAYLOR / PAUL WARDE (Hrsg.), The management of common land in north west Europe, c. 1500-1850, Turnhout 2002, S. 225-245. ELINOR OSTROM, Governing the commons. The evolution of institutions for collectice action, Cambridge u. a. 1990; DIES., Die Verfassung der Allmende. Jenseits von Staat und Markt, Tübingen 1999. GARRETT HARDIN, The Tragedy of the Commons, in: Science 162, 1968, S. 1243-1248. „Hardins Interesse galt dabei jedoch nicht der ‚alten‘ Allmende, sondern den gegenwärtigen globalen Gemeingütern der Menschheit: den Meeren und der Atmosphäre”, siehe RADKAU, Natur und Macht, S. 91f. ELINOR OSTROM, Coping with tragedies of the commons, in: Annual Review of Political Science 2, 1999, S. 493-535, hier S. 495.

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Gebiet an. Auf Basis einer Mikrostudie werden am Fallbeispiel der im Amt Grönenberg gelegenen Oldendorfer Mark zunächst die Grundbedingungen der Markenwirtschaft, ihre Flächen- und Ressourcenlimitierung analysiert. Daran anschließend werden die gesellschaftlichen Mechanismen der Ressourcenverteilung und -nutzung in Hinblick auf implizite Nachhaltigkeitsstrategien untersucht. Das der Studie zugrunde liegende Quellenmaterial besteht zumeist aus Marken(teilungs)protokollen sowie Kartenmaterial mit dazugehörigem Vermessungsregister.8 Insbesondere die in den Höltingsprotokollen und Holzungsklagen dokumentierten Konfliktfälle sind für die Analyse der Ver- und Gebote der Ressourcennutzung aufschlussreich. Aus den Konflikten lässt sich die traditionell mündlich tradierte Nutzungsordnung rekonstruieren, die zahlreiche Nachhaltigkeitsaspekte in sich vereint.

2.

Flächen- und Ressourcenlimitierung als Grundbedingungen der Markenwirtschaft

Justus Möser beschreibt 1768 in seiner Einleitung zur Osnabrückischen Geschichte die Merkmale der Marken im Hochstift Osnabrück: „Unser ganzes Stift ist in Marken, worin Dörfer und einzelne Wohnungen zerstreuet liegen, verteilet, und die Grenzen derselben treffen mit keiner Landes-, Amts-, Gerichts-, Kirchspiels- oder Bauerschaftsgrenze zusammen.“9 So hätten nicht administrative Strukturen, sondern allein „Natur und Bedürfnis“10, die Entstehung der Marken als landwirtschaftliche Organisationseinheiten beeinflusst. Tatsächlich waren die naturräumlichen Voraussetzungen des Osnabrücker Landes so abwechslungsreich „wie wohl kaum das einer anderen Landschaft in Nordwestdeutschland“11. Diese Diversität der Standortfaktoren – vor allem der Bodenverhältnisse und hydrographischen Bedingungen – gestaltete jede Mark zu einem individuellen Agrarökosystem, das sich stets in Landschaftsbild und landwirtschaftlicher Praxis von anderen Marken unterschied. Auch die Landesvermessung der 1780er Jahre im Hochstift Osnabrück folgte den Grenzen der Marken und wurde nicht etwa auf Basis der administrativen Strukturen durchgeführt. Dies war eine einzigartige Vorgehensweise – insbesondere in Abgrenzung zur Kurhannoverschen Landesaufnahme der Jahre 1764 bis 1784 und zur Oldenburgischen Vogteikarte 1791 bis 1799 – und unter8

Relevante Bestände im Niedersächsischen Landesarchiv Staatsarchiv Osnabrück sind die Adelsarchive (u. a. Dep 45b), die Amtsakten (Rep 150 Grö) sowie die Akten der Landesvermessung (Rep 100a). 9 JUSTUS MÖSER, Osnabrückische Geschichte. Allgemeine Einleitung, Osnabrück 1768, Neudruck Osnabrück 1964, S. 63. 10 Ebd. 11 FRIEDRICH HERZOG, Das Osnabrücker Land im 18. und 19. Jahrhundert. Eine kulturgeographische Untersuchung, Oldenburg 1938, S. 17.

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streicht die Bedeutung der Marken als landwirtschaftliche wie fiskalische Organisationseinheiten.12

Abb.: Teilkarte der Oldendorfer Mark.13 Bei anderer Gelegenheit beschreibt Möser Marken als „die von den ältesten Zeiten her ungetheilt verbliebenen Gemeinheiten“, die „gutentheils aus Heyden, Möhren, Gebürgen, Holzungen und Weiden […]“ bestünden. Den Namen hätten die Marken von dem Worte „Mark“, „welches überhaupt ein Zeichen, insbesondern aber ein Gränzzeichen bedeutet“ und so seien Marken eigentlich „die Districte oder die Gränzen worin solchergestalt mehrern ihre gemeinschaftliche Weide und andern Nutzungen haben“.14 Es wird daraus ersichtlich, dass der Markenbegriff zeitgenössisch zwei Bedeutungsebenen hatte. Zum einen bezeichnete er das gesamte naturräumliche Gebiet mit allen in ihr liegenden Hofstellen, Äckern, Grün-, Heide und Waldflächen. Zum anderen benannte der 12 Der ursprüngliche Grund für die Vermessung der Marken lag in einer intendierten Neuordnung des Steuermodus auf Basis des erfassten zu versteuernden Landbesitzes. Letztlich diente die Landesvermessung aber als Grundlage der Markenteilungen, die im Hochstift Osnabrück von 1778 bis weit ins 19. Jahrhundert hinein durchgeführt wurden. Zur Landesvermessung vgl. RUDOLF LÜDERS, Von den Anregungen und Plänen Mösers bis zur Durchführung der modernen bodenkundlichen Aufnahme des Osnabrücker Landes, in: Westfälisch geographische Studien 36, 1980, S. 93-97. 13 NLA StAOs K100 Nr. 1H VI Bl. 14e. 14 NLA StAOs Dep 3b XII Nr. 387: Gutachten Mösers zur Befreiung der Markgründe, ohne Datum.

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Begriff im zeitgenössischen Gebrauch nur die gemeinschaftlich genutzten Gebiete. Letztere sind mit den bekannteren Begriffen der Allmende oder Gemeinheit gleichzusetzen. In dieser Studie bezieht sich der Ausdruck „Mark“ auf die Gesamtfläche, die gemeinschaftlich genutzten Flächen dagegen werden in Anlehnung an die zeitgenössische Begrifflichkeit als „offene“ Flächen bezeichnet. Die Außen- und Binnengrenzen der Mark waren für die im Hochstift Osnabrück herrschende Form der Landwirtschaft konstitutiv. Die Abgrenzung der Mark nach außen determinierte die Flächen- und Ressourcenlimitierung des Landnutzungssystems. Die Binnengrenzen, also die Abgrenzung der individuell genutzten zu den offenen Flächen verwies auf eine Form der landwirtschaftlichen Praxis, die individuelle und kollektive Nutzungsformen miteinander verband. Während Heide, Grasland, Wasser und die meisten Waldflächen im Gemeinschaftsbesitz der Gruppe der Markgenossen standen, waren Äcker, einzelne Holzdistrikte und Wiesen in individuellem Besitz der Bauern. Dabei standen alle Flächen in einem gegenseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Die landwirtschaftliche Praxis musste sich an den Grundbedingungen der Flächen- und Ressourcenlimitierung orientieren. Zum einen galt es, mit den begrenzt verfügbaren Ressourcen zu haushalten, zum anderen die Flächenverhältnisse so einzurichten, dass das Landnutzungssystem langfristig stabil blieb. Die landschaftliche Einteilung der Oldendorfer Mark spiegelte die Verknüpfung individueller und gemeinschaftlicher Nutzungsformen innerhalb der landwirtschaftlichen Praxis wider. Die Gemeinschaftsflächen waren durch natürliche Landschaftselemente – Steine, Bäume, Bäche, Wälle oder Hecken – begrenzt, die entsprechend als Grenzmarkierung gekennzeichnet waren. Diese Maßnahme der Sichtbarmachung von Grenzen wurde im Entwurf der Holzgerichtsordnung Ernst August I. von 1671 fixiert: „Diesemnechst sollen jetzt gedachte Beamte und Unterthanen zu Berge und Bruche sicher Schnaetbäume zeichnen, in offnen Felde aber oder Heiden da kein Holz vorhanden, Schnaetsteine setzen, auch da nöthig, das Wapen oder auch die Nahmen der Marcken darauf graben und hauen lassen, damit ins künftige aller Streit vermieden bleibe, die Nachkömmlinge auch sehen und wissen mögen woher die Limiten eigentlich gehen.“15

Diese Sichtbarmachung durch Schnat-, also Grenzbäume oder Grenzsteine diente vor allem dem Schutz der offenen Markenflächen wie im Folgenden anhand eines typischen Konfliktfalles deutlich wird. Als 1776 beim Gogericht zu Melle im Amt Grönenberg des Hochstifts Osnabrück eine Anzeige des Halberben Schlüter gegen den Vollerben Mencke – beides Markgenossen der Oldendorfer Mark – wegen Fällens eines Eichbaums einging, war die Schuldfrage

15 JUSTUS F. A. LODTMANN, Codex Constitutionum Osnabrugensium oder Sammlung von Verordnungen, gemeinen Bescheiden, Rescripten und anderen erläuternden Verfügungen, welche das Hochstift Osnabrück betreffen, Erster Theil, Osnabrück 1783, S. 761-786, hier S. 762.

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schnell geklärt.16 Mencke hatte tatsächlich einen äußerst wertvollen Eichenbaum gefällt, wie in der Anklage behauptet. Eine andere Frage dagegen beschäftigte das Gericht über weitere vier Jahre. Als Schlüter behauptete, dass die Eiche auf seinem Privatgrund gestanden habe und dafür eine beachtliche Entschädigung vom Beklagten Mencke verlangte, schenkte man ihm keinen Glauben. Der entscheidende Verhandlungspunkt belief sich in der Folgezeit auf die Frage, ob die Eiche auf Privat- oder Markengrund gestanden habe. Zur Klärung des eigentlichen Problems wurde 1780 – nach vier Verhandlungsjahren – ein „Situationsplan“ in Auftrag gegeben. Dazu wurden die Oldendorfer Mahlleute, der Pastor zu Oldendorf sowie der Kolon Ocker, ein 70-jähriger Markgenosse, zum Standort der Eiche befragt und nach diesen Informationen der Plan gezeichnet. Das gezeichnete dreieckige Markstück ist im Nordwesten durch eine Schnatbuche, einen Schnatstein im Nordosten und an der Spitze im Süden durch einen Schnatbaum eindeutig begrenzt. Östlich an das Markstück schließen sich die untereinander gelegenen privaten Holzdistrikte der Markgenossen Mencke und Schlüter an. Der markierte Standort der Eiche war dem Plan zufolge eindeutig auf dem Grund der Oldendorfer Mark. Die Behauptung Schlüters war somit widerlegt und Mencke musste die Entschädigung nicht an ihn, sondern an das Holzgericht der Oldendorfer Mark zahlen. Der Konflikt veranschaulicht die Notwendigkeit der sichtbaren Abgrenzung gemeinschaftlichen Grundes. Häufig kam es auch vor, dass Markgenossen offene Flächen widerrechtlich besäten, sie als private Weidefläche nutzten oder sogar darauf Häuser bauten. Die klare Abgrenzung der individuellen von den gemeinschaftlichen Flächen sollte die Markenfläche und die Gemeinschaftsressourcen vor Missbräuchen bewahren bzw. Eigentums- gegen Gemeinschaftsansprüche abgrenzen helfen. Ein Grundsatz der Markenordnung besagte, dass „die natürliche Bestimmung des Grundes“ nicht verändert werden dürfe.17 Die Aufrechterhaltung der Flächenverhältnisse – vor allem der individuellen Acker- zu den offenen Weide- und Heideflächen – war für die Funktionsfähigkeit der Landwirtschaft absolut notwendig. Die Karten der Landesvermessung, die 1787 für die Oldendorfer Mark durchgeführt wurde, zeichnen durch die farbliche Kennzeichnung unterschiedlicher Kulturlandschaftsflächen ein genaues Bild der Flächennutzungen und -verhältnisse des ausgehenden 18. Jahrhunderts.18 Die Gesamtfläche der Oldendorfer Mark umfasste 2188 Maltersaat, also in etwa 3000 Hektar.19 Davon waren im ausgehen16 Im Folgenden nach NLA StAOs Rep 950 Mel. 644. 17 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 587 fol. 23-29: Georg III.: Erklärung der Verordnung vom 13ten Februar 1721 die Pfandung des von selbst aus einer Marck in die andere übertretende Vieh betreffend, 1773. 18 Die folgenden Daten sind dem Vermessungsregister der Oldendorfer Mark entnommen. NLA StAOs Rep 100a VI Nr. 14 II. 19 Umrechnung erfolgt nach HERZOG, Das Osnabrücker Land, S. 165. Ein Maltersaat entsprach 12 Scheffelsaat und ein Scheffelsaat entspricht 0,1177 Hektar.

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den 18. Jahrhundert fast die Hälfte Holzwachs, ein Viertel Ackerfläche, 16 Prozent Heidefläche, nur acht Prozent Wiesen- und Weidegrund und weitere drei Prozent Gartenfläche. Das Verhältnis der „offenen“, also gemeinschaftlichen Flächen zu den „geschlossenen“, individuellen Flächen betrug im ausgehenden 18. Jahrhundert nahezu eins zu eins. Die Bedeutung der Flächenverhältnisse tritt erst in der Betrachtung der landwirtschaftlichen Praxis und des Zusammenspiels der Kulturlandschaftsflächen zutage. Die Abhängigkeit der Flächen zueinander in der Oldendorfer Mark entsprach den allgemeinen Regeln einer extensiven Weidewirtschaft ohne Brachhaltung des Ackers. Die Ackerflächen wurden jedes Jahr aufs Neue zumeist mit Roggen bebaut. Daraus ging die Notwendigkeit einer ausreichenden Düngung durch eine Nährstoffzufuhr einher. Der Viehhaltung kam zur Bereitstellung von Dünger eine wichtige Bedeutung zu, doch auch die Plaggenwirtschaft ist eine Besonderheit des nordwestdeutschen Raumes. Dabei wurden Bodensoden ausgestochen, über den Winter in die Ställe gebracht und im Frühjahr vermischt mit Viehdung zum Düngen auf die Felder gebracht.20 Diese Wirtschaftspraxis musste neben dem Ackerbau umfangreiche Flächen zur Viehweide sowie Heideflächen zum Plaggenmatt zur Verfügung stellen. Aus der oben genannten Aufstellung zu den Flächenverhältnissen in der Oldendorfer Mark geht hervor, dass der allergrößte Teil der Mark Kulturland und landwirtschaftlich genutzt war. Aus den Zahlen in der Oldendorfer Mark lassen sich zudem zwei aufschlussreiche Feststellungen ableiten. Zum einen das Primat des Ackerbaus und zum anderen die der multifunktionalen Nutzung aller Flächen durch die Landnutzer. Nur der Ackerbau sicherte die Ernährung der Landbewohner, die anderen auf vielfältige Arten genutzten Areale dienten fast ausschließlich direkt oder indirekt der Bedüngung der Anbauflächen. Der Anteil der Ackerflächen betrug ein Viertel der Gesamtfläche der Mark und nur durch einen entsprechenden Viehstand – der ausreichend Weidefläche zur Verfügung haben musste – und ausgedehnte Heideflächen konnte diese Ackerfläche dauerhaft bewirtschaftet werden. Die Größe derjenigen Flächen, die direkt zur Bedüngung des Ackers beitrugen – dazu zählten Wiesen, Weidegrund, Heide und Grasanger – betrug etwa 533 Maltersaat und damit annähernd so viel wie die Ackerflächen selbst.21 Und auch die Wald- oder Bruchwaldgebiete fanden ihre Bedeutung weniger in der Bereitstellung von Holz, als vielmehr in ihrer Funktion als zusätzliche Weidefläche. Zählt man die offenen Holzwachsflächen zu denjenigen Flächen hinzu, die der Bedüngung des Ackers dienten – die eingefriedigten Holzgründe standen zumeist nicht für die Viehweide zur Verfügung – kommt man auf die Zahl von mehr als 1116 Maltersaat. Somit trugen zwei Drittel der Markenfläche zur Nährstoffversorgung der Ackerflächen bei. Das kom20 WOLF ECKELMANN / CHRISTIAN KLAUSING, Plaggenwirtschaft im Landkreis Osnabrück, in: Osnabrücker Mitteilungen 88, 1982, S. 234-248, hier S. 243. 21 Die folgenden Zahlen sind dem Vermessungsregister der Oldendorfer Mark entnommen, vgl. Fußnote 17.

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plexe Zusammenspiel aller Flächen und ihrer multifunktionalen Nutzung entsprach der Flächenlimitierung der Markenwirtschaft. Heideflächen dienten nicht allein dem Plaggenmatt, sondern auch der Viehweide; Äcker wurden nach Aberntung der Felder zur Stoppelweide für das Vieh gebraucht; in den Wäldern fanden Rinder und Schweine zusätzliche Nahrung an Bucheckern, Eicheln und Pflanzen. Gerade der multifunktionale Gebrauch nahezu aller Flächen veranschaulicht den Umgang mit knappen natürlichen Ressourcen, die bestmöglich aus-, aber nicht übernutzt werden durften. Den kreativen Umgang mit den vorhandenen Ressourcen beschreibt Rita Gudermann in ihrer Studie zur „Ökologie des Notbehelfs“.22 Die multifunktionale Nutzung aller erdenklichen Ressourcen war ein Überlebenskonzept, das auf der Risikominimierung fußte.

3.

Nachhaltigkeitsstrategien im Wechselwirkungsgefüge zwischen Mensch und Natur

Die Begrenztheit der Ressourcen als Grundbedingung der landwirtschaftlichen Praxis geht auch aus der 1671 formulierten Einleitung zur Holzgerichtsordnung Ernst Augusts I. hervor: „[…] damit der noch übrige Rest des Gehölzes nach Müglichkeit conserviret und der Posterität zum besten, in guten pflichtigen Stand erhalten und künftig auch also gebraucht und genossen werden möge […]“23. Der Begriff „Conservirung“, der mit den Worten ‚Erhalt‘ oder ‚Bewahrung‘ gleichgesetzt werden kann, wurde in den folgenden Ausführungen der Verordnung vom Holzbestand auf die übrigen Ressourcen wie Plaggen oder Weidefläche ausgedehnt. Das primäre Ziel also war der langfristige Erhalt der Ressourcen zum Gebrauch für die Nachkommenschaft (Posterität). Tatsächlich lässt sich dieses Konzept einer „Conservirung“ als Grundlage der Praxis der Ressourcenverteilung und -nutzung identifizieren. Sicherlich ist es von Seiten Ernst Augusts I. als wirtschaftspolitisches Instrument zu bewerten, doch begeg22 RITA GUDERMANN, Ökologie des Notbehelfs. Die Nutzung der Gemeinheiten als Teil der Überlebensstrategien ländlicher Unterschichten im 19. Jahrhundert, in: UWE MEINERS / WERNER RÖSENER (Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Cloppenburg 2004, S. 65-80. 23 LODTMANN, Codex Constitutionum Osnabrugensium, S. 761. Die Nennung der „Posterität“, der Nachwelt oder Nachkommenschaft verweist auf die Verantwortung des Staates gegenüber nachfolgenden Generationen. Darin klingen auch die von der kameralistischen Staatslehre propagierte „Wohlfahrt des Staates“ und die Verantwortlichkeit des Staates für die bestmögliche Nutzung des Bodens als Grundlage des staatlichen Wohlstandes an. Zu „Posterität“ siehe auch PETER MICHAEL STEINSIEK / JOHANNES LAUFER, Quellen zur Umweltgeschichte in Niedersachsen vom 18. bis zum 20. Jahrhundert. Ein thematischer Wegweiser durch die Bestände des Niedersächsischen Landesarchivs, Göttingen 2012, S. 252. Als „Aufforderung, für die nachkommenden Generationen Sorge zu tragen“, zierte dieses Motto das Landschaftliche Haus zu Hannover.

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net das Konzept in zahlreichen anderen Zusammenhängen. Als 1684 das in der Oldendorfer Mark im Amt Grönenberg des Hochstifts gelegene Adelsgut Ostenwalde und der Landesherr in einem Vergleich die Zuständigkeiten und Privilegien in der Oldendorfer Mark fixierten, wurde als gemeinsam zu verfolgender Zweck die „Conservirung“ der Mark genannt.24 Und auch seitens der Markgenossen wird in verschiedenen Quellen der Begriff verwendet.25 So kann die Bewahrung der natürlichen Ressourcen als handlungsleitendes Motiv auch der bäuerlichen Landnutzer identifiziert werden. Der Teilungskommissar der Oldendorfer Mark Ferdinand Dorfmüller gibt um das Jahr 1800 in wenigen Worten die Grundsätze der Naturnutzung in der Oldendorfer Mark wieder: „Jeder, er mag Meyer oder Kötter seyn, kann alle Bedürfnisse aus der Mark nehmen, er darf aber keine Markproducte verkaufen, kein frömdes Vieh einnehmen, und die Marcknutzungen keinem fremden überlassen.“26 Das Regelwerk der Markennutzung war auf die Fläche und den Ressourcenbestand ausgerichtet, worin sich die enge Abhängigkeit physischer und gesellschaftlicher Strukturen offenbart. Mensch und Natur standen über die Verteilung und Verwendung der Ressourcen in einem Wechselwirkungsgefüge zueinander. Ein Nachhaltigkeitskonzept ist somit aus den gesellschaftlichen Mechanismen der Nutzung und Verteilung begrenzt zur Verfügung stehender Ressourcen abzuleiten.

3.1.

Soziale Binnendifferenzierung als Grundlage der Ressourcenverteilung

Die Mark war nicht nur landwirtschaftlich genutzte Fläche, sondern auch Lebenswelt der dort wohnenden Landbevölkerung. Fundament der Markenwirtschaft bildete die Organisation der Markgenossenschaft. Diese bestand aus den in der Mark lebenden Bauern, die gemeinsam über die Verteilung der Ressourcen bestimmten. Jeder Markgenosse war berechtigt, die für seine Ernährung und landwirtschaftliche Produktion notwendigen Ressourcen aus der Mark zu nehmen, wie aus dem Quellenzitat Dorfmüllers hervorgeht. Dabei war die Markgenossenschaft Voraussetzung für eine Nutzungsberechtigung. Doch besaß nicht jeder Markgenosse die gleichen Rechte: Die soziale Binnendifferenzierung in Voll- und Halberben sowie Erb- und Markkötter bestimmte über das Ausmaß der Nutzungsrechte. War etwa ein Vollerbe zur Haltung von zwölf Schafen berechtigt, dann konnte ein Halberbe sechs Schafe und die Erb- und Markkötter

24 NLA StAOs Rep 100 Abschnitt 106 Nr. 13. 25 NLA StAOs Dep 40b Nr. 1238; NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 587; NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 1508. 26 NLA StAOs Rep 100 Abschnitt 106 Nr. 27.

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verhältnismäßig weniger auf die Allgemeinweide treiben.27 Wer in welchem Ausmaß zur Nutzung der Gemeinschaftsressourcen berechtigt war, bestimmte allein der soziale Status. Dieser war in der Markgenossenliste fixiert und – da er am Hof und nicht an der Person haftete – unveränderbar. In der Oldendorfer Mark belief sich die Zahl der nutzungsberechtigten Markgenossen im 18. Jahrhundert auf insgesamt 158 Genossen und ihre Familien.28 Ein definierter, begrenzter und konstanter Nutzerkreis – der zudem an den Ressourcenbestand angepasst war – sicherte die langfristige Bewahrung der Ressourcen. Dabei entsprach die soziale Differenzierung auch einer zeitlichen Entwicklung und belegt das dynamische Wirkungsgefüge innerhalb der Mark. Die Integration neuer Untergruppen in den Markenverband entsprechend dem Fassungsvermögen der Mark war mit der Integration der Markkötter im 15. Jahrhundert abgeschlossen.29 Die soziale Ungleichheit des ländlichen Sozialgefüges erklärt sich somit auch aus der Begrenztheit der Fläche wie der Ressourcen. Es galt also die allesbestimmende Regel: Nur wer in der Mark ansässig und Markgenosse war, hatte Anteil an den Ressourcen entsprechend dem Ausmaß seiner Bedürfnisse. Umgekehrt bedeutete dies aber auch, „daß keiner der Markgenossen mehr Vorteil aus der Mark ziehen durfte, als ihm seiner Ware gemäß zur Deckung seines Naturalbedarfs zustand“30. Den genannten Grundsatz und seine impliziten Wirkungsfelder beschreibt Middendorff als „das vornehmste Leitmotiv der auf die möglichste Schonung des Bestandes der Mark zugeschnittenen […] Markordnung“.31 Die Kopplung von sozialem Status und Nutzungsrecht ermöglichte die Regulierung der Nutzungen entsprechend dem individuellen Bedürfnis auf der einen und dem natürlichen ‚Bedürfnis‘ auf der anderen Seite. Dies kommt einem ‚Ausbalancieren‘ zwischen menschlichen und natürlichen Bedürfnissen gleich. Über das Zugriffsrecht der jeweiligen Erbesklasse über Weide, Heide, Wald und Wasser waren Natur und Gesellschaft in einem engen Wechselwirkungsgefüge auf der Grundlage miteinander verknüpft, nur so viel zu verbrauchen, wie vorhanden war oder auf natürliche Art und Weise nachwuchs.

27 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 1514: Acta betreffend die Schaaftrift in der Oldendorfer Mark. 28 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 591. Von den 158 Markgenossen gehörten 43 zur Gruppe der Vollerben, 22 zu den Halberben, 33 zu den Erb- und 49 zu den Markköttern. Zudem gab es die ausschließlich im Kirchdorf Oldendorf ansässige Gruppe der Kirchhöfer, von denen 11 Familien dokumentiert sind. 29 RUDOLF MIDDENDORFF, Der Verfall und die Aufteilung der gemeinen Marken im Fürstentum Osnabrück bis zur napoleonischen Zeit, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von Osnabrück 49, 1927, S. 1-157, hier S. 18. 30 Ebd., S. 47. 31 Ebd.

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3.2.

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Nutzungseinschränkungen als Direktive

Weniger Art und Umfang der zulässigen Nutzungen, als vielmehr die Nutzungseinschränkungen geben Aufschluss über die Mechanismen der Naturnutzung in der Mark. Auch Möser betonte in seiner Definition der Marken die Bedeutung der Nutzungseinschränkungen: „Die Marken in dem Hochstifte Osnabrück sind die von den ältesten Zeiten her ungetheilt verbliebenen Gemeinheiten, welche von den Interessenten unter […] entweder von der Natur und der Gewohnheit oder auch durch Vereinbarungen und Gesetze gemachten Einschränkungen in hac primaera communione genutzet werden.“32

Letztlich sind es die dokumentierten Konflikte, aus denen sich die Bestimmungen der Markennutzung ableiten lassen. Nahezu alle natürlichen Ressourcen, Plaggen, Wasser, Holz oder Weide, waren Gegenstand von Auseinandersetzungen zwischen den Markgenossen. Wenige der Konflikte sind aber so spektakulär, wie der Fall des Caspar Luelft, ein Markkötter der Bauerschaft Oberholsten in der Oldendorfer Mark: „Die Oldendorfer Heege-Genossen welche aus 36 Bauren bestehen, die eben nicht von der feinsten Gattung sind, haben es sich seit einiger Zeit, wider Natur, Vernunft und Gesetz, beyfallen lassen, denjenigen […] wovon ihnen etwa geträumet haben soll, dass er Holz von dem Hege gestohlen haben soll, […] halb todt zu schlagen.“

Diese Aussage aus den Gerichtsakten bezieht sich auf Luelft, der von seinen Mitgenossen des Holzdiebstahls beschuldigt und in einem Fall der Selbstjustiz attackiert worden war. Auch seine Frau sei so übel zugerichtet worden, dass sie einige Tage später ein totes Kind zur Welt gebracht habe.33 Holzdiebstahl war das häufigste Delikt und konnte vereinzelt zu ungewöhnlichen Gewaltausbrüchen führen. Die meisten Konflikte allerdings waren alltägliche kleinere Vergehen, aus denen sich im Umkehrschluss die Markenordnung rekonstruieren lässt. Plaggen durften nur an bestimmten Orten, im Wald oder auf der Weide, aber unter keinen Umständen auf dem Grasanger gemäht werden. Das Vieh durfte zwar nahezu überall weiden, aber nur zu bestimmten Zeiten und selbstverständlich nicht jede Art von Vieh. Zahlreiche Einschränkungen regelten die gemeinschaftliche Nutzung, die aber allesamt einer klaren Logik folgte. Die Nutzung war auf eine Person, einen Ort, eine Zeit, eine Zahl und auf die ‚Art und Weise‘ des Umgangs mit den Ressourcen festgelegt. Voraussetzung für diese Form der Regulation war eine gewisse Flächengebundenheit. Zwar wurden Flächen aller Kulturarten multifunktional genutzt, es war aber nicht gestattet, die „natürliche

32 NLA StAOs Dep 3b XII Nr. 387: Gutachten Mösers zur Befreiung der Markgründe, ohne Datum. 33 NLA StAOs Rep 100 Abschnitt 106 Nr. 13: Acta in Sachen Niehus und Casper Luelft contra den Herrn von Nehem zu Sondermühlen wegen eines Holzbrüchten.

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Bestimmung des Grundes“34 zu verändern. Offene Flächen durften nicht besät werden, ein Grasanger nicht abgeplaggt und ein Walddistrikt nicht gerodet werden. Die Verhältnismäßigkeit der Flächen und Kulturarten zueinander musste als Grundlage der Landwirtschaft,35 aber auch des sozialen Gefüges erhalten bleiben. Schließlich waren alle positiven und negativen Bestimmungen des Markenverbandes an die Fläche gekoppelt. Der Schutz der Fläche wie der Ressourcen war somit Handlungsgrundlage der Landnutzer. So lässt sich aus den Quellen an vielen Verhaltensweisen ein Bewusstsein für die Notwendigkeit einer Schonung der natürlichen Ressourcen rekonstruieren. Wurden die Bestimmungen der Nutzungsordnung durch einen Markengenossen überschritten, findet sich oft der Hinweis, dass diese Handlung „der Marck schädlich“ gewesen sei. Dazu einige Beispiele: „die Plaggen auf der Marck schädlich gegraben“, „grüne Stämme der Marck schädlich gerottet“, „einen ohngewohnlichen Graben an seinem Kampe in der Marck schädlich auffgeworffen“, „Plaggen zu nahe gemehet und dadurch Bircken und Büchen Holtz schädlich obgehauen“.36 Aus vielen Bestimmungen lassen sich die Ressourcen schützende Verhaltensweisen herauslesen: Das Umwickeln der Schweinehufen mit Stoff – „Krampen“ genannt – zum Schutz des Waldbodens bei der jährlichen Mast. Das Verbot, Gänse in der Mark zu halten oder auch das Verbot, den Boden in unmittelbarer Nähe zu den Bäumen abzuplaggen. Dem Schutz von Fläche und Ressourcen diente auch das von Ferdinand Dorfmüller angesprochene Verbot, dass keine „Markproducte“ verkauft und „kein frömdes Vieh“ eingenommen werden dürfe. Es ist jener Grundsatz der Markenordnung, der die Außengrenzen der Mark als räumlichen Wirkungskreis der lokalen Landwirtschaft definierte. Die beiden angesprochenen Grundbedingungen, dass nichts die Mark verlassen und nichts hinausgelangen dürfe, weisen auf den Anspruch hin, innerhalb des Wirtschaftsraumes der Mark einen geschlossenen Nährstoffkreislauf zu verwirklichen. In Kenntnis der regionalen Bewirtschaftungspraxis stellt sich deshalb die ausreichende Düngung der Ackerflächen als ständiges Problem dar. Der Erhalt der Bodenfruchtbarkeit als Voraussetzung für ausreichende Ernteerträge war für die Landbewohner stets das handlungsleitende Motiv. Fridolin Krausmann bezeichnet die Bodenfruchtbarkeit als „zentrale Schaltstelle für die Kontrolle und Steuerung der Produktivität von Agrarökosystemen“.37 Auch in den zeitgenössischen Schriften zur Landwirtschaft wird die richtige Düngung der Flächen ausgiebig behandelt. 34 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 587 fol. 27. 35 FRIDOLIN KRAUSMANN, Von der Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit zur Steigerung der Erträge. Technisch-naturwissenschaftliche Aspekte, in: HELGA DIRLINGER U. A. (Hrsg.), Bodenfruchtbarkeit und Schädlinge im Kontext von Agrargesellschaften, Wien 1998, S. 5-26, hier S. 9. 36 Vgl. etwa die Holzungsklagen der Jahre 1722/29 und 1732/36, in: NLA StAOs Dep 45b Nr. 1657 und 1658. 37 KRAUSMANN, Bodenfruchtbarkeit, S. 5.

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„Unter den gewöhnlichen ländlichen Verhältnissen hat die anerkannte Nothwendigkeit der thierischen Düngung für den Gewächsbau allen Zeiten und allen Nationen gelehrt, dass Ackerbau und Viehzucht nothwendig in der genauesten Verbindung stehen müssen, wenn aus beiden der möglichste Vorteil herauskommen soll.“38

Angesichts der Flächenlimitierung und Abgrenzung nach außen konnte die Bodenfruchtbarkeit nur durch die Nährstoffumverteilung innerhalb der Mark erfolgen. Plaggen und Viehdung bildeten neben allem erdenklichen Material – zum Beispiel Mergel, Laub oder verschiedene Erdarten – die wichtigsten Düngemittel. Ein Verlust dieser „Markproducte“ hätte langfristig zu existenziellen Ertragsverlusten in der Ernte führen können und musste unter allen Umständen vermieden werden. Die Anfrage eines Bauern an die Land- und Justizkanzlei, ob man „die Plaggen aus der Heimat-Mark zur Düngung der in der benachbarten Mark belegenen Ländereien gegen Zurückbringung der Früchte heraus fahren darf oder woher er die Plaggen zur Cultivierung der in fremder Mark belegenen Ländereien hernehmen dürfe“,39 hebt die Bedeutung der Plaggen als Düngemittel hervor und auch den Stellenwert der Bestimmung innerhalb der Markenordnung. Man könne darüber keine Auskunft geben, lautete die Antwort der Landund Justizkanzlei, die auf die naturräumliche und rechtliche Diversität der einzelnen Mark verwies. Die Aufrechterhaltung der Bodenfruchtbarkeit und damit eine Stabilisierung der Nahrungsproduktion wurde innerhalb von lokalen Produktionssystemen durch den Transfer von Biomasse und Nährstoffen zwischen Ackerland, Grünland, Wald und Heidefläche, die räumlich und zeitlich wechselnde Flächennutzung, die weitgehende Schließung lokaler Kreisläufe und die Ausnutzung von ökosystemaren Prozessen gewährleistet.40 Auf die Schlüsselfunktion der Viehhaltung innerhalb dieser Prozesse bezieht sich der zweite von Dorfmüller benannte Grundsatz, kein fremdes Vieh in der Mark weiden zu lassen. Vieh- und Ackerwirtschaft standen innerhalb des Wirtschaftssystems in einem Abhängigkeitsverhältnis zueinander. Das Vieh als Konsument führte über seinen Dung die Nährstoffe an die Fläche zurück und ermöglichte ausreichende Ernteerträge. Das fremde Vieh aber konnte den einheimischen Tieren die Nahrung entziehen und zudem auch keine Nährstoffe in die Mark zurückführen. Die Fremdnutzung würde auf lange Sicht den Grasanger verderben und das heimische Vieh Hunger leiden, so die der zentralen Bestimmung zugrunde liegende zeitgenössische ‚Logik‘. Es verwundert also nicht, dass gerade über das Problem des „ductu naturae“, von einer in eine andere Mark übertretendes Vieh, zahlreiche Konflikte und viele Regelungen sowie sogar obrigkeitliche Verordnungen existierten. Es sei erlaubt, heißt es demzufolge 1721 in einer Verordnung Ernst Augusts I., 38 ALBRECHT DANIEL THAER, Grundsätze der rationellen Landwirtschaft, 4 Bde. (18371839), Bd. 1, Stuttgart 1837, § 295. 39 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 587 fol. 19. 40 ROLF PETER SIEFERLE U. A., Das Ende der Fläche. Zum gesellschaftlichen Stoffwechsel der Industrialisierung, Köln u. a. 2006, S. 91.

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„[...] daß/wan etwa hinkünfftig das Vieh ductu naturae, und also ungetrieben und ohne menschliche Hülffe/in eine benachbarte oder andere fremde Marck übertreten und gehen würde/so dan zwar vergönnet und zugelassen seyn und bleiben solle/das dergestalt aus fremden Marcken übertretende Vieh durch einige der Marckgenossen zu pfanden oder zu schütten/“.41

Von dieser Verordnung unberührt blieben diejenigen häufigen Fälle, bei denen Vieh absichtlich von den Markgenossen aus Nachbarmarken auf fremde Markgründe geführt wurden mit dem einzigen Zweck, die eigenen Ressourcenbestände auf Kosten der anderen zu schonen.

3.3.

Normative Fixierung der Nutzung

Die Ver- und Gebote der Naturnutzung wurden durch das „Markenrecht“ konserviert, das sich „nach der Beschaffenheit des Bodens“42 richtete. Das Markenrecht entsprach der Nutzungsordnung der Mark und war nicht schriftlich fixiert. Es war ein auf dem Herkommen beruhendes, mündlich tradiertes Gewohnheitsrecht. Nicht zuletzt aus diesem Grund erkundigte sich im Konfliktfall zwischen Mencke und Schlüter das Gericht bei einem der ältesten Markgenossen nach dem Standort der Eiche. Ocker wurde deshalb gefragt, wo sich Markengrund befindet, weil er 70 Jahre alt und der „Marck wohl kundig“ sei, heißt es im Gerichtsprotokoll.43 Das Markenrecht oder auch die Nutzungsordnung entsprachen der mental map der Markgenossen. Auf Grundlage ihres aus der Natur gewonnenen Erfahrungsschatzes erstellten sie mit der Nutzungsordnung ein ‚Programm’ der Naturnutzung. Nicht die Bewirtschaftungspraxis folgte also dem Markenrecht: Die Nutzungsordnung richtete sich vielmehr nach den landwirtschaftlichen und natürlichen Gegebenheiten und wurde in Abhängigkeit von den aktuellen Erfordernissen stetig verändert. Eine Vielzahl von institutionellen Einrichtungen wirkte beim Aushandeln der Nutzungsordnung, ihrer Fixierung sowie der Sanktionierung von Verstößen zusammen. Dazu zählten das bereits mehrfach erwähnte Holzgericht, der Holzgraf und die aus den Reihen der Markgenossen gewählten Mahlmänner. Der Holzgraf – im Hochstift Osnabrück war dies zumeist der Landesherr – besaß als Gerichtsherr das Recht zu Ge- und Verbot und auch zur Bestrafung der Delinquenten. Die Aufgabe der Mahlmänner bestand in der Aufsicht über die Mark, dem Anzeigen von Vergehen beim Holzgericht und der Dokumentation der Vergehen und Strafen in den „Wrogeregistern“. Die Kompetenz des Holz41 NLA StAOs Rep 150 Grö Nr. 587 fol. 5-12: Ernst August II.: Verordnung wie es mit den Ausmärkern in den Marken zu halten, 1721. 42 JUSTUS FRIEDRICH ANTON SCHLEDEHAUS / JOHANN ÄGIDIUS KLÖNTRUP, Das osnabrückische gemeine Marken-Recht, hrsg. von Karl H. L. Welker, Osnabrück 1782, Neudruck Osnabrück 2006, Eintrag „Mark“ § 9. 43 NLA StAOs Rep 950 Mel Nr. 644.

„Conservirung“ der natürlichen Ressourcen

107

gerichts (Höltings), des Holzgrafen und der Mahlleute erstreckte sich ausschließlich auf die einzelne Mark und dort auch nur auf diejenigen Flächen, die gemeinschaftlich genutzt wurden, wie oben schon betont wurde. Das Reglement der Mark erfolgte aber nicht nur im Zusammenspiel von obrigkeitlicher Aufsicht, Sanktionierung und Bestrafung, sondern auch der Kommunikation, Mitbestimmung und Gestaltung. Auf den Höltingen wurden zwar die Vergehen angezeigt und bestraft, aber auch allgemeine Fragen der Naturnutzung und Ressourcenverteilung unter den Markgenossen ausgehandelt. „Die wahren Genossen setzen sich selbst ihr Recht“44, bemerkt Justus Möser und beschreibt die Tatsache, dass das Markenrecht kein festgeschriebenes Gesetz, sondern Ergebnis eines Aushandlungsprozesses zwischen den Markgenossen war. Im Zeitraum zwischen der Mitte des 17. bis zum Ende des 18. Jahrhunderts lassen sich allerdings Veränderungen in Ablauf und Diskussionspunkten der Höltinge feststellen. Stand im 17. Jahrhundert das Aushandeln des Miteinanders unter den Markgenossen im Vordergrund, dominierten im 18. Jahrhundert Herrschaftsund Legitimitätsfragen. Die „Marckfragstücke“ wurden jedem Hölting vorangestellt, dabei wurden den versammelten Markgenossen die immer gleichen Fragen danach gestellt, wer Holzgraf und Unterholzgraf der Mark seien, welche Stellung die landesherrlichen Beamten einnehmen würden oder welche Privilegien der Pastor genieße. Die „Marckfragstücke“ dienten ausschließlich der Fixierung von Privilegien der an der Mark partizipierenden Herrschaftseliten, vor allem der Grundherren sowie des Landesherrn und seiner Beamten.45 Jedes Hölting endete mit der Erneuerung des „Markfriedens“, eines rechtlichen Konstrukts, das alle Markgenossen auf die Einhaltung der Nutzungsordnung entsprechend dem Grundsatz „die Mark liegt immer in Frieden“46 verpflichtete. Die somit begründete kollektive Verantwortung für den Schutz der Ressourcen ergänzte das institutionelle Gefüge der Markenordnung.

4.

Schlussbetrachtung

In der Kombination der genannten Regulative – Abgrenzung der Mark nach außen, Zugriff auf die Ressourcen durch einen geschlossenen Personenkreis, Beschränkung der Nutzungen entsprechend der naturräumlichen Voraussetzungen, Verwirklichung eines geschlossenen Nährstoffkreislaufes sowie die normative Fixierung der Nutzung – offenbart sich die enge Abhängigkeit physischer von gesellschaftlichen Strukturen. Die Mark war damit mehr als ein Agraröko-

44 JUSTUS MÖSER, Osnabrückische Geschichte, S. 64. 45 Zum Beispiel beim Holzgericht am 30. September 1773. NLA StAOs Dep 4b Nr. 1659. 46 Vgl. SCHLEDEHAUS / KLÖNTRUP, Marken-Recht, Eintrag „Mark“ § 10.

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Annika Schmitt

system, sie war vielmehr ein komplexes sozialökologisches System,47 das auf einem umfassenden Nachhaltigkeitskonzept basierte. Das Zusammenspiel der dargestellten Faktoren erfüllt alle Kriterien, die Elinor Ostrom für eine nachhaltige Allmendenutzung aufgestellt hat.48 Dabei kam der äußeren Begrenzung der Mark eine konstitutive Bedeutung zu, gründete das Nachhaltigkeitskonzept doch auf einer Flächen- und Ressourcenbegrenzung. So sind die von den Bauern verfolgten Nachhaltigkeitsstrategien nur allzu verständlich und gleichen einer Überlebensstrategie. Die Abhängigkeit des Bauern von der Fläche war unmittelbar: War die Ernte schlecht, musste er hungern. In einem geschlossenen System, wo alle Flächen voneinander abhängig waren, galt es, alle Ressourcen und Flächen gleichermaßen zu schützen, schonend zu behandeln und die Ressourcenverteilung zu überwachen. Dabei war die Gemeinschaftsnutzung der Ressourcen mit dem übergeordneten Kontrollsystem sicherlich dazu geeignet, die Ressourcen langfristig zu bewahren. Der Grund für die Übernutzungsproblematik des ausgehenden 18. Jahrhunderts ist demnach nicht, wie es der Erzählweise der Aufklärung entspricht, in der gemeinschaftlichen Ressourcennutzung zu suchen, sondern muss auf andere Faktoren zurückgeführt werden. Diese Faktoren sind in einem allgemeinen Bevölkerungs- und Produktionsdruck zu finden, der sich in der Ausweitung der Heuerlingspopulation seit dem 17. Jahrhundert und der Kultivierung von Markenfläche im Rahmen von Zuschlagsausweisungen niederschlug. Ein für die Entwicklung des Markenwesens bedeutsamer Faktor liegt darin, dass die Gruppe der Heuerleute auch als Nichtmitglieder des Markenverbandes über Weide- und Waldnutzungen an den Gemeinschaftsressourcen partizipierten. Die Praxis der Zuschlagsausweisungen, wobei offener Markengrund an die Markgenossen verkauft wurde,49 erwies sich

47 Vgl. dazu das Modell der Sozialen Ökologie des Wechselwirkungsgefüges Natur-Kultur, in: VERENA WINIWARTER / MARTIN KNOLL, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007, S. 129. Natur und Kultur bilden jeweils eigene Systeme, die über die menschliche Arbeit und Erfahrung auf der einen und Programme der Naturnutzung auf der anderen Seite miteinander in Interaktion stehen. 48 Vgl. MARTINA DE MOOR / LEIGH SHAW-TAYLOR / PAUL WARDE, Comparing the historical commons of north west Europe. An introduction, in: DIES. (Hrsg.), The management of common land in north west Europe, c. 1500-1850, Turnhout 2002, S. 15-31, hier S. 29. 49 Der Holzgraf – in der Oldendorfer Mark und den meisten anderen Osnabrücker Marken war dies der Landesherr – verdiente dabei jeweils den dritten Teil des Kaufgeldes, die so genannten Tertiengelder. Für die Bauern war der Ankauf von zusätzlicher Anbaufläche fast eine zwingende Notwendigkeit. Durch eine seit dem Dreißigjährigen Krieg stetig gewachsene Steuerlast waren die Bauern dadurch in der Lage, ihre finanzielle Schuld zu begleichen. Zur Steuerlast siehe CHRISTINE VAN DEN HEUVEL, Beamtenschaft und Territorialstaat. Behördenentwicklung und Sozialstruktur der Beamtenschaft im Hochstift Osnabrück 1550-1800, Osnabrück 1984, S. 273. Zu Zuschlagsausweisungen und den Hintergründen vgl. REINER PRASS, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen Gemeindeökonomie im südlichen Niedersachsen 1750-1883, Göttingen 1997, S. 132. Diese Entwicklung ist für die von den Agrarschriftstellern und

„Conservirung“ der natürlichen Ressourcen

109

als ebenso schädlich. Eine Verkleinerung der Markenfläche bei gleichzeitigem Anstieg der Nutzer musste letztendlich zu Übernutzungserscheinungen führen, die auch Vincke – wie im Eingangszitat belegt – als Endpunkt einer langen Entwicklung beklagte. Rolf Peter Sieferle bestätigt diese Einschätzung vom begrenzten Fassungsvermögen der Marken. Es sprächen „prinzipielle Überlegungen dafür, daß sich das vorindustrielle Solarenergiesystem im 18. Jahrhundert an einer Schwelle befand, die ein weiteres Wachstum wichtiger physischer Parameter (Bevölkerungsgröße, Stoffdurchsatz) verhinderte“.50 Im Rahmen eines flächengebundenen Energiesystems seien daher gesellschaftlichen und ökonomischen Entwicklungen naturale Grenzen gesetzt gewesen.51 In einem Punkt muss man den Agrarschriftstellern also Recht geben: Das Markenwesen konnte durch seine Flächengebundenheit den Anforderungen der Zeit nicht standhalten. Eine Dynamisierung der Landwirtschaft war, wollte man Hungersnöte vermeiden, eine unausweichliche Entwicklung. Die von den Agrarreformern propagierten Modernisierungen – Markenteilungen, Fruchtwechselwirtschaft, ganzjährige Stallfütterung – sind demzufolge als eine gesellschaftliche Auseinandersetzung mit Nachhaltigkeitsproblemen zu deuten.52 Die durch die Markenteilungen eingeleiteten strukturellen Veränderungen der landwirtschaftlichen Organisation können somit als „Übergang von einem geschlossenen System der Erhaltung zu einem offenen System der Steigerung gedeutet werden“.53

50 51 52 53

Zeitgenossen beobachteten Prozesse der „Markenverwüstung“ mitverantwortlich zu machen. ROLF PETER SIEFERLE, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, S. 137. Ebd., S. 126. HELGA DIRLINGER, Methoden zur Erhaltung der Bodenfruchtbarkeit. Vom geschlossenen zum offenen System, in: DIES. U. A., Bodenfruchtbarkeit und Schädlinge im Kontext von Agrargesellschaften, Wien 1998, S. 27-39, hier S. 27. Ebd.

 

HANSJÖRG KÜSTER

Landschaft: ein materielles und immaterielles Kulturerbe 1.

Einleitung: Was ist Landschaft?

Landschaft ist, einer bekannten Definition Alexander von Humboldts folgend, der „Totaleindruck einer Gegend“1. In einer solchen Gegend spielen sich natürliche Prozesse ab; Menschen stellten sich auf sie ein und kultivierten das Land. Stets formen Natur und Kultur oder Gestaltung die Landschaft als ein Ganzes. Doch handelt es sich bei Landschaft nicht nur um die Gegend, sondern auch um den Eindruck, den sie hervorruft. Mit diesem Eindruck verbunden sind Zusammenhänge, die der Betrachter der Gegend erschließt; er gibt ihr eine Idee und entwickelt eine Metapher von dem Gesehenen. Dabei entsteht die Landschaft in Wahrheit „im Kopf“, wie man im 18. Jahrhundert meinte. Das Resultat konnte der „Landschafter“ oder Landschaftsmaler auf seine Leinwand bannen.2 Das Landschaftsbild und – im übertragenen Sinne – die Landschaft, die jeder sich „macht“, besteht also einerseits aus materiellen Komponenten, die man auch vor sich sieht, und andererseits aus immateriellen Interpretationen, die man sich dazu denkt. Die (immaterielle) Idee, die man mit einer Landschaft verbindet, kann „Schönheit“ heißen oder „Natur“, „Naturschutzgebiet“, „Landschaftsschutzgebiet“, „Idylle“ oder schließlich auch „Kulturlandschaft“. Dieser Begriff ist eigentlich nicht richtig, denn eine Landschaft und deren Erkennung sind immer mit Kultur verbunden. Daher gibt es weder eine Kulturlandschaft noch eine Naturlandschaft. Eine Landschaft Natur- oder Kulturlandschaft zu nennen ist stets eine Interpretation und damit ein Akt von Kultur. Aber in den letzten Jahren ist „Kulturlandschaft“ zu einem Ideal geworden, das mit einer klaren Vorstellung verbunden wird, ebenso wie „Naturschutzgebiet“ oder „Arcadien“, und deswegen kann der Begriff verwendet werden: Er bezeichnet eine schöne, reizvolle oder interessante Landschaft, die unter dem Einfluss einer meist aktuell nicht mehr einwirkenden Form von Kultur entstanden ist. Dabei unterscheidet sich das im Raum Gesehene von dem, was auf einem Landschaftsbild dargestellt wird: Man erkennt in der Umwelt materielle Dinge, sie werden immateriell gedeutet und zu einem erneut materiellen Bild zusammengefügt. Die einzelnen Gegenstände der Umwelt sind materiell, die dazu hergestellten Zusammenhänge immateriell. Das Bild präsentiert eine stabi-

1 2

ALEXANDER VON HUMBOLDT, Ansichten der Natur. Erster und zweiter Band, Darmstadt 1987, S. 181. Vgl. dazu insgesamt HANSJÖRG KÜSTER, Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft, München 2012.

Hansjörg Küster

114

le Szene, während sich das Dargestellte schon unter den Blicken des Malers weiterentwickelt, also stets dynamisch ist.

2.

Erklärung von Landschaft als pädagogische Aufgabe

Der Eindruck, den man beim Betrachten einer Landschaft gewinnt, ist so total, dass schwer zu begreifen ist, was darin Natur, was Kultur im Sinne von Gestaltung und was Interpretation, Erschlossenes ist. Daher muss dies erklärt werden. Diese pädagogische Aufgabe besteht nicht nur deswegen, weil Landschaften interessant sind, sondern weil man wissen muss, wie man sich für ihre Bewahrung einsetzen kann.

Abb.1: Agrarlandschaft bei Kathrinhagen, Landkreis Schaumburg, Niedersachsen. Auf der Abbildung 1 ist eine Kulturlandschaft zu sehen, die viele Menschen insgesamt als „Natur“ bezeichnen würden, etwa dann, wenn sie sagen, dass sie am Sonntag gerne in einer solchen „Natur“ spazieren gehen. Doch dieser Naturbegriff entspricht einer Interpretation. Sich für ihre Bewahrung insgesamt einzusetzen fällt schwer, weil Beständiges und Veränderliches, Materielles und

Landschaft

115

Immaterielles darin enthalten ist. Es ist also besser, zunächst die Landschaft so zu analysieren, wie dies die Landschaftswissenschaft unternimmt.3 Selbstverständlich ist „Natur“ im eigentlichen Sinne in dem Bild zu erkennen. Man sieht einen leicht geneigten Hang: Der Blick geht von einem flach eingesenkten Tal über den Bauernhof auf etwas höher gelegenes Terrain. Rings um den Bauernhof stehen bestimmte Pflanzen als Elemente der Natur. So können sie aufgefasst werden, denn sie wachsen, werden größer, werden gefressen und sterben ab. Auch Tiere sind zu sehen, für die Gleiches gilt. Auch sie wachsen und sterben. Alles Lebendige ist steter Dynamik unterworfen. Wenn es einem wichtig ist, dass die Landschaft ihr Bild bewahrt, muss man also darauf achten, dass immer wieder die gleichen Gewächse und Tiere darin zu sehen sind. Aber man muss auch wissen, dass sich diese Lebewesen nie wieder in gleicher Weise präsentieren werden wie auf dem Bild. Selbst das Relief, die Oberfläche des Gebietes, bleibt nicht so bestehen, wie es auf dem Bild zu erkennen ist: Der Boden des am Abhang gelegenen Landes wird abgetragen, das abgetragene Bodenmaterial lagert sich am Grund des Tals wieder ab. Der Bach im Talgrund kann dieses Material weiter tragen, bis zum nächsten Fluss oder sogar bis zum Meer. Auch die Oberfläche der Erde ist der Dynamik unterworfen. In der Natur ist also nichts konstant, alles ist der beständigen Veränderung unterworfen. Die einzelnen Komponenten der Landschaft sind nicht etwa zufällig verteilt, sondern sie haben ihren Platz durch den Menschen erhalten. Menschen beobachteten das Land und fanden die besten Orte für jede Pflanze, jedes Tier, und zwar deswegen, weil sie die Landschaft optimal nutzen wollten. Große Teile Mitteleuropas wurden in der letzten Eiszeit von einer Lössdecke überzogen. Löss besteht aus feinem Staub, der auf abgetrockneten Gletschervorfeldern vom Wind aufgenommen und weit verweht wird. Der Wind lagerte den Lössstaub dort ab, wo die Windgeschwindigkeit nachließ: vor allem am Rand der Mittelgebirge (dort entstanden die norddeutschen Lössbörden) und zwischen einzelnen Berg- und Hügelzügen. Der Löss in diesen Senken wird als intramontaner Löss bezeichnet. Wo sich Bäche in den Untergrund einschnitten, wurde der Löss abgetragen und andernorts erneut als Schwemmlöss abgelagert. In den Tälern trat daher das ursprünglich vom Löss begrabene Gestein wieder zutage, nicht aber auf den Höhen zwischen den Tälern. Dort blieb der Löss liegen, der vor allem zwei wichtige Eigenschaften hat: Er enthält zahlreiche verschiedene Mineralstoffe, die Pflanzen zum Wachstum benötigen. In Böden, die sich auf Löss entwickelten, sind außerdem keine Steine enthalten. Daher kann man diese Böden auch mit einfachem Gerät aus Stein, Holz oder Knochen bearbeiten, ohne Gefahr zu laufen, dass Pflüge oder Hacken beschädigt werden. Daher findet man in vielen Gegenden das Ackerland nur auf dem höher gelegenen Land außerhalb der Täler. Auch auf Abb. 1 ist dies zu erkennen: Das 3

Ebd., S. 139-156.

116

Hansjörg Küster

Ackerland liegt hinter dem Bauernhof, oberhalb davon. Im flach eingesenkten Tal weidet das Vieh. Die Pflanzen der Viehweide wachsen auf Land, das keiner Bodenbearbeitung unterzogen wird. Sie brauchen aber viel Wasser, um gut gedeihen zu können, denn mit dem Wasser werden düngende Mineralstoffe herangetragen. Das Vieh hat es nicht weit bis zur Trinkwasserquelle, wenn es in einer Senke gehalten wird. Der Bauernhof befindet sich zwischen trockenem Ackerland und feuchterem Grünland in einer sogenannten Ökotopengrenzlage. Auf diese Weise sind beide wichtigen Wirtschaftsbereiche eines Agrarbetriebes vom Hof aus unmittelbar zu erreichen. Zudem kann Abwasser, wenn es vom Stall aus zum Bach abfließt, zusätzlich das Grünland düngen. Die Viehweide ist von Zäunen eingefasst, damit das Vieh nicht auf benachbarte Parzellen laufen kann. Dort soll gerade das Gras wachsen. Zu einem späteren Zeitpunkt kann das Vieh auf eine benachbarte Weide umgesetzt werden. Durch Gräben, die zwischen den Grünlandparzellen gezogen wurden, kann das Land bewässert (und damit auch gedüngt) werden. Ist es zu feucht, kann Wasser über die Gräben aber auch abgezogen werden. An den Zäunen breitete sich Brombeergestrüpp aus, denn die stacheligen Brombeerranken werden vom Vieh nicht gefressen. Außerdem wachsen dort Eschen; diese Pflanzen verwendete man früher zur Gewinnung von Winterfutter. Man schnitt ihr schmackhaftes Laub ab und trocknete es, um es später dem Vieh vorzuwerfen. Eschen treiben daraufhin wieder aus, und man kann sie nach einigen Jahren erneut zur Gewinnung von Laubheu schneiden oder schneiteln. Auf dem Bild sind außerdem Obstbäume zu erkennen. Sie stehen typischerweise etwas unterhalb des Bauernhofes, aber nicht unmittelbar im Talgrund. In der Senke kann sich nämlich in kalten Frühjahrsnächten schwere Kaltluft ansammeln und die Blüten erfrieren lassen. Oder es gibt einen frühen Frost im September, der das Obst zerstört, bevor es geerntet werden kann. Das Bauernhaus schützt die Bäume, und zwar auch gegen kalte Winde, die über das Ackerland fegen und die Obstbäume ebenfalls schädigen. Es wird deutlich, dass auf dem Landschaftsbild zwar zahlreiche Lebewesen zu sehen sind, ihre Ordnung aber weitgehend vom Menschen, also durch Kultur bzw. Nutzung bestimmt wurde. Die Erklärung der Landschaft ist zunächst nur am starren Bild möglich. Aber die Kunst der Erklärung besteht darin, dennoch auf die Dynamik hinzuweisen, die in der Landschaft herrscht. Man muss aber diese Dynamik erkennen, um zu verstehen, dass Ökosysteme keine Konstanten sind, sondern sich weiterentwickeln, dass Sukzessionen als Abfolgen von Pflanzengemeinschaften ablaufen und auch neue Pflanzen- und Tierarten entstehen. Mit dieser Erkenntnis ist dann verbunden, dass bei der Kultur des Landes als „Agrikultur“ Beständigkeit angestrebt wird. Das Grünland im Vordergrund wird nur dann frei gehalten, wenn es genutzt wird, etwa für die Beweidung durch Vieh. Immer wieder müssen Obstbäume an etwa die gleiche Stelle gesetzt werden, und stets muss das Ackerland bearbeitet werden. Der Mensch widersetzt sich auf diese Weise bei der Nutzung des Landes der Dynamik von Natur:

Landschaft

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Wenn er das Land nutzen will, wird er immer verhindern, dass sich Büsche und schließlich Bäume ausbreiten, so dass sich Wiesen, Weide- und Ackerland zu Wald entwickeln oder das Haus zerfällt und von Brennnesseln überwuchert wird. Die Erläuterungen dieser Zusammenhänge zwischen Natur und Kultur führen zum Verständnis von Inhalten verschiedener Schulfächer, von Biologie bzw. Ökologie, von Geografie, Geschichte und Archäologie, und man versteht Grundlagen der Landwirtschaft, die heutzutage vielen Menschen nicht mehr vertraut sind.

3.

Ideen zu Landschaft

Abb. 2: Eschen an der Klosterkirche von Wöltingerode, Landkreis Goslar. Weil Eschen nach einem Schnitt ihrer belaubten Zweige immer wieder austreiben, gelten sie als Symbol für das Ewige Leben. Man pflanzte daher Eschen an vielen Kirchen und auf Friedhöfen (Abb. 2). Die Vorstellung von der Esche „Yggdrasil“ als „ältestem Baum“, als die sie in der Edda genannt ist, dürfte von

118

Hansjörg Küster

dieser Eigenschaft herrühren. Abgesehen von der Interpretation dieses einzelnen Elements: Auch die gesamte Szenerie auf Abb. 1 wird interpretiert, mit einer Idee verbunden. Auf eine von ihnen, auf die Vorstellung, dass „Natur“ auf ihr zu sehen ist, wurde schon hingewiesen. Aber man sieht ebenfalls die Idylle, ein Arcadien, wenn man eine Form von Landschaft wie auf Abb. 1 betrachtet. „Arcadien“ nennt man seit der Antike Landschaften, die auf altertümliche Weise genutzt werden. Vergil verwendete diese Landschaftsbezeichnung, die sich ursprünglich auf ein von Hirten genutztes Land auf der Peloponnes bezog, und übertrug diesen Begriff auf ähnliche Landschaften in Süditalien. Arcadien galt als Urlandschaft, oft auch als „Natur“. In Mitteleuropa hielt man seit dem 18. Jahrhundert Heideflächen, die ebenfalls von Hirten genutzt wurden, für „Natur“. Diese Interpretation ging mutmaßlich entscheidend auf Jean André de Luc zurück, einen an die Universität Göttingen berufenen Freund von Jean-Jacques Rousseau, der 1781 die Lüneburger Heide bereiste. Dazu schrieb er: „Ich hab das Vergnügen gehabt, neue Gräben in den Heiden ziehen zu sehen: ein Schauspiel, das für mich eben so viel war, als ob ich neue Menschen entspringen sähe. Vorzüglich bemerkte ich einen jungen Mann und seine Gattinn [sic], die mit dem größten Eifer beschäftigt waren, er, den Graben tiefer zu machen, und sie, die ausgehobne Erde hineinwärts zu werfen. Sogleich stellte sich mir die ganze Geschichte dieses Paares und seiner Nachkommenschaft dar, und ich glaubte in ihnen unsere ersten Stammeltern zu sehen. […]“.4

Heidebauern wurden dort entsprechend zu den Naturtopoi der Aufklärung mit den ersten Menschen verglichen, man könnte auch sagen, mit „edlen Wilden“. Die Lüneburger Heide, zuvor ein Schreckbild von Wildnis und Wüstenei, wurde fortan als „schöne Natur“ gesehen; dieses Bild wurde vielfach aufgegriffen, sowohl von Hermann Löns als auch von denjenigen, die die Gegend um den Wilseder Berg zu einem der bekanntesten deutschen Naturschutzgebiete machten (Abb. 3); dabei ist es gerade nicht Natur, die in der Heide sichtbar wird, sondern eine Landschaft, bei der sich nach intensiver Nutzung unfruchtbarer Böden herausgebildet hat. Man kann dies aber so lange erklären, wie man will: Viele Menschen halten dennoch daran fest, dass die idyllische, arcadische Heide genau deswegen geschützt werden müsse, weil sie „schöne Natur“ sei.5

4

5

HANSJÖRG KÜSTER, Die Entdeckung der Lüneburger Heide als „schöne Natur“, in: Themenportal Europäische Geschichte (2010) unter http://www.europa.clio-online.de/ 2010/Article=429 [13.04.2013]. Das Zitat stammt aus den „Physikalische[n] und moralische[n] Briefe[n] über die Geschichte der Erde und des Menschen an Ihre Majestät die Königin von Großbritannien“ von Johann Andreas de Lüc [Luc], Leipzig 1781. JORGE GROß, Biologie verstehen: Wirkungen außerschulischer Lernangebote, Oldenburg 2007, S. 59-88.

Landschaft

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Abb. 3: Lüneburger Heide am Wilseder Berg. Es gibt zahlreiche weitere Ideen, die mit bestimmten Landschaften verbunden werden. „Schweiz“ nennt man malerische Gegenden, die man ebenso wie das Alpenland aufsuchen kann, um sie auf der Leinwand darzustellen oder sich an ihnen zu erfreuen. Diese Vorstellung geht auf die beiden Schweizer Maler Anton Graff und Adrian Zingg zurück, die 1766 an die Kunstakademie in Dresden berufen wurden und feststellten, dass man das Elbsandsteingebirge ebenso gut malen konnte wie ihre Schweizer Heimat. Seitdem wird diese Gegend „Sächsische Schweiz“ genannt.6 Andere Gegenden wurden später zu weiteren „Schweizen“. Mit dem Begriff wurde nicht nur das Malerische verbunden, sondern auch die Freiheit: Die Eidgenossen führten ein unter anderem von Albrecht von Haller beschriebenes idyllisches Leben in den Bergen und hatten sich schon frühzeitig von den Habsburgern unabhängig gemacht. Friedrich Schiller hat deshalb Wilhelm Tell zur Titelfigur seines berühmten Theaterstückes gemacht. Deutschland wurde mit Wald in Verbindung gebracht. Diese Vorstellung geht auf den Römer Tacitus zurück, der in seiner „Germania“ ausgedehnte Wälder erwähnte. Sie galten später als die „Natur“ der Germanen bzw. der Deutschen.7 Am Beginn des 19. Jahrhunderts forderte der „Turnvater“ Jahn, man möge dichte Wälder an der Grenze zu Frankreich pflanzen, damit sich die 6 7

HEINZ KLEMM, Die Entdeckung der Sächsischen Schweiz, Dresden 1956, S. 11-13. HANSJÖRG KÜSTER, Geschichte des Waldes. Von der Urzeit bis zur Gegenwart, München 2008, S. 207-211.

Hansjörg Küster

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Franzosen darin verliefen. Schließlich waren auch sie Romanen oder sprachen eine romanische Sprache, ebenso wie die Römer, die sich angeblich in den weiten Wäldern Germaniens nicht zurechtfanden.8 Diese Vorstellung führte zur breiten Akzeptanz in der Bevölkerung für die Förster, die im 19. Jahrhundert und auch noch später weite Wälder in Deutschland durch Aufforstung neu schufen. Deutschland wurde zum waldreichen Land; Wald spielt auch in der Vorstellung der Deutschen eine besonders wichtige Rolle.9 Schließlich müssen auch die Abstraktionen von Landschaften, wie sie von der geografischen Wissenschaft ausgehen, als Ideen verstanden werden. Sie sind keine von Natur aus bestehenden Konstanten, sondern werden als Ideen definiert und mit Grenzen versehen, die in der Natur nicht zu erkennen sind.

4.

Arbeitsaufträge

Von landschaftswissenschaftlicher Seite ist zusammenzutragen, welche Landschaften tatsächlich bestehen. Damit ist keine naturräumliche Gliederung des Landes gemeint, wie sie Emil Meynen und Josef Schmithüsen für Deutschland vorgelegt haben.10 Meynen und Schmithüsen teilten ebenso wie viele andere Geografen das gesamte Land in Landschaften ein und trennten sie voneinander ab. Solche Landschaften gibt es – als Ideen. Aber viele Menschen sehen Landschaften von einem zentralen Punkt aus und geben ihnen von dort aus ihren Namen. Es gibt Gegenden, die mit Landschaftsnamen verbunden sind, und auch andere, in denen dies nicht der Fall ist. Es gibt übergeordnete Landschaftsnamen (Oldenburg) und weitere Namen für sehr spezielle kleine Räume (Ahlhorner Teiche, Wildeshauser Geest). Es wäre interessant, einmal zusammenzustellen, wie diese Landschaften von Fachleuten und in der Bevölkerung gesehen werden; man müsste wissen, welche Eigenheiten für ihre Bewahrung von besonderer Bedeutung sind, was also die „Essenz“ einer jeden Landschaft ausmacht. Im Fall der Wildeshauser Geest könnten dies Heiden, Wälder, Geestbauernhöfe, Großsteingräber sein, aber auch undurchdringliche Erlenwälder an der Hunte. Es ginge also nicht nur um einzelne Elemente von Landschaften11, sondern um Landschaften insgesamt. Schließlich werden Konzepte dafür gebraucht, wie man jede dieser Landschaften im Unterricht darstellen könnte. SchülerInnen brauchen Wissen über 8 9

Ebd., S. 183. BERND WEYERGRAF, Deutsche Wälder, in: DERS., Waldungen. Die Deutschen und ihr Wald, Berlin 1987, S. 6-12. 10 EMIL MEYNEN / JOSEF SCHMITHÜSEN, Handbuch der naturräumlichen Gliederung Deutschlands, Remagen 1953-1962. 11 CHRISTIAN WIEGAND, Spurensuche in Niedersachsen. Historische Kulturlandschaftsteile entdecken, Anleitung und Glossar, in: Bausteine zur Heimat- und Regionalgeschichte 12, hrsg. vom Niedersächsischen Heimatbund, Hannover 2005.

Landschaft

121

die Landschaften in ihrer Umgebung; es reicht nicht aus, wenn sie lediglich emotionale Vorstellungen damit verbinden. Dies tut jeder Mensch unbewusst, der sich in einer Umgebung aufhält. Man muss sich aber der Landschaft aus mehreren Gründen bewusst werden. Dies ist wichtig, wenn man für die Bewahrung einer Landschaft eintreten will. Man muss dann wissen, inwieweit Naturschutz oder Landschaftsschutz adäquate Mittel dafür sind. Ein Bewusstwerden über Landschaft ist aber auch notwendig, wenn man Menschen, die neu in einen Raum kommen, erfolgreich integrieren will. Diesen Menschen muss man die Besonderheiten der Landschaft erklären, damit sie eine emotionale Bindung zu ihr entwickeln können und damit ein Gespräch zwischen Einheimischen und Fremden, aber auch zwischen Alten und Jungen möglich wird. „Landschaft“ ist eines der wenigen Gesprächsthemen, das viele Menschen miteinander verbinden kann. Daher ist Wissen über die heimische Landschaft, die Heimat, sehr wichtig, wenn man Menschen erfolgreich integrieren will. Das gilt für SchülerInnen ebenso wie besonders für Erwachsene. Je älter die Menschen sind, desto schwerer ist deren Integration, aber es ist auch desto notwendiger, sich für deren emotionale Integration einzusetzen.

 

G E R H A R D H E N K E -B O C K S C H A T Z

Kulturlandschaften wahrnehmen und entschlüsseln oder: Welche Kompetenzen brauchen SchülerInnen zur historischen Spurensuche? 1.

Einleitung

Kulturlandschaften umgeben uns überall. Als eine Art Palimpsest enthalten sie neben-, unter- und übereinander unterschiedlichste Spuren früherer Benutzungen der Landschaft durch den Menschen.1 Das bewusste Wahrnehmen und Verfolgen dieser Spuren ist eine wichtige Voraussetzung dafür, gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Gestaltung und Entwicklung von Landschaften zu verstehen und sich in sie einzumischen. Deshalb stellt sich die Frage, wie die Fähigkeit und die Bereitschaft junger Menschen bestimmt und gefördert werden kann, historische Kulturlandschaftselemente zu identifizieren und sich ihre Entstehung und ihren Wandel zu erschließen.2 Um ein solches Bewusstsein von der Historizität des Raumes zu entwickeln, kommt dem Schritt von der zufälligen Wahrnehmung des offensichtlich oder vermutlich ‚Alten‘ zu der Erkenntnis prägender Landschaftsstrukturen und zu der Frage nach deren Genese zentrale Bedeutung zu. Im Folgenden werden zunächst einige theoretisch-methodische Überlegungen zu einem systematischen Konzept historischer Kulturlandschaftserschließung vorgestellt, die dann an einer westmecklenburgischen Region exemplifiziert werden. In der Geschichtsdidaktik besteht weitgehend Konsens darüber, dass Geschichte als Schulfach nach Möglichkeit an dem anknüpfen und das integrieren sollte, was SchülerInnen als historischer Überrest oder als Tradition in ihrer unmittelbaren Lebenswelt gegenübertritt. Dabei handelt es sich im Wesentlichen um a) unmittelbare gegenständliche Überreste im Raum, von der Burg auf dem Berg bis zu der alten Taschenuhr des Urgroßvaters und der Plattensammlung der Eltern, b) um mündliche Erzählungen über Vergangenes, die im direkten Gespräch unter den Mitlebenden kursieren und das so genannte kommunikative Gedächtnis einer Gesellschaft bilden, c) um schriftliche Erzählungen und explizite ‚Erinnerungsorte‘ (Museen, Denkmäler, Straßennamen, Inschriften etc.), welche die Erinnerung an Vergangenes als sogenanntes kulturelles Gedächtnis über die Lebensspanne der lebenden Generationen hinaus verdauern. Sofern 1 2

Vgl. WERNER KONOLD (Hrsg.), Die Veränderung der Landschaft nach der Nutzbarmachung durch den Menschen, Landsberg 1996; HANSJÖRG KÜSTER, Geschichte der Landschaft in Mitteleuropa. Von der Eiszeit bis zur Gegenwart, München 1995. Vgl. GERHARD HENKE-BOCKSCHATZ (mit Bettina Alavi), Mit Schülern Kulturlandschaften lesen, in: GWU 57, 2006, S. 300-309; SIMON PUGH (Hrsg.), Reading Landscape. Country, City, Capital, Manchester u. a. 1990.

Gerhard Henke-Bockschatz

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zufällig vorhandene Überreste auf irgendeine Art bewusst geschützt und erhalten werden, weil man sie für historisch bedeutsam erachtet, werden sie zu Bestandteilen des kulturellen Gedächtnisses. Die Kriterien, nach denen dies geschieht, sind nicht objektiv gegeben. Es handelt sich vielmehr um soziale Konventionen, hinter denen sich Auseinandersetzungen und Entscheidungen um die gewünschte historische Identität der Gesellschaft verbergen. Im Mittelpunkt der folgenden Ausführungen stehen unmittelbare historische Überreste, die erkennen lassen, wie Menschen in der Vergangenheit den ländlichen Raum genutzt haben und wie diese Nutzungsformen in den aktuellen räumlichen Gegebenheiten fortwirken. Dazu werden Vorschläge gemacht, wie dies jüngeren Menschen wahrnehmbar und erkennbar gemacht werden kann. SchülerInnen sollen sich so der Historizität einer Umgebung bewusst werden, die sie sehr oft für statisch und „natürlich“ halten. Auf dieser Grundlage sollen sie auch befähigt werden, sich in gesellschaftliche Auseinandersetzungen um die Bedrohung und den Erhalt von Kulturlandschaften und damit um einen wichtigen Teil des kulturellen Gedächtnisses einzumischen, z. B. um die Waldschlößchenbrücke im Dresdner Elbtal, um die Hochbrücke über die Mosel bei Ürzig, um die riesigen Windparks vor den Küsten, um neue Autobahn- oder Stromtrassen etc.

2.

„Kulturlandschaft“

„Kulturlandschaft“ ist ein vieldeutiger Begriff, bei dem zumindest drei Ebenen auseinander gehalten werden sollten. Das Wort bezeichnet erstens ein „Phänomen der Wahrnehmung von (Alltags-)Welt, dem sich auch der Wissenschaftler nicht entziehen kann“. Es wird zweitens für ein „gedankliches Konstrukt der Wissenschaft“ verwendet. Und es stellt drittens einen „Terminus der Gesetzgebung sowie der öffentlichen Diskussion zur Bewertung von aktuellen Veränderungen der Umwelt“ dar.3 Der Begriff wirkt dort tautologisch, wo es überhaupt keine „Natur“-Landschaft im Sinne von „unberührter Wildnis“ mehr gibt, wo die Landschaft durch und durch vom Menschen geprägt ist – also sicherlich hierzulande in Mitteleuropa, wenn nicht sogar auf dem ganzen Globus.4 Winfried Schenk nennt „Kulturlandschaft“ deshalb einen „strategischen Pleonas-

3

4

WINFRIED SCHENK, „Kulturlandschaft“ als Forschungskonzept und Planungsauftrag – aktuelle Themenfelder der Kulturlandschaftsforschung, in: VERA DENZER U. A. (Hrsg.), Kulturlandschaft. Wahrnehmung – Inventarisation – Regionale Beispiele, Wiesbaden 2005, S. 15-33, hier S. 16. Vgl. JÜRGEN HASSE, Kulturlandschaft – Landschaftskultur. Für einen anthropologisch und phänomenologisch sensibilisierten Umgang mit dem Begriff der Kulturlandschaft, in: VERA DENZER U. A. (Hrsg.), Kulturlandschaft. Wahrnehmung – Inventarisation – Regionale Beispiele, Wiesbaden 2005, S. 37-50, hier S. 39.

Kulturlandschaften

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mus“, „um damit die Raumwirksamkeit des Menschen in einer historischen Perspektive“ zu betonen.5 „Kulturlandschaft“ im erstgenannten Sinn verstehe ich, im Anschluss an eine verbreitete Definition, „als den von Menschen nach ihren existentiellen gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturell-ästhetischen Bedürfnissen eingerichteten und angepassten Naturraum, der im Laufe der Zeit mit einer zunehmenden Dynamik entstanden ist und weiter in der Folge sozialer, wirtschaftlicher und geistig-kultureller Dynamik ständig verändert wird“.6 Mit „existentiell“ wird betont, dass nicht jeder menschliche Eingriff in den Naturraum, mag er noch so zufällig und peripher sein, als konstituierendes Moment von Kulturlandschaft zu betrachten ist. Als sinnlich wahrnehmbares Phänomen enthält eine Kulturlandschaft eine Vielzahl von Überresten früherer Ereignisse und Handlungen, allerdings oft nur noch auf eine sehr mittelbare und abgeleitete Art und Weise. Die Relikte sind unvollständig, deformiert und überdeckt durch Natureinflüsse und spätere menschliche Eingriffe. Zwischen ihnen besteht häufig kein direkter Zusammenhang, sie stehen beziehungslos nebeneinander. In diesem Sinn sind Landschaft und Raum vor allem Fundstätten von sehr unterschiedlichen ‚Spuren’, anhand derer erst rekonstruiert werden muss, welche Nutzungen aus welchen Gründen zu welcher Zeit dominierten.7 Die Kulturlandschaft ist im Wesentlichen geprägt durch topographische Gegebenheiten (Berge, Hügel, Täler, Ebenen Flüsse etc.), Siedlungstypen und Siedlungsverteilung, Besitz- und Eigentumsverhältnisse, Landnutzung und Bewirtschaftung (Wald – Offenland; Grün- und Ackerflächen; Sonderkulturen, z. B. Wein) sowie durch Verkehrswege (Flüsse, Kanäle, Straßen, Pässe etc.), die das Land erschließen. Die Elemente einer Kulturlandschaft, die ihrerseits wieder nach Punkt-, Linien- und Flächenelementen gegliedert werden können, lassen sich bestimmten gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und kulturell-ästhetischen Funktionen zuordnen, insbesondere den Bereichen8: o o o 5 6 7 8

Religion, Kult, Militär/Verteidigung (Schutz), Herrschaft, Verwaltung, Recht,

WINFRIED SCHENK, Historische Geographie, Darmstadt 2011, S. 14. Arbeitsgruppe von Historischen Geographen und Denkmalpflegern im Jahr 2000; Vereinigung 2002, zit. nach SCHENK, Historische Geographie, S. 14. Vgl. GERHARD HARD, Geographie als Spurenlesen, in: Zeitschrift für Wirtschaftsgeographie 33, 1989, S. 2-11, hier S. 5; SCHENK, „Kulturlandschaft“, S. 17. Siehe PETER BURGGRAAFF / KLAUS-DIETER KLEEFELD, Historische Kulturlandschaft und Kulturlandschaftselemente, Bonn u. a. 1998, S. 267. – Vgl. auch Landschaftsverband Westfalen-Lippe (LWL), Glossar kulturlandschaftlicher Begriffe unter http://www.lwl.org/LWL/Kultur/GDK/GlossarKuLaBegriffe/ [02.07.2013]; VERA DENZER U. A. (Hrsg.), Kulturlandschaft. Wahrnehmung – Inventarisation – Regionale Beispiele, Wiesbaden 2005.

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Land- und Forstwirtschaft/Gartenbau/Fischerei (Jagd), Bergbau/Gewerbe/Industrie, Sozialsektor/Wissenschaft/Dienstleistung, Wohnen, Infrastruktur/Verkehr/Transport/Handel, Wasserbau/Wasserwesen, Kultur/Erholung/Fremdenverkehr/Sport, Raumordnung/Planung/Natur- und Denkmalschutz.

Kulturlandschaften sind nicht statisch, zumal nicht in unseren modernen Zeiten. Als generelle gegenwärtige Tendenzen können genannt werden: o

o o o

3.

der permanente Landschaftsverlust, d. h. die Ausbreitung von Siedlungs- und Gewerbeagglomerationen, v. a. im Zuge der Industrialisierung; damit einhergehend: die Verdichtung der Infrastruktur; die Tendenz zu landwirtschaftlichen Großbetrieben und damit das Verschwinden kleinbäuerlicher Wirtschaftsformen; die Tendenz zur Monokultur: Vom Mischwald zum schnell wachsenden Nadelwald, Konzentration auf Cash Crops etc.

Überlegungen zur geschichtsdidaktischen Profilierung

Gewöhnlich bezieht sich historisches Lernen auf bestimmte, zeitlich klar einzuordnende vergangene Ereignisse, Verhältnisse und Personen. Dabei spielen zwar auch immer Gegenwarts- und Zukunftsbezüge eine Rolle, jedoch liegt bei den meisten Themen nicht nur der Anfang, sondern auch das Ende in der Vergangenheit. Wenn es um das Begreifen von Kulturlandschaften geht, ist von der Sache her eine andere Herangehensweise geboten. In diesem Fall steht meistens der in der Gegenwart vorfindbare Raum im Mittelpunkt. In ihm gibt es sehr heterogene Relikte der Vergangenheit, die auf unterschiedliche menschliche Tätigkeiten verweisen, welche die Landschaft vor längerer oder kürzerer Zeit mehr oder weniger geformt haben. Das Entschlüsseln und Erschließen einer Kulturlandschaft ist deshalb auch als Herstellung eines regional- oder lokalgeschichtlichen Längsschnitts zu verstehen, der von der unmittelbaren räumlichen Anschauung in der Gegenwart ausgeht und mit einer verbesserten historischen Wahrnehmungskompetenz zu ihr zurückkehrt.9 9

Beispiele für Unterrichtseinheiten zur Entwicklung von Kulturlandschaften finden sich sowohl in geschichts- als auch in geographiedidaktischen Unterrichtszeitschriften. Vgl. KARL W. HOFFMANN / VOLKER WILHELMI, Landschaft ändert sich – Exkursion in den Nahraum, in: Praxis Geographie 7-8, 2008, S. 44-46; Praxis Geschichte 5, 2000, Themenheft „Historische Landschaften. Das Ruhrgebiet“; WINFRIED SCHENK, Der Blick in die Landschaft. Die Geschichte unserer Umwelt im Spiegel von Landschaftsgemälden,

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Wie lässt sich die Aufnahme eines solchen Vorhabens in das Curriculum des Faches Geschichte rechtfertigen? Als Geschichtsdidaktiker an einer hessischen Hochschule möchte ich mich dazu auf die neuen kompetenzorientierten Bildungsstandards zum Fach Geschichte in diesem Bundesland beziehen.10 Es können aber in fast allen Bundesländern ähnliche Tendenzen der Curriculumsentwicklung festgestellt werden. Im Kern zielen die gegenwärtigen Entwicklungen in allen Fächern darauf ab, durch eine didaktisch begründete Auswahl von Themen bei den SchülerInnen fachspezifische Kompetenzen aufzubauen, die sie dazu befähigen sollen, ähnliche Probleme in bestimmten Gegenstandsbereichen („Domänen“) zu lösen. Auch im Fach Geschichte müssen sich Unterrichtsthemen dadurch rechtfertigen, dass an und mit ihnen Kompetenzen erworben werden, mittels derer subjektiv bedeutungsvolle Narrationen konstruiert und dekonstruiert werden können. Die Hessischen Bildungsstandards zum Fach Geschichte benennen nun als „geschichtswissenschaftliche Dimensionen“, die bei der Findung von Themen berücksichtigt werden sollen, neben den „Alltagskulturen“, der „Herrschaft“, der „Wirtschaft“ und dem „Eigenen und Fremden“ auch die „Bewältigung und Nutzung von Räumen“, wobei die „Mensch-Raum-Beziehung“ im Mittelpunkt stehen soll. Zu den „Raumordnungen“ werden dann auch „Landschaften“ sowie „die agrarische und industrielle Nutzung von Natur“ gezählt.11 Somit lässt sich die Aufnahme des Themas „Kulturlandschaft“ in die Schulcurricula des Faches Geschichte, deren Entwicklung in Hessen ansteht, nach der Seite der „Dimensionen“ sehr gut begründen. Mit der Anschlussmöglichkeit an die so genannten „Basisnarrative“, einen eher traditionell gestrickten, stichwortartigen Katalog gängiger Themen des Geschichtsunterrichts von der Steinzeit bis zur deutschen Wiedervereinigung, sieht es hingegen etwas schlechter aus. Anknüpfungspunkte für Themen, die den Aspekt „Kulturlandschaft“ berühren, ergeben sich aber fast überall dort, wo es um die Geschichte der Landwirtschaft geht, sei es bei der Dreifelderwirtschaft oder bei der Aufhebung der Grundherrschaft. Darüber hinaus eignet sich das Thema „Kulturlandschaft“ für ein inter- oder transdisziplinäres Vorgehen, bei dem neben dem Fach Geschichte vor allem die Fächer Geographie und die Biologie in Betracht kommen. Als Begründung und Ziel der schulischen Auseinandersetzung mit Kulturlandschaften ist bei Winfried Schenk zu lesen: „Für die Akzeptanz der Kulturlandschaften ist das Wissen um die mit Kulturlandschaften verbundenen Werte grundlegend, denn nur das, was bekannt ist und als Wert geschätzt wird,

in: Praxis Geschichte 4, 1997, S. 40-42; DERS., Landschaften vom Reißbrett. Agrarlandschaftswandel – Ökonomische Hintergründe und kulturräumliche Folgen, in: Praxis Geschichte 4, 1997, S. 33-39. 10 Hessisches Kultusministerium, Bildungsstandards und Inhaltsfelder. Sekundarstufe I – Gymnasium, Geschichte, Wiesbaden 2010. 11 Ebd., S. 24.

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kann zukunftsgerichtet gepflegt werden. Damit kommt der didaktischen Erschließung der historischen Kulturlandschaft eine Schlüsselrolle im Konzept der Kulturlandschaftspflege zu.“12

Idealer Ansatzpunkt dazu sei die „originäre Begegnung [...] mit historischen Elementen und Strukturen in der aktuellen Kulturlandschaft“, die wegen derer oftmals nur rudimentären Existenz über verschiedene mediale Zugänge erfolgen müsse (z. B. in Freilichtmuseen oder Ècomusée). Dem letzten Satz kann aus geschichtsdidaktischer Perspektive vollauf zugestimmt werden. Der erste Satz sollte allerdings ergänzt bzw. modifiziert werden. Der schulischen Vermittlung wird hier unmittelbar eine normative Aufgabe zugewiesen, nämlich die, die Wertschätzung von Kulturlandschaft und damit die Notwendigkeit ihrer Bewahrung zu vermitteln. Die Gründe und Kriterien der Kulturlandschaftspflege sollten aber den Lernenden ebenfalls zugänglich und diskutierbar gemacht werden. Deshalb empfiehlt es sich, eine etwas andere, offenere Akzentuierung vorzunehmen. Das „Entschlüsseln“ von Kulturlandschaften sollte nach meiner Auffassung dazu dienen, SchülerInnen (und nicht nur ihnen) 1. 2. 3.

den historischen Charakter von „Landschaft“ zu verdeutlichen; die unterschiedlichen Maßstäbe bewusst zu machen, warum Landschaften gefallen oder nicht gefallen und ganz oder teilweise erhalten werden sollen; zu Überlegungen bewegen, welche Art von Landschaft ihnen lebenswert und bewahrenswert erscheint.

Mit Blick auf diese Zielsetzung sollte der Lernprozess zu Kompetenzen führen, die in Anlehnung an das Kompetenzmodell des schweizerischen Geschichtsdidaktikers Peter Gautschi wie folgt bestimmt werden können13: o o

o

o

Wahrnehmen von Relikten der verschiedensten Art und Form im Raum (Wahrnehmungskompetenz); Erschließung, Analyse und Interpretation von Quellen und Darstellungen, die den historischen Kontext der Relikte im Raum erhellen (Analysekompetenz); Argumentative Herstellung und Beurteilung von Zusammenhängen, in die die Relikte bzw. ihre Funktionszusammenhänge gestellt werden (Urteilskompetenz); Beurteilung der gewollten und/oder ungewollten Persistenz (Orientierungskompetenz).

12 Siehe dieses und das folgende Zitat SCHENK, Historische Geographie, S. 119, Hervorhebungen und Literaturhinweis ebenda. 13 PETER GAUTSCHI, Guter Geschichtsunterricht. Grundlagen, Erkenntnisse, Hinweise, Schwalbach/Ts. 2009.

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4.

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Methodische und mediale Zugänge

Für das methodische Vorgehen im Unterricht, bei dem im Allgemeinen Exkursionen eine entscheidende Rolle spielen werden (obwohl auch Unterrichtseinheiten denkbar sind, die allein mit Karten, Bildern und Texten operieren), sind die folgenden Schritte hilfreich. Sie orientieren sich an dem didaktischen Konzept des forschend-entdeckenden Lernens.14 1. Vermutungen und Hypothesen zu den als ‚alt‘ wahrgenommenen Elementen der Landschaft anstellen: Für die Auseinandersetzung mit der Kulturlandschaft und mit der eigenen Wahrnehmung ist zunächst das Sammeln und Bestimmen verschiedener ‚alter‘ Elemente durch die Lerngruppe sinnvoll. Das geschieht am besten vor Ort, kann aber auch über Bilder oder einen kurzen Film vermittelt werden. Es werden dann möglicherweise Gebäude, Bäume, Wege, Straßennamen etc. genannt und es werden Vermutungen formuliert, wie alt sie sein mögen, seit wann es sie wohl gibt und wie sie sich vielleicht verändert haben. 2. Subjektive Assoziationen und Eindrücke thematisieren: Um Jugendliche dazu zu bringen, sich mit einer Landschaft in ihrer historischen Dimension auseinander zu setzen, ist es zunächst notwendig, dass sie sich des Eindrucks bewusst werden, den die Landschaft auf sie persönlich macht. Ruft doch jede Landschaft in dem Betrachter auch ein ästhetisches Urteil hervor: Sie gefällt, missfällt, langweilt etc. Dieses Urteil, über dessen Grund man sich oft keine Rechenschaft ablegt, beeinflusst wiederum die Wahrnehmung und den Fragehorizont. Wo man es ‚schön‘ findet bzw. finden will, wird man sich damit schwerer tun, hinter den Kulissen des Gefälligen die wirtschaftliche und soziale Realität zu suchen. Die Frage, ob man dort leben möchte, führt von der Ästhetik hin zur Funktionalität einer Landschaft, die auch den Blick für Realitäten öffnet. Auch SchülerInnen bringen in die Wahrnehmung und das Empfinden der Landschaft ihre Assoziationen und Projektionen ein. Und sei es auch nur in dem Sinne, dass ihre ‚Traumlandschaften‘ – so sie denn welche haben – im Zeitalter des Ferntourismus und des Fernsehens etwas anders aussehen als die Landschaften, zu denen sich vielleicht ihre Großeltern in ihrer Jugend hingezogen fühlten. 3. Vorstellungen evozieren: Es ist sinnvoll, die Vorstellungskraft der SchülerInnen anzuregen, sie aufzufordern, sich vorzustellen, wie die Landschaft in früherer Zeit ausgesehen haben könnte. Hierzu können ‚Wegdenk-Übungen‘ sinnvoll sein: Versuche, aus dem Bild der heutigen Landschaft das wegzudenken, was zu einem bestimmten Zeitpunkt in der Vergangenheit noch nicht vorhanden war. Es bietet sich an, hierfür einen zeitlichen Bezugspunkt zu wählen, 14 GERHARD HENKE-BOCKSCHATZ, Forschend-entdeckendes Lernen, in: ULRICH MAYER / HANS-JÜRGEN PANDEL / GERHARD SCHNEIDER (Hrsg.), Handbuch Methoden im Geschichtsunterricht, Schwalbach/Ts. 2004, S. 15-29.

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der am Ende der traditionellen und am Übergang zur modernen Gesellschaft liegt, also zum Beispiel die Zeit zwischen 1800 und 1850.15 Ein entsprechender Arbeitsauftrag könnte lauten: „Stellt Euch vor, was es von dem, was wir hier heute erblicken, vor 150 bis 200 Jahren noch nicht gegeben haben dürfte?“ Der Auftrag müsste/könnte ergänzt werden um die Aufforderung: „Überlegt, auf welche Art und unter welchen Bedingungen die Menschen hier damals ihren Lebensunterhalt erwirtschafteten.“ 4. Intensivierung und Ausweitung des Landschaftseindrucks durch Betrachtung von Bildern und Karten der gegenwärtigen Landschaft: Zur Vorbereitung einer Exkursion, die der historischen Erkundung einer Landschaft dient, ist eine erste Auseinandersetzung mit der Landschaft in Form der Betrachtung eines Panorama- oder Luftbildes und eines entsprechenden Ausschnitts aus einer topographischen Karte sinnvoll. Es kann auch der Blick von einem Aussichtspunkt aus sein (wenn dazu Gelegenheit und Zeit besteht). Ein guter Ausweg besteht darin, hoch aufgelöste Digitalbilder zu verwenden, weil über die Zoomfunktion Einzelheiten besser erarbeitet werden können. Es bietet sich auch die Arbeit mit Google Maps an. Auf der Grundlage der so gewonnenen ersten mittelbaren Eindrücke lassen sich nicht nur Fragen und Vermutungen formulieren, sondern auch organisatorische Entscheidungen treffen: Was kann/soll auf welche Art näher erkundet werden? Auf diese Art werden SchülerInnen von Anfang an in die Planung miteinbezogen und nicht nur dazu angehalten, Routen abzuschreiten, die von der Lehrkraft konzipiert wurden. 5. Sich auf aufschließende Elemente konzentrieren: Lehrenden und Lernenden muss bei einem solchen Projekt die Änderung der thematischen Perspektive stets bewusst sein: Während sie sonst im Geschichtsunterricht mit einzelnen Epochen und Ereignissen befasst sind und dabei jeweils charakteristische Relikte direkt oder indirekt in den Blick geraten, besteht der Ausgangspunkt nun in der Wahrnehmung räumlich benachbarter Relikte aus verschiedensten Epochen, zwischen denen oftmals kein inhaltlicher Zusammenhang besteht. Im Rahmen einer schulischen Unterrichtseinheit kann es in erster Linie nicht darum gehen, die Landschaftselemente mehr oder weniger vollständig zu inventarisieren. Das ist eine Aufgabe für Kulturgeografen, Landschaftspfleger und Landschaftsplaner. Der Unterricht sollte sich hingegen auf diejenigen Landschaftselemente konzentrieren, die klar erkennbar sind und ein vergleichsweise großes aufschließendes Potenzial haben, die somit auf diejenigen Tätigkeiten verweisen, durch die die Menschen sich die Landschaft vorwiegend (‚existentiell‘) zunutze gemacht haben. Dies bedeutet, dass das Entschlüsseln von Kulturlandschaften dort besonders sinnvoll und praktikabel ist, wo es um Landschaften geht, die 15 Nicht umsonst konzentriert sich beispielsweise Rainer Beck in seinen Landschaftsgebieten auf diesen Zeitraum. Vgl. RAINER BECK, Ebersberg oder das Ende der Wildnis. Eine Landschaftsgeschichte, München 2003; DERS., Unterfinning. Ländliche Welt vor Anbruch der Moderne, München 1993. – Vgl. auch DAVID BLACKBOURN, Die Eroberung der Natur. Eine Geschichte der deutschen Landschaft, München 2008.

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noch relativ homogen wirken, in denen also ein oder wenige Elemente klar dominieren. In der Regel dürfte es sich hierbei um die heute dominierenden Wirtschaftszweige handeln, z. B. den Weinbau, Viehzucht, Ackerbau, Forstwirtschaft etc. 6. Die Auswahl der Materialien mit Blick auf strukturgeschichtliche Erkenntnisse treffen: Die wichtigste Methode zur Entschlüsselung einer historischen Kulturlandschaft ist der Vergleich ihres gegenwärtigen Zustandes, wie er von den SchülerInnen wahrgenommen und erlebt wird, mit ihrem früheren Aussehen. Dieser Vergleich kann mittels verschiedener Medien bzw. Quellengattungen vollzogen werden. Er kann sich beziehen o o o o

auf historische Abbildungen (Gemälde, Stiche, Fotos, Postkarten etc.), auf historische Karten, auf Texte, die die Besonderheit einer Landschaft beschreiben (v. a. Reisebeschreibungen), auf die Erinnerungen der Menschen, die in der Landschaft groß und alt geworden sind, die hier arbeiten bzw. gearbeitet haben.

Die Bilder und Vorstellungen von der vergangenen Landschaft, die sich so ermitteln lassen, sind natürlich – mal mehr, mal weniger – von subjektiven Empfindungen und Absichten durchwirkt. Die Landschaft, die gemalt, beschrieben oder kartographiert wurde, ist immer auch die Landschaft, wie sie die Menschen sehen wollten. Trotzdem ist an die Bilder, Texte und Karten die Anforderung zu stellen, nicht nur das frühere Aussehen der Landschaft wiederzugeben, sondern auch über die damalige Nutzung der Landschaft zu informieren. Wie wurden damals der Fluss, die Felder, der Wald genutzt? Und wer konnte und durfte die Landschaft unter welchen sozialen Bedingungen benutzen? Es müssen also die sozialökonomischen Verhältnisse mit berücksichtigt werden. Es ist die Aufgabe der Lehrkraft, entsprechende Materialien zur Verfügung zu stellen bzw. darauf hinzuweisen, wo solche Materialien gefunden werden können. Durch den Vergleich des Quellenmaterials mit den eigenen Vorstellungen und mit dem gegenwärtigen Aussehen der Landschaft werden Veränderungen und Kontinuitäten sichtbar, auf die aufbauend sich Geschichten zu der Landschaft konstruieren lassen. Die überraschendsten Einsichten, die dabei entdeckt werden können, beziehen sich auf die Landschaftselemente, die gewöhnlich als unveränderlich gegeben aufgefasst werden: Wo festgestellt wird, dass der Wald nicht einfach Wald war und ist, sondern für Anwohner und Besitzer bestimmte Funktionen erfüllte, von denen noch heute Spuren zu finden sind (z. B. von ehemaligen Niederwaldflächen); wo bemerkt wird, dass der Weinanbau ehemals mit anderen Rebsorten auf kleineren Parzellen betrieben wurde; wo man darauf stößt, dass vor dem Bau von Eisenbahn und Autostraße die Flüsse für das alltägliche Leben der Menschen eine größere Bedeutung gehabt haben müssen. Um die SchülerInnen zu einem Vergleich zwischen dem früheren und heutigen Landschaftsbild anzuregen, bietet es sich beispielsweise an, ihnen für einen

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Teil der Exkursion historische Abbildungen mit auf den Weg zu geben und sie aufzufordern, den Standpunkt zu bestimmen, von dem aus die jeweilige Abbildung entstand. Mit einer Digitalkamera kann dann der heutige Blick eingefangen werden. In ähnlicher Weise kann auch mit alten schriftlichen Beschreibungen umgegangen werden, etwa so, dass die SchülerInnen einen vorgegebenen Weg abschreiten, hierüber für einen Reiseführer einen Bericht verfassen und diesen Bericht schließlich mit einer Beschreibung des Wegs aus früherer Zeit vergleichen. 7. Erkundung und Erarbeitung in ein gemeinsames Produkt münden lassen: Die Arbeit der Lerngruppe sollte in ein konkretes Gemeinschaftsprojekt münden, sollte sich nicht darin erschöpfen, dass einzelne Gruppen oder SchülerInnen den anderen Gruppen oder Schülerinnen und Schülern ihre Ergebnisse mündlich und schriftlich vortragen. Hierzu kann beispielsweise eine kleine Ausstellung konzipiert, ein Radiofeature verfasst oder eine interaktive Website programmiert werden. Im Prinzip sollen die SchülerInnen damit unter Beweis stellen, dass sie zu ‚narrativer Kompetenz‘ in der Lage sind: Dass sie über die Kompetenz verfügen, eine triftige Erzählung zu der Geschichte der Landschaft zu konstruieren. Mit SchülerInnen Kulturlandschaften zu entschlüsseln bedeutet also, Landschaft als Quelle zu nutzen und deren Gestaltungszusammenhang und -wandel im Spannungsfeld von naturräumlichen Voraussetzungen und menschlichem Handeln herauszuarbeiten. Gleichzeitig wird Landschaft als kulturelles Konstrukt hinterfragt, indem historische Landschaftswahrnehmungen mit den eigenen verglichen werden. Durch die Verbindung von Landschaftsbeispielen mit der Ideen- und Rezeptionsebene bleibt dieser strukturgeschichtliche Zugriff konkret gebunden und verliert sich nicht in für SchülerInnen schwer nachvollziehbaren Abstraktionen. Durch seine Methoden und Medien knüpft der Zugriff an bewährte geschichtsdidaktische Konzeptionen, beispielsweise der Exkursionsdidaktik oder der historischen Kartenarbeit, an, ohne sich aber darauf zu beschränken. Insbesondere durch die interdisziplinären Schnittstellen, z. B. zu Geographie und Biologie, sind inhaltliche, methodische und mediale Erweiterungen unumgänglich und machen den Zugriff für schulische Fächerverbünde attraktiv.

5.

Beispiel: Ein Dorf im nordwestlichen MecklenburgVorpommern

Das Dorf Lassahn liegt unmittelbar am Ostufer des Schaalsees, ca. 80 km östlich von Hamburg. Es ist eingebettet in eine wellige bis flachkuppige Grundund Endmoränenlandschaft mit Höhenzügen zwischen 30 und 100 m, die mit dem Ende der letzten Eiszeit entstand. Das Gebiet gehört naturräumlich zur Mecklenburger Seenplatte. Buchenwälder sowie Feucht- und Nasswälder bilden

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das natürliche Vegetationspotenzial der Landschaft, nehmen aber gegenwärtig nur noch einen verhältnismäßig geringen Teil der Fläche ein. Das Gebiet ist heutzutage weitgehend durch eine großflächige, modern betriebene Landwirtschaft geprägt. Politisch bzw. verwaltungsorganisatorisch hat das Dorf eine wechselvolle Geschichte hinter sich. Bis 1945 war es der östlichste Teil des Herzogtums Lauenburg. Das Bauerndorf unterstand zunächst dem „Adeligen Gericht Stintenburg“, später dem Gemeindebezirk Lassahn. Unmittelbar nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs kam Lassahn infolge eines Gebietstausches unter den alliierten Siegermächten zur SBZ bzw. DDR. Bis 1989/90 verlief die Grenze zwischen DDR und BRD direkt durch den Schaalsee. Die Landwirtschaft war und ist der wichtigste Erwerbszweig. Schon seit der Jungsteinzeit wurde auf den Lichtungen Ackerbau und Viehzucht betrieben. Seit dem 15. Jahrhundert kam es zu einer starken Entwaldung, weil hier Holz für die Lüneburger Salinen geschlagen wurde. Heute wird die Landwirtschaft durch Großbetriebe bestimmt, die oftmals aus den alten Landwirtschaftlichen Produktionsgenossenschaften (LPG) der DDR hervorgegangen sind. In Vor-DDRZeiten dominierte auf dieser Seite des Schaalsees eine Mischung aus Gutswirtschaft und kleinbäuerlicher Wirtschaftsweise. Obwohl auch in der Schaalseelandschaft Intensivierung und Melioration deutliche Spuren hinterlassen haben, bestimmen Elemente einer kleinbäuerlichen Kulturlandschaft wie Feuchtwiesen, Kleingewässer, Hecken und Alleen bis heute das Landschaftsbild. Weil das Gebiet bis 1989 Grenzgebiet war, dabei zum Teil wieder verwaldete, und weil es unmittelbar nach der Wiedervereinigung 1990 unter Naturschutz gestellt und bald als „Biosphärenreservat“ klassifiziert wurde, ist der Landschaftsverlust in den letzten Jahrzehnten verhältnismäßig moderat ausgefallen. Der strenge Naturschutz kollidiert(e) allerdings auch hier nicht selten mit der landwirtschaftlichen, gewerblichen oder auch touristischen Nutzung. Die historische Entwicklung des Straßendorfes Lassahn lässt sich an den Standorten verschiedener Gebäude ablesen. Die Dorfmitte wird von der Kirche (mit Friedhof), der alten Schule, der alten Gastwirtschaft und einigen (ehemaligen) Bauernhäusern (mit Nebengebäuden) gebildet. Entlang der ‚Dorfstraße‘ schließen sich nach Norden und Süden Einfamilienhäuser an, die zum Teil aus Vor-DDR-, zum Teil aus DDR-Zeiten stammen. Sie unterscheiden sich architektonisch deutlich von den neueren Einfamilienfertighäusern, die nach dem Ende der DDR errichtet wurden. Am südlichen Rand des Dorfes stehen drei größere ‚Plattenbauten‘, in denen vor 1989 Grenztruppen untergebracht waren und die heute Mietwohnungen enthalten. Ebenfalls am südlichen Dorfrand sowie östlich der Dorfmitte finden sich Maschinenparks, Ställe und Scheunen eines landwirtschaftlichen Großbetriebes, der aus der ehemaligen LPG hervorgegangen ist. Damit diese Landschaft ‚lesbar‘ werden kann, ist es m. E. notwendig, solche Elemente zu identifizieren, von denen her sie sich besonders gut erschließen lässt, weil sie auf prägende soziale und wirtschaftliche Verhältnisse verweisen.

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Allerdings müssen diese Elemente auch zum Sprechen gebracht werden – von sich aus geben sie relativ wenig über die Vergangenheit preis. Es bedarf dazu fast immer ergänzender Materialien (v. a. Bilder und historischer Karten). An vier Beispielen soll im Folgenden gezeigt werden, was als ‚aufschließendes Element‘ bestimmt und durch ergänzende Materialien zu einem anregenden Lernarrangement gemacht werden kann.

5.1.

Beispiel (aus dem Bereich Landwirtschaft): Die Knicks

Wie vielerorts in Norddeutschland, so ist auch die Landschaft um Lassahn durch Knicks geprägt. Knicks (das Wort ist in Schleswig-Holstein seit 300 – 400 Jahren üblich; andere Bezeichnungen sind Wallhecken oder Över) sind von Bäumen und Buschwerk (meist Haselnusssträucher, Hainbuchen, Eschen, vereinzelt eingestreut auch große Buchen und Eichen) bewachsene, bis zu fünf Meter breite Geländestreifen am Rand von Feldern. Sie sind häufig leicht erhöht, weil von den Äckern abgesammelte Steine dort abgelegt werden. Die meisten Knicks dienten oder dienen der Grenzmarkierung und der Einfriedung von Feldern, Wiesen und Weiden. Daneben fungierten die Knicks aber auch als (Brenn-)Holzlieferant (in Form der Niederwaldwirtschaft) und als Schutz gegen äolische Erosion. Als Schutz gegen Viehverbiss wurden vielfach Dornensträucher wie Heckenrosen, Sanddorn, Ginster, Brombeeren und Schlehdorn gepflanzt. Die wallartigen Baum- und Strauchhecken wurden erst seit dem 18. Jahrhundert im Rahmen der Verkoppelung als ‚lebende Zäune‘ angelegt. Das Wort „Knick“ leitet sich von der Pflegetätigkeit ab, nämlich dem regelmäßigen Zurückschneiden der Büsche und Bäume. Knicks (und ihre kargen Überreste, z. B. Baum-Solitäre inmitten der Felder) verweisen also in der Regel auf die Durchsetzung von privatrechtlichen Nutzungs- und Eigentumsverhältnissen, auf die Aufhebung komplizierter, aufeinander abgestimmter Bewirtschaftungsformen im Zuge der Dreifelderwirtschaft („Flurzwang“) und auf die Aufteilung gemeinschaftlich bewirtschafteter Flächen („Allmende“).16 Mit der Verkoppelung wurden nicht nur die landwirtschaftlichen Nutzflächen zu Einheiten zusammengelegt, die privatwirtschaftlich betrieben werden konnten. Es entstanden zumeist auch neue Wege (oftmals entlang der Knicks) und neue Be- und Entwässerungsanlagen. Wie vielerorts, so zeugt auch um Lassahn herum eine große Zahl von Flurnamen, die auf -koppel enden, von der Verkoppelung. Manche Flurnamen weisen auf Funktionen der ehemaligen Nutzer hin, z. B. die Bauernvogtkoppel, die Schmiedekoppel, der Pastorberg, Küstersoll und Küsterwisch. 16 Vgl. GEORG MOLL, Der Weg der mecklenburgischen Bauern aus feudaler Abhängigkeit, in: WOLFGANG KARGE / PETER-JOACHIM RAKOW / RALF WENDT (Hrsg.), Ein Jahrtausend Mecklenburg und Vorpommern. Biographie einer norddeutschen Landschaft in Einzeldarstellungen, Rostock 1995, S. 222-225.

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Eine Ausnahme bildet eine kleine dorfnahe Fläche namens „Freiheit“. Sie stand schon im Mittelalter außerhalb der Dreifelderwirtschaft und durfte von allen Angehörigen der Dorfschaft genutzt werden.17

Abb. 1: Titelkupfer von 1767.18 An dem Thema „Knicks“ kann mit SchülerInnen der Wandel der Beurteilung von Landschaftselementen erarbeitet werden. Einerseits werden in der heutigen Intensivlandwirtschaft Knicks oft als ‚lästig‘ empfunden, weil sie die effiziente Bewirtschaftung größerer landwirtschaftlicher Flächen beeinträchtigen. Deshalb sind sie aus vielen Gegenden verschwunden bzw. im Verschwinden begriffen. Andererseits werden Knicks heutzutage aus ökologischen Gründen geschätzt und geschützt, z. B. weil sie einen wichtigen Lebensraum für Kleintiere darstellen. Der diesbezügliche Streit zwischen ökonomischen und ökologischen Interessen flammt immer wieder auf.

17 DIETER GREVE, Flurnamenatlas für das südliche Westmecklenburg, Bd. 4: Amt und Stadt Zarrentin, Schwerin 2011, S. 79 f. 18 NICOLAUS OEST, Oeconomisch-practische Anweisung zur Einfriedung der Ländereien, Flensburg 1767.

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Abb. 2: (Gelegter) Knick.

5.2.

Beispiel (aus dem Bereich Siedlungsstruktur): Herrensitze, Gutsdörfer und Bauerndörfer

Spätestens seit dem 18. Jahrhundert wurde der großflächige adelige Gutsbetrieb die mehr oder weniger bestimmende Wirtschaftsform und prägte die Landschaft. Zahl und Größe der Bauerndörfer gingen erheblich zurück, weil für die marktorientierten Güter oftmals Gelegenheiten genutzt und gesucht wurden, Flächen von den Bauern einzuziehen, v. a. für die Ausweitung des Getreideanbaus. Der Vorgang ist unter dem Stichwort „Bauernlegen“ bekannt. Er wurde später durch die Art und Weise der so genannten „Bauernbefreiung“ oftmals noch verstärkt. Umgekehrt entstanden und vergrößerten sich in der Nähe der Güter die Gutsdörfer. Diese Dörfer bestanden aus dem Herrenhaus als sozialen Mittelpunkt – oft von einem Park umgeben –, den verschiedenen Wirtschaftsgebäuden und den Wohnhäusern der Landarbeiter, zu denen auch immer kleinere Nutzgärten gehörten. Eingebettet in die großräumige mecklenburgische Naturlandschaft sind diese Ensembles bis heute ein prägendes Siedlungselement des Landes. Sie verweisen in ihrer gesamten Anlage auf ein ehemaliges Sozialund Herrschaftsgefüge zwischen dem Gutsherrn und ‚seinen Leuten‘, bei dem letztere ersteren allein und ausschließlich gemäß dessen Vorgaben zu Diensten zu sein hatten und auch seiner Patrimonialgerichtsbarkeit unterstanden.

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Abb. 3: Gutshaus zu Stintenburg in Lassahn.19

Abb. 4: Landarbeiterhäuser in Bernstorf bei Lassahn.

5.3.

Beispiel (aus dem Bereich Infrastruktur): Alleen

Die Abbildung 5 zeigt eine mit Feldsteinen gepflasterte, stark gewölbte Lindenallee westlich des Dorfes, die zum See und zu dem Gutshaus führt. Laut einem Gedenkstein entstand sie 1880 auf Veranlassung von Andreas Graf Bernstorff, „Erbherrn auf Stintenburg und Landrath des hiesigen Kreises“. 19 HUBERTUS NEUSCHÄFFER, Schlösser und Herrenhäuser im Herzogtum Lauenburg, Würzburg 1987, S. 149.

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Mecklenburg-Vorpommern ist nach Brandenburg das alleenreichste Bundesland.20 Birken, Eichen, Linden, Rosskastanien, Buchen und Ahorn, aber auch Obstbäume säumen viele Straßen in dem ansonsten relativ waldarmen Land. Die oft recht alten Alleebäume erzeugen den Eindruck, in dieser Region sei es schon sehr lange üblich, Straßen so zu gestalten. Dabei wurden Alleen ursprünglich nur in Parkanlagen angelegt. Erst seit ca. 1750 entstanden sie nach und nach auch außerhalb von Schloss- und Gutsgärten zum Schutz, zur Orientierung und zur Befestigung von Wegen. Zumeist geschah dies auf Wunsch und Anweisung der Fürsten, die zuweilen die Bauern und Kätner zur Anpflanzung von Alleebäumen verpflichteten. Wie wenige Alleen es noch gegen Ende des 18. Jahrhunderts um Lassahn herum gab, kann älteren Kartenwerken entnommen werden, z. B. der „Topographisch Oeconomisch und Militärische[n] Charte des Herzogthums Mecklenburg und des Fürstenthums Ratzeburg, 1788“. Auch anhand der Karten der „Königlich-Preussischen Landes-Aufnahme“ aus den Jahren 1835/36 kann nachgewiesen werden, dass ein großer Teil der Straßen unbepflanzt war, lokal aber durchaus lange Alleen vorhanden waren. Karten für Teile des südwestlichen Mecklenburg – das zurzeit das alleenreichste Gebiet in Mecklenburg-Vorpommern ist – zeigen bis in die 1850er Jahre vergleichsweise wenige Alleen.

Abb. 5: Weg zur Stintenburg. 20 Vgl. HANS-DIETER KNAPP, Bäume, Wälder und Alleen in Mecklenburg-Vorpommern, Rostock 2004.

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Alleen wurden in großem Ausmaß seit der Mitte des 19. Jahrhunderts angelegt. Die 1840 verfasste „Circular-Verordnung an sämtliche Wege-BesichtigungsBehörden in Mecklenburg“ legte fest, dass Bäume in der Entfernung von einer Ruthe rheinländisch (= 3,76 Meter) gepflanzt werden sollten. Hecken seien zur „Befriedung gefahrdrohender Stellen an Kunststraßen überall nicht anzuordnen“. In den Jahren 1866 bis 1880 erschienen für Mecklenburg insgesamt fünf Anweisungen zur Behandlung der Bäume an Staats-Chausseen und von Pappelanpflanzungen sowie zur Festlegung der Abstände zwischen den Bäumen. Auch der hohe mittlere Stammdurchmesser von 56 cm des gegenwärtigen AlleenGesamtbestandes zeigt, dass der überwiegende Teil der Alleen Mitte bis Ende des 19. Jahrhunderts gepflanzt wurde. Um 1900 kam es dann in MecklenburgVorpommern erstmals zu Aktivitäten zum Schutz der Alleen.21 Heutzutage gibt es auch vielerorts Obstalleen, die zumeist erst nach dem Zweiten Weltkrieg angelegt wurden und der zusätzlichen Versorgung der Bevölkerung dienten. Worauf verweisen, wovon zeugen also die Alleen? Sie verweisen zunächst auf eine Zeit ohne Autos – sind sie doch oft sehr schmal, so dass PKWs oder gar LKWs kaum aneinander vorbeikommen. Außerdem stellen sie eine permanente Gefahr für unaufmerksame Fahrer dar, die von der Straße abkommen. Es verwundert wenig, dass in der Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg in der verkehrsreichen Bundesrepublik erheblich weniger Alleen überlebten als in der relativ verkehrsarmen DDR. Von ihrer Provenienz her verweisen Alleen allerdings hauptsächlich auf das staatliche Interesse an einem Ausbau der Infrastruktur, und zwar zu einer Zeit, als Asphalt noch unbekannt war. Dieses Interesse kollidierte nicht selten mit dem Interesse der Einwohner an Bau- und Brennholz, weshalb die Alleebäume unter besonderen Schutz gestellt wurden.

5.4.

Beispiel (aus dem Bereich Landwirtschaft): Molkerei

Das 1906 fertig gestellte Gebäude der Molkereigenossenschaft ist das einzige Gebäude im Dorf, das Inschriften aufweist. Der ursprüngliche Schriftzug „Molkerei Genossenschaft Lassahn, gegründet 1896“ ist kaum noch zu erkennen. Er wurde irgendwann übermalt mit einem Schriftzug, der mit „Freie...“ beginnt, dann aber auch nicht mehr lesbar ist. Die zwei Mottos links und rechts des Hauptschriftzuges „Alles zerfällt, was Gott nicht erhält“ und „Eintracht hat große Macht“ scheinen in einem gewissen Spannungsverhältnis zueinander zu stehen, appellieren sie doch sowohl an das Gottvertrauen als auch an die Solidarität der Menschen. Die Genossenschaftler, die vermutlich auf dem Foto zum

21 Vgl. JÜRGEN PETERS, Allee und Pflasterstein als kulturelles Erbe, in: UVP-report 18, 2004, S. 105-109.

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Gerhard Henke-Bockschatz

25-jährigen Jubiläum zusammen mit dem Personal abgebildet sind, sahen dies aber offenbar nicht so, für sie waren die beiden Aussagen gleichermaßen gültig.

Abb. 6: 25 Jahre Molkereigenossenschaft (1931).22 Das Gebäude der Molkerei verweist auf eine wirtschaftliche und soziale Entwicklung, die für ein Bauerndorf wie Lassahn von erheblicher Bedeutung gewesen sein muss. Sie kann von SchülerInnen ohne viel Mühe erschlossen werden. Das Gebäude belegt zunächst, dass um 1900 die Erzeugung und die Weiterverarbeitung von Milch einen wichtigen Zweig des bäuerlichen Wirtschaftens bildeten. Gegenwärtig gibt es im Dorf nur noch einen einzigen milcherzeugenden (Groß-)Betrieb, der seine Milch aber längst andernorts verarbeiten lässt. Gleichzeitig zeugt die Molkerei von dem Willen, die eigene Milchproduktion auszuweiten und entferntere Märkte zu beliefern. Eine wichtige, nicht in den Händen der Bauern liegende Voraussetzung musste allerdings gegeben sein, um das Molkereiprojekt überhaupt zu ermöglichen: Es musste auch die verkehrstechnische Möglichkeit geben, die Produkte relativ schnell auf städtische Märkte zu bringen. In dieser Hinsicht spielt die Fertigstellung der Eisenbahnlinie von Hagenow über Zarrentin nach Ratzeburg im Jahr 1897 eine wichtige Rolle.23 Sie führte auch in vielen Nachbarorten zur Gründung von Molkereien. Und schließlich bringt das alte Molkereigebäude zum Ausdruck, dass den Bauern des Dorfes die 22 BEATE FRANK / GEERTE FRANTZKE (Hrsg.), Zarrentin in alten Ansichten und kurzen Texten, Zarrentin 2001, S. 242. 23 Vgl. DETLEV WERNER VON BÜLOW, Exkurs: Geschichte der Landwirtschaft, in: ECKARDT OPITZ (Hrsg.), Herzogtum Lauenburg. Das Land und seine Geschichte. Ein Handbuch, Neumünster 2003, S. 504-539, hier S. 524.

Kulturlandschaften

141

Idee einleuchtete, mittels des genossenschaftlichen Zusammenschlusses zu erreichen, was ihnen als privat wirtschaftenden Einzelfamilien nicht möglich war.

6.

Schluss

Der Beitrag hat begründet und gezeigt, dass das Entschlüsseln von Kulturlandschaften als ein forschend-entdeckender Lernprozess organisiert werden sollte. Der Blick der SchülerInnen auf die Kulturlandschaft sollte eingebettet sein in ein Lernarrangement, bei dem sehr viel davon abhängt, dass die Lehrperson in der Lage ist, aufschließende Elemente und Konstellationen zu identifizieren und sie in Beziehung zu geeigneten Quellen zu setzen, die ihren Grund, ihre ehemalige Bedeutung und ihre Entwicklung erkennen lassen. Dazu sollte in der GeschichtslehrerInnenausbildung, die sich traditionell vorwiegend an schriftlichen Quellen und Darstellungen orientiert, die Fähigkeit zur Entwicklung solcher Arrangements stärker berücksichtigt werden. SchülerInnen werden auf diese Art und Weise dazu angeregt, ein triftiges kulturlandschaftliches Narrativ zu erzeugen, an das sich in den meisten Fällen unmittelbar eine Reflexion und Beurteilung der gegenwärtig wirksamen Faktoren der kulturlandschaftlichen Entwicklung anschließen lässt. Es ergeben sich dann beispielsweise Fragen danach, seit wann und warum der Anbau von Cash-Crops wie Mais und Raps ganze Landschaftsstriche prägt, wie es kommt, dass der Haus- und Siedlungsbau immer mehr von seinen regionsspezifischen Bezügen verliert und welche Konflikte zwischen der landwirtschaftlich-touristischen Nutzung eines Gebietes und den eher konservatorischen Vorschriften des Natur- und Denkmalschutzes entstehen können.

 

HEIKE DÜSELDER

Vom Staunen zum Verstehen – Umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum 1.

Einleitung: Von „Stäubchen“ und der scheinbaren Größe der Dinge

Mikromegas ist ein Gelehrter. Er lebt auf der Sternenwelt Sirius, ist acht Meilen hoch und entspricht damit der normalen Durchschnittsgröße der Sirianer, die über viertausend Jahre alt werden können. Weil er auf seinem Stern in Ungnade gefallen ist, reist er zusammen mit einem Gefährten vom Planeten Saturn durch das Universum. Gemeinsam landen sie am 5. Juli 1737 am nördlichen Ufer der Ostsee, um sich den blauen Planeten einmal näher anzusehen. Hier erstaunt sie vieles. Natürlich wollen sie herausfinden, ob der Planet bewohnt sei. „Sie bückten sich, legten sich nieder und tasteten überall herum, aber ihre Augen und Hände standen in keinem Verhältnis zu den kleinen Wesen, die da herum krochen.“ „Ach“, riefen sie zuletzt, „diese Weltkugel ist so schlecht gebaut, alles ist so unregelmäßig und lächerlich geformt. […] Wie platt ist sie, wie linkisch dreht sie sich um die Sonne, so daß die Polargegenden unbedingt unfruchtbar bleiben müssen.“ In der Aufregung über das Chaos auf der Erde zerreißt Mikromegas seine Halskette, Hunderte von Diamanten fallen zu Boden, und dann geschieht etwas Besonderes: Sein Reisegefährte hebt eines der Steinchen auf, hält es vor Augen und bemerkt, dass es durch den Schliff ein Vergrößerungsglas darstellt. Er sieht ein Schiff auf der Ostsee mit einer Gruppe von Naturforschern, die gerade von einer Polarreise zurückkommen. Der Riese nimmt das Schiff vorsichtig auf seine Hand und beobachtet die winzigen Wesen, die aufgeregt hin und her laufen, das Schiff verlassen und ihm durch ihre eilenden Bewegungen auf seinem Finger ein Kribbeln hervorrufen. Mikromegas und sein Gefährte beobachten die kleinen „Stäubchen“, basteln sich aus einem Fingernagel ein kleines Hörrohr und entdecken dann, dass die „Milben“ französisch sprechen und das „ganz vernünftig“. Man kommt ins Gespräch, und einem der Naturforscher gelingt es tatsächlich, in kürzester Zeit mit einem Quadranten und einem Diopter (einer Art Visier), die Größe der beiden Fremden zu berechnen. „Was, dieses Stäubchen hat mich gemessen?“ ruft der eine aus, und der andere, Mikromegas, kommt zu der Erkenntnis: „Ich sehe mehr denn je ein, daß man niemals etwas nach seiner scheinbaren Größe beurteilen darf.“1

1

VOLTAIRE, Mikromegas. Eine philosophische Erzählung, in: JORGE LUIS BORGES (Hrsg.), Die Bibliothek von Babel. Eine Sammlung phantastischer Literatur, Bd. 28: Voltaire, Mikromegas, Frankfurt a. M. 2008, S. 41-72.

Heike Düselder

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Das Gespräch zwischen Mikromegas und seinem Gefährten nimmt einen höchst amüsanten Verlauf, den es hier nicht weiter zu verfolgen gilt. Mit der 1752 erschienenen Erzählung „Mikromegas“ widmete sich Voltaire in ebenso geistreicher wie ironischer Weise dem Verhalten der Menschen und ihren Ansichten. In aufklärerischem Sinne forderte er zum genauen Hinsehen auf, zum differenzierten Beobachten der Vielschichtigkeit und zu den scheinbaren, ersten Eindruck der Dinge hinterfragenden Urteilen. Einem ganz ähnlichen didaktischen Motiv ist das Museum verpflichtet. Es hat die Aufgabe, seine Objekte mit einer Geschichte zu verbinden, mit ihrer Auswahl und Deutung Aussagen zu treffen, die für eine bestimmte Fragestellung relevant sind und sie in ein bestimmtes Licht zu rücken. Allzu häufig geschieht es, dass die Objekte, wenn sie erst einmal in einer bestimmten Weise und in einem bestimmten Kontext im Museum ihren Platz gefunden haben, erstarren und die Dynamik, die ihnen als quasi funktions- oder bewegungslos gewordenen Museumsobjekten häufig verwehrt bleibt, verlieren. Mit der Aufforderung, „niemals etwas nach seiner scheinbaren Größe“ zu beurteilen, richtet sich der Blick im Folgenden auf ein Objekt im Niedersächsischen Freilichtmuseum Museumsdorf Cloppenburg, das Besucher fasziniert und große Aufmerksamkeit erfährt und doch in seiner ganzen Bedeutungsvielfalt nur selten erfasst wird. Es handelt sich um eine sogenannte Lokomobile aus dem 19. Jahrhundert. Sie beeindruckt wegen ihrer Größe, ihres mutmaßlichen Gewichts und der Kraft, die man ihr unterstellt. Zu ihr bzw. zum Kontext ihres Einsatzes gehört ein gewaltiger Tiefpflug, den Besucher an anderer Stelle im Freilichtmuseum mit der gleichen Wirkung, der gleichen Wahrnehmung, sehen und erleben. Ohne Zweifel wird diesen beiden Objekten schon aufgrund ihres Erscheinens ein bestimmtes Maß an Bedeutung zugeschrieben, vergleichbar, wenn auch in umgekehrter Weise, mit der Wahrnehmung der winzigen Menschen, „Stäubchen“, aus der Perspektive des Mikromegas. Die Größe eines Objekts – „Stäubchen“ oder Lokomobile – erschließt für sich noch nicht ihre Bedeutung, erst die Vielzahl von Kontexten, die mit ihm in Verbindung gebracht werden können, erst ihre Mikrogeschichten bringen die Objekte in der Vielfalt ihrer Deutungsebenen zum Ausdruck.

2.

Mikrogeschichte der Dinge

Die Mikrogeschichte ist eine mittlerweile etablierte Forschungsrichtung in der Geschichtswissenschaft, die mit einer Vielfalt von Ansätzen und Fragestellungen aufwartet.2 Ihr geht es nicht (nur) um die kleinen Dinge oder die kleinen 2

Zur Mikrogeschichte siehe u. a: CARLO GINZBURG, Mikrohistorie, Zwei oder drei Dinge, die ich von ihr weiß, in: Historische Anthropologie 1 (1993), S. 169-192; CLIFFORD GEERTZ, Dichte Beschreibung: Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme, Frankfurt a. M. 1997; JÜRGEN SCHLUMBOHM (Hrsg.), Mikrogeschichte – Makrogeschichte: komple-

Umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum

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Leute, sondern um die mikroskopische Untersuchung von Phänomen der Vergangenheit, die intensive Beschreibung und Deutung von Lebenswelten oder Umwelten. Dabei wird betont, dass es die Mikrogeschichte nicht gibt, sondern verschiedene Mikrostudien-Konzepte, deren Gemeinsamkeit darin besteht, den Anspruch einer ganzheitlichen Betrachtung erfüllen zu wollen. Auch in der Umweltgeschichte haben Mikrostudien ihren Platz gefunden. Sie untersuchen die langfristigen Entwicklungen als Wechselwirkung zwischen einer bestimmten Gesellschaft, ihrer Landnutzung, agrarischen Produktion sowie der räumlichen Struktur und demographischen Entwicklung. Produktionsweise, Bevölkerungsweise und der Umgang mit landschaftlichen Ressourcen werden in ihren wechselseitigen Einflüssen in den Blick genommen und zusammen analysiert. Zu den Quellen der umweltgeschichtlichen Untersuchung zählen nicht nur die schriftlichen Überlieferungen, sondern auch die noch sichtbaren oder auch verdeckten Spuren in der Landschaft, die auf der Basis des der Umweltgeschichte impliziten interdisziplinären Ansatzes betrachtet werden. Zu den Quellen gehören die Materialien und Werkzeuge, die zur Nutzbarmachung der natürlichen Ressourcen und Gestaltung der Umwelt kurz- oder langfristig verwendet wurden. Sie sind Objekte und Spurenträger, die von der Entwicklung und Herstellung über ihre Funktion und ihren Einsatz bis hin zur Geschichte ihrer Überlieferung und dem Platz, den sie im Museum finden, Auskunft geben können und zu einer ganzheitlichen Betrachtung führen. Mit ihnen verbindet sich somit eine Reihe von Mikrogeschichten, die ihre Bedeutung je nach Fragestellung in unterschiedlichen Zusammenhängen hervorheben. Für eine umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum als einem Museumstyp, der sich in besonderem Maße für die Darstellung der wechselseitigen Beziehungen zwischen Mensch und Natur bzw. Natur und Kultur eignet, ist es notwendig, die Dinge aus ihrem traditionellen Kontext herauszulösen und mit neuen, tiefer gehenden Fragen zu konfrontieren. Die Lokomobile steht dann nicht mehr nur für einen großen Schritt auf dem Weg zur Technisierung und Mechanisierung der Landwirtschaft und für die „Rettung“ einer von Rückständigkeit und dem ständigem Kampf um die Effizienzsteigerung einer allein durch die geologischen Gegebenheiten rückständigen Agrarlandschaft. Sie kann dazu beitragen, die Ursachen, die ihren Einsatz nötig machten und zu ihrem Erfolg beitrugen, zu erklären. Sie kann einen Brückenschlag zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bilden und gewinnt damit wie fast alle musealen Objekte eine zusätzliche Relevanz, die allein ihre Betrachtung nicht schafft. Die Objekte im Museum stellen nicht nur „dreidimensionale Entitäten“ dar, sondern sie bezeichnen ein „Konglomerat von Entwicklungen und Konjunkturen“, in denen das Objekt als Strukturelement zwischen technischem Fortschritt

mentär oder inkommensurabel?, Göttingen 1998; OTTO ULBRICHT, Mikrogeschichte. Menschen und Konflikte in der Frühen Neuzeit, Frankfurt a. M. 2009.

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Heike Düselder

und kulturellen Systemen verstanden werden kann.3 Die Museumsdinge, so formuliert es Gottfried Korff, seien „Evidenzlieferanten und Reflexionsagenten“.4 In den letzten Jahren ist eine Reihe von museologischen Schriften erschienen, die sich der Sprache der Dinge bzw. der „subjektiven Bedeutung von Dingen der materiellen Kultur“ widmen.5 Damit geht es nicht nur um das Festhalten von Informationen zu bestimmten Objekten, sondern auch um die Dokumentation abstrakter Phänomene mit konkreten Dingen. Die Bedeutung der Dinge ist dabei häufig nicht direkt zu erkennen, sie ist in die Funktion gerutscht und muss sich dem Betrachter erst erschließen. So wie aus den „Stäubchen“ Menschen werden, die zudem noch über die Fähigkeit zu komplexem Denken verfügen, eröffnet der mikrohistorische Blick auf die Objekte den Zugang zu ihrer Bedeutungsvielfalt und Relevanz in diachronen Zusammenhängen.

3.

Das Museumsobjekt als Brücke zwischen Vergangenheit und Gegenwart

Der Tiefpflug der Firma Ottomeyer aus dem Jahr 1959 ist mit seinem exponierten Standort vor dem Eingang des Museumsdorfs Cloppenburg so etwas wie die kleine „Mona Lisa“ des Museums. Jede/r BesucherIn, der mit dem Auto oder mit dem Bus kommt, läuft auf sie zu, wenn er ins Museumsdorf will, und kaum jemand läuft einfach daran vorbei. Die meisten BesucherInnen bleiben vor dem Tiefpflug stehen. Überwiegend männliche Besucher erklären das Objekt mit weit ausholenden Armbewegungen ihren zumeist weiblichen Begleiterinnen oder aber fachsimpeln mit den männlichen Begleitern. Das Objekt gehört zu den beliebtesten Motiven für Erinnerungsfotos ans Museumsdorf. Paare, Familien, Gruppen versammeln sich davor, rücken sich in Szene bzw. ins Bild. Was die BesucherInnengruppen im Museum mit dem Tiefpflug verbinden, ist die Faszination durch Technik, das, was Sigfried Giedion 1948 in seiner Schrift „Mechanization Takes Command“ (in der deutschen Übersetzung 1982 „Die Herrschaft der Mechanisierung“, aus meiner Sicht eine frühe umweltgeschichtliche Untersuchung) auch als „die Illusion des Fortschritts“ themati-

3 4

5

ANKE TE HEESEN / PETRA LUTZ (Hrsg.), Dingwelten. Das Museum als Erkenntnisort, Köln 2005, Einleitung, S. 16. GOTTFRIED KORFF, Dimensionen der Dingbetrachtung. Versuch einer museumskundlichen Sichtung, in: ANDREAS HARTMANN u. a. (Hrsg.), Die Macht der Dinge. Symbolische Kommunikation und kulturelles Handeln. Festschrift für Ruth-E. Mohrmann, Münster u. a. 2011, S. 11-26., hier S. 11. So z. B. UDO GÖßWALD, Die Erbschaft der Dinge. Eine Studie zur subjektiven Bedeutung von Dingen der materiellen Kultur, Graz 2011; THOMAS THIEMEYER, Die Sprache der Dinge, in: http://www.museenfuergeschichte.de/downloads/news/Thomas_Thiemeyer-Die_Sprache_der_Dinge.pdf [01.10.2013].

Umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum

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siert hat.6 Die Illusion des Fortschritts verstellt in diesem Fall den Blick auf die im wahrsten Sinne des Wortes tief greifenden Folgen des Einsatzes von Dampfpflügen auf die Strukturen der Landschaft. Sie verstellt den Blick auf die Wahrnehmung derjenigen Landnutzer, für die diese Maschinen keine oder eine negative Bedeutung hatten. Sie verstellt den Blick auf den tatsächlichen Nutzen und die Effizienz. Damit ist auch der Erinnerungswert des Objekts angesprochen. Es gibt Objekte des kollektiven Gedächtnisses, gehört dieses dazu und wenn ja, hat es für eine bestimmte Bevölkerungsgruppe eine Relevanz oder Symbolträchtigkeit?

Abb.: Tiefpflug vor dem Eingang des Niedersächsischen Freilichtmuseums Museumsdorf Cloppenburg. Für heutige BesucherInnen steht die Mächtigkeit des Objekts im Vordergrund, der Zauber einer Maschine, die den Menschen in die Lage versetzt hat, die Natur zu beherrschen und ihr das abzuverlangen, was für die Existenzbedingungen der Bevölkerung erforderlich, aber auf natürliche Weise nicht zu gewinnen war. Mit dem Tiefpflug konnte Ödland, konnten riesige Flächen von Heide und Moor kultiviert und nutzbar gemacht werden, und diese Formen von Ödland6

SIGFRIED GIEDION, Die Herrschaft der Mechanisierung: Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Mit einem Nachwort von Stanislaus von Moos, Frankfurt a. M. 1987, S. 770.

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kultivierungen fanden in Nordwestdeutschland im 19. und 20. Jahrhundert in großem Umfang statt. Der Einsatz der Tiefpflüge bedeutete das Ende einer Jahrhunderte währenden Rückständigkeit einer Region, die aufgrund mangelhafter Böden trotz eines immensen Aufwands und Arbeitseinsatzes nur relativ geringe landwirtschaftliche Erträge erwirtschaften konnte. Die historische Entwicklung prägte die Mentalität vieler Menschen in dieser Region. Der Maßstab für den Fortschritt wird hier von der Prosperität und von dem Entwicklungspotenzial einer Region auf der Basis moderner Technik her gesehen. Das Oldenburger Münsterland, in dem das Museumsdorf liegt, gilt heute als ein agrarisches Intensivgebiet. Hier finden wir die bundesweit höchste Dichte an Massentierhaltungsbetrieben und dem daraus folgenden Anbauwandel auf dem Ackerland – die „Vermaisung“ der Landschaft – und einem in den letzten Jahren stetig zunehmenden Ausbau von Biogasanlagen infolge des im Jahr 2000 verabschiedeten Gesetzes für Erneuerbare Energien. Dieses Gesetz brachte vor allem den Regionen mit intensiver Tierhaltung den „Güllebonus“ und führte zu einer besonders großen Ausweitung der Biogaskapazitäten.7 Es ist eine Region, die sich trotz des eigentlichen minderen Ertragspotenzials der dort vorhandenen Böden zu einer Boomregion entwickelt hat und inzwischen weit entfernt ist von dem Bild, das Reisende am Ende des 18. Jahrhunderts von ihr zeichneten. Als der Thüringer Pfarrer Hoche um 1800 auf seiner Reise von Osnabrück nach Ostfriesland durch die Ämter Vechta und Cloppenburg kam, schrieb er mit Entsetzen nieder: „[…] Der ganze Strich Landes von Quakenbrück aus über Vechta, Kloppenburg, Frisoyta bis an die Soeste […] gehört nicht nur zu den schlechtesten in Westphalen, sondern in ganz Deutschland. Man glaubt in den Steppen von Sibirien zu seyn, wenn man die Haiden durchwatet […]. Alles ist öde und still, nicht ein Vogel singt sein Morgenlied und ergötzt das Ohr des Wanderers. Nicht ein Baum, nicht ein Busch bietet ihm Schatten dar, nicht ein Thal nimmt ihn auf, in welchem er lieblich träumte, was jenseits sey, […]. Halb verdorrte Birken oder Kiefern, die dem Auge in der Ferne eine Leichenfarbe zeigen, Vertiefungen von Torfmoor greifen widrig in seine Empfindungen ein. […] Bald wandelt man auf schwankendem Boden, bald hat man Mühe, den Fuß aus dem Sande zu erheben, dann gehet man durch ein halb verhungertes Getraide […]. Die Schöpfung scheint hier noch unvollendet zu seyn.“8

Aus dieser Zeit, am Ende des 18. Jahrhunderts, sind ganz ähnliche Reiseberichte aus der Lüneburger Heide überliefert. Auch die Landschaft zwischen Hannover

7 8

WERNER KLOHN, Bodennutzungswandel und Maisanbau im Oldenburger Münsterland, in: Jahrbuch für das Oldenburger Münsterland (2012), S. 217-232. JOHANN GOTTFRIED HOCHE, Reise durch Osnabrück und Niedermünster in das Saterland, Ostfriesland und Gröningen, Bremen 1800 (ND Leer 1977), S. 96 f.

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und Celle zeigte sich „als eine der ödesten, unfruchtbarsten und unangenehmsten Erdfleke, die man in Deutschland sehen kann“.9 In den Moor- und Geestgebieten Nordwestdeutschlands brachten die Technisierung und Mechanisierung in der Landwirtschaft im 19. Jahrhundert zusammen mit der Einführung des Kunstdüngers einen Modernisierungsschub mit sich, der seitdem anhält und sich bis in die Gegenwart fortsetzt und im Bewusstsein vieler Menschen und politisch Verantwortlicher eine feste Größe ist. Fortschritt, Modernität und Wohlstand haben hier einen besonderen Stellenwert, und am Anfang dieser Entwicklung steht, zwar nicht nur, aber doch sehr prägend, die Kultivierung von Ödlandflächen, u. a. durch die Dampfpflüge. Es fällt daher auch den meisten BesucherInnen schwer, bei der Betrachtung des Tiefpflugs eine umwelthistorische, gar problematisierende Sichtweise einzunehmen. Die älteren BesucherInnen mögen den Tiefpflug in den sechziger Jahren bei der Moorkultivierung noch gesehen haben, mögen sich erinnern können an das weithin spürbare Vibrieren des Bodens, das dieser gewaltige Maschineneinsatz mit sich brachte. Die historischen Prozesse und Entwicklungslinien, die diese Technik aus der damaligen zeitgenössischen Perspektive erforderlich machten, und die landschaftlichen Veränderungen, die der Technikeinsatz mit sich brachte, verblassen angesichts seines Erinnerungswertes als „Retter der Landwirtschaft“ und Hoffnungsträger für Existenz und Wohlstand der Menschen. Umwelthistorische Betrachtungen haben hier allenfalls am Rande Platz, und doch bieten gerade sie einen wichtigen Anknüpfungspunkt für die Auseinandersetzung mit dem Objekt. In den letzten Jahren werden die Stimmen häufiger, die die Veränderungen der Landschaft bewusster wahrnehmen und die Folgen des gegenwärtigen Bodennutzungswandels kritisch reflektieren, die Verringerung von Biodiversität und die Veränderungen des Landschaftsbildes beklagen und nach Alternativen verlangen, und hier kommt eine wichtige Aufgabe der Museen zum Tragen, die sich – so Adriaan de Jong – als „Dirigent der Erinnerung“ erweisen können.10 In dem geschilderten Zusammenhang – von der subjektiven Wahrnehmung eines Objekts durch die Besucher, der Faszination von Größe und Technik und der wirtschaftshistorischen Bedeutung einer technischen Entwicklung als ein Impetus für den Strukturwandel einer Region und Kulturlandschaft – weist der Tiefpflug mit der Lokomobile gleich mehrere Bedeutungsebenen auf. Dabei sind Einsatz und Funktion noch gar nicht zur Sprache gekommen. Darauf rich9

Joachim Heinrich Campe, zit. nach UWE MEINERS / WERNER RÖSENER (Hrsg.), Allmenden und Marken vom Mittelalter bis zur Neuzeit. Beiträge des Kolloquiums vom 18. bis 20. September 2002 im Museumsdorf Cloppenburg, Cloppenburg 2004, S. 97. Siehe dazu auch KORINNA RAFFIUS, Die Lüneburger Heide – Im Wandel der Zeit, in: BERND HERRMANN / URTE STOBBE (Hrsg.), Schauplätze und Themen der Umweltgeschichte, Göttingen 2009, S. 167-176. 10 ADRIAN DE JONG, Die Dirigenten der Erinnerung. Musealisierung und Nationalisierung der Volkskultur in den Niederlanden, Münster u. a. 2007.

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tet sich im Folgenden der Fokus, der die Entwicklung und Wahrnehmung der Technologie des Objekts in den Blick nimmt.

4.

Einsatz und Funktion des Dampfpfluges

Bislang ist die Geschichte des Dampfpfluges überwiegend aus technik- und agrarhistorischer Perspektive geschrieben worden. Als der Agrarhistoriker Andreas Kuntz 1979 eine Monographie über den Dampfpflug vorlegte, sah er sich in der Einleitung noch veranlasst, die Relevanz seines Gegenstandes zu legitimieren. „Der Dampfpflug als Gegenstand eines Buches, gar einer wissenschaftlichen Untersuchung – das stieß zunächst nicht nur im Kollegen- und Freundeskreis auf ungläubiges Naserümpfen.“ Seine Erkenntnis war (und dabei folgt er dem Voltaire’schen Mikromegas): „Die Relevanz erweist sich eben immer erst nach mehrmaligem Hinsehen.“11 Die Anfänge der Dampfkraft liegen im 17. Jahrhundert.12 Der französische Physiker, Mathematiker und Erfinder Denis Papin gilt als Pionier der Experimente mit Dampfkraft, zunächst im Zusammenhang mit einem Schnellkochtopf, der mit Dampfdruck arbeitete. Er lehrte an der Universität Marburg als Professor für Mathematik und entwickelte hier seine Dampfmaschine. Fälschlicherweise wird häufig James Watt als Erfinder der Dampfmaschine genannt, tatsächlich griff Watt auf Vorläufer zurück, so auch auf die Experimente des Magdeburger Bürgermeisters Otto von Guericke, der eher als Diplomat im Dreißigjährigen Krieg bekannt ist. Er war der Begründer der Vakuumtechnik und ist besonders durch seine öffentlichen Experimente bekannt geworden. James Watt war der erste, der 1780 ein Patent für die Nutzung der Dampfmaschine beim Ackerpflügen anmeldete.13 Das Staunen über die Wirkung und Kraft des Luftdrucks war noch hundert Jahre später spürbar: „Was aber konnte wunderbarer sein“, schrieb Ernst Mach 1883 in seiner Arbeit über die Mechanik, „als die plötzliche Erkenntnis, daß ein Ding, welches wir nicht sehen, kaum fühlen und fast gar nicht beachten, das uns immer und überall umgibt, alles durchdringt, daß es die wichtigste Bedingung des Lebens, Brennens und gewaltiger mechanischer Vorgänge ist“.14 Zum Einsatz kam die Dampfmaschine als Lokomobile 1811 in England, zunächst als Antriebskraft für eine Dreschmaschine. Man verzichtete erstmals auf Tiere als Zugkräfte, eine Überlegung, die zwar schon in früheren Zeiten ange11 ANDREAS KUNTZ, Der Dampfpflug, Bilder und Geschichte der Mechanisierung und Industrialisierung von Ackerbau und Landleben im 19. Jahrhundert, Marburg 1979. 12 Zum Folgenden HERMANN KAISER, Dampfmaschinen gegen Moor und Heide, Cloppenburg 2002, S. 22 f. 13 Ebd., S. 22. 14 Ernst Mach, in: CONRAD MATSCHOß, Männer der Technik. Ein biographisches Handbuch, 1925 (ND Düsseldorf 1985), S. 288.

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stellt, jedoch nicht umgesetzt worden war. Und – man verzichtete auf menschliche Muskelkraft. Mitte des 19. Jahrhunderts wurde erstmals ein mittels Dampfkraft angetriebener Pflug eingesetzt, dessen Erfinder abermals ein Engländer war: Georg Heathcote demonstrierte den Einsatz im Ödland, nämlich auf Moorflächen. Während ihm kein dauerhafter Erfolg beschieden war, kam der Durchbruch in den 1860er Jahren durch die Technologie von John Fowler, der zwei statt einer Lokomobile einsetzte. Ein arbeitsfähiger Dampfpflug-Satz bestand aus zwei selbst fahrenden Lokomobilen, die mit einer horizontalen Seilwinde verbunden waren. Dazu gehörte ein so genannter Kipppflug, der mit der Seilwinde über den Acker gezogen wurde. Die Lokomobilen selbst bewegten sich nur am Rande des Feldes. Während die eine Lokomobile arbeitete, stand die andere still, und nach jeder Furche rückte die arbeitende Lokomobile um die doppelte Furchenbreite vor. Zu dem Gespann gehörten noch ein Wasserwagen mit Pumpe, ein Kohlenwagen und ein Wohnwagen für die Mannschaft, die den Dampfpflug begleitete. Wo immer dieses Gespann auf dem Lande auftauchte, rief es Aufregung und Aufmerksamkeit hervor. Ein Gedicht in der Vechtaer Zeitung aus dem Jahr 1882 dokumentiert, mit welchem Hurra die neue Zeit auf dem Lande teilweise begrüßt wurde. Dort heißt es: „Was hör‘ ich draußen vor dem Thor, Was pfeift so schrill an unser Ohr? Was rasselt über die Chaussee? Es prasseln Funken in die Höh‘! […] Von Lastrup kommt ein Ungetüm, Es rollt heran ganz ungestüm. Hoch ragt der Rauchfang in die Luft; „Er kommt! Er kommt!“ die Menge ruft. „Wer kommt?“ Ein Dampfpflug ist es ja, Er rollt heran: „Hurrah! Hurrah!“15

Nicht alle Menschen auf dem Lande werden so laut „Hurra“ gerufen haben, wie es das Gedicht in der Vechtaer Zeitung suggeriert. Der Dampfpflug sparte nicht nur Vieh und Zeit, sondern auch Arbeitskräfte und bedeutete insbesondere für die Landarbeiter den Verlust von Verdienstmöglichkeiten. Er musste möglichst intensiv genutzt werden, brachte hohe Investitionskosten mit sich, war von der Witterung abhängig, und erwies sich nur als rentabel bei hohem Arbeitseinsatz und Ausdehnung der Tagesleistung der Arbeiter. Damit schuf man in der Landwirtschaft etwas, das in der Industrie schon Gang und Gäbe war, nämlich die Anpassung des Tagesablaufs der Menschen an den Maschinenrhythmus. Zu dieser Zeit, 1882, war der Dampfpflug erst seit knapp zwei Jahrzehnten in Deutschland im Einsatz, zunächst in der Provinz Sachsen, in den Gebieten der ostelbischen Großgrundbesitzungen, auf den Rittergütern und beim Zucker15 Zit. nach KAISER, Dampfmaschinen, S. 74.

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rübenanbau. Umso erstaunlicher ist seine relativ frühe Nutzung in Nordwestdeutschland, wo es kaum landwirtschaftliche Großbetriebe gab.16 Was es dagegen gab, waren Ödländereien, weite Heideflächen, die extensiv für Plaggenstich und Schafweiden genutzt wurden. Weite Teile der Landschaft waren im Laufe jahrhundertelanger Übernutzung zu Wehsandflächen geworden. Erst die Veränderungen in der Agrarverfassung, die Auflösung der Marken und die Aufhebung der Grundherrschaft schufen die Voraussetzungen für den gezielten Einsatz der Dampfpflüge. Durch die Markenteilungen kamen große Flächen an den Staat bzw. die Forstbehörden, so auch im Cloppenburger Forstdistrikt, dem fast 3.000 Hektar Heideland zugewiesen wurde. Hier standen nun Aufforstungsmaßnahmen an erster Stelle, um der zunehmenden Erosionsgefahr entgegen zu wirken und einen nach wirtschaftlichen Prinzipien aufgebauten Holzbestand zu schaffen, denn Holz war nach wie vor einer der nachgefragtesten Rohstoffe. Der Dampfpflug machte das Durchbrechen der Ortsteinschichten auf den Heideflächen möglich, eine unabdingbare Voraussetzung, um auf diesen Flächen Forstwirtschaft betreiben zu können. Diese Technik war auf die staatlichen Aufforstungen ausgerichtet, für den Ackerwirtschaftsbereich war sie weniger geeignet, nicht zuletzt wegen der mittleren und kleinen Betriebsgrößen und dementsprechender landwirtschaftlicher Flächen. Die Herzoglich-Arenbergische Forstverwaltung konnte einen Pflug anschaffen, ebenso die Klosterkammer in Hannover oder das Hannoversche Landesdirektorium, und auch für das Großherzogtum Oldenburg wurden nach langer Überzeugungsarbeit des Oberforstmeisters Otto im April 1879 bei der Firma Fowler & Co. in Magdeburg für 47.000 Mark zwei Lokomobilen mit jeweils 14 PS, Seile, zwei Pflüge, ein Wasserwagen und einiges an Ausrüstungsgegenständen gekauft. Der Einsatz erwies sich jedoch als problematisch. Im ersten Jahr wurden nur 261 Hektar Heideland bearbeitet, es gab Reparaturen, die Wasserversorgung (pro Tag 1000 Liter) war schwierig in einem wasserarmen Gelände. Zwischen 1879 und 1895, also in gut anderthalb Jahrzehnten, wurden für die herzoglich-oldenburgische Forstverwaltung 2678 Hektar, für die privaten Grundbesitzer ganze 339 Hektar Heidefläche kultiviert. Damit war zwar eine große Leistung erbracht worden, hingegen entsprachen die Ergebnisse nicht annähernd den Erwartungen, die mit der Anschaffung des Dampfpfluges verbunden gewesen waren.

5.

Der umweltgeschichtliche Blick auf den Dampfpflug

Theorie und Praxis der Ressourcennutzung stießen beim Einsatz und der Nutzung des Dampfpfluges auf gegensätzliche Voraussetzungen. Bei den Bauern trafen insbesondere die Aufforderungen zur Umwandlung ihrer Heideflächen in 16 Zum Folgenden KAISER, Dampfmaschinen, S. 58-62.

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Forstkulturen auf geringes Interesse, ganz ähnlich, wie sie auch schon Ende des 18. Jahrhunderts die Sinnhaftigkeit der von obrigkeitlicher Seite initiierten Aufforstungsbemühungen durch das kostenlose Verteilen von Sämereien in Frage gestellt hatten. Warum auch sollten sie sich um die Holzwirtschaft kümmern als einem Bereich, der ihnen Jahrhunderte lang durch die Herrschaftsverhältnisse verwehrt geblieben und mit empfindlichen Maßregelungen verbunden gewesen war? Den Erwartungen, die von obrigkeitlicher Seite nun mit dem ambitionierten Vorhaben, Ödlandflächen in Forste umzuwandeln, verbunden waren, standen die regionalen landwirtschaftlichen Strukturen und das Festhalten der Bauern an traditionellen Formen der Landnutzung – mangels Alternativen – diametral entgegen. Wald und Forst waren aus ihrer Sicht zwei unterschiedliche Dinge. Ein Gesetzentwurf wollte alle Landbesitzer im Großherzogtum Oldenburg, die über mehr als fünf Hektar Grundbesitz verfügten, dazu verpflichten, im Laufe von 20 Jahren 20 Prozent ihrer Ödlandflächen aufzuforsten. Ganz im Duktus der Aufklärer und Agrarreformer sprach der Amtshauptmann von Friesoythe, der für den Gesetzentwurf mitverantwortlich zeichnete, die Gefahren der heruntergewirtschafteten Flächen an: „Nun, wohlan, die Verödung der weiten Flächen unseres Wirtschaftsgebietes, die abgenagten und abgeplaggten Heidegründe, sie sind die Brutstätten unserer verheerenden Landwirthschaftlichen Seuchen, die Ursachen unserer Dürren, unserer Nachtfröste und unserer Überschwemmungen, die Jahr ein Jahr aus ganze Districte unserer Geest heimsuchen und an den Bettelstab bringen.“17

Die Aufforstung sollte diese Regionen retten. Die Ursachen der Schäden, die Übernutzung der Flächen durch das Abplaggen, die Überweidung durch Schafe, die Brandkultur in den Hochmooren wurden hingegen nicht angesprochen. Ihre Abschaffung hätte eine völlige Umstrukturierung der Landwirtschaft und des Systems erfordert, mit dem die bäuerliche Bevölkerung Jahrhunderte lang ein Ressourcenmanagement im Sinne von Verwaltung des Mangels betrieben hatte. Da dies lange Zeit durchaus funktioniert hatte und erst durch äußere Faktoren, zu denen auch das Bevölkerungswachstum zählte, in Schwierigkeiten geriet, waren Überlegungen, die dieses System auf so radikale und zudem abschätzige Weise in Frage stellte, zu diesem Zeitpunkt kaum durchsetzbar. Durch die Protokolle der Landwirtschaftsgesellschaften und landwirtschaftlichen Vereine wissen wir um die Meinung der Bauern über diese Thematik, und da gilt es eben, ganz genau hinzuschauen und die unterschiedlichen Perspektiven der Landnutzer und ihre Handlungsspielräume zu berücksichtigen. Insbesondere in den Hochmoorgebieten, in denen auf der Grundlage der Brandkultur Buchweizen angebaut wurde, konnten die Bauern auch nicht den kleinsten Teil der Fläche entbehren, um Aufforstungen durchzuführen, das hätte sie um ihre ohnehin schon mehr als karge Existenz gebracht. In den Moor17 Zit. nach ebd., S. 90.

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gebieten, so argumentierten sie, könnte der Mangel an Wald gar nicht die Ursache für Überflutungen und Nachtfröste sein, denn das Moor sei per se ein großer Wasserbehälter und wenn man es entwässern und Abzugsgräben anlegen würde, um Forste anzulegen, würden weit größere Schäden entstehen als es die Moorbrandkultur mit sich brächte. „Früher“, so hieß es, seien in den Marken überall natürliche Teiche gewesen, in denen sich das Wasser angesammelt hätte. Dadurch sei der Lauf des Wassers gehemmt, die unterschiedlichen Niederschlagsmengen ausgeglichen und insgesamt ein stabiles Gleichgewicht bewirkt worden.18 Hier zeigt sich eine Argumentation, die dem Markenwesen ganz im Gegensatz zu den Ansichten der Agrarreformer und Aufklärer ein erhaltendes, die natürlichen Ressourcen mit Bedacht nutzendes Agrarökosystem zuschrieb.19 Zumindest kommt hier ein Erfahrungswissen zum Tragen, das auf die lokalen Strukturen und Bedürfnisse fokussiert ist und die Bereitschaft und auch Fähigkeit zum Erhalt der Ressourcen erkennen lässt. Trotz der Werbung, die man für den Dampfpflug machte, gab es außerhalb der staatlichen Forstverwaltung aus den genannten Gründen kaum private Grundbesitzer, die die neue Maschine nutzten. Die Jubel- und Hurra-Rufe mögen somit wohl eher dem Faszinosum als dem unmittelbaren Nutzen geschuldet gewesen sein. Allenfalls der grundbesitzende landsässige Adel, der ebenfalls zu den Profiteuren der Markenteilungen gehörte, der Geld und Grundbesitz am Experimentieren und Interesse daran hatte, seine Landwirtschaft aufzuwerten, und der ein gewissermaßen standesgemäßes Interesse an der Holzwirtschaft hatte, nutzte die neuen Maschinen. Die Besitzerin des Guts Welpe im Amt Vechta, Freifrau von Droste-Hülshoff, so ist es in der Vechtaer Zeitung 1889 zu lesen, beabsichtigte, „den größten Theil der zu Welpe gehörenden uncultivirten Ländereien mittels des Pfluges zum Zwecke der Aufforstung umbrechen zu lassen.“20 Am selben Tag war in dieser Zeitung auch ein Bericht über einen Jäger im Nachbarort zu lesen, der vier stattliche Birkhähne erlegt hatte, und dass diese Tatsache immerhin eine Zeitungsmeldung wert war, könnte darauf hindeuten, dass es schon etwas Besonderes war. In der Folge der durch die Dampfpflügerei in Heide und Moor begonnenen Landschaftsgestaltung starben die Birkhühner aus, sie waren den Umweltbedingungen der veränderten Landschaft nicht mehr gewachsen.21 Beide Artikel standen am selben Tag in derselben Zeitung. Kaum jemand wird damals einen ursächlichen Zusammenhang gesehen haben, und doch lassen sie sich in einen umwelthistorischen Kontext bringen, der viele Bezüge und Parallelen zu aktuellen Entwicklungen aufweist und gerade dadurch geeignet ist, MuseumsbesucherInnen zum genauen Hinschauen, zur Auseinandersetzung mit 18 19 20 21

Zit. nach ebd., S. 93. Siehe den Beitrag von Annika Schmitt in diesem Band. Vechtaer Zeitung vom 17. September 1889, zit. nach KAISER, Dampfmaschinen, S. 76. Ebd., S. 76.

Umweltgeschichtliche Spurensuche im Freilichtmuseum

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dem Objekt anzuregen. Der Deutsche Naturschutzbund beklagt die gegenwärtige „Umbrucheuphorie“, im Zuge dessen große Grünlandflächen unter dem Pflug verschwinden. Diese Entwicklung habe weitreichende Folgen, von denen der Verlust der Artenvielfalt nur eine ist − das ist eine Problematik, die den BesucherInnen des Museumsdorfs durchaus präsent sein könnte, und sie bietet einen Anknüpfungspunkt zum differenzierten Blick auf das Objekt. Fragt man vor diesem Hintergrund nach der Bedeutung der Dampfpflüge in Nordwestdeutschland, so liegt diese vor allem in der Ödlandkultivierung im Zusammenhang mit den großen staatlichen Aufforstungsmaßnahmen am Ende des 19. Jahrhunderts, die auf Rentabilität ausgelegt waren. Zum Pflügen benutzte man den Dampfpflug mit der Lokomobile gerade mal etwa siebzig Jahre lang, in den 1920er Jahren endete ihre Zeit bereits wieder. Im Einsatz blieben die Dampfpflüge vor allem bei der Kultivierung der Moore in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg. Und dieser Einsatz ist, wie schon erwähnt, den meisten BesucherInnen präsent, zumindest denjenigen, die, vor dem Objekt stehend, sofort mit Erklärungen zu dessen Einsatz und Funktionsweise bei der Hand sind. Zur Moorkultivierung entwickelte die Firma Ottomeyer noch 1950 den einscharigen Tiefpflug, der eine Arbeitstiefe von rund zwei Metern erreichte und ein Furchenrad von etwa vier Metern Durchmesser hatte. Auf der Gegenseite befand sich ein Raupenfahrwerk, damit der Pflug im Moor nicht versinken konnte. Mit diesem Pflug, bezeichnenderweise „Mammut“ genannt, wurden nach dem Zweiten Weltkrieg im Emsland große Moorflächen in Sandmischkulturen verwandelt. Die Moorkultivierung mit Dampfpflügen endete nicht etwa wegen der Technik, sondern weil aufgrund steigender Erträge im Ackerbau die weitere Erschließung von Moorböden zur Ernährungssicherung der Bevölkerung nicht mehr notwendig war, aber auch, weil man die ökologische Bedeutung der Moore erkannt hatte und die verbliebenen Moorflächen unter Naturschutz stellte. Der umwelthistorische Kontext des Objekts – des Dampfpfluges – erschließt sich auf mehreren Ebenen. Zum einen ist es die Frage nach der Entstehung und Wahrnehmung der Landschaft, die den Einsatz solcher Maschinen am Ende scheinbar notwendig werden ließ. Was musste geschehen, damit mit einer neuen technischen Entwicklung Hoffnungen auf eine positive Wende verbunden wurden? Wie schlimm musste es tatsächlich um die Landschaft bestellt gewesen sein, dass sie in der Wahrnehmung der Menschen einen so negativen Eindruck hinterließ? Auf welcher Seite stand der Schafhirte, der mit seiner Herde über die Weide zog, dem die Kargheit der Heidelandschaft vertraut ist, dem nicht damit geholfen ist, wenn diese Landschaft verändert und neuen Nutzungsformen zugeführt wird. Selbst die Heidedichter haben im 19. Jahrhundert in Unkenntnis der wirklichen Entwicklungen etwas als Naturlandschaft beschrieben, das längst schon anthropogenen Eingriffen unterworfen und gestaltete Landschaft war. Wer definierte die Ödlandflächen als solche – die Bauern und Landnutzer vor Ort oder diejenigen, die von außen auf diese Landschaft blickten und ihren Nutzwert mit anderen Kategorien bemaßen?

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156

Eine zweite Ebene des umwelthistorischen Kontextes erschließt sich durch den Einsatz der Dampfpflüge und ihre Einwirkungen auf den Boden. Hier gilt es deutlich zu machen, was tatsächlich mit den Böden passierte, welche Stoffwechselvorgänge ausgelöst wurden und mit welchen Ursachen und Folgen und welchem Erfolg für den Ertrag und die Rentabilität. Weiterhin ist nach den Folgen für die Veränderung einer Kulturlandschaft zu fragen. Wälder entstanden, wo vorher Heideflächen waren, allerdings waren es nicht mehr die Wälder, die die Bauern zu landwirtschaftlichen Zwecken brauchten, sondern solche, die vor allem der Fortwirtschaft eine Rendite einbrachten. Die Entkopplung von Waldund Landwirtschaft brachte für die Bauern keine Vorteile, warum also sollten sie Maßnahmen begrüßen, die diese Strukturen förderten? Landschaft veränderte sich aufgrund der Nutzungsansprüche des Menschen, war und ist daher nicht statisch, sondern dynamisch.

6.

Fazit: Objekte mit neuem Blick gesehen

Die Mikrogeschichte eines Objekts kann ebenso aufklären wie verwirren, sie kann schillern und das Objekt zum Kaleidoskop werden lassen, durch das man auf eine sehr facettenhafte Welt in der Vergangenheit blickt, ebenso aber auch eine Komplexität vermitteln, die den Betrachter überfordert. Technik, Kraft und Größe lösen Faszination aus, von der auf die Bedeutung und Relevanz eines Objekts geschlossen wird. Der historische Kontext, die Funktion und Zweckzuschreibung bzw. Nutzung des Objekts können zu einer Relativierung dieser Bedeutungsebene führen. Der Auftrag des Museums ist es dann, die Faszination, die das Objekt ausübt, durch Aufklärung, Kontextualisierung, Problematisierung festzuhalten und in gesichertes Wissen zu kanalisieren. Dabei gilt es, Anknüpfungspunkte zu finden zum Erfahrungswissen der BesucherInnen. Ausstellungen sollen „wie vergrößerte Bücher einen Denkraum“ schaffen, so Detlef Hoffmann, der kritisch und zu Recht anmerkt, dass vor allem im 19. und 20. Jahrhundert „die Bedeutung der Dinge in die Funktion gerutscht“ sei.22 Das Erfahrungswissen der BesucherInnen speist sich nicht in erster Linie aus dem Alter einer Person, sondern aus seinen Interessenlagen, aus denen heraus das Objekt eine Projektionsfläche abbildet. Die mikrogeschichtliche Betrachtungsweise, die die Mehrdimensionalität eines Objekts beleuchtet, kann dazu beitragen, dass Objekte zu jenen „Evidenzlieferanten“ und „Reflexionsagenten“ werden, mit denen das Museum mit seinen authentischen Exponaten seine Faszination erhält und bewahrt und bisweilen selbst einen Mikromegas ins Staunen versetzt. 22 DETLEF HOFFMANN, Zeitgeschichte aus Spuren ermitteln. Ein Plädoyer für ein Denken vom Objekt aus, in: Zeithistorische Forschungen/Studies in Contemporary History 4 (2007), URL: http://www.zeithistorische-forschungen.de/16126041-Hoffmann-2-2007, S. 1 [01.10.2013].

C H R I S T O P H R E I N D E R S -D Ü S E L D E R

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II: Chancen – Perspektiven – Grenzen: Ein Erfahrungsbericht 1.

Einführung

Die Beziehung des Menschen zur belebten und unbelebten Natur war und ist zu allen Zeiten elementar. Aus dieser banalen, gleichwohl weit reichenden Feststellung ergibt sich folgerichtig einerseits die allgemein akzeptierte, im öffentlichen Bewusstsein allerorten stets gegenwärtige Relevanz von Umweltgeschichte, ihren vielfältigen Befunden und tief greifenden Fragestellungen.1 Andererseits die im vergangenen Jahrzehnt vermehrt forcierten Anstrengungen, auf Fragen nach umwelthistorischen Problemlagen, deren Wahrnehmung und Bewältigung von der Antike bis in unsere Gegenwart tragfähige Antworten zu geben.2 Gleichwohl ist jedoch auch und wohl mit Recht verschiedentlich festgestellt worden, dass es um die Vermittlung gesicherten umwelthistorischen Wissens nicht eben gut bestellt ist, dass die Ergebnisse interdisziplinärer Forschungen zur Umwelt und ihrer Geschichte, zu den Beziehungen des Menschen zur Natur und ihrem Wandel im Wechsel der Zeitläufte bislang kaum, allenfalls in Fragmenten einen Platz gefunden haben in den Lehrplänen und Richtlinien schulischen Unterrichts und universitärer Lehre.3 So tauchen in der Regel zwar einzelne umweltgeschichtliche Aspekte bei der Behandlung agrar- oder industrialisierungsgeschichtlicher Themen auf, Umweltgeschichte als solche aber wird nicht in den Kanon der zu bewältigenden Inhalte aufgenommen.4 Dies mag in beklagender Manier zur Kenntnis genommen werden, doch sollten diesem bisweilen von Resignation getragenen Lamento konkrete Überlegungen zur Seite gestellt werden, wie diesem Umstand konstruktiv in der praktischen Unterrichtsarbeit begegnet werden könnte. Die sich anschließenden Überlegungen

1

2 3 4

Vgl. z. B. BERND HERRMANN, Umweltgeschichte wozu? Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, in: PATRICK MASIUS / OLE SPARENBERG/ JANA SPRINGER (Hrsg.), Umweltgeschichte und Umweltzukunft. Zur gesellschaftlichen Relevanz einer jungen Disziplin, Göttingen 2009, S. 13-50. Exemplarisch hierfür die Reihe des Graduiertenkollegs Interdisziplinäre Umweltgeschichte an der Georg-August-Universität Göttingen. Vgl. z. B. BODO VON BORRIES, Didaktische Möglichkeiten und Grenzen der Umweltgeschichte, in: GÜNTER BAYERL / NORMAN FUCHSLOCH / TORSTEN MEYER (Hrsg.), Umweltgeschichte. Methoden – Themen – Potentiale, Münster u. a. 1996, S. 309-324. Vgl. BODO VON BORRIES, Wie vermittelt man Umweltgeschichte in der Schule?, in: MASIUS / SPARENBERG / SPRINGER (Hrsg.), Umweltgeschichte, S. 240-258.

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wollen dazu einen Beitrag leisten, indem sie sich der Pragmatik unterrichtlichen Arbeitens zuwenden.5 Die nachfolgenden Ausführungen verstehen sich als Erfahrungsbericht über das Unterfangen, die „Umweltgeschichte“ als eigenständige Disziplin im Unterricht der Sekundarstufe II zu verankern. Hierzu bot es sich recht nahe liegend an, das wöchentlich zweistündige Seminarfach zu wählen, da hier unter curricularen Gesichtspunkten recht freie Gestaltungsmöglichkeiten der Unterrichtsinhalte gegeben sind und darüber hinaus der Unterricht über einen Zeitrahmen von zwei Schuljahren geplant und durchgeführt werden kann. Diesen Vorteilen stehen indes gewisse Nachteile gegenüber, die vor allem daraus resultieren, dass der Stellenwert dieses Faches in der Hierarchie des Fächerspektrums eher im unteren Drittel rangiert, da es kein Prüfungsfach ist und nur einen geringen Stundenanteil besitzt. Die Motivation der Lernenden muss also jenseits dieser strukturellen Gegebenheiten über andere Wege gesucht werden, allemal dann, wenn von diesen ein hohes Maß an Mitarbeit erwartet wird.

2.

Chancen und Perspektiven

Wie kaum eine andere Disziplin – so hat sich im Verlauf des Unterrichts herausgestellt – ist „Umweltgeschichte“ geeignet, lange schon an den Unterricht gerichtete, gleichwohl immer noch innovativ wirkende Ansprüche zu erfüllen. Bevor ein durchgeführtes, aber modifizierbares Unterrichtsmodell für das Seminarfach an der Integrierten Gesamtschule Helene-Lange-Schule Oldenburg in sehr groben Zügen vorgestellt und knapp unter den Aspekten Chancen und Perspektiven, aber auch seiner Grenzen kommentiert wird, sei auf einige grundlegende Implikationen hingewiesen. Neben neuen inhaltlichen Akzentuierungen – Umweltgeschichte wird hier als eigenständiges Thema und nicht als Nebenprodukt von agrar- oder industrialisierungsgeschichtlichen Inhalten postuliert – seien hier insbesondere a) b) c) d)

die vielfältigen Möglichkeiten interdisziplinärer Zugänge, die Chancen projektorientierter Unterrichtsorganisation, die Realisierung jahrgangsübergreifender Unterrichtsarrangements, die vielseitigen Kooperationsmöglichkeiten in verdichteter Form mit außerschulischen Einrichtungen

hervorgehoben. Die Erfahrungen mit der Bearbeitung umwelthistorischer Inhalte haben sehr deutlich werden lassen, dass diesen Ansprüchen über weite Stre5

Es besteht also nicht der Anspruch, eine Didaktik der Umweltgeschichte zu umreißen, vielmehr soll es hier in berichtender Weise um Erfahrungen mit umwelthistorischen Inhalten in der Sekundarstufe II gehen. Auch deswegen wird auf umfangreiche Anmerkungen weitgehend verzichtet.

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II

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cken dann entsprochen werden kann, wenn das schulische Bedingungsgefüge notwendige Voraussetzungen bereithält. Während in den Fächern Geschichte, Geographie und den naturwissenschaftlichen Disziplinen die empirischen Befunde im Vordergrund der Betrachtung und Bearbeitung stehen, indem beispielsweise der historische Landesausbau, die Nutzung der Ressourcen Holz und Wasser und die damit verbundenen Konflikte, die Siedlungsverdichtung, Innovationen in der Agrartechnik, Entstehung, Verlauf und Folgen so genannter Naturkatastrophen inhaltliche Schwerpunkte bilden und unter den jeweiligen fachlichen Perspektiven behandelt werden können, rücken in den Fächern Deutsch, Kunst, Werte und Normen und Musik hauptsächlich Ebenen der Wahrnehmung und Deutungsmuster der Umwelt und ihrem Wandel in den Fokus: Lyrische und epische Texte können ebenso wie Gemälde, Kupferstiche, Skulpturen unter dem Blickwinkel der künstlerischen Wahrnehmung von Landschafts- und Umweltveränderungen gelesen, betrachtet und in diesem Kontext interpretiert werden. Nicht anders verhält es sich mit der Musik: Vertonungen z. B. lyrischer Texte – nicht nur der Romantik – legen ebenso nachdrücklich Zeugnis ab von jeweiligen Wahrnehmungen und Deutungsmustern, die im Fach Werte und Normen flankierend vertieft und erweitert werden können um die Kenntnisnahme philosophischer, ethischer und religiöser Wertesysteme. Die folgende schematisierte Darstellung fasst dies in einigen Stichworten zusammen:

Abb.: Interdisziplinarität: Mensch und Umwelt.

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Auf diese Weise kann umweltgeschichtlichen Fragestellungen aus sehr unterschiedlichen Perspektiven nachgegangen werden, wobei es sich als Vorteil erweist, dass die Zugänge in unterschiedlicher Intensität beschritten, jeweilige Schwerpunkte gesetzt und dennoch synergetische Effekte erreicht werden können. In der interdisziplinär ausgerichteten Perspektive auf Umweltthemen liegt darüber hinaus die Chance, der in der Öffentlichkeit vielfach verbreiteten Auffassung entgegenzutreten, dass für die Erforschung der Umwelt ausschließlich die Naturwissenschaften zuständig und kompetent seien. Wohl auch aus diesem Grund wird häufig gar nicht erst nach historischen Bedingungen von Umweltthemen gefragt, geraten menschliche Verhaltens- und Handlungsweisen und deren Motive in ihren Konsequenzen für die naturale Umwelt nur selten in den Blick, spielen Wahrnehmungsmuster vor dem Hintergrund jeweiliger komplexer Wertesysteme in ihrer historischen Bedingtheit nur eine geringe Rolle. Interdisziplinarität lässt es weder zu, Umweltgeschichte als Verfallsgeschichte eines wie auch immer gedachten natürlichen Idealzustandes zu entwerfen, noch einem technokratisch gegründeten Fortschrittsoptimismus das Wort zu reden,6 will vielmehr unterschiedliche Strömungen jeweiliger zeitgenössischer Wahrnehmung und Nutzung von Umwelt beleuchten. Dies klingt simpel, stellt Lehrkräfte im Schulsystem indes vor Herausforderungen, deren Bewältigung nach unterschiedlichen Formen von Kooperation verlangt. Aus einem solchen Verständnis heraus lassen sich unterschiedliche Projektarrangements realisieren, mit jeweils eigenem Zuschnitt und von differenter Intensität. Präsentationen von Arbeitsergebnissen der Lerngruppe lassen sich arbeitsteilig vorbereiten, diese können gehaltvoll ergänzt werden um Ergebnisse aus einem Kunstkurs, der sich der Landschaftsmalerei zugewandt hat und ebenso wäre ein Deutschkurs, der sich u. a. mit der Naturlyrik oder den Epochen der Aufklärung oder der Romantik auseinandersetzt eine substantiierende Bereicherung. Diese temporär eng gefassten Kooperationen zwischen einzelnen Fächern bzw. Kursen treten dann komplementär zueinander in Beziehung, die zu einer Erweiterung der fachspezifischen Perspektiven führt und auf diese Weise die Durchdringung einer komplexen Thematik verdichtet. Dies allerdings setzt vor allem die Bereitschaft der Lehrenden voraus, über den Rand ihres Tellers, über die Grenzen ihres Faches hinauszuschauen, die Kompetenzen anderer Fächer der Sache wegen zu nutzen und ein gewisses Maß an organisatorischem Mehraufwand zu erfüllen. Darüber hinaus setzen solche fächerübergreifenden Präsentationsformen die Entwicklung von tragfähigen Leitfragen voraus, die geeignet sind, die jeweiligen, ans Fach gebundenen Ergebnisse nicht allein nebeneinander, sondern in ihrer Verschränktheit miteinander und somit in ihrem komplementären Charakter nutzbringend zur Anschauung zu bringen. 6

Im Überblick hierzu FRANK UEKÖTTER, Umweltgeschichte im 19. und 20. Jahrhundert, München 2007.

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II

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Aus der Interdisziplinarität von Umweltgeschichte folgt somit unmittelbar die projektorientierte Unterrichtsorganisation, die indes unterschiedliche Formen annehmen kann. Unter gegebenen Bedingungen lassen sich vielseitige Kooperationsformen zwischen verschiedenen Fächern herstellen: Landschaftsformationen in ihrem historischen Wandel sind z. B. historischen Landesaufnahmen, die sich in der Kartographie überliefert haben, zu entnehmen und lassen sich auf anderer Ebene um die Landschaftsmalerei ebenso wie um die Naturlyrik und -schilderung, um Beobachtungen in der Reiseliteratur und anderen literarischen Beschreibungen ergänzen, vertiefen und erweitern. Hierzu kann eine Fülle von Texten und Bildmaterialien herangezogen werden – je nach inhaltlicher Ausrichtung und beabsichtigten Zielen. Allgemeinhistorische Sachverhalte lassen sich darüber hinaus in ihrer häufig generalisierenden Aussage durch begrenzte lokal- und regionalhistorische Arbeiten im forschend-entdeckenden Lernprozess substantiieren, aber auch relativieren und modifizieren. In diesem Zusammenhang sind ebenfalls jahrgangs-, klassen- oder kursübergreifende Arrangements möglich und sinnvoll. Dabei können Synergieeffekte erreicht werden, indem verschiedene Lerngruppen – auch unterschiedlicher Jahrgänge – sich der Thematik unter jeweiligen fachlichen Gesichtspunkten annähern und ihre Ergebnisse in komplementärer Form austauschen. Entsprechende Workshops, Umweltforen oder andere Arrangements haben gezeigt, dass verschiedene Jahrgangsstufen in ausgezeichneter Weise und mit überzeugenden Ergebnissen zusammenarbeiten können und dies auch wollen. Die Realisierung eines solchen Vorhabens lässt sich durchaus in Räumen der Schule vorstellen, sinnvoller aber wäre die Wahl eines außerschulischen Lernortes, z. B. in einem Museum, einer wissenschaftlichen Bibliothek oder auch in den Räumen einer Klosteranlage, die mit entsprechenden Arbeits- oder Seminarräumen ausgestattet ist, da dadurch die besondere Bedeutung einer solchen Präsentation von fachübergreifenden Arbeitsergebnissen auch räumlich unterstrichen wird. Dies gelingt umso besser, je dichter die Kooperation mit außerschulischen Einrichtungen gesucht und eingegangen wird. Die Bündelung und Verdichtung der jeweils gegebenen Kompetenzen und deren Inanspruchnahme bei der Bearbeitung klar gefasster Fragestellungen trägt nicht nur zu deren Durchdringung, sondern auch zur Einsicht in ihre Komplexität bei. In unserem Fall wurde von Beginn an sehr eng mit dem Museumsdorf Cloppenburg kooperiert, ebenso mit den Universitäten Osnabrück und Oldenburg. Dies hatte den großen Vorteil, dass wissenschaftliche Befunde sehr zeitnah Eingang in den Unterricht fanden, kompetente Sachverständige stets ansprechbar waren und zahlreiche Impulse geben konnten. An dieser Stelle ist es nicht möglich, diese hier in groben Strichen nachgezeichneten Chancen, die Umweltgeschichte dem schulischen Unterricht bietet, weiter auszuführen. Stattdessen soll zunächst ein inhaltlicher Kursverlaufsplan, wie er im Seminarfach der Helene-Lange-Schule über zwei Jahre in den Jahr-

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gangsstufen 12 und 13 durchgeführt wurde, in seinen Grundzügen knapp vorgestellt und kurz erläutert werden.

3.

Seminarfach: Mensch und Umwelt in der Geschichte – Eine Möglichkeit

3.1.

3.1.1.

Erstes Halbjahr – Thematischer Schwerpunkt: Umwelt und Umweltgeschichte: Definitionen – Perspektiven – Fragestellungen Kontext des Seminarfaches: Inhalte und Perspektiven umwelthistorischer Forschung

Der Unterricht nahm seinen Anfang im Oldenburger Schlossgarten. Ziel des Aufenthaltes in diesem Park war es, den SchülerInnen die Differenz zwischen Schein und Sein in der Gestaltung von Landschaft deutlich erfahrbar zu machen. Die Gestaltungselemente des Schlossgartens als Landschaftsgarten wurden thematisiert, die Entstehungsgeschichte skizziert, das Naturverständnis eines aufgeklärten Fürsten in Abgrenzung zu jenen des Barock problematisiert. Vor diesem Hintergrund wurden anschließend Materialien der Lyrik, Malerei und Musik bearbeitet, die einen Zusammenhang zur Natur- und Landschaftswahrnehmung sowie ihrer Interpretation erkennbar werden ließen.7 In diesem Zusammenhang wurde die teilnehmende Lerngruppe aufgefordert, Texte, die diesen Kontext benennen sollten, selbst zu verfassen.

3.1.2.

Definitorische Bestimmungen: Umwelt und Umweltgeschichte in der Geschichtswissenschaft

Im weiteren Verlauf wurde auf die geschichtswissenschaftliche Forschung abgehoben, wobei die Texte von Radkau und Sieferle im Zentrum der Auseinandersetzung standen. Hierbei wurde der Versuch unternommen, zu einer Definition von Umweltgeschichte vorzudringen, wobei zu bemerken ist, dass den SchülerInnen die entsprechenden Abstraktionen nicht leicht fielen. Verschiedene 7

Es wurden diverse literarische Texte zwischen Aufklärung und Romantik bearbeitet (z. B. Goethe, Eichendorff, Tieck, Brentano) sowie verschiedene traditionelle und moderne Märchen (Gebrüder Grimm bis Harry Potter und Herr der Ringe). Beispiele aus der Malerei waren Giorgione, Canaletto, Pieter Brueghel d. Ä. und C. D. Friedrich. Beispiele aus der Musik waren Beethoven: Pastorale und Schubert: Vertonungen romantischer Lyrik. Hilfreiche Sekundärliteratur in diesem Zusammenhang: HENRY MAKOWSKI / BERNHARD BUDERATH, Die Natur dem Menschen untertan. Ökologie im Spiegel der Landschaftsmalerei, München 1983.

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II

165

Definitionen von Radkau, Winiwarter, Andersen und Sieferle wurden hierbei herangezogen.8

3.1.3.

Umwelthistorische Diskurse in der Region

Im Gegensatz zu einer vorangegangenen Durchführung des Seminarfaches zu dieser Thematik wurde in diesem Durchgang ein regionaler Bezug aufgebaut. Die Intention lag darin, deutlich hervortreten zu lassen, dass umwelthistorische Diskurse mehr oder minder zeitgleich allerorten geführt wurden und teilweise aufeinander Bezug nahmen. Deswegen verlagerte das Seminarfach sich in die Landesbibliothek Oldenburg, um hier mit den umfangreich vorhandenen Überlieferungen in den Altbeständen der Bibliothek zu arbeiten. Vorgeschaltet wurde eine unter historischen Gesichtspunkten problematisierende Auseinandersetzung mit dem Wald, dessen Bedeutung als Ressource, Privileg, Lebensraum und Mythos anhand einschlägiger Materialien thematisiert wurde.9 Die Arbeitsbedingungen in der Landesbibliothek waren ausgezeichnet, die Kooperation mit den dortigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern ebenfalls. Ein großer Seminarraum wurde zur Verfügung gestellt, die gewünschten Materialien 8

9

Dabei wurden folgende Texte und Textauszüge bearbeitet: ARNE ANDERSEN, Zum Heft Umweltgeschichte, in: Werkstatt Geschichte 3, 1992, S. 6, zit. nach ARNE ANDERSEN, Umweltgeschichte. Forschungsstand und Perspektiven, in: Archiv für Sozialgeschichte 33, 1993, S. 672-701, hier S. 682; JOACHIM RADKAU, Was ist Umweltgeschichte?, in: WERNER ABELSHAUSER (Hrsg.), Umweltgeschichte. Umweltverträgliches Wirtschaften in historischer Perspektive, Göttingen 1994, S. 11-28, hier S. 20 f.; ROLF PETER SIEFERLE, Perspektiven einer historischen Umweltforschung. in: DERS., Fortschritte der Naturzerstörung, Frankfurt a. M. 1988, S. 318 f.; GÜNTER BAYERL / ULRICH TROITZSCH (Hrsg.), Quellentexte zur Geschichte der Umwelt von der Antike bis heute. Göttingen, Zürich 1998; VERENA WINIWARTER / MARTIN KNOLL, Umweltgeschichte. Eine Einführung, Köln u. a. 2007. Besonders hilfreich erwiesen sich folgende Texte, die in unterschiedlichen Arbeitsformen herangezogen und bearbeitet wurden: GERHARD HENKE-BOCKSCHATZ, Wem gehört der Wald?, in: Geschichte lernen 112, 2008, S. 10-15. Darin Quellen: Eigentums- und Nutzungsrechte am Wald, S. 10 f.; Landgraf gegen Waldfrevel, 1803. Ausschnitt aus der Verordnung des Landgrafen von Hessen; Bericht über die Waldnutzung im Fürstentum Paderborn, 1828; JOACHIM RADKAU, Holzverknappung und Krisenbewusstsein im 18. Jahrhundert, in: GG 9, 1983, S. 513-543; JOSEF MOOSER, „Furcht bewahrt das Holz“. Holzdiebstahl und sozialer Konflikt in der ländlichen Gesellschaft 1800-1850 an westfälischen Beispielen, in: HEINZ REIF (Hrsg.), Räuber, Volk und Obrigkeit. Studien zur Geschichte der Kriminalität in Deutschland seit dem 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. 1984, S. 43-99; BERNWARD SELTER, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher „Nährwald“ und neue Holzökonomie im Sauerland des 18. und 19. Jahrhunderts, Paderborn 1995; STEFAN VON BELOW / STEFAN BREIT, Wald – von der Gottesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit, Stuttgart 1998; ULRICH GROBER, Der ewige Wald, in: Die Zeit 31, 2008, S. 78 f.; RICHARD HÖLZL, Umkämpfte Wälder. Die Geschichte einer ökologischen Reform in Deutschland 1760-1860, Frankfurt 2010.

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stets herangeschafft. Neben den inhaltlichen Zielen war hier auch die Intention, SchülerInnen der Sekundarstufe II die Arbeit in der Bibliothek, die gänzlich anders als in den Räumen der Schule geartet ist, erfahrbar zu machen. Die Lerngruppe hat dies in sehr erfreulicher Weise wahrgenommen und zeigte sich von der andersartigen Atmosphäre sehr beeindruckt. Dies nahm positiv Einfluss auf die Arbeit an den Inhalten, die auch Methoden der Recherche umfasste. Die Inhalte fanden ihre Grundlage in verschiedenen Beiträgen aus den unterschiedlichen oldenburgischen Intelligenzblättern des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Herangezogen wurden o o o o o

die Blätter vermischten Inhalts, die Oldenburgischen wöchentlichen Anzeigen, die Oldenburgischen Nachrichten, die Oldenburgische Zeitschrift sowie die Oldenburgischen Blätter

mit Beiträgen, die den Diskurs um den Wald, um Land- und Forstwirtschaft in verschiedenen Aspekten deutlich werden ließen. Gegenstand der Diskussionen in diesen Blättern waren landesherrlich ergangene Forst- und Holzordnungen des 17. und 18. Jahrhunderts. Dies führte dazu, die entsprechende Sammlung von landesherrlich in Kraft gesetzten Gesetzen, Edikten, Verordnungen ebenfalls zu berücksichtigen. Die Arbeit an den Texten ließ deutlich werden, dass die Lerngruppe zunächst Lese- und Verständnisschwierigkeiten zeigte: Die Frakturschrift war ihnen ebenso fremd wie die Sprache des 17., 18. und frühen 19. Jahrhunderts. Entgegen mancher Erwartung aber ließ sie sich davon faszinieren und entwickelte einen motivierten Ehrgeiz, den in den Texten dargelegten Dingen und Sachverhalten auf die Spur zu kommen. Die Arbeit in der Bibliothek erstreckte sich bei wöchentlich 90 Minuten auf insgesamt fünf Wochen hinsichtlich der arbeitsteiligen Erschließung der Texte, in zwei weiteren Sitzungen wurden die Ergebnisse in sehr engagierter Weise und auf vergleichsweise hohem Niveau bezüglich der Kenntnisse und des Problembewusstseins diskutiert. Hierbei konnten Bezüge zu der zur Kenntnis genommenen Sekundärliteratur hergestellt werden, doch hätte dies noch systematischer und ausführlicher erfolgen können, vergleichende Aspekte hätten stärkere Beachtung finden können. Dennoch: Insgesamt lagen recht überzeugende Ergebnisse vor und die SchülerInnen zeigten sich danach deutlich motivierter, der Thematik weiter nachzugehen. In einer das Halbjahr abschließenden Sitzung in der Landesbibliothek wurde ein Fazit gezogen unter den Aspekten der Umwelt- und Naturwahrnehmung, der um die Ressource Holz vorgetragenen Interessen und Konfliktlagen im historischen Wandel und der geschichtswissenschaftlichen Perspektiven ihrer Erforschung. Hierbei wurde auch auf die definitorischen Ansätze zur Umweltgeschichte zurückgegriffen. Allerdings muss gesagt werden, dass eine Kontextuali-

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167

sierung der bearbeiteten zeitgenössischen Texte nur rudimentär gelang. Insofern erwiesen sich forschend-entdeckende Lernprozesse, die in diesem Halbjahr in der Bibliotheksarbeit angegangen wurden, zwar als durchaus ertragreich, fanden aber ihre Grenzen in der übergreifenden und abstrahierenden Kontextualisierung der ermittelten Befunde.

3.2.

Zweites Halbjahr

An den letzten Punkt wurde unmittelbar angeknüpft, als es zu Beginn des zweiten Halbjahres darum ging, umwelthistorische Fragestellungen im Rahmen der Anfertigung von Facharbeiten, die dieses Halbjahr bis zu den Osterferien im Wesentlichen bestimmte, zu entwickeln. Hierbei wurden unter abstrahierender Reflexion des ersten Halbjahres Problemfelder umweltgeschichtlicher Perspektiven benannt und erörtert, wobei verschiedene Texte in Auszügen teils von SchülerInnen, teils von der Lehrkraft einbezogen wurden.10 Auf diesen Grundlagen wurden folgende Arbeitsschritte bis zur Anfertigung der Facharbeiten vorgenommen: 1. 2. 3. 4. 5. 6.

Konkretisierung: Mögliche Inhalte der Facharbeiten; Formale Kriterien der Facharbeiten: Wissenschaftspropädeutik I; Anfertigung von Exposées; Entwicklung von Fragestellungen: Wissenschaftspropädeutik II; Anfertigung der Facharbeiten: Zeitrahmen 6 Wochen; Präsentation der Ergebnisse der Facharbeiten.

Die Präsentation der Ergebnisse der Facharbeiten erfolgte in themenverwandten Gruppen, indem verschiedene Round-Table-Gespräche durchgeführt wurden: a)

Die Umweltwahrnehmung und ihre Interpretation in Kunst und Literatur (6 Arbeiten); b) Die Nutzung des Waldes und die damit verbundenen Konflikte von der Mitte des 17. bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts (3 Arbeiten); c) Der Prozess der Entfremdung des Menschen von der Natur. Verschiedene Aspekte (5 Arbeiten); d) Natürliche Ressourcen: Ihre Entwicklung und ihre Nutzung (3 Arbeiten);

10 NILS FREYTAG, Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283, 2006, S. 383-407; JÖRG CALLIEß / JÖRN RÜSEN/ MEINFRIED STRIEGNITZ (Hrsg.), Mensch und Umwelt in der Geschichte, Pfaffenweiler 1989; BERND HERRMANN (Hrsg.), Umwelt in der Geschichte. Beiträge zur Umweltgeschichte, Göttingen 1989; JOACHIM RADKAU, Was ist Umweltgeschichte?; BAYERL / FUCHSLOCH / MEYER (Hrsg.), Umweltgeschichte; BAYERL / TROITZSCH, Quellentexte.

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Erfindungen und ihre umweltgeschichtlichen Implikationen (3 Arbeiten).

Die Moderation der verschiedenen Gesprächsrunden lag in den Händen der Lehrkraft. Es war darauf zu achten, anhand übergreifender, d. h. die Inhalte der einzelnen Facharbeiten verklammernder Leitfragen zu diskutieren und die Einzelbefunde in einen entsprechenden Zusammenhang zu verorten. Hierbei entwickelte sich bisweilen ein hoher Grad an Problembewusstsein, die Intensität der Gespräche lag insgesamt auf hohem Niveau, sodass eine Durchdringung der zur Diskussion stehenden Problematik erzielt werden konnte. Das Halbjahr wurde zunächst mit einer Reflexion sämtlicher Inhalte unter Rückgriff auf die herangezogene Sekundärliteratur, der Bearbeitung von Primärquellen in der Landesbibliothek sowie der Berücksichtigung der Ergebnisse der Facharbeiten beendet und wandte sich in der verbleibenden Zeit organisatorischen und inhaltlichen Fragen der Vorbereitung eines Ende September 2011 durchzuführenden SchülerInnenkongresses zu. Hierzu wurde am 26. und 27. Mai ein Workshop im Kloster Börstel unter Beteiligung von WissenschaftlerInnen der Universitäten Osnabrück und Oldenburg sowie des Museumsdorfes Cloppenburg durchgeführt. Im vorangegangenen Unterricht wurden dazu vorbereitende Schritte zurückgelegt, wobei inhaltlich drei Schwerpunkte zu den Themen „Landschaft“, „Energie/Ressourcen“ und „Ernährung“ gesetzt waren, die ebenfalls zentral für den SchülerInnenkongress sein sollten. Mit dem Workshop in Börstel sollten SchülerInnen vornehmlich der Sekundarstufe II in die Lage versetzt werden, bei der inhaltlichen und organisatorischen Durchführung des SchülerInnenkongresses zu assistieren, indem sie kleinere Arbeitsgruppen während des Kongresses betreuen sollten. Der Verlauf dieses Workshops hat gezeigt, dass die SchülerInnen sehr motiviert auf ihre bisherigen Arbeitsergebnisse zurückgreifen konnten, hierin jetzt einen nachhaltig wirksamen Wert erkannten, der für die noch zu bewältigenden Aufgaben eingesetzt werden konnte.

3.3.

Drittes Halbjahr

Mit Beginn des dritten Halbjahres nach den Sommerferien wurde unmittelbar die Vorbereitung des SchülerInnenkongresses fortgesetzt. Dies in zweifacher Hinsicht: Schon im vorangegangenen Halbjahr leistete eine jahrgangsübergreifende AG organisatorische Vorbereitungen des Kongresses. An dieser AG waren neun TeilnehmerInnen des Seminarfaches beteiligt, die jetzt während der Seminarfachstunden für diese Belange weitgehend freigestellt wurden. Gleichzeitig arbeiteten sie inhaltlich an einem Konzept für einen Workshop, der zu dem Thema „Energie/Ressourcen“ während des Kongresses unter ihrer Assistenz durchgeführt werden sollte. Hierbei wurde auf die wissenschaftliche Kompetenz der Universitäts- und Museumsmitarbeiter zurückgegriffen, deren Sach-

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169

verstand außerordentlich hilfreich war. Bis zum Beginn des Kongresses wurde auf diese Weise folgendes Konzept eines der drei Workshops entwickelt, das sich dann auch in der Umsetzung als tragfähig erwies:

SchülerInnenkongress am 29. und 30. September 2011 in der Aula der Universität Oldenburg – Workshop: Holz, Wald und Energie in vorindustrieller Zeit Dieser Workshop setzte sich während des Kongresses intensiv mit zentralen Fragen nach der Nutzung des Waldes und des Holzes als Zentralressource in vorindustrieller Zeit auseinander. Die vielfältigen Nutzungsformen des Waldes und deren Wandel gerieten dabei ebenso in den Blick wie die Bedeutung des Holzes als Energieträger und die Konflikte, die sich aus den Auseinandersetzungen um Nutzungsrechte und deren Legitimation ergaben. Der Workshop ging diesen Problemen in drei parallel laufenden Arbeitsgruppen nach, wobei folgendes Quellenmaterial zur Bearbeitung herangezogen wurde: Quelle 1: C. P. Laurop, Von dem unverzüglichen Anbau schnellwachsender Holzarten in den Herzogthümern Schleswig und Holstein (1798). Quelle 2: Johann Heinrich Gottlieb von Justi, Von der Aufmerksamkeit eines Cameralisten auf die Waldungen und den Holzanbau (1761). Quelle 3: Abhandlung zum Vortheil des Nahrungsstandes: Betrachtungen über den einreissenden Holzmangel, in: Göttingische Policey-AmtsNachrichten, 1755. Quelle 4: Gedanken von einer brennbaren Erde, wie auch vom Torfe, ob, und wie wir denselben zu Ersparung des Holzes anwenden können, in: Hamburgisches Magazin, oder gesammelte Schriften, zum Unterricht und Vergnügen, 1756. Quelle 5: Auffahrts brieff betreffend den am Hause Füchtel Eigenbehörigen Joan Herm. Luttmerding im Kirspel Damme Ambts Vechta, 1769, den 9. Novembris, Niedersächsisches Staatsarchiv Oldenburg, Best. 272-17, Nr. 981. Quelle 6: Heike Düselder, Ein Prozess um einen einzigen Baum – Holznot und soziale Konflikte im 18. Jahrhundert. Beispiele aus der Region.

Gruppe 1: Befürchtete Holznot und Reaktionen darauf Grundlegend für die Bearbeitung waren zunächst die Quellen 1 und 2. Diese thematisieren zunächst die Wahrnehmung eines zunehmenden Holzmangels (Quelle 1) sowie die Notwendigkeit von forcierten Aufforstungen (Quelle 2). Ihre Bearbeitung erfolgte in folgenden Schritten: ARBEITSSCHRITT 1: o

Vorstellung der Quellen und kurze inhaltliche Zusammenfassung,

Christoph Reinders-Düselder

170 o

Herstellung eines Zusammenhanges.

ARBEITSSCHRITT 2: Erarbeitung des historischen Kontextes unter folgenden Gesichtspunkten: o o o

Regionale Belege und Vergleiche (exemplarisch), Formen der Waldnutzung und der kontroverse Diskurs darum, Zustand der Wälder und ihre flächenhafte Entwicklung.

Für die Erarbeitung dieser Zusammenhänge standen weitere Materialien als Ausdruck bzw. digital zur Verfügung: o o o o

Thematische Karten, Statistiken und Diagramme, Bildhafte Darstellungen zum Wald, Beispiele zum Diskurs über den Wald/das Holz: Edikte, Verordnungen, Beiträge in Zeitschriften etc.: Erfassung der einschlägig betitelten Beiträge in Oldenburger Zeitschriften des 18. und 19. Jahrhunderts.

ARBEITSSCHRITT 3: Die bislang erarbeiteten Ergebnisse führten zur Bearbeitung der Quelle 3, mit der die Frage nach den Ursachen einer befürchteten Holznot aufgeworfen wird, die zu benennen und zu überprüfen waren: o o o o

Bevölkerungszunahme und damit einhergehende Bedarfssteigerung; Baukonjunkturen und Zunahme der Gebrauchsgegenstände; Keine Nachhaltigkeit in der Waldwirtschaft; Nützlichkeitsdenken und Repräsentationsgebaren.

Auch hierzu sollten die verfügbaren Materialien herangezogen werden: o o o o

Hausbau und Holzverbrauch; Bevölkerungsentwicklung; Statistiken, Diagramme: Möbel und Gebrauchsgegenstände; Entstehung von Fabriken, gewerblichen Betrieben und deren zunehmenden Bedarf an Holz zur Feuerung.

Nach der inhaltlichen Erschließung und Kontextualisierung der zugrunde gelegten Quellen wurden die Arbeitsergebnisse in Form einer durch Power-Point gestützten Präsentation zusammengefasst. Diese Präsentation hatte zum Ziel, einen umfassenden Überblick über die Bedeutung des Waldes und des Holzes in den genannten Aspekten zu liefern. Die Arbeitsgruppe konnte organisatorisch in Teilgruppen vorgehen und den jeweiligen Arbeitsaufträgen arbeitsteilig nachgehen.

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II

171

Gruppe 2: Holz und Energie Ausgehend von Quelle 4, die Gedanken über alternative Energieträger zum Holz äußert, sollte Holz als Energieträger in seiner Bedeutung behandelt werden. Hierzu waren die verschiedenen Lebens- und Arbeitsbereiche in den Blick zu nehmen: Bedeutung des Feuers im privaten wie im wirtschaftlichen Umfeld. Darüber hinaus sollten die Äußerungen zu alternativen Energieträgern wie Kohle, Torf und verschiedene Mischprodukte überprüft werden. Es empfahl sich, in folgenden Arbeitsschritten vorzugehen: ARBEITSSCHRITT 1: o o

Inhaltliche Zusammenfassung der Quellenaussagen und ihr Kontext, Deutliche Benennung der Alternativen zum Holz und deren Bewertung.

ARBEITSSCHRITT 2: o o

Überprüfung des Vorkommens möglicher alternativer Energieträger, Kenntnis und Möglichkeiten ihrer Nutzung.

Hieraus war die Frage abzuleiten, welchen „Wert“ andere Energieträger haben könnten. Die Beantwortung dieser Frage führte zu einem naturwissenschaftlichen Versuch: ARBEITSSCHRITT 3: o o

Experimentelle Überprüfung des „Heizwertes“ verschiedener Brennstoffe: drei Holzarten, Torf, Ergänzung um errechnete Werte.

Hierzu waren die vorliegenden Arbeitsblätter heranzuziehen: o o

Material 1: Heizwert, Material 2: Energie aus dem Wald.

Beide Materialien und die Quelle 3 lagen in ausgedruckter Form vor. Darüber hinaus konnte an verschiedenen Laptops eine Excel-Simulation durchgeführt werden. Organisatorisch konnte auch in dieser Arbeitsgruppe arbeitsteilig vorgegangen werden, indem sich ein Teil der Arbeitsgruppe mit der Quelle 3 und ihrer Erschließung, ein anderer Teil mit der Versuchsdurchführung und den Berechnungen der Heizwerte verschiedener Brennstoffe befasste. Die abschließende gemeinsame Präsentation umfasste folgende Teile: o o o

Vorstellung und Zusammenfassung der Quelle 3 im freien Vortrag, Präsentation des Versuches, Erläuterung der berechneten Werte,

Christoph Reinders-Düselder

172 o o

Abschließender Kommentar mit Hinführung zu den folgenden Ausführungen über die Konflikte um die Ressource Holz, die deren zentrale Bedeutung unterstreichen. Die Präsentation konnte durch Projektionen unterstützt werden.

Gruppe 3: Konflikte um Ressourcen Auf der Basis der Quellen 5 und 6 wandte sich diese Arbeitsgruppe exemplarisch zwei Konfliktmustern um die Ressource Holz zu. Ausgegangen wurde von regionalen Beispielen im Oldenburger Münsterland. Hierbei wurde der Wald und somit das Holz in seiner Bedeutung als Herrschaftsinstrument und Privileg erfahrbar gemacht, sodass die bisherigen Arbeitsergebnisse um diese Bedeutungsebene des Waldes / des Holzes ergänzt werden konnte. Dadurch wurde der Wald insgesamt in seiner ganzen Komplexität deutlich. Denkbar und umsetzbar waren folgende Arbeitsschritte: ARBEITSSCHRITT 1: o o

Erschließung der inhaltlichen Aussagen der Quellentexte, Zusammenfassung der wesentlichen Inhalte in Stichworten.

ARBEITSSCHRITT 2: Herstellung der historischen Rahmenbedingungen der Konflikte. Hierzu war es notwendig, weitere Materialien in die Bearbeitung einzubeziehen: o o o

Edikte, Verordnungen, Münstersche Eigentumsordnung, Verträge zwischen Bauern und Grundherren: Auffahrtsbriefe, Facharbeiten.

Diese Quellen lagen in digitalisierter Form vor. ARBEITSSCHRITT 3: o o o o

Erarbeitung einer szenischen Darstellung und Interpretation der Konflikte, Die szenische Darstellung konnte durch eine Bildprojektion unterstützt werden, Erarbeitung einer kommentierenden Erläuterung der Szene und Zusammenfassung aller präsentierten Arbeitsergebnisse und abschließende Formulierung einer These, die lautete: „Holz hatte in vorindustrieller Zeit eine vergleichbare Bedeutung wie das Erdöl im industriellen Zeitalter.“

Die Durchführung dieses Workshops während des SchülerInnenkongresses erwies sich ebenso wie die der beiden anderen Workshops zu Entwicklungen der Landschaft in vorindustrieller Zeit und zu Fragen nach dem Wandel der Ernährung als äußerst ertragreich. An den beiden Tagen des Kongresses, an

Umweltgeschichte in der Sekundarstufe II

173

dem mehr als 150 SchülerInnen aus Oldenburg, Cloppenburg und Osnabrück sowie zahlreiche WissenschaftlerInnen teilnahmen, wurde in hoher Intensität diskutiert, gearbeitet, experimentiert. Sehr unterschiedliche Methoden kamen dabei zur Anwendung, kreative Formen der Präsentation von Arbeitsergebnissen vom traditionellen Vortrag bis zum darstellenden Spiel traten komplementär nebeneinander und hinterließen Eindrücke von großer Nachhaltigkeit.

3.5.

Viertes Halbjahr

Bereits nach den Herbstferien des dritten Halbjahres wurde damit begonnen, für die geplante Ausstellung im Museumsdorf Cloppenburg kleinere Ausstellungsmodule bzw. -beiträge zu entwickeln. Diese Arbeit wurde im vierten Halbjahr, das aufgrund der nunmehr anstehenden Abiturprüfungen nur bis Mitte März andauerte, fortgesetzt. In vier Arbeitsgruppen wurden dabei folgende kleinere Projekte bearbeitet: 1. 2. 3. 4.

Flashlights – Mensch- und Umweltbeziehungen im Wandel; Ernährungsgewohnheiten – Heute und in vergangenen Zeiten; Montage: Umwelt in der Literatur, Kunst und Musik – Die Heide; Video: Stiller Wald.

Die Arbeit an diesen Vorhaben hatte zum Ziel, Impulse in verdichteter Form zu entwickeln und in differenten Präsentationsformen zu veranschaulichen. Deswegen entstanden ein Video, das Filmmaterial von BBC planet earth bearbeitete (4), Flashlights, die Bild, Wort und Ton zueinander in Beziehung setzen (1), ein interaktives Ausstellungsmodul zur Ernährung, das neben enthaltenden Textund Bildmaterialien bei bestimmten Anlässen um darstellende Spielszenen erweitert werden kann (2) sowie eine Power-Point-Präsentation zur Wahrnehmung der Heidelandschaft im Wandel der Zeit (3), die Bildmaterial mit lyrischen Texten und Auszügen aus der Reiseliteratur mit Musik gleichsam zu einer Montage verbindet. Zweifellos war die Durchführung des Seminarfaches für alle Beteiligten eine große Herausforderung, indem Lehrkräfte und SchülerInnen neue, ungewohnte Wege betraten. Unvertraute Inhalte waren zu erschließen, zahlreiche Vereinbarungen zu treffen und einzuhalten. Dem gewiss hohen Input aber stand am Ende ein überzeugendes Output als Ergebnis zur Seite, wobei zu betonen ist, dass Umweltgeschichte in besonderer Weise geeignet ist, den Unterricht im Sinne von Innovation der Unterrichtsarrangements zu bereichern. Gleichwohl wurden Grenzen ihrer Realisierung deutlich.

Christoph Reinders-Düselder

174

4.

Grenzen

Gewiss: Die Relevanz von Umweltgeschichte wird von allen Seiten betont und auch aus schulischer Sicht von keiner Stelle in Frage gestellt. Dennoch sind ihrer praktischen Realisierung im Unterricht Grenzen gezogen, deren Verlauf in Abhängigkeit von sehr unterschiedlichen Faktoren steht. Es mag sein, dass Lehrkräfte in dem Moment allzu großen Respekt vor der Komplexität von Umweltgeschichte zeigen, wenn ihnen bewusst wird, dass diese nicht als irgendeine Spezialität, sondern – leicht zugespitzt – als integraler Bestandteil einer „histoire totale“ zu begreifen ist. Wohl auch deswegen gibt es kaum ein überzeugendes Lehrwerk, wonach Umweltgeschichte unterrichtet werden könnte. Insofern stehen die Lehrkräfte in der Situation, sich mit großem Zeitaufwand die zu unterrichtende Thematik aus der umfänglichen Forschungsliteratur selbst zu erschließen. Hierbei stoßen sie unweigerlich nicht nur an zeitliche Grenzen, sondern auch an solche inhaltlicher Art, die daraus resultieren, dass eine Geschichte menschlichen Umweltbewusstseins sich keineswegs als Geschichte eines Sinnes für das bloße Eigenrecht der Natur denken und vermitteln lässt, sondern vielmehr als Geschichte eines sich durch Krisenerfahrungen herausbildenden und wirksam werdenden Gespürs für die langfristigen natürlichen Grundlagen menschlichen Lebens und seiner Kultur. Schon allein deswegen ist es eine schlichte Notwendigkeit, Kooperationen zu suchen und einzugehen. Schule bietet hierfür zwar exzellente Voraussetzungen und Möglichkeiten, beherbergt sie doch Kompetenzen sehr unterschiedlicher Disziplinen, deren Relevanz allerdings für das eigene Fach in nur eingeschränkter Weise gesehen wird. An dieser Stelle kann also nur daran appelliert werden, Phantasie und Kreativität mit Blick auf Interdisziplinarität zu entfalten. Unbestreitbar bedeutet dies in der Konsequenz ein organisatorischer Mehraufwand – doch die Banalität der einzuhaltenden Absprachen ist wohl kein wirkliches Gegenargument. Eine nicht unwichtige Rolle kommt in Hinsicht der organisatorischen Voraussetzungen den Schulleitungen und FunktionsträgerInnen zu, die ganz entscheidend zur interdisziplinären Kooperation unter Einschluss außerschulischer Einrichtungen beitragen können und müssen. Wird ein solches Unternehmen von dieser Seite nicht gestützt, werden Hürden aufgebaut, die kaum zu überwinden sind. Nicht zuletzt sind es die SchülerInnen, die nicht immer bereit sind, sich mit projektorientierten Methoden, interdisziplinär ausgerichteten Fragestellungen, selbst gesteuerten Lernarrangements aus den gewohnten Bahnen vom Unterricht im Klassen- oder Kursverband zu lösen. Gleichwohl zeigt die gemachte Erfahrung, dass die Lernenden den dadurch erzielten Kompetenzerwerb auf sehr unterschiedlichen Ebenen zunehmend zu schätzen lernten.

INDRE DÖPCKE

Umweltgeschichte unterrichten. Eine empirische Untersuchung zu LehrerInnenvorstellungen 1.

Erkenntnisinteresse

Umweltgeschichte führt im Geschichtsunterricht ein „Schattendasein“1. Deutlich wird dies zum Beispiel an Begrifflichkeiten, die LehrerInnen mit Umweltgeschichte verbinden: Nebenbereich, Zusatzangebot, Extraaspekt am Ende einer Einheit, Bonbon, Einzelstunde, Randphänomen oder Kuriosum.2 Präziser lässt sich dies an einem Interviewauszug mit einer Lehrperson einer niedersächsischen Integrierten Gesamtschule veranschaulichen. Im Rahmen der noch vorzustellenden Studie wurde diese Lehrperson gebeten, Dimensionen3 des Geschichtsunterrichts nach ihrer Bedeutung für den Unterricht in eine hierarchische Ordnung zu bringen: „Politikgeschichte hat abgenommen. Das muss man deutlich sagen, sicherlich auch mit der Bedeutung von Politik allgemein. […] Die Wirtschaftsgeschichte ist aufgestiegen, definitiv. […] Sozialgeschichte ist, glaube ich, im Moment das dominierende Konzept. […] Kulturgeschichte spielt eine Rolle, ist noch nicht so stark verankert, findet aber […] ausreichend Niederschlag, finde ich. […] Geschlechtergeschichte ist immer noch wichtig, ist im Moment etabliert. […] Die Frage ist nur, ob es auch adäquat umgesetzt wird. […] Alltagsgeschichte: stärkere Bedeutung, aber ich sage mal auch eher am Rande. Umweltgeschichte: fast nicht vorhanden. Muss man so sagen. […] Umweltgeschichte zum Schluss. Muss man deutlich sagen.“

Diese Einschätzung steht jedoch im Gegensatz zu den ministerialen Bestrebungen, die umweltbezogenen Aspekte in die Kerncurricula zu integrieren. Bereits 1980 erteilte die Kultusministerkonferenz den Auftrag, dass Umwelterziehung (heute verwendet man den Begriff Umweltbildung) als ein alle Schulfächer, -stufen und -formen durchziehendes Unterrichtsprinzip in den Fachdomänen 1 2 3

Vgl. BERND-STEFAN GREWE, Umweltgeschichte unterrichten: Frustrationen und Fallstricke, lohnende Perspektiven und Leitlinien, in: UTE GRÖNWOLDT (Red.), Recycling, Bonn 2006, S. 1-15, hier S. 7. Diese Begrifflichkeiten nennen die für die Studie interviewten LehrerInnen im Zusammenhang mit Umweltgeschichte. Bei dem Begriff „Dimension“ handelt es sich um einen geschichtsdidaktischen Fachterminus. Geschichte kann nicht generell betrachtet werden, sondern immer nur bestimmte Dimensionen zum Gegenstand haben. In den Lehrplänen und im Unterricht werden die Dimensionen Herrschaft, Wirtschaft, Kultur, Umwelt, Alltag und Geschlecht diskutiert. Vgl. HANS-JÜRGEN PANDEL, Dimensionen der Wahrnehmung, in: ULRICH MAYER U. A. (Hrsg.), Wörterbuch Geschichtsdidaktik, Schwalbach/Ts. 2009, S. 47-48.

Indre Döpcke

176

zu implementieren sei.4 Dies gilt auch für den Prozess des historischen Lernens von SchülerInnen. Eine Durchsicht der Kernrichtlinien oder Kerncurricula der Bundesländer zeigt, dass umwelthistorische Themen in die Bildungsziele für den Geschichtsunterricht zumindest in Teilen einbezogen sind.5 Ob die umwelthistorische Perspektive im Geschichtsunterricht integriert wird, hängt daher wesentlich von den Unterrichtsentscheidungen der Lehrpersonen ab. Diese werden vor allem von ihrem domänenspezifischen und (fach-)didaktischen Wissen und Können, aber auch Einstellungen und Erfahrungen zu einem zu unterrichtenden Themenfeld geprägt.6 Über die Analyse von LehrerInnenvorstellungen zum Thema „Umweltgeschichte unterrichten“ werden in diesem Aufsatz Anhaltspunkte generiert, aus welchen Gründen die Dimension Umweltgeschichte im Geschichtsunterricht ein randständiges Themenfeld darstellt, die Wissensrepräsentationen der interviewten LehrerInnen stehen demgemäß im Fokus.

2.

LehrerInnenvorstellungen

2.1.

Forschungsstand

Curricular vorgegebene Themen werden in Fachkonferenzen diskutiert und Unterrichtsinhalte festgelegt. Sind den Lehrpersonen Themen, kontextuelle Zusammenhänge oder Potenziale umwelthistorischer Perspektiven für das historische Lernen von SchülerInnen nicht bekannt, werden diese Aspekte kaum berücksichtigt und gehören schließlich nicht zum Konsens der zu thematisieren4 5

6

Vgl. Umwelt und Unterricht (Beschluß der Kultusministerkonferenz vom 17.10.1780) unter http://www.kmk.org/fileadmin/veroeffentlichungen_beschluesse/1980/1980_10_ 17_Umwelt_Unterricht.pdf [25.04.2013]. Vgl. z. B. Bildungsplan der Werkrealschule (Baden-Württemberg) unter http://www.bildung-staerkt-menschen.de/service/downloads/Bildungsplaene/Werkrealschule/Bildungs plan2012_WRS_Internet.pdf, S. 134-136 [24.04.2013]; Kerncurriculum für das Gymnasium – Schuljahrgänge 5-10, Geschichte (Niedersachsen) unter http://www.db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf, S. 14 [24.4.2013]; Kerncurriculum für die Integrierte Gesamtschule, Schuljahrgänge 5-10, Gesellschaftslehre (Niedersachsen) unter http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_igs_gesell_08_nib2.pdf, S. 13 f. und 21 f. [24.04.2013]. – Allerdings bleibt eine Konkretisierung der Themenschwerpunkte in den Curricula zur Umweltgeschichte oftmals aus, stattdessen wird auf den allumfassenden Begriff ‚Umwelt‛ zurückgegriffen. Zudem wird gerade bei integrativen Fächern, wie sie an Gesamtschulen unterrichtet werden, Umwelt als Themenfeld genannt. Dies schließt die historische Perspektive ein, die aber nicht expliziert wird. Auch sind umwelthistorische Ansätze überwiegend zu den verbindlichen Inhalten der Jahrgänge 5 bis 8, weniger zu denen der Jahrgänge 9 und 10 zu finden. Vgl. HILKE GÜNTHER-ARNDT, Historisches Lernen und Wissenserwerb, in: DIES. (Hrsg.), Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2009, S. 35-44, hier S. 37-39.

LehrerInnenvorstellungen

177

den Inhalte im Geschichtsunterricht an der jeweiligen Schule. Dies lässt sich an einem Beispiel aus den Interviews mit einer Lehrperson verdeutlichen, die am Gymnasium einer Kooperativen Gesamtschule in Niedersachsen arbeitet und zum Zeitpunkt des Interviews eine 11. Klasse im Fach Geschichte unterrichtete. Das Kerncurriculum für die gymnasiale Oberstufe aus dem Jahr 2011, in dem Umwelt als eine Dimension explizit aufgenommen wurde, bildete die Grundlage für die Themenzusammenstellung in der Fachkonferenz.7 Auf die Frage, ob Umweltgeschichte bei der Festlegung des Lehrplans eine Rolle spielte, antwortete die Lehrperson: „Wir haben eher nach den Themen geguckt und geschaut, wie passen die gut zusammen und haben dann versucht, diese Puzzlei, die man da ja auch mit den einzelnen Schwerpunkten machen muss, irgendwie sinnvoll hinzukriegen. Aber ich gebe zu, auf Umweltgeschichte haben wir da letztlich nicht wirklich Wert gelegt. […] Es [Umweltgeschichte] war keine Entscheidungsgrundlage.“

Der Auszug zeigt, wie die Aufnahme der Umweltgeschichte in den Unterricht von den Vorstellungen der Geschichtslehrpersonen beeinflusst wird. Dieser Eindruck deckt sich mit den Ergebnissen der Forschung. Der neuseeländische Erziehungswissenschaftler John Hattie hat in seiner 2009 veröffentlichten und international beachteten Studie „Visible Learning“ die Bedeutung der Lehrperson für das Lernen und den Lernerfolg von SchülerInnen herausgestellt.8 Auch die Erziehungswissenschaftlerin Sigrid Blömeke betont, dass rund „30 Prozent der Unterschiede in SchülerInnenleistungen […] auf Unterschiede im Wissen, im Handeln und in den Einstellungen der sie unterrichtenden Lehrpersonen zurückzuführen“9 sind. LehrerInnenvorstellungen gewinnen somit zunehmend an Bedeutung in der Unterrichtforschung. Allerdings ist LehrerInnenforschung in der Geschichtsdidaktik bislang kaum Gegenstand der empirischen Analyse geworden, Studien liegen nur vereinzelt vor.10 2007 haben Helmut Messner und 7

Vgl. Kernkurrikulum für das Gymnasium – gymnasiale Oberstufe, die Gesamtschule – gymnasiale Oberstufe, das Berufliche Gymnasium, das Abendgymnasium, das Kolleg (Niedersachsen) unter http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_geschichte_go_i_0311.pdf, S. 11 [24.04.2013]. 8 Vgl. JOHN HATTIE, Visible Learning. A synthesis of over 800 metaanalyses relating to achievement, London u. a. 2009. 9 SIGRID BLÖMEKE, Voraussetzungen bei der Lehrperson, in: KARL-HEINZ ARNOLD / UWE SANDFUCHS / JÜRGEN WIECHMANN (Hrsg.), Handbuch Unterricht, Bad Heilbrunn 2009, S. 122-126, hier S. 123. 10 Vgl. HOLGER THÜNEMANN, „Aber gerade das war ja historisches Denken“. Guter Geschichtsunterricht aus Lehrerperspektive, in: GWU 62, 2011, S. 271-283, hier S. 272. – Einzelne Studien zur LehrerInnenforschung finden etwa an der PH Heidelberg statt. Hier wird in einer Längsschnittuntersuchung die Professionalisierung und Kompetenzentwicklung von GeschichtslehrerInnen untersucht, siehe MANFRED SEIDENFUß, Professionalisierung und Kompetenzentwicklung von Geschichtslehrerinnen und Geschichtslehrern unter http://www.ph-heidelberg.de/geschichte/personen/lehrende/seidenfuss/moeglichkeiten-der-studentischen-mitabeit.html [24.04.2013]. ― An der Universität in Genf

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Indre Döpcke

Alex Buff eine quantitativ angelegte Studie zum LehrerInnenwissen und LehrerInnenhandeln im Geschichtsunterricht veröffentlicht und didaktische Überzeugungen und deren Einfluss auf die Unterrichtsgestaltung vorgestellt. Im Vordergrund der Teilstudie steht die professionelle Wissensbasis von Lehrpersonen. Als besonders bedeutsam stellen die Autoren die schulische Praxis als berufliche Sozialisation heraus. Darüber hinaus kann Unterrichtsentwicklung nicht allein über die Bereitstellung neuer Lehrmaterialien und Methoden erfolgen, sondern auch die Zielorientierungen und fachbezogenen Überzeugungen der Lehrpersonen müssen beachtet werden.11 Für die Ressource Wissen liegt jedoch keine allgemein gültige Definition vor. Einigkeit besteht dahingehend, dass Wissen stets kontextabhängig und gesellschaftlich wie kulturell geprägt ist. Es äußert sich in unterschiedlichen Repräsentationen und verändert sich stetig. Kategorisiert werden die Wissensstrukturen nach domänenspezifisch deklarativem, strategischem und metakognitivem Wissen, die in einer Wechselbeziehung stehen.12 Dabei ist unter deklarativem Wissen (knowing that) das sogenannte Faktenwissen zu verstehen, dessen Inhalte in Form von Bedeutungsnetzen (semantic networks) repräsentiert sind. Das strategische Wissen (knowing how) beschreibt „die Kenntnis der prozeduralen Mittel und Wege, historischen Manifestationen Sinn zu entnehmen und sie kritisch zu überprüfen. Sie sind individuell in Form von ‚Handlungsprogrammen‘ repräsentiert.“13 Metakognitives Wissen (knowing why) umfasst Einstellungen, Haltungen oder Positionen eines Individuums und wird über die Fähigkeit der Selbstreflexion zum Ausdruck gebracht.14 In der hier vorgestellten Studie interessiert vor allem das Wissen von erfahrenen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte. Es stellt sich die Frage, über welche Art von Wissen zur Umweltgeschichte sie verfügen und auf welche Konzepte sie zurückgreifen, um sich der Dimension zu nähern. Da aber nicht nur das Wissen von Lehrpersonen zu einem Lern-

11

12

13 14

läuft eine Studie, in deren Rahmen die LehrerInnenausbildung in Quebec untersucht wird. Ein weiteres Dissertationsprojekt ist an der Universität Oldenburg angesiedelt. Hier forscht Georg Götz zum Thema „Geschichtsbewusstsein und Geschichtsunterricht fachfremd unterrichtender Geschichtslehrer“, siehe unter http://www.uni-oldenburg.de/diz/promotionsprogramme/profas-prozesse-fachdidaktischer-strukturierung/ doktorandinnen-ab-2010/georg-goetz/ [24.03.2013]. HELMUT MESSNER / AXEL BUFF, Lehrerwissen und Lehrerhandeln im Geschichtsunterricht – didaktische Überzeugungen und Unterrichtsgestaltung, in: PETER GAUTSCHI U. A. (Hrsg.), Geschichtsunterricht heute. Eine empirische Analyse ausgewählter Aspekte. Bern 2007, S. 143-175, hier S. 169, 172-173. Vgl. GÜNTHER-ARNDT, Geschichtsdidaktik, S. 37-39 sowie MARKUS BERNHARD / ULRICH MAYER / PETER GAUTSCHI, Historisches Wissen – was ist das eigentlich?, in: CHRISTOPH KÜHBERGER (Hrsg.), Historisches Wissen. Geschichtsdidaktische Erkundung zu Art, Tiefe und Umfang für das historische Lernen, Schwalbach/Ts. 2012, S. 103-118, hier S. 105. Ebd., S. 105. Vgl. GÜNTHER-ARNDT, Geschichtsdidaktik, S. 38; BERNHARD / MAYER / GAUTSCHI, Historisches Wissen, S. 105.

LehrerInnenvorstellungen

179

gegenstand, sondern auch Einstellungen und Erfahrungen der eigenen Unterrichtspraxis auf die Unterrichtsentscheidungen einwirken, werden generell Vorstellungen von Lehrpersonen zum Thema „Umweltgeschichte unterrichten“ erhoben. Der Vorstellungsbegriff ist dabei weit gefasst. Vorstellungen werden als „subjektive, gedankliche Konstrukte aller Komplexitätsebenen, also sowohl ,Begriffe‘, ,Konzepte‘, ,Denkfiguren‘, ,Theorien‘ oder ähnliches“ verstanden.15 Im Detail soll die Studie Aufschluss darüber geben, welche fachlichen und fachdidaktischen Vorstellungen und Orientierungen bei erfahrenen Geschichtslehrpersonen zur Umweltgeschichte als Unterrichtsgegenstand existieren. Es sollen Erkenntnisse zu den drei Wissensrepräsentationen generiert werden. Knowing that: Was wissen Geschichtslehrpersonen über die Dimension Umweltgeschichte und worauf baut ihr Wissen auf. Dabei ist zu bedenken, dass dies auch Einstellungen und Erfahrungen impliziert. Knowing how: Welche Kriterien sind für die Planung und Strukturierung von umwelthistorischen Themen leitend und drittens knowing why: Welche Bedeutung messen Lehrpersonen der Umweltgeschichte für das historische Lernen bei. Das Ziel der Erforschung der LehrerInnenvorstellungen besteht darin, einen Beitrag zur Verbesserung der LehrerInnenbildung in Bezug auf das Thema „Umweltgeschichte unterrichten“ zu leisten, indem die Stärken, aber auch zu eindimensionalen Perspektiven in den ermittelten LehrerInnenvorstellungen berücksichtigt werden.

2.2.

Methoden der Erhebung und Auswertung der LehrerInnenvorstellungen

Qualitative empirische Forschungen ermöglichen die Untersuchung von Lebenswelten, indem der Untersuchungsgegenstand in unmittelbare Nähe zu dem zu untersuchenden Phänomen gerückt wird. Insofern stellt qualitative Forschung eine Möglichkeit dar, zu einem besseren Verständnis sozialer Wirklichkeit(en) beizutragen und auf Abläufe, Denkmuster und Strukturmerkmale aufmerksam zu machen. Ziel des Vorgehens ist es, aus dem empirischen Untersuchungsprozess Neues im scheinbar Bekannten zu entdecken und Ansätze bzw. Theorien zum Untersuchungsgegenstand zu generieren oder zu erweitern.16 Die Erhebung der unterschiedlichen Wissens- und Erfahrungsformen, die Aufschluss darüber geben sollen, warum es sich bei der Umweltgeschichte noch immer um eine randständige Dimension im Geschichtsunterricht handelt, erfolgte in Anlehnung an den Ansatz professionellen Wissens des Psychologen Rainer Bromme (1992). Seine Überlegungen schließen an die des amerikani15 HARALD GROPENGIEßER, Didaktische Rekonstruktion des „Sehens“. Wissenschaftliche Theorien und die Sicht der Schüler in der Perspektive der Vermittlung, Oldenburg 1997, S. 27. 16 UWE FLICK / ERNST VON KARDORFF / INES STEINKE (Hrsg.), Qualitative Forschung: ein Handbuch, Reinbek 2007, S. 14.

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schen Erziehungswissenschaftlers und Psychologen Lee Shulman (1986) an, der erstmals eine Kategorisierung professionellen LehrerInnenwissens vornahm und Begriffe wie pedagogical knowledge, content knowledge oder pedagogical content knowledge in der Forschung etablierte. Brommes Typologie bietet unterschiedliche Kategorien für eine theoretisch begründete, fachdidaktische, mehrdimensionale und dennoch strukturierte Erhebung von LehrerInnenkognitionen in Form von qualitativen, offenen Leitfadeninterviews. Folgende Kategorien wurden basierend auf der fachlich-fachdidaktischen Klärung für die Studie berücksichtigt und angepasst: o o o o o o

Fachliches Wissen zur Umweltgeschichte, Wissen über Lerninhalte der Umweltgeschichte, Philosophie des Themas, Wissen über die Lernvoraussetzungen von SchülerInnen, Curriculares Wissen zur Umweltgeschichte, Fachspezifisch-pädagogisches Wissen.

Da im Rahmen dieses Aufsatzes der Leitfaden nicht in Gänze dargelegt werden kann, werden im Folgenden Auszüge beispielhaft vorgestellt. So wurden die LehrerInnen etwa zu der Kategorie „Fachliches Wissen“ gebeten, zu der Aussage „Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme“ Stellung zu nehmen. Diese Aussage lässt sich auch in Bezug zur zweiten Kategorie „Wissen über Lerninhalte“ setzen. Bezogen auf das „Curriculare Wissen“ wurde etwa gefragt, welche Themen der Umweltgeschichte ihnen zum einen bekannt seien und welche im Geschichtsunterricht behandelt werden bzw. werden könnten. Das „Fachspezifisch-pädagogische Wissen“ wurde zum Beispiel mit einer Szenariofrage angeregt. Die Lehrpersonen wurden gefragt, welche Tipps sie einer Referendarin geben würden, die eine Unterrichtsstunde zur Umweltbewegung der 1970/80er Jahre geben möchte. Die Kategorien dienen als Gesprächsanlass und ermöglichen eine Vergleichbarkeit zwischen den Interviews. Allerdings können die Antworten auch kategorienübergreifend sein. Die Auswertung der Interviews fußt auf der qualitativen Inhaltsanalyse nach Harald Gropengießer. Seine Analyse orientiert sich an der des Psychologen Philipp Mayring, jedoch wurde das Vorgehen Gropengießers für fachdidaktische Zwecke modifiziert sowie dem theoretischen Forschungsmodell der Didaktischen Rekonstruktion angepasst. Ziel des Analyseverfahrens ist es, erhobene Vorstellungen des Untersuchungsobjekts in Form von Denkfiguren zu identifizieren und zu klassifizieren. Gropengießers Verfahren sieht frühzeitig eine Reduktion des Datenmaterials vor. Da der Reduktion eine Interpretation seitens der Forschenden inhärent ist, besteht die Gefahr vorschneller Schlussfolgerungen. Daher wird die Auswertungsmethode mit dem Ansatz der Sozialwissenschaftlerin Christiane Schmidt kombiniert, deren Leitprinzip gerade auf dem stetigen Austauschprozess zwischen dem empirischen Datenmaterial und dem

LehrerInnenvorstellungen

181

theoretischen Vorverständnis der Forschenden während des gesamten Forschungsprozesses basiert.17 Für die Erhebung wurden elf niedersächsische LehrerInnen interviewt, die an Gymnasien, Kooperativen18 und Integrierten19 Gesamtschulen tätig sind. Auf das Gespräch sollten sich die ProbandInnen im Vorfeld nicht vorbereiten, die Interviews umfassten zwischen 50 und 90 Minuten. Da die Auswertung der Interviews zum gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht abgeschlossen ist, werden im Folgenden ‚Ergebnistendenzen‘ aufgezeigt und anhand von Ankerbeispielen aus den Interviews verdeutlicht.

2.3.

Vorläufige ausgewählte Ergebnisse

Das Erkenntnisinteresse der Studie „Umweltgeschichte unterrichten“ ist auf drei Wissensebenen von Geschichtslehrpersonen fokussiert: 1. 2. 3.

Fachwissenschaftliches Wissen (knowing that), Fachdidaktisches Wissen (knowing how), Einstellungen und Haltungen (knowing why).

Anhand der bislang ermittelten Ergebnisse lassen sich Anhaltspunkte festmachen, die bei der Konzeption von LehrerInnenaus- und -weiterbildungen zur Umweltgeschichte Berücksichtigung finden sollten und nun vorgestellt werden.

2.3.1.

Fachwissenschaftliche Perspektive (knowing that)

Für die meisten ProbandInnen der Interviewstudie, die zum Zeitpunkt der Erhebung zwischen sechs und 30 Jahren im Schuldienst tätig waren, stellte das Gespräch eine erste intensive Auseinandersetzung mit der Umweltgeschichte dar. Somit ist den meisten die fachwissenschaftliche Diskussion in der Regel unbekannt. Umwelthistorische Kenntnisse beruhen auf privatem Interesse, wie die ProbandInnen es beschreiben, und sind weniger systematisch als eher zufällig angeeignet worden. Das zur Verfügung stehende Fachwissen (Content Knowledge) stellt jedoch eine wichtige Determinante für den Umgang mit einem Lern17 Vgl. HARALD GROPENGIEßER, Qualitative Inhaltsanalyse in der fachdidaktischen LehrLernforschung, in: PHILIPP MAYRING / MICHAELA GLAESER-ZIKUDA (Hrsg.), Die Praxis der Qualitativen Inhaltsanalyse, Weinheim u. a. 2005, S. 172-189 bzw. CHRISTIANE SCHMIDT, Analyse von Leitfadeninterviews, in: FLICK U. A. (Hrsg.), Qualitative Forschung, S 447-456. 18 Kooperative Gesamtschule: Der Hauptschul-, Realschul- und Gymnasialzweig bilden die Säulen dieser Schulform. In Sport und oft auch in den Fächern der ästhetischen Bildung wird schulzweigübergreifender Unterricht erteilt. 19 Integrierte Gesamtschule: Schüler mit Haupt-, Real- und Gymnasialempfehlung werden gemeinsam unterrichtet. In einigen Fächern findet eine Differenzierung durch Förder-, Grund- und Erweiterungskurse statt.

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gegenstand dar und wirkt sich auf Einstellungen von Lehrpersonen aus. Inhaltliches Wissen, auf das man als Lehrperson vertrauen kann, schafft Sicherheit, Unkenntnis dagegen verunsichert. Ein Lehrender einer Integrierten Gesamtschule antwortete auf Fragen zu konkreten umweltgeschichtlichen Themen: „Mein Problem ist, dass ich zu wenig Fachkenntnis für die Umweltprobleme habe. […] Ein […] spannendes Beispiel äh, fällt mir spontan nicht ein. Da bin ich zu unterbelichtet von der Fachseite her.“ Oder: „Das Problem ist, dass ich ja nur so wenige [Themen] kenne.“

Ohne Fachkenntnisse ist Fachunterricht nicht möglich. Die interviewte Lehrperson schätzt ihre Fachkenntnisse zur Umweltgeschichte als zu gering ein, um aus ihrem historischen Wissensschatz umwelthistorische Themen spontan generieren zu können. Hätte sie Umweltgeschichte im Unterricht häufiger thematisiert, könnte sie auf ihr Wissen und ihre Erfahrung zurückgreifen, sodass ihr eine Beantwortung der Frage vermutlich leichter fallen würde. Ein umwelthistorisches Thema im Unterricht umsetzen zu können, wird von ihr nicht in Frage gestellt, denn „unterbelichtet“ ist allein die „Fachseite“. Zudem greifen die Lehrpersonen in den Interviews kaum auf Erfahrungen aus anderen Zusammenhängen wie etwa die eigene Schullaufbahn, Lehrangebote während der universitären Ausbildung, Erfahrungsaustausch mit FachkollegInnen oder Medienberichte zurück. Der Umwelthistoriker Manfred JakubowskiTiessen verweist in seinem Beitrag in diesem Band darauf, dass die Umweltgeschichte als Teildisziplin zwar seit Jahrzehnten sehr produktiv sei, sich dies aber nicht in der Etablierung von Lehrstühlen an deutschen Hochschulen niederschlage. Insofern sind umweltgeschichtliche Themen selten in der universitären Lehre vertreten. Hier aber werden angehende LehrerInnen für Themen sensibilisiert. Sind Schwerpunkte im Lehrangebot nicht enthalten, wird die Wahrnehmung und Relevanz für entsprechende Perspektiven nicht bewusst ausgebildet. In diesem Kontext betrachtet erschließt sich, weshalb Umweltgeschichte für die meisten Interviewten zu Beginn des Interviews eine Art ‚terra incognita‘ darstellte. Sie sind mit umweltgeschichtlichen Themen bislang kaum in Form einer direkten thematischen Auseinandersetzung in Berührung gekommen und können kaum auf Erfahrungswerte zurückgreifen. Das Gefühl, nicht genug Fachwissen auf diesem Gebiet zu haben, wurde bei den Lehrpersonen in der Regel erst durch die Interviewsituation geweckt. Im Unterrichtsalltag wird dies scheinbar nicht als Defizit wahrgenommen. Ein anderer Aspekt, über den die Bedeutung von Fachwissen für den Unterricht herausgestellt wird, erschließt sich aus der Formulierung eines Gymnasiallehrers, der zugleich an einem Studienseminar in Niedersachsen tätig ist. Auf die Frage, welche Tipps er einer Referendarin zur Vorbereitung der Unterrichtseinheit „Umweltbewegung in den 1970er/80er Jahren“ geben würde, sagte er: „Ich würde ihr Literatur an die Hand geben und sagen: ‚Äh, ein bisschen einlesen‘. Je größer ihre fachliche Kompetenz ist, also je besser sie sich damit auskennen, desto größer

LehrerInnenvorstellungen

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wird das Spektrum der zu didaktisierenden Möglichkeiten. Desto mehr didaktische Funken werden sie aus dem Inhalt schlagen können.“

Diese Aussage korreliert mit einem Teilergebnis einer viel beachteten Studie in der Mathematikdidaktik namens COACTIV. Hier konnte ermittelt werden, dass Lehrpersonen mit erhöhten Werten in Fachwissenstests eine erhöhte Ausprägung im fachdidaktischen Wissen aufwiesen.20 Auch der hier interviewte Geschichtslehrer stellt die Bedeutung von Fachwissen nach seiner Erfahrung als elementar für die Unterrichtsstrukturierung heraus. Das bedeutet sicherlich nicht, dass ein hohes Fachwissen ein Garant für guten Geschichtsunterricht ist. Aber nach Ansicht des Geschichtslehrers erhöht sich die Möglichkeit, als Lehrperson unterschiedliche, auf die Lerngruppe spezifizierte Zugänge zu schaffen.

2.3.2.

Fachdidaktisches Wissen (knowing how)

Bereits 1992 wurde in der fachwissenschaftlichen Diskussion darauf verwiesen, dass sich umweltgeschichtliche Forschung von der Negativgeschichte distanzieren und den sogenannten „umwelthygienischen Ansatz“ relativeren müsse.21 In der geschichtsdidaktischen Diskussion wurde dieser Aspekt aufgegriffen, indem Joachim Radkau dafür plädierte, dass Umweltgeschichte keine ‚Katastrophengeschichte‘ sei.22 Um mit den jeweiligen Interviewpartnern auf diesen Aspekt zu sprechen zu kommen, wurden sie gebeten, während des Interviews zu Aussagen wie „Umweltgeschichte untersucht die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur“ oder „Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme“ Stellung zu nehmen. Im Folgenden wird ein Interviewauszug mit einer Lehrperson vorgestellt, die an einer Kooperativen Gesamtschule im gymnasialen Zweig tätig ist. „I: Die Umweltgeschichte untersucht die Wechselbeziehung zwischen Mensch und Natur. Wie würden Sie diese Wechselbeziehung beschreiben?

20 COACTIV steht für “Cognitive Activation in the Classroom: The Orchestration of Learning Opportunities for the Enhancement of Insightful Learning in Mathematics“, siehe unter http://www.mpib-berlin.mpg.de/coactiv/studie/ergebnisse/index.html [19.04.2013]. 21 Bei dem „umwelthygienischen Ansatz“ wird der Mensch als Zerstörer des harmonischen Gleichgewichts in der Natur aufgefasst. Rolf Peter Sieferle plädierte Anfang der 1990er Jahre dafür, den Mensch nicht nur als Gegenüber der Natur zu begreifen, sondern nach der Wechselbeziehung zu fragen, die den Menschen sowohl als Teil als auch als Gegenüber charakterisiert. Vgl. ROLF PETER SIEFERLE, Die Grenzen der Umweltgeschichte, in: GAIA 2, 1993, S. 8-21; VERENA WINIWARTER / MARTIN KNOLL, Umweltgeschichte, Köln u. a. 2007, S. 24. 22 JOACHIM RADKAU, Unbekannte Umwelt. Von der altklugen zur neuartigen Umweltgeschichte, in: Praxis Geschichte 4, 1997, Themenheft „Mensch und Umwelt“, S. 4-10, hier S. 6.

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L: (7)23 Da fallen mir nur so eher so so realistisch vage, pauschale Dinge ein. I: Ja, ist völlig okay. L: […] Was macht der Mensch mit der Natur? Wie verändert er sie? (4) Das ist natürlich noch keine Wechselbeziehung, sondern das ist in eine Richtung gedacht. […] L: […] Wenn Sie das zu Hause alles wieder anhören, […], dann stellen Sie fest, […] ich habe eigentlich immer über Umweltschutz gesprochen. Aber natürlich Umweltgeschichte in Früher Neuzeit, Hexenverfolgungszeit, Naturereignisse und was das für das Leben der Menschen für Folgen gehabt hat, das ist natürlich eine Wechselbeziehung in die andere Richtung. Ursachen finden für Naturkatastrophen, Schuldige finden für Naturkatastrophen. Das gehört, letztlich ist das auch Umweltgeschichte. Umweltgeschichte ist also mehr als – so jetzt hat es bei mir Klick gemacht. I: Dann hatten Sie von sich aus das Thema angesprochen. Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme. L: Ja. Das ist mir aber jetzt eben erst recht klar geworden. […] Es geht darum, wie haben Menschen ihre Umwelt gebaut, verändert, geprägt. […] Und insofern kann ich das auch relativieren, was ich ganz am Anfang gesagt habe. Insofern macht man ja sehr viel mehr Umweltgeschichte, als man denkt.“

Dieser Auszug verdeutlicht, dass die Prämisse ‚Umweltgeschichte ist nicht ausschließlich eine Negativgeschichte‛, die für die wissenschaftliche Diskussion als Konsens vorausgesetzt werden kann, für LehrerInnen keineswegs als selbstverständlich erachtet werden darf. Bezogen auf diesen Punkt besteht somit ein Fortbildungsbedarf. Die Antwort der Lehrpersonen zeigt, dass das Thema ‚Umwelt‛ auch bei Lehrpersonen affektiv aufgeladen ist und diese im Unterricht unbewusst dazu neigen, eine Wertung einzubringen. Das ist nachvollziehbar, denn „wer über Vergangenes nachdenkt, also historisch denkt“, so der Geschichtsdidaktiker Klaus Bergmann, „denkt in seiner Gegenwart – also unter dem Einfluss von Gegenwartserfahrungen und Zukunftserwartungen. Geschichte ist immer gegenwärtiges Nachdenken über vergangenes menschliches Denken, Handeln und Leiden.“24 Bezogen auf die Umweltgeschichte kann der Gegenwartsbezug generell die Schwierigkeit bergen, dass bei der Vermittlung von umweltgeschichtlichen Themen der „umwelthygienische Ansatz“ dominant ist. Insofern lässt sich in diesem Punkt eine Parallele zu den Ergebnissen der SchülerInnenvorstellungsforschung von Britta Wehen ziehen.25 Auch SchülerInnen haben eine stark wertende Haltung gegenüber der Mensch-UmweltBeziehung, die den Menschen als Störenfried in dieser Beziehung stilisiert. Aufgabe der Lehrperson wäre es, diesbezügliche Stereotype offenzulegen und im Unterricht zu problematisieren. Wenn die Perspektive der Lehrperson aber der der SchülerInnen entspricht, kann eine kontroverse Auseinandersetzung nicht erfolgen und Umweltgeschichte wird zur Negativgeschichte. Es ist somit wich23 (7) steht für 7 Sekunden, die die Lehrperson nachdachte, bevor sie auf die Stellungnahme zu antworten begann. 24 KLAUS BERGMANN, Gegenwartsbezug – Zukunftsbezug, in: GWU 55, 2004, S. 37-46, hier S. 37. 25 Siehe in diesem Band den Beitrag von Britta Wehen-Behrens.

LehrerInnenvorstellungen

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tig, dass der Lehrperson bezogen auf die Vermittlung von umweltgeschichtlichen Themen nicht nur die SchülerInnenvorstellungen bekannt sind, sondern sie auch ihre eigenen Einstellungen reflektiert. Dieses Bewusstmachen stellt eine wichtige Voraussetzung für das Planen und Strukturieren von Unterricht dar. Lehrende sind an dieser Stelle als Lernende wahrzunehmen. In der Fachwissenschaft hat es Jahre gedauert, bis es zur Relativierung des „umwelthygienischen Ansatzes“ kam. Von Lehrpersonen, denen diese Debatte nicht bekannt ist, kann die relativierte Perspektive auf Umweltgeschichte bzw. auf die Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur nicht vorausgesetzt werden. Die Interviewsequenz verdeutlicht aber auch, dass LehrerInnen über ein implizites, ‚unbewusstes‛ Wissen zur Umweltgeschichte verfügen. Erst im Nachdenken über die Wechselbeziehung Mensch-Natur entstehen Anknüpfungspunkte an bekannte Themen, die zugleich in neue Kontexte gesetzt werden, etwa der Zusammenhang von Naturkatastrophen und Hexenverfolgung, sodass die umwelthistorische Perspektive fassbar wird. Das implizite Wissen anzuregen, ist ein weiterer Aspekt, den es für Fortbildungskonzeptionen zu berücksichtigen gilt. Umweltgeschichte zu unterrichten, bedeutet vor allem eine veränderte Perspektive auf vielfach bekannte Themen einzunehmen. In der geschichtsdidaktischen Diskussion wird als methodischer Zugang für die Umweltgeschichte der lokal- und regionalgeschichtliche Ansatz als besonders geeignet herausgestellt. Zum einen sind umweltgeschichtliche Fragestellungen häufig mikrogeschichtlich angelegt, zum anderen bietet ‚Geschichte vor Ort‘ eine gute Möglichkeit, einen Lebensweltbezug bei den SchülerInnen herzustellen, der als besonders lernförderlich erachtet wird. Im Rahmen des vom niedersächsischen Ministeriums für Wissenschaft und Kultur geförderten Projektes „Mensch & Umwelt“ wurde im Herbst 2011 ein SchülerInnenkongress an der Universität Oldenburg unter dem Motto „Unsere Umwelt hat Geschichte“ durchgeführt, bei dem die Lernenden zwischen drei Workshops zu den Themen Landschaft – „Ist Natur Natur?“, Ernährung – „Der Mensch ist, was er isst?!“ und Energie im „hölzernen Zeitalter“ wählen konnten. Der lokal- und regionalgeschichtliche Ansatz stand bei dem Workshop Landschaft im Mittelpunkt. Es wurden zwei Themen, der Oldenburger Schlossgarten und die Osenberge, ein Waldgebiet im Landkreis Oldenburg, unter dem Fokus der Natur- und Kulturlandschaftsentstehung und der Naturwahrnehmung bearbeitet. Im Interview wurden die ProbandInnen gefragt, ob diese Themen auch für ihren Unterricht vorstellbar wären. Eine Lehrperson einer Integrierten Gesamtschule antwortete: „L: „Also, es ist doch toll, zu gucken, wie der Oldenburger Schlossgarten gestaltet ist. Das stelle ich mir total spannend vor. Erstmal überhaupt zu sehen, wie sah das vorher aus. Da sind die Kinder auch echt interessiert dran. Wie sah Oldenburg früher aus. Das Problem ist immer nur: Wo hänge ich es auf? Von der Erdkunde her hätte ich viele Möglichkeiten, das zu legitimieren als lokale Sache. Von der Geschichte her wird es schon schwieriger. Ich weiß jetzt nicht die konkreten historischen Umstände. Könnte man

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höchstens noch im Absolutismus verorten. Kulturschaffung, Herrschaftsrepräsentation, all das, was damit zusammenhängt. Aber das macht man meistens ja doch an Versailles fest.“

Die Einschätzung der Lehrperson zeigt, dass der lokalgeschichtliche Ansatz auf Interesse sowohl bei ihm als auch, wie er vermutet, bei den SchülerInnen stoßen wird. Das Problem, das er benennt, ist nicht inhaltlich begründet, sondern systemisch. Mit dem lokal- bzw. regionalgeschichtlichen Ansatz verhält es sich in den Curricula ähnlich wie mit der Umweltgeschichte. Diese kann man integrieren, wo es sich anbietet, ist als Lehrperson aber sehr frei in der Entscheidung. Zum lokal- und regionalgeschichtlichen Ansatz heißt es etwa im Kerncurriculum für das Gymnasium der Sekundarstufe I in Niedersachsen: „Themen und Zeugnisse der Lokal- und Regionalgeschichte sind in angemessener Weise zu berücksichtigen, weil sie sowohl das historische Interesse am eigenen Lebensraum fördern als auch Ausgangspunkt übergreifender Untersuchungen und Erkenntnisse sein können.“26 Eine Integration ist also erwünscht. Aber in der Praxis ist diese mit einem erheblichen Arbeitsaufwand für die Lehrperson verbunden, da das weitgehend fehlende Material zunächst recherchiert und didaktisch aufbereitet werden muss. In Anbetracht des engen Zeitbudgets und der Unklarheiten zur Dimension Umweltgeschichte ist es eher unwahrscheinlich, dass speziell zu diesem Themenfeld der lokal- bzw. regionalgeschichtliche Ansatz im Unterricht diskutiert wird. Lässt die zur Verfügung stehende Unterrichtszeit es zu, Herrschaftsrepräsentationen anhand der Gestaltung einer Gartenlandschaft zu verdeutlichen, wird das zur Verfügung stehende Zeitfenster klein sein. Dafür greifen Lehrpersonen eher auf Material zurück, das vorhanden und erprobt ist. Der lokal- und regionalgeschichtliche Ansatz, der im Rahmen von Projektarbeiten sehr fruchtbar sein kann, ist in den Schulalltag nur in Grenzen zu integrieren und am besten dann, wenn entsprechende Materialien zu einem Themenfeld vorliegen. Da die Umweltgeschichte jedoch ein randständiges Thema im Geschichtsunterricht darstellt, bietet sich der lokal-und regionalgeschichtliche Ansatz wohl für Projektlehre, aber weniger für die Etablierung der Umweltgeschichte in den Unterrichtsalltag an. Zumindest nicht in einer Phase, in der die Inhalte für Lehrpersonen nicht transparent sind und Materialien nur begrenzt zur Verfügung stehen.

2.3.3.

Einstellungen und Haltungen (knowing why)

Generell haben die interviewten LehrerInnen Interesse an der umwelthistorischen Thematik. Eine Lehrperson drückte den ‚Mehrwert‛, den eine Integration dieser Perspektive in ihren Geschichtsunterricht für SchülerInnen haben kann, wie folgt aus: 26 Siehe Kerncurriculum für das Gymnasium – Schuljahrgänge 5-10, Geschichte (Niedersachsen) unter http://db2.nibis.de/1db/cuvo/datei/kc_gym_gesch_08_nib.pdf, S. 8 [23.04.2013].

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„Wenn ich die Vergangenheit nicht kenne, dann habe ich eine fehlende Dimension für das, was ich aktuell tue, dass das eben Auswirkungen in der Zukunft haben kann. Und wenn ich das für die Vergangenheit genauer und konkreter und sicherlich auch in, ich sage jetzt mal, in überschaubarem Maßstab hinbekomme, ist das für Kinder natürlich attraktiver, als wenn ich jetzt immer mit aktuellen Problemen belastet werde. Und der Vorteil [der Umweltgeschichte] ist sicherlich, dass durch die zeitliche Distanz vielleicht eine andere Offenheit dafür da ist. Und dieses Bewusstsein mitzugeben, da sehe ich eine Chance, wenn man das in den vergangenen Zeiten deutlich macht. Dann ist es bei den Schülern, glaube ich, leichter nochmal Dinge einzusehen, weil sie nicht immer unmittelbar selbst betroffen sind, sondern einfach mal etwas distanzierter schauen können.“

Die Lehrperson sieht bei der Auseinandersetzung mit Umweltthemen in historischer Perspektive den Vorteil der zeitlichen Distanz. Entsprechende Themen27 ohne Aktualitätsbezug zu diskutieren, kann bei SchülerInnen Offenheit fördern und auf diese Weise einen neuen Erkenntniszugang ermöglichen. Diese Sicht des Lehrers steht im Einklang mit den Vorteilen, die auch der Geschichtsdidaktiker Bernd-Stefan Grewe der umwelthistorischen Perspektive für den Unterricht zuschreibt: „Der zeitliche Abstand [schafft] eine kritische Distanz zum Gegenstand, sodass aus Beurteilungen einer historischen Situation nicht automatisch Verhaltenserwartungen für die Gegenwart erwachsen. Die Vergangenheit ist nicht mehr veränderbar (nur ihre Interpretation). Wenn die Schülerinnen und Schüler nach der historischen Analyse eigene Werturteile entwickeln, hat dies keine unmittelbaren Konsequenzen für ihr – in vielen Unterrichtssituationen zumindest implizit gefordertes – Handeln in der Gegenwart. Dies begünstigt eine unvoreingenommene Haltung (auch der engagierten Lehrer) gegenüber dem studierten Gegenstand.“28

Einen weiteren Aspekt, den der interviewte Lehrer als Vorteil für die Umweltgeschichte stark macht, formulierte er wie folgt: „Ich verspreche mir davon im Wesentlichen nochmal ein umfassenderes Konzept für die Sicht des Menschen an sich und die conditio humana letztlich an sich. […] Den Menschen nur zu reduzieren auf Politikgeschichte, das ist es nicht, ihn jetzt als homo oeonomicus zu begreifen, ist es letztlich auch nicht. Sondern ich glaube schon, dass da hinter ein ganz allgemeines geschichtliches theoretisches Konzept stecken könnte, das sich lohnt auch nochmal deutlicher zu verfolgen. […] Also inwieweit letztlich der Mensch seine Umwelt prägt und damit wieder Voraussetzungen für nachfolgende Generationen schafft […].“

In diesem Interviewausschnitt wird deutlich, dass der Lehrperson der geschichtswissenschaftliche Diskurs zur Umweltgeschichte nicht geläufig ist. Trotzdem kann sie sich die theoretische Auseinandersetzung der MenschNatur-Beziehung in historischer Perspektive vorstellen und erachtet die umwelthistorische Perspektive als notwendig, um das Menschenbild zu erweitern. 27 Hier ist der Fokus wahrscheinlich auf Umweltprobleme gelegt. 28 Vgl. GREWE, Umweltgeschichte unterrichten, S. 3.

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Die Lehrperson stellt hier die umwelthistorische Perspektive gleichberechtigt neben die politische und wirtschaftliche und verdeutlicht, dass eine umwelthistorische Sicht zum Verständnis des Menschen in der Welt beiträgt. Es zeigt sich, dass Lehrpersonen durchaus einen Zugang zur Umweltgeschichte haben, auch in Form von metakognitiven Konzepten, es ihnen aber aufgrund des fehlenden Fachwissens häufig schwer fällt, diesen zu konkretisieren.

3.

Ansätze für die Bildung von Leitlinien

Ein wesentlicher Grund, weshalb die umweltgeschichtliche Perspektive im Geschichtsunterricht selten thematisiert wird, liegt darin, dass die Dimension keinen selbstverständlichen Aspekt des curricularen Verständnisses von LehrerInnen darstellt. Voraussetzung für eine Veränderung dieses Verständnisses stellt der systematische Aufbau von Grundlagenwissen dar. Denn prägend für Unterrichtsentscheidungen ist das Content Knowledge (knowing that) von Lehrpersonen zu einem Thema. Damit Umweltgeschichte zu einem selbstverständlicheren Gegenstand des Unterrichtens und zugleich des historischen Lernens bei SchülerInnen werden kann, muss sie langfristig stärker in die universitäre Ausbildung angehender LehrerInnen integriert werden, sodass Anknüpfungspunkte über die in den Curricula vorgegebenen Themen transparenter werden. Der Anreiz, Umweltgeschichte zu studieren und zu lehren sowie LehrerInnenfortbildungen zum Thema zu besuchen, würde gegeben sein, wenn sie prüfungsrelevant werden würde, zum Beispiel im Rahmen der Themenzuweisungen für das schriftliche oder mündliche Abitur. Fortbildungen zur Umweltgeschichte sollten beim impliziten Wissen der LehrerInnen ansetzen und berücksichtigen, dass der Zugang zu umweltgeschichtlichen Themen in einem ersten Schritt über das Alltagsverständnis erfolgt und sich entsprechende Themen weniger intentional erschließen. Im Nachdenken über Umweltgeschichte sollten Lehrpersonen in kognitive Konflikte (Umweltgeschichte ist nicht nur eine Geschichte der Umweltprobleme) geraten, sodass sie ihre vorhandenen Vorstellungen zur Dimension erweitern und eine Art Conceptual Growth oder Enrichment eingeleitet werden kann. Die Erziehungswissenschaftler um George J. Posner haben vier Bedingungen formuliert, die als Voraussetzungen für Vorstellungsveränderungen gelten können.29 In Bezug auf diese Studie bedeutet dies, dass die Lehrenden, hier als Lernende zu verstehen, am besten in der selbstreflexiven Auseinandersetzung erkennen, dass ihre bisherigen Vorstellungen (oder Konzepte) nicht genügend Antworten auf das Themenfeld „Umweltgeschichte unterrichten“ geben. So schafft die ‚Unzu29 Vgl. GEORGE J. POSNER U. A., Accommodation of a scientific conception: Toward a theory of conceptual change, in: Science Education 66, 1982, S. 211-227.

LehrerInnenvorstellungen

189

friedenheit‘ darüber einen Anreiz, sich weiter informieren zu wollen. Erscheinen die erweiterten Vorstellungen ‚logisch und verständlich‘, vor allem aber ‚plausibel‘, d. h. ist nachvollziehbar, wie, wann und wo die neuen Erkenntnisse im Unterricht eingesetzt werden können, könnten künftige Unterrichtsentscheidungen Umweltgeschichte bewusst einschließen. Darüber hinaus muss sich ein solcher Einsatz bei SchülerInnen als ‚fruchtbar‘ erweisen, um verstetigt zu werden. Inhaltlich sollten Fortbildungen zur Umweltgeschichte einen breiten Überblick darüber geben, welche Themen und Fragestellungen sich hinter dieser Disziplin verbergen, zugleich aber konkret Bezug zum Curriculum nehmen und aufzeigen, wie Umweltgeschichte in den Schulalltag integriert werden kann. Hierfür erscheinen in erster Linie die Themen als lohnenswert, die sich als Einzel- oder Doppelstunde in eine Unterrichtseinheit integrieren lassen, weniger die größeren Projektthemen oder der lokal- und regionalgeschichtliche Ansatz, so der Eindruck aus den Interviews. Auch sollte in Fortbildungen deutlich werden, dass mit der Thematisierung von Umweltgeschichte keine ‚revolutionären‘ Eingriffe in bewährte Unterrichtskonzepte verbunden sind. Vielmehr sollte der ‚Mehrwert‘ der Dimension als eine ergänzende Perspektive historischen Denkens zum Verständnis des Menschen in der Welt transparent gemacht werden.

 

B R I T T A W E H E N -B E H R E N S

„Früher hat man mit der Umwelt gelebt, heute lebt man über ihr“ – SchülerInnenvorstellungen zur Geschichte der Umwelt 1.

Erkenntnisinteresse

Im vorliegenden Beitrag werden zentrale Ergebnisse einer explorativen Studie zu SchülerInnenvorstellungen zur Umweltgeschichte vorgestellt. Die Daten wurden im Rahmen des Projektes „Mensch und Umwelt – Pilotprojekt zur Vernetzung von Forschung, museologischer Dokumentation und Didaktik“ gewonnen, das von 2009 bis 2012 an den Universitäten Oldenburg und Osnabrück, dem Niedersächsischen Freilichtmuseum Museumsdorf Cloppenburg sowie zwei beteiligten Kooperationsschulen durchgeführt wurde. Die titelgebende Aussage („Früher hat man mit der Umwelt gelebt, heute lebt man über ihr.“) stammt von einem am Projekt beteiligten Neuntklässler einer Integrierten Gesamtschule und verbalisiert in mehrfacher Hinsicht typische Vorstellungen zur Geschichte der Umwelt: Im ersten Teil des Satzes wird ausgedrückt, dass der Mensch („man“) „früher“ im Einklang „mit der Umwelt“ lebte und es insofern ein harmonisches Gleichgewicht zwischen Mensch und Umwelt gab. Da die am Projekt beteiligten SchülerInnen sich vorwiegend mit umweltgeschichtlichen Themen der Frühen Neuzeit beschäftigten, kann davon ausgegangen werden, dass „früher“ sich auf diesen Zeitraum bezieht und vor der Industrialisierung als wichtige Zäsur des Mensch-Umwelt-Verhältnisses liegt. Der zweite Satzteil konstruiert einen Gegensatz zu dieser Zeit: Nach Meinung des Schülers gibt es gegenwärtig kein harmonisches Gleichgewicht mehr, stattdessen hat sich der Mensch über die Umwelt erhoben. Da beide Satzteile in einem Kontrast zueinander stehen, deutet der zweite Teil darauf hin, dass die gegenwärtige Entwicklung negativ bewertet wird. Im vorliegenden Beitrag wird erörtert, inwiefern es sich bei dieser Aussage um ein typisches Denkmuster von Jugendlichen zum Thema Umweltgeschichte handelt und ob sich diese Vorstellung im Laufe des durchgeführten Projektes veränderte.

2.

SchülerInnenvorstellungen

Unter „(SchülerInnen-)Vorstellungen“ oder conceptions versteht die fachdidaktische Forschung lebensweltliche Begriffe, Konzepte und Theorien, mit denen sich Sachverhalte erklären lassen und die meist im Alltag erworben wurden und

192

Britta Wehen-Behrens

sich bewährt haben.1 Daher sind sie meist ausgesprochen stabil und bleiben „oft auch neben den schulisch erworbenen, wissenschaftsförmigen Vorstellungen bestehen“.2 Vorstellungen werden so durch Wissen aus dem Unterricht, medialen Erfahrungen, Eindrücken aus Familiengesprächen etc. gebildet.3 Dem Interesse an diesen conceptions liegt die Annahme zugrunde, dass SchülerInnen, sinnbildlich ausgedrückt, nicht als unbeschriebene Blätter in den Unterricht kommen. Sie bringen vielfältige Alltagsvorstellungen und -konzepte bzw. Denkweisen und Erklärungsmuster mit. Diese entsprechen allerdings oft nicht dem (geschichts-)wissenschaftlichen Verständnis der Begriffe und Konzepte. Die empirische Forschung hat ermittelt, dass sich SchülerInnenvorstellungen häufig als sehr resistent erweisen, selbst durch jahrelangen Unterricht sind sie kaum zu ändern.4 Ein prägnantes Beispiel hierfür ist die Vorstellung vom ‚finsteren‘ bzw. ‚rückschrittlichen‘ Mittelalter, die sich fachwissenschaftlich nicht halten lässt (und im Geschichtsunterricht so auch wohl kaum vermittelt wird), jedoch von breiten Bevölkerungsschichten und zahlreichen SchülerInnen geteilt wird. Vielfach bestehen daher Alltagswissen und Schulwissen nicht nur unverbunden nebeneinander, die SchülerInnen greifen im Geschichtsunterricht auf solche Alltagskonzepte zurück, wenn sie historisch denken. In diesem Zusammenhang wird diskutiert, ob und wie ein Wechsel von den Alltagsvorstellungen hin zu wissenschaftlichen Vorstellungen erfolgen sollte. Hierbei geht es also um die Frage des conceptual change, d. h. um die Frage, wie gedankliche Vorstellungen, Ideen und Begriffe entwickelt oder verändert werden können. Insgesamt geht es aber nicht um einen Wechsel zu ‚adäquaten‘ Vorstellungen, sondern allgemein um die Veränderung vorhandener Vorstellungen bei Lernenden.5 Für letzteres wird der Begriff des conceptual enrichment ver1

2 3 4 5

Vgl. ACHIM JENISCH, Erhebung von Schülervorstellungen zu historischem Wandel und curricularen Konsequenzen, in: SASKIA HANDRO / BERND SCHÖNEMANN (Hrsg.), Geschichtsdidaktische Lernplanforschung. Methoden – Analysen – Perspektiven, Münster 2004, S. 265-276, hier S. 265; HILKE GÜNTER-ARNDT, Historisches Lernen und Wissenserwerb, in: DIES. (Hrsg.), Geschichtsdidaktik. Praxishandbuch für die Sekundarstufe I und II, Berlin 2009, S. 23-47. Neben dem fachdidaktischen Begriff „Schülervorstellungen“ werden zur Beschreibung dieser Konzepte zahlreiche andere Begriffe verwendet wie Alltagstheorien bzw. naive, subjektive oder implizite Theorien, Vorverständnis, Vorwissen, Präkonzepte oder Fehlvorstellungen. Im vorliegenden Beitrag wird der Terminus „Schülervorstellungen“ beibehalten. Ebd., S. 27. Vgl. MARGARITA LIMÓN / LUCIA MASON, Reconsidering conceptual change. Issues in theory and practice, Dordrecht u. a. 2002, S. 264. Vgl. GÜNTER-ARNDT, Historisches Lernen und Wissenserwerb, S. 27. Siehe hierzu u. a. HILKE GÜNTHER‐ARNDT, Conceptual Change Forschung. Eine Aufgabe für die Geschichtsdidaktik?, in: DIES. / MICHAEL SAUER (Hrsg.), Geschichtsdidaktik empirisch. Untersuchungen zum historischen Denken und Lernen, Berlin 2006, S. 251-277 sowie KORNELIA MÖLLER, Genetisches Lernen und Conceptual Change, in: JOACHIM KAHLERT U. A. (Hrsg.), Handbuch Didaktik des Sachunterrichts, Bad Heilbrunn 2007, S. 258-266, hier S. 260.

SchülerInnenvorstellungen

193

wendet. Die bestehenden SchülerInnenvorstellungen sollen demnach nicht vollständig ersetzt, sondern vielmehr angereichert werden, da die Verarbeitung von neuen Informationen wesentlich von den bereits vorhandenen Denkstrukturen beeinflusst wird und neues Verständnis nur aus dem Kontext von verfügbaren Vorstellungen entwickelt werden kann.6 Nur wenn die Vorstellungen von Lernenden bekannt sind, können diese zielgerichtet durch neue Informationen angereichert, modifiziert oder revidiert werden. SchülerInnenvorstellungen sind insofern sehr bedeutsam für das Gelingen von Lernprozessen, da ohne sie gar kein neues Wissen generiert werden kann. Negativ gewendet können sie allerdings auch ein Lernhemmnis darstellen, wenn die Vorstellungen die wissenschaftlich angemessene Aneignung eines Sachverhalts behindern. Ziel historischer Lernprozesse ist der Aufbau und die Förderung eines reflektierten Geschichtsbewusstseins. Nach Karl-Ernst Jeismann umfasst das Geschichtsbewusstsein Inhalte, Denkfiguren, historische Vorstellungen sowie rekonstruiertes Wissen von der Vergangenheit.7 SchülerInnenvorstellungen sind für historische Lernprozesse besonders relevant, da sie einen Teilbereich dieser geschichtsdidaktischen Zentralkategorie darstellen und sich an ihnen erkennen lässt, ob fachdidaktische Ziele erreicht werden.8 Daher war es auch für das Projekt „Mensch und Umwelt“ von zentraler Bedeutung, nicht nur Erkenntnisse über die alltäglichen Vorstellungen der SchülerInnen zur Umweltgeschichte zu gewinnen, sondern auch zu ermitteln, ob sich diese Vorstellungen im Lauf des Projektes veränderten und insofern ein conceptual change bzw. conceptual enrichment initiiert werden konnten. SchülerInnenvorstellungen werden seit den 1970er Jahren systematisch untersucht, zunächst in naturwissenschaftlichen, zunehmend aber auch in geisteswissenschaftlichen Domänen.9 Das intensive Forschungsinteresse ist auf die wiederholte Feststellung zurückzuführen, dass SchülerInnen wissenschaftsförmige Konzepte im Unterricht nicht erwarben. Im Zusammenhang mit konstruktivistischen Lerntheorien rückten verstärkt individuelle Lernvoraussetzungen und Denkweisen in den Fokus.10

6

Vgl. HARALD GROPENGIEßER, Didaktische Rekonstruktion des Sehens. Wissenschaftliche Theorien und die Sicht der Schüler in der Perspektive der Vermittlung, Oldenburg 2001, S. 24. 7 Vgl. KARL-ERNST JEISMANN, Didaktik der Geschichte. Die Wissenschaft von Zustand, Funktion und Veränderung geschichtlicher Vorstellungen im Selbstverständnis der Gegenwart, in: ERICH KOSTHORST (Hrsg.), Geschichtswissenschaft. Didaktik – Forschung – Theorie, Göttingen 1977, S. 9-33, hier S. 12. 8 Vgl. JENISCH, Schülervorstellungen. 9 Vgl. ROBIN STARK, Conceptual Change: kognitivistisch oder kontextualisitsch? Forschungsbericht Nr. 149, München 2002. 10 Vgl. THILO KLEICKMANN, Zusammenhänge fachspezifischer Vorstellungen von Grundschullehrkräften zum Lehren und Lernen mit Fortschritten von Schülerinnen und Schülern im konzeptuellen naturwissenschaftlichen Verständnis, Münster 2008, S. 25.

Britta Wehen-Behrens

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Dennoch liegen nur für die wenigsten historischen Themen empirisch erfasste SchülerInnenvorstellungen vor,11 empirische Befunde zu Vorstellungen zur Umweltgeschichte zählen nicht dazu.12 Bodo von Borries konnte 1992 in einer repräsentativen quantitativen Studie13 zum Geschichtsbewusstsein Jugendlicher zwar auch einige empirische Befunde zum Thema Umweltgeschichte vorlegen, allerdings bezog sich die Erhebung in diesem Bereich auf den Zusammenhang von Geschichte und Umweltproblemen.14 Die vorliegende Studie geht weniger von Umweltproblemen aus, sondern fragt vielmehr nach den Vorstellungen von SchülerInnen zu den Begriffen Umwelt und Natur, zum Mensch-Umwelt-Verhältnis in vorindustrieller und gegenwärtiger Zeit sowie zu Einzelaspekten wie Ernährung, Energie und Landschaft.

3.

Untersuchungsdesign und Stichprobe

Um die aufgeworfenen Forschungsfragen zu beantworten, wurde eine mehrstufige Erhebung durchgeführt, in deren Rahmen qualitative und quantitative Erhebungsmethoden eingesetzt wurden. Forschungspartner bzw. Forschungsobjekte waren die am Projekt „Mensch und Umwelt“ beteiligten SchülerInnen. Die erste Erhebung erfolgte im August 2009 mit Hilfe eines Fragebogens aus offenen und geschlossenen Fragen. Insgesamt wurden 112 SchülerInnen des 7.-12. Jahrgangs zum Verhältnis von Mensch und Umwelt befragt. Die Erhebung wurde im März 2011 im 8.-12. Jahrgang wiederholt, aus organisatorischen Gründen nahmen hieran aber nur 68 SchülerInnen. Einzelne SchülerInnen hoben sich in ihren Antworten teilweise deutlich von ihren MitschülerInnen ab: So zeigten sie sich besonders interessiert an umweltgeschichtlichen Themen oder äußerten besonders differenzierte Vorstellungen zum Mensch-UmweltVerhältnis in der Frühen Neuzeit. Andererseits gab es auch einzelne SchülerIn11 Vgl. JENISCH, Schülervorstellungen. 12 Das österreichische Projekt „Unsere Umwelt hat Geschichte“ lag an der Schnittstelle zwischen heutigen Umweltproblemen, Technik und Geschichte und war auf die Implementierung umweltgeschichtlicher Themen im Unterricht ausgerichtet. SchülerInnenvorstellungen zur Umweltgeschichte wurden nicht gesondert erhoben. VERENA WINIWARTER, Abschlussbericht. Unsere Umwelt hat Geschichte – SchülerInnen auf der Suche nach den Wurzeln unserer Umweltprobleme. Projekt 151/A/Umweltgeschichte, CD-Rom 27.08.2010. 13 BODO VON BORRIES, Das Geschichtsbewußtsein Jugendlicher. Eine repräsentative Untersuchung über Vergangenheitsdeutungen, Gegenwartswahrnehmungen und Zukunftserwartungen von Schülerinnen und Schülern in Ost- und Westdeutschlang, Weinheim 1995. 14 Vgl. BODO VON BORRIES, Didaktische Möglichkeiten und Grenzen der Umweltgeschichte, in: GÜNTER BAYERL / NORMAN FUCHSLOCH / TORSTEN MEYER (Hrsg.), Umweltgeschichte – Methoden, Themen, Potentiale. Tagung des Hamburger Arbeitskreises für Umweltgeschichte, Münster u. a. 1996, S. 309-324.

SchülerInnenvorstellungen

195

nen, die eine weitere Mitarbeit am Projekt deutlich ablehnten. Um den Gründen hierfür nachzugehen und die Vorstellungen der Lernenden zu differenzieren, wurden acht Schülerinnen und Schüler um ein Interview gebeten. Bedauerlicherweise waren jedoch nur zwei Schüler hierzu bereit, die auch in den Fragebögen schon durch ein besonders großes Interesse aufgefallen waren. Weitere Erhebungen ergaben sich aus einzelnen Projektschwerpunkten und -veranstaltungen. Im September 2011 nahmen insgesamt 61 SchülerInnen an einem im Rahmen des Projektes initiierten SchülerInnenkongress teil. Mit Hilfe eines onlinebasierten Fragebogens aus offenen und geschlossenen Fragen wurden sie jeweils vor und nach dem Kongress zu ihren Vorstellungen zu den Kongressinhalten Ernährung, Energie und Landschaft befragt. Dieser Teilerhebung lag ein klassisches Prä-Post-Design zugrunde und konnte insofern besonders gut Aufschluss darüber geben, ob ein conceptual enrichment initiiert werden konnte. Die Auswertung der quantitativen Daten erfolgte mit Hilfe statistischer Verfahren, aus den qualitativen Daten wurde induktiv ein hierarchisches Codesystem erstellt und so oft wie möglich der Wortlaut der SchülerInnen übernommen.15 Im vorliegenden Beitrag kann nur ein exemplarischer Einblick in die umfangreichen Ergebnisse gegeben werden. Ein Schwerpunkt liegt auf den Vorstellungen der SchülerInnen zum Mensch-Umwelt-Verhältnis in vorindustrieller sowie gegenwärtiger Zeit, da diese für die Dimension Umweltgeschichte grundlegend sein dürften. Aus den weiteren Projektschwerpunkten werden außerdem zentrale Erkenntnisse zum Bereich Landschaft diskutiert, da sich die SchülerInnenvorstellungen hierzu nach dem SchülerInnenkongress besonders stark veränderten.

4.

SchülerInnenvorstellungen zu den Begriffen Natur und Umwelt

Grundlegende Definitionen zur Umweltgeschichte gehen davon aus, dass Umweltgeschichte sich mit den Wechselbeziehungen zwischen Menschen und dem Rest der Natur in der Vergangenheit befasst und eine Rekonstruktion von Umweltbedingungen in der Vergangenheit sowie derer Wahrnehmung durch die

15 In der Sprache der empirischen Sozialforschung handelt es sich bei einem Code um eine inhaltliche Kategorie. Das Codieren geschah auf zweierlei Art, zum einen wurde ein im Text vorkommender, besonders aussagekräftiger Begriff als Code definiert, ins Codesystem übernommen und die Textstelle gleichzeitig diesem Code zugeordnet („Invivo“Codieren). Zum anderen wurden einzelnen Textstellen neue Codes zugewiesen, indem der Textstelle ein aussagekräftiger Begriff zugewiesen wurde. Einzelnen Codes zugeordnete Textstellen heißen Codings bzw. codierte Segmente. Siehe hierzu auch unter http://www.maxqda.de/max3/b.htm [20.11.2011].

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damals lebenden Menschen angestrebt wird.16 Zwischen Mensch und Natur sowie Mensch und Umwelt wird eine Differenzierung vorgenommen. „Im Menschenbild der Umweltgeschichte sind Menschen gleichzeitig als Teil und als abgespalten von der Natur konzipiert“,17 sie gehören zur Natur, beobachten sie aber auch gleichzeitig. Der Begriff Natur ist in dieser Hinsicht dialektisch: Für einige bezeichnet der Begriff die vom Menschen losgelöste Tier- und Pflanzenwelt, die anderen fassen den Menschen selbst sowie vom Menschen geschaffene Pflanzenwelten als ‚Natur‘ auf. Diese begrifflichen Unterscheidungen sind keineswegs trivial, erwächst aus ihnen doch die Problematik, dass je nach Auslegung des Begriffs unterschiedliche Aspekte unter Naturschutz fallen können.18 Der Begriff Umwelt wird oftmals synonym zum Begriff Natur verwendet, worauf auch gängige Definitionen in Schulbüchern verweisen.19 Ursprünglich bezeichnete der anthropozentrierte Begriff das natürliche und soziale Umfeld (also mehrere Umwelten) des Menschen. Heute ist es gebräuchlich, mit Umwelt die natürliche Umwelt der gesamten Menschheit zu bezeichnen, mit besonderem Fokus auf die durch den Menschen ausgelösten Wirkungsketten. Mit beiden Begriffen können unterschiedliche Konzepte verknüpft sein: Der Mensch kann als Außenstehender oder Teil der Natur oder aber als zentrales Element betrachtet werden.20 In der Erhebung am Anfang des Projektes brachten die befragten SchülerInnen den Begriff Natur am häufigsten mit einer (vermeintlich) „grünen, unberührten Natur“ in Verbindung (insgesamt 56 Codings bei 117 Antworten). Im überwiegenden Teil der SchülerInnenantworten findet sich diese Vorstellung von Natur als wilder Natur. Ihr werden Wälder und (vermeintliche) Urwälder zugerechnet, bei denen es sich jedoch in aller Regel nicht um ‚wild’ gewachsenen Wälder, sondern um alte Hutewälder21 handelt. Weiterhin lassen sich Codings zur belebten und unbelebten Natur identifizieren, auch wenn diese Begriffe nicht von den SchülerInnen verwendet wurden, stattdessen verwiesen sie etwa auf die Elemente Wasser, Feuer, Erde, Luft sowie Gras und Wiesen, Berge und Steine. Der Mensch wurde nur in einer SchülerInnenantwort konkret genannt. Dies spricht dafür, dass die SchülerInnen Mensch und Natur eher als Gegensätze konstruieren. Auffällig ist außerdem, dass der Begriff affektiv aufgeladen ist. Sieben Codings lassen sich negativen Assoziationen zuweisen (Vermüllung, Kälte, AKW, Naturkatastrophen, Zerstörung, Erderwärmung). Aller16 Vgl. WILLIAM BEINART / PETER COATES, Environment and History. The Taming of Nature in the USA and South Africa, London/New York 1995, S. 1; ROLF SIEFERLE, Rückblick auf die Natur. Eine Geschichte des Menschen und seiner Umwelt, München 1997, S. 17. 17 VERENA WINIWARTER / MARTIN KNOLL, Umweltgeschichte, Köln 2007, S. 24. 18 Vgl. JOACHIM RADKAU, Mensch und Natur in der Geschichte. Historisch-politische Weltkunde, Leipzig 2002, S. 12-14. 19 Vgl. Ebd., S. 14. 20 Vgl. WINIWARTER / KNOLL, Umweltgeschichte, S. 25-26. 21 Bei Hutewäldern handelt es sich um Wälder, die als Weide genutzt wurden.

SchülerInnenvorstellungen

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dings löst der Begriff auch positive Assoziationen aus (Sommer, Urlaub, Freiheit, Liebe und Frohsinn, 12 Codings), die gegenüber den Negativen überwiegen. Der Begriff Umwelt wird von den SchülerInnen durchaus in seiner Gesamtheit gesehen und mit Begriffen wie Welt, Natur und Umgebung erklärt. Weiterhin wird der Begriff in fünf SchülerInnenantworten mit dem Menschen verknüpft und ist ebenso wie der Begriff der Natur affektiv aufgeladen, allerdings ausschließlich mit negativen Assoziationen (Naturkrise, Atomkraft, Umweltzerstörung etc.). Mensch und Natur werden also eher als Gegensatz betrachtet, wobei die Natur überwiegend mit positiven Assoziationen besetzt ist. Zwischen Mensch und Umwelt besteht offenbar ein größerer Zusammenhang, wobei Umwelt ausschließlich mit negativen Assoziationen verknüpft wird. Dieser Befund kann als erstes Indiz dafür gesehen werden, dass der Mensch vorwiegend als ‚Zerstörer’ betrachtet wird.

5.

Fortschrittsskepsis, Öko-Fundamentalismus und umwelthygienischer Ansatz

In der bereits erwähnten Studie zum Geschichtsbewusstsein konnte Bodo von Borries 1992 zeigen, dass bei Lehrkräften die Wahrnehmung von Umweltproblemen ganz im Vordergrund steht und sie hauptsächlich auf die Verschwendung begrenzter Bodenschätze, das Bewältigen entstehender Umweltschäden, den Verlust an Lebensqualität durch Lärm sowie Naturzerstörung durch den Menschen allgemein verweisen. Hieraus entwickelt sich eine grundlegende Fortschrittsskepsis aufgrund der Umweltprobleme als dominantes und konventionelles Deutungsmuster.22 Die befragten Schülerinnen und Schüler schätzen den ökologischen Wandel als besonders radikal ein und teilen die ökologisch fundierte Fortschrittsskepsis vor allem mit steigender Klassenstufe. Mit der Industriellen Revolution verbinden die Schülerinnen und Schüler die intensivste Belastung der Umwelt und die Vergangenheit wird – gewissermaßen folgerichtig – als deutlich naturverbundener betrachtet als die Gegenwart.23 Schülerinnen und Schüler entwerfen demnach also offenbar ein idealisiertes bzw. ‚romantisches‘ Bild der Vergangenheit, in der die Menschen im Einklang mit der Natur lebten. Die vorindustrielle Zeit wird als Gegenmodell zum Industriezeitalter mit seinen massiven Umweltzerstörungen gesehen.24 Dieses ursprünglich von Rolf Sieferle als umwelthygienischer Ansatz bezeichnetes Muster enthält normative Vorstellungen eines harmonischen Gleichgewichts der Natur, 22 Vgl. BORRIES, Didaktische Möglichkeiten, S. 311. 23 Vgl. Ebd., S. 311-313. 24 Vgl. BERND-STEFAN GREWE, Umweltgeschichte unterrichten: Frustrationen und Fallstricke, lohnende Perspektiven und Leitlinien, in: UTE GRÖNWOLDT (Red.), Recycling, Bonn 2006, S. 1-15.

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das vom Menschen gestört wird. Auch die frühen Umwelthistoriker gingen nach diesem Ansatz vor und stellten die Geschichte der Menschheit als Dauerkrise der Mensch-Natur-Beziehung dar, deren Intensität zunahm und sich insbesondere in den Umweltfolgen der Industrialisierung zeigte. Dieses Denkmuster prägte auch den Unterricht auf entscheidende Weise und kann helfen, die Entstehung der Schülernnenvorstellungen zu erklären.25 Die am Projekt „Mensch und Umwelt“ beteiligten SchülerInnen wurden unter anderem zu ihrer Einschätzung der Mensch-Umwelt-Beziehung in vorindustrieller Zeit und Gegenwart befragt. Von 68 SchülerInnen gaben über 60 Prozent an, dass die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt heute schlechter sei als vor 200 Jahren. Über 23 Prozent stuften das Verhältnis als viel schlechter, mehr als 37 Prozent als etwas schlechter und nur etwa 23 Prozent als etwas besser bzw. knapp 12 Prozent als viel besser ein. Diese Ergebnisse spiegeln das idealisierte und romantische Bild der Vergangenheit und der vorindustriellen Zeit als Gegenmodell zur Gegenwart wider – der heutige menschliche Einfluss auf die Umwelt wird stark negativ eingeschätzt: Der Mensch der Gegenwart belaste und zerstöre die Umwelt, während der menschliche Einfluss auf die Umwelt in der Frühen Neuzeit äußerst positiv eingeschätzt wird. Das prägende Denkmuster der SchülerInnen am Beginn des Projektes scheint dem umwelthygienischen Ansatz zu entsprechen. Um die Vorstellungen detaillierter betrachten zu können, wurden die SchülerInnen außerdem um eine Erklärung ihrer Einschätzung gebeten. Gehen die SchülerInnen von einem besseren Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt im Vergleich zur Frühen Neuzeit aus, können sie dies nur schwer begründen. Hauptsächlich werden Erscheinungsformen des Naturschutzes bzw. Auswirkungen eines veränderten Mensch-Umwelt-Verhältnisses beschrieben. Ebenso wird zwar auf ein größeres Umweltbewusstsein in der Gegenwart verwiesen („Mensch achtet heute mehr auf Zustand der Umwelt“), eine Erklärung hierfür findet sich in den SchülerInnenantworten allerdings nicht. Gehen die SchülerInnen von einem schlechteren Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt als vor 200 Jahren aus, begründen sie dies wie folgt: Der Mensch lebe nicht mehr im Einklang mit der Umwelt (18 Codings, darunter früher keine schädliche Industrie, heute größere Schäden, Überfischung, Abholzen des Regenwaldes). Die Beziehung zwischen Mensch und Umwelt habe sich verändert (15 Codings, darunter Mensch kümmere sich nicht mehr um Umwelt, Menschen seien früher stärker auf Umwelt angewiesen gewesen, Mensch habe früher nicht so viele Ressourcen verbraucht). Auch die Einstellung der Menschen zur Natur habe sich gewandelt (9 Codings, darunter. mangelndes Interesse an Problemen der Natur, finanzieller Profit sei wichtiger, gestiegene Ansprü25 Die Ausführungen beziehen sich auf Bernd-Stefan Grewes Überlegungen zu Sieferles Konzept. Inwiefern der umwelthygienische Ansatz auch für heutige Lehrpersonen ein wichtiges Deutungsmuster darstellt, erläutert der Beitrag von Indre Döpcke im vorliegenden Band.

SchülerInnenvorstellungen

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che des Menschen). Die Begründungen folgen damit einem typischen umwelthygienischen Ansatz: Der Mensch bringe das Gleichgewicht der Natur durcheinander. Das inhärente normative Leitbild eines nicht-anthropozentrischen Verhältnisses zur Natur, etwa durch Unterordnung des Menschen unter die Natur, ist allerdings fachwissenschaftlich nicht haltbar und in der Vergangenheit prinzipiell nicht zu identifizieren. So reicht die flächendeckende Umweltveränderung (z. B. durch Brandrodung, Waldweide, Übernutzung von Böden) durch den Menschen schon Jahrtausende zurück.26 Auch die vielfach zum Öko-Vorbild erhobenen Indianer27 sowie andere Naturvölker zeigten nicht nur Respekt vor ‚Mutter Erde‘, sondern veränderten diese beispielsweise durch Brandrodung entscheidend. Zudem müsste dieser „Öko-Fundamentalismus“28 die Geschichte zwangsläufig als Geschichte des Niedergangs und der Naturzerstörung schreiben, da seit Erfindung des Pfluges jeder Entwicklungsschritt gleichbedeutend mit der Zerstörung der Erde wäre. Nicht alle menschlichen Eingriffe in die Erde stellen jedoch Formen der Naturzerstörung dar. Stattdessen liegt es oftmals im Auge des Betrachters, was ökologisch ‚richtig’ ist: Was aus bäuerlicher Sicht um 1800 ein guter Waldzustand war (Hutewald für Viehweide, Niederwald für Brennholz, Plenterwald für Bauholzgewinnung), sah für die Forstreformer, die eine einheitliche Holzproduktion im großen Stil anstrebten, schon fast gar nicht mehr wie ein Wald aus.29 Dennoch scheint der „Öko-Fundamentalismus“ bzw. „umwelthygienische Ansatz“ auch seine positiven Effekte zu haben, da offenbar eine Korrelation zwischen der Einschätzung der Bedeutung des Themas und der heutigen Mensch-Umwelt-Beziehung besteht. Diejenigen SchülerInnen, welche die Mensch-Umwelt-Beziehung eher schlechter einschätzen als vor 200 Jahren, halten das Thema für wichtig. So gaben beispielsweise insgesamt 25 Befragte an, dass Umweltgeschichte eher wichtig sei. Von diesen SchülerInnen glauben 13 an ein etwas schlechteres heutiges Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt als vor 200 Jahren und fünf sogar an ein viel schlechteres Verhältnis. Lediglich sechs schätzen das heutige Verhältnis zwischen Mensch und Umwelt etwas besser und sogar nur ein Schüler viel besser ein. Die Relevanz dieser umweltgeschichtlichen Themen scheinen die SchülerInnen insbesondere in heutigen Umweltproblemen zu sehen. Dies könnte ein Indiz dafür sein, dass sich heutige Umweltprobleme als Ausgangspunkt für die Behandlung im Unterricht eignen, da sie das Interesse der SchülerInnen berücksichtigen. Im fachdidaktischen Diskurs wird zwar gefordert, Umweltgeschichte 26 Vgl. JOACHIM RADKAU, Unbekannte Umwelt, in: Praxis Geschichte 4, 1997, S. 4-10. 27 Vgl. BODO VON BORRIES, Umweltgeschichte. Vergessene Einsichten und neuartige Herausforderungen, in: JÖRG CALLIEß / JÖRN RÜSEN / MEINFRIED STRIEGNITZ (Hrsg.), Mensch und Umwelt in der Geschichte, Pfaffenweiler 1989, S. 353-375, hier S. 367. 28 RADKAU, Unbekannte Umwelt, S. 6. 29 Vgl. Ebd., S. 9.

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nicht länger im Sinne einer ‚Katastrophendidaktik‘ zu unterrichten, da sie sich in der Unterrichtspraxis häufig als sperrig erweist und kaum ergebnisoffene Diskussionen zulässt.30 Doch sind es offenbar vornehmlich die ‚Katastrophen’, die SchülerInnen (zumindest zu Beginn) interessieren. Als erstes Fazit ist festzuhalten, dass sich zu Beginn des Projektes in den Aussagen der SchülerInnen tendenziell Fortschrittsskepsis, Öko-Fundamentalismus bzw. der umwelthygienische Ansatz als prägende Denkmuster spiegeln. Der Mensch lebte also gemäß der SchülerInnen „früher mit der Umwelt“ und heute „über ihr“. Bemüht wird das Bild der ‚guten, alten Zeit‘; die SchülerInnen glauben zu Beginn des Projektes offensichtlich, dass in der vorindustriellen Zeit ‚alles besser‘ gewesen sei. Ein Historizitätsbewusstsein ist damit nicht erkennbar. Umweltprobleme in der Frühen Neuzeit werden, wenn überhaupt, nur von SchülerInnen der Oberstufe angesprochen, die sich bereits im Unterricht explizit mit solchen Themen (wie Konflikten um die Holznutzung) auseinandergesetzt haben. Dies könnte jedoch darauf hindeuten, dass eine Behandlung solcher Themen (wie in der Oberstufe) das romantische Bild der Umweltgeschichte durchaus aufbrechen kann. Zudem legen die Ergebnisse nahe, dass SchülerInnen den anthropogenen Eingriffen, die häufig als Zerstörung gedeutet werden, eine große Bedeutung zuschreiben: Weil sich der Mensch heute negativ auf die Umwelt auswirke, müsse man sich mit dem Thema beschäftigen. Für die SchülerInnen stehen daher Fragen des Umweltschutzes sowie aktuelle Themen und Umweltkatastrophen im Vordergrund.31

6.

Differenzierte Vorstellungen?

Im ersten Teil des titelgebenden Zitats dieses Beitrags spiegelt sich das prägende Denkmuster des umwelthygienischen Ansatzes ebenfalls wider und könnte vermuten lassen, dass die Befunde der repräsentativen Studie von Bodo von Borries zum Geschichtsbewusstsein aus dem Jahre 1992 vollständig bestätigt werden können. Tatsächlich zeigt sich aber, dass die Ergebnisse zu Fortschrittsskepsis der SchülerInnen und idealisiertem Bild der vorindustriellen Vergangenheit differenziert werden müssen. Inwiefern eine intensive Auseinandersetzung mit umweltgeschichtlichen Themen zu einer Anreicherung der SchülerInnenvorstellungen führen kann, lässt sich insbesondere mit den Erhebungen zum SchülerInnenkongress im September 2011 belegen (insgesamt 61 Teilnehmer). Die SchülerInnen arbeiteten 30 FRANK UEKÖTTER, Was ist und zu welchem Ende praktiziert man Katastrophendidaktik? in: Internationale Schulbuchforschung 27, 2005, S. 441-425, S. 423. 31 Die starke Betonung aktueller Katastrophen könnte jedoch auf die Ereignisse in Fukushima ab dem 11. März 2011 zurückzuführen sein, da die für diese Befunde grundlegende Erhebung nur wenige Tage nach dem Reaktorunglück erfolgte.

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zwei Tage intensiv an den Themen Energie, Ernährung und Landschaft und wurden jeweils vor und nach dem Kongress zu diesen thematischen Aspekten, allgemeinen Fragen zur Umweltgeschichte sowie ihrer Einschätzung des Mensch-Umwelt-Verhältnisses vor und nach der Industrialisierung befragt. Vor dem Kongress waren 43,6 Prozent der befragten SchülerInnen der Meinung, dass das Mensch-Umwelt-Verhältnis vor der Industrialisierung viel besser war als heute, 25,5 Prozent gingen davon aus, dass es etwas besser war, 12,7 Prozent dachten, dass es weder besser noch schlechter als heute gewesen sei und lediglich 9,1 Prozent bzw. 1,8 Prozent gaben an, dass es etwas schlechter oder viel schlechter als heute war. Der überwiegende Teil der SchülerInnen geht demnach davon aus, dass die Mensch-Umwelt-Beziehung vor der Industrialisierung erheblich besser war als heute (vgl. umwelthygienischer Ansatz). Nach dem Kongress denken 39,3 Prozent, dass das Verhältnis vor der Industrialisierung viel besser war als heute. Weitere 32,8 Prozent gehen davon aus, dass es etwas besser war, 9,8 Prozent sind der Meinung, dass es weder besser noch schlechter als heute war und lediglich 9,8 Prozent bzw. 6,6 Prozent geben an, dass es etwas schlechter oder viel schlechter als heute war. Im Vergleich zur Erhebung vor dem Kongress hat sich die Anzahl derer, die von einem viel besseren Verhältnis ausgehen, leicht abgeschwächt. Demgegenüber ist der Anteil derer, die an ein etwas besseres Verhältnis glauben, gestiegen. Der Anteil der befragten SchülerInnen, die das Verhältnis viel schlechter bewerten, ist ebenfalls gestiegen. Daher scheinen die SchülerInnen nach dem Kongress deutlicher als davor davon auszugehen, dass das Verhältnis der Menschen zur Umwelt auch schon vor der Industrialisierung belastet war. Das romantisch-verklärte Bild der Vergangenheit konnte bei einigen SchülerInnen somit differenziert werden. Zu den Teilthemen des SchülerInnenkongresses sollten die TeilnehmerInnen angeben, womit sie diese gedanklich jeweils spontan verknüpfen. Nachfolgend werden einige Befunde zum Themenkomplex Landschaft dargestellt, welche die deutlichsten Änderungen aufweisen. Das Codesystem zur Frage, was die Lernenden mit dem Begriff Landschaft assoziieren, ist sehr vielfältig und umfasst zehn übergeordnete Codes sowie 117 Codings. Die meisten hiervon entfallen auf verschiedene Bestandteile von Landschaft wie z. B. Wälder (19 Codings), grüne Wiesen (13 Codings) oder Böden und Felder (10 Codings). Darüber hinaus äußerten einige SchülerInnen auch konkrete Landschaftsformen, z. B. Stadt-, Wohn-, Mond- oder Naturlandschaft oder die Toskana und die Lüneburger Heide. Auffallend ist weiterhin, dass viele SchülerInnen positive Assoziationen mit diesem Begriff verbinden, wie Spaß, Ruhe, Frieden, Weichheit, Schönheit, Freiheit oder Unberührtheit. Zudem lassen sich mehr Codings identifizieren, die von einer ‚natürlich‘ gewachsenen Landschaft ausgehen bzw. Landschaft und Natur gleichsetzen (insgesamt 19 Codings). Fachwissenschaftlich ist jedoch gesichert, dass die natürliche Umgebung die jeweilige Kultur und die Menschen prägt und umgekehrt

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Mensch und Kultur die natürliche Umwelt beeinflussen. Diese Vorstellung ist bei den SchülerInnen nur sehr gering ausgeprägt. Lediglich fünf Textpassagen verweisen auf die Schaffung von Landschaft durch den Menschen. Die Workshops des SchülerInnenkongresses waren darauf ausgerichtet, den TeilnehmerInnen einerseits die Vielfalt von Landschaft zu verdeutlichen und andererseits von ihnen erarbeiten zu lassen, dass Landschaften ein menschliches Konstrukt darstellen. Nach dem Kongress lassen sich die SchülerInnenantworten in vier Codes differenzieren: Zuordnung (mit den Subcodes: alles ist Landschaft, zur Landschaft gehören alle Bodentypen, Landschaft ist nicht Natur, Landschaft ist jede Art von großem Raum) mit insgesamt 24 Codings, Entstehung (mit den Subcodes: vom Menschen geschaffen und natürlich entstanden) mit 16 Codings, subjektive Einschätzung (mit den Subcodes: definiert jeder Mensch für sich, hat viele Bedeutungen, weckt viele unterschiedliche Bilder) mit 17 Codings sowie verschiedene Landschaftsformen (mit den Subcodes: Kulturlandschaft und Naturlandschaft) mit 11 Codings. Bei den Codings sticht hervor, dass sich die meisten Textstellen auf die individuelle Wahrnehmung von Landschaft beziehen (17 Codings). Hinsichtlich der Entstehung wird dem Menschen die größere Bedeutung zugewiesen (11 Codings) als natürlichen Prozessen (5 Codings). Die Antworten unterscheiden sich damit erheblich von den Antworten der ersten Befragung, bei der beispielsweise konkrete Bestandteile von Landschaft genannt wurden, während nach dem Kongress betont wird, dass „eigentlich alles Landschaft“ sei und die Einschätzung ohnehin im Auge des Betrachters läge. Landschaft und vom Menschen geschaffene Kultur werden damit nicht mehr als Gegensatz aufgefasst und entsprechen eher neueren umwelthistorischen Forschungsannahmen. Ebenfalls werden keine affektiven Assoziationen oder Gefühle mehr beschrieben und die SchülerInnen antworten sehr viel konkreter als noch bei der ersten Befragung. Explizit nach der Entstehung von Landschaft befragt, äußerten die SchülerInnen vor dem Kongress Erklärungen, die in zwei Gruppen bzw. Codes geordnet werden können, „natürliche Prozesse“ bzw. „durch den Menschen entstanden“. Insgesamt konnten für diese Frage 52 Codings identifiziert werden. Hiervon entfielen 19 Codings auf Antworten, die eine Entstehung durch den Menschen in den Vordergrund rücken. Die übrigen Codings können dem Code „durch natürliche Prozesse“ zugeordnet werden. Diese umfassen die Subcodes Eiszeiten (3 Codings), Lage (2 Codings), Bodentypen (2 Codings), Klima (4 Codings), Erosion (1 Coding) und Vegetation (2 Codings) als relevante Faktoren für die Entstehung von Landschaft. Besonders auffallend ist, dass sich fast zwei Drittel der Codings auf „natürliche Prozesse“ als Ursache für die Entstehung von Landschaft identifizieren lassen. Damit wird deutlich, dass SchülerInnen mit Landschaft vorwiegend Natur assoziieren, was sich mit den vorherigen Befunden deckt.

SchülerInnenvorstellungen

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Nach dem Kongress können die Antworten zur Frage, wie Landschaft entsteht, in drei Codes differenziert werden. Dabei halten sich Eingriffe durch den Menschen und natürliche Prozesse fast die Waage: menschliche Eingriffe werden in 34 Textstellen betont, während in 33 Textstellen natürliche Prozesse als Grund für die Entstehung von Landschaft angeführt werden. Außerdem werden diese Aspekte von den meisten SchülerInnen in einem Atemzug genannt. In den Textstellen zu natürlichen Prozessen finden sich ähnlich wie bei der vorherigen Frage Hinweise darauf, dass Landschaft eigentlich schon immer da gewesen sei und sich laufend verändert habe. Daneben tritt mit dem Verweis auf individuelle Empfindungen bzw. Auffassungen zur Entstehung von Landschaft eine weitere Gruppe, der allerdings nur wenig Codings zugeordnet werden können (2 Codings). Vergleicht man die Ergebnisse mit den Antworten zur ersten Befragung, fällt auf, dass nunmehr keine konkreten natürlichen Prozesse genannt werden, die Landschaften entstehen ließen (wie etwa die Eiszeiten). An deren Stelle rücken Angaben zur Allgegenwart und Dynamik von Landschaft. Gänzlich neu ist der Verweis auf individuelle Wahrnehmungsmuster von Landschaft. Damit erkennen die SchülerInnen, dass es unterschiedliche Perspektiven auf Landschaft gibt und diese Perspektiven entscheidend dazu beitragen, ob der Betrachter Landschaften als ‚schön‘ bzw. in ‚gutem Zustand‘ wahrnimmt oder als ‚zerstört‘ bzw. in einem ‚schlechten Zustand‘. Durch die Arbeit im Projekt konnten die SchülerInnenvorstellungen also durchaus angereichert werden, was auch die nachfolgenden Auszüge aus Interviews mit SchülerInnen dokumentieren.

7.

Differenzierte Vorstellungen in SchülerInneninterviews32

Was bringt einem der Blick in die Geschichte der Umwelt? Hierauf fanden die SchülerInnen wichtige Antworten: L: „Daraus lernt man ja. Man lernt ja, was man damals falsch gemacht hat und was man verbessern muss, z. B. auch…“ J: „Und auch, was man richtig gemacht hat. Damals hatte man ja Holznot und darüber ist man ja auch weggekommen. Und dann kann man heutzutage gucken, wie die da gehandelt haben und wie man das heute machen kann. Selbst wenn sich die Probleme ja unterscheiden, aber man kann schon gucken, wie das damals gelöst wurde. Die Probleme ähneln sich ja. Und wenn die das damals nicht richtig gemacht haben, kann man sehen, wie man das nicht machen sollte.“

32 Die Interviews standen anders als die vorher skizzierten Ergebnisse nicht im Zusammenhang mit dem projektinitiierten SchülerInnenkongress. Ferner handelt es sich bei den hier vorgestellten Auszügen um ein Interview, das mit besonders engagierten und am Projekt interessierten SchülerInnen durchgeführt wurde.

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Schüler L äußert hier, dass man „damals“ bestimmte Dinge „falsch gemacht“ habe. Hinter dieser Aussage scheint keineswegs die Vorstellung zu stecken, dass der Mensch in der vorindustriellen Zeit in harmonischem Einklang mit der Natur lebte. Stattdessen werden an dieser Stelle historische Probleme im MenschUmwelt-Verhältnis angedeutet. Grundsätzlich beziehen sich die SchülerInnen mit ihren Aussagen zwar auf frühere Umweltzerstörungen, haben allerdings nicht nur ‚Katastrophen‘ im Sinn. Vielmehr sieht Schüler J, dass die Menschen „früher“ auch über bestimmte Probleme „weggekommen“ seien (auf die Diskussion um die angebliche Holznot im 18. Jahrhundert soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden). Damit wird auch einem naiven Öko-Optimismus33 widersprochen, demzufolge sich die Natur vielleicht schon irgendwie selbst helfen könne: Der Schüler erkennt, dass die Geschichte auch zahlreiche Beispiele für Systeme einer nachhaltigen Nutzung natürlicher Ressourcen bereithält, aus denen man lernen könne.34 Insofern spricht die Textpassage dafür, dass die SchülerInnen einen durchaus differenzierten Blick auf die Mensch-Umwelt-Beziehung in der Vergangenheit haben und eindimensionale Erklärungsmuster in Form von „seit der Industrialisierung zerstört der Mensch die für ihn lebensnotwendige Umwelt“ (wie sie vorwiegend zu Beginn dieses Beitrags skizziert wurden) nicht die einzigen sind, die im Repertoire der SchülerInnenvorstellungen zu identifizieren sind. Zudem wird deutlich, dass nicht zwangsläufige Verhaltenserwartungen für die Gegenwart abgeleitet werden können, da der Schüler darauf verweist, man müsse „gucken wie man das heute machen kann“. Im Ansatz ist darin auch die Vorstellung enthalten, dass historische Analogien erst noch geprüft werden müssen und aufgrund der beispiellosen Geschwindigkeit anthropogener Transformationsprozesse nicht ohne Weiteres auf die Gegenwart übertragen werden können.35 Die Überlegungen zur Mensch-Umwelt-Beziehung werden im weiteren Verlauf des Interviews differenziert: „L: Ich würde sagen, dass es schon näher beieinander lag als heute. Heute ist das alles mit den Maschinen, da steht immer was dazwischen. Und früher da haben die Menschen selbst gearbeitet und haben sich auch mit der Umwelt beschäftigt und mit der Umwelt direkt gearbeitet. J: Früher hat man miteinander gelebt und heute lebt man über der Umwelt. Man kann die Umwelt formen und früher war das im Gleichgewicht. Aber ich denke, dass man die Umwelt früher zwar geschätzt hat, aber weniger darüber nachgedacht. Und heute weiß ja 33 Der Begriff wurde in Deutschland zuerst geprägt von DIRK MAXEINER / MICHAEL MIERSCH, Öko-Optimismus, Düsseldorf 1996. Öko-Optimismus wendet sich gegen irrationale Ängste und dogmatischen Pessimismus in der Umweltdiskussion. In naiven Varianten wird hieraus die Schlussfolgerung gezogen, dass sich die Umweltbelastungen auch ohne menschliches Zutun von selbst bereinigen. 34 Vgl. auch RADKAU, Unbekannte Umwelt, S. 7. 35 Vgl. BORRIES, Didaktische Möglichkeiten.

SchülerInnenvorstellungen

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jeder, dass zum Beispiel viel Auto fahren schädlich ist. Früher hat man sich keine Gedanken gemacht, da gab es das Problem auch nicht, dass die Umwelt so stark geschädigt wurde. Also vielleicht hatte mal ein Fluss keine Fische, aber die Probleme waren nicht so groß wie heute.“

Schüler L sieht in der Gegenwart einen größeren Abstand zwischen Mensch und Umwelt als vor der Industrialisierung. An dieser Stelle ist ein leichter ‚Rückfall‘ in das Erklärungsmuster der ‚guten, alten Zeit‘ zu erkennen (schließlich beschäftigt sich der Mensch ja auch heute mit der Umwelt!). Dies verdeutlicht, wie schwer Alltagsvorstellungen häufig differenziert werden. Zwar ist die Erklärung des Wandels mit technisch-maschinellen Neuerungen durchaus korrekt, dieser Wandel wird jedoch vornehmlich negativ betrachtet. Auch bei Schüler J rückt der umwelthygienische Ansatz vom Gleichgewicht in der Natur, das durch den Menschen gestört wurde, an dieser Stelle wieder in den Vordergrund. Er verweist allerdings, dass man „früher“ weniger über die Umwelt nachgedacht habe, was auf ein größeres Bewusstsein in der Gegenwart schließen lässt. Zudem verweist J darauf, dass die heutigen Dimensionen von Umweltproblemen gestiegen seien und größere Auswirkungen hätten. Diese Vorstellung deckt sich mit neueren Forschungsergebnissen und verdeutlicht, dass erst der historische Rückblick die Dimensionen und Beispiellosigkeit der vom Menschen bewirkten Umweltveränderungen der letzten Jahrzehnte zeigt. Insofern hat Schüler J das „umwelthistorische Lernziel Nr. 1“36 nach den Projektveranstaltungen erkannt.

8.

Fazit und Ausblick auf Unterrichtsansätze

Zu Beginn des Projekts deuteten die SchülerInnen das Verhältnis von Mensch und Umwelt in aller Regel klischeehaft: Vor der Industrialisierung lebten die Menschen im Einklang mit der Natur, seitdem tritt der Mensch mehr und mehr als Zerstörer der Natur auf. In den SchülerInnenvorstellungen war das Alltagskonzept des umwelthygienischen Ansatzes somit deutlich erkennbar. Viele SchülerInnenantworten waren affektiv aufgeladen, woraus die SchülerInnen allerdings auch Motivation für umweltgeschichtliche Themen zogen. Entgegen fachdidaktischer Forderungen, nicht von Katastrophen auszugehen, scheinen diese aufgrund ihres großen Motivationspotentials zumindest ein geeigneter Ausgangspunkt für umwelthistorische Fragestellungen zu sein. Im Verlauf des Projektes konnte jedoch festgestellt werden, dass die Vorstellungen der SchülerInnen zunehmend differenzierter ausfielen und insofern ‚angereichert‘ wurden. Umweltprobleme wurden nicht mehr nur der Gegenwart, sondern auch dem vorindustriellen Zeitalter zugewiesen. Hierin drückt sich allerdings keine allgemeine Geschichte des Niedergangs aus, da die SchülerInnen 36 RADKAU, Unbekannte Umwelt, S. 9.

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auch auf Ansätze einer nachhaltigen Nutzung der Umwelt verwiesen sowie ansatzweise auf die Perspektivengebundenheit bei der Frage, wie die Umwelt überhaupt auszusehen habe. Für einen schülerInnenorientierten Zugang zu umweltgeschichtlichen Themen bieten sich auf Grundlage der vorliegenden Ergebnisse insbesondere Vergleiche zwischen ‚früher‘ und heute an, um eine differenzierte Sicht auf die Mensch-Umwelt-Beziehung zu erhalten. Dabei können die Alltagsvorstellungen der SchülerInnen zum Ausgangspunkt genommen werden, um sie nach der unterrichtlichen Erarbeitung zu reflektieren und mögliche Veränderungen bewusst wahrzunehmen.37 Besonders beeindruckt sind die SchülerInnen außerdem von Inhalten, die sie zum Hinterfragen und Nachdenken, auch über eigene Lebensgewohnheiten, anregen. Dies betrifft insbesondere das Thema der Ernährung und die globalen Zusammenhänge von Konsum, Nahrungsmittelproduktion und Wirtschaft. Weiterhin äußern die SchülerInnen Interesse an lokalen Themen, die ihnen einen ‚neuen Blick‘ auf bekannte Phänomene ermöglichen, wie zum Beispiel die Thematisierung von Landschaft in der eigenen Umgebung. Es gilt gewissermaßen, faszinierende umweltgeschichtliche Phänomene zu behandeln, die auf den ersten Blick ‚normal‘ zu sein scheinen. Von den SchülerInnen wurden in diesem Zusammenhang beispielhaft Fachwerkhäuser angeführt.38 Diese sind den SchülerInnen aus dem Alltag bekannt und vertraut. Der enorme Holzbedarf, der beim Bau von Fachwerkhäusern nötig ist, war jedoch für die meisten SchülerInnen neu und in seinen Dimensionen sehr beeindruckend, was zu weiteren Fragen anregte. Insofern könnte das Motto für Umweltgeschichte im Unterricht „Ein neuer Blick auf alte Themen“ lauten und erneut die Möglichkeit bieten, den alltäglichen Vorstellungen der SchülerInnen nicht nur Raum zu geben, sondern den Unterricht sogar von ihnen ausgehend zu strukturieren und sie am Ende auch hinsichtlich ihrer Änderungen bewusst zu reflektieren. In diesem Punkt weisen die Ergebnisse darauf hin, dass geschichtsdidaktische Forderungen bezüglich umweltgeschichtlicher Themen nach einer Fokussierung auf Beziehungen von Mensch und Umwelt insgesamt (statt einer Betonung von Umweltproblemen) sowie Interessen und Fragen von SchülerInnen nicht nur zusammentreffen, sondern auch zu einer Revision und Anreicherung bisheriger Vorstellungen führen können.

37 Vgl. NILS FREYTAG, Deutsche Umweltgeschichte – Umweltgeschichte in Deutschland. Erträge und Perspektiven, in: HZ 283, 2006, S. 383-407, hier S. 406-407. 38 Die am Projekt beteiligten Schülerinnen und Schüler berechneten im Technikunterricht den Holzbedarf für den Bau von Fachwerkhäusern und stellten diesen in maßstabsgerechten Modellen dar.

KERSTIN WAGENER

Umweltgeschichtliche Perspektiven im Freilichtmuseum: Über lernbezogene und ästhetische (Un-)Möglichkeiten Auf der Suche nach geeigneten Orten und Gegenständen für die Vermittlung umweltgeschichtlicher Inhalte – besonders wenn es sich um solche im ländlichen Raum handelt – stößt man schnell auf die Institution Freilichtmuseum.1 Wenn man Umweltgeschichte als die Geschichte der Wechselbeziehungen zwischen Mensch und Natur versteht2, sind Freilichtmuseen als intentionale Lernorte geradezu prädestiniert, diese Kausalitäten zu fokussieren und zu präsentieren. Hierfür sprechen verschiedene Gründe: 1. Freilichtmuseen haben eine lange Tradition der Konservierung und Erforschung von Objekten als manifeste Resultate von Mensch-Natur-Beziehungen. Das ursprüngliche Ziel von Freilichtmuseen, (meist ländliche) Gebäude, deren Innenleben und Umfeld vor dem Verfall und Verlust zu bewahren, musste zwangsläufig zu einer Beschäftigung mit deren mittel- und unmittelbaren Strukturen sowie deren landschaftsspezifischen Entstehungskontexten führen. 2. Umweltgeschichtliche Themen liegen im Freilichtmuseum quasi vor der Haustür. Sie müssen lediglich definiert, kommentiert und gerahmt werden; in kultur- oder naturhistorischen Museen oder expliziten Umweltausstellungen müssen umweltgeschichtliche Präsentationen oft erst mühsam konstruiert werden. Freilichtmuseen hingegen haben durch ihre gattungsspezifische Art der Präsentation in kontextbezogenen Gebäudeensembles und Landschaftselementen bereits ein großes vorhandenes Potential, umweltgeschichtliche Fragestellungen anschaulich, konkret, umfassend und im interdisziplinären Verbund mit sozial-, kultur- und naturgeschichtlichen Perspektiven zu vermitteln. 3. Eine zukünftig intensivere Beschäftigung mit umweltgeschichtlichen Perspektiven birgt für die Institution Freilichtmuseum die große Chance, die Fixierung auf die Sachkultur (in einer zumeist technisch bzw. typologisch orientierten Systematik) zu erweitern und den Blick deutlicher auf die dynamischen Prozesse und Wechselbeziehungen von Geschichte zu richten. – Umweltgeschichte fragt nach dem WARUM – nicht nur nach dem WIE: Warum sehen menschliche 1

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Dieser Beitrag ist vor dem Hintergrund der derzeitigen (Juni 2013) Konzeptentwicklung für die Darstellung und Gestaltung umweltgeschichtlicher Themen im Museumsdorf Cloppenburg zu sehen. Konzept/Gestaltung: Museumsdorf Cloppenburg/Szenario Ausstellungsgestaltung und Museumsberatung Wolfenbüttel. – Siehe Abbildungen aus dem Ausstellungskonzept am Ende des Beitrags. Vgl. MELANIE ARNDT, Umweltgeschichte, Version: 1.0, in: Docupedia-Zeitgeschichte, 11.02.2010 unter http://docupedia.de/zg/Umweltgeschichte_Version_1.0_Melanie_ Arndt?oldid=68747 [09.06.2013].

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Kerstin Wagener

Produkte und Spuren (Häuser, Werkzeuge, Möbel, Kulturlandschaften, Dorfstrukturen etc.) in dieser Region so anders aus als in einer anderen Region? Wie wirken sich die landschaftlichen Besonderheiten einer Region auf die Lebenswelt und Kultur der von ihr abhängigen Menschen aus? Wie nutzen und verändern Menschen ihre Umwelt, um zu überleben, zu leben und besser zu leben? Die einführend aufgeführten Aspekte sprechen deutlich für eine konstruktive Verknüpfung der Disziplin Umweltgeschichte mit der Institution Freilichtmuseum zugunsten einer Bereicherung und Erweiterung gesellschaftsrelevanter und zielgruppenorientierter Vermittlungsinhalte und -formate. Als Gestalterin möchte ich im Folgenden meinen Fokus besonders auf die lernbezogenen und ästhetischen Gesichtspunkte der Vermittlung von Umweltgeschichte im Freilichtmuseum richten. Ich frage danach, wie wir die Dinge im Freilichtmuseum wahrnehmen, wie diese Wahrnehmung gelenkt wird und welche Erkenntnisse sich für Museumsbesucher aus diesen Wahrnehmungsprozessen ergeben sollten. Ich werfe zunächst einen Blick auf den Raum und die Dinge im Freilichtmuseum und komme damit auch zu den Fallstricken der hier spezifischen Präsentationsformen.

1.

In welcher Art Raum bewegen wir uns im Freilichtmuseum?

Genauso wie andere Museen auch, ist das Freilichtmuseum ein Ort des Als-Ob3, eine Simulation von Vergangenheit. Ein „als ob die Magd soeben die Herdstelle verließ“. Ein „als ob Häuser, Gegenstände, Landschafts- und Naturelemente schon immer in diesem Ensemble und an diesem Ort zusammengehörten“. Ein „als ob wir ganz genau wüssten, welche Geschichte dieses oder jenes Ding mit sich bringt“ u. s. w. Das Potential von Freilichtmuseen, Geschichte in einen anschaulichen Kontext zu bringen, birgt die Gefahr, Exponate in Ensembles zu konstruieren, die weder zeitlich noch räumlich zusammengehören, ohne diesen Tatbestand adäquat an die Besucher zu vermitteln. Ich meine, dass diese Konstruktion in Freilichtmuseen weniger auffällt, als in anderen kultur- oder naturhistorischen Museen, weil hier die Vitrinen als deutliche Indikatoren für ‚das museale Objekt‘ fehlen. Schaut man mit dem Blick des Kurators auf die beschriebenen Phänomene, ist dieses zeitliche und räumliche Puzzlespiel der Objekte ein vertrauter Umstand, der die Basis der täglichen Arbeit bildet. Sieht man hingegen mit dem Blick des Besuchers auf die Dinge, scheint das starke Bild des Dorfes und der Landschaft schnell den Eindruck eines homogenen, ungebrochenen Gesamtzusammenhanges zu evozieren. Der Kurator sieht vor sich eine Ausstellung, die im Stil eines Dorfes rekonstruiert ist. Der

3

Zum Begriff „Als-ob“ vgl. MICHAEL FEHR (Hrsg.), Imitationen. Das Museum als Ort des Als-Ob, Köln 1991.

Umweltgeschichtliche Perspektiven im Freilichtmuseum

211

Laie sieht vor sich eine reizvolle Ansammlung von Gebäuden und Landschaftselementen, die sich zum Bild eines idyllischen Dorfes vereinen.

2.

Das Freilichtmuseum als Ort des Als-Ob

Die Simulation als Mittel der Präsentation wirft Fragen auf: (Wie) kann/soll das Bedürfnis eines überwiegenden Teils des Freilichtmuseumspublikums nach nostalgischer Dorfromantik bedient werden und wie können gleichzeitig Erkenntnisprozesse bei den Besuchern angestoßen werden, die sich dem wirklichen Bild des ländlichen Sozialraumes und deren Umweltproblematik weitmöglichst annähern? Wie interessiere ich die Besucher für die Sozialgeschichte hinter und die Umweltgeschichte vor den Fassaden der Häuser? Wie kann ich die Ästhetik des Gesamtbildes des Freilichtmuseums als konstruiertes System transparent machen, ohne dabei die Wirkung der Einzelobjekte zu verzerren und ohne die Besucher zu irritieren? Letztlich: Wie gelingt es, den Bildungsanspruch des Museums mit dem Vergnügen des Ausstellungsbesuches zu vereinen? Das Vergnügen scheint im Freilichtmuseum außerordentlich gut zu funktionieren. Die Besucher kommen zahlreich und auch wiederholt, offensichtlich u. a. weil sie sich im angebotenen Raum gerne bewegen und wohlfühlen. Diese Grundlage bringen bei Weitem nicht alle Museen mit. Die Voraussetzung für aktive und anschauliche Lernprozesse kann also besser nicht sein.

3.

Wie Gestaltung Lernimpulse schafft

In Hinblick auf die Initiierung gelingender Lernprozesse in kultur- und naturhistorischen Museen orientiert sich unser Gestaltungsteam überwiegend am Konzept der Narrativen Ausstellung. In der Narrativen Ausstellung, wie wir sie verstehen, werden die Dinge aus allen Perspektiven untersucht. Dabei geht es zum einen darum, die Geschichten und Kontexte hinter und zwischen den Dingen aufzuspüren und auszuwählen, zum anderen, diese Geschichten in Wort, Bild und Inszenierung in eine adäquate Dramaturgie zu bringen. Die wenigsten Exponate verraten ihre Geschichten selber, sie bedürfen einer Kontextualisierung. Während in wissenschaftssystematisch angelegten Ausstellungen die reine Sachinformation überwiegt, schaffen narrative Ausstellungen interpretierende, assoziative und emotionale Zugänge, die es den Besuchern im besten Fall erlauben, eine emphatische Beziehung zwischen sich und den Objekten zu knüpfen. Genau an dieser Stelle beginnt das Erleben: als Erkennen, oft aber auch nur als vager Eindruck, diese Geschichte hat etwas mit mir zu tun, sie könnte meine Sicht auf die Dinge und die Welt berühren, erweitern und vielleicht sogar mein Denken und Handeln in der Zukunft verändern. In dem Sinn wie es Vaihinger im Zusammenhang mit der Philosophie des Als-Ob beschreibt: „Erkennen

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heißt, Unbekanntes mit Bekanntem zu vergleichen.“4 Narrative Ausstellungen sind der Ausdruck einer pädagogischen und gleichzeitig ästhetischen Haltung, die die Besucher über interpretierende Kommunikationsimpulse aktiv in das Ausstellungsgeschehen einbezieht. Ganz ähnliche konzeptionelle Ansätze finden sich auch in umweltpädagogischen Anwendungsfeldern. Interessant ist in diesem Zusammenhang ein Blick auf die „Heritage Interpretation“, im deutschen Sprachraum als „Natur- und Kulturinterpretation“ geläufig. Dieses Kommunikationskonzept, das sich aus der Bildungsarbeit in amerikanischen Nationalparks entwickelt hat, orientiert sich genauso wie die Vermittlungsarbeit im Museum an Objekten bzw. Phänomenen, anhand derer mit Hilfe der Interpretation Lernprozesse initiiert werden. Die Grundprinzipien der „Heritage Interpretation“ sind unserem Konzept der „Narrativen Ausstellung“ in vielen Punkten ähnlich, dies zeigt eine Auswahl aus den sechs Prinzipien der „Heritage Interpretation“, wie sie 1957 Freemann Tilden formuliert hat: „1. Interpretation bleibt fruchtlos, wenn sie das, was präsentiert werden soll, nicht mit der Persönlichkeit oder den Erfahrungen des Besuchers in Beziehung setzt. 2. Interpretation und Information sind nicht das gleiche. Interpretation ist eine Form der Entdeckung, die allerdings immer auf Fakten beruht. […] 4. Interpretation möchte den Besucher zu eigenem Denken und Handeln herausfordern; es geht nicht darum, ihn zu belehren. 5. Interpretation vermittelt Ganzheiten, nicht Teile. Interpretation nimmt den Besucher dementsprechend auch als ganzen Menschen wahr. […]“5

Das Zitat zeigt einen kleinen aber wesentlichen Ausschnitt der Themen, mit denen sich die „Heritage Interpretation“ beschäftigt; es weist darauf hin, dass sich in diesem Konzept für die Arbeit in Freilicht- und anderen Museen sowie die Vermittlung von Umweltgeschichte weitere anregende Aspekte und Perspektiven finden lassen.

4.

Simulation und Narration: Fünf Thesen

Welche Erkenntnisse lassen sich für die Gestaltung und Vermittlung umweltgeschichtlicher Themen im Freilichtmuseum ableiten? 1. Das Vergnügen des Museumsbesuchs im Gesamtgefüge Freilichtmuseum ist ein Wert an sich und hoch einzuschätzen – und somit wichtige Grundlage für 4 5

Vgl. HANS VAIHINGER, Die Philosophie des Als-Ob, o. O. 1911. FREEMAN TILDEN, Interpreting Our Heritage. Principles and practices for visitors services in parks, museums, and historic places, Chapel Hill 1957. Hier zit. nach THORSTEN LUDWIG, Kurshandbuch Kultur- und Naturinterpretation, Borgentreich 2008, S. 2.

Umweltgeschichtliche Perspektiven im Freilichtmuseum

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jegliches Präsentationskonzept. Die offene und positiv motivierende Lernsituation im Freilichtmuseum bietet auch für die Vermittlung von (manchmal vielleicht sperrigen, schwierigen und ‚unschönen‘) umweltgeschichtlichen Themen eine konstruktive Basis, solange von einer moralischen ‚Zeigefingerpädagogik‘ abgesehen wird. Eine kluge Gestaltung ist in der Lage, auch negativ besetzte Themen inspirierend darzustellen. 2. Eine pädagogische Haltung ist maßgeblich für jegliche besucherorientierte Gestaltung. Die Auswahl der zu vermittelnden Inhalte und Vermittlungsformen ist im Hinblick auf die Zielgruppe fokussiert, prägnant und interpretierend zu wählen. Im Vordergrund steht das ganzheitliche Lernen, das die sinnliche und emotionale Natur- und Kulturerfahrung und das Verständnis der Besucher für die Exponate und Phänomene in Kultur und Natur in einer narrativen Form verbindet. 3. Wenn auch Freilichtmuseen eine ganzheitliche Rezeption mit allen Sinnen befördern, erschließen sich den Besuchern die in den Präsentationen inhärenten Zusammenhänge nicht automatisch von alleine. Das Erzählen (umwelt-) geschichtlicher Themen erfordert in den meisten Fällen eine entsprechende Rahmung der vorhandenen Museumsobjekte durch Texte, hands-on-Exponate, Modelle, AV-Medien, Illustrationen, Inszenierungen etc. Die Konstellation der einzusetzenden Vermittlungselemente ist – besonders im Freilichtmuseum – eine Gratwanderung zwischen Aufdringlichkeit und Unterordnung, die eine eher sparsame und punktuelle Verwendung sowie ein der Situation und Atmosphäre entsprechendes Design in Bezug auf die Material- und Formensprache erfordert. 4. Freilichtmuseen haben die spezifischen Präsentationsebenen eindeutig zu definieren und für die Besucher transparent und unterscheidbar darzustellen: Welche Objekte sind original, welche rekonstruiert, welche inszeniert? Stehen Objekte, Gebäude, Hofanlagen, Landschafts- und Naturelemente in einer authentischen oder in einer (unter didaktischen Gesichtspunkten) inszenierten Beziehung zueinander? 5. Freilichtmuseen arbeiten in einem vielfältigen Netzwerk wissenschaftlicher (Teil-) Disziplinen wie Sozial-, Kultur-, Technik-, Architektur-, Naturgeschichte, Volkskunde, Biologie, Ökologie. Die Umweltgeschichte ist eine Disziplin unter vielen; als solche soll sie nicht als Additiv und separiert von den Fragestellungen der anderen Fachrichtungen präsentiert werden, sondern muss als integrativer Bestandteil des gesamten narrativen Potentials des Museums verstanden und genutzt werden. Ein so verstandenes interdisziplinäres Konzept verhindert ein Sich-Verlieren in fachspezifischen Expertenfragen und befördert eine kontextbezogene Darstellung im Beziehungsgeflecht Mensch – Natur – Kultur. Gerade das Freilichtmuseum verfügt über eine Fülle von Instrumentarien und Optionen, Besucher (und Noch-Nicht-Besucher) mit ihren unterschiedlichen Neigungen, Erfahrungen, Meinungen und Wissenständen anzusprechen und durch die Kenntnis

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und Nutzung ihrer sehr verschiedenen kognitiven und emotionalen Zugänge mit ihnen in einen andauernden und beide Seiten bereichernden Dialog zu kommen.

Abb. 1: Startpunkt der neuen dezentralen Ausstellung „Landschaft und Umwelt“ im Museumsdorf Cloppenburg.

Abb. 2: Rauminstallation zum Thema Landschaftsentwicklung in der neuen dezentralen Ausstellung „Landschaft und Umwelt“ im Museumsdorf Cloppenburg.

Umweltgeschichtliche Perspektiven im Freilichtmuseum

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Abb. 3: Inszenierte Bodenprofile „Podsol“ und „Esch“ in der neuen dezentralen Ausstellung „Landschaft und Umwelt“ im Museumsdorf Cloppenburg.

 

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Das Anthropozän: Wie ein neuer Blick auf Mensch und Natur das Museum verändert Es war bei einer Konferenz in Cuernavaca, Mexiko, im Jahr 2000, als der Atmosphärenchemiker, Nobelpreisträger und damalige stellvertretende Vorsitzende des International Geosphere-Biosphere Programme, Paul J. Crutzen, die laufende Diskussion über Umweltprobleme im Holozän mit dem Einwurf unterbrach: „Stop using the word Holocene. We’re not in the Holocene any more. We’re in the … the … Anthropocene”!1 Kaum jemand im Raum hätte damals geahnt, welche Wirkung Crutzens Forderung nach einer Neubenennung unserer derzeitigen Erdepoche haben würde. Zumal Crutzen nicht, wie häufig angenommen, der Erfinder des Begriffs „Anthropozän“ ist. Bereits im 18. Jahrhundert setzte der französische Naturforscher Georges-Louis Leclerc de Buffon in seiner „Histoire Naturelle“ der ursprünglichen die zivilisierte Natur entgegen und der italienische Geologe Antonio Stoppani sah in der durch den Menschen und seine Aktivitäten geprägten Zeit eine „anthropozoische Ära“.2 Vladimir Vernadsky, ein russischer Geologe, sprach in den 1930er Jahren von der „Noosphäre“ – später aufgegriffen von Teilhard de Chardin –, mit der in lexikalischer Anlehnung an die Bio- und Geosphäre das menschliche Denken und dessen prägende Rolle für die Gestaltung der Erde ins Zentrum rückte.3 Was diesen VorläuferBegriffen allerdings verwehrt blieb, war eine breite Öffentlichkeit. Ähnlich erging es zunächst auch dem Anthropozän, das der amerikanische Biologe Eugene Stoermer bereits in den 1980er Jahren in seinen Vorlesungen thematisierte. Der „New York Times“-Journalist und Blogger Andrew Revkin schließlich verwies in seinem 1992 erschienenen Buch zum Klimawandel auf das „Anthrocene“.4 Letztlich war es aber Paul Crutzen, der dem Begriff und Konzept des Anthropozäns zu seiner derzeitigen Popularität verhalf. Gemeinsam mit Stoermer publizierte er im „Global Change Newsletter“ des IGBP eine erste Be1 2 3

4

OWEN GAFFNEY, Vortrag, Welcome to the Anthropocene. The Geology of Humanity, ICT for Life Sciences Forum, Melbourne, 6.12.2012. GEORGES LOUIS LECLERC COMTE DE BUFFON, Histoire naturelle, générale et particulière, Paris 1749-1804; ANTONIO STOPPANI, Corso di geologia, Milano 1873. VLADIMIR VERNADSKY, Geochemistry and the Biosphere. Essays by Vladimir I. Vernadsky. Translation by Olga Barash, Santa Fe 2007; PIERRE TEILHARD DE CHARDIN, Der Mensch im Kosmos. München 1999 [fr. Original 1955]; GEORGY S. LEVIT, The Biosphere and the Noosphere. Theories of V. I. Vernadsky and P. Teilhard de Chardin. A Methodological Essay, in: International Archives on the History of Science/Archives Internationales D’Histoire des Sciences 50, 2000, S. 160-176. ANDREW REVKIN, Global Warming. Understanding the Forecast, New York 1992, S. 55.

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schreibung der neuen, auf das Holozän folgenden und durch den Menschen geprägten Erdepoche.5 Zwei Jahre später konkretisierte er seine Gedanken im renommierten Magazin „Nature“, von wo aus das Anthropozän-Konzept seine Verbreitung in die Wissenschaften, Medien und sogar Politik und Wirtschaft fand. Heute erhält man bei einer Internetsuche zum Stichwort „Anthropozän“ schon über 28.000 Treffer; bei der englischen Übersetzung sind es gar über 572.000 Einträge. Immer mehr Forschungsarbeiten und -projekte widmen sich dem Thema, es entstehen wissenschaftliche Zeitschriften, Informationsportale und Blogs und auch in die Politik- und Mediendiskurse hat der Begriff Einzug gehalten.6 Die Konferenz Rio+20 im Juni 2012 eröffnete der UNGeneralsekretär Ban Ki-Moon mit dem im selben Jahr entstandenen Kurzfilm „Welcome to the Anthropocene“7.

1.

Das Anthropozän als geologische Hypothese und neuer Denkrahmen

Was aber meinen wir eigentlich, wenn wir vom Anthropozän sprechen? Aus dem Altgriechischen stammend bezeichnet der Begriff sinngemäß das „menschlich gemachte Neue“. Während die Verwendung des Wortes ἄνθρωπος, ánthropos den Menschen als Akteur in den Mittelpunkt rückt, verweist die Endung καινός auf die wissenschaftliche Hypothese, dass es sich beim Anthropozän um eine erdgeschichtliche Epoche handelt.8 Die geologische Annahme besagt, dass sich die vom Menschen initiierten und verstärkten Veränderungen des Erdsystems in geologisch nachweisbarer Form niederschlagen und aufgrund ihrer langfristigen Natur auf der erdchronologischen Skala zu verorten sind. Inzwischen wird dies von einer Arbeitsgruppe der Internationalen Kommission für Stratigraphie (ICS) unter der Leitung von Jan Zalasiewicz diskutiert und ein

5 6

7 8

PAUL J. CRUTZEN / EUGENE F. STOERMER, The “Anthropocene”, in: Global Change Newsletter 41, 2000, S. 17-18. Elementa: Science of the Anthropocene (Online, BioOne), Anthropocene (Elsevier), Anthropocene Review (Sage); unter http://www.anthropocene.info/en/home [29.04.2013]; http://dotearth.blogs.nytimes.com/2011/05/20/embracing-the-anthropocene/ [29.4.2013]; http://www.scilogs.de/wblogs/blog/der-anthropozaniker [29.4.2013]; http://www.anthropocene.info/en/home [29.4.2013]; Süddeutsche Zeitung, 09.03.2012; Der Spiegel 22, 30.05.2011; The Economist, 26.05.2011; Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.11.2010; Wissenschaftlicher Beirat Globale Umweltveränderungen (WBGU), Welt im Wandel: Gesellschaftsvertrag für eine große Transformation. Hauptgutachten, Berlin 2011; CHRISTIAN SCHWÄGERL, Planet der Menschen, in: Gegenblende. Das gewerkschaftliche Debattenmagazin 20, 2013, S. 81-85. Siehe unter http://vimeo.com/anthropocene [29.04.2013]. JAN ZALASIEWICZ U. A., Are we now living in the Anthropocene?, in: GSA Today 18, 2008, S. 4-8.

Das Anthropozän

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Vorschlag zur Vorlage beim nächsthöheren Gremium im Jahr 2016 vorbereitet.9 Ob und in welcher Form das Anthropozän als geologische Epoche das Holozän ablösen wird, ist derzeit nicht absehbar. Unabhängig von der formalen Akzeptanz und Verortung auf der geochronologischen Zeitskala, bietet das Anthropozän auch als Denk- und Handlungsrahmen neue Perspektiven. Zuvorderst eröffnet es einen Blick auf den Menschen als mächtigen – vielleicht übermächtigen – geo- und biologischen Akteur und Gestalter der Erde. Durch seine geologische Komponente, die die langfristigen Auswirkungen menschlichen Handelns betonten, verknüpft das Anthropozän die Geschichte unseres Planeten mit seiner Gegenwart und Zukunft. Auch wenn das Anthropozän damit eine stärkere Verlinkung unterschiedlicher Zeitebenen mit sich bringt, so steht sowohl in der geologischen als auch philosophischen Diskussion über das Anthropozän die Frage im Raum, wo sein Beginn zu verorten ist. Nicht selten wird das Argument vorgebracht, dass der Mensch die Erde seit seinem Erscheinen beeinflusst. Eine solche Interpretation fragt weniger nach dem Beginn des Anthropozäns, als dass sie den Ersatz des Holozäns bzw. dessen Umbenennung fordert. Unbestritten ist, dass der Mensch seine Umwelt schon immer genutzt, geprägt und verändert hat. Als geschickter Jäger rottete er mehrere Tierarten aus, domestizierte andere und gestaltete seine Umwelt durch massive Abholzung von Wäldern, Ackerbau und Viehzucht um. Die Bedeutung der Neolithischen Revolution hat den amerikanischen Paläoklimatologen William Ruddiman dazu veranlasst, den möglichen Beginn des Anthropozäns sehr früh anzusetzen, nämlich vor ca. 8.000 Jahren, während Zalasiewicz und viele seiner KollegInnen die entscheidenden Umbrüche und damit potenziellen geologischen Marker in der Industriellen Revolution ab ca. 1800 oder – als zweite Phase – in der sogenannten „Großen Beschleunigung“ ab den 1950er Jahren sehen.10 Eine zeitliche Verortung mit Beginn der intensiven Industrialisierung und der Beschleunigung vieler Prozesse nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs betont die qualitativen und quantitativen Unterschiede, die 9

Siehe unter http://quaternary.stratigraphy.org/workinggroups/anthropocene/ [30.04.2013]. Der Formalisierungsprozess ist kompliziert und umfasst mehrere Stufen. Die Anthropocene Working Group ist Teil der Subcommission on Quaternary Stratigraphy, die wiederum ein Teil der International Commission on Stratigraphy ist. Diese reportiert an die International Union of Geological Sciences. Damit das Anthropozän als geologische Epoche anerkannt und auf der geologischen Zeitskala offiziell verortet wird, müssen alle diese Gremien über eine Formulierung und Definition des Anthropozäns einig sein. Vgl. JAN ZALASIEWICZ U. A., The New World of the Anthropocene, in: Environmental Science and Technology 44, 2010, S. 2228. 10 WILLIAM F. RUDDIMAN, The Anthropogenic Greenhouse Era Began Thousands of Years Ago, in: Climatic Change 61, 2003, S. 261-293; JAN ZALASIEWICZ U. A., The Anthropocene. A New Epoch of Geological Time?, in: Philosophical Transactions of the Royal Society A: Mathematical, Physical and Engineering Sciences 369, 2011, S. 835-841; WILL STEFFEN / PAUL J. CRUTZEN / JOHN R. MCNEILL, The Anthropocene. Are Humans Now Overwhelming the Great Forces of Nature?, in: Ambio 36, 2007, S. 614-621.

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sich im historischen Verlauf des menschlichen Einflusses verzeichnen lassen. Denn erst die Prozesse der Industrialisierung, die ausgehend von der westlichen Welt zur Entstehung von Massenkonsumgesellschaften und einem rapiden Anstieg im Ressourcenverbrauch führten, haben eine doppelte Globalisierung von Umwelteffekten ausgelöst: Heute treten sie in ihren vielfältigen Ausformungen und Auswirkungen auf der ganzen Welt auf und haben systemisch vernetzte Folgen nicht nur auf lokaler und regionaler, sondern globaler Ebene. Diesem Periodisierungsvorschlag liegt die Wahrnehmung zugrunde, dass der Übergang vom Holozän zum Anthropozän vor allem ein Übergang von Lokalität zu Globalität, von langsamen zu beschleunigten Prozessen, von kurzfristigen zu langfristigen Auswirkungen und von zumeist unbewusstem zu (potenziell) bewusstem Handeln ist. Natürlich ist die Welt im Anthropozän von wirtschaftlicher und sozialer Ungleichheit und kultureller Diversität geprägt. So tragen die verschiedenen Gesellschaften in unterschiedlichem Maße zu den für das Anthropozän typischen Umweltveränderungen bei, weshalb die Frage der globalen Gerechtigkeit eine ganz wesentliche ist. Weil der Mensch jedoch nicht länger nur auf lokaler Ebene seine Umwelt verändert, sondern in das Erdsystem eingreift, ist er zu einem global wirksamen bio- und geologischen Faktor geworden. Der Mensch verändert natürliche Stoffströme, modifiziert Lebewesen, bringt technische Populationen in die Welt und reorganisiert die Bio- und Geosphäre. Statt in Biomen, also natürlichen Lebensräumen, leben wir überwiegend in menschengemachten Kulturlandschaften. Die landschaftliche Umgestaltung durch Ackerbau, Viehzucht, Bergbau und Städtebau ist so intensiv, dass lediglich 23 Prozent der eisfreien Landoberfläche noch als ursprünglich gelten können.11 Die massive Nutzung fossiler Energieträger hat die Zusammensetzung der Atmosphäre geändert; die Durchschnittstemperatur ist gestiegen. Im Mai 2013 wurde von einer Messstation auf Hawaii zum ersten Mal ein Tagesdurchschnitt von 400 ppm CO2 in der Atmosphäre gemessen; ein Wert, der zuletzt vermutlich im Pliozän vor mehr als 2,5 Millionen Jahren erreicht worden war.12 Synthetische Materialien werden zu einem Problem: In manchen Regionen des Pazifiks kommen auf ein natürliches Planktonteilchen bereits 50 Plastikteilchen.13 Durch Staudämme und Kanalbau beeinflusste Fließmuster von Flüssen und veränderte biochemische Stoffkreisläufe führen zu Bodenerosion und Versauerung der Meere. Die Menschen greifen massiv in die Biosphäre ein: Arten sterben aus, neue oder modifizierte Organismen werden durch Züchtung, Gentechnik und synthetische Biologie geschaffen. Die Weltbevölkerung hat eine noch nie da gewesene Höhe erreicht: Bis 2050 wird ein Anstieg auf bis zu 9,5 Milliarden erwartet, wovon ca. 11 ERLE ELLIS / NAVIN RAMANKUTTY, Putting People in the Map. Anthropogenic Biomes of the World, in: Frontiers in Ecology and the Environment 6, 2008, S. 442. 12 Vgl. unter http://www.esrl.noaa.gov/gmd/ccgg/trends/weekly.html [13.05.2013]. 13 Zur Plastikproblematik vgl. RICHARD C. THOMPSON U. A., Our Plastic Age, in: Philosophical Transactions of the Royal Society B: Biological Science 364, 2009, S. 1973-1976.

Das Anthropozän

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6 Milliarden in (Mega-)Städten leben werden. Die Dominanz des Menschen zeigt eindrücklich auch die Tatsache, dass 90 Prozent der Biomasse unseres Planeten die Menschen und ihre Nutztiere stellen, während alle restlichen Tiere nur 10 Prozent ausmachen. Schon heute wird mehr als die Hälfte des zur Verfügung stehenden Frischwassers vom Menschen genutzt. Durch die massive landwirtschaftliche Düngung gelangt mehr Stickstoff in die Ökosysteme als dort natürlicherweise vorhanden ist und durch das Abholzen von Wäldern und die Trockenlegung von Mooren verringern wir natürliche KohlendioxidspeicherFlächen. Viele dieser Phänomene sind zumindest in Ansätzen schon länger bekannt und werden intensiv erforscht. Zu häufig jedoch werden sie noch losgelöst voneinander, additiv nebeneinander stehend diskutiert. Das Konzept des Anthropozäns bietet hier eine Chance der Zusammenschau vormals isoliert voneinander betrachteter Phänomene und eine Wahrnehmung ihrer systemischen Abhängigkeiten. Das Konzept des Anthropozäns ist auch das Eingeständnis, dass wir diese unterschiedlichen Phänomene zusammengefügt haben und damit unserer großen Wirkmächtigkeit, die wir nicht nur als Zerstörungspotenzial, sondern auch als Chance der Gestaltung des Anthropozäns – als „Gärtner“ der Erde14 – verantwortlich wahrnehmen können und müssen. Dabei soll nicht der Mensch überhöht oder im Gegenzug die eigenständige Wirkungsmacht der Natur in Frage gestellt werden. Das Anthropozän-Konzept hilft vielmehr dabei, uns über die eigene prägende Rolle auf und damit Verantwortung für diesen Planeten klar zu werden. Die Fokussierung auf das menschliche Wesen, die auch im Begriff zum Ausdruck kommt, hat insofern seine Berechtigung, als dass der Mensch im Vergleich zu anderen prägenden Organismen der Erdgeschichte wie etwa den Cyanobakterien das erste Lebewesen ist, das sich seines eigenen tiefgreifenden Einflusses bewusst ist. Dies ermöglicht Horizonte für einen bewussten Umgang mit der menschlichen Einflusskraft und die Einhaltung sogenannter „planetarer Leitplanken“, um letztlich unser eigenes Überleben langfristig zu sichern.15 Darüber hinaus betont das Anthropozän-Konzept die Globalität unseres Handelns, nach dem auf lokaler Ebene getroffene Entscheidungen immer häufiger globale Auswirkungen haben. Zu guter Letzt hebt es den insbesondere in der westlichen Kulturtradition verankerten Binarismus zwischen Natur und Kultur aus den Angeln. Der Mensch wird nicht länger als isoliert von einer zumeist durch ihn gestörten Umwelt gesehen, sondern vielmehr als Teil eines integrativen, wenn auch hochkomplexen Sozio-Technik-Ökosystems. 14 Über die Metapher des “Gärtners” und die anhängigen moralischen und ethischen Aspekte gibt es unter Anthropozän-Befürwortern und -kritikern eine lebhafte Diskussion. ULRICH SCHNABEL, „Wir Weltgärtner“, in: Die Zeit 3, 10.01.2013. 15 JOHAN ROCKSTRÖM U. A., Planetary Boundaries: Exploring the Safe Operating Space of Humanity, in: Ecology and Society 14, 2009, S. 32 unter http://www.ecologyandsociety. org/vol14/iss2/art32/ [08.05.2013]; WILL STEFFEN U. A., The Anthropocene: From Global Change to Planetary Stewardship, in: Ambio 40, 2011, S. 739-761.

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2.

Das Anthropozän als Herausforderung für Museen

Schaut man nun von der Museumsperspektive auf das Anthropozän, so würde man erwarten, dass sich vor allem Museen der Naturkunde, Paläontologie und Geologie dieses Themas annähmen. Tatsächlich ist es mit dem Deutschen Museum ein Technik- und Wissenschaftsmuseum, das sich als erste museale Institution mit einer großen Sonderausstellung im Herbst 2014 dem Anthropozän widmet. Gemeinsam mit dem Rachel Carson Center for Environment and Society in München wendet es sich auf 1.400 qm dem Anthropozän als Phänomen und Wissenschaftskonzept zu.16 Das Deutsche Museum als weltweit größtes Technik- und Wissenschaftsmuseum mit seiner einzigartigen 50 Fachgebiete überspannenden Objektsammlung sieht sich geradezu in der Pflicht, das Anthropozän als neue erdgeschichtliche Epoche und neuen Denk- und Handlungsrahmen im 21. Jahrhundert zu präsentieren, reflektieren und diskutieren. Auf gewisse Weise ist das Deutsche Museum bereits jetzt ein Haus des Anthropozäns, basiert sein Gründungskonzept aus dem frühen 20. Jahrhundert doch ganz wesentlich auf der verschränkten Darstellung von naturwissenschaftlichtechnischen Phänomenen und seinen historischen gesellschaftlichen und kulturellen Kontexten. Ob Bergbau, Energie, Tunnelbau, Schifffahrt oder Pharmazie: Im Kern beschäftigen sich die Ausstellungen des Deutschen Museums schon immer mit der Frage, wie wir Menschen mithilfe von wissenschaftlichen Erkenntnissen, Technologien und angewandter Ingenieurskunst die Erde und Umwelt geprägt, verändert und für uns nutzbar gemacht haben.17 Es waren die Prozesse der Industrialisierung und Globalisierung, die die Phänomene des Anthropozäns hervorgebracht und beschleunigt haben und die nicht nur technischer und naturwissenschaftlicher, sondern gesellschaftlicher Natur sind. Sich mit dem Anthropozän zu beschäftigen, bedeutet deshalb, sowohl die naturwissenschaftlichen Phänomene auf unserem Planeten zu erforschen als auch Dynamiken wie Bevölkerungs- und Wirtschaftswachstum, Vernetzungen in der 16 Siehe Nina Möllers (Bearb.), Anthropozän. Natur und Technik im Menschenzeitalter, Sonderausstellung unter http://www.deutsches-museum.de/ausstellungen/sonderausstellungen/2014/anthropozaen/ [13.05.2013]. Weiterer Kooperationspartner ist das Haus der Kulturen der Welt in Berlin, das in den Jahren 2013 und 2014 ebenfalls ein Anthropozän-Projekt unterhält, in dem es sich in unterschiedlichen Programmformaten mit dem Anthropozän auseinandersetzt. 17 Der das Anthropozän prägende Gedanke der Interdisziplinarität spiegelt sich auch in den Neugestaltungen der Dauerausstellungen, die im Rahmen der 2011 begonnenen und bis 2025 andauernden Zukunftsinitiative des Deutschen Museums vorgenommen werden. Mit ihrer Neukonzipierung und -gestaltung geht auch eine inhaltliche Neuausrichtung einher, die anstatt der althergebrachten Wissenschaftskategorien themenübergreifende Ausstellungseinheiten schafft. Die Thematik „Umwelt“ wird sich in einem eigenen Themencluster wiederfinden, das die starren Fachgebiets- und Sammlungsgrenzen überwindet und den Weg in Richtung einer inter- und transdisziplinären Technik-, Wissenschafts- und Umweltforschung weist.

Das Anthropozän

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globalen digitalen Welt und nicht zuletzt das historisch gewachsene Verständnis von Natur, Technik, Demokratie und Gerechtigkeit zu reflektieren und neu zu interpretieren. Technik als Verursacher oder Verstärker vieler anthropogener Umwelteinflüsse und zugleich Teil möglicher Lösungen nimmt dabei im Anthropozän eine ambivalente Rolle ein. Und auch Wissenschaft als Basis eines wissensbasierten Handelns ist im Anthropozän einem steten Wandel unterworfen. Wissen, Wissenschaft und Technik entstehen nicht – so hat die Wissenschafts- und Technikgeschichte eindrucksvoll gezeigt – im luftleeren Raum, sondern bilden jeweils zeitgenössische Wissensstände, Vorstellungsvermögen, Erwartungshorizonte und Wertverständnisse ab. Wissen ist auch häufig unvollständig, implizit und fragil. Als menschengemachte Ausprägung unseres kreativen Potenzials erfordert Technik eine gesellschaftliche Diskussion über Entwicklung, Anwendung und Nutzen in unserer gegenwärtigen und zukünftigen Welt, insbesondere wenn sie wie zum Beispiel beim Geo-Engineering globale Auswirkungen haben. Trotz dieser guten Ausgangslage ist es ein ambitioniertes Vorhaben, das Anthropozän zum Thema einer Ausstellung zu machen. Zunächst ist die doppelte Bedeutungsebene eine Herausforderung, denn wenn wir vom Anthropozän sprechen, reden wir zum einen von einer geologischen Hypothese und Debatte, deren Ende und Ergebnis noch nicht absehbar ist. Zum anderen geht es aber auch um ein die geologische Debatte erweiterndes kulturelles und philosophisches Konzept, das zwar immer wieder auf die erdgeschichtliche Komponente rekurriert, letztlich aber davon losgelöst betrachtet werden kann. Dieser doppelten Stoßrichtung des Anthropozäns möchte die Ausstellung gerecht werden und anthropozäne Phänomene sowohl in ihrer geologischen Rückgebundenheit als auch in ihren gesellschaftlichen, kulturellen, sozialen, wirtschaftlichen und politischen Auswirkungen aufzeigen. Eine weitere Schwierigkeit für das Ausstellungmachen stellt die örtliche, zeitliche und thematische Allumfassenheit des Anthropozäns dar. Unabhängig davon, wo genau man den Beginn der neuen Epoche verortet, verweist sie auf den globalen Raum, die gesamte Erdgeschichte – zumindest als Bezugsgröße – und eine nicht überschaubare Anzahl von Phänomenen, in denen sich die gegenwärtige und vergangene Einflussnahme des Homo sapiens spiegelt. Natürlich steht ein Überangebot an Themen, Aspekten und Perspektiven am Anfang jedes Ausstellungsprojekts, doch führt die Totalität des Anthropozäns und der Anspruch, sozusagen eine histoire totale in der longue durée zu erzählen, zu einer gewissen nervösen Unruhe bei den AusstellungsmacherInnen. Insbesondere für Museen, vor allem solche, die sich mit historischen Erzählungen beschäftigen, muten die noch unklaren, teilweise etablierte historische Periodisierungen anfechtenden zeitlichen Grenzen des Anthropozäns unheimlich an. Eines der einzigartigen Charakteristika des Anthropozäns ist es ja, dass wir diese mögliche Erdepoche definieren, erforschen, befragen und gestalten, während sie geschieht. Dies ist nicht nur für Geologen höchst ungewöhnlich. Auch HistorikerInnen und KuratorInnen von

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historisch geprägten Ausstellungen – und das sind ja alle Ausstellungen, die auf museale Sammlungsobjekte zurückgreifen – tun sich schwer damit, dem Anthropozän in all seiner Neuheit und Offenheit habhaft zu werden. Zwar sind Ausstellungen immer ein selektiver Ausschnitt, eine dokumentierende, aber auch interpretierende Repräsentation unserer viel komplexeren Welt. Die Unbestimmtheit jedoch, die das Anthropozän (noch) umgibt, fordert das Museum in ganz besonderer Weise heraus. In seiner Entstehungs- und Entwicklungsgeschichte hat es sich lange als eine Institution des gesicherten Wissens präsentiert, in der die Welt und seine Phänomene erklärt werden und in der die Menschen lernen, wie ‚die Dinge wirklich sind‘. Diese Funktion der Selbstvergewisserung wird im Anthropozän endgültig obsolet. Weil das Anthropozän so viele unserer Annahmen und historisch sedimentierten Erklärungsmuster, darunter das lineare Fortschrittsparadigma, hinterfragt und unseren Glauben in die technische Machbarkeit und Überwindung natürlicher Grenzen wanken lässt, erscheint uns die neue Offenheit des Anthropozäns unbehaglich, furchteinflößend und bisweilen gefährlich. Diese Wahrnehmung und den daran geknüpften Paradigmenwechsel kann das Museum aber auch für sich nutzbar machen. Denn das Anthropozän bietet gerade dieser Institution die einzigartige Möglichkeit, die ihr eigenen Qualitäten zu nutzen und dem Museum als Reflexions-, Diskussionsund Handlungsort zu neuem Glanz zu verhelfen und ihm einen unverzichtbaren Platz in der wissensbasierten Welt des Anthropozäns zu sichern.

3. 3.1.

Das Potenzial der Museen Objekte

Museen und Ausstellungen spielen bei der Diskussion um das Anthropozän und dessen Ausgestaltung eine wichtige Rolle, weil sie über Qualitäten und Merkmale verfügen, die sie von anderen Medien unterscheiden. Dies sind zuvorderst ihre Sammlungen materieller Dinge. Museale Sammlungsobjekte repräsentieren spezifische Zeitpunkte der materiellen Aneignung der uns umgebenden und durch uns geprägten Umwelt. Über den Gebrauchswert hinaus besitzen Dinge einen Schauwert, über den soziale, politische, wirtschaftliche, kulturelle und eben auch ökologische Umstände, Kontexte und Werte der materiellen Habhaftwerdung der Umwelt kommuniziert werden. Auch wenn Museumsobjekte durch ihre Musealisierung ihrem Ursprungskontext entzogen werden, so ist es gerade diese „Spannung zwischen Aktualisierung und Latenz, Zeigen und Verbergen, Präsentieren und Verstauen“18, die dem Museum in der Entschlüsselung 18 ULRIKE VEDDER, Museum / Ausstellung, in: Ästhetische Grundbegriffe. Historisches Wörterbuch in sieben Bänden, Bd. 7, Stuttgart 2005, S. 183.

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des Anthropozäns eine besonders wichtige Rolle zukommen lässt. Als produzierte, konsumierte, benutzte, entsorgte und gesammelte materielle Dinge verkörpern Objekte eine Brücke zwischen der geologischen Sedimentierung des Anthropozäns und seiner Relevanz als Denk- und Handlungsrahmen für die menschliche Wirkmächtigkeit in die Bio-, Geo- und Soziosphären hinein. Der Akt der Zusammenschau von diesen ihren ursprünglichen Produktions-, Konsum- und Aneignungskontexten entnommenen Objekten in einer Ausstellung und die interpretierende Rekontextualisierung hilft uns, der vielfältigen, oftmals sich überlappenden Zeitdimensionen, die das Anthropozän kennzeichnen, habhaft zu werden. Als Kristallisations- und Kreuzungspunkte von Beziehungen, Anwendungen, Erfahrungen, Erwartungen und Meinungen sind dreidimensionale Objekte zugleich in der Vergangenheit und der Gegenwart verankert, sind nah und fern, sind sowohl in einem globalen Netzwerk der Dinge verortet als auch mit lokalen und persönlichen Bedeutungen beladen und ermöglichen so, das Anthropozän vorstellbar, ja greifbar zu machen.

3.2.

Räumlichkeit

Eine weitere für Ausstellungen zentrale Kategorie ist ihre Räumlichkeit. Ausstellungen erzählen ihre Geschichte und konstruieren ihr Argument im Raum unter Verwendung einer Vielzahl unterschiedlicher Kommunikationswerkzeuge, die von originalen (historischen) Objekten bis zu Bildern, Filmen, Graphiken, Texten, Beleuchtungen, Installationen und Inszenierungen reichen. Ausstellungen sind deshalb besonders aussichtsreiche Annäherungen an das Anthropozän, weil sie Kontaktzonen schaffen, in denen sich die verschiedenen Aspekte der neuen Erdepoche und die sich sonst in Binarismen gegenübergestellten Kategorien wie Mensch und Natur frei bewegen und vermischen können. Statt einer linearen narrativen Struktur zu folgen, ermöglicht der dreidimensionale Ausstellungsraum unerwartete, bisweilen auch verstörende und aufrüttelnde Spannungen und Gegenüberstellungen. Indem der Raum als „leibliche Anwesenheit“ (Gernot Böhme)19 erfahrbar und zum dramaturgischen Element wird, das die Bewegung des Besucherkörpers verlangt, ermöglicht er eine ganz neue, umfassende Wahrnehmung der systemischen Abhängigkeiten des Anthropozäns. Insbesondere für die Kommunikation umweltrelevanter Themen ist dies von großer Bedeutung, können doch im Raum die vielfältigen, sich überlagernden Abhängigkeiten von Umweltphänomenen besser erfahrbar gemacht werden als in einer linearen Erzählstruktur. So eröffnet die Räumlichkeit der Museumsausstellung die Möglichkeit, der Offenheit des Anthropozän-Konzepts gerecht zu werden und neue Perspektiven in den dreidimensionalen Raum zu übertragen, in dem 19 Zitiert in STEFAN PAUL, Kommunizierende Räume. Das Museum, in: ALEXANDER C. T. GEPPERT (Hrsg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation, Bielefeld 2005, S. 356-357.

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ein Umherwandern mitsamt Umleitungen und Kehrtwenden möglich ist ohne sogleich in einer Sackgasse zu enden. Eine museale Beschäftigung mit dem Anthropozän – seinen Phänomenen, seinen Auswirkungen und seinen möglichen Lösungsansätzen – schafft es so vielleicht eher als andere Medien, neue Blicke auf festgefahrene und verbrauchte Nachhaltigkeitsdebatten zu werfen und neue Optionen jenseits etablierter Postulate zu eröffnen, an dessen Extremenden oftmals gleichermaßen unrealistische Szenarien des Verzichts, der totalen Technisierung oder der Apokalypse stehen.

3.3.

Offenheit, Kontroverse, Partizipation

Die Übersetzung anthropozäner Themen in den musealen Raum ermöglicht außerdem eine verknüpfende Sicht auf Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft und eröffnet dem Museum die Chance, sich als Wissensagentur und Diskussionsplattform aktueller Fragestellungen zu (re-)etablieren. Allerdings muss es sich dafür aus der schützenden Deckung der Historie wagen und die noch immer häufig anzutreffende Scheu vor der Beschäftigung mit der Gegenwart und vor allem der Zukunft überwinden. Schon 1929 hatte der schweizerische Architekturhistoriker Sigfried Giedion gefordert, die „neuen Museen soll[t]en zu einer lebendigen Chronik der Zeit werden und die Dinge zeigen, so lange sie noch in Bewegung sind und nicht erst, wenn sie anfangen, im historischen Sarg zu liegen“.20 Mit der Einlösung dieser Forderung haben sich Museen lange schwer getan. Während die vielfältigen Umweltprobleme immer sichtbarer wurden und sich in Reaktion darauf gesellschaftliche Umweltbewegungen und politische Gruppierungen entwickelten, fokussierten viele Museen ihre Ressourcen auf die vielgepriesene Interaktivität ihrer Darstellungen und die von Politik und Geldgebern eingeforderten höheren Besuchszahlen. Das Ergebnis waren einerseits viele Blockbuster-Ausstellungen, die zwar häufig die Besuchszahlen steigen ließen, jedoch nicht durchgängig von hoher wissenschaftlicher und gesellschaftspolitischer Relevanz waren. Andererseits führten die Fokussierung auf das jugendliche Publikum und der Einsatz interaktiver, bisweilen sehr spielerischer Elemente, zu einer starken Didaktisierung, insbesondere auch im Bereich der Umweltthemen.21 Das Ziel vieler Ausstellungen war zunächst Aufklärung über existierende Umweltproblematiken, oftmals dargeboten in einem alarmistischen Ton und nicht selten mit einem ideologischen Beigeschmack. Raum für Diskussion und alternative Lösungsansätze oder gar kontroverse Meinungen blieb selten. Interessanterweise scheuten sich insbesondere Technikmuseen, die ja tradi20 SIGFRIED GIEDION, Lebendiges Museum, in: Der Cicerone: Halbmonatsschrift für die Interessen des Kunstforschers & Sammlers 21, 1929, S. 103-106. 21 EMLYN KOSTER, Evolution of Purpose in Science Museums and Science Centres, in: FIONA CAMERON / LYNDA KELLY (Hrsg.), Hot Topics, Public Culture, Museums, Newcastle 2010, S. 77.

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tionell schon immer stärker gegenwartsbezogen arbeiteten, kontrovers diskutierte hot topics in ihren Ausstellungen aufzugreifen. Als Folge beraubte sich das (Technik-)Museum seiner Daseinsberechtigung als Ort einer wissensbasierten Information und Diskussion für die erwachsene Bürgergesellschaft. Im 21. Jahrhundert kann und darf sich das Museum dieser Aufgabe jedoch nicht länger entziehen. Die Beschäftigung mit dem Konzept des Anthropozäns zeigt, dass das wahre Potenzial darin liegt, dass das Museum nicht länger (nur) Antworten liefert, sondern Sichtweisen und Interessenslagen abbildet und Argumente für individuelle Meinungsbildung liefert. Noch einen Schritt weitergehend könnte man sogar behaupten, dass es Aufgabe des Museums sein muss, auf der Basis von wissenschaftlicher Arbeit informierte Fragen zu stellen und den BesucherInnen Möglichkeiten der Partizipation und Diskussion zu bieten. Diese Forderung nach der Einbindung des Publikums ist natürlich nicht neu. Partizipation muss im Zeitalter des Anthropozäns jedoch eine neue Qualität annehmen. Sie besteht eben nicht nur – wenn auch weiterhin wichtig – in der Betätigung von Rädchen und Knöpfchen an interaktiven Versuchsstationen, die vor allem den Erlebnischarakter des Museumsbesuchs erhöhen. Vielmehr geht es darum, mit der Partizipation auch von den BesucherInnen ein neues Verständnis für das Museum als Ort der Reflexion, aber vor allem auch Diskussion einzufordern. Die Balance zwischen Unterhaltung und wissenschaftlichem Anspruch zu halten, ist eine Herausforderung, die so alt ist wie das Museum selbst. Sie gewinnt allerdings mit zunehmender Komplexität bei Umweltthematiken an Bedeutung. Hier gilt es abzuwägen, welche Ansprüche von Seiten der BesucherInnen wirklich einzulösen sind und wo das Museum von vorneherein einer eierlegenden Wollmilchsau hinterherjagt. Insbesondere Museen der Technik und Wissenschaften können nicht länger vorgeben, eine Beglaubigungsinstanz zu sein (wie von BesucherInnen noch immer häufig eingefordert). Sie können aber Raum bieten – im wörtlichen wie übertragenen Sinne – für freies Denken, Diskutieren und Visionieren. Deshalb verliert das Museum keineswegs seine Daseinsberechtigung oder Glaubwürdigkeit als Wissens- und Wissenschaftsort. Vielmehr erweitert es diese Funktion durch die selbstreflexive Wahrnehmung, dass Museen als Wissensagenturen Ko-Produzenten von Wissen waren und sind und dass nicht nur die Wissenschaft, sondern auch die Orte, wo diese repräsentiert, diskutiert und in die Gesellschaft hinein kommuniziert wird, von Unsicherheit, lückenhaftem und fragilem Wissen sowie Kontroverse geprägt sind. An diesem Akt des Diskutierens und Visionierens sollen die BesucherInnen teilhaben, damit Museen zu Orten werden, wo die Diskussion geschieht, nicht wohin sie wandert, wenn die Themen scheinbar ‚ausdiskutiert‘ sind. Im Rahmen der Anthropozän-Ausstellung ist deshalb ein abschließender Ausstellungsteil zu möglichen Zukunftsszenarien des Anthropozäns geplant, für dessen inhaltliche Erarbeitung ein Ideenwettbewerb ausgeschrieben wurde, an dem sich jeder beteiligen kann und sein/ihr persönliches Zukunftsszenario in Form eines Essays, einer graphischen Arbeit oder eines Kurzfilms einbringen kann. Zudem soll die

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gestalterische Umsetzung und Darstellung dieser Szenarien die Partizipation des Ausstellungspublikums ermöglichen. Insbesondere wenn es um technische Lösungsansätze für Umweltprobleme geht, sind Museen und vor allem Technikmuseen in einer vielversprechenden Situation, Technologien und ihre Anwendungen historisch und systemisch zu kontextualisieren und in ihrer Multiperspektivität kritisch darzustellen, wie es individuelle Forschungseinrichtungen, politische und wirtschaftliche Akteure oder die Medien zumeist nicht vermögen. Dass dies selbst in einem ‚Techniktempel‘ wie dem Deutschen Museum von den BesucherInnen eingefordert wird, zeigt eine Vorabevaluation zur Anthropozän-Ausstellung, in der 80 Prozent der TeilnehmerInnen die Frage, ob Ausstellungen im Deutschen Museum auch kontroverse Themen darstellen sollten, bejahten.22

4.

Das Anthropozän: Sprungbrett für die Umweltgeschichte in die Museen

Die Beschäftigung mit dem Anthropozän kann nur ein Anfang sein, umweltrelevante Themen in ihrer vollen Komplexität und Kontroverse in die Gesellschaft zu tragen. Wie beschrieben stellt sich die Institution Museum damit vielen Herausforderungen und auch die BesucherInnen sind aufgefordert, ihre Rolle und ihren Umgang mit dem Medium Museum zu überdenken. Eine Ausstellung zum Anthropozän wird nicht allen Anforderungen, die an sie gestellt werden, gerecht werden können. Sie kann auch nicht von heute auf morgen die Museumswelt verändern. Aber das Anthropozän als Thema und Konzept trägt ein großes Potenzial in sich, das die Museumswelt nicht ungenutzt lassen sollte. In unserer heutigen globalisierten und von menschlichen Einflüssen geprägten und geformten Welt stehen wir vor unserer vielleicht größten Herausforderung. In dem notwendigen wissenschafts- und technikgestützten Transformationsprozess in Richtung einer nachhaltigen, auf Ressourcenschonung und globaler Gerechtigkeit basierenden und den Dualismus von Mensch und Natur überwindenden Wirtschaft und Gesellschaft spielen die Museen eine aktive Rolle. Sie sind nicht länger nur selbstvergewissernde Erinnerungsagenturen, sondern müssen zu wissenschaftlichen, sozialen und partizipatorischen Orten werden, die sich noch weiter zur Gesellschaft hin öffnen. Dazu gehört es auch, die eigene Forschung und Sammlung transparenter zu machen und durch internationale 22 In der im August und September 2012 durchgeführten Umfrage im Deutschen Museum wurden 100 Personen zwischen 14 und 80 Jahren befragt (50 Männer, 50 Frauen). 13 Prozent verneinten die Frage, 7 Prozent machten keine Angabe. HENRIKE BÄUERLEIN / SARAH FÖRG, Abschlussbericht. Vorab-Evaluation zur Sonderausstellung „Anthropozän – Natur und Technik im Menschenzeitalter“, unveröffentlichtes Manuskript, München 2012, S. 47.

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und vor allem interdisziplinäre Forschungs-, Bildungs- und Ausstellungsprojekte für das Anthropozän relevant zu machen. Als wissenschaftliche Hypothese und Denk- und Handlungsrahmen bietet das Anthropozän für die weitere Integration und Verhandlung von Umweltthemen im Museum gute Ansätze, weil es die vielbeschworene Inter- und Transdisziplinarität unabdingbar macht. Auf der Suche nach einer gemeinsamen Sprache von Natur-, Sozial- und Geisteswissenschaften und zwischen WissenschaftlerInnen, KünstlerInnen, PolitikerInnen, AktivistInnen und Wirtschaftsverantwortlichen erfordert und ermöglicht es neue Denkansätze durch die Betonung systemischer Ansätze. Zugleich wirft es einen kritischen Blick zurück auf vergangene Gesamtansichten der Erde, zum Beispiel die vom linearen Fortschrittsgedanken beflügelte Technikgläubigkeit oder den eher konservativ ausgerichteten Naturschutz der frühen Umweltbewegungen. Der neue Blick auf das Verhältnis von Kultur und Natur, den das Anthropozän (er)fordert, hinterfragt zudem althergebrachte Kategorisierungen der Museumswelt und lässt dem Museum in der durch individuelle, gesellschaftliche und globale Verantwortung geprägten Welt im Wandel eine gesellschaftspolitische Rolle zukommen. Diese Chance sollten die Museen ergreifen anstatt sich angstvoll zurückzuziehen, denn tatsächlich verfügen sie über die Instrumente und das Potenzial, die eigene Relevanz durch größere Transdisziplinarität und partizipative Wissensgenerierungsprozesse zu stärken. Anstatt nur Abbild einer Diskussion zu sein, können sie zum Motor derselben werden. Auch als sammelnde und bewahrende Institution bieten sich dem Museum neue Möglichkeiten, denn das Anthropozän schlägt einen Bogen von der tiefen Vergangenheit über die anthropozäne Gegenwart zur hoffentlich tiefen Zukunft und lässt den historisierten und historisierenden Sammlungsobjekten so eine neue Relevanz und Bedeutung bei der Interpretation der Gegenwart und der Gestaltung der Zukunft zukommen.

 

Abbildungsverzeichnis S. 59 S. 61 S. 63 S. 67 S. 68 S. 72 S. 96 S. 114 S. 117 S. 135 S. 136 S. 137 S. 138 S. 140 S. 147 S. 214

S. 215

(Abb.1) © Deutsches Museum. (Abb. 2) © Deutsches Museum. (Abb. 3) © Deutsches Museum. (Abb. 4) © Deutsches Museum. (Abb. 5) © Deutsches Museum. (Abb. 6) © Deutsches Museum. (Abb.) Niedersächsisches Landesarchiv Staatsarchiv Osnabrück. (Abb. 1) Archiv von Hansjörg Küster. (Abb. 2) Archiv von Hansjörg Küster. (Abb. 1) Nicolaus Oest, Oeconomisch-practische Anweisung zur Einfriedung der Ländereien, Flensburg 1767. (Abb. 2) Archiv von Gerhard Henke-Bockschatz. (Abb. 3) Hubertus Neuschäffer, Schlösser und Herrenhäuser im Herzogtum Lauenburg, Würzburg 1987. (Abb. 4) Archiv von Gerhard Henke-Bockschatz. (Abb. 5) Archiv von Gerhard Henke-Bockschatz. (Abb. 6) Beate Frank / Geerte Frantzke (Hrsg.), Zarrentin in alten Ansichten und kurzen Texten, Zarrentin 2001, S. 242. (Abb.) Archiv von Heike Düselder. (Abb. 1) © Niedersächsisches Freilichtmuseum Museumsdorf Cloppenburg. (Abb. 2) © Niedersächsisches Freilichtmuseum Museumsdorf Cloppenburg. (Abb. 3) © Niedersächsisches Freilichtmuseum Museumsdorf Cloppenburg.

 

Autorinnen und Autoren INDRE DÖPCKE ist seit 2009 wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Als Doktorandin im Projekt „Mensch und Umwelt“ ist sie dort zugleich Mitglied im Promotionsprogramm „ProfaS – Prozesse fachdidaktischer Strukturierungen“. Von 2006 bis 2008 absolvierte sie ein wissenschaftliches Volontariat im Niedersächsischen Freilichtmuseum – Museumsdorf Cloppenburg, anschließend war sie Ausstellungskuratorin im Historischen Museum Hannover. Sie studierte Geschichte, Kunstgeschichte und Politische Wissenschaften an der Ruhr-Universität Bochum. HEIKE DÜSELDER ist Museumleiterin des „Museum Lüneburg“. Von 2009 bis 2012 war sie Projektleiterin und Koordinatorin des Projekts „Mensch und Umwelt – Pilotprojekt zur Vernetzung von Forschung, museologischer Dokumentation und Didaktik“. Zuvor leitete sie das Forschungs- und Ausstellungsprojekt „Kultur und Herrschaft des Adels in der Frühen Neuzeit“ und betreute als Kuratorin die Dauerausstellung „Adel auf dem Lande“, die seit 2004 im Museumsdorf Cloppenburg gezeigt wird. Sie wurde 1997 mit einer sozial- und kulturhistorischen Studie über den Umgang mit dem Tod im 17. und 18. Jahrhundert promoviert. BERND-STEFAN GREWE ist seit 2011 Professor für Didaktik der Geschichte an der Freien Universität Freiburg. Von 1994 bis 1998 arbeitete er in den SFBProjekten „Frühe Formen der Umweltpolitik“ (Prof. Dr. Wolfram Siemann) und „Staat im Dorf“ (Prof. Dr. Lutz Raphael). Im Jahr 2000 promovierte er zum Thema „Der versperrte Wald. Vorindustrieller Waldressourcenmangel am Beispiel der bayerischen Rheinpfalz (1815-1870)“ an der Universität Trier im Fach Geschichte. Nach einigen Jahren im Schuldienst leitete er von 2005 bis 2010 die wissenschaftliche Nachwuchsgruppe „Dynamik transnationalen Handelns (18. bis 20. Jahrhundert)“ an der Universität Konstanz. GERHARD HENKE-BOCKSCHATZ ist seit 2001 Professor für Didaktik der Geschichte an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er ist Mitherausgeber der Zeitschrift „Geschichte lernen“. Nach seiner Promotion in Neuerer Geschichte an der Universität Hamburg im Jahr 1989 habilitierte er sich 1998 an der Universität Kassel mit einer Arbeit über die Geschichtskultur der frühen Arbeiterbewegung im 19. Jahrhundert. Seine Forschungsschwerpunkte betreffen Methoden historischen Lernens, den Umgang mit außerschulischer Geschichtskultur sowie empirische Unterrichtsforschung zum Fach Geschichte. MANFRED JAKUBOWSKI-TIESSEN ist Professor für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Georg-August-Universität Göttingen. Er ist dort auch Sprecher des Graduiertenkollegs „Interdisziplinäre Umweltgeschichte. Naturale Umwelt und gesellschaftliches Handeln in Mitteleuropa“ (DFG-Förderung 2004-2013).

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AutorInnen

Zuvor war er im Rahmen von Lehr- und Forschungsaufenthalten in Kiel, Greifswald und am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen tätig. Er ist u. a. beteiligt am BMBF-Projekt „Alpine Naturgefahren im Klimawandel. Deutungsmuster und Handlungspraktiken vom 18. bis zum 21. Jahrhundert“ (20112014) und seit 2009 Beiratsmitglied im Projekt „Mensch und Umwelt“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die historische Katastrophenforschung und Umweltgeschichte sowie die Sozial- und Religionsgeschichte. HANSJÖRG KÜSTER ist seit 1998 Professor für Pflanzenökologie am Institut für Geobotanik an der Leibniz Universität Hannover. Er studierte Biologie an der Universität Stuttgart-Hohenheim und promovierte 1985. Seine fachlichen Schwerpunkte sind die Grundlagen der Ökologie sowie die Vegetations- und Landschaftsgeschichte. In zahlreichen bekannten Publikationen beschäftigt er sich mit der Geschichte des Waldes und der Geschichte der Landschaft. Seit 2009 ist er Beiratsmitglied des Projektes „Mensch und Umwelt“. NINA MÖLLERS ist seit 2009 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Deutschen Museum in München. Zunächst war sie als Postdoktorandin im BMBFForschungsprojekt „Objekte des Energiekonsums“ des Deutschen Museums gemeinsam mit dem Fachgebiet Technikgeschichte an der TU München als Projektleiterin tätig. Seit Frühjahr 2012 ist sie Projektleiterin für die Sonderausstellung „Anthropozän – Natur und Technik im Menschenzeitalter“. Sie hat Geschichte und Amerikanistik in Tübingen studiert und wurde 2007 mit einer Dissertation zum Thema „creoles of color in New Orleans“ promoviert. Sie absolvierte ein wissenschaftliches Volontariat am Landesmuseum für Technik und Arbeit in Mannheim. CHRISTOPH REINDERS-DÜSELDER studierte Geschichte und Germanistik für das höhere Lehramt an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Nach Forschungsaufenthalten an den Universitäten Bielefeld und Braunschweig promovierte er 1989 am Historischen Seminar der Universität Oldenburg mit einer historisch-demographischen Arbeit zur frühneuzeitlichen Bevölkerungsentwicklung. Seine Forschungsschwerpunkte liegen in der frühneuzeitlichen Sozial- und Wirtschaftsgeschichte. Von 1993 bis 2001 war er Kurator am Museumsdorf Cloppenburg und ist seitdem im niedersächsischen Schuldienst tätig. WERNER RÖSENER ist emeritierter Professor für Mittlere und Neuere Geschichte an der Universität Gießen. Nach seiner Promotion an der Universität Freiburg in mittelalterlicher Geschichte war er als wissenschaftlicher Referent am Max-Planck-Institut für Geschichte in Göttingen tätig. 1990 habilitierte er sich in Göttingen zum Thema „Grundherrschaft im Wandel. Untersuchungen zur Entwicklung der Grundherrschaft im südwestdeutschen Raum vom 9. bis 14. Jahrhundert“. Seine Forschungsschwerpunkte sind die mittelalterliche Agrar-, Sozial- und Verfassungsgeschichte, zudem zeichnete er sich durch Un-

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tersuchungen zum Zisterzienserorden und zur Adelsherrschaft aus. Seit Projektbeginn ist er Beiratsmitglied des Projektes „Mensch und Umwelt“. ANNIKA SCHMITT arbeitet seit 2009 als Doktorandin am Interdisziplinären Institut für Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit der Universität Osnabrück im Projekt „Mensch und Umwelt “. Sie studierte von 2003 bis 2008 Neuere und Neueste Geschichte und Germanistik an den Universitäten Osnabrück und Amsterdam. Das Dissertationsprojekt befasst sich mit der umwelthistorischen Fragestellung von Nachhaltigkeitsstrategien in einem vorindustriellen Landnutzungssystem im Raum des Hochstifts Osnabrück. KERSTIN WAGENER ist mit dem Ausstellungsbüro „Szenario“ selbständige Ausstellungsgestalterin und Beraterin für Projektentwicklungen. „Szenario“ wird seit 1993 von Museen, Ministerien, Verbänden und Firmen für die Planung, Konzipierung, Gestaltung und Realisierung von Ausstellungen, Museen und Outdoor-Informationssystemen engagiert. Das Ausstellungsbüro ist für die Umsetzung der neuen Dauerausstellung im Museumdorf Cloppenburg verantwortlich. BRITTA WEHEN-BEHRENS ist seit Oktober 2010 Wissenschaftliche Mitarbeiterin am Lehrstuhl für Didaktik der Geschichte der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. Ihr Dissertationsprojekt trägt den Arbeitstitel „Learning by Viewing. Eine Interventionsstudie zum historischen Lernen durch Geschichtsspielfilme“. Als wissenschaftliche Hilfskraft war sie am Projekt „Mensch und Umwelt“ beteiligt und übernahm in diesem Rahmen die Evaluation des Projektes in Hinblick auf die Zusammenarbeit und Projektaktivitäten mit den Schulen. Sie studierte Geschichte und Germanistik an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg. SIEGRID WESTPHAL ist Professorin für Geschichte der Frühen Neuzeit an der Universität Osnabrück. Sie habilitierte sich 2001 in Jena mit einer Studie über die Geschichte der Reichsgerichtsbarkeit, die 2002 unter dem Titel „Kaiserliche Rechtsprechung und herrschaftliche Stabilisierung. Reichsgerichtsbarkeit in den thüringischen Territorialstaaten, 1648-1806“ erschien. Ihre Forschungsinteressen gelten neben der Reichsverfassungsgeschichte allgemein der Frauen- und Geschlechtergeschichte, der Geschichte der der Reformation und der Konfessionalisierung sowie der Kulturgeschichte der Frühen Neuzeit. Seit 2009 ist sie Leiterin des Projektes „Mensch und Umwelt – Pilotprojekt zur Vernetzung von Forschung, museologischer Dokumentation und Didaktik“.

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Wien bemüht sich zu Recht, eine „grüne Musterstadt“ zu werden. Von ihren natürlichen Voraussetzungen her ist diese Stadt in einzigartiger Weise begünstigt wie kaum eine andere europäische Metropole. Gelegen am Schnittpunkt mehrerer Großlandschaften, hat sich der Wiener Raum zu einer Drehscheibe von Faunen und Floren aus Süd und Nord, West und Ost entwickelt. Das Hauptanliegen von „Ökosystem Wien - Naturgeschichte einer Stadt“ ist es, die Kräfte und Zusammenhänge anschaulich zu machen, die seit Jahrtausenden zu der ökologischen Sonderstellung dieser Stadt geführt haben. Zugleich soll der Blick geöffnet werden für die unterschiedlichen Landschaften und Ökosysteme, die hier aufeinandertreffen. Zu sehen, was vor den Augen liegt, ist eine in der urbanen Gesellschaft nicht selbstverständliche Fähigkeit. Sie ist heute jedoch notwendiger denn je, wenn wir das einzigartige Naturerbe des Wiener Raumes erhalten wollen. 2011. 744 S. ZAHLR. FARB. UND S/W-ABB. GB. MIT SU. 216 X 279 MM ISBN 978-3-205-77420-4

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